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Kirsten Jensen-Dämmrich: Diversity-Management. Ein Ansatz zur Gleichbehandlung von Menschen im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Rationalisierung? Weiterbildung – Personalentwicklung – Organisationales Lernen, hrsg. von Sibylle Peters, Band 7, ISBN 978-3-86618-611-8, ISBN 978-3-86618-711-5 (e-book pdf), Rainer Hampp Verlag, München u. Mering 2011, 238 S., € 27.80
Diversity-Management ist dann institutionalisiert, wenn die große Mehrheit der sozialen Beziehungen und Handlungen in den Unternehmen frei von Vorurteilen sind und von gegenseitiger Wertschätzung getragen werden. In diesem Sinne ist Diversity-Management in Deutschland noch längst nicht umfassend etabliert. Auch nach mehr als 20 Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Thema sind viele Unternehmen auf der Suche nach geeigneten Umsetzungskonzepten. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass mit Diversity-Management viele inhomogene Erwartungen und Ziele verbunden werden, zum Teil damit, dass sich das komplexe Zusammenspiel von Rahmenbedingungen und Wirkmechanismen in seiner Bedeutung für die Alltagspraxis nur schwer abschätzen lässt, und zum Teil hängt es damit zusammen, dass diese Rahmenbedingungen und Wirkmechanismen bei ausschließlich betriebswirtschaftlicher Betrachtung gar nicht erst in den Blick geraten. Die vorliegende Arbeit unternimmt deshalb den Versuch, zentrale Einflussfaktoren von Diversity-Management zu erfassen und die Idee einer zeitgemäßen, „systemischen“ Führungsarbeit zu entwickeln, mit der sich die verschiedenen mit Diversity-Management verbundenen Ziele gleichermaßen realisieren lassen. Schlüsselwörter:
Diversity-Management, Managementkonzepte, Organisationstheorie, Chancengleichheit, Gleichbehandlung
Kirsten Jensen-Dämmrich studierte Soziologie an der FU-Berlin. Mit der vorliegenden Arbeit promovierte Sie zum Dr. phil. an der FU-Berlin 2010. Sie ist Mitgründerin und Gesellschafterin der Dr. Dämmrich Unternehmensberatung GmbH und arbeitet als Managementberaterin, Trainerin und Coach.
Weiterbildung – Personalentwicklung – Organisationales Lernen Band 7 Herausgegeben von Sibylle Peters
Kirsten Jensen-Dämmrich
Diversity-Management Ein Ansatz zur Gleichbehandlung von Menschen im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Rationalisierung?
Rainer Hampp Verlag
München und Mering 2011
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86618-611-8 (print) ISBN 978-3-86618-711-5 (e-book) Weiterbildung – Personalentwicklung – Organisationales Lernen: ISSN 1611-3519 DOI 10.1688/9783866187115 1. Auflage, 2011 Zugl.: Dissertation, FU Berlin, 2010 © 2011
Rainer Hampp Verlag München und Mering Marktplatz 5 D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.
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Vorwort des Herausgebers Der vorliegende Band „Diversity-Management – ein Ansatz zur Gleichbehandlung von Menschen im Spannungsfeld von Globalisierung und Rationalisierung?“ greift die aktuelle Diskussion zu Diversity unter verschiedenen theoretischen wie praktischen Perspektiven auf. Die Diversity-Diskussion ist keine neue Diskussion. Das Thema Geschlechtergerechtigkeit und Gleichbehandlung aller Menschen mit diversem Hintergrund und unterschiedlichen sozialen Handlungsstrategien wird auch im deutschsprachigen Raum seit ca. 30 Jahren diskutiert, wobei insbesondere in den 1990er Jahren die Aspekte Geschlechterdifferenz und Geschlechterarrangements im Vordergrund standen. Akzente waren der Diskurs über die nach wie vor unzureichende Präsenz von Frauen in Führungspositionen und die Forderung „Frauen ins Management“. Seit einigen Jahren gewinnt die Diversity-Diskussion an Breite wie an Tiefenschärfe. Das liegt gleichermaßen an der zunehmenden Globalisierung, an der stetigen Rationalisierung von Fertigungs- und Dienstleistungsprozessen, an den Folgen des demographischen Wandels für die Wirtschaft und die Bewirtschaftung von Belegschaften und an der Dynamik des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses. Diversity steht nun nicht mehr nur mit der Forderung nach allgemeiner und abstrakter Gleichbehandlung aller Menschen im Fokus von Wirtschaft und Gesellschaft. Menschen mit unterschiedlichem kulturellen, ethnischen, religiösen etc. Hintergrund werden zunehmend zum Wirtschaftsfaktor im (globalen) Wettbewerb. Entweder als potentielle Kunden und Konsumenten, oder aber als mögliche Fach- und Führungskräfte. Die vorliegende Dissertation geht der Frage nach, was ein im Spannungsfeld von Globalisierung und Rationalisierung agierendes Diversity-Management zur weiteren Beschleunigung der Antidiskriminierung und zur Gleichbehandlung von Menschen beitragen kann. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die weit verbreitete, bloß standpunktbezogene Argumentation zur Klärung der anstehenden Fragen wenig hilfreich ist. Ein zieldienliches Diversity-Management kann kein kontextunabhängiges Regelwerk sein. Es erfordert einen Umgang mit Vielfalt, der sich der komplexen Interdependenzen der zentralen Einflussfaktoren bewusst ist. Es hat Aspekte von gesellschaftlicher Verantwortung, Aspekte übergreifender Personalentwicklung und Aspekte der fachlichen und persönlichen Qualifizierung von Mitarbeitern zu berücksichtigen, verlangt einen hohen Grad an Selbstreflexion und braucht eine wertschätzende, dialogisch-partizipative Kommunikation zur Basis. Aufgrund der differenzierten Analyse bietet diese Dissertation in der Reihe „Weiterbildung – Personalentwicklung – Organisationales Lernen“ als Band 7 Optionen und Alternativen für die Entwicklung von Führungsarbeit mit Diversity-Teams und Weiterbildungsmöglichkeiten in Verbindung mit einer veränderten Personalpolitik im Kontext einer veränderten Organisationsentwicklung. Magdeburg/ Berlin im Dezember 2010
Sibylle Peters
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
5
Inhaltsverzeichnis Einleitung ..................................................................................................................... 9 Forschungsinteresse ................................................................................................... 9 Ausgangslage ........................................................................................................... 10 Ziel und Methode der Arbeit.................................................................................... 14 Aufbau der Arbeit .................................................................................................... 16 1. Rationalisierung und Rationalisierungsprozesse ............................................ 20 1.1.
Vorbemerkung ............................................................................................... 20
1.2.
Taylorismus ................................................................................................... 22
1.2.1.
Die historische Ausgangslage ................................................................. 22
1.2.2.
Trennung von Management und Produktion .......................................... 23
1.2.3.
Überwindung handwerklicher Produktionsweise ................................... 26
1.2.4.
Historischer Einfluss Taylors.................................................................. 28
1.2.5.
Exkurs: Einflussfaktor Psychologie........................................................ 29
Nach Taylor: Normierung von Arbeit durch Psychotechnik ............................ 29 Die Hawthorne-Studien..................................................................................... 31 Die Human-Relations-Bewegung ..................................................................... 33 Herzbergs „Zwei-Faktoren-Theorie“ ................................................................ 34 1.3.
Fordismus ...................................................................................................... 36
1.3.1.
Taylorismus und Fordismus im Vergleich.............................................. 36
1.3.2.
Erste Krisenanzeichen............................................................................. 41
1.3.3.
Verschärfung der Krise ........................................................................... 42
1.3.4.
Dollarkrise und Ende der festen Wechselkurse ...................................... 43
1.3.5.
Die Energiekrise von 1973...................................................................... 44
1.4.
Toyotismus .................................................................................................... 46
1.4.1.
Standortwechsel und Internationalisierung der Produktion.................... 46
1.4.2.
Einführung ganzheitlicher Produktionssysteme ..................................... 48
1.5.
Zwischenauswertung ..................................................................................... 49
1.5.1.
Toyotismus keine lineare Weiterentwicklung des Fordismus ................ 49
1.5.2.
Toyota-Produktionskonzept und Kundenorientierung ........................... 50
6
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
2. Diversity und Diversity-Management: die Vorläufer ..................................... 55 2.1.
Multiculturalism ............................................................................................ 55
2.2.
Cultural Pluralism.......................................................................................... 56
2.2.1.
Das Konzept der Americanization .......................................................... 57
2.2.2.
Das Melting-Pot-Konzept ....................................................................... 58
2.2.3.
Das Federation-of-Nationalities-Konzept............................................... 59
2.2.4.
Das Community-Konzept ....................................................................... 60
2.3.
Weiterentwicklung des Multikulturalismusgedankens ................................. 62
2.3.1.
Civil Rights Movement........................................................................... 65
2.3.2.
Affirmative Action .................................................................................. 67
2.3.3.
Black Power und Ethnic Revitalization Movement................................ 72
2.3.4.
Multiculturalism und Cultural Democracy ............................................. 73
2.4.
Zwischenauswertung ..................................................................................... 77
2.4.1.
Die Bedeutung von Affirmative Action.................................................. 77
3. Globalisierung und Migration........................................................................... 83 3.1.
Vorbemerkung ............................................................................................... 83
3.2.
Globalisierung ............................................................................................... 84
3.2.1.
Globalisierung als Transformation ......................................................... 84
3.2.2.
Ausländische Direktinvestitionen und globaler Benchmark .................. 88
3.2.3.
Zunahme des informellen Sektors .......................................................... 91
3.3.
Migration ....................................................................................................... 93
3.3.1.
Hintergründe ........................................................................................... 93
3.3.2.
Migrationsbewegungen in Europa .......................................................... 98
Osteuropa .......................................................................................................... 98 Westeuropa und Mittelmeergebiet .................................................................... 98 Asylsuche und unautorisierte Einwanderung ................................................... 99 3.4.
Zwischenauswertung ................................................................................... 100
3.4.1.
Beschränkung der Freizügigkeit ........................................................... 100
3.4.2.
Internationalisierung der Arbeitsmärkte ............................................... 104
4. Diversity und Diversity-Management: die Praxis ......................................... 109 4.1.
Diversity-Management in den USA ............................................................ 109
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
7
4.1.1.
Affirmative Action und Diversity-Management................................... 109
4.1.2.
Affirming, Valuing und Managing Diversity ....................................... 111
4.1.3.
Diversity-Management in den USA...................................................... 114
Die "Resistance Perspective" .......................................................................... 118 Der "Discrimination-and-Fairness Approach"................................................ 120 Der “Access-and-Legitimacy Approach” ....................................................... 123 Der "Learning-and-Effectiveness Approach" ................................................. 126 Gleichheit und Gleichbehandlung................................................................... 130 4.2.
Diversity-Management in Deutschland....................................................... 132
4.2.1.
Der Umgang mit dem Fremden in Deutschland seit 1949 ................... 132
Der Begriff "Gastarbeiter" .............................................................................. 132 Die Wanderungsbewegungen ......................................................................... 133 4.2.2.
Vom Gastarbeiterland zum Einwanderungsland .................................. 139
Soziodemographische Daten zur Bevölkerung Deutschlands 2008 ............... 139 4.2.3.
Änderungen der deutschen Gesetzgebung ............................................ 142
Das Ausländergesetz ....................................................................................... 142 Das Zuwanderungsgesetz und das Aufenthaltsgesetz .................................... 144 4.2.4.
Vorannahmen zur sozialen Lage von Migranten.................................. 146
Zum Aufenthalts- und Einwanderungsprozess ............................................... 146 Akzeptanz, präventive und begleitende Integrationspolitik ........................... 151 Altersstruktur und Bevölkerungsentwicklung ................................................ 154 4.2.5.
Die Kultur- und Diversity-Debatten ..................................................... 154
Kultur .............................................................................................................. 154 Gleichwertigkeit und Anerkennung von Werten ............................................ 155 Die Kultur-Debatte.......................................................................................... 156 Die Diversity-Management-Debatte............................................................... 161 4.3.
Zwischenauswertung ................................................................................... 164
5. Diversity-Management: Grundlagen und Chancen...................................... 166 5.1.
Vorbemerkung ............................................................................................. 166
5.2.
Umgang mit Vielfalt als historische Herausforderung................................ 166
5.2.1.
Neue Anforderungen an Unternehmen ................................................. 166
8
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
5.2.2.
Vielfalt als Ergebnis fortschreitender Individualisierung..................... 170
5.2.3.
Globalisierung und Internationalisierung der Arbeit ............................ 175
5.2.4.
Diversity-Management: Funktion und Erwartungen ............................ 177
5.3.
Reflexionen.................................................................................................. 182
5.3.1.
Mängel der klassischen BWL ............................................................... 182
5.3.2.
Die Bedeutung der Luhmannschen Systemtheorie............................... 184
5.3.3.
Implikationen ........................................................................................ 190
5.4.
Umgang mit Vielfalt und zeitgemäße Führungsarbeit ................................ 196
5.4.1.
Die Anforderungen ............................................................................... 196
5.4.2.
Teamarbeit und Teamführung............................................................... 202
5.4.3.
Globale Teamarbeit............................................................................... 205
5.5.
Diversity-Management: Auswertung und Ausblick.................................... 206
6. Literatur ............................................................................................................ 211
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
9
Einleitung Forschungsinteresse Mein Interesse am Thema "Diversity und Diversity-Management" entwickelte sich im Laufe meiner langjährigen Praxis als Organisationsentwicklerin, Coach und Trainerin und im Zusammenhang der von mir im Zeitraum von 2004 bis 20091 besuchten Symposien, Kongresse und Fachtagungen. Hier wie in der Literatur zeigte sich, dass das Phänomen Diversity-Management bislang entweder überwiegend abstrakttheoretisch oder aber überwiegend detail- und praxisorientiert bearbeitet wird. Übergreifende Arbeiten, die beide Aspekte vor dem Hintergrund einer verbindenden Basis zusammenführen, waren lange Zeit eher selten zu finden, so dass es häufig schwierig war, Bezugspunkte zu finden, die für Theoretiker und Praktiker gleichermaßen bedeutungsvoll (und verständlich) sein konnten. Selbst dort noch, wo es von der Sache her Gemeinsamkeiten und Schnittstellen gab, und die Beiträge von Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und aus unterschiedlichen Praxiszusammenhängen kamen, konnten diese nur unzureichend zusammengeführt und ausgewertet werden. Diversity-Management ist dann institutionalisiert, wenn sich soziale Beziehungen und Handlungen zu Selbstverständlichkeiten entwickelt haben, die "nicht mehr hinterfragt werden"2. Folgt man den Ergebnissen der empirischen Untersuchungen Süß'3, dann sind zumindest die meisten deutschen Unternehmen von diesem Zustand noch weit entfernt: Diversity-Management wird mittlerweile zwar in vielen Unternehmen von hochrangigen Führungskräften (Vorständen) protegiert, offensiv kommuniziert und im Unternehmensleitbild geführt, die Form der strukturellen Implementierung von DiversityManagement bleibt aber mehrheitlich lose, weitestgehend auf Frauenförderung beschränkt und von mikropolitischen Machtspielen abhängig4. So sieht er im Diversity1
U.a. die Fachtagung "Managing Diversity in der deutschen Praxis", 2004 in Berlin; die 5. Internationale Managing Diversity-Konferenz: "Making Diversity Work Throughout The World" 2004 in Potsdam; die 4. Fachkonferenz: Managing Diversity zwischen Ethik, Profit und Antidiskriminierung 2005 in Iserlohn; die Tagung „Gender und Diversity: Albtraum oder Traumpaar?“ 2006 in Berlin; die Tagung "Rethinking Diversity: Perspektivenwechsel in Wirtschaft, Bildung und Gesundheit" 2006 in Berlin; die Fachtagung Diversity Management und AntiDiskriminierung 2006 in Trier; die Podiumsveranstaltung "Synergie durch Vielfalt" 2008 in Berlin; die Tagung „Diversity und Diversity Management - Schwerpunktthema: Nationalität, Ethnizität, Migrationshintergrund“ 2008 in Berlin und die Tagung „Vielfalt als Perspektive“ 2009 in Bremen.
2
Walgenbach 2006:355, zit. nach Süß 2009:58
3
Vgl. z.B. Süß 2007a, 2007b, 2009 und Süß et al. 2006a, 2006b, 2007
4
Vgl. Süß 2009:252
10
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Management in Deutschland zwar einen Trend zur "boomartigen Verbreitung"5 mit Aussicht auf längerfristige Aktualität6, aber er mag auch nicht ausschließen, dass Diversity-Management hierzulande nur eine Mode ist7. Die vorliegende Arbeit geht deshalb der Frage nach, ob sich die beiden zentralen Ziele des Diversity-Management, nämlich das ethisch begründete Ziel der Gleichbehandlung und das ökonomisch begründete Ziel der Gewinnmaximierung mit der aktuellen Praxis des Diversity-Management in Deutschland überhaupt realisieren lassen oder nicht, oder ob - gegebenenfalls auch wie und in welcher Hinsicht - diese Praxis verändert werden müsste. Und sie unternimmt zu diesem Zweck den Versuch, die wichtigsten Einflussfaktoren im Zusammenhang von Diversity-Management zu sichten und in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen ohne ihre kausallineare Abhängigkeit zu behaupten. Vollständigkeit sensu stricto ist dabei nicht intendiert und m. E. auch nicht realisierbar8. Stattdessen soll die Arbeit das Feld für weitere (persönliche) Forschungen abstecken, zu weiteren Forschungen anregen und zu einer vertieften Zusammenarbeit von Praktikern und Theoretikern ermuntern. Ausgangslage Das hier gewählte Thema "Diversity-Management" ist ein "organisationsweit integratives Managementkonzept"9, das in erster Linie den Zweck verfolgt, die Gleichbehandlung für bislang marginalisierte ethnische Gruppen und Frauen in den Unternehmen umzusetzen. Darüber hinaus soll es auch dazu dienen, die Heterogenität der Belegschaften der großen, weltweit operierenden Unternehmen als wichtigen Produktions- und Wettbewerbsfaktor zu nutzen. Und es soll dazu dienen, um über eine veränderte Außendarstellung die Legitimität des Unternehmens zu beweisen und den von Legitimität abhängigen Zufluss wichtiger (staatlicher) Mittel zu sichern. Bereits im Konzept des Diversity-Management bündeln sich also eine Vielzahl von Zielstellungen, und zusätzlich ist die Entwicklung, Anwendung und Verbreitung von Diversity-Management von einer Vielzahl von äußeren Faktoren beeinflusst.
5
Süß 2009:188
6
Süß 2009:253f.
7
Süß 2009:185. Unsicherheit gibt es aber auch andernorts, so lässt die steigende Zahl der Publikationen zum Thema z.B. auf einen gewissen Klärungsbedarf schließen. Süß weist allein für 2007 etwa 350 deutsche wissenschaftliche, populärwissenschaftliche und praxisbezogene Neupublikationen (Bücher und Artikel in Fachzeitschriften) zum Thema aus.
8
Der Anspruch auf Vollständigkeit ist bereits aufgrund der Vielzahl der Einflussfaktoren und ihres komplexen Zusammenhangs ausgeschlossen. Insofern wird das Ergebnis dieser Arbeit auch eher den Charakter einer plausibilitätsgestützten These haben als den Charakter einer unumstößlichen Aussage.
9
Pietsch 2007:1341, zit. nach Süß 2009:45
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
11
Neben den übergreifenden Prozessen Globalisierung, Rationalisierung und Migration wirken hier die (US-amerikanischen) Vorläufer des Diversity-Management, die bisherigen (vorwiegend US-amerikanischen) Erfahrungen mit der Institutionalisierung von Diversity-Management und die US-amerikanischen Debatten zum DiversityManagement und zu seinen Vorläufern als allgemein prägende Einflussfaktoren. Bei der Einführung von Diversity-Management in deutschen Unternehmen wirken darüber hinaus die besondere historisch-gesellschaftliche Situation in Deutschland (darin enthalten: die Erfahrungen mit dem Hitler-Faschismus) und der von diesen Erfahrungen zumindest in der Zeit von 1949-1972 nicht freie Umgang mit Fremdheit (die "Gastarbeiter"-Thematik), das Selbstverständnis der hier lebenden Migranten, die deutsche (europäische) Gesetzgebung, die bislang in Deutschland gesammelten Erfahrungen mit Fremdheit und mit Diversity-Management, der Stand und die Qualität der wissenschaftlichen Debatte und die Intensität des Austauschs zwischen Theoretikern und Praktikern als speziellere Einflussfaktoren. Und diese werden schließlich ergänzt durch die konkreten Ziele der Unternehmen, deren interne Strukturen, die persönlichen oder gruppenbezogenen (Macht)-Interessen der Belegschaft, das (im vorwiegend betriebswirtschaftlich geprägte) allgemeine Verständnis von Führungsarbeit und die je unternehmensspezifische, von der Unternehmenskultur abhängige Auffassung von Führungsarbeit, um nur die wichtigsten zu nennen. Diversity-Management intendiert und inszeniert weitreichende Veränderungen in den Unternehmen. Bislang bewährte Vorgaben, Abläufe und Gewohnheiten verlieren ihre Bedeutung (oder drohen ihre Bedeutung zu verlieren), und Führungskräfte und Belegschaft werden zumindest zur Abwandlung, wenn nicht sogar zur Abkehr von etablierten Denk- und Verhaltensweisen und zum Verzicht auf bislang bewährte Routinen und Rituale angehalten. Nach Ulrich10 ist ein Managementkonzept ein Ordnungsmuster, das managementbezogenes Wissen bereitstellt. Diversity-Management ist darüber hinaus ein Konzept, bei dem die Anwendungsorientierung gegenüber der Erkenntnisgewinnung und gegenüber der Wissensvermittlung im Vordergrund steht. Anwendungsorientierte Konzepte werden vorwiegend dann akzeptiert, wenn sie einen praktischen Nutzen für die Mehrzahl der Beteiligten generieren. Die Entwicklung anwendungsorientierter Konzepte erfordert deshalb die abstrahierende und systematisierende Ableitung von übergreifenden Strukturen aus der praktischen Erfahrungen und die Entwicklung konkreter, praxisgeeigneter Werkzeuge und Methoden. Darüber hinaus müssen die Einführungs- und Gestaltungskosten in einem akzeptablen Verhältnis zum generierten Nutzen stehen. Wenn diese Punkte nicht oder nur ungenügend realisiert werden, laufen
10
Ulrich 2001:89f.
12
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Managementkonzepte Gefahr, zur "Mode" zu degradieren und ihre Bedeutung mehr oder weniger schnell zu verlieren11. Für anwendungsorientierte Konzepte - und damit auch für das Konzept "DiversityManagement" ist es besonders wichtig, dass sie im Wechselspiel von Wissenschaft und Praxis generiert werden, und dass die wissenschaftliche Vorgehensweise selbst einen permanenten Praxisbezug herstellt und hält: Managementkonzepte sollten zwar theoretisch fundiert sein, aber sie brauchen keiner wissenschaftlichen Überprüfung standzuhalten12. Sie müssen keine von der Praxis entkoppelten, abstrakten und generalisierenden, sondern an die Praxis angekoppelte, in der Praxis beweisbare Lösungen generieren. Die Vielzahl der - größtenteils miteinander konkurrierenden - theoretischen, wissenschaftlichen und praktischen Einflussfaktoren, die Vielzahl der als Einfluss ebenfalls wirksamen Consultingkonzepte und die mangelnde Generalisierbarkeit der von den Unternehmen in Aufarbeitung ihrer eigenen Praxis entwickelten Konzepte erschwert diese Vorgabe jedoch auch im Zusammenhang des DiversityManagement bis hin zur Nichtdurchführbarkeit13. Für Unternehmen wie für Wissenschaftler scheint es schwer zu sein, hier einen gangbaren Mittelweg zu finden. Weder die Leugnung der Komplexität der Realität und die idealtypische Verdichtung der Einflussfaktoren noch die Mystifizierung von Lösungen14 versprechen langfristigen Nutzen15. Trotz der Vielzahl der Einflüsse und trotz ihres weitestgehend unübersichtlichen Zusammenhangs ist Diversity-Management - ähnlich wie Total Quality Management zu den "konkurrenzlosen Managementkonzepten" zu rechnen16. Diese unterscheiden sich von den "konkurrenzintensiven Managementkonzepten" primär dadurch, dass es weder seitens der Wissenschaft noch seitens der Unternehmenspraxis Alternativkonzepte zu ihren Zielstellungen gibt. Ihre Handlungs- und Gestaltungsempfehlungen sind aber in der Regel sehr allgemein gehalten und auf einem hohen Abstraktionsniveau formuliert. Das birgt Chancen und Risiken. Chancen, weil es die Unternehmen 11
Die Kosten-Nutzen-Relation gerade von Managementkonzepten, die sich mit der Gestaltung "weicher" Faktoren beschäftigt, ist jedoch keinesfalls leicht zu ermitteln und betriebswirtschaftlich zu quantifizieren, vorwiegend deshalb, weil die Wirkfaktoren in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen, und weil die Wirkung sich in der Regel erst mittel- bis langfristig einstellt. Ihre Effizienz muss letztendlich unscharf bleiben.
12
Vgl. Nicolai 2004:107f.
13
Vgl. Luhmann 1994:250. Luhmann betont hier die fehlende Praxisnähe von Wissenschaft. Vgl. zum Thema "Praxisferne von Wissenschaft" auch Whitley 1994:175f. und Nicolai 2004:108f.
14
Vgl. Kieser 1996:23-26
15
Diese Verständigungsschwierigkeiten kann man u.a. auch daran erkennen, dass Praktiker die häufig theoretisch und methodisch sehr anspruchsvoll, aber abstrakt und generalisierend formulierten - wissenschaftlichen Publikationen deutlich seltener wahrnehmen als praxisnahe. Vgl. Süß 2009:34, in Anlehnung an Oesterle 2006 und Cohen 2007.
16
Vgl. Süß 2009: 44f.
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
13
zwingt, Lösungen aus der unternehmenseigenen Praxis abzuleiten. Risiken, weil es relativ schwierig ist, solche unternehmenseigenen Lösungen zu generalisieren und in das oben geforderte Wechselspiel von Wissenschaft und Praxis zu (re-)integrieren. Wie Süß außerdem zeigt, ist die Institutionalisierung konkurrenzloser Managementkonzepte zuvorderst ein soziales Phänomen, das der "akteursorientierten Analyse" bedarf und "fast zwangsläufig auf nicht-ökonomische Theorien zurückgreifen"17 muss. Die problemlose Institutionalisierung von Diversity-Management wird offensichtlich auch dadurch erschwert, dass Diversity-Management gleichzeitig Ansprüche an ethisch-legitimatorische Rationalität und an technisch-wirtschaftliche Rationalität erhebt. Erstere haben ihren Ursprung (u.a.) in den (US-amerikanischen) Vorläufern des Diversity-Management, mit denen die gesellschaftliche Erwartung auf Gleichbehandlung (ethnischer) Unterschiede per Gesetz als unabänderlichen Anforderung festgeschrieben wurde, in gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen und in veränderten Ansprüchen großer Bevölkerungsgruppen, letztere wurzeln (u.a.) in der Weiterentwicklung von Rationalisierungsprogrammen und in der damit zusammenhängenden Entwicklung neuer Produktionssysteme. Im Zusammenhang von Organisationsentwicklung stehen beide Einflussfelder eigentlich in einem antagonistischen Verhältnis, denn institutionalisierte "Umwelterwartungen engen die Handlungsspielräume von Organisationen ein, indem sie bestimmen, welche Handlungen und Strukturen legitim sind"18 und führen solcherart zu einer - von Süß als "Isomorphismus"19 bezeichneten Angleichung der Strukturen, Entscheidungen und Handlungen, die der (ökonomisch begründeten) Forderung nach Alleinstellung und Alleinstellungsmerkmalen von Unternehmen in gewisser Weise entgegenstehen. Da insbesondere die weltweit agierenden Unternehmen mit stark wechselnden, zum Teil auch mit in sich widersprüchlichen Umwelterwartungen konfrontiert sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ethisch-legitimatorische und technisch-ökonomische Umweltanforderungen bei der Institutionalisierung von Managementkonzepten in Widerspruch geraten und insbesondere die ethisch-legitimatorischen Erwartungen von den Unternehmen nicht in der geforderten Form eingelöst werden: Unternehmen übernehmen die erwarteten Strukturen und Verhaltensweisen dann zwar dem Anschein nach, entkoppeln sie jedoch von den Arbeitsabläufen und den hauseigenen In-
17
Süß 2009:46
18
Süß 2009:66. Den Angleichungsprozess von Unternehmen, die unter gleichen Wettbewerbsbedingungen agieren, bezeichnet Süß als "kompetitiven Isomorphismus", den Angleichungsprozess von Unternehmen, die unter gleichen institutionalisierten Umwelterwartungen agieren, bezeichnet er als "institutionellen Isomorphismus".
19
Süß 2009:66, in Anlehnung an Meyer et al. 1977:355 und DiMaggio et al. 1983:149
14
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
stitutionen: die "Adaption einer Institution besitzt in diesem Fall symbolischen Charakter; ihr Nutzen wird häufig nicht reflektiert"20. Es gehört also nicht nur zur Charakteristik von Managementkonzepten, dass sie auf die Veränderung der ökonomischen Bedingungen reagieren, sondern auch, dass sie den Druck gesellschaftlicher Erwartungen zu integrieren suchen. Wenn aber diese Integration ein gewisses Maß übersteigt und Programme überwiegend oder sogar ausschließlich an gesellschaftlichen Erwartungen ausgerichtet werden, dann spricht Süß von "Rationalitätsmythen". Rationalitätsmythen sind Verfahrensweisen, "die von Anspruchsgruppen in der Umwelt als rationale Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke angesehen werden, und zwar unabhängig von deren Auswirkungen auf die Effizienz der Produktions- und Tauschprozesse der Organisation. Sie werden als Rationalitätsmythos bezeichnet, da ihre Wirksamkeit von einem kollektiven Glauben an sie abhängt und keiner objektiven Prüfung unterzogen werden kann. Organisationen müssen ihren Umwelten vermitteln, dass sie konform mit den Rationalitätsmythen agieren, um eine Legitimitätszuschreibung zu sichern. Außerdem müssen sie den Anschein aufrecht erhalten, dass die Mythen tatsächlich funktionieren"21.
Ziel und Methode der Arbeit Die vorliegende Arbeit geht deshalb der Frage nach, ob sich die beiden zentralen Ziele des Diversity-Management, nämlich das ethisch begründete Ziel der Gleichbehandlung und das ökonomisch begründete Ziel der Gewinnmaximierung mit der aktuellen Praxis des Diversity-Management in Deutschland überhaupt realisieren lassen oder nicht, oder ob - gegebenenfalls auch wie und in welcher Hinsicht - diese Praxis verändert werden müsste. Zur Beantwortung dieser Frage scheint es mir unumgänglich zu sein, im ersten Teil der Arbeit die Genese der für Diversity-Management wichtigen Einflussfaktoren Rationalisierung, Globalisierung und Migration nachzuzeichnen, ihre Interdependenzen zu skizzieren und ihre Wirksamkeit einzuschätzen, und zwar im Hinblick auf:
die Veränderung von Produktionssystemen, organisationalen Prozessen und Strukturen, Arbeitsprozessen und Arbeitsanforderungen
20
Süß 2009:65, in Anlehnung an Meyer et al. 1977 und Jepperson 1991:145. Vgl. auch Süß' Hypothesen 2009:121: wenn "Managementkonzepte Kennzeichen von Rationalisierungsmythen aufweisen, ist das ein Hinweis auf ihre isomorphistische Verbreitung"; Süß 2009:122: "Die Implementation von Managementkonzepten als Legitimationsfassade fördert ihre isomorphistische Verbreitung"; Süß 2009:123: "Je größer ein Unternehmen ist, desto stärker ist seine Neigung, seitens der Umwelt erwartete Managementkonzepte zu übernehmen" und Süß 2009:124: "Aus den USA stammende Unternehmen neigen in höherem Ausmaß zur Adaption von Managementkonzepten, die in den USA bereits institutionalisiert sind, als deutschstämmige Unternehmen."
21
Süß 2009:65, in Anlehnung an Walgenbach 2006:359. Wie Süß betont gibt es auch im Zusammenhang von Diversity-Management und im Zusammenhang der Einflussfaktoren von Diversity-Management isomorphistische Tendenzen, Isomorphismen und Rationalitätsmythen.
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
15
die Veränderung der internationalen Handels-, Finanz- und Arbeitsmärkte
die Veränderung des Verständnisses von Organisationsentwicklung, Personalentwicklung und Führungsverantwortung und
die Veränderung des Selbstverständnisses breiter Bevölkerungsteile und die Veränderung des Selbstverständnisses von Mitarbeitern und Führungskräften
Eine solche Tiefenanalyse halte ich für wichtig, um Theorie und Praxis des DiversityManagements nachvollziehbar aufeinander zu beziehen. Erst mit Hilfe eines engen Bezugs von Theorie und Praxis auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - so ist die Überlegung - lässt sich das Phänomen "Diversity-Management" wenigstens ansatzweise begreifen. Globalisierung, Rationalisierung, Diversity und Diversity-Management sind bereits für sich genommen höchst komplexe Phänomene. Als Gegenstand intensiver geistesund gesellschaftswissenschaftlicher Analysen unterliegt jede Aufarbeitung der Gefahr der eklektizistischen Vermischung der Positionen. Um diese dennoch nach Möglichkeit auszuschließen, lege ich viel Wert auf die historische Ableitung der umschriebenen Phänomene und, wenn es geht, auf klare Begriffsdefinitionen. Die historischen Positionen werden zuerst einmal möglichst wertfrei beschreibend skizziert, bei der Gesamtsicht der Argumente und bei deren Auswertung orientiere ich mich dann hauptsächlich an der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Niklas Luhmann deshalb, weil der wertschätzende und respektvolle Umgang mit anderen Menschen (und damit jede Form von Diversity-Management) letztendlich nur aus der individuellen Verantwortungsperspektive der Beteiligten heraus realisiert werden kann, und weil Niklas Luhmann mit seiner Sicht auf die Genese sozialer Systeme den Bogen von einer Theorie der "Bedingungen der Möglichkeit von Handlungen"22 hin zu einer Theorie der Organisation23 spannt, in der die Begriffe Kommunikation, Handlung und Entscheidung eine zentrale Bedeutung haben24. Da die zur Verfügung stehende Literatur recht umfangreich ist, musste ich mich auf eine begrenzte Auswahl beschränken: im Zusammenhang von Diversity und Diversity-Management und Globalisierung benutzte ich überwiegend die US-amerikanische und deutschsprachige Literatur ab 1989, im Zusammenhang der Vorläufer von Diversity-Management und im Zusammenhang von Rationalisierung auch Älteres.
22
Luhmann 1987:149
23
Luhmann 2000
24
Mit Luhmann ist „Entscheidung“ ein Sonderfall von Kommunikation, der unverrückbar an die Dimension „Verantwortung“ (und damit letztendlich an die Dimension des „Zur-Verantwortung-Ziehens“) gebunden ist. Entscheidungen produzieren eben dadurch Gewissheit, dass sie zeitlich zuzuordnen und bestimmten Entscheidungsträgern zuzurechnen sind: „Von Entscheidung soll immer dann gesprochen werden, wenn und soweit die Sinngebung einer Handlung auf eine an sie selbst gerichtete Erwartung reagiert.“ Luhmann 1987:400
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Darüber hinaus werden die Themenbereiche "Rationalisierung", "Vorläufer des Diversity-Management", "Globalisierung und Migration" und "Praxis des DiversityManagement" jeweils in einem eigenständigen Kapitel abgehandelt. Obwohl ich mir durchaus bewusst bin, dass die Auswahl der behandelten Phänomene selbst und die Grenzziehung zwischen den Phänomenen höchst subjektiv ist, erhoffe ich mir durch diese Gliederung einen Aufweis der zentralen Interdependenzen der obigen Themenfelder bei gleichzeitiger Minimierung der Gefahr, logische Abhängigkeiten zu behaupten. Sie birgt natürlich auch das Risiko, beim Leser den Eindruck zu vermitteln, dass die einzelnen Kapitel in gewisser Weise unverbunden nebeneinander stehen. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit besteht neben der Einleitung aus fünf Kapiteln. Diese sollen hier zum Zwecke der besseren Verständlichkeit der Argumentationsketten des Haupttextes kurz skizziert werden: Erstes Kapitel: Rationalisierung und Rationalisierungsprozesse Dieses Kapitel befasst sich (vorwiegend am Beispiel der Automobilindustrie25) mit der Geschichte der Rationalisierung und mit der Bedeutung, die die verschiedenen Rationalisierungsprogramme auf das Verständnis von Organisationsentwicklung und Management einerseits und auf die Dynamik der Verwertung der menschlichen Arbeitskraft andererseits haben. Hier wird der Gang der Rationalisierungsprogramme vom Taylorismus hin zum Toyotismus (Post-Toyotismus) skizziert. Zum einen, um prinzipiell zu untersuchen, ob mit ihnen ein sich permanent verschärfender Trend zur Verwertung immer tieferer Persönlichkeitsanteile einhergeht; zum anderen aber, um zu untersuchen, welchen Einfluss die Kursentwicklung des Dollars, die Energiekrise von 1973 und das Vordringen der japanischen Industrie auf dem Weltmarkt auf die Weiterentwicklung der Rationalisierungsprogramme hatten und haben. Hier geht es bereits um die Entwicklung der weltweiten Finanz- und Warenmärkte und um die
25
Die Automobilindustrie wurde deswegen gewählt, weil sie die größte, weltweit agierende Konsumgüterindustrie ist: „Die deutsche Automobilbranche zählt mit einem Jahresumsatz von rd. 288 Mrd. € (2007: +0,9%) zu einer der Schlüsselindustrien des Landes. Nach Japan, China und den USA ist Deutschland viertgrößte Automobil produzierende Nation.“ (www.BMWi.de: Automobilindustrie). Die Automobilindustrie umfasst ja nicht nur den Bau von Personenkraftwagen, sondern auch die Teile- und Zubehörindustrie und den Bau von Nutzfahrzeugen. Über verschiedene Anbindungen ist sie eng mit der Stahlindustrie, der elektrotechnischen und der chemischen Industrie verbunden. Darüber hinaus sind Ingenieurbüros, Autohändler, KFZReparaturbetriebe, Tankstellen und Straßenbau von ihr abhängig, und ihre starke Außenhandelsorientierung ist ebenfalls von Bedeutung. Aufgrund dieser vielen Koppelungen reagiert die Automobilindustrie sehr empfindlich auf Krisen, und Krisen in der Automobilindustrie erzeugen in der Regel große gesamtwirtschaftliche Folgewirkungen. Vgl. zusätzlich Beckmann 2006:83f. und Bäurle 1966:59f.
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Öffnung der weltweiten sowie der nationalen Arbeitmärkte für bislang ausgegrenzte Minderheiten. Dass hier bereits Aspekte des eigentlich erst im dritten Kapitel abgehandelten Globalisierungsprozess thematisiert werden, ließ sich nicht vermeiden, sie bleiben aber im großen und ganzen an das Thema „Automobilindustrie“ angebunden. Und schließlich ist die Arbeits- und Organisationspsychologie ein aus den modernen Rationalisierungsstrategien nicht wegzudenkender Faktor. Sei es, weil sie die Prozesse aktiv vorbereitet, mitgestaltet und vorantreibt, sei es, weil sie die Prozesse kritisch reflektiert und zum Innehalten mahnt. Im ersten Unterkapitel geht es deswegen um die „Hawthorne-Studien“, die „Human-Relations-Bewegung“ und um Herzbergs „Zwei-Faktoren-Theorie“. Hier soll insbesondere untersucht werden, ob und wie sich der Wandel von der fragmentierten und stücklohnorientierten Einzelarbeit zu Gruppenarbeit in der Arbeits- und Organisationspsychologie niederschlägt, und ob er mit einem Aufmerken auf individuelle und kulturelle Besonderheiten der Beschäftigten einhergeht. Da alle Rationalisierungsstrategien sich zumindest durch zwei Gemeinsamkeiten auszeichnen, nämlich durch ein eigenes Verständnis von Betriebsführung im engeren Sinne und durch ihre systemimmanenten, besonders in Krisenzeiten virulent werdenden Dilemmata (die schließlich weitere Umstrukturierungsprozesse anstoßen), schließt das erste Unterkapitel mit einem Blick auf die aktuellen Organisationsformen und auf den Vermittlungsauftrag zwischen allgemeinen und individuellen Erwartungen, den diese Dilemmata implizieren. Es scheint eben dieser Vermittlungsauftrag zu sein, der mit der Komplexität und Ambiguität globaler Unternehmensprozesse immer schwieriger zu handhaben ist, und der schließlich ein anderes - am Dialog orientiertes - Managementverständnis erzwingt, das der zunehmenden Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit und Vielheit gerecht werden kann. Zweites Kapitel: Diversity und Diversity-Management: die Vorläufer Das zweite Kapitel skizziert die zentralen US-amerikanischen Einflussfaktoren und Vorläufer des Diversity-Management. Der US-amerikanischen Entwicklung folgend, geht es hier um die vier Konzepte des „Cultural Pluralism“, um die Weiterentwicklung des Multikulturalismusgedankens von der „Civil-Rights-Movement“ über die „Affirmative Action“ hin zur „Cultural Democracy“. Es soll insbesondere untersucht werden, welche zentralen Thesen hier in welchem historischen Kontext aufgestellt wurde. Ziel ist es, eine Basis herauszuarbeiten, die einen Vergleich der amerikanischen Multikulturalismusdebatte mit der deutschen ermöglicht, um zu eruieren, ob bestimmte US-amerikanische Vorgehensweisen beim Umgang mit Vielfalt Vorbild für hiesige Vorgehensweisen sein können oder nicht. Drittes Kapitel: Globalisierung und Migration Das dritte Kapitel befasst sich mit der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung seit 1990 und mit den damit einhergehenden Migrationsprozessen. Im Zusammen-
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hang der wirtschaftlichen Globalisierung geht es vorwiegend um die verschärfte Konzentration des weltweit zur Verfügung stehenden Investitionskapitals bei den „Global Players“ und um die Bedeutung, die diese Konzentration für die Dynamik der Migrationsbewegungen und für die Dynamik der Entwicklung der weltweiten Arbeitsmärkte hat. Einerseits um zu untersuchen, ob die zunehmende Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften der Welt zu einer stärkeren Präsenz der bislang vom weltweiten Arbeitsmarkt ausgegrenzten Nationen geführt hat und andererseits, um zu untersuchen, ob sie mit einer stärkeren Integration der bislang ausgegrenzten Minoritäten in die lokalen Arbeitsmärkte einherging. In einem ersten Schritt wird deshalb die Entwicklung der globalen Wirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Finanzmärkte, Produktionsmärkte und Arbeitsmärkte skizziert. Und in einem zweiten Schritt wird dann die Wirkung dieser Entwicklung auf die Arbeits- und Produktionsprozesse selbst und auf die Allokation von Arbeitskräften auf dem nationalen und internationalen Arbeitsmarkt beschrieben. Des weiteren soll untersucht werden, wie sich die Verflechtung zwischen den Global Players, den transnationalen Unternehmen und den nationalen Unternehmen als Sachzwang in Form von strategischen Allianzen, in Form der Zunahme des intra-firm-trade und in Form eines Global Benchmark verselbstständigt hat, und welche Aufgaben sich daraus für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im Hinblick auf soziale Bindung und soziale Integration ergeben könnten. Und es wird untersucht, ob trotz der weitreichenden Tendenzen von Differenzierung, Individualisierung und Ethnisierung eine permanente Angleichung und Vereinheitlichung der Kulturen an einen globalen Benchmark von Finanzstärke und Leistungspotenzial stattfindet. Im Zusammenhang der Politischen Globalisierung geht es vorwiegend um die Anpassung der Nationalstaaten an die globalen Bedingungen und um dessen notwendige Neudefinition auf lokaler Ebene. Es wird untersucht, ob und wie der Nationalstaat seine klassische Bedeutung als Identifikationsträger für eine (uniforme) Mehrheitsbevölkerung unter dem Druck der Migrationsbewegungen verliert, und ob man die moderne Globalisierung als enormen Treiber für den Strukturwandel alles Sozialen betrachten kann. Unter dem Punkt „Migration“ werden dann die wichtigsten Aspekte der freiwilligen wie der erzwungenen Arbeitsmigration untersucht. Hier wird vorwiegend der europäische Raum in den Blick genommen, und das dritte Unterkapitel geht nochmals auf die Bedeutung der demographischen Entwicklung Deutschlands für die Entwicklung des hier zukünftig zur Verfügung stehenden Arbeitskräftepotenzials ein. Viertes Kapitel: Diversity und Diversity-Management: die Praxis Dieses Kapitel hat zwei Unterkapitel: im ersten Unterkapitel wird die USamerikanische Praxis des Diversity-Management untersucht. Anknüpfend an die im zweiten Kapitel vorgestellten amerikanischen Vorläufer des Diversity-Management werden hier insbesondere die Ansätze „Discrimination-and-Fairness-Approach“,
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„Access-and-Legitimacy-Approach“ und „Learning-and-Effectiveness-Approach“ beschrieben und auf ihre allgemeine Brauchbarkeit hin überprüft. Im zweiten Unterkapitel wird der Umgang mit dem Fremden in Deutschland seit 1949 thematisiert. Hier interessiert insbesondere der Zuzug von Migranten in den drei Phasen von 1949 bis 1972, von 1973 bis 1989 und von 1990 bis 2009, und obendrein die mit dem Zuzug der Migranten einhergehende Einstellungsänderung in der Bevölkerung (oder zumindest in der Rechtsprechung), die sich im Wandel des Begriffs „Gastarbeiter“ hin zum Begriff „Person mit Migrationshintergrund“ niederschlägt. Hier werden die drei in Deutschland im Zusammenhang von Migrationsprozessen zentral in der Diskussion stehenden Theoreme „Ethnopluralismus“, „Multikulturalismus“ und „Hybridität“ skizziert, um zu untersuchen, ob sie den Anforderungen auf praxisnahe Reflexion und Weiterentwicklung des aktuellen Integrationsprozesses genügen oder nicht. Dem folgt eine Skizze zum Selbstverständnis von Bevölkerungsgruppen (genauer genommen zu den Besonderheiten des Selbstverständnisses von Migrantengruppen und den Auswirkungen, die dieses auf Integrationsprozesse hat) und ein Blick auf ausgewählte Daten des Mikrozensus 2008, in denen sich die Qualität der bislang erreichten Integrationsprozesse widerspiegelt. Das zweite Unterkapitel schließt mit einem Vergleich von Ausländergesetz und Zuwanderungsgesetz und einem ersten Ausblick auf die noch offenen Aufgaben im Zusammenhang von präventiver und begleitender Integrationspolitik. Hier zeigt sich bereits, dass der Versuch, die US-amerikanischen Programme in Kopie auf Deutschland zu übertragen, womöglich problematisch sein könnte. Schließlich gibt es in Deutschland eine besondere Tradition beim Umgang mit Vielfalt, die zum Teil durch die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches, zum Teil durch die Zeit des Hitlerfaschismus begründet ist. Sie erfordert eine gleichsam maßgeschneiderte Anpassung der US-amerikanischen Programme und eine maßgeschneiderte Anpassung der durch EU-Gesetz vorgegebenen Programme zum Umgang mit Vielfalt, insbesondere im Hinblick auf die Einführung von „Diversity-Management“. Fünftes Kapitel: Diversity-Management: Grundlagen und Chancen Im fünften (und letzten) Kapitel wird untersucht, welchen Stellenwert DiversityManagement im Kontext zeitgenössischer Führungsarbeit hat. Zu diesem Zweck werden zuerst die Auswirkungen der Globalisierung auf die Gestaltung von Organisationen, auf die Gestaltung der konkreten Arbeitsbeziehungen und auf die Entwicklung der Selbstverständnisse der Beschäftigten nochmals kurz reflektiert. Dann werden die beschriebenen Phänomene am Modell der Luhmannschen Systemtheorie gleichsam gegengelesen, um die grundlegenden Erfordernisse an zeitgemäße Organisationsgestaltung und zeitgemäße Führungsarbeit freizulegen. Und im abschließenden Ausblick wird dann ein Versuch der Einordnung von Diversity-Management in die aktuellen Führungserfordernisse unternommen.
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1.
Rationalisierung und Rationalisierungsprozesse
1.1.
Vorbemerkung
In diesem Kapitel soll vorwiegend die Frage geklärt werden, ob den Rationalisierungsstrategien vom Taylorismus hin zum Toyotismus (Post-Toyotismus) ein sich permanent verschärfender Trend zur Verwertung tieferer Persönlichkeitsanteile innewohnt. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird dann in die Beantwortung der Frage eingehen, ob und in welcher Form Diversity-Management Teil moderner Rationalisierungsbestrebungen ist, und ob es geeignet ist, sowohl das ethisch begründete Ziel der Gleichbehandlung als auch das ökonomisch begründete Ziel der Gewinnmaximierung zu realisieren. Nach wie vor gilt, dass Unternehmen auf dem freien Markt nur überleben können, wenn sie mehr Profit erwirtschaften als ihre Mitbewerber, und dieser Konkurrenzdruck wird durch die starke Abhängigkeit der großen Unternehmen von den globalen Finanzmärkten noch verstärkt. Obwohl die großen Unternehmen in global differenzierten Märkten agieren, werden sie alle an dem für alle gültigen globalen Benchmark der „best-practice“ gemessen: „Shareholder-value und die jeweilige Einbindung des Finanzsystems in nationale Kontexte erweisen sich damit als diejenigen finanziellen Mechanismen, die Wirtschaftsorganisationen veranlassen, ihre Effizienz fortzuentwickeln“1.
Überleben kann nur das jeweils beste Produktionskonzept. Für Profitmaximierung aber stehen traditionellerweise nur vier Verfahrensweisen zur Verfügung: Verlängerung des Arbeitstages, Optimierung der manuellen Arbeitsabläufe, Entwicklung und Einführung von Maschinen (die menschliche Arbeitsabläufe ersetzen) und Optimierung der Entwicklungs- und Maschinenprozesse2. Die ersten drei sind historisch überholt. Auf dem Leistungsniveau der Fertigungsbetriebe der entwickelten Industrienationen lassen sich mit ihnen grundsätzlich keine relevanten Wettbewerbsvorteile mehr generieren. Die vierte Verfahrensweise - Optimierung der MaschinenEntwicklungsprozesse und Optimierung der Maschinenprozesse selbst - aber hat mit dem immer rasanteren Aufschwung der EDV-Technologie eine Charakteristik bekommen, in der „der Mensch“ als Produktionsgröße wieder höchst bedeutsam wird. Denn mit der arbeitsplatznahen Autonomie und mit dem Mehr an selbstgesteuertem Handeln und an individueller Arbeitsprozessgestaltung geht ein anderer, wesentlich
1
Weber 2001:11
2
Müller-Jentsch 2003:50-55 spricht in diesem Zusammenhang von drei industriellen Revolutionen: Revolution der Arbeitsmittel, Revolution der Arbeitsleistung (insbesondere der Arbeitskraft und der Arbeitsorganisation) und Revolution der technischen und organisatorischen Entwicklung.
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höherer und in der Wirkung schwer zu bestimmender psychischer Mehraufwand einher als bei den repetitiven Teilarbeiten der vorhergehenden Organisationsformen. Diese Vorannahme impliziert die Annahme eines Eingebettetseins3 der ökonomischen Prozesse in ein komplexes Gefüge aus Alltagspraktiken, Akteuren, Beziehungen, Standards und Leitsätzen, das den Rahmen zur Entwicklung branchentypischer, aber unternehmensübergreifender Strategien abgibt. Die industriesoziologische Forschung fasst solche historisch gewachsenen Konglomerate unter dem Begriff des „Produktionssystems“4 oder des „Produktionsmodells“5 zusammen und untersucht dabei die übergreifenden Regelsysteme, die unternehmerisches Handeln erfolgreich machen. In der Geschichte der Automobilindustrie lassen sich so vier Produktionsmodelle skizzieren: Taylorismus, Fordismus, Toyotismus (Lean Production) und Post-Toyotismus. Die ersten drei sollen hier einer kurzen Analyse unterzogen werden. Trotz der gerade in der letzten Zeit zu beobachtenden Beschleunigung der weltwirtschaftlichen Prozesse ist es aber nicht so, dass die späten Rationalisierungsprogramme die frühen Rationalisierungsprogramme generell abgelöst haben. Im Gegenteil: abhängig von Standort, Branche, Größe, globaler Präsenz und Managementverständnis können die Rationalisierungsprogramme von Unternehmen sehr unterschiedlich ausfallen. Kleine, eher handwerklich organisierte Betriebe stellen sich anders auf als große Konzerne und Global Players, und bei genauer Betrachtung existieren alle Formen der wirtschaftlichen Effizienzsteigerung gleichzeitig6. Selbst große Organisationen können die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen ihres Standortes etwa in Japan, USA oder Deutschland nicht einfach ignorieren. Sie sind gezwungen, sich dort in gewisser Weise einzupassen. In Anbetracht der Vielfältigkeit der von den Staaten vorgegebenen Rahmenbedingungen ist also - vom Detaillierungsgrad der Beschreibung abhängig letzten Endes doch mit unterschiedlich geformten Organisationen zu rechnen7. Gleichwohl kann ein über die Landesgrenzen hinweg gemeinsam genutztes Produktionssystem ein zentraler Erfolgsfaktor für international operierende Unternehmen
3
Vgl. Berghoff 2004:175
4
Der Begriff der Produktionssysteme darf in diesem Zusammenhang nicht zu eng mit dem deutschen Begriff Produktion assoziiert werden. „Production-Systems“ sind aufeinander abgestimmte Entscheidungsroutinen und Verfahrensweisen, die in ihrer Gesamtheit die Identität des Unternehmens ausmachen: der Einkauf, der Vertrieb, die Forschung und Entwicklung, die Zuliefersystem, die Produktion, die Art und Weise des Einsatzes von Arbeitskräften u.s.w. Der Grad der Sytemrationalität (d.h. der Grad der internen Abstimmung) nimmt dabei im Laufe der historischen Entwicklung der Produktionssysteme zu. Vgl. Weber 2001:10
5
Vgl. Boyer et al. 2003
6
Vgl. Womack et al. 1992
7
Vgl. zum Thema Freyssenet 1998
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sein, und angesichts der kaum noch wachsenden Absatzmärkte, wird das Produktionssystem so zu einem Teil der Absatzstrategie: „Ob bei General Motors, DaimlerChrysler oder Toyota überall finden wir Verlautbarungen, Absichtserklärungen und detaillierte Strategiepläne zur Entwicklung und Implementation der ‚effektivsten und effizientesten’ Produktionssysteme in ihren Unternehmensorganisationen, die sich in ihrer Struktur sehr ähneln“8.
Im Argumentationsgang dieser Arbeit ist deshalb insbesondere wichtig, die oben umschriebenen qualitativen Besonderheiten des Rationalisierungsprozesses genauestens zu erfassen und neben den frühen (Taylorismus, Fordismus) die späten Rationalisierungsstrategien (Toyotismus, Post-Toyotismus) im Zusammenhang ihrer wirtschaftlichen Kontextbedingungen zu skizzieren. 1.2.
Taylorismus
1.2.1. Die historische Ausgangslage Bereits vor 1900 hatten die Betriebsabläufe in den Manufakturen und den manufakturähnlichen Betrieben eine Komplexität erreicht, die nur noch mit systematischer Planung und bewusster Kontrolle zu steuern war. Der US-Amerikaner F.W. Taylor war hier einer der ersten, der das enorme Potenzial einer "wissenschaftlichen" Betriebsführung erkannte und methodisch zu nutzten wusste. Sein von ihm selbst "Scientific Management" genannter Ansatz zentrierte sich dabei vorwiegend um die systematische Erfassung und Standardisierung der (bis dato) eher planlos organisierten Arbeitsabläufe. Als einer der ersten entwickelte er die Idee der notwendig mechanistischen Führung von Organisationen, und als einer der ersten forderte er, dass Fabriken ebenso elegant wie große Maschinen funktionieren müssten. Vereinfachung der Arbeitsabläufe einerseits und Bündelung von Zuständigkeits- und Tätigkeitsbereichen sollten die Effizienz des Unternehmens insgesamt steigern. Der Zusammenklang der Methoden und der ganzheitliche Ansatz waren ihm wichtig: „Wissenschaftliche Betriebsführung" sagt er "ist nicht irgend ein Effizienzwerkzeug, nicht ein System der Kostenrechnung, nicht ein System zur Entlöhnung der Leute, nicht die Verwendung einer Stoppuhr bei den Arbeitern, nicht ein Stücklohnsystem, nicht Bewegungsstudium, sie ist nicht funktionale Werkstattführung, nicht irgend eine der Methoden, welche dem durchschnittlichen Menschen durch den Kopf gehen, wenn man von wissenschaftlicher Betriebsführung spricht"9.
8
Weber 2001:3
9
Taylor 1911c:26f., zit. nach Hebeisen 1999:109. Ähnliche Aussagen findet man im Zusammenhang des japanischen KAIZEN. Man kann in F.W. Taylor deshalb mit Recht den Gründer der (insgesamt eher empirisch orientierten) Arbeitswissenschaft sehen. Während der Weimarer Republik wurden arbeitswissenschaftliche Diskussionen im großen und ganzen von Vertretern
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Gleichzeitig verband er den Rationalisierungsgedanken mit einer erhöhten Transparenz der Arbeitsprozesse insgesamt. Gerade der Arbeitsalltag selbst und das unmittelbare Arbeitsumfeld gehörten deshalb zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Analysen. Da alle Arbeitstätigkeiten und jedwedes Sozialverhalten für Taylor Teil der Unternehmensmaschine waren, mussten sie an die Erfordernisse der übergeordneten Prozesse angepasst werden. Und zwar sowohl durch die permanente Optimierung der technischen Prozesse als auch durch die permanente Entwicklung der Einstellung der Beteiligten: "Die wissenschaftliche Betriebsführung in ihrem Kern bedeutet eine vollständige geistige Umwälzung (engl. a complete mental revolution) auf Seiten des Arbeiters, der in irgendeinem Betrieb oder irgendeiner Industrie beschäftigt ist, das heißt eine vollständige geistige Umwälzung auf Seiten dieser Leute, was deren Pflichten gegenüber ihrer Aufgabe, gegenüber ihren Arbeitskollegen und gegenüber ihren Arbeitgebern anbelangt. Und sie umfasst die ebenso vollständige geistige Umwälzung auf Seiten der Leute in der Betriebs- und Unternehmensführung, der Werkmeister, der Abteilungsleiter, der Besitzer des Unternehmens, der Direktionsmitglieder, eine vollständige geistige Umwälzung auf der Seite dieser Leute bezüglich ihrer Pflichten gegenüber ihren Kollegen in der Leitung, gegenüber ihren Arbeitern und bezüglich ihrer alltäglichen Probleme. Und ohne diese vollständige geistige Umwälzung gibt es keine wissenschaftliche Betriebsführung. (...) Das Verlangen nach besseren, für den speziellen Fall geeigneteren Personen, nach dem rechten Mann am rechten Platz, von den Generaldirektoren der großen Gesellschaften angefangen bis zu den Dienstboten im Haushalte, war niemals lebhafter als gerade jetzt"10.
1.2.2. Trennung von Management und Produktion Taylor erhoffte sich also eine durch zunehmendes Prozessverständnis und umfassende (Teil-)Prozessbeteiligung getriebene Selbstmotivation der Beteiligten. Gleichzeitig gaben die frühe Klassenstruktur der Produktionsweise und die hohe Anzahl der ungeaus Verbänden und Wissenschaftsdisziplinen geführt, wobei es insbesondere um Themen der Rationalisierung und der Folgen von Rationalisierung ging. Nachdem eine Initiative des Reichsarbeitsministeriums, einen Reichsausschuss zur Förderung der Arbeitswissenschaft zu gründen, 1920 am Widerstand aus Politik und Wirtschaft scheiterte, verlagerte sich die Diskussion endgültig an die Universitäten und führte dort zur Aufspaltung in verschiedene arbeitswissenschaftliche Felder: u.a. in die Betriebswissenschaft als Teil der Ingenieurwissenschaft, die Psychotechnik als Teil der angewandten Psychologie und die Arbeitsphysiologie. Die Soziologie spielte im Bereich der Arbeitswissenschaftler dagegen kaum eine Rolle, obwohl Max Weber als Vorsitzender des Reichsausschusses zur Förderung der Arbeitswissenschaft vorgesehen war. Vgl. zur Geschichte und Richtung der Arbeitswissenschaft in Deutschland Raehlmann et al. 1979:19f. 10
Taylor 1977:3. In diesem Sinne stand Taylor in der Tradition von Unternehmern und Unternehmenstheoretikern, die vorwiegend am Aufbau einer funktionellen Bürokratie interessiert waren. Vgl. stellvertretend für viele z.B. die Aussage von Alfred Krupp (zit. nach Balck 1996:33) "Was ich erstreben will ist, dass nichts abhängig sein soll von dem Leben oder Dasein einer bestimmten Person, dass mit derselben kein Wissen und keine Funktion entweiche, (...) dass man die Vergangenheit der Fabrik sowie die wahrscheinliche Zukunft derselben im Büro der Hauptverwaltung studieren und übersehen kann, ohne einen Sterblichen zu fragen."
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lernten und angelernten Arbeiter aber Rahmenbedingungen vor, die dieser Intention unversöhnlich entgegenstanden. So plädierte Taylor letztendlich für die strikte Trennung der Managementaufgaben von den operationalen Produktionsaufgaben: dem Management wurden alle Planungs-, Verwaltungs- und Kontrollprozesse übertragen. Es bekam die Personalverantwortung in Linienfunktion zugesprochen, und es bekam das formale Recht zur Disziplinierung abweichenden Verhaltens. Die Arbeiter dagegen verblieben in der Rolle der ausführenden Organe, die Optimierungsprozesse nur noch im eng gesteckten Rahmen ihrer Alltagsroutine zu gestalten hatten. Mit Taylor sollte jeder Produktivitätsfortschritt für das Unternehmen als Gewinn sichtbar werden und für den Arbeiter als Entlohnung spürbar sein. Um hier zusätzliche Anreize zu schaffen, wollte er den zahlreichen Tagelöhnern Aufstiegschancen geben und das Fachwissen bei den Facharbeitern effizienter nutzen. Zugleich hoffte er mit dieser Vorgehensweise das in den damaligen Unternehmen stark ausgeprägte Wechselspiel aus kontinuierlicher Stücklohnreduzierung auf Unternehmerseite und organisiertem Bummeln auf Arbeiterseite zu unterbinden und das stets spürbare, tief ausgeprägte gegenseitige Misstrauen zu reduzieren11. Zugleich bedeutete Rationalisierung für Taylor, die sach- und aufgabengerechte effiziente Verteilung der anfallenden operationalen Tätigkeiten auf Facharbeiter und Arbeiter. Vor allen Dingen die Facharbeiter sollten von so genannten Nebentätigkeiten wie z.B. dem Werkzeugschleifen - entlastet werden, damit ihre begrenzten Arbeitskapazitäten besser genutzt werden konnten12. Die Bündelung und Vereinfachung der Arbeitsprozesse sollte Bedingungen schaffen, unter denen jeder Arbeiter seine Leistungen ungehindert einbringen konnte - und einbringen wollte. Also führte Taylor spezielle Planungsbüros ein, die für die konzeptio-
11
Vgl. auch Kanigel 1997:162-164 und Hebeisen 1999:20-28. Taylor selbst betonte 1903 mit seinem in Saragota gehaltenen Vortrag "Betriebsführung" die Möglichkeit, hohe Verdienste mit niedrigen Arbeitskosten zu vereinen. Allerdings stieß mit dieser, für die damalige Zeit ungewöhnlich "klassenfreien" Position sowohl bei den Arbeitern und Gewerkschaften als auch bei den Unternehmern auf mehr oder weniger große Skepsis, da er sie an vier Prinzipien anband: an ein großes, anspruchsvolles, aber klar und wohl definiertes Arbeitspensum, an standardisierte Arbeitsbedingungen, an hohe Bezahlung bei Erfolg, und an finanziellen Verlust im Falle selbstverschuldeten Misserfolgs. Vgl. auch Taylor 1911c:29f.: "Die große Umwälzung, die in der geistigen Haltung der beiden Parteien unter der wissenschaftlichen Betriebsführung stattfindet, besteht darin, dass beide Seiten ihre Augen von der Verteilung des Überschusses als des wichtigsten Gesichtspunktes wegwenden und gemeinsam ihre Aufmerksamkeit der Vermehrung der Größe dieses Überschusses zuwenden, bis dieser Überschuss so groß ist, dass es unnötig wird, darüber zu streiten, wie er verteilt werden sollte. Beide Seiten werden soweit kommen und verstehen, dass wenn sie aufhören, gegeneinander anzukämpfen, und sich stattdessen umwenden und Schulter an Schulter in der gleichen Richtung ziehen, dass dann dieser Überschuss, der durch ihre gemeinsamen Anstrengungen entsteht, wirklich erstaunlich sein wird.“
12
Vgl. Hebeisen 1999:130
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nelle Planung der Arbeitsabläufe und für die Erstellung der Arbeitsmethoden am Arbeitsplatz zuständig waren13: „Jeder Mann muss lernen, seine eigene persönliche Arbeitsweise aufzugeben, in seinen Arbeitsmethoden die zahlreichen neuen Normen zu übernehmen und sich daran gewöhnen, Richtlinien zu gehorchen, welche Einzelheiten betreffen, die gross oder klein sein können und die in der Vergangenheit seiner individuellen Entscheidung überlassen waren“14.
Mit dem Ziel der Leistungssteigerung und auf der Basis detaillierter Zeit- und Bewegungsstudien wurden die Arbeitsvorgänge von nun an in einzelne Arbeitsteilschritte unterteilt, auf ihre Funktionalität hin durchleuchtet und gegebenenfalls korrigiert und optimiert15. Zusammen damit wurden alle mit der Produktion verbundenen Tätigkeiten daraufhin überprüft, ob sie tatsächlich von einem Facharbeiter ausgeübt werden mussten, oder ob eine ungelernte Arbeitskraft dafür angelernt werden konnte. Im Anschluss an diese Analyse erhielt der Arbeiter dann detaillierte Instruktionskarten, nach der er die Arbeit zu erledigen hatte. Ziel war die Entwicklung rationeller Teilarbeitsgänge mit realistischen Vorgabezeiten16. Es wurde genau vorgegeben, was und wie etwas getan werden sollte, und selbst der Zeitrahmen für die einzelnen Arbeitsschritte wurde exakt festgelegt. Arbeitsteilung in dieser Form war durchaus als Unterstützung und Arbeitserleichterung für die Arbeiter gedacht. Sie sollte dadurch ergänzt werden, dass jeder Arbeiter eigentlich im Sinne des modernen Kaizen - dazu angehalten wurde, seinen eigenen Arbeitsprozess aufmerksam zu verfolgen und durch eigene Denkleistung kontinuierlich zu verbessern. Nach Ansicht Taylors diente diese Vorgehensweise nicht zuletzt der Befriedung des Verhältnisses von Unternehmern und Arbeitern. So schrieb er 1895 im Zusammenhang der Erklärung seines Stücklohn-Systems: „Weil die Festlegung der Stückpreise auf genauer Kenntnis der Arbeit und nicht mehr oder weniger auf Erraten beruht, fällt das Motiv für das Zurückhalten der Leistung und das so genannte Bummeln und damit die Versuchung, den Arbeitgeber bezüglich der für die Arbeit benötigten
13
Vgl. Copley 1923:284-327
14
Taylor 1911b:133, zit. nach Hebeisen 1999:125. Taylor selbst (ebda.) wusste auch, dass diese Neuorganisation Zeit brauchte: "Anfangs sieht der Arbeiter darin nichts als Bürokratie und unverschämte Einmischung und es muss ihm Zeit gewährt werden, sich von diesem Ärgernis zu erholen."
15
Hebeisen 1999:63-73 weist am Beispiel von Taylors Experimenten zum Umladen von Roheisenbarren nach, dass die von Taylor berechneten Zeittakte erstaunlich nahe an jenen Berechnungen liegen, die mit heutigen REFA-Methoden (REFA = ursprünglich der 1924 gegründete Reichsausschuss für Arbeitsvermittlung, 1951 umbenannt in "Verband für Arbeitsstudien REFA e.V.) oder MTM-Methoden ( MTM = methods-time measurement, deutsch = Arbeitsablauf-Zeitanalyse AAZ ist - ähnlich wie REFA - eine Methode zur Analyse von Arbeitsabläufen) erstellt werden.
16
Hebeisen 1999:134
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Zeit zu täuschen vollständig weg, so dass auch die wichtigste Ursache für Unstimmigkeiten und Streit zwischen der Betriebsleitung und den Leuten wegfällt“17.
Neben der Mechanisierung der Arbeitsabläufe spielte die optimale Gestaltung des Arbeitsplatzes eine große Rolle in Taylors System. Unter Berücksichtigung der physiologischen Voraussetzungen des Arbeiters wurden z.B. Werkzeuge und Beleuchtung optimiert und an die Erfordernisse eines rationalen Produktionsprozesses angepasst. In Taylors System gab es für jeden Arbeiter Aufstiegschancen. Bei genügend Eigeninitiative und Selbstdisziplin und bei hinreichendem Intellekt und ausreichenden Fähigkeiten hatte jeder eine Chance, sich weiter hochzuarbeiten. Selbst der nur angelernte Arbeiter konnte (und musste) Verantwortung für sich und seinen Arbeitsplatz übernehmen und sich soweit spezialisieren, wie es seine Tätigkeit erforderte. Selbst der so genannte "billige"18 Maschinenarbeiter konnte nach Taylors Dafürhalten lernen, eine schwierige Maschine zu bedienen, ein Geschickterer konnte sogar Meister werden. 1.2.3. Überwindung handwerklicher Produktionsweise Taylor selbst unterschied deutlich zwischen einer übergeordneten Funktion der Standardisierung von Arbeitsabläufe und der Dimension der Umsetzung. Überspitzt könnte man heute formulieren, dass Taylor das Denken nicht - wie seine Kritiker behaupten - aus den Unternehmen herausgenommen hat, sondern es überhaupt erst in die Unternehmen hineingebracht hat19. Offenbar waren die von Taylor kritisierten Faustregeln der Facharbeiter doch sehr weit vom betrieblichen Optimum entfernt. Mit dem Ersatz dieser Faustregeln durch neue wissenschaftlich erarbeitete Arbeitselemente 17
Taylor 1895:858, zit. nach Hebeisen 1999:83. Taylor beabsichtigt - so Hebeisen - mit seiner wissenschaftlichen Betriebsführung nicht die Verschärfung der Ausbeutung, sondern - wie oben bereits mehrfach angedeutet - die Förderung der Arbeiter und die Lösung der sozialen Probleme: "Es gehört" sagt Taylor (1911c:73, zit. nach Hebeisen 1999:136f.) "zu den Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung, von den Leuten zu verlangen, die Dinge auf die richtige Weise zu tun, etwas neues zu lernen, ihre Arbeitsweise zu verändern in Übereinstimmung mit der Wissenschaft und als Gegenleistung einen Lohnzuschlag zu erhalten, der 30 bis 100% beträgt und in Abhängigkeit des Geschäftszweigs variiert, in welchen die Leute tätig sind". Vgl. zum Thema auch Volpert 1975:28
18
Vgl. Taylor 1911b:110, zit. nach Hebeisen 1999:125f.
19
Vgl. Hebeisen 1999:128. Zu den leicht missverständlichen Aussprüchen Taylors gehört z.B. der folgende Satz aus seinem Werk "Shop-Management": "Alle vorstellbare Denkarbeit sollte aus den Werkstätten entfernt und im Planungsbüro konzentriert werden, so dass den Meistern und Vorarbeitern Tätigkeiten bleiben, die strikte ausführender Art sind. Sie sollten ihre Zeit bei den Leuten verbringen, diese zu lehren, voraus zu denken, und sie in ihre Arbeit anzuleiten und zu instruieren." (Taylor 1911b:98, zit. nach Hebeisen 1999:126). Zu den Autoren, die den hier angedeuteten, relativ unreflektierten Umgang mit F.W. Taylor pflegen, zählen z.B. Spitzley 1980; Friedmann 1953; Pollock 1958. Eine ausführliche Darstellung der Taylor-Rezeption in Deutschland liefern Hinrichs et al. 1976.
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sollten also vorwiegend diejenigen kritisiert werden, welche Produktivitätsfortschritte generell ablehnten und dem Ideal eines gemütlichen, vorindustriellen Handwerksbetriebs nachtrauerten20. Aus der Sicht Taylors hat der Begriff des Denkens hier eine negative und eine positive Konnotation. Im Sinne der Optimierung der Arbeitsabläufe an der Maschine war es seines Erachtens unproduktiv, wenn der Arbeiter den Arbeitsprozess selbst ad hoc organisierte und dabei individuelle Vorgehensweisen entwickelte. Denn die Fülle der nicht standardisierten und nicht standardisierbaren Vorgehensweisen nahm negativen Einfluss auf die Nachvollziehbarkeit der Produktion und auf die Qualität der Arbeitsergebnisse. Und genau diese, mit der eigenständigen, aber ungeplanten Vorbereitung verbundene „negative“ Denkarbeit sollte aus den Werkstätten verbannt werden, damit die Arbeiter die vorgegebenen Taktzeiten leichter einhalten konnten und weniger Stress hatten21.
20
Vgl. Hebeisen 1999:130f. Häufig wurden - und werden - die negativen Folgen der industriellen Entwicklung in ihrem gesamten Ausmaß an der Person Taylors festgemacht. Die Person Taylors, seine Art des Auftritts und sein System regen offensichtlich zur Polarisierung an. So kann man - wohl nicht zuletzt abhängig von der politischen Einstellung der Autoren - in der älteren und neueren Sekundärliteratur zu Taylor glühende Befürworter und Verehrer ebenso finden wie unnachgiebige Gegner. Von den Gegnern wird seine wissenschaftliche Betriebsführung als Unterstützung der sich durchsetzenden industriellen Produktionsweise gesehen, und seine Verbesserungsvorschläge werden einseitig als gnadenlose Ausbeutung des Arbeiters gedeutet. Insbesondere vier Kritikpunkte stehen dabei im Vordergrund: 1.) Die Trennung von Kopf- und Handarbeit, 2.) Die Zerlegung der Arbeit in sinnentleerte, monotone Arbeitsfolgen, 3.) die Ausbeutung des Arbeiters durch zu hohe Leistungsvorgaben, und 4.) der Mangel an Wissenschaftlichkeit. Folgt man dagegen Hebeisen (1999:119-164, insbesondere 1999:126), dann ist die Kritik an Taylor zum großen Teil auf unbeabsichtigte oder beabsichtigte Fehlinterpretation der Taylorschen Texte zurückzuführen. Sie bezieht sich gar nicht auf Taylor selbst, sondern auf den Strukturwandel der Arbeit und den gesellschaftlichen Prozess der Industrialisierung insgesamt und wird an der Person Frederik Taylors nur gleichsam exemplarisch festgemacht.
21
Nach Hebeisen (1999:141) legte Taylors wissenschaftliche Betriebsführung sogar den Grundstein für das betriebliche Bildungswesen. Denn durch die Schulungen war selbst der ungelernte Arbeiter gehalten, sich neues Wissen anzueignen und seine nur mehr oder weniger funktionierenden Faustregeln unberücksichtigt zu lassen. Weiterentwicklung der Arbeiter war stets mit der Garantie des bisherigen Mindestlohnes verbunden und von einem zum Teil recht großzügigen Bonussystem begleitet. In der Replik auf die übliche Kritik an Taylor betont Hebeisen (1999:137) deshalb, dass es bei der von Taylor intendierten Produktivitätserhöhung gar nicht so sehr um die Erhöhung der Arbeitsintensität ging, sondern vielmehr um die Akzeptanz und Nutzung der neu entwickelten Methoden. Die mitunter beträchtliche Prämie wurde nicht für das höhere Arbeitstempo bezahlt, sondern für die Bereitschaft der Arbeiter zum Umdenken und anders Handeln. Diese Bereitschaft zum Umdenken und anders Handeln forderte Wilhelm von Opel (1925:337, zit. nach Kugler 1987:338, Fußnote 105) ebenfalls von seinen Arbeitern ein: "Zur Steigerung der Produktionsleistung ist es dringend notwendig, dass bei uns eine Mitarbeit der Arbeiterschaft der einzelnen Betriebe erreicht wird, und die bis jetzt noch vorhandene, aus dem Klassenkampf herrührende falsche psychologische Einstellung beseitigt wird."
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In Taylors Denken spielten die beiden Prinzipien "Kooperation" und "Leistungssteigerung“ eine besondere Rolle. Nach dem (eher ethischen) Prinzip der Kooperation sollen Konflikte einvernehmlich gelöst und Wege zur Leistungssteigerung gemeinsam gefunden werden. Und nach dem (eher betriebswirtschaftlichen) Prinzip der "Kostensenkung durch Steigerung der Arbeitsleistung ohne Erhöhung der Belastung" sollen Krankheiten, Fehlzeiten und andere Formen der Leistungsminimierung durch dosierte Belastung, bessere Aufstiegschancen und erhöhte Arbeitsmotivation reduziert werden. Der Erfolg der tayloristischen Vorgehensweise lag - wie Taylor selbst betonte - in der prinzipiellen Methoden- und Verfahrensorientierung. Produktivitätserhöhungen sollten - anders als in der damaligen Produktion üblich - durch Verfahrensverbesserung und nicht durch Erhöhung des Arbeitstempos erreicht werden22. Mit Taylors System ging also die Einführung übergeordneter Leistungsnormen, Leistungsanreizsysteme und Entlohnungsregeln einher23. Geld wurde als Motivationsfaktor eingesetzt, und man kann sagen, dass mit Taylors Stücklohnsystem im Prinzip der Grundstein für die spätere Akkordarbeit gelegt wird24. 1.2.4. Historischer Einfluss Taylors Zu Lebzeiten konnte Taylor vor allen Dingen Einfluss auf die Reorganisation kleinerer und mittelständischer Betriebe nehmen, die noch überwiegend manufakturartig organisiert waren. Sein Einfluss auf die Arbeitsorganisation der Großindustrie hielt sich dagegen in Grenzen. Taylor selbst sprach von "wenigstens 50.000 Arbeitern"25, die in den USA unter seinem System tätig waren. Diese Zahl ist aber gering im Ver-
22
So z.B. bei Bethlehem Steel. Dieses Unternehmen hatte mittels seiner Methode Einsparungen von 78.000 US$ im Jahr erzielt, "während die Männer von der Platzmannschaft im Durchschnitt 60% mehr Lohn erhielten, als ihre Brüder irgendwo im Lande verdienten oder verdienen konnten. Und keiner von ihnen war überarbeitet, weil es nicht Teil der wissenschaftlichen Betriebsführung ist, je einen Mann zu überfordern (engl. to overwork), sondern weil es eines der ersten Erfordernisse der wissenschaftlichen Betriebsführung ist, nie einem Mann eine Arbeit zu geben, welche er nicht leisten kann und bei welcher er sich nicht über viele Jahre gedeihlich entwickeln kann. Es gehört nicht zur wissenschaftlichen Betriebsführung, irgend jemanden anzutreiben.“ Taylor 1911c:65, zit. nach Hebeisen 1999:136.
23
Vgl. Vieth 1995:28
24
Vgl. zum Thema insbesondere Taylor 1895. Taylors Entlohnungssystem entsprach dabei einem überproportionalen Leistungslohn. Bei Simonds Rolling Machine Company in Fitchburg, Massechusets, bei der Taylor ab 1892 als Verwaltungsrat den Stücklohn einführte, verdienten die Arbeiter für einen 28% höheren Ausstoß einen 46% höheren Lohn. Vgl. Hebeisen 1999: 45. Die heute üblichen Verteilzeitzuschläge für unvermeidbare Verzögerungen und Unterbrechungen und die Zuschläge für notwendige Erholungszeiten (insgesamt zwischen 20 und 30% des veranschlagten Zeittaktes) gehen im Prinzip ebenfalls auf Taylor zurück. Vgl. Hebeisen 1999:144
25
Taylor 1977:28
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gleich zu den etwa 38 Mio. Beschäftigten in den USA zu jener Zeit26, und letzten Endes ist der Taylorismus nur als ein "kleiner Teil der allgemeinen Veränderungen der Personal- und Lohnpolitik des US-Kapitals des Zeitraums 1900-15 zu begreifen"27. Vor allen Dingen die Aufspaltung des Produktionsprozesses in einzelne mechanisierte Teiloperationen, wie sie bereits in der textilen Großindustrie des 19. Jahrhunderts gang und gäbe war, wurde von Taylor selbst kaum berücksichtigt, und er übersah offensichtlich den Übergang vom "knotenförmigen Produktionsfluss zur linienförmigen Fließfertigung"28, wie sie von Henry Ford ab 1913 realisiert wurde. Der Nutzen Taylors für die moderne, grossindustrielle Arbeitsorganisation lag vor allen Dingen in der Bereitstellung der Idee der objektiven Leistungsmessung und nicht so sehr in der Vorgabe verbindlich gültiger Verfahrensweisen. Es ist angesichts der polarisierten Diskussion kaum noch möglich, sich ein genaues Bild der Umsetzung des Taylorschen Ansatzes in den damaligen Betrieben zu machen. Aber im Ansatz selbst besticht die Idee der ganzheitlichen Betriebsführung genauso wie die Idee, dass zureichende Leistung nur dann erbracht werden kann, wenn die Beteiligten eigeninitiativ verantwortlich handeln, wenn sie miteinander kooperieren, und wenn die Verfahren stimmig sind. Optimierungspotenziale ergeben sich wie es heute im Lean-Management formuliert wird - u.a. durch Vermeidung von Verschwendung. 1.2.5. Exkurs: Einflussfaktor Psychologie Nach Taylor: Normierung von Arbeit durch Psychotechnik Wie oben dargestellt wurde, ist die menschliche Arbeit nach Taylors Verständnis eine Aneinanderreihung von Bewegungen, die man der wissenschaftlichen Analyse unterziehen und nahezu beliebig optimieren kann. Es ist eben dieser Ansatz Taylors, der von der aufkommenden Verhaltenspsychologie und der aus dieser abgeleiteten Psychotechnik der Arbeitswissenschaft aufgegriffen und um eine genuin psychologische Dimension erweitert wird. Auch wenn die mit der Einführung der bürokratischen Organisation verbundene Teilung von Kopfarbeit und Handarbeit nicht als alleinige Ursache von Motivationsproblemen gesetzt werden kann: mit der Einführung des Managements ist das 26
Vahrenkamp 1977:LXXVII
27
Vahrenkamp 1977:LXXIX. Taylors Reorganisationen waren offensichtlich mit hohem bürokratischen Aufwand verbunden. So besaß die Taylorsche Musterfabrik Tabor Manufacturing Company im Jahre 1913 nach Vahrenkamp 73 Beschäftigte, von denen 28 Beamte und 45 Arbeiter waren. Die Maschinenfabrik Loewe Berlin dagegen kam im Jahre 1906 bei 1800 Arbeitern mit 35 Angestellten aus. Vgl. Vahrenkamp 1977:LXXII
28
Vahrenkamp 1977:LXXX
30
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Management dafür verantwortlich (zu machen), dass die Beschäftigten die geforderte Leistung vollständig erbringen. Oder mit anderen Worten, das Management ist dafür verantwortlich zu machen, dass die Beschäftigten motiviert sind, Leistung zu erbringen. Und in dem Maße, wie diese Überlegung im Bewusstsein der Organisationstheoretiker präsent wurde, fanden Motivationstheorien Eingang in die Organisationspraxis29. Während Taylor den zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit am besten geeigneten Arbeiter noch durch persönliche Beobachtung und einfachen Leistungsvergleich auswählte, versuchten die Arbeitspsychologen nun, verborgene "Fähigkeiten" und "Leistungspotenziale" bei den Beschäftigten zu bestimmen und "Eignung" mit Hilfe spezieller psychologisch-experimenteller Methoden und mit Hilfe neu entwickelter Persönlichkeitstests zu eruieren; wo Taylor nur die Optimierung der technischen Abläufe im Auge hatte, ging es jetzt um die exakte Erforschung der psychischen Prozesse mit Hilfe physikalischer Methoden. In Weiterführung - etwa der Ideen G. T. Fechners, H.G. v. Helmholtz' und W. Wundts - versuchte man, den Menschen wie eine mechanische Apparatur zu begreifen und ihn mit Hilfe von Psychophysik und Experimentalpsychologie analog zu einer mechanischen Apparatur zu erforschen. Als Schüler des Leipziger Psychologen Wilhelm Wundt30 tat sich hier insbesondere der Experimentalpsychologe Hugo Münsterberg31 hervor, der 1897 endgültig an die Harvard-University berufen wurde und mit seinem Buch "Psychologie und Wirtschaftsleben" (1912) die Arbeits- und Organisations-Psychologie begründete. Er glaubte im Zusammenhang der Auslese geeigneter Persönlichkeiten, dass im "Interesse des ökonomischen Erfolges sowie im Interesse der Persönlichkeitsentwicklung (...) für jede wirtschaftliche Arbeitsleistung die geeignete Persönlichkeit zu finden (ist)"32, und er entwickelt als einer der ersten spezielle Berufseignungstests etwa für Straßenbahnfahrer und Telefonistinnen. Münsterberg begriff seine Psychotechnik als Anwendung der Psychologie auf alle Lebensbereiche33, und der von ihm gewählte Ansatz einer behavioristisch orientier29
Das ist im Zusammenhang dieser Arbeit insofern von Interesse, als - wie zu zeigen sein wird die hoch angesetzten Leistungsziele des Toyota-Produktionssystems überhaupt nur dann realisiert werden können, wenn es den Unternehmen gelingt, nicht nur die Motivationspotentiale, sondern auch die anderen tiefliegenden Persönlichkeitsanteile im Produktionsprozess zu verwerten.
30
Wilhelm Maximilian Wundt (1832 - 1920) war Physiologe, Philosoph und Psychologe. Er gilt als einer der wichtigsten Begründer der wissenschaftlichen Psychologie.
31
Hugo Münsterberg (1863 -1916) war ein deutsch-amerikanischer Psychologe und Philosoph. Zusammen mit William Stern, Walter Dill Scott und Jean-Maurice Lahy begründete er die Angewandte Psychologie.
32
Münsterberg 1912:86
33
Vgl. auch Münsterberg 1914. Hier sind seine zentralen Theoreme und Methoden nochmals im einzelnen beschrieben und ausführlich dargestellt. Der Münsterbergsche Blick scheint aber
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31
ten, auf das Individuum zentrierten Psychologie gab der angewandten Industriepsychologie lange Zeit die Richtung vor34. Mit der Arbeit von Richard Lang35 und Willy Hellpach36 (1920) kamen dann Aspekte einer frühen Gruppentechnologie ins Spiel, allerdings noch ohne die Idee eines von den Arbeitern selbst zu regulierenden Arbeitsprozesses. Im Gegenteil: "Alle Romantik, die von einer Möglichkeit träumt, das Dasein des Fabrikarbeiters zu 'heben', zu 'beseelen', zu 'veredeln', indem seine Arbeit durch personelle Integration, d.h. durch Wiederverlegung grösserer Fertigungskomplexe in sein Urteil, seinen Geschmack, sein Interesse, seine 'Hand' 'befriedigender', 'gehaltvoller', 'sinnvoller' gestaltet wird, ist - nur Romantik. Auch unabhängig von allem 'Taylorismus' muss tatsächlich damit gerechnet werden, dass selbst die fabrikmäßige Erzeugung von 'Qualität' immer stärkeren Arbeitsdifferenzierungen zustrebt, das dem einzelnen Arbeiter verbleibende Leistungsstück immer mehr verengt. Davon (...) vermag auch die Gruppenfabrikationsanordnung keine Ausnahme zu machen, nein, sie führt sogar beschleunigt auf dieser Schicksalslinie der Fabrikarbeit vorwärts"37.
Die Hawthorne-Studien Mit der Verschärfung der "Krise der Arbeitsmotivation" Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erlebte die Arbeitspsychologie einen umfassenden Paradigmenwechsel38. Die wachsende Unzufriedenheit der Arbeiter mit den fordistischen Arbeitsbedingungen gab den Anlass zu einer neuen, verstärkt sozialpsychologisch argumentierenden Richtung der Arbeitspsychologie. Diese wurde notwendig, weil Sinnentleerung, Arbeitshetze und Willkür der Vorgesetzten verstärkt zum passiven Widerstand und zur schleichenden Arbeitsverweigerung führten, und die vorwiegend zur Vorbereitung und Auswertung von Eignungsprüfungen geauch in jüngster Zeit noch zu faszinieren. So formuliert etwa Rüegsegger (1986:74): "Wer Münsterbergs 'Psychologie und Wirtschaftsleben' differenziert liest, hat auch heute noch einen hervorragenden Abriss über die Probleme der angewandten Psychologie in ihrer industriepsychologischen Form." 34
Auch in vielen deutschen Behörden und Großunternehmen erlangten eignungsdiagnostische Fragestellungen große Bedeutung. Unter anderem richteten die Reichsbahn, die Reichspost, die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, die Reichswehr und die Polizeibehörden, AEG, Borsig, Krupp, Loewe, MAN, Osram, Siemens, die Vereinigten Stahlwerke und Zeiss psychotechnische Labors und Versuchsstätten ein. Vgl. zum Thema u.a. auch Dorsch 1963 und Ulich 1992:32f.
35
Richard Lang war als Oberingenieur im Daimler-Werk Untertürkheim beschäftigt. Er hat zusammen mit Willy Hellpach die Studie „Gruppenfabrikation“ erstellt.
36
Willy Hellpach (1877-1955) war der erste Professor und Leiter des 1921 gegründeten Instituts für Sozialpsychologie an der TU Karlsruhe.
37
Hellpach 1922:91
38
Vgl. z.B. Maslow 1954, Herzberg et al. 1959, McGregor 1960 und Argyris 1964. Eine ganze Reihe der damals entwickelten Ideen ist inzwischen - "systemisch" reformuliert - auch in die modernen Konzepte eingegangen. Vgl. etwa Senge 1990.
32
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nutzte empirische „Psychotechnik“ diesem Phänomen mehr oder weniger hilflos gegenüberstand39. Auf das humanistische Begriffsdoppel von Entfremdung40 und Selbstverwirklichung bezogen, setzte man sich nun verstärkt für Arbeitsbedingungen ein, die dem Ausbau individueller Potenziale und Fähigkeiten mehr Raum boten, blieb in der Betrachtungsweise jedoch weitestgehend den traditionell kausal-linearen Vorstellungen verhaftet41. Mittelbarer Auslöser für diesen Paradigmenwechsel waren die Ergebnisse der so genannten Hawthorne-Studien, die von Elton Mayo42, Fritz Roethlisberger43, George C. Homans44 und William F. Whyte45 zwischen 1927 und 1932 in den HawthorneWerken der Western Electric Company durchgeführt wurden. Nach vorerst noch klassisch empirischer Verfahrensweise sollte hier - gleichsam "feldstudienartig"46 der Einfluss unterschiedlicher Umweltparameter auf Arbeitsleistung, Verhalten und
39
Ulich 1992:33 (Fußnote 6) betont, dass die weit verbreitete Ansicht der bis zum Beginn der Hawthorne-Studie 1927 völlig individuumszentrierten Arbeitswissenschaft inkorrekt ist, und führt dafür stellvertretend die Studien von Moede 1920, Lang und Hellpach 1922, Fischer 1925 und Köhler 1927 ins Feld.
40
Der Begriff der Entfremdung geht hier weitestgehend auf die Tradition des Deutschen Idealismus (Hegel, Schelling, Feuerbach, Marx) zurück. Allerdings geht die dort je nach Autor unterschiedliche, aber stets vorhandene Klarheit des Begriffes mit der Übernahme in die Arbeitspsychologie und dem Versuch der Operationalisierung weitestgehend verloren. Das mag auch mit dem dort vorhandenen, an Empirie orientierten Selbstverständnis und dem Mangel eines in sich geschlossenen Verständnisses von gesellschaftlicher Sinnbildung und organisationalen Prozessen insgesamt zusammenhängen. Später zeigt Luhmann für den Bereich der Soziologie, zu welchen Weiterungen - "obwohl nicht uninteressant und nicht unfruchtbar" (1987:8) - solche Vorgehensweisen führen, und was dem entgegenzusetzen sei. Für den Bereich der Organisationspsychologie versucht Greif (1983) die Widersprüche amalgamierender Methoden herauszuarbeiten.
41
Maslow z.B. postulierte eine eher mechanisch anmutende Abfolge von Bedürfnissen, deren Entfaltungsdynamik an eine streng hierarchische Aktualisierungsabfolge gebunden war. Selbstverwirklichung erfordert - behauptet Maslow - eine vorgängige Befriedigung der grundlegenderen physiologischen Bedürfnisse, der Sicherheits- und der sozialen Bedürfnisse, und der Bedürfnisse nach Wertschätzung. Vgl. auch Maslow 1954, 1970:35f. und Maslow 1971. Die Maslow'sche Bedürfnispyramide, die diesen Zusammenhang visualisiert, hat m.W. einen so hohen Bekanntheitsgrad, dass sie hier nicht nochmals dargestellt werden muss.
42
Vgl. z.B. Mayo 1930, 1933
43
Vgl. z.B. Roethlisberger et al. 1933
44
Vgl. z.B. Homans 1950
45
Vgl. z.B. Whyte 1951, 1961
46
Vgl. Friedmann 1952:321, zit. nach Ulich 1992:34 (Fußnote 7)
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33
Gesundheit einer eigens zu diesem Zweck zusammengestellten Gruppe von Montiererinnen untersucht werden47. In der Auswertung zeigte sich dann ein eher unerwarteter Effekt: die signifikant positiven Veränderungen, die mit einer "humaneren" Ausgestaltung des Arbeitsplatzes einhergingen, blieben in der Regel auch dann erhalten, wenn die Umgestaltung wieder zurückgenommen wurde. Da sich dieses Phänomen mit Hilfe aufs Individuum zurückgeführter Überlegungen kaum erklären ließ, führte man ihn schließlich auf die positive Wirkung der während des Experiments geknüpften informellen Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern, den Vorgesetzten und den Forschern zurück und setzte ihn zum Ausgangspunkt weiterer, ähnlich gelagerter Untersuchungen. In der Folge geriet die gesamte "psychotechnische" Richtung der Arbeitspsychologie ins Wanken. Sozusagen paradigmensprengend wandte man sich mehr und mehr von der Untersuchung der fähigkeitsbezogenen Merkmale der Persönlichkeit ab und mehr und mehr den emotionalen und motivationalen Aspekten des Leistungsverhaltens zu48. Allerdings blieb die Vorgehensweise - trotz aller humanistischen Ansätze - insgesamt einem überwiegend technokratischen Modell verbunden. Friedmann formuliert 1952 in der rückblickenden Auswertung der Hawthorne-Studien: jede "technische Neuerung verändert bei ihrer Anwendung in der Werkstatt die soziale Struktur des Betriebes. Sie darf also nur insoweit und zu dem Zeitpunkt eingeführt werden, wie es am günstigsten ist. Eine vorgehende Untersuchung der Rückwirkungen technischer Veränderungen auf den Faktor Mensch ist in jedem Falle unerlässlich"49.
Die Human-Relations-Bewegung Im Zusammenhang der Weiterentwicklung des humanistischen Arbeitskonzeptes gewann die Gestaltung der Arbeitstätigkeiten dann zunehmend an Bedeutung. Optimierung des (technischen) Arbeitsablaufes und Optimierung der motivationalen Grundlagen der Arbeitsplatzgestaltung standen nun als mehr oder weniger gleichberechtigte 47
Vgl. Mayo 1930 und 1933
48
Das ist auch im Hinblick auf die Entwicklung der neueren systemischen Sichtweise von Bedeutung, da hier erstmals der enorme Einfluss von Kontexten für den Aufbau sozialer Systeme thematisiert wurde. Allerdings galten Kontextvariablen (z.B. soziale Normen) hier noch ausschließlich als (jeweils statische) Einflussgrößen im Sinne kausaler Linearität. Das Denken beschränkte sich vollständig auf das Verhältnis von Wirkung und Rückwirkung nach dem klassischen Mensch-Maschine-System-Modell, das auch heute noch in der Arbeitspsychologie Verwendung findet. Eine dem von Luhmann entwickelten Konzept der "doppelten Kontingenz" ähnliche Überlegung wurde bei den Psychotechnikern m.W. noch nicht angedacht. Und auch von der Vorstellung "Sozialer Systeme" wie man sie heute formuliert, ist man noch weit entfernt. Vgl. stellvertretend für den ganzen Ansatz z.B. den Aufbau der soziotechnischen Systemanalyse, wie sie von Ulich 1992:66f. im Zusammenhang seiner arbeitspsychologischen Untersuchungen verwendet wird.
49
Friedmann 1952:318f., zit. nach Ulich 1992:35
34
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Forderungen nebeneinander. Die bereits bei den Hawthorne-Studien um Mayo zentrierten Psychologen, Sozialwissenschaftler und Sozialanthropologen (s.o.) wurden zum Zentrum der sogenannten „Human-Relations-Bewegung“, die sich vor allen Dingen um die Erforschung des Verhältnisses von innerer Einstellung und Arbeitsleistung, um die Bedeutung kooperativen Verhaltens in Gruppenarbeitszusammenhängen und um die Bedeutung von Führungspersönlichkeit und Führungsstil bemühte. Sie hatte ihren Höhepunkt in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Gleichsam als Gegenkonzept zur Monotonie der repetitiven Teilarbeit wurden nun Modelle entwickelt, die die Genese von Kompetenzen während des realen Arbeitsvollzuges ermöglichen sollten. Das Vorhandensein ausreichender Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume galt nun als Grundlage zur Beurteilung von Arbeitsabläufen ebenso wie als Vorgabe zu ihrer korrektiven Neugestaltung: "So vielfältig die Terminologie und so nuancenreich die Konzepte auch sind: In der einschlägigen Literatur herrscht große Einmütigkeit, dass die Möglichkeit, Einfluss auf seine Angelegenheiten zu nehmen, über möglichst viele Aspekte seines Lebens - und somit auch seiner Arbeit selbst zu entscheiden oder zumindest mit zu entscheiden, zu den Kriterien einer menschenwürdigen Lebensführung im allgemeinen wie einer persönlichkeitsfördernden Arbeitsgestaltung im besonderen zu zählen ist"50.
Die Gestaltungsmerkmale "Ganzheitlichkeit", "Anforderungsvielfalt", "Möglichkeiten der sozialen Interaktion", "Autonomie" und "Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten" galten (gelten) dabei als die wichtigsten Auslöser intrinsisch motivierter Handlungen und sollten (sollen) in jeder Aufgabengestaltung realisiert sein. Herzbergs „Zwei-Faktoren-Theorie“ Zerstückelung des Arbeitsprozesses - zu dieser Schlussfolgerung kommt auch Frederick I. Herzberg in seiner Studie "The Motivation to Work" von 1959 - entmotiviert und vermindert die innere Anteilnahme des Arbeiters am Arbeitsprozess. Dennoch sind die Faktoren, die letztendlich Zufriedenheit oder Unzufriedenheit auslösen, seines Erachtens komplex und keineswegs Teile eines kontinuierlichen Spektrums. Alle Unzufriedenheit erzeugenden Faktoren (Dissatifiers) rechnet er dem Kontext, alle Zufriedenheit erzeugenden Faktoren (Satisfiers) dem Inhalt der Arbeit und den mit ihr verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten zu51. Herzberg selbst betonte dabei die 50
Semmer 1990:190. Vgl. auch Leontjew 1982. Leontjew hat - im Rückgriff u.a. auf E. Husserls Phänomenologie und den Begriff der Intentionalität eine allgemeine Tätigkeitstheorie entwickelt, in der analytisch zwischen Tätigkeit (Motiv), Handlung (Ziel) und Operation (Aufgabe) unterschieden wird.
51
„Dissatifiers“ in diesem Sinne sind z.B.: die äußeren Arbeitsbedingungen, die Beziehungen zu den Arbeitskollegen, die Beziehungen zu den Vorgesetzten, die Firmenpolitik und die Administration, die Entlöhnung einschließlich der Sozialleistungen und die Krisensicherheit des Arbeitsplatzes. „Satisfiers“ dagegen sind z.B.: die Tätigkeit selbst, die Möglichkeit, etwas zu leisten, die Möglichkeit, sich weiter zu entwickeln, die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, die Aufstiegsmöglichkeiten und die Anerkennung. Die hier skizzierte "Zwei-Faktoren-
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Notwendigkeit der Verknüpfung von horizontaler und vertikaler Arbeitserweiterung, damit die Arbeiter ein gewisses Maß der Kontrolle über den Arbeitsprozess gewinnen können: "the individual should have some measure of control over the way in which the job is done in order to realize a sense of achievement and of personal growth"52. Im Nachgang zu Herzbergs Arbeiten versuchte man den Zufriedenheit erzeugenden Faktoren dann mehr Raum zu geben: Arbeitswechsel (job rotation), Arbeitserweiterung (job enlargement), Arbeitsanreicherung (job enrichment) und Übertragung partialer Verantwortung an teilautonome Arbeitsgruppen traten an die Stelle der repetitiven Teilarbeit. Die Bedeutung der Herzbergschen Zwei-Faktoren-Theorie ist damit vor allen Dingen praktischer Natur. Er war der erste, der die Wichtigkeit emotionaler und motivationaler Faktoren im Zusammenhang von Produktion erkannte und die laufende Anpassung der Produktionsprozesse an die persönliche Entwicklung der Beschäftigten einforderte. Zugleich ist diese Konzentration der Überlegungen auf die individuellen Aufgabenerweiterung jedoch seine größte Schwäche, da er soziale Beziehungen lediglich zu den Kontextfaktoren rechnete und den Einfluss sinnstiftender Gruppenzusammenhänge völlig unterschätzte. Im Anschluss an die Studien Herzbergs entstanden dann eine ganze Reihe von arbeitswissenschaftlichen und psychologischen Forschungen, die - anders als Herzberg selbst - die motivationale Bedeutung umfassender Aufgabenverantwortung in den Vordergrund stellten. Diesen Studien zufolge sollten Planung, Entwurf, Durchführung und Nachkontrolle möglichst in einer Hand liegen, um ein Höchstmaß an Motivation zu erreichen: da eine in diesem Sinne vollständige Aufgabenbewältigung für die im Zusammenhang der industriellen Produktion vereinzelten Arbeiter aber nicht realisierbar ist, verbleibt nur die Möglichkeit der Bündelung zusammengehöriger Teilarbeiten zu umfassenderen Gruppenarbeiten. Da diese den Vorteil haben, dass ein hohes Maß der oben geforderten Selbständigkeit erreicht wird und zusätzlich ein hohes Maß an sozialer Interaktion stattfinden kann53, geht die Tendenz - vor allem zuerst in Skandinavien - hin zur Einrichtung teilautonomer Arbeitsgruppen, denen ein
Theorie" Herzbergs blieb nicht unwidersprochen, sie geriet vor allen Dingen wegen methodologischer Schwächen und mangelnder theoretischer Stringenz ins Kreuzfeuer der Kritik. Vgl. z.B. Neuberger 1974. Dennoch löste sie einen Boom an Umstrukturierungsmaßnahmen in den Unternehmen aus, die zum Teil von großem Erfolg gekrönt waren. Für die USA vergleiche z.B.: IBM (Walker 1950) und Texas Instruments (Myers 1970). Für Deutschland vgl. z.B.: VW Buhmann et al., 1988; Pöhler 1974; Kalmbach et al. 1980; Dankbaar et al. 1988. Zum Vergleich von Betrieben der Automobilindustrie aus USA, Großbritannien und BRD z.B.: Jürgens et al. 1989. 52
Herzberg et al. 1959:132
53
Diese Schlussforderung wurde schon relativ früh gezogen. Vgl. z.B. Wilson et al. 1951 und Rice 1958
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gewisses - je nach Produktionszweig und Aufgabe unterschiedliches - Maß an Prozess- und Ergebnisverantwortung übertragen wird54. In den großen internationalen Unternehmen lenkte die stärkere Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse bei der Arbeitsplatzgestaltung das Interesse schließlich auch auf die Bedeutung der kulturellen Unterschiede. Der niederländische Kulturwissenschaftler Geert Hofstede (1980) war hier einer der ersten, der während einer groß angelegten Untersuchung bei IBM herausfand, dass unterschiedliche Kulturgruppen ein unterschiedliches Führungsverständnis haben, und dass kulturelle Muster ein zentraler Faktor bei der Gestaltung von Unternehmen und Organisationen sind55. 1.3.
Fordismus
1.3.1. Taylorismus und Fordismus im Vergleich Das tayloristische Produktionsmodell ging dem fordistischen zwar zeitlich voran, aber es ist weder das logische noch das zwangsläufige Vorgängermodell. Ford entwickelte sein Modell der konsequenten Arbeits- und Produktionsorganisation völlig unabhängig von den Vorstellungen Taylors56. Vergleicht man die Vorgehensweise Fords mit der Vorgehensweise Taylors, dann fällt vor allen Dingen auf, dass Ford die einzelnen Produktionsschritte auf den Montagebändern noch weit radikaler zerlegte als von Taylor je angedacht. Hebeisen argwöhnt hier, dass dieser Umstand nicht so sehr der konsequenten wissenschaftlichen Analyse der Prozesse im Sinne Taylors zu verdanken war, sondern eher der "Bequemlichkeit der Arbeitsplaner"57, die unter Zeitdruck etwas entwickeln mussten, das der mit dem großen Markterfolg des T54
Die Volvo-Werke sind hier federführend. Vgl. zur Geschichte der Gruppenarbeit bei Volvo z.B. Auer et al. 1988. Der insgesamt größte Teil der Arbeiten zum Thema "teilautonome Arbeitsgruppen" ist wohl zwischen 1970 und 1990 erschienen. Vgl. z.B. Ulich et al. 1973, Alioth 1980, Sandberg 1982. Eine aktuelle Arbeit findet sich z.B. bei Erke 2005.
55
Vgl. insbesondere Hofstede 1980. In einem ersten Schritt kamen Ende der 1960er Jahre 116.000 Fragebögen von mehr als 60.000 Mitarbeitern aus 72 Niederlassungen zur Auswertung. Davon gingen dann schließlich die Daten aus den 40 größten Niederlassungen in die eigentliche Analyse ein. Auf Hofstedes Arbeiten wird im Text der vorliegenden Arbeit noch näher eingegangen.
56
Als das von Ford entwickelte und produzierte Automodell „T“ 1912 zum ersten Mal vom Fließband lief, hatte Ford so etwas wie eine Bilderbuchkarriere hingelegt: 1903 startete er mit 8 Beschäftigten in Detroit, und bis zum Jahre 1926 baute er sein Unternehmen zu einem Konzern mit 88 Fabriken und 600000 Beschäftigten aus. Jährlich verließen 2 Mio. Automobile seine Produktionsstätten und sicherten ihm einen US-Marktanteil von ca. 50%. Außerdem verstand es Ford, die in seinen Werken beschäftigten Arbeiter und Mitarbeiter am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen, indem er die Belegschaft in Form relativ hoher Löhne zu Konsumenten machte. Vgl. auch Hirsch et al. 1986:45f.
57
Hebeisen 1999:132
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Modells verbundenen Produktionsbeschleunigung gerecht werden konnte. Nicht die Taylorsche Verfahrensweise - behauptet Hebeisen -, sondern die Fließketten der großen Schlachthäuser von Chicago seien Vorbild bei der Einführung immer kürzerer Arbeitsgänge am Fordschen Fließband gewesen58. Der Siegeszug des Fordschen Fließbandes hing also einerseits mit der großen Nachfrage nach Automobilen zusammen und andererseits mit den eher bescheidenen Bedürfnisse der Kunden. Der Käufer einer „Tin Lizzy“59 gab sich generell mit einem Standardmodell zufrieden und übernahm etwa gewünschte Veränderungen vorwiegend selbst. Das hatte Vorteile für die betriebswirtschaftliche Gestaltung des Produktionsprozesses: da Modellvarianten zu dieser Zeit nur durch aufwändige Handarbeit zu realisieren waren, konnte Ford mit der Produktion eines einzigen Standardmodells die für Spezialaufgaben benötigte Handarbeit einsparen und die Routinetätigkeiten ohne Rücksicht auf auftretende Kosten durch Maschinen ersetzen60. Taylor war überwiegend ein Theoretiker der Manufaktur im Übergang zur Großindustrie. Die Phase der radikalen Verkürzung einzelner Produktionsschritte in der mechanisierten Großindustrie ging in gewisser Weise an ihm vorüber61. So gab es bei Ford zwar die Trennung in Leitung und Ausführung der Arbeit, aber im Unterschied zu Taylor gab es weder Akkordarbeit, noch Prämienlohn, sondern Stundenlohn. Zeitstudien spielten im Sinne des oben Gesagten eher eine nebensächliche Rolle. Das von Taylor stark beklagte Bummeln und das Arbeiten nach tradierten Faustformeln wurde nicht mit Hilfe wissenschaftlich errechneter Vorgaben eliminiert, es fiel schlichtweg dem rasenden Takt des Fließbandes zum Opfer62. Im Fordistischen System war es die Maschine, die die Arbeiter zu einer bestimmten Arbeitsleistung zwang. Wie Womack et al. (1992) eindrucksvoll schildern, reduzierte das Fließband den Montagezyklus von ursprünglich 514 Minuten Handarbeit auf 1,19 Minuten, teils durch Wegfall unnötiger Wegezeiten, teils durch Erhöhung der Bandgeschwindigkeit. Durch den damit verbundenen Wegfall spezialisierter Arbeitskräfte
58
Vgl. Hebeisen 1999:132f.
59
Auf deutsch etwa „Blechliesel“. So wurde das Ford T-Modell umgangssprachlich genannt.
60
Vgl. Ford 1923:115f. Die Mechanisierung nach dem Muster des Fließbandes erfolgte bei Ford nicht auf einen Schlag, sondern sukzessive. Wo sie eingeführt wurde, war sie mit nahezu unglaublichen Einsparungen verbunden. Bologna (1989:7, zit. nach Kang 1995:150, Fußnote 1) berichtet z. B. eine 90%ige Reduzierung der Arbeitszeit bei der Einführung der FließbandTechnik 1913 in der Fordschen Gießerei: "Als die Ford-Ingenieure die Montage des ganzen Chassis zu rationalisieren begannen, gelang es ihnen in einem Jahr die durchschnittliche Arbeitszeit von 14 Stunden für diese Operation auf 93 Minuten zu senken." Ford kam es offensichtlich zugute, dass Maschinen in den USA zu seiner Zeit im Überfluss vorhanden waren. Vgl. hierzu Dubreuil 1930:16 und Lange 1928:320, zit. nach Vahrenkamp 1977:LXXXI
61
Ford führte die ersten Experimente mit dem Fließband 1913 durch, Taylor starb 1915.
62
Vgl. Dubreuil 1930:228f.
38
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konnte Ford den Verkaufspreis für das T-Modell bereits Anfang der 1920er Jahre um zwei Drittel reduzieren63. Dass es trotzdem nicht zu größeren Streikaktionen und Unruhen bei Ford kam, führt Vahrenkamp vor allen Dingen darauf zurück, dass Ford es verstand, sich "die psychologischen und soziologischen Bedingungen einer disziplinierten und zufriedenen Arbeiterschaft zu Nutze zu machen"64. Er sorgte - zumindest bis zum Kriegseintritt der USA 1917 - für vorbildliche Arbeitsbedingungen, hohe Löhne, innerbetriebliche Aufstiegsprogramme und patriarchalische Sozialfürsorge65. Mit dem Fordismus wurde die handwerklich-kleingewerbliche oder manufakturähnliche Arbeitsorganisation der vor-fordistischen Zeit also durch hochtechnisierte Verfahrensweisen abgelöst: Durchrationalisierung, Standardisierung und Neuorganisation der Produktionsabläufe ermöglichten die kostengünstige Fertigung von Massenprodukten für einen stark wachsenden Markt, sie erlaubten den zunehmenden Einsatz hoch technisierter Maschinen und eine - bis dato nicht für möglich gehaltene Ausweitung der Arbeitsteilung. Die Maschine übernahm nun einen Teil des ehedem facharbeiterspezifischen Produktions-Know-hows, die restlichen repetitiven Teilaufgaben der Fließproduktion wurden vorwiegend an ungelernte oder angelernte Arbeitskräfte verteilt. Die Maschine konnte große Stückzahlen in immer gleichbleibender Präzision fertigen, die zusammenzufügenden Teile passten praktisch immer, und handwerkliches Geschick war gar nicht mehr oder nur noch selten gefragt. "Es war (...) die vollständige und passgenaue Austauschbarkeit der Bauteile und die Einfachheit des Zusammenbaus. (...) Zusammengenommen verschafften die Austauschbarkeit, Einfachheit und die leichte Montage Ford enorme Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten"66.
Die Kostenvorteile der Großserienproduktion wurden dabei zum Teil an die Arbeiter weitergegeben. Niedrige Stückkosten und hoher Lohn gingen Hand in Hand. Die fordistische Organisation der Arbeit bezog sich dabei gleichermaßen auf die Produktionsweise und auf die Unternehmensführung. "Mit dem Begriff Fordismus wird (...) eine spezifische Formation industriell-kapitalistischer Gesellschaften beschrieben, die sich in den dreißiger bis fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts im Gefolge der Weltwirtschaftskrise und des Weltkriegs zunächst in den USA herausgebildet hat
63
Vgl. Womack et al. 1992:31-35
64
Vahrenkamp 1977:LXXXI
65
Vgl. Vahrenkamp 1977:LXXXII. Vahrenkamp bemerkt in Anlehnung an Nevins (1954:551), dass Ford vor 1917 Profitraten von über 100% hatte. Mit der Einführung des sogenannten "Five-Dollar-Day" 1914 gab Ford einen Teil des Profits an seine Arbeiter weiter. Es ergaben sich Lohnerhöhungen von bis zu 120%, die dem Fordschen Werker eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Industriearbeitern bescherte. Vgl. zum Thema auch Meyer 1980 und Bischoff et al. 1989. Nach 1917 fielen diese Raten auf unter 10% und Ford wurde wieder zum gewöhnlichen Industriebetrieb. Vgl. auch Womack et al. 1992:45f.
66
Womack et al. 1992:31
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und dann lange Zeit - ungeachtet aller Gleichzeitigkeiten und nationalen Besonderheiten - in den westlichen Industrieländern dominierend war"67.
Im Sinne des oben Gesagten versteht man unter "Fordismus" heute ein Bündel von Strategien, die sich an Markt- und Absatzentwicklung ausrichten, und die auf den Einsatz von Technik und die Organisation betrieblicher Arbeitsprozesse Einfluss nehmen68. Vom klassischen Taylorismus unterscheidet sich der Fordismus darüber hinaus durch das verbesserte Zusammenspiel der Maschinen, durch die verstärkte Koppelung von Mensch und Maschine und durch das vom Takt der Maschinen erzwungene Zusammenspiel der Menschen untereinander. Während im tayloristisch organisierten Arbeitsprozess der Manufakturen und Kleinbetriebe nur einzelne Maschinen und / oder einzelne Menschen aufeinander verwiesen waren, verknüpft der Fordismus in großer Konsequenz das gesamte Unternehmen zu einer hoch getakteten und rigide durchorganisierten Produktionseinheit. Erhöhung des Produktionsausstoßes erfolgt in der Regel nicht (mehr) - wie bei Taylor angedacht - durch Motivationssteigerung und Verwertung der Denkleistung des Arbeiters, sondern durch verschiedene Zeitnahmesysteme, mit denen die optimale Taktung von Bewegungsabläufen errechnet und zur Norm erhoben wird69.
67
Vieth 1995:22. Anders als bei Ford, der mit seinem T-Modell schließlich nur ein einziges Produkt fertigte - gab es in Teilen der US-amerikanischen Großindustrie aber durchaus Zeit- und Akkordlohn. Insbesondere Betriebe mit mittleren Fertigungsgrößen, bei denen eine Vollmechanisierung im Sinne der Fordschen Fließbänder unrentabel war, setzten auf die kontinuierliche Verbesserung der technischen Abläufe im Sinne Taylors und nahmen dafür eine nicht unerhebliche Zunahme der Bürokratie in Kauf. Vgl. Dubreuil 1930:95ff. Vahrenkamp (1977:XXXIII) führt hier die White-Motorenwerke mit 2500 Arbeitern und 30 Zeitnehmern an.
68
Vgl. Bechtle et al. 1989:46. Der Begriff des Fordismus stammt Riechers (1967:14) zufolge von Antonio Gramsci.
69
Die bekanntesten dieser Zeitnahme-Systeme sind REFA und MTM. REFA = ursprünglich der 1924 gegründete Reichsausschuss für Arbeitsvermittlung, 1951 umbenannt in "Verband für Arbeitsstudien REFA e.V." MTM = methods-time measurement, deutsch = ArbeitsablaufZeitanalyse AAZ ist - ähnlich wie REFA - eine Methode zur Analyse von Arbeitsabläufen. Im Unterschied zu REFA gehört sie jedoch zu den Systemen, bei denen die Taktzeiten vorgegeben werden. D.h. die vom Menschen während des Produktionsprozesses auszuführenden Bewegungen werden bereits während der Planungsphase der Maschine - in bestimmte Grundbewegungen unterteilt, für die die benötigten Bewegungszeiten bereits errechnet sind. Die Summe der errechneten Gesamtbewegungen ergibt die Taktvorgabe für den Maschinenarbeiter. Sie ist die Grundlage für Akkord und Leistungsentlohnung. In der Berechnungsgrundlage des MTM wird der Unterschied zwischen Taylorismus und Fordismus besonders deutlich: die kleinste bei MTM-Analysen verwendete Zeiteinheit ist 1 TMU = 0,036 Sekunden. Mit dem Tarifvertrag von 1979 haben die analytischen Arbeitsbewertungen in Deutschland stark an Bedeutung verloren. Sie wurden - VW war hier der Vorreiter - nach und nach durch ("gerechtere") Bewertungen des Arbeitsbereiches ersetzt. Vgl. zum Thema auch Müller-Jentsch 1988.
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Wenn man die technische Entwicklung vom heutigen Standpunkt aus rückblickend betrachtet, kann man leicht erkennen, dass die fordistische Mechanisierung der Arbeit in gewisser Weise starr und unflexibel war, weil Produktwechsel (Modellwechsel etc.) an umfangreiche, zeitintensive und damit teure Neueinrichtung der Maschinen gebunden war. Jedoch wirkte sich dieser Umstand kaum nachteilig aus, weil die Kombination aus Marktstruktur, Kundenstruktur und Kundenbedürfnis eine gesichtslose Massenproduktion ermöglichte. Rationalisierung hieß vor allen Dingen fortschreitende Mechanisierung der Produktion, wobei die Auswirkungen auf den Arbeitsprozess selbst durchaus zweischneidig waren: die zunehmende Entlastung von schwerer körperlicher Arbeit war an zunehmende Sinnentleerung und Monotonie gekoppelt. Dadurch, dass Ford die Arbeitsteilung bis zum Extrem trieb, hatte der Montagearbeiter nur noch die Aufgabe, "zwei Muttern auf zwei Schrauben zu setzen oder ein Rad an jedes Auto zu montieren"70. Allerdings konnten die Muster der fordistischen Produktionsweise niemals auf die gesamte Produktion ausgedehnt werden: die hochspezialisierten Werkzeugmaschinen, die für die Massenproduktion notwendig waren, mussten weiterhin von ausgewiesenen Fachkräften hergestellt werden. Das Konzept einer durchgängigen Entqualifizierung der Arbeiter im Laufe der industriellen Entwicklung greift daher ebenso zu kurz, wie die Vorstellung, dass der zentrale Konflikt der damaligen Zeit zwischen dem (kontrollierenden) Management auf der einen Seite und der (ausführenden) Arbeiterschaft auf der anderen Seite anzusiedeln sei. Zumindest für Teilbereiche der Arbeiter bringt die Mechanisierung der Produktion eine deutliche Erhöhung der Qualifikationsanforderungen mit sich. Fordistische Arbeitsstrukturen wurden stets durch nicht-fordistische Arbeitsstrukturen ergänzt71. Tatsächlich entwickeln sich mit dem Übergang vom Taylorismus hin zum Fordismus bereits die ersten Ansätze zur Trennung des industriellen Arbeitsmarktes in einen Markt für Hochqualifizierte und einen Markt für niedrig oder gar nicht Qualifizierte. Der Markt für niedrig oder gar nicht Qualifizierte entsteht dabei aber nicht durch Entqualifizierung der Qualifizierten, da der größte Teil der frühen industriellen Belegschaften aus entwurzelten besitzlosen Landarbeitern und ehemaligen Tagelöhnern bestand72. Qualifizierte ehemalige Handwerker bildeten nur einen geringen Teil der
70
Womack et al. 1992:35
71
Mit dem Aufkommen des sogenannten "Toyotismus" wird sich zeigen, dass diese nichtfordistischen Produktionsprinzipien zumindest in Teilbereichen der Produktion die Oberhand über die fordistischen Prinzipien gewinnen. Vgl. z.B. Piore et al. 1985:29ff. Vgl. zur Kritik am dualistischen Kontrollparadigma auch Vieth 1995:37-41.
72
Hebeisen (1999:14) gibt hier an, dass 1870 noch etwa 53% der amerikanischen Arbeitskräfte auf Farmen arbeiteten, um 1900 nur noch 37%. (Heute etwa 5%). Der Prozess der Industrialisierung war mit der Industrialisierung der Landwirtschaft verbunden, in deren Verlauf die Farmen immer größer wurden: 1880 lebten noch weit über 40% der Bevölkerung in Ortschaften mit weniger als 2500 Einwohnern, 1970 wohnten nur noch weniger als 5% "auf dem Lan-
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Gruppe der gering qualifizierten Industriearbeiter. Aber selbst die Gruppe der hochqualifizierten Industriearbeiter bestand in der Regel nicht aus ehemaligen Handwerkern, sondern aus Industriearbeitern, die sich ihre Qualifikation parallel zum Arbeitsprozess (selbst) angeeignet hatten73. 1.3.2. Erste Krisenanzeichen Auf der einen Seite bewirkte die durch Taylor mitinszenierte - aber keinesfalls durchgängig an Taylors Prinzipien ausgerichtete - Rationalisierung der Arbeit in der amerikanischen Wirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg eine deutliche Produktivitätssteigerung, die man durchaus als Rechtfertigung für die Richtigkeit der Vorgehensweise selbst nutzen konnte74. Auf der anderen Seite zeigte der Strukturwandel der Arbeit ernste Schattenseiten. Denn es wurde deutlich, dass die rigorose Trennung von Planung und Ausführung die Komplexität der Arbeitsprozesse nicht wirklich reduzierte. Die weit verbreitete Nichtbeteiligung der Arbeiter und das Desinteresse an ihren unmittelbaren Erfahrungen ließ zwar eine durchgehende Standardisierung der Produktion zu, aber keine dauerhafte Prozessoptimierung: "Ford hatte mit seiner Massenfertigung Erfolg in der Fabrik, aber es gelang ihm nie, die Organisation und das Managementsystem zu schaffen, die er gebraucht hätte, um das gesamte System von Fabriken, Entwicklungsstätten und Vertriebssystemen, wie es die Massenproduktion verlangte, effektiv zu managen"75.
Betrachtet man die fordistische Fertigungsweise näher, dann kann man feststellen, dass sich das wesentliche Element der Massenproduktion nicht in der Bandproduktion selbst findet, sondern in den damit verbundenen Begleitumständen: die zunehmende Installierung von Expertensystemen war von einem Ungleichgewicht an Bildung, Ausbildung und Aufstiegschancen unterlegt. Die Austauschbarkeit und Standardisierung der Fertigungsteile ging mit der Standardisierung und Zerteilung der Arbeitschritte einher und wurde von der zunehmenden Austauschbarkeit der Arbeitskräfte begleitet, sofern sie zu den gering qualifizierten Bandarbeitern gehörten76. Das, de". Im Jahr 2002 arbeiteten gerade eben 2,4% der Beschäftigten in der Agrarwirtschaft. Vgl. Frühbrodt 2010, ohne Paginierung. 73
Die Begriffe „hoch qualifiziert“ und „gering qualifiziert“ müssen als generell eher unscharfe Sammelkategorien betrachtet werden. Im Zusammenhang der internationalen Migration versteht man unter Hochqualifizierten häufig Menschen mit tertiärer Ausbildung, d.h. mit Hochschul-, Universitäts-, Technischem Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Unter Geringqualifizierten dagegen Menschen, die aus eben diesem Muster oder aus anderen Mustern landestypischer Qualifikation herausfallen. Vgl. World Migration Report 2008:52f. und 78f.
74
Vgl. Zander 1996:5. Zwischen 1950 und 1973 wuchs die gesamtwirtschaftliche Produktivität in den USA jährlich durchschnittlich um 2,5%, aber nur noch weniger als 1% zwischen 1974 und 1989.
75
Womack et al. 1992:45
76
Hebeisen 1999:129
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was innerhalb der Arbeits- und Produktionsprozesse zunächst an Effizienz gewonnen wurde, erwies sich langfristig als ineffektiv und nachteilig. Technisierung und Arbeitsteilung forderten ihren Preis. Die mit der Standardisierung verbundene, zunehmende Monotonie der Arbeit erzeugte bei den Arbeitern eine starke Unzufriedenheit. Häufig wirkten sich zu kleine Zeitpuffer zwischen den einzelnen Arbeitsschritten negativ auf den Gesundheitszustand aus, und vielfach steigerte sich die Unzufriedenheit bis hin zur Demotivation. Für Bandarbeiter gab es so gut wie keine beruflichen Aufstiegschancen, sie konnten aufgrund ihrer Austauschbarkeit keine Identifikation mit dem Unternehmen entwickeln, und sie waren eher wenig an einer umfassenden Qualitätsfertigung interessiert. Das schlug sich nicht zuletzt in hohen Ausschussquoten nieder, in manchen Unternehmen machten die Nachbesserungen mehr als ein Drittel der Gesamtproduktion aus77. 1.3.3. Verschärfung der Krise In den frühen 1970er durchlebten die mechanisch produzierenden Großunternehmen dann eine deutliche Produktivitätsstagnation78, für die es mehrere Gründe gab: zum einen verteuerten sich mit der Energiekrise von 1973 die Produktionskosten allgemein, und zum anderen wirkte sich die Kursentwicklung des Dollars und der ihm angeschlossenen Währungen negativ auf den Absatzmarkt aus. Zusätzlich hatte die ausgeprägte Prosperität der Nachkriegszeit einen deutlichen Wandel der gesellschaftlichen Werte zur Folge, der sich in einem veränderten Selbstverständnis breiter Bevölkerungsteile, in anderen Konsumgewohnheiten und in veränderten Ansprüchen an den Arbeitsplatz niederschlug: die zunehmende, durch Hochtechnisierung vorangetriebene Rigidität und Inflexibilität der Produktion, wurde vermehrt mit passivem und / oder aktivem Widerstand beantwortet79. Die Steigerung des Lebensstandards ging mit dem Bedürfnis nach Ausweitung der individuellen und kollektiven Handlungsspielräume einher. Momente der subjektiven Sinnfindung und des eigenen Kompetenzgefühls traten stärker als bislang in den Vordergrund. Bislang eher untergeordnete Bedürfnisse nach Anerkennung der eige-
77
Vgl. Womack et al. 1992:32-47
78
Vgl. Zander 1996:12. Seit Anfang der 1970er Jahre gibt es keine Vollbeschäftigung mehr in der Bundesrepublik Deutschland; stattdessen hat sich eine - von Rezession zu Rezession stabiler werdende Sockelarbeitslosigkeit aufgebaut, die während der dazwischenliegenden Aufschwungphasen nicht reduziert werden konnte.
79
Gerade im Zusammenhang von Migration und Arbeitsmigration sei hier beispielhaft der „Wilde Streik“ 1973 bei Ford in Köln genannt, der überwiegend von türkischen Gastarbeitern inszeniert und durchgeführt wurde. 1973 zählten zu den 35.000 Lohnempfängern der Kölner Ford-Werke 14.500 ausländische Arbeitnehmer, davon 12.000 Türken, die nahezu ausnahmslos zu Niedriglöhnen als Hilfsarbeiter in der Endmontage am Fließband arbeiteten. Vgl. Kraushaar 2004:1
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nen Leistung, nach innerlicher Beteiligung am Arbeitsprozess oder nach einer anderen Form der tätigkeitsbezogenen Kommunikation mit den Kollegen wurden nun offen formuliert. Statt gesichtsloser Einheitsprodukte - wie zur Hochära der Tin Lizzy Fords - verlangte man nun zunehmend nach individualisierten Produkten, nach mehr Freizeit und nach anderen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Die auf das standardisierte Massenprodukt ausgerichtete Fließbandfertigung konnte den Kundenbedürfnissen nicht mehr gerecht werden. 1.3.4. Dollarkrise und Ende der festen Wechselkurse Über die bis hier benannten inneren Einflussfaktoren wurden vor allen Dingen drei äußere Einflussfaktoren bei der Restrukturierung der Großindustrie (vor allen Dingen der Automobilindustrie) wirksam:
die Kursentwicklung des Dollars und der ihm angeschlossenen Währungen,
die Energiekrise von 1973 und
das Vordringen der japanischen Industrie auf dem Weltmarkt.
Nachdem R. Nixon 1971 die Goldeinlösepflicht des Dollars aufhob, brach das Bretton-Woods-System80 1973 endgültig zusammen. Insbesondere der Dollar kam durch die Freigabe aller Wechselkurse nun in eine scharfe Krise, die bis ca. 1980 anhielt und die die mit dem Dollar verbundenen Währungen ebenfalls in die eine oder andere Richtung beeinflusste. Während das z.B. Pfund Sterling deutlich an Wert verlor, erlebten Yen und DM von 1970 bis 1987 eine ungefähr 250%ige Kurssteigerung. Dieser Kurs entwickelte sich jedoch nicht linear, sondern wurde von schwankenden Aufund Abwertungen um 50% begleitet, die selbst die großen und finanzstarken Unter-
80
Das Bretton-Woods-System ist ein nach der Konferenz von Bretton Woods (22. Juli 1944) benanntes Währungssystem, das eine reibungslose und von Handelsbarrieren weitestgehend befreite Gestaltung des Welthandels zum Ziel hatte. Es gründete auf festen Wechselkursen, bei denen der goldhinterlegte US-Dollar als Leitwährung diente. Dieses System funktionierte, solange die USA eine halbwegs positive Außenhandelsbilanz aufwiesen. Es kam zu der Krise, als die USA den Vietnam-Krieg mit Hilfe einer unkontrollierten Erhöhung der Geldmenge finanzierten, weil die auf dem Weltmarkt vorhandene Menge an Dollar nicht mehr durch Gold gedeckt war und die Goldeinlösegarantie der USA demgemäß nicht mehr zu halten war. Die dem Dollar verbundenen Staaten waren gezwungen, riesige Mengen an Dollar aufzukaufen, um den eigenen Wechselkurs zu stabilisieren. Als Frankreich 1969 seine Dollarreserven in Gold einlösen wollte, führte das auf einen Schlag zur Zahlungsunfähigkeit der USA: Die USamerikanischen Goldreserven waren zu gering, um auch nur die Forderungen eines einzigen Mitgliedslandes zu erfüllen. In der Folge wurde die makroökonomische Orientierung an goldgestützten Wechselkursen durch die Orientierung an kaufkraftparitätischen Wechselkursen ersetzt. Mit diesen vergleicht man z.B., welchen Geldbetrag man in unterschiedlichen Ländern für einen identischen Warenkorb zahlen muss. Trotz dieser Umorientierung blieben die Bretton-Woods-Organisationen "Weltbank" und "Internationale Währungsfond" (IWF) übrigens bis heute erhalten. Vgl. zum Thema z.B. Altvater 1969, Alecke 1999, Muchlinski 2005.
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
nehmen schwer belasteten81. Da Standortvorteile und Standortnachteile unter diesen Bedingungen nur schwer zu eruieren waren, wurde es für die Unternehmen zunehmend notwendig, flexiblere Strategien zur Handhabung von Produkten und Produktionsstrukturen zu entwickeln, wobei sich in erster Linie die Auslagerung einzelner Produktionsprogramme und / oder ganzer Fertigungslinien in verschiedene Länder anbot, und gleichzeitig ermöglichte die aufkommende EDV-Technologie eine zunehmende Produktdiversifizierung, die den Bedürfnissen des internationalen Marktes besser entsprach als die überkommene Massenfertigung. 1.3.5. Die Energiekrise von 1973 Das Interesse vieler Automobilkäufer an Typenvielfalt, Komfort und Sicherheit wurde mit der Energiekrise 1973 durch das Interesse an Sparsamkeit ergänzt. Da die amerikanische Automobilindustrie (General Motors, Ford, Chrysler) solche Modelle aber nicht im Angebot führte, konnte insbesondere die japanische Firma Toyota verstärkt auf den Markt dringen und in kurzer Zeit ein großes Marktsegment erobern82. Zusammen mit den weiter oben bereits genannten Faktoren führte der erhöhte Konkurrenzdruck zu einer völlig neuen Fahrzeugkonzeption, zu einer Fülle von Produktinnovationen und technischen Neuerungen und zu einer radikalen Veränderung der Produktionstechnologien. Die Entwicklung neuer Motoren, neuer Getriebe und neuer Fahrwerksysteme wurde zunehmend durch EDV-gestützte Fertigungsmaschinen und verstärkten Robotereinsatz unterstützt, wobei die Modernisierung der Unternehmen allgemein mit einem deutlichen Anstieg der Sachinvestitionen einherging. Dieser Anstieg der Sachinvestitionen folgte jedoch keineswegs in allen Unternehmen dem gleichen Muster. Jürgens et al. (1989) zeigen in diesem Zusammenhang, dass sich die Investitionen deutscher Unternehmen von 1976 bis 1985 fast vervierfachten, während sich die der US-amerikanischen Unternehmen lediglich verdoppelten und die der britischen Unternehmen sogar gleich blieben83. Dabei zeigte sich schnell, dass die auslösende Krise keineswegs begrenzt war, sondern auf grundlegende Strukturprobleme verwies, die man mit den eingeschliffenen Maßnahmen nicht mehr lösen 81
Vgl. hierzu insbesondere: IMF (International Monetary Fund) International Financial Statistics, div. Jahrgänge.
82
Die amerikanische Automobilindustrie war relativ unflexibel. Das durch Käuferverhalten und Regierungsmaßnahmen erzwungene Down-Sizing-Program zur Reduzierung von Wagengröße und Spritverbrauch wurde überhaupt erst Mitte der 1980er Jahre marktwirksam, und sogar dann nur ansatzweise. Es greift selbst heute noch nicht wirklich. Vgl. auch Altschuler et al. 1984.
83
Vgl. Jürgens et al. 1989:21f. Hier begründen sich wohl die noch immer akuten Probleme der US-amerikanischen Automobilindustrie. Aufgrund der notwendigen Investitionen musste Chrysler sich z.B. weitestgehend aus dem internationalen Markt zurückziehen und seine Produktlinie radikal zurückfahren. Danach konnte der Anschluss an die Weltspitze niemals mehr hergestellt werden.
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konnte. Wo es in der Speckphase der fordistisch organisierten Industrie noch um einen relativ gelassenen Wettbewerb mit einzelnen Konkurrenten ging, bei welchem es allen Beteiligten relativ gut ging, ging es nun im großen Stil um die prinzipielle Wettbewerbsfähigkeit, um die elementare Neuverteilung des Weltmarktes und um das Überleben an sich. Im Vergleich der deutschen, der US-amerikanischen und der britischen Automobilindustrie lässt sich zeigen, dass alle drei gleichermaßen von steilen und kurzzyklischen Schwankungen gekennzeichnet waren. Unterschiede gab es dennoch im Verlauf der einzelnen Kurven über die Zeit hinweg und in den diesen Kurven zugrunde liegenden Ursachen. Die USA verzeichneten 1982 einen besonders tiefen Einbruch, in welchem die Produktionskapazität auf ungefähr 63% des Volumens von 1972 zurückging, weil die Wirtschaftsrezension mit dem verstärkten Import (20% des US-amerikanischen Gesamtmarktes) japanischer Automobile einherging. Bei General Motors, Ford und Chrysler waren damals insgesamt 264.700 Arbeitslose registriert84. In der britischen Automobilindustrie dagegen kam es bereits in den 1970er Jahren zu einem enormen Rückgang von Produktionsvolumen und Beschäftigtenzahl85. Die Beschäftigtenzahl sank von 496.000 (1970) zunächst auf 434.000 (1980) und dann nochmals auf 290.000 (1985). Nachdem das Produktionsvolumen Anfang der 1980er Jahre dabei sogar das Spitzenniveau von 1973 überschritten hatte, stagnierte es ab Anfang der 1980er Jahre86.
84
Vgl. Jürgens et al. 1989:22f. Nach Jürgens standen Chrysler mit 1,5 Mrd. Dollar und Ford mit 1,5 Mrd. Dollar Defizit 1980 kurz vor dem Bankrott. Sie konnnten nur durch eine konzertierte Aktion von Staaten, Banken und Gewerkschaften gerettet werden (ebda, S. 25). Interessant ist zugleich, dass man in dem von Jürgens zitierten UAW Research Bulletin bereits 1986 befürchtete, der Marktanteil der großen drei US-amerikanischen Automobilindustrie könnte mittelfristig auf unter 50% sinken. Einer Meldung der Internetausgabe von "Wirtschaft- und BörsenNews" vom 30.11.2006 zufolge verteilt sich der Anteil der Marken auf dem USamerikanischen Markt zur Zeit wie folgt: DAIMLERCHRYSLER = 164.556 ohne MercedesBenz; FORD = 182.259; GENERAL MOTORS = 297.556 (US-Prod. insgesamt = 644.371 Stk). VOLKSWAGEN = 17.082; AUDI = 9.209; BMW = 25.889; PORSCHE = 2.723 (deutsche Produktion insges. = 76.982 incl. Mercedes Benz, entspricht 6,99% des Gesamtmarktes) ; NISSAN = 76.015; HONDA = 106.446; TOYOTA = 196.695 (japanische Prod. insges. = 379.156, entspricht 34.45% des Gesamtmarktes). Allein der japanische Marktanteil liegt also heute bei knapp 35%, japanische und deutsche Autos zusammen halten einen Marktanteil von fast 42%. Da andere Marken in dieser Statistik nicht erfasst sind, dürfte sich die oben geäußerte Befürchtung inzwischen realisiert haben.
85
Vgl. Jürgens et. al. 1989:27f.
86
Vgl. Jürgens et al. 1989:28. Jürgens verweist hier auf drei Besonderheiten der britischen Automobilindustrie: erstens gelang es dem Staatskonzern British Leyland nicht, seine zusammengewürfelten Unternehmensteile strategisch auszurichten und eine wettbewerbsfähige Produktpalette auf den Markt zu bringen. Zweitens musste Großbritannien als europäische Produktionsstätte für Ford und General Motors spezielle Auflagen erfüllen. Der britische Produktionsanteil im europäischen Produktionsverbund sollte gegenüber dem interkontinentalen Produkti-
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Die Energiekrise87 wirkte sich auch auf die Bundesrepublik Deutschland aus, allerdings ohne das stetige Wachstum und den Ausbau zum Exportindustrieland insgesamt zu behindern. Von daher war das Phänomen der „gebundenen Importe“ hier keine wirkliche Bedrohung. Die bundesrepublikanische Automobilindustrie war innerhalb der Branche als Massenhersteller (VW, Ford, Opel) und zugleich als Hersteller von Luxusfahrzeugen (BMW, Daimler-Benz, Porsche) bekannt. VW fertigte 1980 in der BRD 1.232.000, Opel 787.000 und Ford 420.000 PKW. Es gab deutliche Rentabilitätsprobleme, jedoch kein so dramatisches Auf und Ab im Produktionsvolumen und in der Beschäftigung wie in den USA und in Großbritannien88. 1.4.
Toyotismus
1.4.1. Standortwechsel und Internationalisierung der Produktion Über die bisher beschriebenen Rationalisierungsmaßnahmen hinaus entwickelten die europäischen und amerikanischen Großunternehmen ab 1970 vorwiegend drei Strategien, um der tief greifenden Krise der fordistischen Produktionsweise Herr zu werden:
Standortwechsel und Internationalisierung der Produktion
Einführung ganzheitlicher Produktionssysteme (Toyotismus) und onsvolumen zurückgeschraubt werden. Großbritannien importierte aus den USA Autos, obwohl es in den landeseigenen Ford- und General Motors-Produktionsstätten selbst produzieren konnte. Damit positionierte sich die englische Automobilindustrie auf dem Markt zu einem importierenden Auto-Industrieland. 1980 machte der Anteil der gebundenen Importe am Absatz Fords in Großbritannien 47%, am Absatz General Motors (Vauxhall) 38% aus. British Leyland produzierte 1970 noch 900.000 Autos und im Jahre 1985 nur noch 500.000; Ford standen im Jahre 1970 450.000 produzierte PKW gegenüber 320.000 im Jahre 1985, und bei General Motors blieb die Produktion von 190.000 PKW zwischen 1979 und 1985 beinahe gleich. Darüber hinaus kauften die Briten eher Import-Fahrzeuge als die im eigenen Land produzierten, was einen enormen Imageverlust der eigenen Produktion nach sich zog. Man dichtete den Importwaren eine höhere Qualität an. Und der letzte Grund für die ProduktionsStagnation und den Verlust an Weltmarktanteilen liegt in der besonderen CommonwealthSituation Großbritanniens begründet. Mit der Lockerung der Commonwealthbeziehungen gingen bestehende Marktanteile verloren, und Japan konnte sich zunehmend besser als ernst zu nehmender Konkurrent behaupten.
87
Der aus der ersten Ölkrise 1973 resultierende Kostendruck für die Unternehmen wurde im wesentlichen durch die damit verbundene Preissteigerung und die anschließende, bundesweite Streikwelle zur Erkämpfung von Teuerungszulagen mitbestimmt. Vgl. zum Thema z.B. Baethge 1991.
88
Vgl. Streeck 1984 und Due et al. 1981. Die Autoren befassen sich hier ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Produktionsvolumen und Beschäftigungsvolumen bei den Massenherstellern Ford, VW und Opel. Vgl. zur Geschichte des Automobilkonsums auch Bäurle 1966:59f., Beckmann 2006:83f., Sachs 1984:80f. und Ruppert 1993:126f.
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Einführung neuer Arbeitsstrukturen und neuer Arbeitskonzepte.
Zum Verlauf der langjährigen Entwicklung von Standortwechsel und Internationalisierung der Produktion gibt es eine Reihe interessanter Zahlen, bei denen insbesondere die enorme Steigerung der Direktinvestition hervorsticht: so hatte die deutsche Industrie im Jahre 1971 ein Kapital von 19,932 Mio. DM direkt ins Ausland investiert, im Jahre 1980 dagegen ein Kapital von 54,778 Mio. DM. Das entspricht einer Steigerung von 274% in neun Jahren. Bei der Automobilindustrie sehen die Zahlen in etwa ähnlich aus: hier steht einer Direktinvestition von 2,167 Mio. DM im Jahre 1971 eine Direktinvestition von 5,128 Mio. DM = 236,64% gegenüber89. Diese Steigerung der Direktinvestition korrelierte eng mit der Steigerung der Auslandsbeschäftigten: VW etwa hatte 1970 ungefähr 155.000 Inlandsbeschäftigte und 35.000 (= 22,58%) Auslandsbeschäftigte. 1982 standen 158.000 Inlandsbeschäftigten 231.000 Auslandsbeschäftigte gegenüber. Das Verhältnis hatte sich umgekehrt. Während die Zahl der Inlandsbeschäftigten nahezu gleich blieb, wuchs die Zahl der Auslandsbeschäftigten um immerhin 660%90. Standortwechsel, Internationalisierung der Produktion und Erhöhung der Direktinvestitionen reichten aber nicht aus, um das Vordringen der japanischen Automobilindustrie auf dem Weltmarkt einzudämmen. Trotz der erhöhten Produktivität der europäisch-amerikanischen Automobilindustrie eroberte die japanische Automobilindustrie einen zunehmenden Marktanteil. Während die Quote der aus Japan importierten PKW 1980 noch bei 10,4% lag, lag sie 1985 bereits bei 30%91, und weitere Steigerungen waren absehbar. Im Versuch, die Wettbewerbsnachteile gegenüber der asiatischen Automobilindustrie auszugleichen, wurde den US-amerikanischen und europäischen Automobilunternehmen schnell deutlich, dass ihnen wesentliche Informationen über die japanische Produktionsorganisation fehlten. Die statistischen Zahlen zur japanischen Wettbewerbsstärke zeigten keinen den Weg aus der Misere, und insbesondere die amerikanischen Konzernzentralen entsandten Kommissionen in japanische Betriebe, um sich vor Ort zu erkundigen, was die Japaner anders machten, und welche Arbeitsstrukturen und -konzepte sie genau nutzten92.
89
Vgl. Due 1985:219
90
Vgl. Due 1985:221
91
Vgl. Jürgens et al. 1989:31. In den folgenden Jahren konnten selbst die besten Produktionssysteme die Einflüsse des weltweiten Finanzmarktgeschehens nicht völlig kompensieren. 2006 verkaufte die internationale Automobilindustrie lediglich 74% der 70,1 Mio. pro Jahr produzierten Fahrzeuge. Damit gerieten die schwächsten der Akteure in eine Rentabilitätskrise: General Motors machte 2005 10,6 Mrd. US-Dollar Verluste, und Ford schrieb allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2006 7,24 Mrd. US-Dollar Verluste. Hier wird deutlich, dass die produzierenden Länder selbst bei einer drastischen Verringerung der Kapazitäten keinen positiven Einfluss auf die Rentabilität und Auslastung erzielen.
92
Vgl. Jürgens et al. 1989:37. Man stieß hier auf ein wichtiges Problem: die gewonnenen Beobachtungen über Ursachen, Ausmaß und Auswirkungen der japanischen Produktionsorganisa-
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Zunächst wurde vermutet, dass die Ursachen für die japanische Wettbewerbsstärke in der Unterbewertung des Yen und in den geringen Löhnen zu verorten sei. Die Studien zu den Kostenvorteilen der japanischen Produktion zeigten aber schnell, dass die höhere Nutzung und Auslastung der japanischen Maschinen und Anlagen schätzungsweise zu 40% für den japanischen Produktionsvorteil verantwortlich zeichnete. Weitere 18% am beschriebenen Produktionsvorteil kamen durch die andere Form der Arbeitsteilung und die höhere Flexibilität des Arbeitseinsatzes zustande, und zusätzliche 9% ergaben sich aus der besseren Qualitätssicherung93. 1.4.2. Einführung ganzheitlicher Produktionssysteme Der japanische PKW-Markt selbst wurde von den Herstellerfirmen Toyota, Mazda, Nissan und Honda angeführt. Diese Unternehmen konnten allein in den 1970er Jahren ihre Produktionskapazität um 170% erhöhen, wobei das Erstaunliche war, dass das Produktionsvolumen im Verhältnis zur Beschäftigungszahl um ein 23faches anstieg. Die Frage der Rentabilität stellte sich hier nicht. Umso mehr fragten sich die westeuropäischen und nordamerikanischen Automobilhersteller, wie diese enorme Produktivität möglich sein konnte, da sich das Phänomen der enormen Arbeitsproduktivität nicht auf die währungs- und handelspolitischen Gegebenheiten zurückführen ließ94. Man ortete das Herausstellungsmerkmal der japanischen Automobilindustrie schließlich im besonderen System der Produktionsorganisation, dem so genannten "Toyota Produktionssystem" (kurz: Toyotismus), und dieses System wurde zum Vorbild für die gesamte US-amerikanisch-europäische Automobilindustrie. Zum Teil versuchten die traditionellen Herstellerländer sich an die japanische Produktionsweise anzupassen, zum Teil suchten sie der ungewohnt rentablen Arbeitsweise der Japaner etwas eigenes - langfristig noch rentableres - entgegenzusetzen.
tion konnten auf Grund der fehlenden Kenntnisse über die japanische Kultur nur mit den eigenen kulturellen Maßstäben interpretiert werden. Es gab nur wenige Abhandlungen über die japanische Arbeits- und Produktionsweise, auf die das Management zurückgreifen konnte. 93
Vgl. Jürgens et al. 1989:38. Insbesondere die USA waren intensiv um die Japan-Rezeption bemüht, und die nordamerikanische Automobilindustrie profitierte von Studien, die sich mit der Frage der Kostenvorteile japanischer Fertigung und der Quantifizierung befassten. Die Studien aus den 1980er Jahren ergaben, dass die Kostenpreise der japanischen Produkte inklusive der Transportkosten um 40% geringer waren als die der amerikanischen Hersteller. Und eine Studie der amerikanischen Automobilgewerkschaft (UAW) bestätigt nach intensiver Kostenanalyse, dass der Kostenvorteil der japanischen Produktion sich bei 38% beläuft und auf eine höhere Effizienz in der Fertigung und Montage liegt. Dagegen bedingen die Lohndifferenz mit 20%, die Wechselkurse mit 24% und die japanischen Steuervorteile mit 18% die Kostenvorteile. In diesem Zusammenhang wurde der Industriestandort USA neu diskutiert.
94
Vgl. Jürgens et al. 1989:34f.
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Die Veränderung des Produktionssystems war allerdings erst der zweite Schritt. Die erste Reaktion auf die japanische Markteroberung war der Rückgriff auf Protektionen und Importrestriktionen95. Jedoch konnte man Japan mit diesen Maßnahmen nicht vom Markt verdrängen. Denn Japan änderte die Strategie und errichtete im Rahmen von Internationalisierungstendenzen nun selbst eigene Produktionsstätten im Ausland, wobei Japan die erstarkende südkoreanische Automobilindustrie als ernstzunehmenden Konkurrenten im Auge behalten musste96, denn mit Beginn der 1980er Jahre entwickelte sich Südkorea ebenfalls zu einem Weltmarktkonkurrenten für Kleinwagenhersteller. Für 1990 wurde vom Ministerium für Handel und Industrie Südkoreas ein Exportvolumen von 1,25 Mio. KFZ prognostiziert, für 2000 sogar eines von 2,5 Mio. Damit hatte Südkorea die Bundesrepublik Ende der 1980er Jahre ( 2,3 Mio. PKW) überholt und Großbritannien Ende der 1990er Jahre. Südkorea hatte sich damit eine - bislang ausschließlich von Japan belegte - Marktlücke im Segment der verbrauchsarmen Kleinwagen erobert und seine Produktionsstätten auf einen technisch hochmodernen Stand gebracht. Japan reagierte auf den Verlust im Kleinwagensegment mit einem verstärkten Angebot von Wagen der oberen Mittelklasse und von Luxuswagen, wobei dieser Vorstoß Japans in den Bereich der amerikanischen und westeuropäischen PKW-Domäne wegen der loyalen Bindung der Käuferschaft an die traditionellen europäisch-amerikanischen Marken relativ schnell an Grenzen stieß97. 1.5.
Zwischenauswertung
1.5.1. Toyotismus keine lineare Weiterentwicklung des Fordismus Der obige Abriss der unterschiedlichen Markteroberungsstrategien in der Automobilbranche hat gezeigt, dass hohe Flexibilität und ausreichende Investition in hochmoderne Technologie für die großen Industrieunternehmen unabdingbar sind, um bestehende Weltmarktanteile zu halten und neue dazu zu erobern. Dagegen müssen Maßnahmen wie "gebundene Importe" oder "freiwillige Selbstbeschränkungsabkommen" eher als kurzfristige und aktionistische Handlungsweisen gesehen werden denn als langfristige konstruktive Wachstumsstrategien. Zugleich stellt sich in nachfordistischen Organisationen die Frage, was produzierende Unternehmen an Produktionsorganisation brauchen, um flexibel und wachstumsstrategisch handeln zu können. 95
Vgl. Jürgens et al. 1989:36. Anfang der 1980er Jahre führten die USA das sogenannte freiwillige Selbstbeschränkungsabkommen ein, das beinhaltete, dass die japanischen Marktanteile auf dem amerikanischen Importmarkt bei 20% liegen - beispielsweise für die britischen Marktanteile 10%.
96
Bei der Einführung von Joint Ventures zur Optimierung des Wachstums übernahm Japan eine Art Vorreiterposition.
97
Vgl. Jürgens et al. 1989:36
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In diesem Zusammenhang haben sich die Produktionsmodelle „Taylorismus“, „Fordismus“ und „Toyotismus“ historisch gesehen zwar nacheinander entfaltet, aber man kann weder von einer linearen Weiterentwicklung des Taylorismus zum Fordismus sprechen, noch von einer linearen Weiterentwicklung des Fordismus zum Toyotismus. Die Reihe Taylorismus - Fordismus - Toyotismus ist nicht dadurch charakterisiert, dass sich die Modelle im eigentlichen Sinne ablösen, sondern vor allen Dingen dadurch, dass das jeweilige Nachfolgemodell seinen Vorgänger um weitere, noch flexiblere Produktionsformen ergänzt, ohne dass die alten zwangsläufig irrelevant werden. Tayloristische, fordistische und toyotistische Produktionsformen können durchaus - mitunter sogar durchaus innerhalb eines Unternehmens - nebeneinander bestehen: die repetitive Teilarbeit der fordistischen Arbeitsorganisation bleibt im Toyotismus in einzelnen Branchen und / oder in einzelnen Produktionssektoren erhalten, aber sie verliert den Status des Wesensgemäßen. Wesensgemäß sind nun die zunehmende Spezialisierung der Mitarbeiter, die neuen Formen der technologischen Integration und die neuen Formen der Sozialintegration. Die fordistisch organisierten Unternehmen zeichnen sich noch durch eine relativ große Stabilität aus. Vor dem Hintergrund einer wenig komplexen Umwelt sind ihre Produktionsprozesse umfassend zerlegt, standardisiert und formalisiert. Gleichförmigkeit und Widerholung stehen im Vordergrund des Geschehens, der Abstimmungsbedarf zwischen den einzelnen Fertigungslinien ist eher gering, und die Arbeiten werden zum großen Teil durch ungelernte oder angelernte Arbeiter erledigt. Oberstes Ziel ist die absolute Kontrolle aller produktionswirksamen Faktoren, einschließlich der Faktoren Mensch und Umwelt. Die Unternehmen verfügen über klare Grenzen zur Umwelt, eine stabile Identität, ausgeprägte Hierarchien und definierte Mitgliedschaften. Die umfangreiche Massenproduktion, die damit möglich wird, entspricht den Kundenbedürfnissen der Zeit, denn der Kundenwunsch geht nicht dahin, etwas individuell besonderes zu haben, sondern dahin, überhaupt etwas von einigermaßen praxistauglicher Qualität zu haben. Kundenbefragung und Kundenservice sind eher kein Thema. Zu Zeiten der stabilen Märkte und der Massenproduktion garantiert diese organisatorische Starrheit Sicherheit. Reorganisiert wird nur punktuell, stets mit dem Ziel, den Mechanisierungsgrad in einzelnen Bereichen zu erhöhen. Die tradiert fordistischen Rationalisierungsmuster sind jedoch untauglich, um die Produktion angesichts von Weltmarktdynamik, Rohstoffknappheit, Arbeitslosigkeit und Inflation auf einem befriedigenden Niveau aufrecht zu halten. 1.5.2. Toyota-Produktionskonzept und Kundenorientierung Die Zeit der instabilen Märkte und der kundenorientierten Produktion hat mit der Vorstellung rational planbarer Organisationen weitestgehend aufgeräumt. Veränderungen auf den Finanz-, Rohstoff-, Waren-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten schlagen nun beinahe unvermittelt in den Produktionsprozess durch, und Pufferzei-
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ten, die traditionell mit der Arbeitsvorbereitung, dem Einkauf und dem Verkauf verbunden waren, gehen verloren. Langfristiges Überleben erfordert schnelle und flexible Reaktionen auf das Weltmarktgeschehen und massiven Kostenabbau. Dafür brauchen Unternehmen neuartige Machbarkeits- und Risikoanalysen und Planungsprozesse, die durch rekursive Schleifen vage gehalten werden dürfen, und Entscheidungsprozesse, bei denen die Alternativen zur getroffenen Entscheidung als Option stehen bleiben können98. Deshalb wird die organisatorische Starrheit des traditionellen Fordismus im Toyota-Produktionskonzept (und in anderen postfordistischen Produktionskonzepten) durch eine permanente, alle Unternehmensbereiche umfassende Reorganisation und durch völlig neue Absatz-, Beschaffungs-, Fertigungs-, und Mitarbeiterentwicklungskonzepte ersetzt, die ein Höchstmaß an Flexibilität garantieren99. Die EDV-gestützte Produktion ermöglicht und beschleunigt diesen Prozess. Sie gestattet die Synchronisation der Teilarbeiten, die Eliminierung unproduktiver Zeiten, d.h. die Verkürzung der Wege-, Liege-, Lager- und Wartezeiten und die Integration der Produktionsprozesse zu einem Kontinuum100, und sie gestattet es, die Produktdiversifikation zum Produktionsstandard zu erheben. Mit Hilfe der EDV-Steuerung der Maschinen wird es möglich, ganze Produktionsketten mit geringem Zeit- und Kostenaufwand auf veränderte oder gar auf gänzlich andere Produkte umzustellen. Rechnergestützte Konstruktionssysteme, CNC-gesteuerte Maschinen und vollautomatisierte Industrieroboter, Fördersysteme und Hochregallager ermöglichen die Abkehr von der Massenproduktion und die Hinwendung zur flexiblen Produktspezialisierung. Rechnergestützte Planungs-, Vorbereitungs- und Kontrollprogramme ermöglichen umfassende Personal- und Management-Informationssysteme und - in der Vernetzung - die zunehmende Rationalisierung der Verwaltungsbereiche. Statt der im Fordismus weitestgehend üblichen, reaktiven Optimierung einzelner Teilprozesse durch Kostensenkung erlaubt die allen Unternehmensbereichen einheitlich zugrunde liegende Datenbasis nun erstmalig in der Geschichte der Produktion eine "systemische" und kontinuierliche Rationalisierung des Gesamtsystems101. 98
Baecker (2003:39f.) sieht in den neuen Formen der Organisationskommunikation den Vorboten einer anderen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die „über andere Formen der Schlussfolgerung verfügt, die (…) nicht mehr nur linearer, sondern auch zirkulärer, nicht mehr nur hierarchischer, sondern auch heterarchischer Art sein werden: bereit, in jedem Moment zum Ausgangspunkt zurückzukehren, von dem sie ausgegangen sind, bereit, von einem Punkt zum anderen zu springen, (…)“.
99
Vgl. zum folgenden Weber et al. 2001:11-15
100
Vgl. Vieth 1995:73
101
Vgl. Altmann et al. 1986:186f.; Burns et al. 1961 unterschieden in diesem Zusammenhang zwischen „mechanistischen“ und „organischen Systemen“, wobei die organischen Systeme vorwiegend dadurch gekennzeichnet sind, dass die dort beschäftigten Spezialisten ihre Teilaufgabe selbständig in den Kontext der unternehmerischen Gesamtaufgabe stellen müssen und den Fortgang der Prozesse einschließlich der zugehörigen Qualitätskriterien selbständig mit anderen Spezialisten abstimmen müssen. Burns organische Strukturen entsprechen also dem, was
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Da der Bedarf an individualisierten Konsumprodukten mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft wächst, müssen kundenorientierte Unternehmen zugleich über neue Absatzkonzepte nachdenken. Gefragt sind Produkte, die ebenso preiswert sind wie Massenprodukte, aber die Möglichkeit zur Gestaltung der eigenen Individualität bieten. „Mass Customization“102 verbindet diese beiden Vorteile, und der Vertrieb bekommt einen ganz anderen Stellenwert als noch zu Zeiten der fordistischen Massenproduktion. Im Fordismus muss der Vertrieb das verkaufen, was die Produktion liefert, im Toyotismus hat die Produktion das zu liefern, was der Vertrieb (der Kunde) wünscht. Der Vertrieb steht im direkten Kontakt mit dem Kunden, nimmt seine Wünsche auf, leitet sie an die Produktion weiter und liefert dem Kunden schließlich das Produkt aus. Nötigenfalls hat er sogar die Reklamation entgegenzunehmen und für Ersatz zu sorgen. Die Produktionskonzepte des ToyotaProduktionssystem sind deshalb nicht nur auf schnelle kundenorientierte Produktion ausgelegt, sondern zusammen damit auf schnellen kundenorientierten Absatz103. Kundenorientierte Fertigung ist ein Gesamtsystem, das die Lieferanten einschließt. Zusätzlich zu den Produktionssystemen müssen deshalb die Beschaffungskonzepte überdacht werden. Denn ob die Vorgaben des Vertriebs wirklich realisiert werden können, hängt von der unternehmenseigenen Produktion und von der Kundenorientierung der Lieferanten ab. Während in der Massenproduktion noch viele Bauteile in Eigenregie produziert wurden, werden solche Bauteile im kundenorientierten Unternehmen in der Regel von wenigen hochspezialisierten Zulieferern produziert, die eng an das Hauptunternehmen angebunden sind und stark in die Produktentwicklung einbezogen werden104. Kundenorientierte Fertigung erfordert höchste Produktivität und schnellste Produktion kleinster Stückzahlen mit minimalen Fehlerquoten. Kundenorientierte Produktionssysteme sind deshalb auf kurze Entwicklungszeiten, kurze Rüstzeiten und kurze Fertigungszeiten ausgelegt. Es darf weder Material, noch Zeit, weder Wissen, noch Arbeitskraft verschwendet werden105. man heute als Netzwerkstrukturen bezeichnet, d.h. sie werden durch intensiven Informationsaustausch, Beratung und gemeinsam getragene Entscheidungen getragen. Neben den Begriffen „Netzwerkstruktur“ und „Organische Struktur“ gibt es eine ganze Reihe anderer Begriffe, mit denen - mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen - die Besonderheiten der neuen Organisationsform umschrieben werden wie z.B.: „Assoziative Organisation“ (Bosetzky 1970), „Viable Organisation“ (Malik 1996), „Lernende Organisation“ (Senge 1996) usw. Mitunter neigen sie dazu, die Vorteile der nichtbürokratischen Organisation gegenüber der bürokratischen Organisation allzu blauäugig und dogmatisch-rigide darzustellen. 102
Vgl. zum Konzept der „Mass Customization“ z.B. Hanisch 2006
103
„Proaktives Marketing“ oder „Aggressives Marketing“ setzt auf langfristige und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kunden. Vgl. z.B. Bösenberg et al. 1993:175
104
Vgl. Bösenberg et al. 1993:196
105
Vgl. Bösenberg et al. 1993:61f.
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Und schließlich verlangt die kundenorientierte Fertigung ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit, Flexibilität, Einsatzbereitschaft und Verantwortungsbereitschaft von den Betriebsangehörigen. Sie ist nur dann als Wettbewerbsvorteil einzusetzen, wenn es innerhalb des Betriebes eine hohe Kundenorientierung gibt, und wenn der Betrieb nach dem Muster interner Kunden-Lieferantenbeziehungen aufgebaut ist. Diese Kundenorientierung ist mit einem hohen Maß an Kommunikation und einem ungehinderten Informationsfluss verbunden, da das Toyota-Produktionsmodell darauf abzielt, zum Zwecke der Fehlervermeidung und der Behebung möglicher Störungen jeden zu jeder Zeit über die zentralen Abläufe des Betriebes zu informieren106. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Fordismus und Toyotismus findet sich darüber hinaus in der Bedeutung, die man dem sozialen Miteinander und hier insbesondere der Gruppenarbeit beimisst. Im fordistischen Produktionsparadigma stand man der Gruppenbildung von Beschäftigten noch überwiegend argwöhnisch gegenüber und vermutete in ihr vor allen Dingen die mögliche Ausgangsbasis für die Störung von Arbeitsfluss und Betriebsfrieden. Gruppenbildungen versuchte man zu verhindern oder - wenn dies nicht möglich ist - zumindest zu kontrollieren. Im toyotistischen Produktionsparadigma dagegen gehört die Teamarbeit zu den wichtigen Grundlagen, und sie hat hier mehrere Funktionen zu erfüllen107: sie soll das Zusammenwirken der unterschiedlichen, im Produktionsprozess tätigen Spezialisten erleichtern, sie soll die weitestgehende Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Einzelnen ermöglichen, und sie soll einen spezifischen Beitrag zur Unternehmenskultur der Zukunft leisten. Mit der Einführung der toyotistischen Produktionsmodelle in weiten Bereichen der Industrie wurde die repetitive Teilarbeit weitestgehend durch Arbeitsprozesse ersetzt, die einen höheren Grad an Autonomie ermöglichen. Diese gehen zumeist mit einem gewissen Maß an Entbürokratisierung, mit flachen Hierarchien, mit einem kooperati106
Vgl. Bösenberg et al. 1993:146. „Der ungehinderte Informationsfluss beschränkt sich nicht auf die Sicherung der Anlagen gegen Ausfälle und Störungen. Die Arbeitsplatzorganisation, das Produktionslayout und die Qualitätssicherung leben ebenfalls vom direkten Kontakt zwischen den kooperierenden Werkern. Schließlich hat Lean Management auch die einzelnen Glieder der betrieblichen Wertschöpfungskette durch einfache, aber wirksame Informationsmedien miteinander verbunden.“ Der hohe Kommunikationsaufwand geht aber auch mit einem hohen Stresspegel einher: „Der Stresspegel der Organisationen, die laufend mit der Entzifferung gesellschaftlicher Hieroglyphen beschäftigt sind und dafür angesichts turbulenter, nur Punkt-fürPunkt zwischen Kunden und Produzenten zu bearbeitender Märkte nahezu jeden Mitarbeiter in Anspruch nehmen müssen, steigt enorm.“ Baecker 2003:67
107
Vgl. Ohno 2009:39f. Nach Ohno (der das Toyota-Produktionssystem erfunden hat) sind die eigentlichen Säulen die Just-inTime-Methode und das Kanban-System. Beide können nur durch Teamarbeit realisiert werden. Im Unterschied zur europäischen und US-amerikanischen Vorgehensweise haben die japanischen Teamleiter aber eine im Unternehmen sehr anerkannte Position mit großer Macht inne. Der „Shusa“ (Teamleiter) ist dort der „Superhandwerker“, der den gesamten Prozess über die Zeit hinweg lenkt. Vgl. Simon 2000:72-75
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ven Führungsstil, mit einem höheren Maß an Autonomie und mit neuen Möglichkeiten zur Teilhabe an Entscheidungsprozessen einher. Insofern entsprechen sie der Komplexität der menschlichen Handlungsfähigkeit besser als die fordistischen Produktionsmodelle. Sie fordern aber auch ein Mehr an Verantwortungsübernahme und Verantwortungsbereitschaft bei allen Beteiligten ein.
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
2.
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Diversity und Diversity-Management: die Vorläufer
2.1.
Multiculturalism
Die aktuelle Debatte um Diversity und Diversity-Management hat ihren Ursprung zum Großteil in der Multikulturalismusdebatte der USA und in deren verschiedenen historischen Vorläufer, die mindestens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Eine umfassende Analyse und Darstellung dieser in der bisherigen Forschung zumeist vernachlässigten historischen Tiefendimension1 verspricht also ein vertieftes Verständnis der aktuellen Debatte in Deutschland. Sie soll deshalb in diesem Kapitel in Angriff genommen werden. Auch wenn es dabei nicht mehr eigens thematisiert wird, sollte der Leser in Erinnerung behalten, dass die hier geschilderte Entwicklung vom Cultural Pluralism hin zur Affirmative Action enge Parallelen zu der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen weltwirtschaftlichen Entwicklung hat. Die Prosperität der Nachkriegszeit und der damit verbundene Wandel der gesellschaftlichen Werte, die Unzufriedenheit der Arbeiter mit den fordistischen Produktionsbedingungen, die Veränderung der weltweiten Absatz- und Beschaffungsmärkte, die Bildung getrennter Arbeitsmärkte für hoch und für gering Qualifizierte, die damit zusammenhängende weltweite Arbeitsmigration und die Einwanderungswelle in die USA ab 1965, die Dollarkrise von 1973 und deren Verschärfung durch die Energiekrise von 1973, die Verschärfung des Vietnamkrieges 1973 und dessen Ende 1975 und das unaufhaltsame Vordringen der japanischen Automobilindustrie auf dem Weltmarkt (durch den die amerikanische Automobilindustrie in ernsthafte Schwierigkeiten kam) bilden gleichsam den wirtschaftlichen (und politischen) Hintergrund für die forcierte Entfaltung unterschiedlicher politischer Programme des Umgangs mit Minderheiten in den USA und für die Entwicklung von Civil Rights Movement, Affirmative Action, Black Power, Multiculturalism und Cultural Democracy2. Historisch gesehen hatte die US-amerikanische Multikulturalismus-Debatte mit ihrem Motto "et pluribus unum" von Anfang an eine eurozentristische Basis3, denn in ihr halten sich zwei Kulturbegriffe und Rechtsvorstellungen des Abendlandes die Waage: die Idee der zentralistischen Einheit und die Idee der partikularen Vielheit. Gerade in einem Staat mit einem Minimum übergreifender Traditionen musste deshalb eine ganze Reihe von Fragen dringlich und bedeutsam werden: "Wie viel ethnische Autonomie und basisdemokratische Selbstbestimmung der kulturell unterschiedlichen Gruppen muss ein Staat erlauben, um den universell akzeptierten Normen der Tole-
1
Vgl. Hildebrandt 2005:13f.
2
Vgl. Ostendorf 1996:487-492
3
Vgl. Ostendorf 1996:489
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ranz von Andersheit zu genügen? Wie viel Fragmentierung in kulturelle und ethnisch-politische Lobbies (und damit in interethnische Konfliktblöcke) verträgt ein Staat, bevor er konsensunfähig wird oder auseinanderbricht? Sollten die Zentralorgane der Exekutive, Judikative und Legislative ihre politischen Entscheidungen nach Maßgabe kultureller, rassischer, geschlechtlicher oder ethnischer Differenzen vornehmen und damit einer Proporz- und Quotendemokratie Vorschub leisten, oder - naturrechtlich - alle Individuen prinzipiell vor dem Gesetz 'gleich' behandeln? Oder, alle Fragen gebündelt: Wie gültig ist der politische Universalismus der Revolutionen des 18. Jhs., dem die amerikanische Republik ihren Ursprung verdankt, für das heutige postfordistische, postmoderne, multiethnische Amerika und seine transnationale Rolle in der Weltpolitik?"4.
2.2.
Cultural Pluralism
Der Begriff "Cultural Pluralism" wurde mit der ersten großen Einwanderungswelle um die Jahrhundertwende des vergangenen Jahrhunderts ins Leben gerufen. Grund dafür waren die seit ca. 1880 - und dann nochmals nach dem Ersten Weltkrieg - auf ein „unerreichtes Rekordniveau“5 rasant gestiegenen Einwanderungszahlen, die die bisherige Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung stark veränderten: der Anteil an süd- und osteuropäischen sowie nord- und mitteleuropäischen Einwanderern nahm zu, und der Anteil an Amerikanern angelsächsischer Herkunft nahm ab. Der Begriff Pluralismus bezog sich hier stets auf den kulturellen und ethnischen Pluralismus der weißen US-Bevölkerung und der weißen Einwanderer6. Der Umgang mit dieser neuartigen Situation war von Anfang an mit großen Problemen verbunden, weil die neuen Einwanderer sich vielfach an "alt-nationale Solidaritäten und Loyalitäten“7 klammerten und damit in gewisser Weise der Inselbildung und der Bildung von Parallelgesellschaften Vorschub leisteten8. Das tradierte amerikanische Selbstverständnis kam ins Wanken, es musste entweder restabilisiert oder aber neu definiert werden, und in der Folge entwickelten die miteinander konkurrie4
Ostendorf 1996:489f.
5
Hildebrandt 2005:31
6
Das Verbot des Sklavenhandels 1808 und die Zusicherung gleicher Rechte nach dem Bürgerkrieg 1868 hatten keineswegs das Ende der Diskriminierung der schwarzen Minderheit in den USA zur Folge. Exemplarisch sei die Separate-but-Equal-Doktrin erwähnt, die bis 1954 die Rassentrennung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in den Südstaaten vorschrieb. Es war aber sicherlich auch wichtig, dass Teile der schwarzen männlichen Bevölkerung als Soldaten für den Einsatz im Ersten und Zweiten Weltkrieg gebraucht wurden. Dieser Einsatz wurde erst durch das Verbot der Rassendiskriminierung bei der Einstellung von Bundesbediensteten von 1941 ermöglicht, ebenso wie der Einsatz von schwarzen Zivilisten in den staatlichen Betrieben.
7
Hildebrandt 2005:31
8
Mit Bade (2007:6) sind Parallelgesellschaften durch mehre Punkte gekennzeichnet: "1. eine ethnische bzw. monokulturelle Identität, 2. ein freiwilliger und bewusster sozialer Rückzug auch in Siedlung und Lebensalltag, 3. eine weitgehende wirtschaftliche Abgrenzung und 4. eine Doppelung der Institutionen des Staates."
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renden Interessensgruppen vier verschiedene Konzepte zur Lösung dieser Aufgabe: das Konzept der Americanization, das Melting-Pot-Konzept, das Konzept der Federation of Nationalities und das Community-Konzept. 2.2.1. Das Konzept der Americanization 1915 hielt der US-amerikanische Präsident Wilson eine Rede vor Einwanderern, in der er seine Verhaltenserwartungen an sie klar formulierte: „You cannot become thorough Americans if you think yourselves in groups. America does not consist of groups. A man who thinks of himself as belonging to a particular national group in America has not yet become an American”9.
Er gab mithin eindeutig vor, dass und wie Einwanderer zu Amerikanern werden müssen: durch Amerikanisierung, d.h. durch die komplette und sofortige Assimilierung an die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesellschaftsstandards des Aufnahmelandes. Amerikanisierung sah vor, dass Einwanderer ihre eigenen Traditionen ablegten, damit sie frei wurden für die „Sprache, Gewohnheiten, Traditionen, Denkweisen des angelsächsisch geprägten Selbstverständnisses der Amerikaner“10 und diese möglichst schnell übernehmen konnten. Diese Denkweise hielt lange vor und schlägt sich noch im „Classic Assimilation Model“ nieder. Dieses Modell geht auf die Soziologen Milton Gordon, Richard Alba und Victor Nee11 zurück und beruht auf der Hypothese, dass Einwanderer die Werte der Mehrheitskultur innerhalb eines längeren Zeitraums der Eingewöhnung annehmen müssten und annehmen würden. Gordon, Alba und Nee gehen dabei von drei Stufen aus: die erste Stufe der „strukturellen Assimilation“ ist vor allen Dingen durch die Bildung primärer Gruppenbildungen gekennzeichnet, die zweite Stufe durch die Schließung von "Mischehen" in großem Maßstab und das Ende von Vorurteilen, Diskriminierung und Wertekonflikten. Die dritte Stufe ist durch die identifikatorische Assimilation gekennzeichnet. Hier beginnen die Minderheitengruppen, sich mit der historischen Vergangenheit der Mehrheitsgesellschaft sukzessive zu identifizieren, um schließlich eine nationale amerikanische Identität zu entwickeln. Es war insbesondere diese Position, die dem Verdacht unterlag, den Einwanderern anglokonformistische, weiße, mittelklassenspezifische und protestantische Werte aufzwingen zu wollen. Und in der Tat galt der angelsächsische Lebensstil hier als Maßstab zur Assimilisierung. Einwanderer hatten sich der neuen Lebensrealität passiv anzupassen. Die Durchführung dieser Amerikanisierungspolitik wurde im Jahre 1918 durch das US Bureau of Education offiziell unterstützt. Sie erhielt Einzug in viele
9
Wilson 1915 zit. nach Hildebrandt 2005:31
10
Hildebrandt 2005:31
11
Vgl. hierzu z.B. Gordon 1964 und Alba et al. 2003
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Bereiche12 der amerikanischen Gesellschaft und wurde erst nach und nach durch die im folgenden skizzierten Integrationskonzepte abgelöst. 2.2.2. Das Melting-Pot-Konzept Das “racial / ethnic disadvantage model” von Nathan Glazer, Patrick Moynihan, and Alejandro Portes13, das auch als Melting-Pot-Konzept14 bekannt geworden ist, grenzt sich kritisch vom Americanization-Konzept ab. Die Einwanderer werden hier nicht mehr angehalten, ihre traditionellen Kulturen zu verleugnen und sofort abzulegen. Vielmehr glauben die Autoren, dass sich die Kultur der Einwanderer im Laufe der Zeit an die Kultur der Mehrheitsbevölkerung angleichen würde, die der bislang dominierenden Kultur sehr ähnlich sein würde. Glazer et al. setzen den Wert eines lebendigen ethnischen Pluralismus also höher an als eine etwaig damit verbundene ethnische Benachteiligung. Sie bestehen auf der Beibehaltung der ethnischen Besonderheiten ohne Unterordnung unter die Mehrheitskultur und führen ins Feld, dass die volle Assimilation aufgrund sozioökonomischer Barrieren häufig noch nicht einmal in der dritten Generation realisiert sei und de facto als Fiktion zu betrachten ist. Das Melting-Pot-Konzept beinhaltet damit Aspekte von Assimilation und Aspekte von Integration. Das Konzept weist jedoch keinen schlüssigen Weg auf, wie dieses kulturelle Verschmelzen zu vollziehen und der doch spürbare soziale Anpassungsdruck zu überwinden sei. Ferner bleibt ungeklärt, wie die vorherrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse durch kulturelles Verschmelzen verändert und beeinflusst werden können. Dennoch billigt das Melting-Pot-Konzept gegenüber dem Amerikanisierungs-Konzept den Einwanderern etwas mehr Gestaltungseinfluss im Einwanderungsland zu, obwohl implizit die Leugnung der eigenen Herkunft und kulturellen Wurzeln verlangt wird. Dies liegt womöglich in der Befürchtung begründet, dass sich doch Gruppen bilden könnten, die heimatliche Zusammengehörigkeit demonstrieren würden. „Self-annihilation is the price that the Melting-Pot theory demands while permitting the foreign groups to contribute to the life of the new country. It is by losing their own corporate existence that the foreign groups are conceives of as becoming part of the new nation”15.
12
Hier sind insbesondere die Bildungsinstitutionen zu erwähnen, die durch entsprechende pädagogische Amerikanisierungs-Konzepte in der Praxis umgesetzt wurden. Vgl. Hildebrandt 2005:32. Der Name des Konzepts ist auf das Theaterstück The Melting-Pot des englischjüdischen Autors Israel Zangwill zurückzuführen, das 1908 in Washington uraufgeführt wurde.
13
Glazer et al. 1963
14
Der Name des Konzepts ist auf das Theaterstück The Melting-Pot des englisch-jüdischen Autors Israel Zangwill zurückzuführen, das 1908 in Washington uraufgeführt wurde.
15
Berkson 1920:76, zit. nach Hildebrandt 2005:33
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2.2.3. Das Federation-of-Nationalities-Konzept Horace Meyer Kallen16 - der Begründer des Federation-of-Nationalities-Konzeptes verstand die amerikanische Gesellschaft als eine Gesellschaft, die sich mit einer Vielzahl von Nationen auseinanderzusetzen hatte, und die die dazu passenden gesellschaftlichen Strukturen schaffen musste. Im Unterschied zum Melting-Pot-Konzept behauptet das Federation-of-Nationalities-Konzept deshalb grundsätzlich, dass das noch im 19. Jahrhundert gültige Ideal einer kulturellen Homogenität im 20. Jahrhundert nicht mehr angebracht sei und in Anbetracht der hohen Einwanderungszahlen unterschiedlicher Nationalitäten nicht mehr aufrechterhalten werden sollte. Nicht der auf das Individuum bezogene Amerikanismus sollte fortan im Vordergrund stehen, sondern die Demokratie einer Vielzahl der Nationen, nicht die Gleichmacherei („the elimination of differences“), sondern die bewusste Hervorhebung der kulturellen Unterschiede („the perfection and conservation of differences“)17. Unter dem Motto Et pluribus Unum sollten sich die unterschiedlichen Einwanderer zu einem Volk von Amerikanern zusammenfinden, wobei die individuellen Unterschiede ebenso zu akzeptieren waren wie die ethnischen und sozialen. Kallen selbst stand extremen Vereinfachungen philosophischer und sozialer Probleme kritisch gegenüber. Seiner Meinung nach führte Ablehnung von Komplexem und Schwierigem eher zu Problemen als zu Lösungen. „Decidedly the older America, whose voice and whose spirit was New England, is gone beyond recall. (…) Natio is what underlies the vehemence of the ‘Americanized’ and the spiritual and political unrest of the Americans. It is the fundamental fact of American life to-day”18.
Der Wunsch nach Amerikanisierung gründet nach Kallen in der Vorherrschaft der englischen Sprache und in der britischen Abstammung vieler Amerikaner. Deshalb verstand er den Stellenwert der englischen Sprache auch nicht als zwangsläufige Begründung für Anpassung, sondern eher als kulturneutrales Verständigungsmittel für die Gesamtbevölkerung unterschiedlicher Nationen, ebenso wie das Esperanto. „(…) what Latin was to the Roman provinces and to the middle ages - the language of the upper and dominating class, the vehicle and symbol of culture: for the mass of our population it is a sort of Esperanto or Ido, a lingua franca necessary less in the spiritual than the economic contacts of the daily life”19.
Hier wird deutlich, dass Kallen seine Theorie an Alltagsnotwendigkeiten ausrichtete: Einwanderer unterschiedlicher Nationalitäten wollen und müssen sich in erster Linie eine neue Existenz aufbauen und unterliegen im Einwanderungsland einer wirtschaftlichen Zwangssituation, die sie so schnell wie möglich bewältigen müssen. 16
Jüdisch-amerikanischer Philosoph, 1882 - 1974
17
Kallen 1998a:53, zit. nach Hildebrandt 2005:35; es ist derselbe Kallen, der 1915 die MeltingPot Theorie kritisiert hat.
18
Kallen 1915:217, zit. nach Hildebrandt 2005:33
19
Kallen 1915:217, zit. nach Hildebrandt 2005:34
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Nach Kallen bewirkten das Amerikanisierungskonzept und das Melting-Pot-Konzept mit ihrem Schwerpunkt auf Anpassung und Erziehung unter diesen Rahmenbedingungen genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich beabsichtigten, weil sie einem der Biologie entlehnten Identitätsbegriff huldigten und die Verankerung der Persönlichkeit in der persönlichen Biographie leugneten: „On the whole, Americanization has not repressed nationality. Americanization has liberated nationality. (…) Men may change their clothes, their politics, their wives, their religions, their philosophies, to a greater or lesser extent: they cannot change their grandfathers. Jews or Poles or Anglo-Saxons, in order to case being Jews or Poles or Anglo-Saxons, would have to cease to be. The self-hood which is inalienable in them, and for the realization of which they require ‘inalienable’ liberty, is anchestrally determinated, and the happiness which they persue has its form implied in ancestral endowment”20.
Für Kallen war die föderative Republik demokratischer Nationen die erstrebenswerte und geeignete Staatsform und keinesfalls der undemokratische kulturelle Monismus21. In Anknüpfung an das von Kallen 1915 Cultural Pluralism genannte Konzept beschäftigte sich Bourne 191622 erneut mit der Idee einer von allen Bevölkerungsgruppen mitgetragenen amerikanischen Identität. Zusammen mit einem Integrationsgefühl, das nichts mehr mit Amerikanisierung und nationalem Chauvinismus zu tun habe, ließe sich eine solche amerikanische Identität - so seine Idee - durchaus schaffen, wenn man alle kulturellen Gruppen genügend in die Gestaltung der amerikanischen Wirklichkeit einbinden würde. So könnte eine „first international nation“23 entstehen, in der die Kulturen mit ihren Unterschieden nicht nur nebeneinander her leben, sondern zum gegenseitigen Nutzen und zum Gesamtnutzen aller24. 2.2.4. Das Community-Konzept Während das Americanization-Konzept und das Melting-Pot-Konzept eher ein konservatives Kulturverständnis zum Ausdruck bringen, formuliert das Federation-ofNationalities-Konzept ein eher pluralistisches Kulturverständnis. Dennoch beantwortet es mit John Dewey25 nicht die Frage, wie die ethnischen Gruppen denn nun miteinander im Einwanderungsland Amerika leben sollen. In seinem CommunityKonzept vertrat er deshalb die radikale Meinung, dass sich die Einwanderer gar nicht anzupassen bräuchten, weil es gar keine einheitliche amerikanische Kultur gäbe, an die sie sich anpassen könnten. In diesem Sinne lehnte er den Herrschaftsanspruch der angelsächsischen Kultur in der amerikanischen Kultur ebenso ab wie jede formale 20
Kallen 1915:219f., zit. nach Hildebrandt 2005:34. Vgl. auch Kallen 1998b
21
Vgl. Hildebrandt 2005:35f.
22
Vgl. Bourne 1916
23
Bourne 1916:93, zit. nach Hildebrandt 2005:37
24
Vgl. Bourne 1916:90
25
Amerikanischer Philosoph und Pädagoge, 1859 - 1952
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Bindestrich-Zugehörigkeit, da insbesondere letztere keine Aufwertung, sondern vor allen Dingen eine Entwertung mit sich bringen würde. "Terms as Irish-American or Hebrew-American or German-American are false terms because they seem to assume something which is already in existence called America to which the other factors may be externally hitched on”26.
Ein politisch gangbarer Weg findet sich seines Erachtens in der bewussten Akzeptanz der ethnischen Vielfalt, in der Berücksichtigung aller Unterschiede und in der Gleichstellung aller Ethnien ohne jeden Unterschied. Dauerhafter Frieden zwischen den Kulturen ist aus seiner Sicht nur dann zu gewährleisten, wenn es eine gegenseitige und umfassende Anerkennung der kulturellen Besonderheiten jeder Nationalität gibt, die mit der Zuschreibung von gleichen Rechten verbunden ist. Eine Anerkennung, die mit dem allgemeinen sozialen Zusammenhang in Einklang zu bringen ist und dennoch das Recht zu einer eigenen Sprache, zu einer eigenen Literatur, zu eigenen Idealen und zu einer eigenen Moral, zu vollständiger Religionsfreiheit und zu vollständiger politischer Autonomie gibt27. Ferner muss aus seiner Sicht zweierlei sicher gestellt werden: zum einen die Gruppenidentität der unterschiedlichen ethnischen Gruppen und zum anderen ihre Bereitschaft, einen Beitrag zum übergeordneten nationalen Konsens zu leisten. "Erziehung" heißt hier Deweys Schlagwort, und dementsprechend versucht das CommunityKonzept mit bilingualen und bikulturellen Erziehungsstrategien, die bereits in der Schule beginnen sollen, zwischen den Punkten Anpassung und Integration zu oszillieren. Heterogenität und Homogenität stehen in Deweys Konzept in einem permanenten und permanent zu bedenkenden Spannungsverhältnis, das sich aus der Komplexität der amerikanischen Gesellschaft selbst ergibt. „The American nation is itself complex and compound. Strictly speaking it is interracial and international in its make-up. It is composed of a multitude of peoples speaking different tongues, inheriting diverse traditions, cherishing varying ideals of life”28.
Ein früher Gedanke von Multikulturalismus war damit zumindest formuliert. Die mittel- bis langfristige Wirkung des Multikulturalismus ist jedoch nur schwer einzuschätzen, denn:
26
Dewey 1980b:203f. Das wohl eher ethnozentristisch ausgerichtete Pentagon unterscheidet bis heute nach dem Muster der "Bindestrich-Amerikaner" zwischen den European Americans (Caucasians), den Asian Americans, den African Americans, den Hispanics / Latinos, den Native Americans, den Hispanics (ab 1970) und den Asian / Pacific Islander (ab 1990). Diese Begriffe werden auch in Statistiken verwendet, d.h. sie sind die Basis der bürokratischstaatlichen Erfassung der Bevölkerung. Vgl. auch Hollinger 1995:223
27
Vgl. Dewey 1980c:288, zit. nach Hildebrandt 2005:38
28
Vgl. Hildebrandt 2005:37
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"In den USA bewirkte der Multikulturalismus eine Reform der Lehrpläne, die ethnische und feministische Mobilisierung der Universitäten, die Durchführung von Förderungsprogrammen, die Verteidigung der Quotenregelung bei der Zulassung zum Studium, die Einrichtung von Forschungs- und Lehrprogrammen mit Gruppenrelevanz und die Förderung von Karrierechancen für Minderheiteneliten. Fraglich bleibt, ob die hermeneutischen und pädagogischen Utopien fortschrittlicher multikultureller Theorie einfach in general education oder in politische Praxis verwandelt werden können. Es bleibt abzuwarten, ob Multikulturalismus als politisches Sozialisationsprogramm letztendlich zur Akzeptanz der Koexistenz oder Interdependenz von unterschiedlichen Gruppen, also zu einer Neudefinition eines nunmehr integrierten 'globalen' Mainstream führen wird, oder ob die politischen Grabenkämpfe zwischen den Gruppen und ihren Eliten, die untereinander um ihren Anteil an politischer Macht kämpfen, selbst noch den nationalen Konsens bis hin zur Balkanisierung fragmentieren, um so dem globalen Markt den Zugriff auf seine schutzlosen Fragmente zu erleichtern"29.
2.3.
Weiterentwicklung des Multikulturalismusgedankens
Im Bewusstsein der Grausamkeiten des deutschen Antisemitismus und Rassismus und angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkrieges erkannte man dann in den USA, dass die schwarze Bevölkerung in den Multikulturalismuskonzepten überwiegend unberücksichtigt blieb und die Verfassungsrechte der schwarzen Amerikaner wurden deutlich gestärkt. Parallel dazu musste die Binnenwanderungswelle schwarzer Arbeiter in die wirtschaftlich starken Städte aufgefangen werden. Denn die Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie waren gerade in den Kriegsjahren ab 1943 begehrt, und die Wanderungsbewegung vom Süden in den Norden hatte zur Folge, dass es zum Wettbewerb um Arbeit und Wohnung und zu massiven Auseinandersetzungen zwischen weißen und nichtweißen Bevölkerungsgruppen kam30. Vor dem Hintergrund dieser neuen wirtschaftspolitischen Situation wurden schnell wirksame und praxisnahe Handlungskonzepte gebraucht. 1943 wurde das Bureau for Intercultural Education gegründet, das sich als eines der bedeutsamsten Organisationen zur Aufgabe machte, das Fundament einer Intercultural Education zu legen und Erziehungsprogramme zu entwickeln, mit deren Hilfe die anstehenden Integrationsaufgaben gelöst werden konnten. Nach Vickery und Cole stand dabei vor allen Dingen die Frage im Raum, wie man die Tatsache der kulturellen Vielfalt in Amerika mit dem wichtigen Bedürfnis nach nationaler Einheit verknüpfen konnte31. Im Konzept der Cultural Democracy findet sich also bereits die geforderte Doppelung von einem primären nationalen Kulturverständnis und einem sekundären, von den ethnischen Gruppen getragenen Kulturverständnis: die zugehörigen Intercultural
29
Ostendorf 1996:491
30
Vgl. Hildebrandt 2005:42. Bei diesen Unruhen im Jahre 1943 geht es um den New Yorker Stadtteil Harlem, um Detroit und Los Angeles. Die Folge waren wirtschaftliche Schäden in Höhe von 5 Mill. US$ und ca. 40 Todesopfer.
31
Vgl. Vickery et al. 1943:30f., zit. nach Hildebrandt 2005:42
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Education Programme mussten nationale Einheit („national unity“) zusichern und kulturelle Abweichungen („cultural variation“) erlauben32. Damit erwuchs ein neues Verständnis der amerikanischen Republik, ein Verständnis von Cultural Democracy, das die Grundsätze der Demokratie erweiterte und diese erstmalig auf nicht-weiße kulturelle Gruppen übertrug33. Mit dem Prinzip der "minority rights" sollte dabei das Recht der kulturellen Gruppen gesichert werden, die für die Mitglieder wichtigen Elemente ihrer Tradition zu bewahren, und mit dem Prinzip der "majority rule" sollte sichergestellt werden, dass sich alle Gruppen - unabhängig von ihrer kulturellen Identität - auf universelle amerikanische Werte beziehen konnten34. Der umfassende Anpassungsgedanke wurde solchermaßen zugunsten einer Priorisierung aufgegeben, bei der die nationale Loyalität gegenüber den Gruppenloyalitäten den Vorrang hatte. Hildebrandt umschreibt die Intercultural Education hier als „ein pädagogisches Emanzipationsprogramm für Minderheiten“35, das die von ethnischen und kulturellen Konflikten ausgehenden Bedrohungen für die amerikanische Nation minimieren und insgesamt zu verbesserten interkulturellen Beziehungen und zu einer verbesserten Kooperation zwischen den unterschiedlichen kulturellen Gruppen führen soll. Intercultural Education zielt prinzipiell darauf ab, bei jedem Einzelnen eine Bereitschaft zur prinzipiellen Wertschätzung von Andersartigkeit zu erzielen, um Humanität für alle zu gewährleisten. Deswegen liegt der Schwerpunkt der Erziehungsarbeit hier stärker auf dem Individuum als auf der Gruppe. Das Intercultural Education Programm stützt den Akkulturationsprozess, indem es die unterschiedlichen Ethnien der angelsächsischen Bevölkerungsgruppe gleichstellt und dabei individuelle Entwicklungen fördert und unterstützt. Es ist ein Programm für die Integration der Minderheiten in die amerikanische Gesellschaft und für die Emanzipation der Individuen dieser Minderheitengruppen. „Neben der Betonung der gemeinsamen Humanität und gemeinsamer amerikanischer Werte über rassische, ethnische, soziale, religiöse und kulturelle Differenzen hinweg einerseits und der Betonung des individuellen Verdienstprinzips andererseits sollte für die spätere gegenläufige Entwicklung des Multikulturalismus noch von Bedeutung werden, dass sich in den 50er Jahren unter dem Einfluss des Antikommunismus und des Kalten Krieges das bereits in den Schriften der 40er Jahre angelegte zivilreligiöse Element der Hervorhebung der gemeinsamen kulturellen Grundlagen und der Einheit in der Vielheit im Konzept der Intercultural Education noch ver-
32
Vickery et al. 1943:149, zit. nach Hildebrandt 2005:43. Abweichung meint in diesem Zusammenhang die ethnischen Unterschiedlichkeiten.
33
Vgl. Hildebrandt 2005:43. Hier wurde endlich die im Americanization-Ansatz völlig ignorierte Intergroupthematik berücksichtigt, die unabdingbar mit einem möglichst konfliktfreien Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien verknüpft ist.
34
Vgl. Cole 1946:563, zit. nach Hildebrandt 2005:43
35
Hildebrandt 2005:43
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stärkte. (…) Die Emanzipation der Minderheiten erschien fast nur noch als Funktion der Erhaltung und Förderung des Zusammenhalts der amerikanischen Gesellschaft"36.
Kallen, der mit seinem Cultural Pluralism die Identität Amerikas als Federation of Nationalities bezeichnete überarbeitet nun sein Konzept. Er schloss sich dem amerikanischen Individualismus des Bureau of Intercultural Education an und versuchte dadurch die Möglichkeit auszuräumen, dass sein Pluralismus als eine zu den anderen Standpunkten wenig anschlussfähige Position diffamiert wurde37. Cole dagegen sprach nun erstmals von einem multikulturellen Amerika (‚multi-culture America’). Er brachte den Begriff Multikulturalismus damit in einen völlig neuen assoziativen Zusammenhang38, und diese neue Richtung befasste sich dann eindringlich mit dem amerikanischen Dilemma, dass die weiße Bevölkerung der schwarzen und indianischen Bevölkerung nicht die gleichen Menschenrechte zuerkannte. Der hier von Kallen angesprochene Nationalismus und Rassismus in den USA lässt sich nur vor dem Hintergrund der historischen und kulturellen Besonderheiten verstehen. Von Beginn an waren die USA nicht nur eine demokratische Gesellschaft, sondern auch "eine Kolonialgesellschaft, deren feudalistische Sklavenhalter weit hinter die zeitgenössischen europäischen und die eigenen, in der Verfassung und in der Bill of Rights formulierten Standards von Gleichheit, Demokratie und Gerechtigkeit zurückfielen"39.
Die amerikanische Nation verstand sich als weiße Nation und der amerikanische Universalismus galt - auch nach der Abschaffung der Sklaverei und der Erkämpfung des Wahlrechts 1865 - letzten Endes bis 1964 nur für die weißen US-Amerikaner, nicht für Frauen und nicht für Schwarze40. Schwarze waren kein Teil der Nation, und auch nach der Abschaffung der Sklaverei und nach der Erkämpfung des Wahlrechts für Schwarze gab es eine von gesellschaftlichen Institutionen getragene - grob gewalttätige bis raffiniert hinterlistige - Diskriminierung und Ausgrenzung, die nach rassischen Abstammungskriterien entlang der sogenannten "Colourline" organisiert wurde41. Sie basierte auf einem Rassismus, der
36
Hildebrandt 2005:45. Die Betonung der ‚unity’ gegenüber der ‚diversity’ spiegelte hier auch den von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges geprägten Zeitgeist der 50er Jahre, der auch in den radikal antikommunistischen Programmen der McCarthy-Ära zum Ausdruck kam.
37
Vgl. Hildebrandt 2005:45f.
38
Vgl. Hildebrandt 2005:46
39
Kramer 1993:29
40
Noch 1857 stärkte der Oberste Gerichtshof die Rechte der Sklavenhalter und verkündete im Fall Dred Scott v. Sandford, dass Schwarze nie die Staatsbürgerschaft der USA erhalten könnten. Vgl. zu diesem Vorgang und zu seiner weitreichenden Bedeutung für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung auch Fehrenbacher 2001.
41
Vgl. Kramer 1993:32
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"eine grundlegende und unüberwindliche Differenz der in Rede stehenden Ethnien beziehungsweise Kulturen unterstellt. Nicht zufällig werden die nicht-weißen Gruppen in der amerikanischen Umgangssprache - und in Anlehnung an sie auch in der Wissenschaftssprache der Sozialwissenschaften - noch heute 'andere Rassen' genannt; dabei impliziert dieser Terminus nicht physische Unterschiede, sondern unüberwindbare, naturgegebene, auf einer spezifischen genetischen Ausstattung beruhende Differenzen.42
Aus diesem Grunde galt das mit der Assimilation einhergehende Versprechen der realen Gleichberechtigung und Integration auch maximal für die europäischen Einwanderer, während die "eingeborenen indianischen Nationen und die emanzipierten Sklaven weiterhin dem Deutungsmuster des differentialistischen Rassismus von Seiten der herrschenden ethnischen Elite, der White-Anglo-Saxon-Protestants, unterliegen"43.
Erst mit der Bürgerrechtsbewegung von 1964 konnte die universalistische Formulierung der amerikanischen Verfassung in der Affirmative Action politisch umgesetzt und abgesichert werden44, und vom "weiteren Verlauf der Demokratisierungsschübe wird es abhängen, welche Seite der amerikanischen Tradition - die universalistische oder die partikularistische eines differenziellen Rassismus - die amerikanische Nation in Zukunft bestimmen wird"45.
2.3.1. Civil Rights Movement Das Ende der Sklaverei nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg und die Emanzipationsbestrebungen der Schwarzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten die (vor allem in den Südstaaten traditionelle) Rassentrennung zwar grundlegend in Frage, sie führten jedoch nicht zu ihrer prinzipiellen Aufhebung. Im Zeitraum von 1876 bis 1964 wurde das öffentliche Zusammenleben zwischen Afroamerikanern und Weißen durch die Jim Crow Laws geregelt. Diese sahen weiterhin die gesetzliche Regelung der Rassentrennung vor, die in dem bekannten Grundsatz separate but equal (gleichberechtigt, aber getrennt, Anm. KJD) mündeten. Sie führten zu weitreichenden Benachteiligungen wie z.B. der Rassentrennung beim Militär und zu weiteren, generellen Benachteiligung in öffentlichen Einrichtungen. So durften schwarze Amerikaner z. B. nicht dieselben Schulen, Verkehrsmittel, Eisenbahnabteile, Warte-
42
Kramer 1993:33
43
Kramer 1993:33. Auch die Erstarkung des Ku-Klux-Klan, der die Wiederherstellung einer weißen angelsächsischen Ordnung propagierte, hängt eng damit zusammen: "Das Ziel, die USA 'All American' zu machen, wenigstens aber eine Privilegisierung der WASPs (White-AngloSaxon-Protestants, Anm. KJD) wieder durchzusetzen, also ein rassistischer Nationalismus, findet auch in nicht organisierten Kreisen der amerikanischen Mittelschicht und Arbeiterschaft Anhänger." Kramer 1993:35
44
Vgl. Kramer 1993:31
45
Kramer 1993:37
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räume, Toiletten und Restaurants etc. nutzen wie die Weißen, und ihnen wurden auch Vorschriften gemacht, wie sie sich gegenüber Weißen zu verhalten hatten. Erst im Zuge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen 1950 und 1960 wurden die Jim Crow Gesetze abgeschafft bzw. aufgehoben. 1954 urteilte der Supreme Court im Prozess Brown v. Board of Education, dass Gleichheit bei Rassentrennung in der Praxis unmöglich sei und erklärte die Rassentrennung an staatlich finanzierten Schulen für unzulässig. Auch mit der Verhaftung der schwarzen USamerikanischen Bürgerrechtlerin Rosa Parks 1955 wurde ein weiterer Beweis der Absurdität dieser Aussage Gleichheit bei Rassentrennung geführt. Anlass dafür war das demonstrative Infragestellen der Rassentrennungsgesetze, indem sich Rosa Parks weigerte, ihren Sitzplatz im Bus einem weißen Fahrgast unaufgefordert zur Verfügung zu stellen. In der Folge belebte das Civil Rights Movement die Diskussion um Rassismus, Antidiskriminierung und Multikulturalismus neu, um den Forderungen nach Gleichheit mehr Gewicht zu verleihen. Die Tatsache, dass die afroamerikanische Bevölkerung in den oben aufgeführten Multikulturalismuskonzepten unberücksichtigt blieb, war natürlich auch damit verbunden, dass die mit ihnen einhergehenden Programme zur Assimilierung oder Integration der Minderheiten ausschließlich von Vertretern der anerkannten dominanten Gruppen geleitet wurden. Des weiteren wurde deutlich, mit welch unreflektierter Selbstverständlichkeit die Konzepte an der Realität einer großen (schwarzen) Bevölkerungszahl vorbeigingen. Die vier Konzepte des Cultural Pluralism wurden dadurch schließlich ad absurdum geführt. Mit ihnen wurde zwar der Anspruch erhoben, Lösungen im Zusammenhang der zentralen Fragestellungen nationale Einheit - ethnische Vielfalt, Homogenität Heterogenität, dominante Mehrheitsgruppe - nicht-dominante Minderheitengruppe und dominante Kultur - spezifische Subkulturen zu finden, die verbindlich für alle Ethnien gelten sollten, aber den Gruppen der ethnischen Minderheiten wurde weder die allgemeine und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe, noch die Teilhabe am Prozess der Lösungsfindung zu den oben angeführten Problemstellungen zugestanden. Erst 1954 hob das Oberste Gericht die allgemein gültige Rassentrennung46 in staatlichen Bildungseinrichtungen auf und erklärte den Grundsatz "Separate but Equal"47 als verfassungswidrig48: ein erster Schritt für die gleichberechtigte Teilhabe 46
Im Zusammenhang der Beschreibung von Menschen bedeutet die Benutzung des Begriffs Rasse immer ein „Sich-Einlassen auf, oder die unbewusste, aber implizite Unterstützung rassistischer Grundpositionen“ (Heckmann 1981:53). Und bei der Verwendung des Begriffs Rasse im Kontext gesellschaftlicher Phänomene handelt es sich immer um einen „politischen Kampfbegriff (…), der nicht dadurch legitimiert werden sollte, dass er als wissenschaftliche Kategorie Verwendung findet“ (ebda). In dieser Arbeit wird der Begriff Rasse daher nur dann benutzt, wenn er in den zitierten Quellen benutzt wird.
47
Die „Jim-Crow-Laws“ waren im Süden der Vereinigten Staaten gültig. Sie wurden zwischen 1876 und 1965 in Kraft gesetzt und legalisierten die herrschende Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen mit einem "separate but equal"-Status für schwarze Amerikaner. Vgl.
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aller Ethnien an der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung, der durch den Civil Rights Act 1964 mit der Aufhebung aller noch bestehenden Jim Crow Gesetze eine neue Ära einleitete. 2.3.2. Affirmative Action Unter Affirmative Action ("Aktive Gleichberechtigungspolitik")49 fasst man die Reformen zur "Herstellung gleicher Beschäftigungschancen für Angehörige ethnischer Minoritäten (AfroAmerikanerInnen, AmerikanerInnen hispanischer indianischer und asiatischer Herkunft) und Frauen"50 zusammen, die mit den Ausführungsbestimmungen zum Abschnitt VII des Bürgerrechtsgesetzes ("Civil Rights Acts) von 1964 festgelegt wurden51. Diese Reformen "fordern Arbeitgeber (bzw. Gewerkschaften, soweit sie über den Zugang zu Arbeitsplätzen mitbestimmen) auf, 'to take affirmative action'"52. Ihre Verabschiedung wurde durch die Gründung des Committee on Equal Employment Opportunity (EEOC) ergänzt, das als Interessenvertretung von Angehörigen der Minderheiten und Frauen fungieren sollte und darüber hinaus die Antidiskriminierungspraxis vor allen Dingen in Bezug auf Hautfarbe, Glaubensbekenntnis oder nationale Herkunft zu überwachen hatte. Zuerst bei den Behörden und bei den von den Behörden beauftragten Unternehmern und Subunternehmern und schließlich in allen gesellschaftlichen Bereichen53. Mit Affirmative Action sollte jegliches diskriminierende Verhalten beseitigt (eradicated) werden54.
http://en.wikipedia.org/wiki/Jim_Crow_laws; 30.07.2010. Die Redewendung selbst wird m.W. das erste Mal in einem vom US Supreme Court bestätigten Gesetz des Bundesstaates Louisiana von 1890 verwendet: "requiring all railway companies carrying passengers on their trains in this state, to provide equal but separate accommodations for the white and colored races." Im Anschluss wurde die Redewendung häufig im Zusammenhang einer allgemeinen Politik der Rassentrennung und insbesondere im Zusammenhang der Trennung der Afroamerikaner von der weißen Bevölkerung gebraucht. Das Gesetz wurde erst 1954 im Zusammenhang eines anderen Urteils wieder aufgehoben, die Redewendung selbst blieb lange im Gebrauch. Vgl. auch: http://www.answers.com/topic/separate-but-equal; 30.07.2010. 48
Vgl. Wierlemann 2002:48f.
49
Vgl. Kramer 1996:20-23
50
Ebda.
51
Allerdings wurde die Gruppe der Frauen in dieser Fassung des Gesetzes noch nicht explizit erwähnt, mit dem Gesetz sollte nur die Rassentrennung bekämpft werden.
52
Kramer 1996:20
53
Vgl. zum Thema “Equality of Opportunity” auch Roemer 1998
54
Vgl. auch Cahn 1995: “Here for the first time in the context of civil rights the government called for ‘affirmative action’. The term meant taking appropriate steps to eradicate the then widespread practices or racial, religious, and ethnic discrimination. The goal, as the President stated, was ‘equal opportunity in employment’. In other words, affirmative action was instituted to insure that applicants for positions would be judged without any consideration of their
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Der nach der Ermordung Kennedys dann von L. B. Johnson unter Anwesenheit von M. L. King (Jr.) und Malcolm X unterzeichnete Civil Rights Act von 196455 war insbesondere mit den Title VI und VII56 - ein Meilenstein in der Gesetzgebung der Vereinigten Staaten. Er forcierte die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen in einem bislang unbekannten Ausmaß. Mit ihm wurden die JimCrow-Gesetze aufgehoben, und mit ihm bekamen die Bundesgerichte die Kompetenz zugesprochen, gegen Diskriminierung einzuschreiten. Mit der Rechtsprechung des Civil Rights Act wurde zweierlei erreicht: zum einen wurde die Benachteiligung von Frauen nun explizit thematisiert, und zum anderen wurde die Quotenregelung als Mittel zur Durchsetzung von Affirmative Action-Programme endgültig eingeführt. Staatlich geförderte Unternehmen und Institutionen waren nun verpflichtet, nachzuweisen, ob und in welchen Arbeitsbereichen sie die Minderheiten- und Frauenquote erreicht bzw. noch nicht erreicht hatten. Die rechtlich verankerte Gleichberechtigung führte allerdings nicht automatisch dazu, dass sie von allen persönlich wahrgenommen und genutzt wurde, und sie führte nicht automatisch dazu, dass Vorurteile gegenüber Menschen nicht-weißer Hautfarbe, Ethnien, Frauen und Minderheiten abgeschafft werden konnten. Vorurteile gegenüber Anderen (‚Others’) und Vorurteile gegenüber dem Anderssein (‚Otherness’) sind nach Loden et al. in der amerikanischen Geschichte selbst begründet. „As a result of our colonial history, most American businesses and institutions have been shaped primarily by the values and experiences of Western European white men. These ‘founding fathers’ of US industry, mainstream politics, government, academe, and society were responsible for institutionalizing many of the norms, expectations, habits, behaviours, and traditions that are the stuff of contemporary organization cultures. (…) One major consequence of these historical race, religion, or national origin. These criteria were declared irrelevant. Taking them into account was forbidden.“ 1964 wurde der Civil Right Act Title VII um die Kategorie Geschlecht (sex, nicht gender; Anm.KJD) ergänzt. 55
Pub.L. 88-352, 78 Stat. 241, 2. Juli 1964. Johnsons Rede ist insbesondere mit folgender Textstelle in die Geschichte eingegangen: „You do not take a person who, for years, has been hobbed by chains and liberate him, bring him to the starting line of a race, and then say you are free to compete with all others, and still just believe that you have been completely fair. (…) We seek (…) not just equality as a right and a theory but equality as a fact and equality as a result.” (Public Papers of the Presidents 1965:636). Bereits im März 1961, weniger als zwei Monate nach seinem Amtsantritt, unterzeichnete J. F. Kennedy die Executive Order 10925, mit der er die Auftragnehmer der Regierung aufforderte, "to take affirmative action to ensure that applicants are employed, and that employees are treated during employment, without regard to their race, creed, color, or national origin." Vgl. 1961, Executive Order 10925. Vgl. auch http://en.wikipedia.org/wiki/Executive_Order_10925; 30.07.2010
56
Der Title VI untersagt die Benachteiligung aufgrund von Rasse, Hautfarbe und Herkunft im Zusammenhang öffentlicher Angelegenheiten, vor allen Dingen Diskriminierung durch Behörden, die Bundesförderung erhalten. Title VII untersagt vor allen Dingen diskriminierende Einstellungs- und Beschäftigungspraktiken.
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events has been the continual undervaluing of others with core identities different from those of Western European, white, heterosexual, physically able bodied men”57.
Die Diskriminierung ethnischer Minderheiten und die Diskriminierung von Frauen wurde nun immer offensiver bekämpft, wobei sicherlich zwei Einflussfaktoren hervorzuheben sind: zum einen der weiter zunehmende Druck der wirtschaftlichen Notwendigkeiten und zum anderen der zunehmende Einfluss fortschrittlicher Politiker: insbesondere Präsident Johnson nutzte ab 1964 seinen Einfluss, indem er sich aktiv für das Konzept der Equality of Results einsetzte, das EEOC (s.o.) und das OFCC58 gründete und mit der Executive Order 11246 die Affirmative Action-Programme in die Bundesadministration einführte. Mit den Ausführungsverordnungen 11246 von 1965 und 11375 von 1968 "wurde allen Unternehmen, die mit den Staat Verträge eingehen, zur Auflage gemacht, Angehörige ethnischer Minderheiten und Frauen bei gleicher Qualifikation bevorzugt einzustellen und zu befördern, solange bis die geschützten Gruppen im betreffenden Unternehmen, auf allen Ebenen einen Beschäftigungsanteil erreicht haben, der ihrem Anteil an der Arbeitsbevölkerung entspricht"59.
Aber erst die Revised Order No. 4 der Nixon-Administration und die Supreme CourtEntscheidung von 1971 verhalfen den Affirmative Action-Programmen zum Durchbruch. Mit der Revised Order No. 4 wurden selbst kleinere Unternehmen unter Androhung von Strafe zur Implementierung von Affirmative Action-Programmen gezwungen, und mit der Supreme Court-Entscheidung wurden die Richtlinien der EEOC und des OFCC rechtsverbindlich. Die EEOC selbst konnte nun Klage gegen Unternehmen einreichen, die ihre Richtlinien nicht beachteten60. Revised Order No. 4 "führte für alle Unternehmen mit staatlichen Aufträgen über mehr als 50.000 Dollar und mehr als 50 beschäftigten die Verpflichtung ein, Affirmative Action plans mit detaillierten Zielsetzungen und Zeitplänen aufzustellen und jährlich der überwachenden Bundesbehörde, dem Federal Contract Compliance Program (FCCP) im Arbeitsministerium zu berichten"61.
1971 bestätigte der Supreme Court die zugunsten von Quotenregelungen gefällten Urteile unterer Instanzen und trug damit zur weiteren Stärkung der Rechte von Mitarbeitern aus Minderheitengruppen, insbesondere von African Americans, Hispanics 57
Loden et.al. 1991:28
58
Das OFCC (Office of Federal Contract Compliance) ab 1973 OFCCP (Office of Federal Contract Compliance Programs) ist Teil des US Department of Labor und ist dafür verantwortlich, dass die Unternehmen, die Geschäfte mit der Bundesregierung machen, die Antidiskriminierungsgesetze beachten.
59
Kramer 1996:20
60
Vgl. zum Vorstehenden Hildebrandt 2005:277-279; zu den beklagten Unternehmen gehörten z.B. AT&T, General Motors, General Electric und Sears Roebuck.
61
Kramer 1996:20
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und Frauen bei62. 1972 klagte die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP)63 gegen das Department of Health, Education and Welfare (HEW)64, um den Title VI des Civil Rights Act von 1964 durchzusetzen, und die staatlichen Bildungseinrichtungen wurden zur Durchführung von Affirmative ActionProgrammen gezwungen. Insgesamt gesehen spielte die Interdependenz zwischen politischen und ökonomischen Aspekten bei dem oben geschilderten Prozess eine große Rolle: die Back-Power-Bewegung setzte verstärkt auf Polarisierung und Segregation, der institutionelle Rassismus trat verstärkt in den Blick und die Civil Rights Aktivisten konnten sich in der Politik etablieren65. 1978 wurde dem Civil Rights Act noch eine Strafvorschrift gegen sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz hinzugefügt66. Wie oben geschildert, subsumieren sich unter dem Begriff Affirmative Action dabei verschiedene Antidiskriminierungsmaßnahmen, die die Diskriminierung aktiv überwinden wollen, nämlich um
Ausführungsbestimmungen zum Bürgerrechtsgesetz von 1964, das sich auch auf Frauen bezieht,
Ausbildungsprogramme zur Verbesserung und Qualifizierung von Minderheiten und Frauen in beruflichen und akademischen Kontexten, und um
konsequente Quotenregelungen für die anteilige Repräsentanz von Minderheiten und Frauen.
Damit wirkt das Konzept Affirmative Action als ein Prozessbeschleuniger für gesellschaftliche Gleichberechtigung, dessen Stärke darin zu sehen ist, dass ehemals diskriminierte Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe und ethnische Minderheiten institutionell besonders beachtet und bevorzugt werden. „Much of the federal litigation of the late 1960s and 1970s was aimed at increasing the presence of diverse people 62
Vgl. Griggs v. Duke Power Co., 401 US 429f (1971): “The objective of Congress in the enactment of Title VII is plain from the language of the statute. It was to achieve equality of employment opportunities and remove barriers that have operated in the past to favor an identifiable group of white employees over other employees. Under the Act, practices, procedures, or tests neutral on their face, and even neutral in terms of intent, cannot be maintained if they operate to "freeze" the status quo of prior discriminatory employment practices.”
63
Die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) ist eine bereits 1909 gegründete einflussreiche Bürgerrechtsorganisation, mit dem Ziel “to ensure the political, educational, social, and economic equality of rights of all persons and to eliminate racial hatred and racial discrimination." Vgl. www.naacp.org; 30.07.2010
64
Das HEW (Department of Health, Education and Welfare) ist der 1953 gegründete Vorläufer des HHS (The United States Department of Health and Human Services, 1979) mit dem Motto "Improving the health, safety, and well-being of America." Vgl. www.hhs.gov; 30.07.2010
65
Vgl. Hildebrandt 2005:480f.
66
Vgl. Kramer 1996:21
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(…) - in ‘non-traditional’ jobs throughout the American workplace”67. Diese bewusste Fürsprache und Förderung von Minderheiten im Bereich der Bildung und Berufstätigkeit sollte sich sozialpolitisch positiv auf die gesellschaftlichen Prozesse insgesamt auswirken: die USA leitete mit diesen Affirmative Action-Programmen Gleichberechtigungsreformen ein, die „als die striktesten Antidiskriminierungsstrategien gelten, die in hochindustrialisierten Ländern bisher angewandt wurden“68. Allerdings erzielte der Civil Rights Act letztendlich nicht die gewünschte Wirkung. Emanzipationserfolge waren nur auf juristischer und gesetzgeberischer Seite zu verzeichnen; sie wurden als Akt formalrechtlicher Gleichstellung der Schwarzen gegenüber den Weißen gesehen, umfassende materielle Gleichberechtigung wurde nicht erzielt, und die Bewegung selbst konnte dem Druck der von ihr angestoßenen gesellschaftlichen Entwicklungen schließlich nicht mehr standhalten. Der Civil Rights Act erzwang die Öffnung der amerikanischen Bildungseinrichtungen für alle Bevölkerungsgruppen, die Bevölkerungsgruppen waren dort aber niemals paritätisch vertreten. Einige von Hildebrandt zusammengetragene Zahlen mögen das belegen: Im Rahmen des amerikanischen Schulsystems hat sich der Prozentsatz der High-School-Absolventen der Black Community von ca. 20% (1960) auf 74,7% (1997) fast vervierfacht. Und im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil der Schüler mit einem Bachelor Degree von 3% auf 14,4% ebenfalls ungefähr vervierfacht. Bei den Weißen dagegen stieg die Hochschulabschlussrate von 43% auf 82,7%, die Collegeabschlussrate von 8% auf 29%. Es verfügen also ca. 10% mehr Weiße über einen Hochschulabschluss und ca. 20% mehr Weiße über einen Collegeabschluss. 25% der Schwarzen bleiben also ohne Highschool-Abschluss, aus ihnen rekrutiert sich die sozial, ökonomisch und politisch deklassierte schwarze Unterschicht69. Im Zeitraum von 1967 bis 1999 entstand zwar eine schwarze Mittelschicht mit zumeist akademischen und technischen Berufen, aber zugleich vergrößerte sich seit den 1970er Jahren die Einkommensschere zwischen der Mittelschicht und der Unterschicht. Hier zeigt sich das größte gesellschaftliche und wirtschaftliche Konfliktpotenzial, das nur durch die weitere Verbesserung der sozioökonomischen Situation insgesamt verbessert werden kann. Das Durchschnittseinkommen von Angehörigen der Black Community ist vom Durchschnittseinkommen der Weißen weit entfernt, obwohl doppelt so viele Weiße unter der Armutsgrenze leben wie Schwarze und ca. 60% der Sozialhilfeempfänger Weiße sind70.
67
Loden et al. 1991:28
68
Kramer 1985:58
69
Hildebrandt 2005:485. Hildebrandt stützt sich auf Hartmannm 1996:88. Es kann hier nicht diskutiert werden, welche sozialen Einflüsse hier wirksam werden.
70
Vgl. Hildebrandt 2005:483
72
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In den 1980er Jahren versuchte die Reagan-Administration die Bestimmungen des Federal Contract Compliance Program (FCCP) unter anderem durch die Besetzung von Richterstellen und die Verschleppung von Klagen im Arbeitsministerium sukzessive zu lockern: "Mit drei Urteilen (1. zur Bevorzugung von Firmen im Besitz von Angehörigen ethnischer Minoritäten durch kommunale Verwaltungen, 2. zum Vorrang der Senioritätsrechte weißer Männer, und 3. zur Zulässigkeit statistischer Beweisführung in Diskriminierungsklagen) hatte der mehrheitlich unter Reagan neubesetzte Oberste Gerichtshof 1989 die Richtung seiner bisherigen Rechtssprechung, die die Wirksamkeit der AA garantiert hatte, umgekehrt"71.
Die Antidiskriminierungsreformen waren aber schon längst in der Bevölkerung akzeptiert. "Bürgerrechtsorganisationen, Frauenbewegungen und Gewerkschaftsdachverbände hielten an AA (Affirmative Action, Anm. KJD) fest"72, und mit der "Verabschiedung eines neuen Bürgerrechtsgesetzes im Oktober 1991 kann AA unabhängig von reformfeindlichen Interpretationen des Obersten Gerichtshofes erhalten werden"73. 2.3.3. Black Power und Ethnic Revitalization Movement Der unter anderem durch das Civil Rights Movement ermöglichte Aufstieg einzelner Individuen der schwarzen Bevölkerung in die Mittelklasse und die Herausbildung eines "Negro Establishments" spiegelte keineswegs die Chancen der breiten Mehrheit dieser Bevölkerungsgruppe wider und stieß insbesondere bei den Führern des Black Power auf Unverständnis. Diese stilisierten die "Emporkömmlinge" und "Integrationisten" zu Handlangern des rassistischen weißen Systems ohne jeden Bezug zur schwarzen Unterklasse. Bei der Ausgangslage einer nur unvollkommen ausgeprägten Identität und eines beschädigten Selbstbewusstseins weiter Teile der schwarzen Bevölkerung bargen Sozialisation und Integration in die bestehende Gesellschaft die Gefahr des weiteren Identitätsverlustes und der weiteren Selbstentwertung. Aus der Sicht der Black-Power-Bewegung war es deshalb eine wichtige Aufgabe für die schwarze Bevölkerungsgruppe, sich auf das gemeinsame Erbe zu besinnen, ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und damit zu beginnen, eigene Ziele zu definieren und eigene Organisationen zu bilden und zu unterstützen74.
71
Kramer 1996:22
72
Kramer 1996:23
73
Kramer 1996:23
74
Vgl. Hildebrandt 2005:52
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2.3.4. Multiculturalism und Cultural Democracy Es verwundert nicht, dass der durch Black Power und Ethnic Revitalization Movement erstarkte "Black Nationalism" andere ethnische Gruppen anregte, ihre Interessen ebenfalls stärker zu vertreten und eigene Organisationen zu gründen. Nicht nur die Indian Americans und die Mexican Americans, auch die Gruppen der nicht angelsächsischen europäischen Einwanderer empfanden sich nun als Opfer der herrschenden Assimilationspolitik und schlossen sich zusammen. Der 1965 verfasste und 1968 in Kraft getretene „Immigration and Nationality Act“75 stärkte ihre Position dann auch formal und löste eine bis heute anhaltende Immigrationswelle nichteuropäischer Einwanderer aus. Damit wurden die Begriffe Cultural Pluralism und Multiculturalism gleichsam revitalisiert und erneut in die Debatte eingeführt. Das führte in der weiteren Auseinandersetzung wiederum dazu, dass neben der Toleranz für die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt die Toleranz für weitere Unterschiede angemahnt wurde. Es gründeten sich z.B. die National Organization for Women (1966), die Woman's Equity Action League (1969) und die Gay Liberation Front (1969). Radikale studentische Aktivisten konnten die Einführung neuartiger Studiengänge erzwingen, die sich direkt mit Randgruppenthemen befassten. Es gab z.B. Black Studies, Asian American Studies, Native American Studies, Chicano Studies und women's studies etc. Aus diesen neuen Studiengängen entwickelten sich die Begriffe Ethnic Studies und Multiethnic Education. Bildung wird nun als Differenzkriterium bestimmt, und es wird der Anspruch auf umfassende, von der ethnischen Zugehörigkeit völlig unabhängige und gleichberechtigte Bildungschancen erhoben76.
75
Der „Immigration and Nationality Act“ von 1965 setzte den Immigration Act von 1924 außer Kraft, nach welchem die Einwandererquote einer Nationalität auf 2% der bereits im Lande lebenden Einwohner dieser Nationalität begrenzt wurde. Der „Immigration and Nationality Act“ von 1924 sollte den Zuzug von Süd- und Osteuropäern, und hier insbesondere den - etwa ab 1890 stark gestiegenen - Zuzug von süd- und osteuropäischen Juden beschränken und die Einwanderung von Asiaten blockieren. Mit dem Immigration and Nationality Act von 1965 wurde dann eine jährliche Obergrenze von 300.000 Einwanderern festgelegt, darunter 170.000 aus Ost- und Südeuropa, bei einer Begrenzung auf 20.000 Personen pro Nationalität. Für die restlichen 130.000 Einwanderer aus Westeuropa galt das "first-come, first-served-Prinzip“. Vgl. zum Thema auch Daniels 1977, Zolberg 2006, Lemay et al. 1999 und Ngai 2004. Zu den Einzelheiten der verschiedenen Immigration and Nationality Acts Vgl. auch http://en.wikipedia.org/wiki/Immigration_Act_of_1924 und http://en.wikipedia.org/wiki/Immi -gra tion_and_Nationality_Act_of_1965. (30.07.2010)
76
Vgl. Hildebrandt 2005:56. Nach Hildebrandt taucht der Begriff Multikulturalismus das erste Mal in einer 1967 verfassten und 1969 veröffentlichten Publikation von Jack Forbes auf: „Education of the Culturally Different. A Multicultural Approach”. Im Zusammenhang der Implementierung von Diversity-Trainings sind hier die Organisationen Leadership Trainings Institut (LTI), American Association of Colleges for Teachers Education, National Council for Social Studies und National Society for the Study of Education zu erwähnen. Sie alle befassten
74
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Gesetze zur finanziellen Unterstützung von Kindern unterer Einkommensgruppen, von Kindern nicht-englischsprachiger Einwanderer, von Frauen und von Behinderten wurden erlassen, ebenso wie Gesetze zur Einführung bilingualer Unterrichtseinheiten77. Parallel dazu stieg die Zahl der Publikationen zum Thema Multikulturalismus stark an, und es entzündete sich eine heftige Diskussion. 1973 wurde schließlich der institutionelle Rassismus des amerikanischen Erziehungssystems auf einer breiten Basis thematisiert, und 1974 verlangte der National Council for Accreditation of Teacher Education78 die Integration multikultureller Komponenten in die Lehrerausbildung seiner Mitglieder79. Der Mythos des Melting-Pot wurde vehement in Frage80, die Begriffe Pluralismus und Multikulturalismus dagegen in den Vordergrund gestellt81, wobei die letzteren einen wesentlich schärferen Ansatz verfolgten als das oben erwähnte Intercultural Education Movement. An die Stelle der - von der Hoffnung auf "Verschmelzung" getragenen Forderung zur gegenseitigen, bloß passiven Toleranz - trat nun die Forderung nach aktiver Stärkung der unterschiedlichen Kulturen: eine Gesellschaft, die den Maßstäben der Humanität gerecht werden wolle, müsse - so z. B. Cross et al. - die völlige kulturelle Gleichheit aller ethnischen Gruppen anerkennen82, da ein kultureller Pluralismus ohne Gleichheit kaum mehr als ein Kastensystem sei, in welchem jeder Subkultur ein Existenzrecht nur so lange zugestanden wird, wie sie die vorgegebenen Schranken respektiert83. Hildebrandt betont dabei, dass es hier trotz der ausdrücklichen Bezugnahme auf ethnische Gruppen in erster Linie doch um die Entwicklung des einzelnen Individuums und um die Entwicklung individueller Leistungspotenziale ging. Die multikulturelle Erziehung sollte Garant dafür sein, das niemand aufgrund seines Geschlechts, seines Alters, seiner Muttersprache, seiner Religion, seiner Schichtzugehörigkeit oder wegen seiner anderen Besonderheiten in seiner Entwicklung behindert wird84.
sich seit Anfang der 1970er Jahre mit einer neuen Ausrichtung der Lehrer- und Trainerkompetenz. 77
Vgl. Hildebrandt 2005:54f.
78
Der National Council for Accreditation of Teacher Education (NCATE) - ein Rat von Pädagogen - wurde 1954 gegründet, um die Qualität der Lehrerausbildung für die amerikanischen Colleges und Universitäten zu gewährleisten. Vgl. auch http://www.ncate.org (30.07.2010)
79
Vgl. Hildebrandt 2005:57
80
Vgl. Hildebrandt 2005:58f.
81
Vgl. Hildebrandt 2005:59f.
82
Vgl. Cross et al. (Eds.) 1977b:xii: “the recognition of cultural equality”.
83
Vgl. Weinberg 1977:32
84
Vgl. Gollnick et al.1983:vii, zit. nach Hildebrandt 2005:61
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Insofern entstand hier durchaus etwas, das sich von den Forderungen des Black Power und von den Forderungen des Melting-Pot-Konzeptes abhob: der kulturelle Pluralismus der AACTE "rejects both assimilation and separatism as ultimate goals"85. Das Konzept des Cultural Pluralism bzw. des Multiculturalism kann damit durchaus als Anstrengung gewertet werden, die Ideale der integrationistischen Civil Rights Movement mit den Idealen der separatistischen Power Movements zu verknüpfen. Es ging eben darum, auf die totale Anpassung zu verzichten und eine um die Werte Respekt und Anerkennung zentrierte Akkulturation so zu arrangieren, dass die Vormachtstellung der dominanten (weißen) Kultur nicht in Frage gestellt wurde. "Annäherung", "Bewahrung fundamentaler gemeinsamer Werte" und "Partizipation an einer gemeinsamen nationalen Kultur"86 avancierten dabei (erneut) zu häufig gebrauchten Schlagworten. Die Amerikaner der Minderheitengruppen sollten sich prinzipiell dem amerikanischen Verfassungspatriotismus verpflichten. Ihre Kinder sollten die grundlegenden Werte "Gerechtigkeit", "Gleichheit" und "Menschenwürde" achten lernen und sich für diese engagieren, und die Schulen sollten fortan schwerpunktmäßig jene (tradierten) Werte vermitteln, die geeignet waren, die Chancen für ein demokratisches Leben zu optimieren87. Für die Zeit von 1970 bis 1990 kann man dann eine nochmalige Veränderung und Verschiebung in der Bedeutung der Begriffe "Cultural Pluralism" und "Multiculturalism" festhalten. Bis in die 1970er hinein wurden beide Begriffe fast ausschließlich in der Literaturwissenschaft verwendet, im allgemeinen mit nahezu diametral entgegengesetzten Bedeutungen. Denn während der Begriff "Cultural Pluralism" ein Begriff der von den Civil Rights der frühen 1950er und 1960er Jahren geprägten Literaturwissenschaft war, war der Begriff des Multikulturalism ein Begriff der sozialen Bewegungen der frühen 1960er und späten 1970er Jahre88. Das gewisse Radikalisierungspotenzial, das er damit in sich barg, realisierte sich dann in den 1980er, als Autoren wie Shor, Giroux, Boyd und Gordon ihre Veröffentlichungen dem multikulturellen pädagogischen Ansatz zuordneten, und zwar als „critical teaching“89 (Shor),
85
AACTE:264, zit. nach Hildebrandt 2005:61. Die AACTE (American Association of Colleges for Teacher Education) ist mit eigenen Worten eine "national alliance of educator preparation programs dedicated to the highest quality professional development of teachers and school leaders in order to enhance PK-12 student learning". Vgl. http://aacte.org (30.07.2010)
86
Hildebrandt 2005:63
87
Vgl. Hildebrandt 2005:62. Hildebrandt stützt sich hier u.a.auf Banks 1974:166 und 1997:24
88
Vgl. Hildebrandt 2005:65-67
89
Shor 1980
76
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„emancipatory education“90 (Giroux) und „transformative education“ (Boyd und Gordon)91. Der Begriff Multikulturalism wurde nun z.B. zum "Critical, Transformative and Revolutionary Multiculturalism"92 erweitert und zielte in dieser Form eindeutig auf die Politisierung der Studentenschaft ab. Multikulturelle Erziehung wurde zu einer Form des sozialen Aktivismus, der sich - "directly connected with political struggle"93 - direkt als Form des Widerstands gegen Unterdrückung und repressive soziale Beziehungen verstand. Dennoch wurde der Multikulturalismus aber keine Protestbewegung, die sich der ökonomischen Probleme der amerikanischen Unterschicht annahm. Er blieb letzten Endes eine "kulturelle Protestbewegung der Minoritäten der Neuen Sozialen Bewegung, zu denen die ‚Blacks, Chicanos, Puerto Ricans and other Spanish-speaking Americans, American Indians, Jews, lesbians, gay men, Arabs, Asians, old people, working-class people, and the physical and mentally disabled’"94
und - nicht zu vergessen - die Feministinnen zählten. Alle genannten Gruppen waren Fraktionen der "'Rainbow Coalition', die unter dem Schirm des Begriffs Multiculturalism von den linken Intellektuellen und Akademikern vereinigt"95 wurden. Im Konzept der Cultural Democracy ging es dann primär um die langfristige Sicherung der kulturellen Vielfalt und um die völlige Ebenbürtigkeit aller Menschen unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung und unabhängig von ihrer Kultur, ihrer Rasse, ihrer ethnischen Herkunft, ihren Fähigkeiten, ihres Alters, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Hier wird die in allen Vorläufermodellen noch mehr oder weniger präsente Hierarchie der Kulturen durch vollständige Gleichwertigkeit ersetzt wird. In der multikulturellen Gesellschaft, wie sie hier angedacht wird, gibt es keine übergreifenden Leitbilder oder Zielstellungen, keine Rangordnung, keine verbindenden Werte und keine Verpflichtung auf eine gemeinsame Perspektive mehr, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass einzelne Teile der Gesellschaft sich durch solche in den Möglichkeiten einer gewaltfreien Entwicklung bedroht fühlen könnten96.
90
Giroux 1985
91
Boyd et al. 1988
92
McLaren 1995:42, zit. nach Hildebrandt 2005:68
93
Sleeter 1996:13, zit. nach Hildebrandt 2005:68
94
Young 1990:40, zit. nach Hildebrandt 2005:69
95
Hildebrandt 2005:69
96
Vgl. Prilleltensky et al. 1994:148 und Parekh 2000:48, zit. nach Hildebrandt 2005:267
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In der Auseinandersetzung um die richtige Position trafen hier zwei extrem gegensätzliche Fraktionen aufeinander97. Die radikale - vorwiegend durch die postmoderne Linguistik geprägte - Fraktion unterstellte der eher gemäßigten Fraktion dabei vor allen Dingen, dass sie eigentlich die Ideale der weißen amerikanischen Mittelklasse transportieren würde98 und unter dem Banner des Multikulturalismus lediglich einen liberalen Interessenpluralismus vertreten würde, der auf der herkömmlichen „Privatisierung und Hierarchisierung von Entscheidungsprozessen, die Vertretung egoistischer Einzelinteressen und die Umgehung des Prozesses der öffentlichen Rechtfertigung“99 aufbauen würde. Dieser unterschied sich generell von den grundsätzlich öffentlichen und gemeinsamen Entscheidungsprozessen, wie sie Teil des multikulturellen Pluralismus waren. Der eigentlich multikulturelle Pluralismus sei - so argumentierte z.B. Young - durch einen jederzeit transparenten und vollständig öffentlichen Diskurs gekennzeichnet, wie er sich an den zufälligen, marginalen und unvorhersehbaren Berührungspunkten von im eigentlichen Sinne weitestgehend voneinander isolierten Gruppen ergeben würde. Aus Youngs Sicht sind die Menschen einer multikulturalistischen Gesellschaft ähnlich miteinander vergesellschaftet, wie die Menschen der Großstadt: sie sind aneinander gebunden und aufeinander verwiesen, ohne sich zu einer (von einheitlichen Werten getragenen) Gemeinschaft verpflichten zu müssen. Hier wie dort eröffneten Anonymität und Ungebundenheit soziale Nischen selbst für kleinste Minoritäten und boten die Möglichkeit zur bewertungs- und ablehnungsfreien Selbstverwirklichung. Und zufällige Begegnungen in öffentlichen Räumen eröffneten die von „pleasure und exitement“ getragene Chance zu gegenseitiger Anregung und zur Entwicklung eines Gefühls von „neighborhood“ ohne Gefahr der Assimilation100. 2.4.
Zwischenauswertung
2.4.1. Die Bedeutung von Affirmative Action Die hier vorgestellten Programme des Cultural Pluralism, des Civil Rights Movement, von Affirmative Action, des Black Power, der Ethnic Revitilization, des Multiculturalism und der Cultural Democracy verfolgten - mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung - sowohl ethisch-politische als auch wirtschaftliche Ziele. Aber insbe97
Nach Hildebrandt (2005:269) gehören Jung Min und John W. Murphy zur radikalen Fraktion, Diane Ravitch, Arthur Schlesinger Jr., Lynne V.B. Cheney, Chester Fin u.a. dagegen zur gemäßigten Fraktion.
98
Vgl. z.B. Mc Laren 1995:49
99
Hildebrandt 2005:270
100
Vgl. Young 1990:238: „in this ideal groups do not stand in relation of inclusion and exclusion, but overlap and intermingle without becoming homogenous“. Vgl. auch Sennett 1991, der in seinem Buch „Civitas“ zeigt, wie die Angst des Städters vor der Selbstpreisgabe entstanden ist.
78
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sondere die Programme von Affirmative Action waren dazu geeignet, dem Arbeitsmarkt neue Potenziale zuzuführen: Glasser et al. halten fest, dass Frauen und nichtweiße Männer insbesondere im Bereich der „entry-level jobs“ und der „lower-level management and professional jobs“ besonders von den neuen Antidiskriminierungsprogrammen profitierten101. Die formale Richtigkeit von Sätzen und die größtmögliche Präzision bei der Formulierung von Gesetzestexten oder Auflagen konnten das übergeordnete Ziel der Equal opportunity dabei nur unterstützten, aber nicht erzwingen. Wirklich wichtig waren die finanziellen Sanktionen gegen diskriminierende Unternehmer. Loden et al. sehen deshalb in den Affirmative Action-Maßnahmen nur einen „poor but necessary compromise“102, der notwendig war, die wesentlichsten Versäumnisse der Vergangenheit anzugehen: die Affirmative Action-Maßnahmen stellten die unhaltbaren Vorurteile gegenüber Menschen aus anderen Kulturen an den Pranger, und sie erzwangen einen breiten gesellschaftlichen Diskurs und eine offene politische Positionierung breiter Bevölkerungsschichten. Sie machten auf den mangelhaften Bildungsstand der Minderheitengruppen aufmerksam, die von den (weißen) Universitäten und den (männlichen) Fächern ausgeschlossen waren, und sie verwiesen auf die Auswirkungen dieses Umstands für die amerikanische Wettbewerbsfähigkeit. Der mit ihnen (vor allen Dingen zu Anfangs) verbundene administrative Umsetzungszwang führte selbstredend zu einer nur mangelhaften Akzeptanz, zum Widerstand und zur weiteren Polarisierung und verhinderte vielerorts die optimale Umsetzung des ursprünglich Angedachten: „The response to this forced change was grudging compliance. In many public and private organizations, the problems of employment discrimination and the need for change went unrecognized. Thus, government-imposed programs were largely viewed as wasteful and unnecessary. This grudging response to the law throughout US organizations sent a strong signal to employees about the perceived value of diversity in the workplace“103.
Bei der Beurteilung der Wirkung von Affirmative Action-Programme in der Wirtschaft können generell zwei Aspekte zum Tragen kommen: der Aspekt der Wiedergutmachung für vergangenes Unrecht und der Aspekt der Verbesserung des ökonomischen Status104. Wenn Kompensation nicht nur als Chance angeboten wird, son101
Glasser et al. 1988, zit. nach Cox 1993:248. Ähnlich z.B. bei Carr-Ruffino 1996:3: „Since 1960 more and more African Americans, Latino Americans, Asian Americans, and women have been entering college programs and technical areas that were formerly dominated by Euro-American men. As a result, these ‘minorities’ have been moving in managerial, executive, technical and professional careers formally closed to them.”
102
Loden et al. 1991:29
103
Loden et al. 1991:29
104
Young spricht sich z.B. dagegen aus, die Affirmative Action-Programme lediglich als Kompensation für die in der Vergangenheit erlittene Diskriminierung zu begreifen. Stattdessen fordert sie, Affirmative Action vor allen Dingen zur Bekämpfung jener Diskriminierung einzusetzen, die von unbewusster Abneigung und von unbewussten Stereotypen gespeist wird. Vgl. Young 1990:192f. Kramer (1985:58) dagegen begreift die Affirmative Action-Maßnahmen
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dern als faktische Entschädigung, müsste sie die völlige wirtschaftliche Gleichstellung der Minderheiten beinhalten. Rückblickend konstatiert Hildebrandt, dass nicht eindeutig festzuhalten sei, welche Effektivität die Maßnahmen von Affirmative Action letztendlich wirklich hatten. Aus seiner Sicht ist es bereits deswegen schwer, Vergleiche über die letztendliche Wirkung anzustellen, weil die 1940er und 1950er Jahre wirtschaftlich ganz anders strukturiert waren, als die folgenden Jahre, in denen die wirtschaftliche Integration um die bildungspolitische Integration ergänzt wurde. Nicht zuletzt deshalb wird die Wirkung von Affirmative Action auf die wirtschaftliche Entwicklung der Minderheiten in der Literatur als unterschiedlich und widersprüchlich, im allgemeinen jedoch als eher gering eingestuft105, sichtbare Wirkungen werden eher den Affirmative ActionProgrammen in der Bildung zugesprochen. Es lässt sich inzwischen nicht mehr eindeutig zuschreiben, welche Maßnahme was genau zur derzeitigen sozioökonomischen Situation der African Americans und der anderen Minderheitengruppen beigetragen hat: ob es die Affirmative ActionMaßnahmen per Quotenregelung selbst waren oder eine generelle Abnahme von Vorurteilen (decreasing prejudice), ein gewisses Erzwingen von Antidiskriminierung (antidiscrimination enforcement), steigende Einkommen (rising incomes) oder eben andere Kontextfaktoren (other forces)106. Hartman vermutet deshalb eine - nach Eliminierung aller Faktoren - nur bescheidene Wirkung107, und Kramer sieht - aus methodischen und erhebungstechnischen Gründen - ebenfalls Schwierigkeiten beim Versuch einer eindeutigen Zuordnung der positiven und der negativen Wirkung von Affirmative Action, da es generell schwierig ist, "auf der Makro-Ebene die differentiellen Einflüsse von ökonomischer Entwicklung, Handhabung der Reformen durch die Bürokratie auf verschiedenen Ebenen und beispielsweise KatalysatorEffekte von erfolgreichen antidiskriminerenden Eingriffen in branchenführenden Unternehmen auseinanderzuhalten“108.
Das komplexe Zusammenspiel von Wirkfaktoren verhindert ihre kausal-lineare Hierarchisierung, nicht aber ihren Einfluss selbst. Es gehört deshalb mit Sicherheit zu durchaus als Instrumente, „bestimmte Beschäftigungsgruppen - Frauen, Schwarze und ethnische Minoritäten lateinamerikanischer Herkunft - für vergangene Diskriminierung zu entschädigen" und ihnen bisher verschlossene Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitsplätze und Karrierechancen zu eröffnen. Der hier zitierte Artikel beschäftigt sich besonders mit dem Aspekt der Frauendiskriminierung. 105
Vgl. zur Auswertung der Debatte: Hildebrandt 2005:484
106
Vgl. Hildebrandt 2005:484
107
Vgl. Hartmann 1996:91f.
108
Kramer 1985:59f. Kramer bescheinigt den Affirmative Action-Maßnahmen darüber hinaus eine als positiv zu bezeichnende subtile Auswirkung auf die geschlechtliche Arbeitsteilung und sieht hier die Möglichkeit gegeben, die herrschenden Strukturen „in der vergesellschafteten Arbeit tendenziell aufzulösen“. Kramer 1985:60
80
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den positiven Ergebnissen von Affirmative Action, dass sie auch einen Prozess der Solidarisierung von Minderheitengruppen fördern und eine Sensibilisierung der Gesellschaft für Diskriminierung und Nicht-Diskriminierung hervorbringen können, wenn sie nachdrücklich eingesetzt werden, und wenn man berücksichtigt, dass die Quotierung nur ein notwendiger aber vorübergehender Zwischenschritt ist: „The goals are not quotas because they are flexible and approximate. As long as a company can show it’s making a good-faith effort to create a diverse workforce, it’s not penalized. AA (Affirmative Action; Anm. KJD) programs and goals will end when all relevant groups are reasonably represented at all levels of the company”109.
Jede bloß formalbürokratische, durch das „Erzwingungsrecht des Bundes“ (Federal Contract Compliance Program) durchgesetzte Quotierung dagegen läuft Gefahr, bei den "bisher privilegierten Gruppen“110 auf Ablehnung zu stoßen und letztendlich einen Beitrag zur Verfestigung der bereits bestehenden Vorurteile und zur Verhärtung der Fronten zu leisten. Sofern Affirmative Action nur die vordergründige Quotierung im Blick hat, um eine statistisch repräsentative Zusammenstellung der Belegschaft im Hinblick auf benachteiligte Minderheiten zu gewährleisten und Bildungspotenzial zu fördern, kann „eine neue psychologische Diskriminierung in Arbeitssituationen entstehen, in denen das Leistungsprinzip als Bewertungsmaßstab und Legitimationskriterium wichtig ist“111. Die bloß formale Umsetzung von Affirmative Action-Maßnahmen garantiert keinesfalls den respektvollen, vertrauensvollen und unterstützenden Umgang mit Personen aus Minderheitengruppen, wie er für gegenseitige Akzeptanz, gegenseitige Unterstützung und gemeinsam getragene Lernprozesse notwendig ist. Im Gegenteil: sie führt womöglich, weil eben dies alles ausgeschlossen ist, sogar zur fehlerhaften Umsetzung112. Mit der formalen Quotenregelung ist ja in keinster Weise geregelt, wie die per Quote eingestellten Arbeitskräfte der Minderheitengruppen effektiv - d.h. ohne permanente Reproduktion der tradierten Vorurteile - miteinander zusammenarbeiten können. Hier braucht es die verständnisvolle, anerkennende und weitsichtige Unterstützung (z.B. durch Vorgesetzte), damit die mit von Affirmative Action verbundenen Ziele wirklich zum Ergebnis geführt werden können. Ohne eine solche bei gleichzeitig hohen Erwartungen ist die Gefahr groß, dass sich Enttäuschung einstellt und neue unerwartete Probleme generiert werden113. Dass der mit Affirmative Action angestrebte Abbau von Vorurteilen in den Kleinbetrieben nicht ohne weiteres realisiert werden konnte, zeigt sich vielleicht auch daran, dass „the major effects of such race-
109
Carr-Ruffino 1994:16
110
Kramer 1985:64
111
Kramer 1985:66
112
Vgl. Carr-Ruffino 1994:17
113
Vgl. Carr-Ruffino 1994:19
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preferential policies has been a redistribution of black workers from small and medium-size firms to large companies and federal jobs“114. Eine weitere Begrenztheit von Affirmative Action-Maßnahmen offenbart sich im Bereich der Qualifizierung und Förderung im Bildungsbereich. Nach Hildebrandt sind die Chancen für eine qualifizierte Schulausbildung mit den Affirmative ActionMaßnahmen zwar gestiegen, sie werden in der Regel aber nur von der schwarzen Mittelschicht wahrgenommen und von der Unterschicht eher ignoriert. Auch und insbesondere die Situation (schwarzer) Frauen ist weiterhin stark von der Bildungssituation - und damit von der Arbeitsmarktsituation und der Entlohnung abhängig: „Generell ist zu sagen, dass Affirmative Action für Frauen in einer Zeit der ökonomischen Krise eingeführt wurde, die seit 1974 die Ausmaße sämtlicher Nachkriegs-Rezessionen erheblich überschreitet. Einiges spricht darüber hinaus dafür, dass innerhalb der ‚beschützten Gruppen’ eine Polarisierung stattfindet: Die Beseitigung der Beschäftigungsrestriktionen für Frauen in durch die Reform abgedeckten Industriebereichen führt zwar zu einer Steigerung der weiblichen Durchschnittslöhne in diesen Bereichen, wird aber wieder gemindert durch eine Verengung der Beschäftigungschancen für andere Frauen und ein gleichzeitiges Nachdrängen weiblicher Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt, die dann gezwungen sein können, wieder minderentlohnte Arbeitsplätze in nicht durch die Reform abgedeckten Bereichen zu akzeptieren (Beller 1977,199). Eine solche Polarisierung hatte sich für schwarze Arbeitskräfte im Zeitraum von 1967 und 1974 hergestellt: Die relative Lohnsteigerung schwarzer Frauen und Männer im Vergleich zu weißen Beschäftigten ist von einer wachsenden Arbeitslosigkeit unter der schwarzen Minorität insgesamt begleitet worden (a.a.o.,1985)“115.
Jetzt wurde es möglich, dass die schwarze Bevölkerung selbst für ihre Rechte in der amerikanischen Gesellschaft kämpfte. Insbesondere der gewaltfreie Widerstand M. L. Kings und die zahlreichen Proteste und Massendemonstrationen des Civil Rights Movement erwiesen sich als erfolgreich im Kampf um mehr Gleichberechtigung für schwarze Bürger. Da bisherige Gesetze116 zur Integration häufig noch am Widerstand verschiedener Gemeinden und öffentlichen Institutionen in ihrer Umsetzung scheiterten, wurde mit dem 1964 verabschiedeten Civil Rights Act jede Form von Rassendiskriminierung im öffentlichen Leben, beim Wahlrecht, am Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz und im Bereich von Bildung und Ausbildung sanktioniert117. Der Civil Rights Act zeigte also insgesamt eine starke Wirkung in Bezug auf die Antidiskriminierung rassischer, ethnischer, religiöser oder anderer Minderheiten. Mit 114
Woodson 1996:113
115
Kramer 1985:62
116
Vgl. Wierlemann 2002:49; u.a. die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der USA von 1954, wo es um die Aufhebung der Rassentrennung im Erziehungssystem in Brown vs. Board of Education of Topeka, Kansas geht.
117
Vgl. Wierlemann 2002:50. Hier ging der Druck zur veränderten Rechtssprechung wieder von wirtschaftlichen und von politischen Notwendigkeiten aus. Die Öffnung der Schulen, Universitäten und Wirtschaftsbetriebe für die schwarze Bevölkerung war notwendig geworden, um die amerikanische Wirtschaft expandieren zu lassen.
82
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Affirmative Action werden Gewohnheiten bei der Anwerbung von Mitarbeitern nicht nur durchbrochen und gegebenenfalls sanktioniert, es tritt zugleich „eine Veränderung der bisher praktizierten Form der Allokation von Arbeitskräften“118 auf, und Affirmative Action wird zum Synonym für allgemein legitime Gleichberechtigungsansprüche119 von benachteiligten Minderheitengruppen. Gleichwohl sind Affirmative Action-Programme in ihrer antidiskriminierenden Wirkung begrenzt, wenn es um den Bereich der Entlohnung der Arbeitskraft geht. Die von Hildebrandt zusammengetragenen Zahlen belegen, dass man von der völligen wirtschaftlichen Gleichstellung der Minderheiten noch weit entfernt ist: denn obwohl sich seit der Einführung des Civil Rights Act eine schwarze Mittelklasse etablieren konnte, hat das Durchschnittseinkommen der Mitglieder der Black Community noch längst nicht das Niveau des Durchschnittseinkommens der Mitglieder der weißen Bevölkerungsmehrheit erreicht120. Das radikale Modell der multikulturellen Gesellschaft beruht also auf der Anerkennung der kulturellen Vielfalt der Menschheit einerseits und auf der Vorstellung, dass sich die Regeln für einen respektvollen, ethisch akzeptablen Umgang miteinander im Zuge der Begegnung von selbst ergeben121, allerdings ohne differenzierte Ideen zur genauen Genese dieser wechselseitigen Anerkennung herauszuarbeiten122
118
Kramer 1985:59
119
Kramer 1985:62
120
Vgl. Hildebrandt 2005:483f.
121
Vgl. Parekh 2000:340, zit. nach Hildebrandt 2005:268
122
Das Konzept einer dialogischen Ethik, bei der sich in der Beziehung zwischen zwei Wesen eine Urchance des Seins bestimmt, ist kein Konzept der Postmoderne, sondern findet sich z.B. bereits bei F.H. Jacobis (1743-1819), J.G. Fichte (1762-1814), Ludwig Feuerbach (1804-1872), Sören Kierkegaard (1813-1855), Hermann Cohen (1842-1918), Franz Rosenzweig (18861929) und Martin Buber (1878-1965). Vgl. auch Stimpson 1992:48: „Citizens work actively to sustain and invigorate their individual cultures, which are all connected and supported by cultural institutions."
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3. 3.1.
83
Globalisierung und Migration Vorbemerkung
Im ersten Kapitel (Rationalisierung und Rationalisierungsstrategien) konnte herausgearbeitet werden, dass die Entwicklung vom Taylorismus hin zum Toyotismus mit weitreichenden Veränderungen verbunden ist: die repetitive Teilarbeit wird weitestgehend durch Arbeitsprozesse ersetzt, die einen höheren Grad an Autonomie ermöglichen, aber auch ein Mehr an Verantwortungsübernahme und Verantwortungsbereitschaft einfordern. Überflüssige Bürokratien werden abgebaut, mehrstufige Hierarchien durch flache Hierarchien ersetzt und der dem Fordismus eigene, autoritäre und machtbasierte Führungsstil weicht sukzessive einem kooperativen Führungsstil, der für Mitarbeiter mit einem höheren Maß an Autonomie und mit neuen Möglichkeiten zur Teilhabe an Entscheidungsprozessen verbunden ist. Hier wird gleichsam die wirtschaftliche Basis für ein verändertes Selbstverständnis breiter Bevölkerungsteile gelegt, das dann in den USA u.a. auch aufgrund der Dollarkrise von 1973, der Energiekrise von 1973, dem Ende des Vietnamkrieges 1975 und dem unaufhaltsamen Vordringen der japanischen Automobilindustrie auf dem Weltmarkt Bedingungen schuf, unter denen es schließlich zu den unter dem Begriff "Affirmative Action" zusammengefassten Reformen zur Herstellung gleicher Beschäftigungschancen für Frauen, für Afroamerikaner und für Amerikaner mit anderem ethnischen und anderem kulturellen Hintergrund kam (Siehe das zweite Kapitel: Diversity und Diversity-Management: die Vorläufer). Die US-amerikanische Affirmative Action und die auf ihr aufbauenden Konzepte des Diversity-Management werden noch heute vielfach zum Vorbild und Leitfaden für die Institutionalisierung von Diversity-Management genommen. Historisch gesehen hing ihre Entstehung auch mit mehreren großen Wanderungsbewegungen zusammen. Zuvorderst die Wanderungsbewegung etwa ab 1880, die die Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung stark veränderte, weil mit ihnen viele süd- ost-, nord- und mitteleuropäische Einwanderer ins Land kamen und der Bevölkerungsanteil an Amerikanern angelsächsischer Herkunft dadurch abnahm: das Verhältnis zwischen den weißen nicht-englischsprachigen und den weißen englischsprachigen Bevölkerungsgruppen musste neu überdacht werden, und im Begriff des "Cultural Pluralismus" fand sich schließlich ein Weg, wie man miteinander umzugehen gedachte. Dann die Wanderungsbewegung nach dem ersten Weltkrieg, die ähnlich strukturiert war, wie die von 1880 und schließlich die große Binnenwanderungswelle schwarzer Arbeiter in die wirtschaftlich starken Städte insbesondere des Nordens in den Kriegsjahren ab 1943. Auch sie hatten zur Folge, dass der wertschätzende Umgang mit Fremdheit ein immer wichtigeres Thema wurde.
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Nach 1990 schließlich haben die Wanderungsbewegungen ein weltweit bislang nicht bekanntes Ausmaß angenommen. Sie stehen auch im Zusammenhang mit der Bildung internationaler Finanz- und Warenmärkte, mit der Expansion transnational tätiger Unternehmen, mit der Verlagerung ganzer Produktionseinheiten in Entwicklungsund Schwellenländer und mit der Entstehung internationaler Arbeitsmärkte. Der Umgang mit Fremdheit bekommt auch abseits der klassischen Einwanderungsländer USA und Australien eine immer größere Bedeutung. In den Kapiteln Globalisierung und Migration geht es deshalb darum, die wichtigsten Interdependenzen zwischen der Globalisierung und dem zunehmenden Bedarf an Diversity-Management in den großen Unternehmen aufzuzeigen. In einem ersten Schritt wird daher die Entwicklung der globalen Wirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Finanzmärkte, Produktionsmärkte und Arbeitsmärkte skizziert. Und in einem zweiten Schritt wird dann die Wirkung dieser Entwicklung auf die Arbeits- und Produktionsprozesse selbst, auf die internationale Arbeitsmigration und auf die Allokation von Arbeitskräften beschrieben. 3.2.
Globalisierung
3.2.1. Globalisierung als Transformation Unter „Globalisierung“ fasst man gemeinhin eine Reihe bekannter und gut sichtbarer Phänomene zusammen: den globalen Austausch, der mit einer zunehmenden Mobilität von Produktion und Dienstleistungen korreliert, die zunehmende Zahl der Produzenten und Wettbewerber, die sich nunmehr weltweit verteilen, das Wachstum der internationalen Finanzströme und die Neuentwicklung global zugänglicher Finanzprodukte und schließlich die Grenzenlosigkeit des Weltmarktes, auf den selbst Kleinstfirmen mit Hilfe des Internet zugreifen können1. Der Begriff „Globalisierung“ versucht hier die umfassenden Zusammenhänge zwischen den Staaten, Völkern und Zivilisationen auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene zum Ausdruck zu bringen und "alles Inter-Kontinentale, Inter-Nationale, Inter-Kulturelle (usw.)"2 zu erfassen, das in den etablierten Diskursen der Historiker sonst nicht erfasst werden kann3.
1
Vgl. Köpf 1998:13
2
Osterhammel et al. 2003:9f.
3
Globalisierung scheint somit ein „epochaler Name“ für einen historischen Prozess zu sein, in welchem eine Vielzahl von Vorgängen mit eigenen Strukturen und eigenen Zeitmustern aufeinander einwirken und dabei ein weltweites Muster komplexer Interdependenzen mit ungeahnter Veränderungskraft erzeugen. Weitere Beispiele für epochale Namen im Sinne Osterhammels sind z.B. "Atomzeitalter", "Industriegesellschaft", "Spätkapitalismus", "Risikogesellschaft" und "Postmoderne". Vgl. auch Osterhammel et al. 2003:7f.
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„In its broadest sense, globalization refers to a multitude of interactions and growing interdependence among governments, organizations, businesses and people across the world. These processes are very diverse in nature and encompass a wide array of social, cultural, technological and political developments”4.
Mit Altvater und Mahnkopf kann man Globalisierung aber auch als Prozess der Transformation einer Gesellschaftsformation des späten 20. Jahrhunderts verstehen, in dem „die Kompatibilität von Staatsvolk, Staatsmacht und Staatsgebiet mehr und mehr schwindet“ und bei dem sich die traditionelle Form des Nationalstaats als Subjekt des internationalen politischen Systems infolge von Deregulierung und Souveränitätsverlust mehr und mehr auflöst. Ersatzweise entsteht ein ökonomischer Raum, der vermittels globaler, im Rahmen internationaler Organisationen ausgehandelter Regeln für den Umgang miteinander gesteuert wird. Nationale Spezifika bleiben zwar in gewisser Weise erhalten, sie müssen sich aber im Medium des Weltmarktes miteinander vergleichen und an den Weltmarkt als äußere Restriktion anpassen, wobei sich die Unterschiede mit der zunehmenden Verdichtung von Raum und Zeit immer schneller auflösen5 4
World Migration Report 2008:24. Als Anfang der 1990er Jahre der Begriff Globalisierung in der öffentlichen Diskussion auftauchte, wurde er (vor-)schnell dem Bereich von Politik und Wirtschaft zugeschlagen. Inzwischen hat die Beschäftigung mit Globalisierungsprozessen auch Eingang in die Geistes- und Sozialwissenschaften (insbesondere auch in die Soziologie) gefunden. Vgl. für viele z.B. Münch 1998 und Preyer 2006.
5
Die Themen der aktuellen Globalisierungsdebatte sind dabei so breit gestreut wie die politischen und wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Staaten, die Interessen der beteiligten scientific communities und die in diesen verankerten intellektuellen Traditionen. Weder über die Grundströmungen der Globalisierungstendenzen, noch über deren möglichen Zusammenhang herrscht Einverständnis. Während in der anglophonen sozialwissenschaftlichen Debatte die Fragen nach „dem Einfluss von globaler Öffnung auf nationalstaatliche Souveränität, nach den Auswirkungen auf hegemoniale Steuerung, auf geostrategische oder geoökonomische Gestaltung (und) nach den Folgen für lokale bzw. nationalstaatliche Wettbewerbsfähigkeit überwiegen“ (Altvater et al. 2004:22), setzen andere Weltregionen andere Schwerpunkte: in Lateinamerika und Asien sind Verschuldung, Finanzkrise und Neuregulation der globalen Märkte ein wichtiges Thema und in Afrika die ungenügende Wettbewerbsfähigkeit einschließlich ihrer Konsequenzen für Ökonomie und Gesellschaft. Aber bei aller Unübersichtlichkeit lassen sich zwei herausragende, gegenläufige Interessen im Zusammenhang der aktuellen Globalisierungsdebatte ausmachen: zum einen die Position des marktliberalen und neoliberalen „Globalismus“, der in IWF und Weltbank starke Protektoren hat; und zum anderen die Position der „Entropieresistenz“ (Gellner 1991), die nach ökonomischen und ökologischen Alternativen sucht und den kulturellen Unterschieden Gehör verschaffen will. "Begrüßen die einen den Beginn einer neuen Ära von Wachstum und Wohlstand, so erkennen die anderen eine heraufziehende globale Herrschaft des Großkapitals der westlichen Länder zum Nachteil von Demokratie, Arbeitnehmerrechten, armen Ländern überhaupt und des globalen Ökosystems" (Osterhammel et al. 2003:11). Innerhalb dieser Ausrichtung tauchen dann nach der Interpretation Altvaters fünf Standpunkte häufiger auf: 1.) Die Position, die mit der Globalisierung seit 1989 vorwiegend Chancen verbindet und ein Weltbürgertum heranwachsen sieht, 2.) die Position, die in der Globalisierung schlichtweg nur einen „Mythos“, „eine intellektuelle Übertreibung“
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1960 lag das Volumen der globalen Exporte knapp unter 1.000 Mrd. US$, 2008 bei ungefähr 10.000 Mrd. US$. Das entspricht einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 5,5%. Das Exportvolumen lag damit über dem durchschnittlichen weltwirtschaftlichen Wachstum von 3,1% pro Jahr6. Die starke Zunahme der globalen Exporte ist vor allen Dingen auf die transnationalen Konzerne („Global Players“, "Trans National Corporation, TNC") zurückzuführen7, die sich der Konkurrenz der Währungsräume entziehen können und sich ausschließlich am shareholder value orientieren. Sie gestalten ihre Produktionssysteme, Management-Praktiken, Unternehmensleitbilder etc. nach einem weitgehend einheitlichen Standard, und sie beziehen neben dem Prozess der Wertschöpfung das System der Zulieferer in ihre Strategien mit ein. Unternehmen, die den globalen Benchmark nicht halten können, sind entweder zum Untergang oder zur regionalen / lokalen Nischenproduktion mit anderen Standards verurteilt8. Die Rationalisierungsstrategien der TNC sind so ausgerichtet, dass eine führende Position auf dem Weltmarkt besetzt werden und / oder gehalten werden kann9, und sie sind häufig - auch außerhalb der Automobilindustrie - am Toyota-Produktionsmodell oder an einer der vielen Varianten dieses Modells orientiert. Rationalisierungen werden hier nicht mehr nur punktuell, sondern systemisch durchgeführt. Sie haben das vorrangige Ziel, Verschwendung zu vermeiden und Durchlaufzeiten in der Wertschöpfungskette zu verkürzen. Sie dienen nicht mehr nur - wie im „fordistisch“ organisierten Unternehmen - der Optimierung einzelner Produktions- und Arbeitsschritte, sondern der Optimierung des Gesamtprozesses von der Entwicklung über die Produktion bis hin zur Distribution: grenzüberschreitend arbeitsteilig unter Zuhilfenahme der modernen Informations- und Kommunikationssysteme und unter Integration der
oder eine „postmoderne Rechtfertigung des Kapitalismus“ sieht, 3.) die Position, die zwischen der Globalisierung vor dem ersten Weltkrieg und jener danach keine relevanten Unterschiede ausmachen kann und demgemäß weder neue Herausforderungen am Horizont auftauchen sieht, noch die Notwendigkeit neuer politischer Projekte begreift, 4.) die Position, die den Begriff Globalisierung für die Rechtfertigung des neoliberalen Abbaus von Lohn, Sozialleistungen und Rechten hält, und 5.) die Position, die in der Globalisierung vorwiegend eine widersprüchliche Tendenz zur Inklusion und Exklusion und damit eine Tendenz zur Neuordnung des globalen Raums wahrnimmt. Vgl. zum Vorstehenden Altvater et al. 2004:25-31 6
Vgl. World Migration Report 2008:25
7
TNC (Transnational Corporation) meint die großen internationalen und grenzüberschreitend tätigen Unternehmen. Mit der Zunahme der TNC geht die Bedeutung der ausschließlich national und / oder regional operierenden Unternehmen stark zurück. Vgl. Altvater et al. 2004:149f.
8
Altvater et al. (2004:274) betonen hier, dass der Übergang zwischen global wettbewerbsfähigen und global nicht wettbewerbsfähigen Unternehmen eher unscharf ist, weil die TNC häufig „formell-informelle Partnerschaften“ mit abhängigen Zulieferern meist aus Billiglohn-Ländern eingehen, um deren „Standortarbitrage“ zu nutzen.
9
Altvater et al. 2004:262
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randständigen Unterstützungsprozesse. Forschung, Qualitätssicherung und Logistik werden wichtige Steuerungsmedien des Gesamtprozesses10. Dabei ist es üblich, die überkommenen „fordistischen“ und strikt hierarchischen Verhältnisse zwischen der Mutter- und den Tochtergesellschaften zugunsten einer arbeitsteiligen Konzernstruktur aufzugeben und den Niederlassungen bestimmte, eng definierte strategische Rollen zuzuweisen. Im Gegensatz zur "fordistischen" Produktionsweise, die überwiegend nationale Märkte bediente11, zielt die Netzwerkstruktur globaler Unternehmen nun auf die Herstellung globaler Wertschöpfungsketten und auf die Erschließung neuer Rationalisierungspotentiale durch Kooperation und Allianzenbildung bei weitestgehender Dezentralisierung und bei weitestgehender Eigenständigkeit der Töchter. Die neuen Strukturen sind durch ein Höchstmaß an Flexibilität gekennzeichnet: es entstehen weit verstreute, innerhalb eines Netzwerkverbundes operierende Unternehmenseinheiten mit eigener Dispositionsbefugnis und eigener Ergebnisverantwortung. Starke Hierarchien werden zunehmend durch „interne und externe KundenLieferanten-Beziehungen“ ersetzt, in der die Beschäftigten ein hohes Maß an Eigenverantwortung für den Produktions- oder Dienstleistungsprozess zu übernehmen haben. Im Zusammenhang der Ergebniskontrolle tritt der Vergleich elektronisch verarbeiteter Daten aus internen und externen Benchmarkingprozessen an die Stelle der direkten Kontrolle durch den Vorgesetzten. Rationalisierung dient stärker noch als vorher der Beschleunigung der Produktionsprozesse und der Flexibilisierung der Mitarbeiter. Die Produktion wird dorthin verlagert, wo die Konsumenten sitzen, Arbeitsplätze werden umverteilt und die Bedeutung der Qualifikationsvorteile von Arbeitnehmern an bestimmten Standorten sinkt12. Gleichzeitig sind die Restrukturierungsmaßnahmen der TNC (Trans National Corporation) darauf ausgerichtet, möglichst große Kapitalmengen im Unternehmen zu halten und durch firmeninternen Handel im Unternehmen zirkulieren zu lassen. So ist der Anteil der ausländischen Tochterunternehmen in den USA insgesamt gesehen von 7,0% im Jahre 1981 auf 15,7% im Jahre 1995 gestiegen, in Deutschland aber von
10
Vgl. Sauer et al. 1994:204. Dieser Prozess wurde im Kapitel Rationalisierungsstrategien der vorliegenden Arbeit bereits ausführlich dargestellt.
11
Ford z.B. gründete zwar noch vor dem zweiten Weltkrieg diverse Niederlassungen (Schweden 1924, Finnland und Ägypten 1926, Portugal und Griechenland 1932 ) und Montagebetriebe (Belgien 1924, Niederlande 1932, Türkei 1928, Rumänien 1931 und Ungarn 1938) außerhalb der USA, aber alle diese Werke produzierten eben ein komplettes Auto für den lokalen Markt, Vernetzung im obigen Sinne war kein Thema. Vgl. auch http://www.fomcc.de/
12
Vgl. Altvater et al. 2004:285. Dank der entwickelten EDV-Technologie werden dabei „virtuelle Unternehmen“ möglich, in denen sich global verteilte, weitestgehend selbständige Spezialisten für spezielle Aufgaben zusammenschließen und dabei eigenverantwortlich temporäre, projektabhängige Strukturen herausbilden.
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16,7% auf 12,8% und in Japan sogar von 4,7% auf 2,5% zurückgegangen13. Der „intra-firm-trade“, also der Handel zwischen Tochterfirmen transnationaler Konzerne hat dabei laut OECD zwischen 1982 und 1992 in den USA von 31% auf 40%, in Japan von 30% auf 33% und in Schweden von 40% auf 50% zugenommen14, wobei unvorstellbare Kapitalmengen zirkulieren: „Unter den inzwischen 53.000 TNC mit ihren weltweit 450.000 Niederlassungen (UNCTAD 1998a) gibt es Konzerne, deren Umsatz größer ist als das Bruttosozialprodukt mittlerer Staaten. Im Besitz der TNC befindet sich etwa ein Drittel des weltweiten produktiven Anlagekapitals. Schon 1992 brachten es die 100 größten TNC, unter deren Kontrolle sich zu dieser Zeit Anlagekapital in Höhe von 3.400 Mrd. US$ konzentrierte, auf einen Jahresumsatz von 5.500 Mrd. US$, was in etwa dem Bruttosozialprodukt der USA entsprach. (UNCTC/UNCTAD 1993). Im Jahr 1997 ist das Anlagevermögen der TNC auf 12.606 Mrd. US$ angestiegen und ihr Weltumsatz ist mit 9.500 Mrd. US$ größer als der Welthandel“15.
2006 umfassten Trans National Corporations 77.000 Muttergesellschaften mit über 770.000 ausländischen Tochtergesellschaften. Sie beschäftigen rund 62 Mio. Arbeitnehmer und erwirtschafteten 4.500 Mrd. US$ Gewinn: „Three per cent of global trade is intra-firm. TNC have not only played an important role in directing FDI (Foreign Direct Investment, Anm. KJD) flows, but also contribute to more labour market openess. Specifically, the internationalization of the activities of firms for the production of goods and services is accompanied by increased international mobility of their workers among branches in different countries to perform services or undertake business visits abroad”16.
Allerdings gab es signifikante Unterschiede zwischen den Top TNC der entwickelten Länder und den Top TNC der Entwicklungsländer: die EU, Japan und die USA besaßen 55.000 der weltweit dominierenden TNC, die Entwicklungsländer nur 22.000, die außerdem über einen geringeren Teil ausländischer Aktiva und über geringere globale Reichweite und Präsenz verfügten17. 3.2.2. Ausländische Direktinvestitionen und globaler Benchmark Wie das vorstehende Kapitel gezeigt hat, wird die Globalisierung der Produktion weitestgehend von den TNC durchgeführt. Dabei spielen - über das bereits Gesagte hinaus - ausländische Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) eine bedeut13
OECD 1999:243, zit. nach Altvater et al. 2004:259
14
Vgl. Altvater et al. 2004:37
15
Vgl. Altvater et al. 2004:261
16
World Migration Report 2008:29. FDI = (engl. Foreign Direct Investment: Direktinvestitionen im Ausland) sind Vermögensanlagen einer natürlichen oder juristischen Person (Investor) im Ausland. Vgl. zum Thema Direktinvestition auch Freericks 1998 und Stehn 1992.
17
Vgl. World Migration Report 2008:29. Die nichts desto trotz bemerkenswerte Zunahme der Anzahl der TNC in den Entwicklungs- und Schwellenländern führt im Nebeneffekt zu einer deutlichen Zunahme der FDI aus diesen Betrieben in andere Betriebe der Entwicklungs- und Schwellenländer.
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same Rolle, da die Fortschrittschancen der Entwicklungs- und Schwellenländer stark von der Bereitschaft der großen Investoren abhängen, per Direktinvestition oder per Kreditvergabe ausreichend Kapital im Lande bereitzustellen: die Entwicklungs- und Schwellenländer sind dem Druck ausgesetzt, „den ‚Global Players’ die besten Konditionen im ‚Wettbewerb der Standorte’ zu bieten und (…) ihnen eine relativ hohe Profitrate zu bieten“18. Die Chance auf Teilhabe am globalen Kapitalmarkt wächst, wenn die zu erwartende Rendite hoch ist, sie reduziert sich, wenn sie niedrig ist. Vergleichsmaßstab ist hier der „global benchmark“, also das Niveau der am weitesten entwikkelten Staaten19. Staaten mit niedriger Produktivkraft und niedriger Rendite haben kaum Chancen auf ausreichende Direktinvestitionen. Sie sind folglich weitestgehend der Chance beraubt, ihre Produktivkraft eigenständig zu optimieren und Anteile der weltweit organisierten Produktion für sich zu akquirieren, oder sie fallen aus dem Netzwerk der weltweit bedeutenden Produzenten wieder heraus. Die Ungleichzeitigkeit der Direktinvestitionen verstärkt die ohnehin vorhandenen strukturellen Ungleichgewichte in der globalen Entwicklung, da die Ausgangslage der Länder den weiteren Verlauf und die erzielbare Qualität der Entwicklungsprozesse entscheidend mitbestimmt. Entwicklungsprozesse werden schneller verlaufen, wenn sich die gesellschaftlichen Strukturen des zu entwikkelnden Landes bereits auf einem - am Standard der entwickelten Industrienationen gemessenen - hohen Niveau befinden, sie werden langsamer verlaufen, wenn sie sich auf einem niedrigereren Niveau befinden20. Die „seit mehr als 30 Jahren betriebene Liberalisierung und Deregulierung von Märkten und die Privatisierung öffentlicher Güter haben deshalb keineswegs dafür gesorgt, dass Demokratie und Menschenrechte sich weltweit verbreiten und Konflikte friedlich beigelegt werden. Auch der versprochene Wohlstand ist nicht überall angekommen. Im Gegenteil, die Armut in der Welt ist nicht kleiner geworden, wenn man von Indien und China absieht"21. 18
Vgl. Altvater et al. 2004:266
19
Dieser Form der Anpassung an einen durch die Globalisierung der Finanzmärkte vorgegebenen Benchmark steht Amin 2006:15 äußerst skeptisch gegenüber: Anpassung wird seines Erachtens stets als Anpassung der schwächsten Nationen an die Erfordernisse des aktuellen globalen Systems verstanden, und „just diese Anpassung der Schwächsten an die Bedingungen, die die Starken erst stark gemacht haben, zerstört deren Chance zum ‘Aufholen’“. Nicht die bloße nachholende Kapitalisierung sollte deshalb im Zentrum der Entwicklungsbemühungen stehen, „sondern die Chance der Schwachen, sich mit positivem sozialen Inhalt zum Wohle ihrer eigenen Bevölkerung zu entwickeln.“
20
Aktuell zeigt der Entwicklungsprozess der ost- und mitteleuropäischen Staaten, dass der schnelle Übergang zur Marktwirtschaft vor allen Dingen durch die nach wie vor völlig andere gesellschaftliche Struktur und durch die nicht ausreichende Qualifikationsstruktur der Menschen ausgebremst wird.
21
Vgl. Mahnkopf 2006:31. Nach den Angeben des World Migration Report (2008:25) erreichten die Direktinvestitionen 2005 eine Höhe von 916 Mrd. US$, wobei der Großteil an Brasilien,
90
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Transnationale Konzerne verschaffen den betroffenen Ländern etwa 10% der internationalen Investitionen (Bruttoinvestitionen). Sie generieren damit den größten Anteil an den globalen Direktinvestitionen22, und die Schaffung von Arbeitsplätzen mit Hilfe dieser Direktinvestitionen ist einer der Hauptgründe dafür, dass Regierungen versuchen, transnationale Konzerne (TNC) in das Land zu holen. Die Akquisitionsmaßnahmen der Staaten reichen dabei von der Senkung der aktiven Finanzstromsteuerung über die Rückführung von Gewinnen bis hin zur Einrichtung von "Free Trade Zones" (FTZ) und "Export Processing Zones“ (EPZ)23. Die mit der Globalisierung eng verbundene Integration der nationalen Finanzmärkte in einen globalen Finanzmarkt geht mit einer enormen Zunahme der Finanzströme einher. Kapital kann jetzt prinzipiell überall angelegt werden, allerdings nur, wenn der Kapitaleigner die hierfür notwendige Flexibilität aufzubringen vermag. Auf den Finanzsektor spezialisierte Dienstleister entwickeln deshalb „Finanzinnovationen, mit denen es möglich ist, selbst in Produktionsanlagen langfristig fixiertes Kapital kurzfristig zu verflüssigen. Die ‚Liquidierung der Produktionsverhältnisse’ ist ein unübersehbarer Ausdruck der globalen Vereinheitlichung. Renditenvergleiche von Kapitalanlegern beziehen sich jetzt nicht mehr nur auf den lokalen Raum nationaler Gesellschaften, sondern auf den globalen Raum, und sie werden an globalen Benchmarks bemessen. Alle lokalen, regionalen und nationalen Renditeunterschiede werden der Tendenz nach eingeebnet - unter Berücksichtigung von Risiken und der Zinsentwicklung. Diese wiederum werden von spezialisierten ‚rating agencies’ geschätzt und global kommuniziert“24. In diesem Sinne geht die Verdopplung der Welthandelsumsätze
China, Hong Kong, Mexiko und Singapur ging. Südasien, Ostasien und Südostasien konnten 18%, Afrika lediglich 3% der weltweiten FDI-Ströme für sich akquirieren. Die Politik der benchmarkabhängigen Direktinvestitionen scheint mit der steigenden Verschuldung derjenigen Länder einherzugehen, die den Ansprüchen des global benchmark auf Produktivkraft und Rendite nicht genügen. Das hat zur Folge, dass insbesondere viele Entwicklungs- und Schwellenländer zunehmend verarmen. So benennt die Weltbank für 2009 insgesamt 41 hochverschuldete Staaten (Heavily Indebted Poor Countries), die meisten davon aus der Zone südlich der Sahara: Comoren, Elfenbeinküste, Eritrea, Republik Kirgisien, Nepal, Somalia, Sudan, Afghanistan, Burundi, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Demokratische Republik Kongo, Republik Kongo, Guinea, Guinea-Bissau, Haiti, Liberia, Togo, Benin, Bolivien, Burkina Faso, Kamerun, Ethiopien, Gambia, Ghana, Guyana, Honduras, Madagaskar, Malawi, Mali, Mauritanien, Mozambique, Nicaragua, Niger, Ruanda, Sao Tomé Principe, Senegal, Sierra Leone, Tansania, Uganda und Zambia. 22
Vgl. World Migration Report 2008:26
23
FTZ (Free Trade Zone: Freihandelszone) und EPZ (Export Processing Zone: Exportproduktionszone) sind Gebiete eines Landes, in dem die normalen Handelshemmnisse wie Zölle, Steuern, arbeitsrechtliche Regelungen und andere bürokratische Anforderungen nur eingeschränkt gelten oder sogar außer Kraft gesetzt sind. Insbesondere die ärmeren Staaten verbinden mit ihnen die Hoffnung auf ausländische Investoren und damit auf Arbeitsplätze und Devisen.
24
Altvater et al. 2004:149. Solche Finanzprodukte sind z.B. Cross-Border-Leasing (CBL), Credit Default Swap (CDS) und Collateralized Debt Obligation (CDO). CBO sind inzwischen verbo-
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von den 1980er Jahren zu den 1990er Jahren mit der Verfünffachung der Umsätze auf den Devisenmärkten einher, nämlich von 2.680 Mrd. US$ im Zehnjahresdurchschnitt 1980/89 auf 5.675 Mrd. US$ im Durchschnitt 1990/99 bei den Handelsumsätzen, und - im gleichen Zeitraum - von 188 Mrd. US$ auf 1.190 Mrd. US$ bei den Devisenumsätzen25. Die gigantischen Finanztransaktionen der Global Players werden dabei vorwiegend über zwei Kategorien transnationaler Knotenpunkte des globalen Marktes gesteuert. Zum einen über die Global Cities, also über jene modernen Megastädte, in denen sich neben den zentralen Finanzmärkten, den großen Bankzentralen und den Entscheidungszentren der Transnationalen Konzerne die Kanzleien der großen Rechts-, Finanz- und Unternehmensberater, die Unternehmen der Buchführungs- und Wirtschaftsprüferbranche und die großen Marketingagenturen konzentrieren. Und zum anderen über die im Ausland oder in Übersee befindlichen Off-shore-Bankenzentren, die dem nationalstaatlichen Einfluss fast völlig entzogen sind26. Die Off-shoreBankenzentren ergänzen die Global Cities, weil den internationalen Konzernen die Gelegenheit bieten, Steuern und andere Abgaben zu sparen, und weil sie offen für „heißes“ Geld sind und Operationen ermöglichen, die auf den Märkten der großen Finanzzentren nicht erlaubt sind27. 3.2.3. Zunahme des informellen Sektors Der globale Transformationsprozess vollzieht sich nach Altvater weder linear noch linear substituierend. Er ist durch mehr oder minder lange Übergangsphasen der „In-
ten und CDO werden von Experten für die aktuelle Finanzmarktkrise verantwortlich gemacht. Vgl. zum Thema z.B. Sinn 2009, insbes. S.308f. 25
Vgl. Altvater et al. 2004:185. Parallel dazu verändert sich das klassische Bankgeschäft. Mit der starken Zunahme der transnationalen Kapitalbewegungen ab 1982 fangen die Finanzinstitute an, sich mit neuen Produkten und Produktinnovationen gegenseitig Konkurrenz zu machen. Eine Entwicklung, die schließlich zu einer starken Vermehrung der Finanzinstitute und zu einer weiteren Beschleunigung der internationalen Finanzgeschäfte führt. Und aufgrund des ungleichen Zugangs zu Handel, Arbeitsmärkten und Finanzmitteln entsteht den Entwicklungsländern ein Verlust von etwa 500 Mrd. US$ pro Jahr. Vgl. z.B. Sassen 1996:41.
26
Vgl. Sassen 1996:10. Die hier angedeutete Unterminierung der nationalstaatlichen Souveränität wird durch die Netze der elektronischen Medien, durch die zunehmende Ausbreitung der informellen Wirtschaftstätigkeiten und durch die zunehmende Migration weiter vorangetrieben.
27
Von den im Jahre 1997 gezählten 1.115 Hedge Funds operierten 569 (ca. 51%) von den USA aus. Knapp die andere Hälfte operierten von den Off-shore-Bankenzentren auf den British Virgin Islands 185 (17%), auf den Cayman-Islands 148 (13%) auf Bermuda 101 (9%), auf den Bahamas 53 (5%) und auf den Niederländischen Antillen 19 (2%). Die Hedge Funds der Karibik managten dabei 67,4 Mrd. US$ Vermögensanlagen von insgesamt 110 Mrd. US$. Vgl. Altvater et al. 2004:190
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formalität“28 gekennzeichnet, bei denen alte Formen der Vergesellschaftung nicht mehr greifen, neue aber noch nicht zur Verfügung stehen29. In diesem Zusammenhang hat die Globalisierung den Trend zu ungeregelten und ungeschützten „informellen“ Arbeitsverhältnissen stark beschleunigt. Unfreiwillige Teilzeitarbeit, Gelegenheits-, Heim- und Schwarzarbeit nehmen zu, weil formelle Lohneinkommen im Zuge von Rationalisierungsprogrammen wegfallen: „der informelle Sektor wächst, weil nicht die gesamte Ökonomie eines Landes den Restriktionen bzw. ‚Sachzwängen’ des Weltmarktes Rechnung tragen kann“30. Menschen, Unternehmen, Branchen und ganze Regionen fallen aus dem Vergesellschaftungsprozess heraus, weil sie - am Welt28
Altvater et al. 2004:32. Altvater erfasst damit die subtile Vielfalt der Einflusselemente und ihren systemischen Zusammenhang im Globalisierungsprozess. Zu den Grauzonen des informellen Sektors gehört z.B. der von den US-Unternehmen in den 1980er Jahren begonnene Prozess der „regulatorischen Reform“, mit welchem Umweltgesetze zurückgedrängt und/oder außer Kraft gesetzt, Rechte von Arbeitern beschnitten, der Konsumentenschutz verringert und alle Maßnahmen bekämpft werden, die „‘freien Märkten’ entgegenstehen und den Profit mindern. (...) Die Resultate dieser Entwicklung sind eine intensivierte Ausbeutung sowohl der arbeitenden Menschen als auch der Umwelt. (...) Sicht- und fühlbar macht sich dies durch Umweltverschmutzung, Vergiftung von Böden und Wasser, Raubbau an natürlichen Ressourcen und anderen ökologischen Bedrohungen.“ (Faber 2006:239). Vgl. in diesem Zusammenhang auch weitere Arbeiten von Autoren, Organisationen, Verbänden etc., die sich mit den negativen Folgen der Globalisierung befassen: zum Thema "Verschuldung" z.B. die Nichtregierungsorganisation "Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V." (weed), die periodisch die weedSchuldenreporte herausgibt; zum Thema "Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit" das Wuppertal Institut mit dem tailliert und facettenreich geschriebenen Band "Fair Future" von 2005; zum Thema "Globalisiertes Verbrechen" Moises Naim mit seinem Buch "Das Schwarzbuch des globalisierten Verbrechens", das sich dem Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sowie der Geldwäsche und der Markenpiraterie widmet. Zusätzlich interessant sind die Ausführungen von Helmut Schmidt zum Thema "Bevölkerungsexplosion und die Folgen" in seinem Buch von 2004 "Die Mächte der Zukunft".
29
Es ist interessant zu sehen, dass der mit dem Transformationsprozess verbundene Übergang von der „großen Industrie“ zum „Fordismus“ und zum „Postfordismus“ die Eigentumsordnung und die grundlegende Funktionslogik vorerst unberührt lässt oder vorübergehend sogar stärkt. Vgl. hierzu auch Altvater et al. 2004:35. Naim 2005 kommt zu dem Schluss, dass das, was bis vor einiger Zeit nur den großen kriminellen Organisationen (z.B. den kolumbianischen Drogenkartellen, den chinesischen Tongs, den Triaden Hongkongs, der japanischen Yakuza oder der russischen Mafia usw.) zugeordnet werden konnte, heute nicht mehr eindeutig zuzuordnen ist, weil sich die Grenzen zwischen den Gruppen der möglichen Akteure zunehmend auflösen und klassische Moralmuster zunehmend verloren gehen. Mahnkopf (2006:33) formuliert ähnliches: Ihrer Meinung nach ist "seit Beginn der 90er Jahre (…) eine Unterminierung der finanziellen Integrität zu beobachten - durch Unternehmen, die Bilanzen fälschen, um ihren Börsenwert zu halten oder nach oben zu treiben, sowie durch Off-Shore-Finanzzentren, in denen Fluchtgelder verborgen und aus Steuerhinterziehung und anderen kriminellen Aktivitäten erworbene Gelder sauber gewaschen werden. (…) Unternehmen verlieren von dem Zeitpunkt an Glaubwürdigkeit, wenn sie zu illegalen Mitteln greifen, um ihren Börsenwert zu halten oder zu steigern.“
30
Altvater et al. 2004:337
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marktstandard gemessen - nicht mehr wettbewerbsfähig genug sind. In der Folge dieser Fragmentierung entsteht eine wachsende Einkommensdiskrepanz zwischen den reichen und den armen Ländern und innerhalb der Bevölkerung der einzelnen Länder selbst: in Mittel- und Osteuropa sind zwischen 50-70% der Haushalte auf informelle Einkommensquellen angewiesen, in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara mehr als 60% der städtischen Erwerbsbevölkerung, in Asien je nach Land zwischen 40% und 66%. In den westlichen Industrieländern wird der Anteil der informellen Ökonomie am BIP31 auf 10 bis 25% geschätzt32. Zur informellen Ökonomie zählen schließlich diejenigen Sub-Unternehmen, die aus sich heraus nicht wettbewerbsfähig genug sind, um auf dem Weltmarkt als eigenständige Produktanbieter aufzutreten und deshalb gezwungen sind, den Global Players zuzuliefern. Der Anteil der Unternehmen, die keine eigenen Fabriken mehr haben, sondern nur noch designen, produzieren und vermarkten lassen, ist im Steigen begriffen. Weltweit gesehen arbeiteten 1996 etwa 200 Mio. Menschen in den Zuliefererbetrieben der TNC , im Bereich der EU lediglich 4,5 Mio.33. Im Rahmen der Exportfertigung sind dann vor allen Dingen junge, unverheiratete, kinderlose Frauen mit abgeschlossener Schulausbildung als Arbeitskräfte gefragt, die kurzzeitige Arbeitsverträge akzeptieren und bereit sind, für weniger als zwei Drittel des Männerlohns zu arbeiten. Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung findet man im produzierenden Gewerbe und im Bereich der organisierten Dienstleistungen: unter den modernen „online Wanderarbeitern“, die vom Wohnort aus arbeiten, üben Frauen in der Regel die niedrig qualifizierten und niedrig entlohnten Arbeiten aus, Männer dagegen die höher qualifizierten und besser entlohnten Arbeiten34. 3.3.
Migration
3.3.1. Hintergründe Wie oben gezeigt wurde, kommt die moderne Globalisierung einer „Entterritorialisierung von Politik“35 gleich. Sie ist kein Prozess, an dem alle Staaten gleichermaßen beteiligt sind und kein Prozess, bei dem alle Staaten gleichermaßen zu einem positiven Prozess des Wirtschaftswachstums angeregt werden. Im Gegenteil, sie ist ein höchst fragmentiertes, fraktioniertes und fragiles Geschehen, bei dem die sozialen 31
BIP (Bruttoinlandsprodukt) ist eine Maßzahl für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft. Sie gibt den Gesamtwert der innerhalb eines Jahres hergestellten und innerhalb eines Jahres verbrauchten Waren und Dienstleistungen (Güter) an.
32
Vgl. zu den Zahlen Altvater et al. 2004:341
33
ICFTU/IBFG 1996, zit. bei Altvater et al. 2004:348
34
Vgl. Altvater et al. 2004:350
35
Altvater et al. 2004:480
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und ökonomischen Entwicklungen überwiegend in regional begrenzten Kleinräumen, ungleichmäßig und ungleichzeitig, ablaufen“36. Damit verschärft sie die vorhandene Ungleichverteilung der natürlichen Ressourcen des Planeten, sie schafft ein - „an traditionellen Wohlstandsindikatoren“37 gemessen - unterschiedliches Maß an Wohlstand in den Regionen, und sie ist ein treibender Faktor der weltweiten Migration und Arbeitsmigration. Bei dieser kann man - mit sicherlich unscharfen Grenzen - grob zwei Erscheinungsformen einteilen: die „freiwillige Migration“ und die „erzwungene Migration“. „Voluntary migrants include people who move abroad for purposes of employment, study, family reunification, or other personal factors. Forced migrants leave their countries to escape persecution, conflict, repression, natural and human-made disasters, ecological degradation, or other situations that endanger their lives, freedom, or livelihood. Among them are individuals compelled to move by government or other authorities, often in the process referred to as ‚ethnic cleansing’”38.
Seit 1960 hat die durchschnittliche jährliche Zahl der Menschen, die in die stärker entwickelten Regionen migriert sind, kontinuierlich zugenommen. Das Maximum lag dabei bei 3,3 Mio. Personen pro Jahr im Zeitraum zwischen 2000 und 2005. Für den Zeitraum von 2005 bis 2010 prognostiziert der World Migration Report 2008 einen Wert in der Nähe der durchschnittlichen Netto-Migration der 1990er Jahre (d.h. 2,5 Mio. Personen pro Jahr). Für den Zeitraum von 2010 bis 2050 soll das Niveau dann wieder etwas absinken, und zwar auf etwa 2,3 Mio. Personen pro Jahr. Die Zahl der Migranten, die länger als ein Jahr in einem fremden Land verbringen, wächst dabei kontinuierlich: von ungefähr 75,0 Mio. im Jahre 1965, auf ungefähr 84,0 Mio. im Jahre 1975 und auf 105,0 Mio. im Jahre 1985. Für 1990 schätzte die „United Nations Population Division“ die Zahl der Migranten auf 120,0 Mio., für
36
Altvater et al. 2004:126 ; darüber hinaus auch Altvater et al. 2004:146
37
Ebda. Vgl. darüber hinaus auch Altvater et al. 2004:157
38
World Migration Report 2000:8
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2000 auf 150,0 Mio.39. Der World Migration Report 2008 gibt 200,0 Mio. Migranten an, Tendenz weiter steigend40. Dennoch scheint es keinen linearen Zusammenhang zwischen dem oben aufgezeigten Verschuldungs- und Verarmungsdilemma und der länderspezifischen Zahl der Migranten zu geben. Wanderungs-und Flüchtlingsbewegungen sind äußerst komplexe Prozesse mit vielschichtigen Ursachen und unterschiedlichen Zielstellungen: “The impact of globalization on international labour migration is highly diverse and related to other determinants than merely the internationalization of trade, financial flows and production, making it difficult to draw a clear and simple picture”41.
Aber eher selten liegen sie im einfachen Wunsch nach besseren Lebensbedingungen begründet, sonst hätte es - so Sassen „angesichts des Bevölkerungswachstums und der zunehmenden Verarmung in den großen Teilen der Welt längst zu einer Masseninvasion der Armen in die hochentwickelten Länder kommen müssen, zu einer enormen, ungeordneten Völkerwanderung aus der Armut in den Reichtum“42.
Stattdessen kommen internationale Migranten aus allen Staaten der Welt, und sie gehen in alle Staaten der Welt. Im Jahre 2004 lebte etwa ein Drittel der weltweiten Arbeitsmigranten in Europa, etwas weniger in Asien und Nordamerika. Afrika beherbergte etwa 8% der Arbeitsmigranten, Ozeanien, Lateinamerika und die Karibik nur etwa 3%. Die Mehrheit der Migranten wanderte dabei von einem Entwicklungsland zu einem anderen, die Migration aus einem Entwicklungsland in ein entwickeltes Land blieb eher die Ausnahme43. Weltweite Migration ist deshalb nicht unbedingt mit transkontinentaler Migration gleichzusetzen. Im Gegenteil, in der Regel vollzieht sich der größte Teil der Wanderungsbewegung innerhalb des Heimatkontinents. So zeigt z.B. eine Studie zur Arbeitsmigration in Asien zwischen 1975 und 1994, dass nur 10% der Arbeitsmigranten 39
Davon sind 14.0 Mio. Flüchtlinge: „The US Committee for Refugees’ 2000 World Refugee Survey estimated that there were 14 Mio. refugees at the beginning of the year, down from almost 17 Mio. at the beginning of the decade. During 1999, significant new movements occurred, particularly from Kosovo, which also saw massive return. According to the World Refugee Survey, the largest number of refugees were in the Middle East (almost 6 Mio.), followed by Africa (3 Mio.), Europe (1.9 Mio.), South Asia (almost 1.8 Mio.), the Americas (740.000), and East Asia and the Pacific (650.000). Each of the following countries was the origin of more than 300.000 persons who were still displaced in 2000: Afghanistan, Angola, Burundi, Eritrea, Iraq, Sierra Leone, Somalia, Sudan, and the former Yugoslavia. In addition, almost 4 Mio. Palestinians remained displaced and eligible for aid from the United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA)“. Vgl. World Migration Report 2000:15f.
40
Vgl. World Migration Report 2008:2
41
World Migration Report 2008:33
42
Sassen 2000:13f.
43
Vgl. World Migration Report 2008:32
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(ohne China) den Kontinent verlassen, und dass Flüchtlingsmigranten in der Regel nur ins Nachbarland wechseln. Ähnliches gilt für die anderen Regionen44. Dennoch: obwohl nur ein kleiner Teil der internationalen Migranten in die höher entwickelten Länder abwandert, bilden sie dort einen insgesamt relativ hohen Anteil an der Gesamtbevölkerung. In diesem Sinne sind die USA nach wie vor das Migrationsland schlechthin. In den USA lebten 1990 etwa 25,0 Mio. Migranten, 2005 etwa 38,3 Mio. Migranten45. Die Zuwanderungsquote in den führenden Industriestaaten steigt dabei stetig an: 1987 lebten insgesamt nur etwa 36,0 Mio. internationale Migranten in den USA, Frankreich, Deutschland, Kanada, Australien und im United Kingdom. 1997 bereits 46,0 Mio. (+ 25% gegenüber 1987) und 2005 dann 63,9 Mio. (+ 38,9% gegenüber 1997). Die absolute Zahl an Einwanderern sagt aber noch nichts über deren Gesamtanteil an der Bevölkerung aus. Die Staaten mit der höchsten Zahl an Einwanderern müssen nicht die Staaten mit dem größten proportionalen Anteil an Migranten sein. So haben die meisten Industrienationen einen Anteil an Migranten, der kleiner ist als 10%. Saudi-Arabien und Australien haben einen Anteil, der höher als 20% ist, die Vereinten Arabischen Emirate und Quatar einen Anteil, der 70% übersteigt. Den wichtigsten Statistiken zufolge sind (im Jahr 2000) 52,5% der weltweiten Migranten Männer und 47,5% der Migranten Frauen, wobei der Frauenanteil bei den Migranten aus entwickelten Ländern generell höher liegt als bei den Migranten aus Entwicklungsländern. Bemerkenswerter Weise nimmt der Anteil an Frauen zu. Sie sind zunehmend diejenigen, die die Rolle des Hauptverdieners im Ausland übernehmen und nicht mehr diejenigen, die lediglich ihrem Ehemann nachfolgen. “A key development in recent years has been the increasing feminization of migration: about 1.5 Mio. Asian women were working abroad by the mid-1990s, and in many migratory movements they outnumber men”46. Sassen zeigt darüber hinaus, dass die Internationalisierung der Produktion und der Finanz-
ströme in den Entwicklungsländern häufig mit dem Niedergang des lokalen verarbeitenden Gewerbes, mit Verschuldung, mit steigender Arbeitslosigkeit und mit dem Zerfall der traditionellen Familienstrukturen einhergeht. Sie sieht deshalb in der Internationalisierung der Produktion und der Finanzströme einen der Hauptgründe für die Zunahme der illegalen und halblegalen Schattenwirtschaft und für den Aufbau eines neuen Proletariats, das größtenteils aus Frauen und Migranten besteht und (z.B. in den Global Cities) in den am schlechtesten entlohnten - und nach außen hin größten44
World Migration Report 2000:6f.
45
Vgl. World Migration Report 2008:423
46
Vgl. zum Vorstehenden: World Migration Report 2000:7f. und vgl. zum Thema auch Castles et al. 2000
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teils unsichtbaren - Servicebereichen der neuen und alten Wachstumsbranchen beschäftigt ist. "Among the most important of these global circuits are the illegal trafficking in women for prostitution as well as for regular work, organized exports of women as brides, nurses, and domestic servants, and the remittances sent back to their home countries by an increasingly female emigrant workforce. Some of these circuits operate partly or wholly in the shadow economy"47.
Die Migration selbst ist zu einem florierenden Geschäft geworden, und die meist illegalen Migranten bilden eine wachsende Einnahmequelle für legale und illegale Unternehmer. Insbesondere die in der Regel illegal eingewanderten Frauen und Kinder werden leicht Opfer dieser sich um die Migration herum organisierenden Schattenwirtschaft, wenn sie auf der Suche nach Arbeit sind. Sie laufen dann Gefahr, von illegalen oder halblegalen Händlern und Zwischenhändlern in die Sexindustrie oder auch in die Industrie verkauft zu werden: "Trafficking in women for the sex industry is highly profitable for those running the trade. The United Nations estimates that 4 million people were trafficked in 1998, producing a profit of US$ 7 billion to criminal groups. These funds include remittances from prostitutes earnings and payments to organizers and facilitators in these countries. It is estimated that in recent years several million women and girls are trafficked within and out of Asia and the former Soviet Union, two major trafficking areas. Growth in both these areas can be linked to women being pushed into poverty or sold to brokers due to the poverty of their households or parents"48.
Insbesondere die illegal immigrierten und die verschleppten Frauen haben keinerlei Chancen, Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht einzuklagen, u.a. auch deshalb, weil die kriminellen Organisationen der Schattenwirtschaft enge Beziehungen zu den Regierungsorganisationen pflegen. Viele Frauen registrieren erst, dass sie zur Prostitution angeworben (oder verschleppt) worden sind, wenn sie in den Aufnahmeländern ankommen und dort unter unsäglichen Bedingungen gefangen gehalten werden: "The conditions of confinement are often extreme, akin to slavery, and so are the conditions of abuse, including rape and other forms of sexual violence, and physical punishments. They are severely underpaid, and wages are often withheld. They are prevented from using protection methods to prevent against AIDS, and typically have no right to medical treatment. If they seek police help they may be taken into detention because they are in violation of immigration laws; if they have been provided with false documents there are criminal charges"49.
47
Sassen 2003:154
48
Sassen 2003:150
49
Sassen 2003:151
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3.3.2. Migrationsbewegungen in Europa Osteuropa Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 - und insbesondere mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 - wuchs die Anzahl der unabhängigen Staaten in Osteuropa von ehemals 9 auf 27 an, und die Zahl der Migranten stieg - bei einer Gesamteinwohnerzahl von knapp 300 Mio. - auf ungefähr 9,0 Mio.50. Etwa 1,2 Mio. Personen verließen Russland, davon rund 700.000 Deutschstämmige, ungefähr 300.000 bulgarische Turkmenen und etwa 300.000 - 400.000 Albaner51. 1997 gab es noch etwa 4,7 Mio. Migranten in der Region, davon etwa 500.000 Repatriants (die meisten davon zurückgeführte sowjetische Soldaten und sowjetische Spezialisten), 1,5 Mio. Flüchtlinge und 1,8 Mio. binnenvertriebene Personen. Der Kosovo-Konflikt 1999 produzierte nahezu 2,0 Mio. Flüchtlinge, die Unruhen und Kriege in Armenien, Aserbeidschan, Georgien, Tajikistan, Moldawien und Tschetschenien rund 870.000 Flüchtlinge und 1,1 Mio. Vertriebene52. Heutzutage kann man sowohl in Russland als auch in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks sehr komplexe Wanderungsbewegungen beobachten, die durch Zuwanderungen und durch Abwanderungen von Arbeitsmigranten und Asylsuchenden gekennzeichnet sind. 1997 gab es z.B. in Russland etwa 240.000 offizielle und ungefähr 700.000 bis 1.5 Mio. inoffizielle Arbeitsimmigranten53. Für 2007 wurde die Zahl der inoffiziellen Arbeitsmigranten in Russland auf 5,5 bis 10,0 Mio. geschätzt54. Westeuropa und Mittelmeergebiet Westeuropa ist ein wichtiges Zentrum der intra- und inter-regionalen Migration. Eine Vielzahl von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen und Ereignissen ist mit einer großen Anzahl von Bewegungen innerhalb der Region, aus den Mittelmeerländern, aus Mittel-und Osteuropa, aus Afrika (insbesondere aus den Staaten südlich der Sahara), aus Asien, aus Lateinamerika und aus der ehemaligen Sowjetunion verbunden. Die Mehrheit der in der EU registrierten Migranten leben dabei in Deutschland (2000: 9,8 Mio. und 2005: 10,1 Mio.), Frankreich (2000: 6,3 Mio. und 2005: 6,5 Mio.), dem United Kingdom (2000: 4,8 Mio. und 2005: 5,4 Mio.), den Niederlanden 50
Vgl. World Migration Report 2000:163f.
51
Vgl. World Migration Report 2000:172
52
Vgl. World Migration Report 2000:173f.
53
Vgl. World Migration Report 2000:168
54
Vgl. World Migration Report 2008:462. Die Zahlen dieser Wanderungsbewegungen sind allerdings insgesamt schlecht dokumentiert.
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(2000: 1,6 Mio. und 2005: 1,6 Mio.), Italien (2000: 1,6 Mio. und 2005: 2,5 Mio.) und Spanien (2000: 1,6 Mio. und 2005: 4,8 Mio.)55. Insgesamt wuchs die Zahl der Migranten in Europa von 29,6 Mio. im Jahre 1990 auf 44,0 Mio. im Jahre 2005 an56. Asylsuche und unautorisierte Einwanderung Eine große Gruppe von Einwanderern in Westeuropa besteht aus Asylbewerbern und Personen, die vorübergehenden Schutz suchen. Ihre Zahl ging allerdings von mehr als 670.000 Bewerbern im Jahr 1992 auf 226.000 im Jahr 1996 zurück. Sie stieg aber bis 1999 wieder an: 1999 stellten über 430.000 Personen einen Asylantrag in Westeuropa, deutlich mehr als während der vorangegangenen fünf Jahre, davon allein in Deutschland 95.000, im United Kingdom 88.000, in der Schweiz 46.000 und in den Niederlanden 40.00057. Neben legalen Einwanderern gibt es große Mengen unautorisierter („illegaler“) Einwanderer in Westeuropa, wobei die anhaltende Nachfrage nach billigen Arbeitskräften in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und in der Dienstleistungsbranche der Zielländer offensichtlich eine ebenso große Rolle spielt wie die Armut und Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern. Schätzungen zufolge stieg die Zahl der illegalen Einwanderer von weniger als 2,0 Mio. in 1991 auf etwa 3,0 Mio. in 1998 an. 1998 schätzte man die Zahl der illegalen Migranten in Frankreich auf 500.000, in Deutschland auf 40.000. Die Mehrzahl dieser Menschen kommt aus dem Mittelmeerraum, aus Ost-Europa (einschließlich Rumänien und Bulgarien), aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Asien und aus dem südlichen Afrika58. Irreguläre Migration ist zweifellos eines der komplexesten, sensibelsten und schwierigsten Phänomene im Zusammenhang von Migration, das die meisten Staaten national zu lösen versuchen. Aber es gibt mittlerweile Ansätze kooperativer Zuwanderungsprogramme auf bilateraler oder auf multilateraler Basis, die zu Hoffnung Anlass geben können: "there is good reason to be optimistic about the part that managed labour migration programmes can play. While there is no evidence that labour migration programmes spell the end of irregular flows, they do offer an important, more manageable and more predictable alternative. And crucially, they provide better protection for the rights and dignity of migrants, which is what all policies should aim to do"59.
55
Vgl. World Migration Report 2008:456
56
Vgl. World Migration Report 2008:456
57
Vgl. World Migration Report 2000:197f.
58
Eine detaillierte Übersicht über das Phänomen der unauthorisierten Einwanderung gibt der World Migration Report 2008 im Kapitel 8 "Irregular Migration", S. 201-233.
59
World Migration Report 2008:226
100
3.4.
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Zwischenauswertung
3.4.1. Beschränkung der Freizügigkeit Die Zunahme transnationaler Beziehungen und Netzwerke (Arbeitsmigration, telefonische und reale Beziehungen, die Migranten in ihre Heimatländer pflegen, Rücküberweisungen von Migranten in ihre Heimatländer, Auslandsstudien und Fernreisen etc., transnationale Aktivitäten von Nicht-Regierungsorganisationen, transnationale Verflechtungen von Non-Profit- und Profitorganisationen und nicht zuletzt die UNO, die den transnationalen Normenbildungsprozess mit ihren Aktivitäten an entscheidender Stelle mitgestaltet und überwacht) belegen eindrucksvoll, dass die Wirksamkeit nationalstaatlicher Kontrollmechanismen im Verlaufe der Globalisierung bereits deutlich nachgelassen hat. Die internationale Migration wird zwar immer noch durch nationalstaatliche Regeln und Vorschriften vorstrukturiert, sie wird aber schon längst nicht mehr durch diese kontrolliert. Mit ihren nichtdokumentierten "illegalen" Wanderungsbewegungen, ihren informellen, transnational organisierten Netzwerken und ihren informellen Geldüberweisungen hat sich die internationale Migration der nationalstaatlichen Kontrolle weitestgehend entzogen60. Die verstärkte "Grenzziehung" z.B. durch nationale Einreisebestimmungen etc. wird so durch eine verstärkte Diffusion oder Auflösung der traditionellen nationalstaatlichen Grenzen begleitet, die aber nicht in die Orientierungslosigkeit führt, sondern mit der Herausbildung neuartiger sozialer Strukturen verbunden ist: die "Menschen sind weder auf sich als Einzelne in einer globalisierten Welt zurückgeworfen, noch sind sie hilflos den Fängen internationaler Konzerne ausgeliefert. In ihrem alltäglichen Handeln, durch neue Formen von Organisationen und durch die Entwicklung neuer sozialer Institutionen weben immer mehr Menschen mit an transnationalen Beziehungsgeflechten, die sozialen Halt und neue gesellschaftliche Orientierungen geben"61. Die sozialräumlichen Bezüge insbesondere auch der Lebenswelt von Migranten haben sich dadurch "enorm ausgeweitet und ausdifferenziert"62, letztendlich ohne dass sie sich aber auch aufgelöst hätten. Lediglich die Identität von Sozialraum und Flächenraum hat sich aufgelöst, wobei aber in den "transnationalen" Räumen Orte nach wie vor eine große Rolle spielen als Bezugspunkt für "Lebenserfahrungen, für individuelle und kollektive Identitäten und für Zukunftsprojekte"63. 60
Vgl. Pries 2008:13-15. Ludger Pries umschreibt die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Beziehungen und Verflechtungen, "die die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten, aber nicht in erster Linie zwischen den Staaten bzw. Regierungen entwickelt werden" zusammenfassend als "Transnationalismus".
61
Pries 2008:18
62
Pries 2008:77
63
Pries 2008:78. Vgl. hier auch die von Heckmann (1981:231) angesprochene, weiter oben im Text der vorliegenden Arbeit bereits erwähnte Dreiteilung Einwanderungsgesellschaft, Einwanderergesellschaft und Herkunftsgesellschaft.
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Im Zusammenhang von Migration führen die sichtbare Zunahme der transnationalen Beziehungen und der Einflussverlust der Nationalstaaten aber dennoch nicht zu einer Beschränkung der nationalstaatlichen Aktivitäten, sondern zu einer Ausdehnung. Die moderne Globalisierung beansprucht zwar die Inbesitznahme der entwickelten Wirtschaftsräume der Welt, unabhängig von bestehenden regionalen Grenzen. Kapital, Waren, Informationen und Kultur werden einem unbegrenzten Austausch freigegeben, aber gleichzeitig werden Grenzen errichtet, um unerwünschte (d.h. in der Regel nicht- und wenig qualifizierte) Personen aus den zentralen (nationalstaatlich regierten) Wirtschaftsräumen auszuschließen64. Diese (zum teil stark forcierte) Beschränkung der Freizügigkeit führt aber nicht nur zu starken Marktverzerrungen, sondern zu einer höchst ineffizienten Verteilung der personellen Ressourcen auf globaler Ebene: zu einem Arbeitskräftemangel in den entwickelten Ländern und zu einem Überangebot von Arbeitskräften in den Entwicklungsländern. Der Abbau der Einwanderungsbeschränkungen dagegen könnte aus Sicht des World Migration Report 2008 einen Strom von Arbeitskräften aus den Entwicklungsländern in die entwickelten Länder freisetzen, dessen Wohlfahrtsgewinn wesentlich höher wäre als jener, der sich aus einer weiteren Liberalisierung des Handels mit Waren und Kapital ergeben würde. Mit Bezug auf Rodrik (2002) und Pritchett (2006) vermuten die Autoren des World Migration Report 2008 hier, dass der Abbau der Wanderungsbeschränkungen einen gegenüber der weiteren Liberalisierung des Waren-und Kapitalverkehrs etwa fünfundzwanzigfachen Gewinn bringen würde, da die Löhne für ähnlich qualifizierte Arbeiter in entwickelten Ländern etwa zehnfach höher seien als in den Entwicklungsländern. Die volle Bewegungsfreiheit hätte so nicht nur einen positiven Einfluss auf die weltweite Konvergenz der Löhne, sondern durch die Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten sogar einen positiven Einfluss auf die globale Konjunktur. Bereits zu Zeiten der eingeschränkten Wanderungsfreiheit summierten sich die Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten in ihre Heimatländer auf 318 Mrd. US$ im Jahre 2007 gegenüber 188 Mrd. US$ im Jahre 2005. Fast 240 Mrd. US$ flossen dabei in die Entwicklungsländer, ein Betrag, der in den meisten Entwicklungsländern weit größer ist als Official Development Aid (ODA)65 und FDI (Foreign Direct Investment), wobei die durch informelle Kanäle überwiesene Geldmenge nochmals um 50% höher liegen könnte66: „From a theoretical perspective at least, there is little reason to doubt that the freer movement of workers would benefit the world economy by creating significant efficiency gains“67.
64
Vgl. Sassen 2000:17
65
Official Development Aid (ODA) bezeichnet hier die Entwicklungshilfe.
66
Vgl. World Migration Report 2008:42
67
World Migration Report 2008:42
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Die Autoren räumen jedoch ein, dass mit der Freigabe der Wanderungsbeschränkungen unwägbare und vielfältige Risiken verbunden sein könnten. In den Entwicklungsländern könnte die Abwanderung von qualifizierten Fachkräften zu einem für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung bedeutsamen Mangel an Know-how führen, während die Abwanderung von überwiegend ungelernten und angelernten Kräften nicht nur eine Verringerung des Arbeitskräfteüberhangs zur Folge hätte, sondern durch die von den Migranten getätigten Rücküberweisungen sogar eine Erhöhung des Devisenvolumens. Und zusätzlich könnte eine geschickt gesteuerte Abwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer eine (positive, weil Anreize setzende) Verschärfung der Einkommensunterschiede zwischen gering qualifizierten Arbeitnehmern und Facharbeitern in den wenig entwickelten Ländern nach sich ziehen und zu einer Erhöhung der Löhne der bleibenden Facharbeiter führen. In den Zuwanderungsländern dagegen könnten die gering qualifizierten Migranten eine Konkurrenz zu den einheimischen Arbeitnehmern mit geringer Qualifizierung sein. Letztere würden dann in die wenig beneidenswerte Lage kommen, entweder niedrigere Löhne akzeptieren zu müssen oder aber den Verlust der Arbeitsplätze zu riskieren. Gleichwohl könnte die Anwesenheit der gering bezahlten Migranten einen wirtschaftlichen Nutzen für die einheimische Bevölkerung bringen, weil diese von den niedrigen Löhnen für Waren und Dienstleistungen insgesamt profitieren könnte68. Bei allem ist natürlich zu beachten, dass die angeführten Szenarien sehr allgemein gehalten sind und vor dem Hintergrund realer Gegebenheiten verifiziert werden müssten, wobei es sicherlich von Belang ist, ob die Migrationsbewegungen eher einen permanenten oder eher einen temporären Charakter haben. Insgesamt aber vermuten die Autoren des World Migration Report 2008, dass eine erfolgreich gesteuerte Migration im Zusammenhang von Freizügigkeit Vorteile für alle beteiligten Parteien bringen könnte: „While there is therefore considerable theoretical work backing up the hypothesis that massive aggregate gains would accrue from the lifting of current constraints on the movement of workers across international borders, the realization and actual distribution of these gains will depend ultimately on how the movements are actually channelled and managed, and management choices will rest in turn on policy considerations that extend well beyond the economic sphere”69.
Im Zusammenhang von Migrationsprozessen sollten neben den wirtschaftlichen die sozialen und politischen Aspekte berücksichtigt werden. Der World Migration Report 2008 moniert hier zuvorderst die zumeist einseitige Aufrechnung der wirtschaftlichen Vorteile gegen die sozialen Auswirkungen, da bei dieser Vorgehensweise die mit der restriktiven Zuwanderungssteuerung verursachten negativen und kostenintensiven Nebeneffekte aus dem Blick geraten. Solche Nebeneffekte zeigen sich z.B. in der 68
Vgl. World Migration Report 2008:42f.
69
World Migration Report 2008:43
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Entstehung informeller Arbeitsmärkte, auf denen Migranten unter im besten Fall unfairen, im schlimmsten Fall unter sklavereiähnlichen Bedingungen arbeiten müssen und in den Schmuggler- und Schleusernetzwerken, die sich häufig in den Händen der organisierten Kriminalität befinden. Sie demonstrieren aus der Sicht des World Migration Report 2008, wie ineffizient administrative Barrieren zur Begrenzung der Freizügigkeit sind, und lassen die Frage offen, wie die aktuellen Wanderungsströme zu managen sind, damit die nationalen Arbeitsmarktpolitiken, die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitgeber und der Schutz der Rechte und Interessen der Arbeitnehmer gleichermaßen berücksichtigt werden können70. Angesichts der komplexen ökonomischen, sozialen und politischen Probleme, die im Zusammenhang von Migration und Freizügigkeit gelöst werden müssen, bevor überhaupt sichtbare Erfolge erzielt werden können, ist die Langsamkeit und die Zurückhaltung bei den zwischenstaatlichen Verhandlungen in diesem Bereich kaum eine Überraschung: die bestehende Ungleichheit zwischen den Herkunfts- und den Zielländern der Migration bietet keinen starken Anreiz für die letzteren, um in einem multilateralen Rahmen Richtlinien zum Umgang mit Wanderarbeitern zu formulieren. Die Zielländer sind immer noch in der Lage, ihre Arbeitsmarktbedürfnisse mithilfe einseitiger Maßnahmen durchzusetzen und diese dann an veränderte Ausgangslagen einseitig anzupassen71. IWF und Weltbank unterstützen die Entwicklung stabiler Wechselkurse und starker Währungen. Internationale Regelungen zur Verbesserung der Freizügigkeit werden dagegen aufgrund der befürchteten Asymmetrien zwischen Angebot und Nachfrage, aufgrund der Unsicherheit bei der Verteilung der Gewinne und aufgrund der unsicheren sozialen und politischen Implikationen noch nicht unterstützt. Unterstützung - so der World Migration Report 2008 - täte jedoch Not, denn im Zusammenhang der Globalisierung sind die Länder stärker als je zuvor miteinander verknüpft. Veränderungen der wirtschaftlichen Situation und (nationalstaatlich verfügte) Verordnungen haben stets wirtschaftliche Auswirkungen auf den Rest der Welt, und die zunehmende Globalisierung erfordert mehr Beratung und Zusammenarbeit zwischen 70
Vgl. World Migration Report 2008:43f. Die Bedeutung des Menschenhandels und der mit ihm einhergehenden Verbrechen insbesondere an Frauen hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Vgl. z.B. World Migration Report 2008:205.
71
Vgl. World Migration Report 2008:44. Das im Zusammenhang von GATT getroffene GATS4-Abkommen ist ein gutes Beispiel dafür. GATT (engl.: General Agreement on Tariffs and Trade): das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen. Es geht auf die Bretton-WoodsKonferenz von 1944 zurück, wurde am 30. Oktober 1947 abgeschlossen und trat am 1. Januar 1948 in Kraft. Heute ist das GATT in die WTO (World Trade Organization) eingegliedert, es soll den Welthandel vereinfachen und unnötige Hindernisse abbauen. Das GATS-4Abkommen regelt die Erbringung von Dienstleistung im Ausland. Es begrenzt den Aufenthalt der Dienstleister dabei auf die Dauer der Ausführung der Dienstleistung, d.h., der Status des Dienstleisters wird definitiv auf den Status eines „Gastarbeiters“ begrenzt. Vgl. zum Thema GATS-4-Abkommen auch World Migration Report 2008:359-361.
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den Staaten beim Umgang mit dem weltweiten Arbeitskräftepool und der Mobilität der Arbeitskräfte. Drei Punkte sind dabei besonders wichtig: “First, workers in the developing world provide a pool of human resources that can respond to demand in the developed world now and well into the future, although much remains to be done to realize this in practice and to make it beneficial for both countries of origin and destination; for instance, through the elaboration of human resource development strategies and the creation of effective mechanisms to match demand with supply. Second, the relationship between trade and migration needs to be better understood. There is a greater need to focus on labour in trade theory than in past globalization phases, because the current phase is characterized by an increase in trade in services and knowledge-based trade, both of which rely heavily on human resources. New trade theories (and supporting evidence) are needed to better inform policies that seek to address the need for increased international labour mobility. Third, policy coherence needs to be improved on a number of levels. The transformation of the world of work has led to a change in the roles of traditional stakeholders (e.g. public authorities, employers and trade unions) or at least in their ability to perform the role traditionally assigned to them. They face the task of having to formulate and implement policies and protect interests at the national level in the face of global economic forces. The state also tends to have a more limited role in the regulation of the economy than before as new prominence is given to enterprises as regulators. As roles and relationships change, there is a challenge in ensuring that the mobility of workers and the role of key Players, including TNC, are properly integrated within employment and migration policies and strategies at the national and international level”72.
3.4.2. Internationalisierung der Arbeitsmärkte Die moderne Globalisierung führt zusammen mit den weltweiten Migrationsbewegungen zu einer zunehmenden Internationalisierung der Arbeitsmärkte: weltweit gab es 2006 über 3,0 Mrd. Arbeitnehmer. Von diesen lebten 84% in den Entwicklungsländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas, der Karibik und des pazifischen Raums, in den Schwellenländern des Commonwealth, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und in Südosteuropa. Frauen machten rund 40% (1,22 Mrd.) der weltweiten Erwerbsbevölkerung aus. 2,85 Mrd. Personen im Alter über 15 Jahren waren beschäftigt, und die globale Arbeitslosenquote betrug 6,3%. Allerdings verdiente etwa die Hälfte der Beschäftigten weniger als zwei US$ pro Tag, sie lebten also unterhalb der Armutsgrenze. Im Zusammenhang von Migration kann man dabei feststellen, dass die geringer qualifizierten Arbeitnehmer zum größten Teil nur in die unmittelbaren Nachbarländer migrieren und die hoch qualifizierten zumeist in die entwickelte Welt oder innerhalb der entwickelten Welt73: „About 10 per cent of all highly skilled persons from the developing world live in either North America or Europe“74. Weltweit gesehen bilden die in Asien geborenen Migranten dabei mit 35% aller hoch Qualifizierten das größte Kontingent der international mobilen Bevölkerung. An
72
World Migration Report 2008:45f.
73
Vgl. World Migration Report 2008:32
74
Vgl. World Migration Report 2008:51
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zweiter Stelle stehen mit 34% die hoch qualifizierten Europäer, an dritter Stelle mit 23% die Nordamerikaner, Lateinamerikaner und die in der Karibik Geborenen und mit 7% die Afrikaner75.
Obwohl Europa in der letzten Zeit starke Anstrengungen beim „Kampf um die Köpfe“ 76 unternommen hat, bleiben die USA mit Abstand das beliebteste Zielland für hoch qualifizierte Arbeitskräfte aus den Entwicklungsländern. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre hatten sie knapp über die Hälfte der weltweit hoch qualifizierte Migranten aus der Dritten Welt für sich gewinnen können. Im Zeitraum von 1990 bis 2000 lebten fast zwei Drittel (65%) aller hoch qualifizierten, aus Entwicklungsländern kommenden Migranten in den USA oder in Kanada. Das sind etwa 10% aller in den Entwicklungsländern geborenen Erwachsenen mit tertiärer Bildung, wobei der Prozentsatz mit steigender Qualifikation noch weiter zunimmt: „It is estimated that 30 to 50 per cent of the developing world’s population trained in science and technology live in the developed world“77. Ähnliches gilt für den Gesundheitsbereich: in Neuseeland kommen 34%, im United Kingdom 33%, in den USA 27%, in Kanada 23% und in Deutschland immerhin noch 7% der Ärzte aus dem Ausland78. Gering qualifizierte Migranten sind dagegen in den meisten Ländern nicht erwünscht, wenn man von regionalen und branchenspezifischen Besonderheiten einmal absieht79. Bei einem solchen Verlust an Qualifikation in den Entwicklungsländern bleiben nachteilige Folgen für die dortige Wirtschaft nicht aus. Obwohl die qualifizierten Auswanderer starke Verbindungen der Entwicklungsländer zu den entwickelten Ländern herstellen und Kapital und Wissen in ihre Hei75
World Migration Report 2008 :55, in Anlehnung an Docquier et al. 2006. Die hier vorliegenden Zahlen zur Entwicklung der globalen Arbeitsmärkte sind aber vage bis ungenau. Zum einen umfassen sie nur die Hochqualifizierten mit Hochschul-, Universitäts-, Technischem Hochschul- und Fachhochschulabschluss (tertiary education), und zum anderen werden sie von der World Bank und dem OECD auf der Basis nationaler Bevölkerungserhebungen der Zielländer zusammengestellt. Diese benutzen aber zum Teil miteinander nicht vergleichbare Erhebungsmethoden (Vgl. World Migration Report 2008:53). Gleichzeitig muss man aber auch festhalten, dass ein Großteil der hoch Qualifizierten nicht aus anderen Kontinenten zuwandert, sondern aus der Region kommt: „A large proportion of migration occurs within a particular region. Although the United States and Canada receive most of their highly skilled immigrants from Asia, their prominent position as immigration countries is mainly due to their substantial intake of highly skilled residents from within the western hemisphere, with 33 per cent of highly skilled migrants moving to the US from within the region, in particular from Canada and Mexico. Likewise, most European countries receive a large share of their highly skilled migrants from other European countries.” World Migration Report 2008:56
76
Vgl. zum Thema Heinsohn 2008
77
Vgl. World Migration Report (2008:61f.) angelehnt an Lowell et al. 2004, Lowell 2006 und Carrington et al.1999.
78
World Migration Report 2008:63, zit. nach WHO 2006:98
79
Vgl. World Migration Report 2008:334f.
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matländer reinvestieren, dürfen nicht mehr als 10 bis 20% der qualifizierten Bevölkerung migrieren, ohne größeren und vielleicht irreparablen volkswirtschaftlichen Schaden zu erzeugen80: „ ..., emigration rates of some five to ten per cent may benefit economic growth, but higher rates can be detrimental and, unfortunately, are not uncommon for many Caribbean and African countries“81. Durch die Globalisierung entsteht für die hoch qualifizierten Experten wie für die große Masse der Geringstqualifizierten ein globaler Arbeitsmarkt, der sich der wirtschaftspolitischen, arbeitsmarktpolitischen und sozialpolitischen Einflussnahme der Nationalstaaten entzieht: unter den Maßgaben der deregulierten Finanzmärkte und der internationalen Güter- und Dienstleistungsmärkte verlieren die nationalstaatlichen Instanzen den souveränen Zugriff auf die eigenen Ressourcen. „Das ‚Humankapital’ wird von der Wirtschaft organisiert, verwaltet, genutzt, qualifiziert, mobilisiert und nicht zuletzt freigesetzt“82. Dennoch: während der internationale Warenumsatz etwa 13% des Gesamtwarenumsatzes ausmacht und der Anteil an ausländischen Aktien in den Anlegerportfolios zu Beginn des Jahres 2000 bei rund 15% liegt, ist der Anteil der Arbeitsmigranten weltweit gesehen nicht höher als 3%: “This stands in marked contrast to previous phases of globalization, in particular the first phase during the late 19th and early 20th centuries when human mobility closely accompanied the boom in trade, an explicit historical demonstration, if indeed one was needed, that governments can and do open their labour markets when they are convinced that they stand to benefit substantially. This, it must be admitted, is far from being the case at the moment. In most instances there is, at best, cautious interest in weighing impartially the costs and benefits of migrant worker programmes; at worst, suspicion that costs are likely to substantially outweigh benefits”83.
Migranten, die in den Unternehmen in hochqualifizierten Positionen arbeiten sollen, werden in der Regel eingestellt, bevor sie ihr Herkunftsland verlassen. Danach bewegen sie sich häufig von einem Land zum anderen und folgen dabei der Konzernstruktur der arbeitgebenden TNC. Im Zusammenhang der Globalisierung und der Internationalisierung des Arbeitsmarktes gestaltet sich neben der Rekrutierung die unternehmensinterne Bindung von Fach- und Führungskräften als schwierig. Die Entwicklung elektronischer Arbeitsmarktportale bietet den Unternehmen die Möglichkeit, Experten weltweit einzukaufen und zwingt die Experten, sich weltweit anzubieten und einen weltweit gesetzten Qualifizierungsstandard einzuhalten. Angesichts der demographischen Entwicklung in den hochentwickelten Industrienationen konkurrieren Staaten, transnationale Konzerne (TNC) und nationale Unternehmen auf dem schnell wachsenden und hochdynamischen Markt für hochqualifizierte Arbeits80
Vgl. World Migration Report 2008:69
81
Vgl. World Migration Report (2008:62) mit Bezug auf Docquier 2006
82
Altvater et al. 2004:356
83
World Migration Report 2008:40
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kräfte miteinander um die besten Köpfe, vor allen Dingen im Bereich der High-TechIndustrie, der Informationstechnologie und der Finanzdienstleistungen. Deswegen unternehmen viele Regierungen inzwischen große Anstrengungen zur Förderung bzw. Erleichterung der Einreise hochqualifizierter Fach- und Führungskräfte84. Zusätzlich versuchen die Nationalstaaten die internationale Konkurrenzfähigkeit durch forcierte Aus- und Weiterbildungsanstrengungen zu erhalten (Innovationsansatz). Aber es ist keinesfalls sicher, dass diese Anstrengungen tatsächlich zu einem insgesamt angehobenen Qualifikationsniveau und zu einer flächendeckenden, marktgerechten Strukturanpassung führen, weil die Anforderungen der Gesamtzahl aller möglichen Investoren einfach zu unterschiedlich sind: die Unternehmen der forschungs- und kapitalintensiven Branchen verlangen andere Infrastrukturen, andere Anreizsysteme und andere Ressourcen als die Unternehmen, die überwiegend mit niedrig qualifiziertem Personal wirtschaften. Es ist keineswegs garantiert, dass die hoch gesteckten bildungspolitischen Ziele mit Hilfe der nationalstaatlichen Qualifikationsmaßnahmen überhaupt erreicht werden können. Da Wissensproduktion im Zusammenhang der Globalisierung zunehmend am Ort der Produktion selbst und in grenzüberschreitenden Allianzen aus Produktion, Universität und Industrielabor stattfindet, ist sie nicht mehr an die traditionellen Industrienationen gebunden, sondern an die Mitarbeiter der transnationalen Unternehmen, die sich eben auf die weltweit verteilten Zentren der globalen Produktion verteilen85. Diese Unternehmen haben deshalb ein starkes Interesse, ihre hochmobilen und hervorragend vernetzten Experten langfristig an sich zu binden. Aber sie achten dabei eben nicht (mehr) auf die Entwicklung eines nationalstaatlichen, sondern auf die Entwicklung eines betriebswirtschaftlich rentablen Wissenpools. Noch migrieren die hochspezialisierten Experten überwiegend aus den Entwicklungs- und Schwellenländern in die klassischen Industrieländer, aber es gibt inzwischen sogar eine - im Verhältnis zur Gesamtbewegung allerdings untergeordnete - Wanderung von Experten aus diesen Ländern hinaus in Richtung der Schwellen- und Entwicklungsländer, d.h. in Richtung der Standorte der TNCs (Trans National Corporates). Das „brain-drain“ ist kein einseitiges Geschäft mehr86.
84
Vgl. World Migration Report 2000:193. Auch in Deutschland versucht man diesem Trend zu folgen, bleibt aber mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und dem eher zögerlich verfassten Zuwanderungsgesetz weit hinter den aktuellen Anforderungen zurück.
85
Vgl. zu den neuen „Technopoles“ Castells et al. 1994:8f. Es ist bemerkenswert, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer hier nicht nur in der direkten Konkurrenz zu den klassischen „Global Cities“ der alten Industriestaaten stehen, sondern auch in direkter Konkurrenz zu deren industriell bislang wenig entwickelten strukturschwachen Regionen. Vgl. auch Altvater et al. 2004:353f.
86
Vgl. Altvater et al. 2004:352
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Damit ist zu befürchten, dass die in den meisten Industrienationen zur Zeit propagierte staatliche Fürsprache für einen Innovationswettbewerb statt für einen Kostensenkungswettbewerb letzten Endes auf eine weitere Spaltung des Arbeitsmarktes hinausläuft. Wenn der Schwerpunkt auf der Entwicklung eines hohen Qualifikationsniveaus im eigenen Lande liegt, werden sich Tätigkeiten mit niedrigem Qualifikationsniveau zunehmend in sogenannte „Billiglohnländer“ verlagern. Der Innovationswettbewerbsansatz akzentuiert damit eine relativ hohe Grundarbeitslosigkeit und einen unkontrollierbaren Zuwachs an informellen Arbeitsstrukturen. In den Industrieländern wie in den Entwicklungs- und Schwellenländern werden vorwiegend die hoch qualifizierten, auf Problemlösung spezialisierten Systemanalytiker zu den Gewinnern der Globalisierung gehören, die mit Routinearbeiten befassten und die gering qualifizierten Beschäftigten dagegen zu den Verlierern87, und der Handel mit Frauen (s.o.) und Migranten wird dabei zu den einträglichsten Geschäftszweigen der Schattenwirtschaft zählen: "Trafficking in migrants is (...) a profitable business. According to a UN report, criminal organizations in the 1990s generated an estimated 3.5 billion US$ per year in profits from trafficking migrants generally (not just women). The entry of organized crime is a recent development in the oase of migrant trafficking. Before it was more petty criminals. There are also reports that organized crime groups are creating intercontinental strategie alliances through network of co-ethnics throughout several countries; this facilitates transport, local contact and distribution, provision of false documents, etc. The Global Survival Network reported on these practices after a two year investigation using the establishment of a dummy company to enter the illegal trade. Such networks also facilitate the organized circulation of trafficked women among third countries - not only from sending to receiving countries. Traffickers may move women from Burma, Laos, Vietnam and China to Thailand, while Thai women may have been moved to Japan and the US"88.
87
Vgl. Altvater et al. 2004:351
88
Sassen 2003:150
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
4. 4.1.
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Diversity und Diversity-Management: die Praxis Diversity-Management in den USA
Im Zusammenhang der Globalisierung sind die USA nicht nur wegen ihrer politischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung in der westlichen Hemisphäre von Bedeutung. Sie sind auch das Einwanderungsland schlechthin, das jedes Jahr etwa eine Million Migranten aufnimmt, wobei der Zuzug der einzelnen Bevölkerungsgruppen durch Quotierung geregelt wird. 2008 hatte die USA eine Gesamtbevölkerung von 304.060 Mio. Menschen. Davon waren 242.639 Mio. (79,79%) White American, 39.059 (12,84%) Mio Black or African American, 3.083 Mio. (1,01%) American Indian, Alaska Native, 13.549 Mio. (4,45%) Native Hawaiian, Other Pacific Islander und 5.167 Mio. (1,69%) Two or more races1. 2008 wanderten 1.130.818 Migranten in die USA ein, davon 747.413 (66,1%) Familienangehörige bereits im Lande lebender Migranten, 144.034 (12,7%) Arbeitsmigranten und 177.368 (15,7%) Flüchtlinge und Asylanten2. Die heterogene Bevölkerungsstruktur, die zum Teil noch immer unbewältigten Konflikte zwischen White Americans und Black or African Americans und der permanente Zuzug von Migranten in die USA schaffen außerordentlich anspruchsvolle Voraussetzungen für den Umgang mit Fremdheit, und so verwundert es auch nicht, dass die Affirmative Action Programme (s.o.) hier im Zuge der Globalisierung zu verschiedenen Diversity-Management Programmen weiterentwickelt wurden. Dennoch ist diese Weiterentwicklung nicht linear zu denken. Bereits der Wechsel von der ethisch begründeten Rationalität der Affirmative Action hin zur eher ökonomisch begründeten Rationalität des Diversity-Management kam im Prinzip einem Paradigmenwechsel gleich, aber Diversity-Management musste zusätzlich weitere strukturelle Schwächen und systemimmanente Paradoxien der Affirmative Action und einen Teil der nicht gelösten alten Aufgabenstellungen übernehmen. 4.1.1. Affirmative Action und Diversity-Management Weiter oben wurde im Zusammenhang Affirmative Action und DiversityManagement bereits erwähnt, dass auch die Maßnahmen zur Antidiskriminierung auch wirtschaftliche Beweggründe hatten. Der Zwang zur forcierten und systemati-
1
Quelle: US.-Census-Bureau 2010, http://www.census.gov/compendia/statab/2010/files/racehisp.html 30.07.2010
2
Quelle: DHS Office of Immigration Statistics, Annual Flow Report, March 2008, S. 3. http://www.dhs.gov/xlibrary/assets/statistics/publications/lpr_fr_2009.pdf 30.07.2010
110
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sierten Antidiskriminierung erwuchs auch aus der Notwendigkeit, die Präsenz USamerikanischer Unternehmen auf dem Weltmarkt abzusichern und das auf dem eigenen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehende Arbeitskräftereservoir zu vergrößern. Die politische Neuordnung der amerikanischen Gesellschaft fiel in eine Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs und des forcierten ökonomischen Wachstums, die neue Arbeitsmarktsituationen schuf und mit einem stark gestiegenen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften einherging. Da die weiße Mehrheitsbevölkerung diesen Bedarf nicht abdecken konnte, diente die systematisierte Antidiskriminierung (und der dadurch möglich gewordene Ausbau des Arbeitskräftereservoirs) auch dazu, die auf dem Weltmarkt brachliegenden Chancen in volkswirtschaftliche Vorteile umzumünzen. Insbesondere im Zusammenhang von Personalpolitik und Personalentwicklung entfalteten Civil Rights Act und Affirmative Action-Programme deshalb ihre zentrale Wirkung. Diskriminierende Gewohnheiten in der Rekrutierungspraxis von Bewerbern wurden nicht nur durchbrochen und gegebenenfalls sanktioniert, sondern es trat „eine Veränderung der bisher praktizierten Form der Allokation von Arbeitskräften“3 auf: Affirmative Action wurde zum Synonym für allgemein legitime Gleichberechtigungsansprüche4 von benachteiligten Minderheitengruppen. Damit war Affirmative Action unbenommen einer der zentralen Einflussfaktoren und einer der zentralen Wegbereiter bei der Abschaffung von Diskriminierung und damit ein zentraler Wegbereiter für jede Form von Diversity-Management. Gleichwohl hatten die Affirmative Action-Programme ihre Grenzen: Sie konnten keinen durchgängig ausgleichenden Kompetenzerwerb und keine umfassenden Bewußtseins- und Verhaltensänderungen erzwingen. Weder im Bildungsbereich noch bei der Entlohnung von Arbeitskraft wurden alle Ziele erreicht. Die sich sukzessive entwickelnden Antidiskriminierungsprogramme führten keinesfalls zu einer übergreifenden realen Gleichbehandlung unterschiedlicher Minoritäten auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt. Ungleiche Bildungschancen und ungleiche Entlohnung bleiben also weiterhin ein Diskriminierungsmerkmal. Um sie zu korrigieren braucht es weitere Anstrengungen, umfassende Bewußtseins- und sichtbare Verhaltensänderungen auf einem neuen Niveau. Eine tatsächlich von Ethnie, Kultur, Religion, Geschlecht, sexueller Zugehörigkeit und körperlicher Behinderung (physical disability) unabhängige, ausschließlich leistungs- und qualifikationsbezogene Entlohnung ist damit ein Punkt, der auf der Agenda eines jeden ernstgemeinten Diversity-Managements zu stehen hat. Es bleibt mithin zu klären, ob und wie Diversity-Management diese überkommene Aufgabenstellung integrieren kann, und ob Diversity-Management in der Lage ist, die dialogische Akkulturation voranzutreiben und weitreichende, auf breiter Ebene gültige und langfristig stabile Lösungen zu generieren. 3
Kramer 1985:59
4
Vgl. Kramer 1985:62
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
111
4.1.2. Affirming, Valuing und Managing Diversity Wie die obige Skizze des US-amerikanischen Umgangs mit Diversity gezeigt hat, verhinderte die unterschiedliche Ausgangsbasis der am gesellschaftlichen Prozess Beteiligten die sofortige und vollständige Überwindung der Rassentrennung und die vollständige Integration aller Kulturen. Diese waren (und sind) nur sukzessive zu realisieren. Sie erfordern die drei Schritte: „Affirming Diversity“, „Valuing Diversity“ und „Managing Diversity“ 5. Aus der Sicht von Thomas (1990) versteht sich Affirming Diversity hier als ein an die Erfolge von Affirmative Action anknüpfender Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Antidiskriminierung, wobei die Affirmative Action selbst aus seiner Sicht keine großartige Zukunft mehr hat, weil ihre Vorannahmen nicht mehr gültig sind: mittlerweile sind es - wie Thomas aus der Beratung von 15 amerikanischen Unternehmen ableitet - nicht mehr die weißen Männer, die den Großteil des US-Business erledigen, die US-Wirtschaft ist schon längst keine unveränderliche Institution mehr, die mehr als genug Platz für jedermann hat, und die Bedeutung diskriminierender Vorurteile, mit denen Minderheiten abseits gehalten werden, ist zurückgegangen. Stattdessen besteht aktuell mehr als die Hälfte der Belegschaften aus Minderheiten, Migranten und Frauen, so dass die weißen Männer US-amerikanischer Herkunft obwohl noch dominierend - selbst zur statistischen Minderheit geworden sind. Der eigentliche Grund für Einstellungsvorbehalte liegt - aus der Sicht von Thomas - deshalb häufig gar nicht in der Hautfarbe oder im Geschlecht begründet, sondern in der vielfach mit Hautfarbe und Geschlecht einhergehenden Bildungsbenachteiligung. Frauen und Minderheiten brauchen deshalb seines Erachtens inzwischen statt der bloßen Zutrittsgenehmigungen vor allen Dingen Schulung, Qualifikation und Chancen, damit ihre Potenziale auf allen Ebenen, vor allen Dingen aber im mittleren Management und in Führungspositionen besser genutzt werden können. Da der Arbeitsmarkt längst nicht mehr auf Personen, sondern auf Fähigkeiten ausgerichtet ist und die alte Vorstellung vom Melting-Pot keine Zukunft mehr hat, weil die Minoritäten, die diese Fähigkeiten anbieten könnten, die Einschmelzung verweigern, müssen die Unternehmen sich mit einer nicht assimilierten Vielfalt befassen und diese zum gleichen Committment, zur gleichen Leistung und zur gleichen Profitabilität bringen wie die vormals homogene Belegschaft. „It’s a seller’s market for skill, and the people business has to attract are refusing to be melted down“6. Die Arbeit an der oder für die Kultur- und Farbenblindheit der Belegschaft reicht da nicht aus. Wichtiger ist es, Kultur, Visionen, Vorannahmen, Modelle und Systeme des Unternehmens auf den Prüfstrand zu stellen, um ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das jedem Mitarbei-
5
Thomas 1990:3
6
Thomas 1990:2
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ter die Chance gibt, seine Potenziale ohne künstliche Programme, Normen oder Schranken zu verwirklichen7. Affirmative Action war hier ein zwar notwendiges und weithin wirksames, aber eben künstliches und nur übergangsweise nützliches Hilfsmittel, das Managern die Möglichkeit gab, Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Es ist aber nicht zur Schaffung von Arbeitsumgebungen geeignet, die allen Mitarbeitern wirklich gleiche Aufstiegschancen bieten, auch und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Quotierung dem Leistungsprinzip entgegensteht. Die durch Quotierung aus den Minderheitengruppen aufgestiegenen Personen können den (noch nicht aufgestiegenen) Jugendlichen nur schlecht als Vorbild dienen, da sie ihnen keinen Weg für den Umgang mit dem Leistungsdruck zeigen können und keinen Weg zeigen können, wie ein Aufstieg aus eigener Kraft zu realisieren ist8. Die Affirmative Action ging also eher verwaltungstechnisch und direktiv, eher im Sinne von "Managing Diversity" als im Sinne von "Diversity-Management" mit der vorhandenen Vielfalt um: "Managing Diversity nimmt die vorhandene Diversität zum Ausgangspunkt der organisationalen Gestaltung. Ziel ist die Begrenzung der durch Diversität in den Arbeitsbeziehungen entstehenden Reibungsverluste, meist mit der Folge eines kleinsten gemeinsamen, der homogenen Mehrheit entgegenkommenden, Nenners des Umgangs mit Heterogenität: Es soll bei aller Unterschiedlichkeit größtmögliche Einheit des organisationalen Handelns erzielt, d.h. Individualität auf das unverzichtbare Maß reduziert werden mit dem Ergebnis eines 'common acting' und 'common thinking' der Organisationsmitglieder. Durch Diversity Management wird dagegen eine marktbezogene Differenzierung mit dem Ziel der Alleinstellung gegenüber Wettbewerbern angestrebt. Individualität ist nicht nur akzeptiert, sondern als Quelle von Flexibilität, Kreativität und Innovationsfähigkeit in höchstem Maße erwünscht"9.
Genau die hier von Becker formulierte Zielstellung des Diversity-Management würde der aktuellen Notwendigkeit entsprechen: „upward mobility for minorities and women should always be a question of pure competence and character unmuddled by accidents of birth“10. Manager müssen - unabhängig von ihrer eigenen Hautfarbe und ihrer eigenen Herkunft - lernen, die Vielfalt aktiv für die Gestaltungsprozesse zu nutzen, nicht, sie zu leugnen. Gleichberechtigung ist für die meisten Unternehmen inzwischen keine Frage des Anstandes mehr, sondern eine Frage des Überlebens11.
7
Vgl. Thomas 1990:2f.
8
Vgl. zum Vorstehenden Thomas 1990:4
9
Becker et al. 2006:11. Die hier von Becker vorgenommene feinsinnige Unterscheidung zwischen "Managing Diversity" und "Diversity-Management" wird nicht von allen Autoren mitgetragen.
10
Thomas 1990:5
11
Vgl. Thomas 1990:3f.
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
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Auch Rosabeth Moss Kanter betont hier im Zusammenhang einer Studie zur Auswirkung organisatorischer und hierarchischer Strukturen das Arbeitsverhalten von Frauen und Männern12, dass das den Frauen häufig zugeschriebene geringe Leistungsbestreben und geringe Interesse an den Aufgaben und Zielen ihrer Tätigkeiten eher auf ihre zumeist untergeordnete Stellung im Arbeitsprozess zurückzuführen ist als auf ihre Geschlechtsrollenidentität. Sowohl Frauen als auch Männer "in low-mobility or blocked-mobility situations tend to limit their aspirations, seek satifaction in activities outside of work, dream of escape, and create sociable peer groups in which interpersonal relationships take precedence over other aspects of work"13.
Im Führungsverhalten von Männern und Frauen zeigten die von Kanter ausgewerteten Studien keinen signifikanten Unterschied, selbst nicht unter der Annahme, dass weibliche Führungskräfte in der Regel schlechter entlohnt werden als ihre männlichen Kollegen. Gleichwohl war die Mehrzahl der befragten Personen der Meinung, dass Männer bessere Führungskräfte seien, und mehr als zwei Drittel der Männer und ein Fünftel der Frauen gaben an, nicht gerne unter einer weiblichen Führungskraft arbeiten zu wollen14. Zusammenfassend sieht sie Arbeitsverhalten eher in der organisatorischen und hierarchischen Struktur der Unternehmen verankert als in individuellen Dispositionen. "Complex organizations whose opportunity and power structures routinely disadvantage some kinds of people (whether women or men) are likely to generate the behavioral consequences of such disadvantaging. On the other hand, the creation of a class of advantaged persons who are offered the prospects for increasing their opportunities and power does not itself always lead to desirable consequences, for those people may become more involved with the politics of climbing than with the human side of the organization or the personal side of life"15.
Kanter empfiehlt deshalb auch, die Nachschulung einzelner Personen zum Zwecke der Verbesserung von Einstellung, Motivation und Leistung zu reduzieren und stattdessen die Struktur der Organisation als Gesamtsystem zu verändern: "lt is the nature, form, and degree of hierarchy that should bear the burden of change"16. In diesem Sinne meint „Valuing Diversity“ die prinzipielle, durch Wertschätzung, Neugier und Lernbereitschaft getragene Akzeptanz und Bejahung von kultureller und ethnischer Vielfalt. Sie ist im obigen Sinne die grundlegende Voraussetzung für ein erfolgsversprechendes Diversity-Management. Schließlich gründet die Komplexität 12
Kanter 1982
13
Kanter 1982:236
14
Vgl. Kanter 1982:241. 51% der Männer gaben an, Frauen wären "'temperamentally unfit' for management." Hier wirkt offensichtlich ein altes Vorurteil, dass weibliche Führungskräfte als "rigid, petty, controlling, and too proone to interfere in the personal affairs of subordinates" ausgibt.
15
Kanter 1982:247
16
Kanter 1982:247
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
der gesellschaftlichen Interaktion, wie sie sich in den ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und sozialen Prozessen widerspiegelt, zum großen Teil in der (kulturell bedingten) Wertehaltung der Gesellschaftsmitglieder und deren (kulturell gestützten) individuellen Zielstellungen. Ein Verständnis dieser Komplexität und eine von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder getragene Entwicklungsperspektive wird diese individuellen Zielstellungen auf der Basis einer veränderten Bewusstheit integrieren und berücksichtigen müssen, und es ist aus meiner Sicht eine zentrale Aufgabe von Diversity-Management, diesen Bewusstwerdungsprozess aktiv mitzugestalten. 4.1.3. Diversity-Management in den USA 1987 veröffentlichte das amerikanische Hudson Institut17 die Studie Workforce 2000, in welcher die zentralen Herausforderungen für US-amerikanische Unternehmen benannt wurden. Im Mittelpunkt aller Überlegungen zur Neugestaltung und Umstrukturierung von Unternehmensprozessen stand dabei die Wertschätzung der Mitarbeiter, unabhängig von „race, ethnicity, gender, national origin, and age“18: dezidiertes Ziel war es, die Stellung der amerikanischen Industrie auf dem Weltmarkt durch bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen und Qualifikationen zu festigen und zu optimieren: „Managing diversity is fast becoming the corporate watchword of the decade - not because corporations are becoming kinder and gentler toward culturally diverse groups but because they want to survive. And in order to survive a growing number of US organizations will have to recruit, train, and promote culturally diverse employees. In essence, this is nothing more than developing additional human resources”19.
Darüber hinaus ging es dann sehr schnell darum, die Vielfalt der außerhalb des Unternehmens agierenden Akteure (z.B. die Vielfalt der Kapitaleigner, der Kunden und der Lieferanten) besser zu nutzen20. Anfang 1990 betonte R. Thomas Jr. die Bedeutung von Kontexten und Rahmenbedingungen im Zusammenhang des Diversity-Begriffs21: über die oben benannten "Kerndimensionen" hinaus waren organisationsspezifische (Betriebs-, Bereichs- und Gruppenzugehörigkeit), kognitiv-affektive (Einstellungen, Werte, Wissen) und for17
Hudson Institut 1987
18
Henderson 1994:3. Die hier genannten Merkmale bezeichnet man im Zusammenhang von Diversity-Management auch als "Kerndimensionen".
19
Henderson 1994:3. Hier sind noch nicht alle Diversity-Dimensionen aufgeführt, es wird aber bereits auf weitere Dimensionen verwiesen. Darüber hinaus werden die zukünftigen Aufgaben benannt, die Unternehmen erledigen müssen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Vgl. auch Riche 1991 und Edwards 1991.
20
Vgl. Dass et al. 1999:68
21
Vgl. Thomas 1992:92f.
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mell-individuelle (Bildung, Expertise, Qualifikation, Position) seiner Meinung nach wichtige Merkmale im Umgang mit Unterschieden. Diversity bezog sich nun auf all das, „worin Menschen sich unterscheiden können und dabei sowohl auf äußerlich wahrnehmbare als auch auf subjektive Unterschiede. Rasse, Geschlecht, Alter oder körperliche Behinderungen zählen zur ersten Kategorie, Erziehung, Religion und Lebensstil dagegen zur zweiten“22. Mit der Bezugnahme auf die individuelle Perspektive wird das permanente und unumgehbare Vorhandensein von Vielfalt deutlich: Diversity ist nichts, was man künstlich herstellt, sondern etwas, das je schon da ist. Es ist das Individuum, welches die aus seinem Kulturkreis an ihn herangetragenen Werte und Einstellungen im Umgang mit Fremdheit verarbeiten und gestalten muss, und es ist eine persönliche Entscheidung in welcher Art und Weise man den Umgang mit dem Fremden gestaltet23. 1996 erweiterte R. Thomas Jr. sein Begriffsverständnis erneut und integrierte auch die zwischen den Akteuren jeweils bestehenden Gemeinsamkeiten in das Verständnis von Diversity: „when you making managerial decisions, you no longer have the option of dealing only with the differences or similarities present in the situation; instead you must deal with both simultaneously“24.
Hier wird insbesondere die Notwendigkeit eines grundsätzlich wertschätzenden Umgangs mit allen Mitarbeitern angesprochen, denn Thomas fordert im Zusammenhang von Entscheidungsprozessen sowohl eine sorgsame und fokussierte Bezugnahme auf die einzelnen Diversity-Dimensionen als auch die Berücksichtigung der Gruppendynamik und der ihr impliziten rekursiven Prozesse: „The managers dealing with diversity, then, are focusing on the collective mixture. For example, the manager coping with racial diversity is not dealing with Blacks, Whites, Hispanics, or AsianAmerican, but the collective mixture”25.
Thomas’ Definition verweist damit auch auf die hohe Komplexität interkultureller Dynamiken, und sie stellt die Weichen zu einem neuartigen und zukunftsfähigen Umgang mit Vielfalt, der mehr ist als das bloß technisch verstandene „Managing“ von Diversity. Der Umgang mit Diversity und die Integration der mit Diversity verbundenen, impliziten Wissensbestände werden hier zu einem Differenzkriterium gegenüber den Wett22
Wagner et al. 1979:18. Vgl. auch Watrinet 2008:10 und Thomas 1992:10f. Roosevelt Thomas Jr. war hier m.W. der erste, der die Definition von Diversity von den klassischen Dimensionen Rasse, Geschlecht und Ethnizität auf die anderen, sekundären Merkmale ausgedehnt hat.
23
Die Globalisierung eröffnet dabei völlig neue Möglichkeiten, denn mit ihr wachsen die Möglichkeiten, aus tradierten Kulturmustern und starren Verhaltensvorschriften auszubrechen.
24
Thomas et al. 1996:246
25
Vgl. Thomas et al. 1996:246
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bewerbern stilisiert, das die Vielfalt selbst in gewisser Weise als eine zusätzliche, durch geschicktes Management planmäßig zu steuernde und nutzbringend einzusetzende Ressource begreift. Dieser Denk- und Sichtweise liegt die Annahme zugrunde, dass Unternehmen die aktuell notwendige, zusätzliche Produktivität in erster Linie aus einem verstärkt selbst motivierten Einsatz ihrer Mitarbeiter ziehen müssen. Nur diejenigen Unternehmen - so wird behauptet - denen dies gelingt, werden am sich permanent verändernden Weltmarkt überleben und wettbewerbsfähig bleiben. In einem Aufsatz von Thomas et al. (1996) werden die unterschiedlichen Umgangsmöglichkeiten mit anderen Kulturmustern dann dem „discrimination-and-fairness approach“, dem „access-and-legitimacy approach“ und dem „learning-andeffectiveness approach“ zugeordnet und in ein flexibles Entwicklungsschema gebracht. Er wird aus meiner Sicht hervorragend durch einen 1999 von Dass et al. verfassten Aufsatz ergänzt, der die Komplexität des Umgangs mit Angehörigen ethnischer Minoritäten thematisiert und dabei die unterschiedlichen, historisch gewachsenen Perspektiven, Motivationsmuster und Handlungsweisen der Akteure berücksichtigt. Dass et al. verweisen auf die politische und soziale Kraft des kreativen Diskurses zwischen den Bevölkerungsgruppen und betonen die im Zusammenhang der Globalisierung stark steigende Bedeutung eines verständnisvollen, anerkennenden und respektvollen Umgangs miteinander. Gleichzeitig betonen sie aber auch, dass die verbindliche Definition von Diversity-Management schwierig ist26, und dass es keinen einheitlichen Weg des Managing Diversity geben kann: „Most writing on the subject suggests there is one best way to manage workforce diversity in organizations. We argue that there is no single best way, but that the organization’s approach depends on the degree of pressure for diversity, the type of diversity in question, and managerial attitudes“27.
Ihr Entwicklungsschema berücksichtigt die externen und die internen Zwänge, die bei der Einführung von Diversity-Management abzuwägen sind, und sie definieren drei Problemfelder des Handelns mit insgesamt neun Optionen: 1.) die möglichen Management-Perspektiven (vom Widerstand hin zum Lernprozess) und die möglichen Prioritäten (von der beiläufigen Perspektive hin zur strategischen Perspektive), 2.) die Form der möglichen Antworten (von reaktiv bis proaktiv) und 3.) die Form der möglichen Implementierung (von episodisch bis strategisch)28. Abhängig vom Grad des inneren und äußeren Umsetzungsdrucks und abhängig von der Priorität, die das Management dem Thema beimisst, unterscheiden sie so ein 26
Vgl. Dass et al. 1999:69: „people define diversity in different even conflicting ways. Consequently, an increasingly diverse workforce is variously viewed as opportunity, threat, problem, fad, or even nonissue. These disparate views lead people to manage workforce diversity in distinct ways, resulting different costs and benefits. Despite the claim by some that there is one best way to manage a diverse workforce, there is little agreement on what it is.”
27
Dass et al. 1999:68
28
Vgl. Dass et al.1999:69
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Kontinuum von neun formalen Möglichkeiten, Diversity-Management in einem Unternehmen zu implementieren29. Die strategisch ungünstigste Variante ergibt sich dabei bei einer Kombination aus geringem Umsetzungsdruck und marginalem Handlungsinteresse des Managements. Mit ihr können lediglich vereinzelte, von einander isolierte und ad hoc kreierte Diversity-Management-Maßnahmen umgesetzt werden. Die strategisch optimale Variante dagegen ergibt sich aus hohem Umsetzungsdruck und hohem Handlungsinteresse. Sie ermöglicht als einzige der aufgeführten Varianten die strategische Vernetzung der einzelnen Diversityaktivitäten mit bedeutsamen Aktivitäten aus anderen Handlungsfeldern vor dem Hintergrund des organisationalen Gesamtgefüges. Nach Dass et al. sind alle klassischen Maßnahmen der Organisations- und Prozessoptimierung einschließlich „organizational development, transition management, transformational leadership, team entrepreneurship, action research, reengineering, total quality management, and teamlearning“30 geeignet, ein strategisch angelegtes Diversity-Management zu unterstützen. Allerdings halten sie ein bunt gemischtes TopManagement, das den gewünschten Changeprozess selbst verkörpert, für den geeignetesten Garanten der gewünschten Veränderung. Eine wirklich vielfältige Belegschaft, wirklich vielfältige Prozesse und eine wirklich vielfältige organisationale Struktur lassen sich aus der Sicht der Autoren nur dann realisieren, wenn das TopManagement ungeteilt hinter den angestrebten Ergebnissen steht. Aber selbst dann können die mit Diversity-Management verbundenen Ziele nur selten auf direktem Wege durchgesetzt werden. Da die Implementierung von Diversity-Management in jedem Fall ein diskursiver Prozess ist, der sich aus vielen Einzelaktionen zusammensetzt und von vielen Ideen getragen wird, folgt sie in der Regel eigenen Gesetzen und einem eher unstrukturierten Muster: „Although top executives usually select the organization’s strategy for managing workforce diversity, it is up to middle and lower-level managers to implement them and to employees to operationalize them, often according to personal perspectives and priorities. Every variety of resistance, discrimination, fairness, access, legitimacy, and learning operates today within, as much as between, organizations“31.
Die hier angesprochene Komplexität des Prozesses wirkt sich notwendigerweise auf die Dauer der Implementierung aus. Unabhängig davon, welchen Druck die äußeren und inneren Veränderungszwänge aufbauen, und unabhängig davon, welche Strategien letzten Endes zum Einsatz kommen: ein auf der Systemebene angelegtes Diversity-Management braucht Zeit zur Realisierung der gesteckten Ziele, und es kann zur Unzufriedenheit kommen, wenn schnelle Ergebnisse im Vordergrund stehen sollen32. 29
Vgl. zum folgenden Dass et al. 1999:72f.
30
Dass et al. 1999:77
31
Dass et al. 1999:77
32
Vgl. Dass et al. 1999:73f.
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Gleichzeitig braucht es ein ausgeprägtes Feingefühl für Strategie und Taktik, um die Betroffenen zu Beteiligten zu machen: „executives who reflect on their own perspectives and diversity practices may become more aware of available alternatives and uncover unspoken assumptions and biases that guide their practices and theories. Such awareness may raise challenging new questions about managing workforce diversity“33.
Im Zusammenhang ihrer sehr differenzierten Sicht auf organisationale Entwicklungsprozesse verweisen Dass et al. auch auf die Tatsache, dass die (rigorose) Ablehnung organisationaler Vielfalt als bewusste Positionierung zum Umgang mit Diversity ebenfalls ernst genommen werden muss. Sie ergänzen die drei oben genannten Zugänge von Thomas et al. deshalb um die Resistance Perspective34. Die "Resistance Perspective" Die Resistance Perspective war seit Ende der 1960er Jahre aktuell, als die Unternehmen aufgrund von Affirmative Action verstärkt gezwungen wurden, Angehörige ethnischer Minderheiten und Frauen einzustellen und dieser Zwang vom etablierten (weißen und männlichen) Management als Bedrohung empfunden wurde35. Aber selbst heute öffnen sich noch längst nicht alle Unternehmen dem Gedanken des gleichberechtigten Umgangs mit Unterschieden. Nach wie vor gibt es Unternehmen, die eine diverse und komplex heterogene Belegschaft nach Möglichkeit zu unterbinden suchen, weil sie Heterogenität als Konfliktfeld und Diversity als Bedrohung einstufen. In Unternehmen, die die Resistance Perspective favorisieren, ist "die Erhaltung der momentanen Zusammensetzung der Belegschaft das vorrangige Ziel. Es gilt, das vorhandene Ausmaß an Homogenität zu schützen und zu erhalten“36. Personalauswahl- und Personaleinstellungsverfahren verfolgen hier den Aufbau einer möglichst homogenen Belegschaft, die bereit ist, sich problemlos und harmonisch an die unternehmenspolitischen Vorgaben anzupassen. Nicht zu reduzierende Unterschiedlichkeiten versucht man entweder zu ignorieren oder durch Reduktion der Berührungspunkte und durch räumliche Trennung zu entschärfen. Dennoch entstehende Konflikte werden möglichst nicht thematisiert. So entstehen sehr schnell redundante und in sich geschlossene Systeme, in denen Exklusion, Verleugnung und Unterdrü-
33
Dass et al. 1999:79
34
Dass et al. 1999:69
35
Vgl. Dass et al. 1999:69. Dass et al. führen hier die Unternehmen Texaco, Mitsubishi Motors, Astra Pharmaceuticals und Stae Farm Insurance als Negativbeispiele an. Letztere führten sogar einen neun Jahre dauernden Prozess gegen die Gleichberechtigung, den sie schließlich verloren.
36
Watrinet 2008:42. Darüber hinaus soll die Argumentation der Resistance Perspektive womöglich aber auch dazu dienen, die mit der Einführung der Gleichberechtigung verbundenen Kosten einzusparen.
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ckung abweichenden Denkens und abweichenden Verhaltens die bevorzugten Verhaltensmuster sind und Toleranz nur noch eine untergeordnete Rolle spielt37. Tatsächlich erzeugen Veränderungsprozesse in den meisten Angst, weil das Verlassen traditioneller Wege und der Verlust traditioneller Werte mit persönlicher Verunsicherung einhergeht. Das bloße Bewahren-Wollen eines in der Regel nicht näher definierten „Gemeinschaftsgefühles“ und einer in der Regel unscharfen, von der Majorität definierten „sozialen Identität“ trägt in jedem Fall phobische Züge und zeugt von der mangelnden Flexibilität der Akteure: Vermeidungshaltung und Ablehnung sind höchst ungeeignete Mittel, um Veränderungsprozesse als solche aufzuhalten; sie können - wenn überhaupt - nur eingeschränkten und nur vorübergehenden Nutzen bringen, aber sie können niemals die bei den Resistenzbefürwortern befürchtete Auseinandersetzung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Identitäten und Überzeugungen verhindern. Die durch bloße Negation des Anderen entzündeten Konflikte entfalten eine hohe Sprengkraft, weil die prinzipielle Unvereinbarkeit der Meinungen die gemeinsame Entwicklung geeigneter Konfliktlösungsstrategien verhindert. „Generally, culture clash occurs when the values, attitudes, and behaviors of the dominant group are questioned by others and, in turn, create a disturbance within the organization“38. Heute brauchen die Organisationen den flexiblen Zugriff auf die politischen und ökonomischen Ressourcen der bisherigen Minoritäten allein schon für eine differenzierte Reaktion auf die komplexen internen und externen Anforderungen: „Managing others and dealing with culture clash are becoming survival issues“39. Manager müssen nicht nur verstehen, wie solche Konflikte entstehen, und unter welchen Bedingungen sie eskalieren können, sie müssen auch und vor allen Dingen verstehen, wie man sie löst, und wie man sie nach Möglichkeit bereits im Vorfeld vermeidet40. 37
Vgl. auch Dass et al. 1999:69f.
38
Loden et al. 1991:121
39
Loden et al. 1991:122. Vgl. auch Thomas 1990:3f.: „The problem is not getting them (minorities and women) in at the entry level; the problem is making better use of their potential at every level, especially in middle-management and leadership positions. This is no longer simply a question of common decency, it is a question of business survival.”
40
Nach Loden et al. 1991:122f. neigt ein Kulturstreit insbesondere dann zu negativer Eskalation, wenn er bedrohlich für die Beteiligten wird und / oder zur Verwirrung beiträgt. Er kann aber auch positiv eskalieren, wenn die individuellen und / oder kulturellen Unterschiede der Anderen zur Basis der eigenen Lern- und Entwicklungsprozesse genommen werden können. Nach Ansicht der Autoren sollte ein den aktuellen Anforderungen genügendes KulturstreitManagement deshalb in der Lage sein, die negativen Implikationen von Diversity mit Hilfe geeigneter Maßnahmen zu minimieren und die positiven zu verstärken: „… threatening and confusing culture clash can be minimized when diversity is understood and valued. Therefor, institutions that position diversity as a positive change, rather than a regrettable yet unavoidable one, will be the ultimate beneficiaries. They will not only succeed in attracting the best and brightest from the increasingly diverse US labor pool, they will also experience less difficulty
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Die im folgenden näher beschriebenen drei Diversity-Management Approaches bilden das eigentliche Repertoire an formalen Umgangsweisen mit Diversity, wobei die Nähe zu den theoretischen Ausführungen im bereits angeführten Kapitel Multikulturalismus ins Auge sticht: von der (phobischen) Abgrenzung der dominanten monokulturellen Gruppe hin zum gleichberechtigten (ergebnis- und lösungsorientierten) Miteinander aller Kulturgruppen. Die Perspektiven unterscheiden sich aber nicht nur hinsichtlich des „Reifegrades“ im Umgang mit Diversity, sondern auch im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen Aktionspotenziale. Dennoch bilden die Approaches keine natürliche, oder zeitliche Rangfolge an notwendigen Entwicklungsschritten ab. Die Entscheidung für einen der Approaches entspricht vielmehr einer betriebswirtschaftlich zu verstehenden Absicht, die unternehmensintern je vorhandene personelle Vielfalt besser in die Unternehmensprozesse einzubinden. Der "Discrimination-and-Fairness Approach" Mit seiner grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Form von Diskriminierung versteht sich der Discrimination-and-Fairness Approach41 vorwiegend als ein Instrument zur Förderung von Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Minderheiten: „This perspective is based primarily on legal decisions, particularly on affirmative action policies and Equal Employment Opportunmity legislation“42. Er verordnet Förderprogramme für definierte Zielgruppen, vorwiegend für die „historically disadvantaged groups“43, und im Zusammenhang von Leistungsvergütung und Entlohnung wird sowohl die Individualperspektive als auch die organisationale Perspektive der Gruppenperspektive untergeordnet. Deshalb kann es im Zusammenhang von Maßnahmen des Discrimination-and-Fairness Approach vorkommen, dass jemand aus der Mehrheitsgruppe glaubt, dass seine individuelle Leistung - und damit seine Karriere - aus Gründen des Minderheitenschutzes nicht genügend gewürdigt wird. Der Discrimination-and-Fairness Approach birgt hier ein gewisses Konfliktpotenzial, und nach Dass et al. kann er die vorhandenen Möglichkeiten im Umgang mit Diversity nur begrenzt nutzen: „This perspective gives rise to a defensive strategic response that includes such tactics as negotiating with, balancing, and pacifying different interest groups. Organizations may seek to pacify a minority group by selecting the director of affirmative action from that group. Similarly, many colleges and universities advertise their positions in minority publications, and many businesses include minority and female vendors among their suppliers. In practice, these actions may im-
managing the organizational transition from assimilation to valuing diversity.” Loden et al. 1991:134. 41
In der deutschen Übersetzung des öfteren auch als Fairness- und Diskriminierungs-Ansatz bezeichnet.
42
Dass et al. 1999:70
43
Vgl. Cox 1993:338f., vgl. auch Dass et al. 1999:70
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prove equity and fairness, providuing economic resources as well as role models for members of historically disadvantaged groups. However, these actions can have negative effects, as well, if there is confusion about what diversity or legal compliance means“44.
Der Discrimination-and-Fairness Approach findet sich in einer Mehrzahl der USamerikanischen Unternehmen und übt einen moderaten Druck zur Integration von Angehörigen der ethnischen Minderheiten und Frauen aus. Im Discrimination-andFairness Approach zeigt sich der nach wie vor prägende und nachhaltige Einfluss der US-amerikanischen Gleichstellungsgesetzgebung von 1968 auf organisationale Personaleinstellungsverfahren. Chancengleichheit, faire Behandlung und gleichberechtigte Aufstiegschancen für alle Beschäftigten, unabhängig von ethnischen und individuellen Unterschieden, stehen hier im Mittelpunkt des Interesses45. Dabei gibt eine formale, der demographischen Struktur der Gesellschaft entlehnte Quote vor, in welchem Ausmaß die bislang benachteiligten Mitarbeitergruppen Zugang zu den Bereichen bekommen sollen, die ihnen aufgrund der herrschenden Vorurteile bislang verschlossen waren, und nur die Einhaltung oder Nichteinhaltung der formalen Quote entscheidet über Erfolg oder Nichterfolg bei der Umsetzung der Maßnahmen: „The discrimination-and-fairness paradigm is based on the recognition that discrimination is wrong. Under it, progress is measured by how well the company achieves its recruitment and retention goals“46.
Verstöße gegen die Vorgaben werden juristisch geahndet. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt nach Thomas et al. (1996) darin, dass die Vorgaben von Unternehmen häufig zügig umgesetzt werden können sofern es sich um Unternehmen handelt, in denen Bürokratisierung, Hierarchie, Regulierung, Kontrolle und Direktive noch zentrale Unternehmenswerte47 sind. Von Nachteil sind hier die normative Regulierung, der Assimilierungszwang und die Nichtachtung der kulturellen Besonderheiten, die einen starken Verhaltensdruck auf die Beschäftigten ausüben. Sie beschränken die Motivation und dämpfen die Bereitschaft zur Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen48. Die dem eher traditionellen Verständnis von „Führung“ folgende, mit der formalen Gleichheitsidee verbundene „color blindness“49 verspielt die in der Vielfalt verborgene Möglichkeit des VoneinanderLernens und die kreative Entwicklung neuartiger Unternehmenskulturen. 44
Dass et al. 1999:70f.
45
Dass et al. 1999:70 “…this perspective assumes that prejudice has kept members of certain groups out of organizations, but that with equal access and fair treatment under the law are available remedies. This perspective is based primarily on legal decisions, particularly on affirmative action policies and Equal Employment Opportunity legislation.”
46
Thomas et al. 1996:33
47
Vgl. Thomas et al. 1996:81 und Cox 1993:12
48
Vgl. Thomas et al. 1996:81f.
49
Thomas et al. 1996:81
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
„Für die Organisation wirklich relevante kulturelle Unterschiede und deren Auswirkungen auf die organisationalen Prozesse und Strukturen werden möglicherweise nicht wahrgenommen. Unterschiedliche Einstellungen, Werte, Arbeitsweisen und Denkmuster werden nicht als Merkmale der Vielfalt berücksichtigt. Eine tatsächliche Nutzung von Diversity als Ressource wird somit nicht in Anspruch genommen und das Lernpotential durch Vielfalt vernachlässigt“50.
Mit der auf die Affirmative Action zurückgehenden Quotenregelung wird die konkrete, tatsächlich organisationsintern vorhandene Vielfalt der Mitarbeiter noch nicht vollkommen erfasst. Der einzelne ist nicht als Person bedeutsam, sondern als Mitglied seiner sozialen Gruppe und als statistische Größe zur Erfüllung einer politisch korrekten Quote. Das Individuum wird auf die gruppentypischen Wertehaltungen und Verhaltensweisen reduziert. Auf diese Weise werden "Stereotypisierungsprozesse perpetuiert und ein Gruppenpartikularismus gefördert"51. In der Konsequenz droht die ursprüngliche Intention von Affirmative Action in ihr Gegenteil umzuschlagen und als "reversed discriminination" zur Benachteiligung von Angehörigen der Mehrheit zu führen. Ein Phänomen, das nicht die Kooperation zwischen der Majorität und den Minoritäten verstärken würde, sondern die Konfrontation. Trotz der durch unterstützende Quotenregelung eingeleiteten Integrationsprozesse, die neue Denk- und Handlungsweisen für alle Unternehmensangehörigen ermöglichen sollten, kam es deshalb auch immer wieder zu Widerständen von Mitgliedern der dominanten Gruppen und zu einem künstlich aufrecht erhaltenen, strukturellen Ungleichgewicht auf der Führungsebene, das den Zugang von Mitarbeitern nicht-dominanter Gruppen zu bestimmten Hierarchie-Ebenen verhinderte52: „The fairness and discrimination paradigm had created a kind of cognitive blind spot; and, as a result, the company’s leadership could not frame the problem accurately or solve it effectively. Instead the company needed a cultural shift - it needed to grap what to do with its diversity once it had achieved the numbers53.
So werden zwar die „Problemfelder für mögliche Diskriminierungen identifiziert, benannt und sowohl präventiv als auch kurativ einer Konfliktbewältigung unterzogen“54, aber auch und gerade durch das Programm aufrecht erhalten. Das Problem des Umgangs mit Macht und Hierarchie wird nicht nachhaltig genug gelöst, weil die „color-blind ideology“55 eine doppeldeutige Botschaft vermittelt: die Darstellung aller Minoritäten als gleichberechtigt verträgt sich nicht mit der Forderung, dass die Minoritäten sich an die von der Mehrheit vorgegebenen Kulturstandards und Verhaltensmuster „anzupassen“ haben. Und im Zusammenhang der beabsichtigten Integration
50
Watrinet 2008:44
51
Aretz et al. 2006:64
52
Vgl. Hansen 2007:29. Himmel 2006:67 nennt dieses Phänomen die “Gläserne Decke”.
53
Thomas et al. 1996:83
54
Aretz et al. 2002:34
55
Thomas 2001:256
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von Frauen kann man feststellen, dass männliche Fachkräfte in Organisationen, die dem Discrimination-and-Fairness Approach folgen auch weiterhin eine Tendenz zur (Wieder)-Herstellung männlich dominierter Strukturen haben56. Der “Access-and-Legitimacy Approach” Bereits Ende 1990 zeigte die demographische Entwicklung in den USA, dass der Anteil von älteren Arbeitnehmern, Immigranten und Minderheiten in der Bevölkerung stetig zunehmen würde57. Diese Bevölkerungsgruppen wurden damit sowohl als potenzielle Arbeitnehmer als auch als potenzielle Kunden interessant, und gleichzeitig führte die zunehmende Internationalisierung der Unternehmen zu einer verstärkten Internationalisierung der Kunden und zu einer verstärkten Internationalisierung des Managements. Der Access-and-Legitimacy Approach58 greift diese Veränderung der USamerikanischen Bevölkerungsstruktur auf. Im Unterschied zum Discrimination-andFairness Approach entspringt er aber einer übergreifenden, ökonomisch neoliberalen Argumentation und ist weitestgehend gewinn- und marktorientiert. Moralischpolitische Argumente haben in ihm keine vorrangige Bedeutung mehr. Dass et al. konstatieren hier einen im Verhältnis zum Assimilationsansatz völlig neuartigen Umgang mit kulturellen Unterschieden. Kulturelle Unterschiede verlieren einen Teil ihrer Bedrohlichkeit, und man sucht gezielt nach Unterschieden, um sie zum strategischen Ausgangspunkt für kreative Gestaltungsprozesse zu nehmen. Im Acess-and-Legitimacy Approach werden Unterschiede nicht nur herausgestellt, sondern auch anerkannt und wertgeschätzt. Die Akzeptanz von Andersartigkeit steht im Vordergrund. Anerkennung und Wertschätzung von Unterschieden sollen die Performance optimieren und einen Beitrag zur Marktwertverbesserung leisten. Karriereund Förderprogramme für Mitarbeiter unterschiedlicher Kulturen sind ein expliziter Teil des Acess-and-Legitimacy Approach. Unter der Vorannahme, dass die in einer vielfältigen Belegschaft verborgenen Ressourcen die Beziehung zu einem breit gestreuten, internationalen Kundenportfolio erleichtern würden, sucht man die Belegschaftsstrukturen möglichst weitgehend an die Kundenstrukturen anzupassen.
56
Vgl. Hansen 2007:29. Hansen bezieht sich hier auf eine Studie von Chatman et al. 2004.
57
Dass et al. (1999:71) verweisen in diesem Zusammenhang auf die Studie „Workforce 2000“: „more women, minorities, older workers, and immigrants would join the US work force. Such demographic changes in Europe and the US, as well as growing competitive pressures worldwide, created the context for the access and legitimacy perspective, which can emphasize access or legitimacy or both. For example, 44 percent of managers in 34 multinational firms believd, that the most compelling reason to implement diversity programs was to tap diverse markets and customers.“
58
In der deutschen Literatur häufig auch als Marktzutritts- und Legitimations-Ansatz bezeichnet.
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„The acess-and-legitimacy paradigm, (…), celebrates differences. Under it, organizations seek access to more diverse clientele, matching their demographics to targeted the consumers”59.
Und schließlich nimmt man an, dass „soziale Nähe im Kundenkontakt ein Erfolgsfaktor ist“60. „Leaders may refer to studies that demonstrate links between diversity initiatives and anual returns or stock market values“61. Diversity Management soll in erster Linie der Eroberung neuer Marktanteile auf kurz- und mittelfristig instabilen Märkten dienen62. Damit dieses Ziel aber auch mit einiger Sicherheit erreicht werden kann, müssen Führungskräfte im Umfeld des Acess-and-Legitimacy Approach ein neues Führungsverständnis entwickeln. Sie brauchen Mittel und Wege, einen wertfreien Zugang zu anderen Kulturen zu finden und gleichzeitig das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Kultur aufrecht zu halten. Sie brauchen Führungsmethoden, die einen flexiblen Umgang mit unterschiedlichen Ethnien ermöglichen und gleichzeitig die Bewahrung der eigenen Identität gestatten. Sie brauchen ein kulturübergreifendes, sinnbildendes Muster gemeinsamer Einstellungen und Werte, das die Formulierung und Bearbeitung gemeinsamer Ziele unterstützt und gleichzeitig Kontrolle ermöglicht. Sie brauchen ein Set von Verfahrensweisen, Regeln, Methoden und Werkzeugen, mit denen die Unternehmensprozesse kulturübergreifend kommuniziert und koordiniert werden können63. Es ist zweifellos ein Vorteil des Access-and-Legitimacy Approach, dass Andersartigkeit prinzipiell erwünscht ist, und es ist ebenfalls ein Vorteil, dass er den Zugang zu den internationalen Märkten auf eine andere Basis stellt, indem er die Bildung internationaler Kooperationen oder die Gründung von Tochtergesellschaften außerhalb des Heimatlandes der Muttergesellschaft64 besser ermöglicht. Er arbeitet aber vor allen Dingen mit Stereotypisierungen. Die Idee einer je personenabhängigen Gestaltungsfreiheit der kulturell angelegten Grundmuster ist ebenso wenig präsent wie die Überlegung, dass es in interkulturellen Kontexten kulturübergreifende, diskursive Lernprozesse geben könnte, die sich erweiternd und / oder verändernd auf die traditionellen Muster auswirken könnten: „Access’s story makes an important point about the main limitation of the access-and-legitimacy paradigm: under its influence, the motivation for diversity usually emerges from very immediate 59
Thomas 2001:33, vgl. auch Dass et al. 1999:71
60
Hansen 2007:30
61
Dass et al. 1999: 71
62
Vgl. Watrinet 2008:45
63
Vgl. auch Geert Hofstedes Studie „Culture’s Consequences“ von 1980, in der er die von 19671972 während einer weltweiten Mitarbeiterbefragung bei IBM erhobenen Informationen auswertete und die relevanten Unterschiede in der Unternehmenskultur der beteiligten Unternehmenstöchter herausarbeitete. Die Aussagefähigkeit der Studien Hofstedes wurde z.B. von House (1997) in Frage gestellt.
64
Vgl. Watrinet 2008:46
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and often crisis-oriented needs for access and legitimacy - in this case, the need to broker deals in European markets. However, once the organization appears to be achieving its goal, the leaders seldom go on to identify and analyze the cultural based skills, believes and practices in order to capitalize on diversity in the long run65”.
Sowohl Mitarbeitende als auch Kunden werden in gewisser Weise funktionalisiert, wenn es um die Bestimmung der Zugehörigkeitsmerkmale sozialer Gruppen und um die Bestimmung des Kaufverhaltens dieser Gruppen geht. Sie werden auf „gruppentypische Einstellungen und Verhaltensweisen“66 reduziert. Die „Diversität, die in den Menschen, ihrer facettenreichen Persönlichkeit und ihren unterschiedlichen Rollen und Funktionen liegt“67, wird ignoriert bzw. geleugnet. Diese Reduzierung auf wirtschaftlich bedeutsame Merkmale und Verhaltensweisen führt zu einer Differenzierungsstrategie, die die Vielfaltsthematik noch nicht als Teil eines übergreifend integrierenden Veränderungsprozesses versteht. Der Umgang mit Vielfalt soll durch eine formale Problemlösungsstrategie geregelt werden, bei der die kulturunabhängige Mitarbeiterentwicklung häufig auf besondere Bereiche beschränkt bleibt, Zentralbereiche bleiben Mitarbeitern bestimmter Kulturen vielfach weiterhin verschlossen68. Deshalb kann es auch nicht ausgeschlossen werden, dass Minoritäten hier glauben, im Interesse der dominanten Gruppe funktionalisiert zu werden: „Valuing all differences equally may seem to ultimately value none. Celebrations of diversity can normalize differences and mask homogeneoeus values and practices“69. Insofern übt dieser Ansatz in gewisser Weise ebenfalls einen starken Assimilationsdruck aus. Dieser bezieht sich aber nicht - wie im Discrimination-and-Fairness Approach - auf ein dominantes Kulturmuster, sondern auf ein dominantes Verständnis sozialer und organisationaler Prozesse. Individualität als solche spielt eher keine Rolle, Mitarbeiter werden stark funktionalisiert und individuelle Befindlichkeiten, Einstellungen, Bedürfnisse werden kaum bis gar nicht berücksichtigt. Unternehmen, die dem Access-and-Legitimacy Approach folgen, „…tend to emphasize the role of cultural differences in a company without really analyzing those differences to see how they actually affect the work that is done”70. Mit anderen Worten: trotz seiner unbestreitbar positiven Seiten tendiert der Access-and-Legitimacy-Approach in gewisser
65
Thomas 1996:47
66
Hansen 2007:30
67
Hansen 2007:30
68
Vgl. Watrinet 2008:46
69
Dass et al. 1999:71
70
Thomas 1996:83. Vgl. auch Hansen 2007:30: „Mitarbeitende aus Minoritäten sind nicht wirklich akzeptiert, sondern werden in diesem Ansatz lediglich funktionalisiert. Gleichzeitig wird ihnen die Verantwortung für die Bedürfnisbefriedigung der Kunden, deren Gruppen sie zugeordnet werden, einseitig zugeschoben, oder sie werden für bestimmte wünschenswerte Effekte innerhalb der Organisation verantwortlich gemacht.“
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Weise dazu, herkömmliche Diskriminierungsmuster zu reaktualisieren und / oder zu reaktivieren. Der "Learning-and-Effectiveness Approach" Wo der Discrimination-and-Fairness Approach auf die beiden Urteilskategorien „Anti-Rassismus“ und „Fairness“ setzt, setzt der Learning-and-Effectiveness Approach71 auf die aktive Hebung der in der ethnischen Vielfalt verborgenen Chancenpotenziale. Die vollständige Anerkennung aller Partikularidentitäten und die vollständige Erschließung der unternehmensintern vorhandenen Unterschiede stehen hier im Mittelpunkt des Interesses. Dass et al. heben insbesondere drei Eigenarten dieses Ansatzes hervor: 1.) Ähnlichkeiten und Unterschiede im Zusammenhang einer multikulturellen Belegschaft stehen gleichberechtigt nebeneinander. 2.) Es werden vielfältige Ziele auf verschiedenen Ebenen gesetzt, z.B. Effizienz, Innovation, Kundenorientierung, Mitarbeiterentwicklung und soziale Verantwortlichkeit. 3.) Man betrachtet kurzfristige und langfristige Auswirkungen des Ansatzes72. Unternehmen, die dem Learning-and-Effectiveness Approach folgen, meinen, dass sie in vielfältiger Weise effektiver werden, wenn die Mitarbeiter die Gelegenheit bekommen, bestehende Unterschiede zur Ausgangsbasis für kreative Ideenfindung zu nutzen: „If all or most of eight preconditions are in place, the opportunities for growth are almost unlimited. Leaders in third-paradigm companies (Führungskräfte in Unternehmen, die dem Learningand-Effectiveness Approach folgen, Anm. KJD) are proactive about learning from diversity; they encourage people to make explicit use of cultural experience at work; they fight all forms of dominance and subordination, including those generated by one functional group acting superior to another; and they ensure that inevitable tensions that come from a genuine effort to make way for diversity are acknowledged and resolved with sensitivity”73.
Im Learning-and-Effectiveness Approach geht es also darum, die individuellen Erfahrungen und Kompetenzen durch permanenten, wechselseitigen Erfahrungsaustausch in die Prozesse des Gesamtunternehmens zu integrieren: DiversityManagement gilt hier als Teil eines ganzheitlich zu betrachtenden organisationalen Lernprozesses und als Teil eines demographischen Vielfaltsmanagements, bei dem die moralisch-ethischen Argumente Fairness, Würde und Teilhabe gleichberechtigt neben rein betriebswirtschaftlichen Argumenten stehen. Damit übersteigt der Learning-and-Effectiveness Approach sowohl den Discrimination-and-Fairness Approach - dessen moralische Perspektive er integriert - als auch den Access-and-Legitimacy Approach - dessen ökonomische Perspektive er weiterentwickelt.
71
In der deutschen Literatur häufig auch als Lern- und Effektivitäts-Ansatz bezeichnet.
72
Vgl. Dass et al. 1999:72
73
Thomas 2001:34
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Nicht die künstliche Erzeugung von Heterogenität wird hier gefordert, sondern die aktive Nutzung der je vorhandenen Heterogenität. Vielfalt ist wichtiger als Einfalt, ihre Nutznießung verlangt unablässige aktive und strategische Initiative und die dann gemeinsam gelebte und erlebte Kreativität wird zur verbindenden Komponente: „These policies seek to nurture homogeneity and diversity, and to address core issues of race, ethnicity, and gender along with other similarities and differences important to the organization. Creativity is necessary to generate a sense of similarity among cultural, functional, and hierarchical groups accustomed to differences, and is essential for identifying options when downsizing and diversity clash“74.
Gegenseitige Würdigung wird ähnlich hoch geschätzt wie gegenseitiges Voneinander-Lernen75 und gemeinsames Bemühen um Effizienz und Effektivität. In der gemeinsam erbrachten Leistung wächst - so Thomas - das interkulturelle Team zusammen: „Yet this new model for managing diversity lets the organization internalize differences among employees so that it learns and grows because of them. Indeed, with the model fully in place, members of the organization can say, We are all the same team, with our differences - not despite them”76.
Die dieser Vorgehensweise zugrunde liegende Idee des Lernens bezieht sich damit nicht nur auf offizielle Programme, z.B. auf Trainingsmaßnahmen und Seminare, sondern auch auf Lernprozesse, die aus dem unmittelbaren alltäglichen Miteinander resultieren. Die von Dass et al. bevorzugte strategische Variante des Learning-andEffectiveness Approach muss also simpel und flexibel genug sein, um wirklich allen Diversity-Ansprüchen zu genügen: „diversity management is successful only when it is integrated fully - that is, made a part of all customer, vendor and employee programs“77. Unternehmen, die ihr Diversity-Management nach dem Learning-andEffectiveness Approach organisieren, nutzen die (kulturell determinierten) Perspektiven ihrer Arbeitnehmer zur allgemeinen Weiterentwicklung primärer Aufgaben und Ziele, zur Neudefinition von Märkten, Produkten, Strategien, Missionen, Geschäftspraktiken und damit letzten Endes auch zur Weiterentwicklung der eigenen Unternehmenskultur78, wobei die ohne Ansehen von Geschlecht und Ethnizität von jedem abverlangte hohe Leistung die Unterstützung durch ein extrem rechtschaffenes, ehrliches und integres Managements erfordert: „The leadership must understand that a diverse workforce will embody different perspectives and approaches to work, and must truly value variety of opinion and insight“79. Konflikte sollen nicht ignoriert, 74
Dass et al. 1999:72
75
Vgl. auch Dass et al. 1999:68f. und 72f.
76
Thomas et al. 1996:51
77
Dass et al. 1999:73. Hier wird der damalige Apple South’s president S. Kirk Kinsell zitiert.
78
Vgl. Thomas et al. 1996:49
79
Thomas et al. 1996:52
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sondern offen und ehrlich ausgetragen werden. Konfliktlösung gilt als Basis für eine gemeinsame Verständigungsbasis, für die Herausbildung gemeinsamer Visionen und Überzeugungen und für die Nutzung der vorhandenen Synergiepotentiale80. Der Learning-and-Effectiveness Approach bietet große Möglichkeiten zur Verwirklichung von Gerechtigkeit auf der Basis der vorhandenen Vielfalt, weil er den Minoritäten eine „Stimme“ gibt und einen vielschichtigen Handlungsraum eröffnet. Mit der Forderung nach zunehmender Einbindung der kulturellen und individuellen Ressourcen in die organisationalen Gestaltungs- und Wachstumsprozesse, und mit der Forderung nach Achtung und Wertschätzung des Anderen zeichnet sich ein neues Verständnis von Diversity ab: Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb der Belegschaft werden nun nicht mehr der „homogenisierenden Vergemeinschaftlichung“81 unterzogen, sondern zum Ausgangspunkt für gegenseitige Lernprozesse genommen. Diversity bekommt den Stellenwert einer (ungenutzten) Ressource, und Thomas et al. nähern sich einem Modell der „Lernenden Organisation“, wie es auch anderenorts thematisiert wird82. Stereotypisierung wird weitestgehend ausgeschlossen: „Jede Person erhält die Chance, sich selbst auszudrücken, also zu zeigen, in welcher Weise sie von dem kategorialen Mittelwert des Stereotyps (typisch Mann, typisch Amerikaner, typisch Schwarzer usw.) abweicht“83. Diversity-Management stützt sich hier auf Wertschätzung und definiert mit dieser Wertehaltung den organisationsübergreifenden Maßstab des sozialen Verhaltens. Weil „irrelevante Gründe bei der Stellenbesetzung und Beurteilung sowie Förderung von Mitarbeitenden außer Kraft gesetzt werden“84, kann ein neues Bewußtsein für demokratisches Verhalten erreicht, erlebt und gelebt werden. Allerdings müssen Zusagen zu persönlichen Entwicklungschancen auch tatsächlich eingelöst werden. Klarheit, Toleranz, Offenheit, Wertschätzung und Anerkennung, Egalität und Bürokratieabbau dürfen keine Leerformel bleiben. Sie müssen faktischer Teil des täglichen Umgangs miteinander werden, und sie sind vom Management vorbildlich vorzuleben: „Leaders who appreciate differences fight all forms of dominance, including any functional area’s presumption of superiority over another“85. 80
Vgl. Dass et al. 1999:72: „Organizational leaders who act strategically to manage diversity usually recognize the important role that conflict and debate can play in creating a common sense of vision and beliefs within an organization. Honest expression of differences can lead to a synthesis of conflicting perspectives, but destructive conflict also can emerge to prevent synergies.“
81
Vgl. Krell 1994
82
Zum Beispiel bei Senge 1990 und Senge et al. 1990. Peter Senge war einer der ersten, der den Begriff „Lernende Organisation“ in die Diskusssion eingebracht hat.
83
Hansen 2007:31. Hansen zitiert hier Gebert 2004:424
84
Hansen 2007:31
85
Thomas et al. 1996:53
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Die Verwirklichung der dem Learning-and-Effectiveness Approach zugesprochenen Effekte verlangt solcherart nach Initiative und Proaktivität einerseits und nach einem tiefen Verständnis der interkulturellen Beziehungsmuster andererseits, da diese die unverzichtbare Basis für wirklich offene Diskussionen86, engagierte Mitarbeit87 und ausreichendes Vertrauen88 ebenso sind wie für die Identifikation der Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen und für die stabile Selbstdarstellung des Unternehmens89. Unternehmen, die dem Learning-and-Effectiveness Approach folgen, erhöhen mit einiger Sicherheit ihre eigene Attraktivität nach innen und nach außen. Sie erhöhen aber auch die interne und externe Komplexität und müssen verstärkt mit den Unwägbarkeiten eines komplexen Entwicklungsprozesses rechnen. Dieses ManagementKonzept fordert von allen Beteiligten innerhalb der Organisation einen sehr hohen Anspruch an „einen fruchtbaren Umgang mit Spannungen, die aus der Diversity von Einstellungen, Erfahrungen und Handlungen entspringen. Neue Sicht- und Vorgehensweisen nicht nur zuzulassen, sondern Wert zu schätzen, Fähigkeiten und Bereitschaft zum Perspektivenwechsel zu realisieren, wird vielen Menschen schwer fallen“90. Wer sich - aus welchen Gründen auch immer - anderen Menschen, Kulturen und Lebensweisen nicht öffnen kann, kann Vielfalt nicht als Ressource sehen und sich nicht flexibel verhalten. Der Learning-and-Effectiveness Approach enthält damit durchaus ein großes bis sehr großes Konfliktpotential. Organisationen, die ihm folgen, müssen sowohl eine konstruktive Konfliktprophylaxe anbieten als auch nutzbringende Konfliktlösungen anbieten, damit Mitarbeiter nicht versucht sind, Diversity-bezogene Konflikte individuell auszutragen oder gar versucht sind, „Diversity-geprägte Situationen zu umgehen“91.
86
Vgl. Thomas et al. 1996:59f.
87
Vgl. Thomas et al. 1996:61f.
88
Vgl. Thomas et al. 1996:63f..
89
Vgl. auch Vorländer et al. 2001:42f. Der Lern- und Effektivitätsansatz folgt damit weitestgehend einem multikulturalistischen Kulturmodell (s.o.). Vgl. auch Vedder (2003:23): "In den USA praktizierten bereits Ende der 90er Jahre schon 75% der Fortune 500-Unternehmen ein Diversity Management (Digh 1998; Rhodes 1999), und nach einer Analyse der Homepages der Fortune 500-Unternehmen ist der Anteil der Unternehmen, die mit Diversity-Programmen arbeiten, auf etwa 90% gestiegen." "90% der Unternehmen in den USA, 57% der europäischen und immerhin 51% der deutschen Firmen besitzen Corporate Codes, in denen DiversityManagement eine Bedeutung hat." Petersen et al. 2006:118 und Schwartz 2001:248
90
Hansen 2007:31
91
Hansen 2007:31
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Gleichheit und Gleichbehandlung Das mit Affirmative Action und dem Learning-and-Effectiveness Approach zugrundeliegende Gleichheitsprinzip ist die Leitidee jeder modernen Gesellschaftstheorie. Im Zusammenhang der Affirmative Action-Programme und des Learning-andEffectiveness Approach ist es wichtig festzuhalten, was Gleichheit hier bezeichnet, nämlich "ein bestimmtes Verhältnis zwischen Personen (...), die grundsätzlich verschieden voneinander sind. Sie sollen in einer bestimmten Hinsicht als gleich betrachtet oder behandelt werden. Bei der Durchsetzung und Verwirklichung von Gleichheit geht es also nicht um die Herstellung eines Zustandes, sondern um eine bestimmte Sichtweise und Behandlung der Wirklichkeit"92.
Gleichbehandlung meint hier nicht die Aufhebung quantitativer Differenzen (Ungleichheiten), sondern die Aufhebung qualitativer Differenzen (Verschiedenheiten im Sinne von Pluralität)93. Da qualitative Differenzen im Unterschied zu quantitativen Differenzen in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, lässt sich aus Unterschieden zwischen Menschen auch keine Hierarchisierung von Menschen ableiten. In diesem Sinne meint Gleichbehandlung deshalb auch keine egalisierende Behandlung an sich ungleicher Menschen, sondern eine von Wertschätzung und Interesse getragene Haltung gegenüber anderen - von einem selbst verschiedenen - Menschen: "Die Festlegung des vergleichsentscheidenden Merkmals obliegt dem Urteil der Menschen, es existiert nicht etwa unabhängig schon vor einem menschlichen Urteil. Nur urteilende Subjekte können darüber entscheiden, welches Kriterium als tertium comparationis bei einem Vergleich Gültigkeit haben soll. Damit hängt es von Standpunkten und Gesichtspunkten von Personen ab, wie sie vergleichsentscheidende Kriterien auswählen, ihre Gültigkeit hat keinen objektiv wahren Grund, sondern kann immer auch umstritten sein, da unterschiedliche Personen ganz unterschiedliche Aspekte als wesentlich erkennen"94.
Allerdings - das hat auch die vorliegende Untersuchung bestätigt - ist diese Haltung noch längst keine gängige und umfassend realisierte Praxis. Nach wie vor sind Etikettierung und Diskriminierung das Pendant zum Identitätsverständnis einer herrschenden Mehrheitsgesellschaft, und nach wie vor sind sie mit dem Ausschluss von gesellschaftlichen Privilegien verbunden. Gleichheit - oder in dem hier thematisierten Zusammenhang - Chancengleichheit ist demgemäß ein Ziel, über das es einen breiten
92
Prengel 2006:9
93
Die Akzeptanz von Vielfalt im Sinne von Pluralität meint keine positionslose Beliebigkeit, keine Haltung der Indifferenz, sondern eine Wertschätzung von Differenz. Vgl. Prengel 2006:31f.
94
Prengel 2006:33, in Anlehnung an Dann 1980:18. Dieser Aspekt der Standpunktabhängigkeit eines Urteils ist von enormer Wichtigkeit. Er ist insbesondere auch in der Systemtheorie Niklas Luhmanns ausführlich thematisiert worden, und ich werde ihn im Zusammenhang des Schlusskapitels noch einmal aufgreifen, weil er - gerade auch in der Luhmannschen Fassung eine hervorragende Basis für eine demokratische Differenztheorie hergibt.
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gesellschaftlichen Konsens gibt, aber es ist auch ein Ziel, über dessen Realisierung höchst unterschiedliche, von der jeweiligen politischen Grundhaltung getragene Vorbedingungen und Voraussetzungen benannt werden. Nach konservativem Verständnis ist Chancengleichheit stets gegeben, weil der Einzelne - unabhängig von allen Rahmenbedingungen - stets die Chance hat, seine Begabung in individueller Leistung zu realisieren, mangelnde Leistungsfähigkeit wird hier häufig biologistisch einer "schichtspezifisch" oder "rassenspezifisch" verankerten Minderbegabung zugeschrieben. Nach liberalem Verständnis braucht Chancengleichheit den Abbau der je vorhandenen ökonomischen, geographischen und institutionellen Zugangsbarrieren zu den gesellschaftlichen Bildungsressourcen. Und nach radikaldemokratischem Verständnis ist Chancengleichheit erst dann verwirklicht, wenn "alle Klassen, Stände und Gruppen genauso in den Einrichtungen weiterführender Bildung, wie in der Gesamtbevölkerung vertreten"95 sind, mangelnde Leistungsfähigkeit wird hier den deprivierenden Umweltbedingungen zugeschrieben. Wie sich in den bis hier skizzierten Vorläufern des Diversity-Management und in den skizzierten Diversity-Management Approaches zeigt, spielt die Vorstellung einer rassisch, ethnisch oder schichtspezifisch (heute: genetisch) verankerten Ungleichheit von Menschen (biologischer und kultureller Rassismus) im konservativen Denken nach wie vor eine große Rolle, während "im Hauptstrom europäischer demokratischer Denktraditionen kein eigenes emanzipatorisches Konzept von Verschiedenheit ausgebildet wurde"96. Das wirkt sich insofern höchst negativ aus, als mit den hier erhobenen universalistischen Gleichheitsforderungen kein übergreifender (alle Menschen), sondern nur ein eingeschränkt gruppenspezifischer Anspruch erhoben wurde. Hinter der universalistischen Forderung verbirgt sich letztendlich nur ein partikulares Interesse an politischer Realisierung. Andere Gruppen werden ausgeschlossen97, und unter der Hand wird das Denken durch die konservative Vorstellung eines Hierarchie legitimierenden Gleichheitsbegriffs und eines hierarchisch gegliederten gesellschaftlichen Systems geprägt. Im scharfen Gegensatz hierzu soll hier deshalb unter dem Begriff der Gleichberechtigung eine prinzipiell Hierarchie auflösende Spielart von Gleichheit subsumiert werden, die sich gleichzeitig als "Bedingung der Möglichkeit von Vielfalt"98 verstehen kann und als Basis für die Realisierung konkreter Rechte genutzt werden kann. Mit Prengel liegt dieser Vorstellung ein an Guzzoni 1981 orientiertes Dialogverständnis zugrunde: "In der Wechselbeziehung zwischen Verschiedenen wird das Anderssein belassen, der andere wird nicht unter die Wünsche und Bilder des einen subsumiert, es werden nicht die gleichen 95
Klemm et al. 1985:29, zit. nach Prengel 2006:23
96
Prengel 2006:35
97
Vgl. Prengel 2006:35
98
Prengel 2006:35
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Handlungserwartungen unterstellt. Beide Seiten treten in einen offenen Prozess ein, dessen Ausgang ungewiss ist, dessen Ziele unbestimmbar sind. In diesem prozesshaften Wechselbezug aber ändert sich Jedes in der Kommunikation mit dem Anderen"99.
Die Notwendigkeit dieses nicht-hierarchischen Dialogs ist aus meiner Sicht jedoch nicht argumentativ herzuleiten, da sie ethisch begründet ist. Die Bewusstwerdung der nicht hintergehbaren, historisch gewachsenen Heterogenität ist die Voraussetzung einer Gleichberechtigung im Sinne von Emanzipation, die auf die Schaffung binärer Strukturen verzichtet, aber dennoch nicht mit moralischer Anerkennung all dessen einhergehen muss, was getan wird und Kritik automatisch ausschließt. Gleichheit kann nicht ohne die Anerkennung von Differenz realisiert werden, und Wertschätzung von Differenz braucht die Basis gleicher Rechte. "Differenz ohne Gleichheit bedeutet gesellschaftlich Hierarchie, kulturell Entwertung, ökonomisch Ausbeutung: Gleichheit ohne Differenz bedeutet Assimilation, Anpassung, Gleichschaltung, Ausgrenzung von 'Anderen'"100.
4.2.
Diversity-Management in Deutschland
4.2.1. Der Umgang mit dem Fremden in Deutschland seit 1949 Der Begriff "Gastarbeiter" Die Umschreibung der in Deutschland angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte als „Gastarbeiter“ resultierte nicht zuletzt aus dem Zwang zur Abgrenzung von den belasteten Begriffen „ausländischer Wanderarbeiter“ (Kaiserreich und Weimarer Republik), „Fremdarbeiter“ und „Zwangsarbeiter“ (Hitlerfaschismus)101. Und in der Tat demonstriert der Begriff „Gastarbeiter" gegenüber diesen belasteten Begriffen einen anderen rechtlichen Status, allerdings nicht nur im Zusammenhang geregelter Arbeitsverhältnisse: er umschreibt einen (als minderwertig empfundenen) sozialen und 99
Prengel 2006:56, in Anlehnung an Guzzoni 1981:58. Diese Vorstellung einer Identität bildenden, nicht-hierarchischen und dialogischen Beziehung geht auf die Philosophie des frühen Johan Gottlieb Fichte zurück. Hier hebt Fichte bereits hervor, dass die andere Person kein bloßes Objekt des Verfügungsinteresses sein kann, weil ihr Wesen ebenfalls im Handeln und nicht im Sein liegt. Vgl. z.B. Fichte 1796:32f. Ähnliches formuliert auch Martin Buber, wenn er den vorsprachlich universalen Bezug des "Ich" mit den Grundworten "Ich-Du" und „Ich-Es" fassen will: "Grundworte sagen nicht etwas aus, was außer ihnen bestünde, sondern gesprochen stiften sie einen Bestand." Buber 1954:7
100
Prengel 2006:184
101
Ohne Frage lag der Schatten des Hitlerfaschismus gerade in den 1960er Jahren noch über vielem, was mit Fremdem zu tun hatte. Da es aber gerade zu diesem Thema eine große Anzahl an Untersuchungen gibt, soll es hier nicht eigens vertieft werden. Vgl. zum Thema insbesondere Hoerder et al. 1988, Herbert 2001, Demir et al. 2001, Birsl 2003, Brücker 2003, Abadan-Unat 2005 und Löschnak 1993.
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gesellschaftlichen Status, und er bringt die Skepsis gegenüber dem Fremden und die Angst vor der dauerhaften und dauerhaft irritierenden Anwesenheit des Fremden zum Ausdruck. Da die Gastarbeiter eher aus "rückständigen, ländlich-agrarischen Bereichen"102 kamen, denn aus industrieorientierten Ländern, wurden sie in den Industrieund Produktionsbetrieben vor allen Dingen für ungelernte und angelernte Arbeiten eingesetzt, und der Begriff „Gastarbeiter“ entwickelte sich sukzessive zu einem Synonym für eine unqualifizierte, nur zeitlich geduldete Arbeitskraft. Inzwischen offiziell nicht mehr genutzt, wird der Begriff Gastarbeiter mit seiner geringschätzenden und abwertenden Bedeutung bis heute in der Alltagssprache verwendet. Das ist bedauerlich, weil sich unter den Arbeitsmigranten ausländische Spezialisten, hochqualifizierte Fachkräfte und Unternehmer befinden, die im Zuge der vorurteilsbehafteten Gleichmacherei sozial deklassiert und in eine soziale Abseitsstellung gedrängt werden. Diese „soziale Klassifizierung gilt selbst innerhalb der gleichen beruflichen Tätigkeitsbereiche: Der ausländische Kellner in einem ausländischen Spezialitätenrestaurant könnte diesem allgemeinen Sprachgebrauch nach durchaus als ‚Gastarbeiter’ angesehen werden, zweifelsohne aber nicht der am Ort wohnende ausländische Besitzer der entsprechenden Restaurantkette, der bestenfalls als ‚Gastunternehmer’ bezeichnet werden könnte - ähnlich wie eine wachsende Zahl von ehemaligen ‚Gastarbeitern’, die zu Kleingewerbetreibenden und insbesondere Kleinhandelskaufleuten aufgestiegen sind“103.
Die Wanderungsbewegungen Wanderungsbewegungen 1949 - 1972 Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland durch Wanderungsbewegungen gekennzeichnet, die unmittelbar mit der Ungleichzeitigkeit der industriellen und der landwirtschaftlichen Produktion zusammenhingen104: während in der Industrie Arbeitskräfte fehlten, setzte die zunehmende und zügige Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft Arbeitskräfte frei, die zum Teil in die Industrie wechselten und dort minderqualifizierte Arbeit ver102
Heckmann 1981:245
103
Das Zuwanderungsgesetz soll unter anderem Deutschlands Position im internationalen Wettbewerb um hoch qualifizierte Fachkräfte stärken, und zu diesem Zweck wird die im Aufenthaltsgesetz genannte Mindesteinkommensgrenze, die von Anfang an ein dauerndes Aufenthaltsrecht vermittelt, von 86.400 Euro auf 63.600 Euro im Jahr gesenkt. Vgl. auch den "Entwurf eines Gesetzes zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqualifizierter und zur Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen“ (Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz) vom 22.09.2008
104
Thalheim prognostizierte bereits 1930 dass „bei den industriegesellschaftlich hochentwikkelten Völkern des abendländischen Zivilisationskreises (…), bei denen das Wachstum der Volkszahl mit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht Schritt hält, die frühere überseeische Auswanderung durch eine interkontinentale Einwanderung’ aus den industriewirtschaftlich weniger entwickelten Ländern Europas abgelöst" wird. Thalheim 1930:46, zit. nach Bade 1983:96
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richteten. Mit der starken Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft fiel die Zahl der dort Beschäftigten „von 5,9 Mio. 1949 über 3,8 Mio. 1959 und 2,3 Mio. 1969 auf 1,7 Mio. 1972 und sank seither ebenso weiter wie die Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe. Die Beschäftigtenzahl im Sekundärbereich (besonders Metallgewerbe, Elektro- und Feinmechanik, Steine, Erden, Chemie und Baugewerbe) hingegen wuchs 1950-1970 um fast 4 Mio. an. Zugleich verschoben sich die regionalen Schwerpunkte der industriellen Expansion. (…) Die Arbeitsmarktentwicklung stand (…) im Zeichen zweier weiterer, durch Kriegsfolgen und Wirtschaftsaufschwung seit Ende der 1940er Jahre bestimmter Entwicklungstendenzen: Während die 1945/46 auf 19 Mio. gesunkene Gesamtzahl der Beschäftigten bis 1970/72 auf 27 Mio. (42%) stieg, traten in der Zusammensetzung des Arbeitskräftepotentials kurzfristig erhebliche Veränderungen zutage. Die gewaltige Zunahme der Beschäftigtenzahl wurde bewirkt durch die mehr als 4 Mio. bis Ende 1950 heimgekehrten Kriegsgefangenen, 4,7 Mio. erwerbstätige Vertriebene und Flüchtlinge aus den von Deutschland abgetrennten Gebieten, 1,8 Mio. Flüchtlinge, die bis zum Bau der ‚Berliner Mauer’ im August 1961 die Sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR verließen, und schließlich durch die bis 1973 auf 2,6 Mio. ansteigende Zahl ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik. Trotz der extrem hohen Wachstumsraten der 50er Jahre wurde die Vollbeschäftigung (weniger als 1% Arbeitslosigkeit) wegen des Heimkehrer-, Vertriebenen- und Flüchtlingsstroms aber erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung etwa ab 1960 erreicht“105.
Mit diesem Aufschwung kam es zu einem weiteren Bedarf an Industriearbeitern. Gleichzeitig verstärkte das mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 verbundene Ausbleiben der Flüchtlinge den Arbeitskräftemangel zusätzlich. Es mussten Arbeitskräfte aus Italien, Griechenland und Spanien angeworben werden. Deutschland konnte hier zum großen Teil auf bewährte wirtschaftspolitische Partner zugreifen, und der Umgang mit den fremden Kulturen blieb vorerst überschaubar. Und schließlich erleichterte die Mitgliedschaft der Anwerberländer in der EG die formalen Regelungen der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Arbeitssuchende aus der EG konnten sich direkt über die deutschen Arbeitsämter vermitteln lassen und unterlagen bei ihrer Anstellung keinem Wohnortzwang106. Die klassischen Zuwandererländer konnten den wachsenden Bedarf an Arbeitskräften jedoch bald 105
Bade 1983:60. Im Zusammenhang dieser Wanderungsbewegungen unterschied man in der Bevölkerung deutlich zwischen den Vertriebenen und den anderen Migranten. Den Vertriebenen gestand man einen Sonderstatus zu. Dieser war zum einen darauf zurückzuführen, dass sie im ethnischen oder rechtlichen Sinne Deutsche waren. Zum anderen leitete er sich aber auch aus der Tatsache ab, dass sie ihre Heimatländer nicht freiwillig verlassen hatten, sondern eben vertrieben wurden. Der Sonderstatus der Vertriebenen war also Teil der allgemeinen Entschuldungs- und Wiedergutmachungsbemühungen der Nachkriegszeit. Diesen Bonus hatten andere Einwanderer nie, selbst dann nicht, wenn ihre Migration auf ähnlich druckvolle Umstände zurückzuführen war. Vgl. zum Thema auch Frantzioch 1987.
106
Vgl. Bade (1983:60f.) darüber hinaus zum Thema der Wanderungsbewegungen in Deutschland auch Münz et al. 1999, insbesondere S. 42-53 und Herbert 2001, insbesondere S. 191-229. Dass der deutsche Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung im Laufe dieser Entwicklung zurückging, hängt mit der Sache selbst zusammen. Nur mit Hilfe dieser aus dem Ausland zugezogenen Arbeitskräfte war es überhaupt möglich, die Gesamtzahl der in der Bundesrepublik Deutschland Beschäftigten (und damit das Bruttosozialprodukt) annähernd konstant zu halten.
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nicht mehr decken. Es wurden Anwerbeabkommen mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) geschlossen, bei denen es grundsätzliche Aufenthaltsbeschränkungen und Maßnahmen der gesundheitlichen Voruntersuchungen für die Migranten aus der Türkei, aus Marokko und aus Tunesien gab. Die Zusammensetzung der Bevölkerung veränderte sich damit deutlich: „Im September 1980 betrug der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik etwa 7%. Rund 33% der Ausländer waren Türken. Die zweitgrößte nationale Gruppe stellten die Jugoslawen (14%), gefolgt von den Italienern (13,9%). Der Ausländeranteil an der Gesamtzahl der abhängig Beschäftigten betrug in diesem Jahr 9,9%, das heißt jeder zehnte Arbeitnehmer in der Bundesrepublik war 1980 ein Ausländer“107.
Einer empirischen Studie Heckmanns zufolge war das Wirtschaftswachstum in Deutschland zwischen 1960 und 1971 zu einem Siebentel auf die ausländischen Arbeitskräfte zurückzuführen108, und für die deutsche Wirtschaft wirkte sich die Zuwanderung der Gastarbeiter außerordentlich positiv aus: das Eintrittsalter in den Ruhestand konnte gesenkt, die Ausbildungszeit verlängert und die durchschnittliche Arbeitszeit von 61,4 (1960) auf 44,4 Wochenstunden (1967) gesenkt werden109. In Heckmanns Studie wird zugleich hervorgehoben, dass die ausländischen Arbeitskräfte häufig Arbeitsplätze übernehmen mussten, „deren Lohn- und vor allem Arbeitsbedingungen einheimische Arbeitskräfte bei wachsenden Alternativangeboten nicht mehr akzeptierten“110. Sie übten also Tätigkeiten aus, die dem Wunsch des deutschen „Wohlstandsbürgers“ nach Selbstverwirklichung nicht entsprachen und die „zu schmutzig“ waren, um für ihn von Interesse zu sein: „Die Gastarbeiter verrichten einen Großteil der unqualifizierten, ungelernten und angelernten Arbeit in der Volkswirtschaft der Bundesrepublik (Qualifikationsdimension); diese Arbeit ist körperlich und/oder nervlich besonders belastend, schmutzig und unfallgefährdet (Tätigkeitsdimension); die Gastarbeiter sind zu fast 80% Produktionsarbeiter (betriebliche Bereichsdimension), die vor allem in Großbetrieben arbeiten; die Arbeit, die sie verrichten, ist äußerst unbeliebt und besitzt einen geringen Prestigewert (Prestigedimension)“111.
Diese Teilung konnte u.a. darauf aufbauen, dass es ungefähr seit 1960 Tendenzen zur Bildung eines doppelten Arbeitsmarktes gab: einem Arbeitsmarkt für qualifizierte Fachkräfte, der überwiegend den Einheimischen vorbehalten war, und einem für gering qualifizierte Kräfte, der überwiegend den Arbeitsmigranten zufiel. Allerdings
107
Bade 1983:68. Vgl. auch Münz et al. 1999, insbesondere S. 60-75
108
Vgl. Bade 1983:76
109
Vgl. Santel 2007:11
110
Bade 1983:76
111
Vgl. Bade 1983:76f. Die Pufferfunktion der Gastarbeiter kann man u.a. daran erkennen, dass Alternativen zur "Abschiebung" in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs offensichtlich gar nicht erst entwickelt wurden.
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fiel diese Teilung politisch kaum ins Gewicht, weil sie in den Zeiten der Vollbeschäftigung überwiegend Vorteile für die Beteiligten barg. Aus heutiger Sicht entspricht die ursprünglich als Gastarbeiter bezeichnete Arbeitskraft eher dem transnationalen Arbeitswanderer112, dem es in der Regel wirklich um ein befristetes Arbeitsverhältnis im Ausland ging, „um mit Hilfe dort unter besseren Lohnbedingungen gemachter Ersparnisse die herkömmliche Existenzgrundlage im Herkunftsland zu verbessern (…). Es handelt sich dabei also um einen ökonomisch-spekulativ begründeten Entschluß zur Arbeitnahme auf Zeit mit fester Rückkehrabsicht, die realisiert wird, wenn das angesparte Kapital zum Aufbau der erstrebten - (…) - Existenzgrundlage ausreicht“113.
Zieht man dabei in Betracht, dass zumindest die meisten Gastarbeiter der ersten Periode nur nach Deutschland gekommen sind, um das hier angesparte Geld in den heimatlichen Existenzbereich zu investieren, dann trug bereits die im Heimatland (ebenfalls) schlechte soziale Lage dazu bei, sie länger in Deutschland zu halten, als sie selbst ursprünglich beabsichtigt hatten. Zu Beginn ihres Aufenthaltes wollten die meisten Gastarbeiter nicht länger als ein bis vier Jahre in der BRD arbeiten und dann als "ökonomisch erneuerter Mensch"114 in die Heimat zurückzukehren. Die objektive wirtschaftliche Grundlage zerstörte diese Hoffnungen jedoch in der Regel, und das Bewusstsein "der Schwierigkeiten bei der Realisierung der vorgestellten Existenzweise muss (...) zu einer Abschwächung der Bindung an die Herkunftsgesellschaft"115 geführt haben. Wanderungsbewegungen 1973 - 1989 Mit dem Anwerbestop von 1973-1979 wurde dann deutlich, dass das Bedürfnis, Gastarbeiter dauerhaft in Deutschland zu integrieren, weit hinter dem Bedürfnis zurückstand, sie hier in der Funktion eines - im Hinblick auf das internationale Marktgeschehen wichtigen - „Konjunkturpuffers“ und in der ebenfalls wichtigen Funktion des „Konjunkturhebels“ zu halten. Pufferfunktion bedeutete dabei, dass es vor allen Dingen die zugewanderten Arbeitskräfte waren, die kurzfristig auf die konjunkturzyklisch bedingten Abschwünge des Arbeitsmarktes reagieren mussten und als erste von den Arbeitsmärkten ausgegrenzt wurden. Und Hebelfunktion bedeutete, dass sie bei Arbeitsmarktbelebungen erst als letzte Reserve berücksichtigt wurden: „’Puffer’ in der Krise, ‚Hebel’ im Aufschwung, dies sind die wichtigsten Funktionen der Ausländerbeschäftigung im Konjunkturzyklus“116.
112
Vgl. Bade 1983:85
113
Bade 1983:85f.
114
Heckmann 1981:245
115
Heckmann 1981:247
116
Heckmann 1981:165
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Etwa zeitgleich mit dem Anwerbestop von 1973 bis 1979 wurde der Zuzug der Ehegatten und Kinder der bereits hier lebenden Migranten erleichtert117. Zusammen mit dem Familienzuzug verstärkte der Anwerbestop die Konkurrenz zwischen den aufgrund der Rezession arbeitslos gewordenen Gastarbeitern. Er führte zur lohnsatzdrückenden Konkurrenz zwischen den Gastarbeitern aus EU-Staaten und den Gastarbeitern aus Nicht-EU-Staaten einerseits und zur verstärkten Konkurrenz gegenüber den gering bis gar nicht qualifizierten deutschen Arbeitern andererseits, und er verhinderte dort ein Ansteigen der Löhne, da die ausländischen Arbeiter „die Knappheiten auf den Teilarbeitsmärkten für ungelernte und angelernte Arbeit“118 ausfüllten119. Die qualifizierten deutschen Arbeiter dagegen blieben von dieser Entwicklung relativ unberührt, weil sie überwiegend den seit 1960 sukzessive entstandenen Arbeitsmarkt für qualifizierte Arbeit nutzten (s.o.)120. Viele Arbeitsmigranten versuchten trotz dieser schwierigen Umstände in Deutschland zu bleiben, da ihnen - erst einmal ausgereist - die Rückkehrmöglichkeit verbaut war121. 1983 wurde deshalb das Rückkehrhilfegesetz (RückHG) zur befristeten Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern verabschiedet. Und tatsächlich konnte es viele arbeitslose bzw. kurzarbeitende Ausländer zum Verlassen des Landes animieren. Rund 300.000 zumeist türkische Bürger reisten in ihr Herkunftsland zurück. Aber da die Beschäftigungschancen dort dauerhaft schlecht blieben, nahm die Rückkehrbereitschaft nach dem Ende des Programms 1985 wieder ab, und von 1985 (7,3% = 4.482 Mio.) bis 1987 (7,0% = 4.286 Mio.) blieb die Zahl der hier lebenden Ausländer relativ konstant. 117
Vgl. AuslG § 17: Familiennachzug zu Ausländern
118
Heckmann 1981:168
119
Die lohndrückende Konkurrenz hielt sich nicht zuletzt deswegen in Grenzen, weil die Gewerkschaften bereits zu Beginn der Anwerbeverhandlungen die weitestgehende sozial, tarif- und arbeitsrechtliche Gleichstellung aller Beschäftigten durchgesetzt hatten. Vgl. Santel 2007:12
120
Die mit der Familienzusammenführung massiv auftretenden, unerwarteten Integrationsprobleme und die mangelhafte Bildung der zugereisten Kinder erzwang die sogenannte „Konsolidierung der Ausländerpolitik“, die mit ersten Programmen zur schulischen Integration und mit Programmen für Förder- oder Ausländerklassen verbunden war. Gleichwohl blieb die Ausländerpolitik insgesamt restriktiv: 1975 erließ der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung die sogenannte Zuzugsperre für Stadtteile mit mehr als 12% Ausländeranteil. Betroffen waren u.a. Köln, Frankfurt am Main, Hannover, München und Berlin (West). Die Zuzugsperre wurde 1977 wieder aufgehoben. Vgl. auch Santel 2007:24f.: “Von der Einwanderung Hochqualifizierter profitieren sowohl die einheimischen Hoch- als auch die einheimischen Geringqualifizierten. Dieser Effekt zeigte sich deutlich bei der »Green Card“, dem Programm zur Anwerbung von lT-Spezialisten, das zusätzliche Arbeitsplätze für ansässiges Fachpersonal geschaffen hat. Von der Einwanderung Geringqualifizierter profitieren vorwiegend die einheimischen Hochqualifizierten. Für die ansässigen Geringqualifizierten kann sich hingegen der Wettbewerb um Stellen verschärfen und der Druck auf die Löhne erhöhen.“
121
Münz et al. 1999:76. Vgl. darüber hinaus Kraft 2000:348
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Wanderungsbewegungen seit 1989 Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und dem Ende der OstWest-Konfrontation stand die deutsche Wirtschaft vor einer neuen Herausforderung. Ab 1989 gab es neue Zuwanderungsbewegungen, vor allem immigrierten Flüchtlinge und Asylsuchende aus den Krisengebieten des Balkans und Spätaussiedler aus Polen, Rumänien und dem Gebiet der GUS-Staaten nach Deutschland. Hand in Hand damit gab es eine zunehmende Zahl von Menschen, die zwischen den Staaten pendelten oder illegal zuzogen. Die Anzahl der Asylbewerber stieg u.a. wegen des Bürgerkrieges in Jugoslawien drastisch an122. Aber auch der weitere Zustrom ehemaliger deutschstämmiger osteuropäischer Aussiedler bewirkte eine enorme Veränderung der Bevölkerung zwischen 1989 (5,007 Mio. Migranten = 8,0%) und 1996 (7,492 Mio. Migranten = 9,2%)123. Um die Arbeitsmarktsituation im Griff behalten zu können, wurde ab 1993 als Begrenzungsmaßnahme die Einwanderungszahl der Aussiedler auf 200.000 bis 240.000 beschlossen. Da im Zusammenhang der beginnenden Wirtschaftskrise der Bedarf an Arbeitskräften zurückging, entstand mit den auf den Markt drängenden Zuwanderern ein zusätzliches, nicht benötigtes Volumen an Arbeitskräften. Die Arbeitslosigkeit von inländischen und ausländischen Arbeitnehmern nahm zu. Die Segmentierung des Arbeitsmarktes - die übrigens Ende der 1960er in ähnlicher Form in den USA auftrat -, verstärkte den Bedarf an neuen Konzepten zur Regulierung des Arbeitsmarktes. Die sich abzeichnenden sozialen Spannungen, die sich in Form verstärkter Fremdenangst äußerten, führten zur Diskussion darüber, wie ausländische Mitbürger und Arbeitnehmer besser integriert werden konnten, um eine weitere Segregation zu verhindern. Allerdings wurde diese Diskussion hoch emotional und wenig sachlich geführt, und es kam häufig zu einer Vermischung von Gastarbeiterfrage und Asylantenfrage: so hat "vor allem die - von den ‚Wirtschaftsasylanten’ abgesehen - sachlich verfehlte Verquickung der ‚Gastarbeiterfrage’ mit dem grundverschiedenen, aber gleichermaßen unbewältigten ‚Asylantenproblem’ zu einer bedrohlichen Emotionalisierung der ‚Ausländerdiskussion’ beigetragen. Der Mißbrauch des Asylrechts durch jene ‚Wirtschaftsasylanten’, die während eines jahrelangen und zumeist mit ihrer Abschiebung endenden Anerkennungsverfahrens ohne Arbeitserlaubnis in Sammellagern, Hotels, und Sozialwohnungen von öffentlichen Geldern leben, strapaziert einerseits die öffentliche Toleranz und Aufnahmebereitschaft gegenüber echten politischen Flüchtlingen und verschärft andererseits in der Aufnahmegesellschaft die Brisanz des immer undifferen-
122
Vgl. Kraft 2000:348. Das neue Asylverfahrensgesetz beinhaltete u.a. die Kürzung der Sozialhilfe für Asylbewerber. In der Folge wurde die Asylpolitik neu ausgerichtet, unter anderem mit dem Ziel, Arbeitsplätze für die deutschen Arbeitnehmer zu garantieren. Von nun an wurden den Asylbewerbern nur noch solche Arbeitsplätze angeboten, für die sich weder Deutsche noch EU-Bürger beworben hatten.
123
Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2008:4
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139
zierter diskutierten ‚Ausländerproblems’ auf Kosten einer problemgerechten Diskussion der ‚Gastarbeiterfrage’“124.
Eine erfolgversprechende Integration von Migranten schien nur bei gleichzeitiger Überwindung der strukturellen Integrationsbarrieren möglich. Die Bewältigung der mit der hohen Zahl der Asylbewerber verbundenen Probleme drängte sich in den Vordergrund, und 1993 wurde das Grundrecht auf politisches Asyl schließlich durch das "Flughafenverfahren"125, durch die "Drittstaatenregelung"126 und durch das "Asylverfahrensgesetz"127 stark eingeschränkt128. 4.2.2. Vom Gastarbeiterland zum Einwanderungsland Soziodemographische Daten zur Bevölkerung Deutschlands 2008 In Auswertung der Daten des Mikrozensus 2008 soll das folgende Kapitel einen Überblick zur aktuellen sozialen Lage der Migranten129 in Deutschland vermitteln130.
124
Bade 1983:110f.
125
Mit dem - ebenfalls höchst umstrittenen - sogenannten Flughafenverfahren soll die Rückführung abgelehnter Asyl-Antragsteller in das Herkunftsland vereinfacht werden. Als unbegründet eingestufte Asylanträge werden beschleunigt bearbeitet und die betroffenen Personen werden für die Dauer des Verfahrens auf dem Flughafengelände untergebracht, das sie nicht verlassen dürfen. Eine Einreise nach Deutschland wird ihnen erst ermöglicht, wenn das Asylverfahren einschließlich des gerichtlichen Eilverfahrens mehr als 19 Tage in Anspruch nimmt, oder wenn sie als Asylbewerber anerkannt wurden.
126
Die Drittstaatenregelung (Artikel 16a Grundgesetz) wurde 1993 angesichts von mehr als 400.000 Asylbewerbern pro Jahr eingeführt. Sie unterbindet die Möglichkeit der Einreise von Asylsuchenden über Staaten, in denen keine politische Verfolgung stattfindet. Die Drittstaatenregelung war Ergebnis des 1992 (unter Bundeskanzler Helmut Kohl) zwischen CDU, CSU, FDP und SPD ausgehandelten, höchst umstrittenen "Asylkompromiss".
127
Das Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) von 1993 regelte das Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist ebenfalls höchst umstritten und konkretisiert das Recht auf Asyl nach Art. 16a GG. In der Folge dieses Gesetzes und mit dem Ende des Jugoslawienkrieges ging die Zuwanderung von Asylbewerbern von über 400.000 im Jahr 1992 auf ca. 115.000 im Jahr 1996 zurück. Vgl. Christian Pfeiffer o.Jg:41f.
128
Zusammen mit dem "Asylbewerberleistungsgesetz" (AsylbLG) von 1993, das Höhe und Form der Leistungen für unterstützungsbedürftige Asylbewerber regelt, bilden beide Gesetze bis heute die Grundlage des Asylrechts in Deutschland.
129
Im Statistischen Jahrbuch 2008 ist der Begriff Migrant folgendermaßen definiert: " Bei den Personen mit Migrationshintergrund handelt es sich um solche, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. Dies bedeutet, dass in Deutschland geborene Deutsche einen Migrationshintergrund haben können, sei es als Kinder von Spätaussiedlern, als Kinder ausländischer Elternpaare (so genannte »ius soli-Kinder«) oder
140
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2008 lebten bei einer Gesamtbevölkerung von 82.135 Mio. 15.566 Mio. (18,9%) Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Davon waren 8.296 Mio. (10,1%) Deutsche mit Migrationshintergrund und 7.270 (8,8%) Ausländer mit Migrationshintergrund. Aus der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund hatten nur 63% einen Schulabschluss (Deutsche mit Migrationshintergrund: 59,0%; Ausländer mit Migrationshintergrund: 67,2%). Deutsche im engeren Sinn: 84%. Bei einem Bevölkerungsanteil von 18,9% besteht die Gruppe der Personen ohne Schulabschluss zu 61,2% aus Personen mit Migrationshintergrund. (Deutsche mit Migrationshintergrund: 17,2%; Ausländer mit Migrationshintergrund: 44,0%). Nur 40,2% der Menschen mit Migrationshintergrund hatten einen Berufsabschluss (Deutsche mit Migrationshintergrund: 39,8%; Ausländer mit Migrationshintergrund: 40,7). Deutsche im engeren Sinn: 67,4%. Bei einem Bevölkerungsanteil von 18,9% besteht die Gruppe der Personen ohne Berufsabschluss damit zu 30% aus Personen mit Migrationshintergrund. (Deutsche mit Migrationshintergrund: 16,1%; Ausländer mit Migrationshintergrund: 13,9%). 45% der Deutsche im engeren Sinn haben eine Lehre, 6,7% einen Meisterabschluss, 4,6% einen Fachhochschulabschluss und 7,1% einen Universitätsabschluss. Von den Personen mit Migrationshintergrund haben nur 25,1% eine Lehre, 2,7% einen Meisterabschluss, 2,8% einen Fachhochschulabschluss und 6,6% einen Universitätsabschluss. In der Gruppe der im engeren Sinne deutschen Männern unter 25 Jahren sind 20,8% berufstätig (Frauen: 18,8%). In der Gruppe der Männer unter 25 Jahren mit Migrationshintergrund sind nur 13,7% berufstätig (Frauen: 10,3%).
als Deutsche mit einseitigem Migrationshintergrund. Dieser Migrationshintergrund leitet sich dann ausschließlich aus den Eigenschaften der Eltern ab. Die Betroffenen können diesen Migrationshintergrund aber nicht an ihre Nachkommen »vererben«. Dies ist dagegen bei den Zugewanderten und den in Deutschland geborenen Ausländer/-innen der Fall. Nach den heutigen ausländerrechtlichen Vorschriften umfasst diese Definition somit üblicherweise Angehörige der 1. bis 3. Migrantengeneration. Bei den Personen mit Migrationshintergrund ist zu unterscheiden zwischen Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinne (Zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer/-innen) und solchen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinne. Diese Unterscheidung ist erforderlich, da nur für die Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinne für jedes Berichtsjahr Daten vorliegen werden, während bei der anderen Personengruppe ein Nachweis nur im Vierjahresrhythmus möglich ist. Dies hängt damit zusammen, dass nur alle vier Jahre Fragen zu den in Deutschland geborenen Deutschen erhoben werden, deren Migrationshintergrund aus Eigenschaften der Eltern resultiert, sofern die Betroffenen nicht mit ihren Eltern in einem Haushalt zusammenleben." (Statistisches Bundesamt 2008b:31). 130
Alle Zahlen sind gerundet. Die Ergebniswerte der Tabellen entstammen eigenen Berechnungen auf der Grundlage des Mikrozensus 2008, veröffentlicht in: Statistisches Bundesamt 2010.
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141
Die Gesamtbevölkerung Deutschlands bestand 2008 aus 51% (41.875 Mio.) Erwerbspersonen und 49% (40.260 Mio.) Nichterwerbspersonen. Von den Erwerbspersonen waren 7,5% erwerbslos. Von den Personen mit Migrationshintergrund waren 12,4% erwerbslos (Deutsche mit Migrationshintergrund: 10,3%; Ausländer mit Migrationshintergrund: 14,3%). In der Gruppe der Deutschen ohne Migrationshintergrund (Deutsche im engeren Sinn) waren 10,9% selbständig tätig, 6,4% Beamte, 58,3% Angestellte und 24,3% Arbeiter. In der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund waren 9,5% selbständig, 1,1% Beamte, 45,9% Angestellte und 33,6% Arbeiter. (Deutsche mit Migrationshintergrund: 7,3% selbständig, 1,7% Beamte, 47,2% Angestellte, 43,8% Arbeiter; Ausländer mit Migrationshintergrund: 11,7% selbständig, 0,5% Beamte, 44,6% Angestellte, 43,2% Arbeiter). In 6,6% der im engeren Sinn deutschen Haushalte verfügt über ein Haushaltsnettoeinkommen von 4.500 und mehr Euro. In der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund verfügen nur 3,8% über ein solches Einkommen. (Deutsche mit Migrationshintergrund: 4%; Ausländer mit Migrationshintergrund: 3,7%). Die oben ausgewählten Daten des Mikrozensus’ 2008 zeigen, dass der Großteil der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nach wie vor eher unqualifizierte, ungelernte und angelernte Tätigkeiten verrichtet, und dass es innerhalb der Gruppe der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe zwischen den „Inländern“ und den „Ausländern“ nach wie vor ein hierarchisches, am sozialen Prestigewert der verrichteten Arbeit festgemachtes Verhältnis gibt. Im Verhältnis zur Epoche der "Gastarbeiter" (Wanderungsbewegungen seit 1949 und Wanderungsbewegungen seit 1973) hat sich hier nicht allzu viel geändert: Migranten insgesamt haben weniger Schulabschlüsse, weniger Berufsabschlüsse und schlechtere Berufsabschlüsse, sie sind häufiger erwerbslos, verrichten körperlich schwerere Arbeiten und haben geringere Haushaltsnettoeinkommen. Menschen mit Migrationshintergrund empfangen zu 8,1% Hartz IV (Männer: 8,3%, Frauen: 7,8%) und zu 1,1% laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, Menschen ohne Migrationshintergrund empfangen zu 3,5% (Männer: 3,7%, Frauen: 3,3%) Hartz IV und zu 0,5% laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Frauen aus der Gruppe der Migranten sind nur zu 29,4% erwerbstätig, Frauen aus der Gruppe der Nicht-Migranten zu 37,2%131. Im "Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund sind die Voraussetzungen für eine gleiche Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt (...) häufig nicht ausreichend gegeben, wobei beachtet werden muss, dass die Gruppe mit Migrationshintergrund äußerst heterogen ist“132.
131
Vgl. Statistisches Bundesamt 2010:220f.
132
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2008:33f.
142
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Auch lässt sich eine Aussage über einen gewissen Zuwachs des Qualifikationsniveaus der zugewanderten Bevölkerungsgruppen machen. Eine Untersuchung zum Qualifikationsanstieg unter Ausländern im Zeitraum von 1975 bis 1990 anhand der IAB-Beschäftigtenstichproben133 führt diesen aber nicht auf die zunehmende Integration der Ausländer der zweiten Generation in das deutsche Erwerbsleben zurück, sondern auf das Ausscheiden unterdurchschnittlich qualifizierter Ausländer der ersten Generation und unterdurchschnittlich qualifizierter Migranten aus dem deutschen Arbeitsmarkt einerseits und auf die verstärkte Zuwanderung höherqualifizierter Ausländer nach Deutschland andererseits: der "Eintritt der Ausländer der zweiten Generation in den deutschen Arbeitsmarkt bewirkte keinen Qualifikationsanstieg, sondern sogar eine Qualifikationsminderung“134. Die bisherige Zeitspanne reichte offensichtlich nicht aus, damit die in Deutschland geborene Ausländergeneration das Qualifikationsniveau der deutschen Bevölkerung erreichen und einen Schritt in Richtung der Angleichung des Sozialstatus tun konnte. Geht man davon aus, dass das Einkommen nach wie vor die wesentlichste Determinante der sozialen Lage einer Bevölkerungsgruppe ist, dann zeigt der Mikrozensus, dass die Migranten sich im Durchschnitt in einer schlechteren sozialen Lage befinden als die Nicht-Migranten. 4.2.3. Änderungen der deutschen Gesetzgebung Das Ausländergesetz Behördlicherseits unterscheidet man in der Gruppe der Ausländer zwischen Einwanderern und Zuwanderern. Ein Einwanderer nimmt die deutsche Staatsangehörigkeit an und ist rechtlich gesehen kein Ausländer mehr. Im Unterschied dazu erfordert Zuwanderung nicht die automatische Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit. Der Zuwanderer bleibt rechtlich Ausländer. Bürger aus anderen EU-Staaten wandern gewöhnlich nicht nach Deutschland ein, denn sie behalten meist ihre eigene Staatsangehörigkeit. Bis zu seiner Abschaffung 2004 befand das 1965 in Kraft getretene und 1990 ergänzte "Ausländergesetz" (AuslG) in Deutschland über den Status und den Erlaubnisrahmen von Ausländern. In einem einfachen Umkehrschluss wurde dabei jeder, "der
133
Vgl. Wolter 1996. Die IAB-Beschäftigtenstichprobe (IABS) erfasst erwerbsbiographische Angaben für ein (neuerdings zwei) Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und stützt sich dabei auf die seit 1973 geführte Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit, die Angaben aus dem integrierten Meldeverfahren zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung umfasst, und reichert dieses Material durch regionales Mikrodatenmaterial an. Beschreibungen der IAB-Beschäftigtenstichprobe und weiterführende Literatur finden sich z.B. in Bender et al. 1996
134
Wolter 1996:628
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143
nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist"135 zum Ausländer erklärt. Ausländer, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhielten, brauchten eine "Aufenthaltsbefugnis"136. Zur Arbeitsaufnahme brauchten sie eine "Aufenthaltsgenehmigung": "Ausländern, die sich länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten wollen, um darin eine unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben, wird eine Aufenthaltsgenehmigung (...) erteilt"137. Allerdings nur nach Maßgabe der Bundesrepublik. Sie konnte auf "bestimmte Berufe, Beschäftigungen und bestimmte Gruppen von Ausländern"138 beschränkt, für das ganze Bundesgebiet erteilt oder räumlich beschränkt139, entweder befristet oder unbefristet140 ausgesprochen und an bestimmte, restriktive Bedingungen geknüpft werden141. Ausländer, die ihren Aufenthalt nicht mit einem "bestimmten Aufenthaltszweck"142 (zum Beispiel mit der Ausübung einer nichtselbständigen Tätigkeit) verbanden und Familienangehörige (sofern sie nicht selbst im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung waren) konnten eine "Aufenthaltserlaubnis" bekommen, Familienangehörige "zum Zwecke des nach Artikel 6 des Grundgesetzes gebotenen Schutzes von Ehe und Familie (...) für die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft"143. Allerdings (mit genau definierten Ausnahmen) nur, solange der "Lebensunterhalt des Familienangehörigen aus eigener Erwerbstätigkeit des Ausländers, aus eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln gesichert ist"144. Minderjährige Kinder konnten prinzipiell145, andere Familienangehörige nur im Falle besonderer Härten146 nachziehen, und die Aufenthaltserlaubnis konnte unter bestimmten Bedingungen sowohl für den Antragsteller als auch für seinen Ehegatten und seine Kinder unbefristet verlängert werden147. 135
AuslG § 1 (2)
136
AuslG § 30
137
Vgl. AuslG § 10
138
AuslG § 10 (2)
139
Vgl. AuslG § 12 (1)
140
Vgl. AuslG § 12 (2)
141
Vgl. AuslG § 14
142
AuslG § 15
143
Vgl. AuslG § 17 (1)
144
Vgl. AuslG § 17 (2)
145
Vgl. AuslG § 20
146
AuslG § 22
147
Vgl. AuslG § 24: (1) Die Aufenthaltserlaubnis ist unbefristet zu verlängern, wenn der Ausländer 1. die Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren besitzt, 2. eine Arbeitsberechtigung besitzt, sofern er Arbeitnehmer ist, 3. im Besitz der sonstigen für eine dauernde Ausübung seiner Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse ist, 4. sich auf einfache Art in deutscher Sprache
144
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War der Ausländer schließlich länger als acht Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder länger als drei Jahre im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, musste ihm die "unbefristete Aufenthaltsberechtigung" erteilt werden, ebenso wie seiner Familie148. Das Zuwanderungsgesetz und das Aufenthaltsgesetz Im Zusammenhang der globalen Migrationsbewegungen und im Zusammenhang der Vereinheitlichung der Europäischen Gesetzgebung149 löste das Zuwanderungsgesetz150 das Ausländergesetz von 1990 schließlich ab und regelte wesentliche Teile des deutschen Ausländerrechts neu. Das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist Hauptbestandteil des Zuwanderungsgesetzes (Artikel 1)151. Es ist seit dem 1. Januar 2005 in Kraft mündlich verständigen kann, 5. über ausreichenden Wohnraum (§ 17 Abs. 4) für sich und seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen verfügt, und wenn 6. kein Ausweisungsgrund vorliegt. (2) Ist der Ausländer nicht erwerbstätig, wird die Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des Absatzes 1 nur verlängert, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers 1. aus eigenem Vermögen oder aus sonstigen eigenen Mitteln oder 2. durch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder noch für sechs Monate durch einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe gesichert ist. 148
AuslG § 27 und § 27a
149
Auf der Ebene des europäischen Rechts werden im EG-Vertrag von 1997, Artikel 13, Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung verboten. Inzwischen hat sich sogar die UNESCO dem Thema „Diversity“ zugewandt. Auf der 31. Jahreskonferenz am 2. November 2001 in Paris hat sie in einer allgemeinen Erklärung die Verteidigung der kulturellen Vielfalt als einen ethischen Imperativ festgeschrieben, der untrennbar mit der Achtung der Menschenwürde verknüpft ist und Leitlinien für einen Aktionsplan zur Umsetzung dieser Erklärung erstellt.
150
Genau: Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern. Es wurde am 5. August 2004 verkündet (BGBl. I S. 1950) und ist am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.
151
Unter Artikel 2 ist das Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) verortet, das den Aufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen neu regelt. Im Zuwanderungsgesetz wurde der von Bundesinnenminister Otto Schily 2003 per Verordnung eingerichtete "Sachverständigenrat Zuwanderung und Integration" leider nicht verankert, ebenso wenig wie das "Punktesystem", nach dem besonders qualifizierte Zuwanderer auch ohne feste Aussicht auf eine Arbeitsstelle nach Deutschland hätten übersiedeln dürfen. "Da Zuwanderung damit nach Qualifikation und unabhängig von der Arbeitsmarktlage möglich sein sollte, wären qualifizierte Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt praktisch mit der hier lebenden Bevölkerung gleichgestellt worden. Ein solches Punktesystem hätte Behördenentscheidungen objektiviert und vorhandene Ermessensspielräume verringert, welche in der Vergangenheit dadurch entstanden, dass einzelne Arbeitsämter jeweils das öffentliche Interesse an der Beschäftigung eines ausländischen Arbeitnehmers sehr unterschiedlich ausgelegt und definiert haben. Die Einführung des Punktesystems ist von der damaligen Opposition mit dem Argument der hohen Arbeitslosenquote und einer Erhöhung der Arbeitsplatzkonkurrenz abgelehnt worden." (http://www.migration-
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und enthält die wesentlichen gesetzlichen Grundlagen über die Ein- und Ausreise und den Aufenthalt von EU-Ausländern und Nicht-EU-Ausländern in Deutschland. Nicht zuletzt vor dem europäischen und internationalen Hintergrund spielt die Minimierung von Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung ethnischer Minderheitengruppen eine zunehmende Rolle in der Außendarstellung und Innendarstellung der Bundesrepublik Deutschland, und es wird notwendig, zentrale Gesetzgebungen zu erneuern. Das Zuwanderungsgesetz soll den Migranten hier vor allen Dingen eine perspektivisch sichere Lebensplanung ermöglichen. Und obgleich es - ähnlich dem alten Ausländergesetz - die restriktive Steuerung der Migranten bevorzugt, hebt es die Ermessensfreiheit der Verwaltungen auf und ersetzt sie durch bundeseinheitlich geregelte Rechtsansprüche zum Beispiel beim Familiennachzug, indem es eigene Aufenthaltsrechte für Familienangehörige schafft, eine Wiederkehroption einführt und Einbürgerung spürbar erleichtert. Mit dem Aufenthaltsgesetz wird erstmals ein rechtlicher Rahmen geschaffen, durch den die Zuwanderung im Ganzen gesteuert werden kann. Es enthält Maßnahmen zur Integration und zur rechtlichen Absicherung der dauerhaft in Deutschland ansässigen Migranten und eine deutliche Vereinfachung des bisherigen Aufenthaltsrechts: die bisherigen vier Arten von Aufenthaltsgenehmigungen werden zugunsten von zwei „Aufenthaltstiteln“ abgeschafft: "Aufenthaltserlaubnis"152 und "Niederlassungserlaubnis"153. Die Aufenthaltserlaubnis wird stets befristet und stets in Abhängigkeit online.de/faq_full._aWQ9OA_.html). Siehe zum Punktesystem auch den am 04. Juli 2001 veröffentlichten Bericht „Zuwanderung gestalten - Integration fördern". Darin wird empfohlen, keine Steuerung der Gesamtzuwanderung über Quoten und Kontingente anzustreben, aber den Zuzug von Arbeitsmigranten, Auszubildenden und Hochqualifizierten über Zielgrössen zu steuern. Die Obergrenze für dauerhafte Zuwanderung nach dem Punktesystem sollte im ersten Jahr bei 20.000 Personen zuzüglich der Familienangehörigen liegen. Für eine „positive Integrationsprognose" sollten die Bewerber eine bestimmte Mindestpunktzahl vorweisen, wobei Alter, Qualifikation und Sprachkenntnisse die wesentlichen Kriterien zur Punktvergabe waren. Antragsvoraussetzungen waren ein Höchstalter von 45 Jahren, gute Gesundheit, „guter Leumund" und ausreichende finanzielle Mittel für die Anfangszeit des Aufenthaltes in Deutschland. Vgl. auch Bundesministerium des Innern 2001:5-7 152
Vgl. § 7 des Zuwanderungsgesetzes: (1) Die Aufenthaltserlaubnis ist ein befristeter Aufenthaltstitel. Sie wird zu den in den nachfolgenden Abschnitten genannten Aufenthaltszwecken erteilt. In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden. (2) Die Aufenthaltserlaubnis ist unter Berücksichtigung des beabsichtigten Aufenthaltszwecks zu befristen. Ist eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer wesentliche Voraussetzung entfallen, so kann die Frist auch nachträglich verkürzt werden.
153
Vgl. § 9 des Zuwanderungsgesetzes: (1) Die Niederlassungserlaubnis ist ein unbefristeter Aufenthaltstitel. Sie berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit und kann nur in den durch dieses Gesetz ausdrücklich zugelassenen Fällen mit einer Nebenbestimmung versehen werden. (2) Einem Ausländer ist die Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn (es folgt eine Reihe genauer Bedingungen).
146
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von einem Aufenthaltszweck erteilt. Die Niederlassungserlaubnis wird stets unbefristet und stets unabhängig von einem Zweck des Aufenthalts erteilt. Zusätzlich verlangt das Gesetz u.a. den Nachweis von Kenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland als Einbürgerungsvoraussetzung und sieht zum Teil verpflichtende Besuche von Integrationskursen vor154. Anders als im alten Ausländergesetz wird die Arbeitserlaubnis jetzt von der Ausländerbehörde, allerdings unter Beteiligung der Agentur für Arbeit, erteilt. 4.2.4. Vorannahmen zur sozialen Lage von Migranten Zum Aufenthalts- und Einwanderungsprozess Selbstverständnisse der einheimischen Bevölkerungsgruppen leiten sich vor allen Dingen aus der sozialen Lage, d.h. aus der Stellung im Produktionsprozess und aus der Art und Höhe ihres Einkommens ab. Sie sind also relativ eindimensional begründet. Selbstverständnisse von zugewanderten Bevölkerungsgruppen dagegen sind häufig mehrdimensional begründet, da sie sich nur zum (eher kleinen?) Teil aus der wirtschaftlichen Stellung im Einwanderungsland ergeben, zum (eher großen?) Teil aber aus der (aufgegebenen) Stellung im Produktionsprozess des Herkunftslandes und aus dem Charakter der Beziehungen, die zum Herkunftsland aufrecht erhalten werden. Diese Mehrdimensionalität wirkt sich jedoch kaum als Stärke aus, sondern führt zusammen mit der häufig ausgeprägt unsicheren sozialen Lage zu einer verstärkten Abhängigkeit von kurzfristig auftretenden Veränderungen der soziopolitischen Umwelt155. Im obigen Sinne hängt die soziale Stellung einer Gruppe eng mit ihrer ökonomischen Stellung und mit der Art der sozialen Beziehungen zusammen, die dort üblich sind. Innerhalb eines Betriebes z.B. bestimmt sie sich durch ihre Stellung in der Hierarchie der Gruppen und durch die damit verbundenen Möglichkeiten der sozialen Anerkennung; außerhalb des Betriebes durch die vorhandenen Möglichkeiten der sozialen
154
Vgl. § 43: Integrationskurs, § 44: Berechtigung zur Teilnahme an einem Integrationskurs, § 44a: Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs und § 45: Integrationsprogramm. Diese Paragraphen hatten keine Entsprechung im alten Ausländergesetz. Das im Zuwanderungsgesetz sieht ein Integrationsstufenmodell der „Erstintegration von Neuzuwanderern“ und der "nachholenden Integration" von Bestandsausländern vor. Es bleibt aber generell fraglich, ob Integration durch den Staat überhaupt steuerbar ist, und es bleibt fraglich, welches Integrationsverständnis hier überhaupt zugrunde liegt.
155
Vgl. Heckmann 1981:143. Im Zusammenhang seiner Untersuchung zur Stellung und Lage der Zuwanderer in Deutschland hat Heckmann einen Sozialstrukturbegriff entwickelt, der sich vom herkömmlichen Sozialstrukturbegriff unterscheidet und insbesondere den situationsgebundenen Druck der Zuwanderer berücksichtigt.
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Kontaktaufnahme und durch die vorhandenen Möglichkeiten der Mitgestaltung von zentralen politischen Prozessen156. Angesichts ihrer unter Umständen besseren sozialen Stellung im Herkunftsland, angesichts der dort einmal erlebten anderen Form der sozialen Anerkennung und angesichts der Prestigeverpflichtungen, die mit den bestehenden Kontakten in die Herkunftsländer verbunden sind, befinden sich die meisten Migranten in keiner akzeptablen, sondern nach wie vor in einer höchst unsicheren sozialen Stellung157. Nach Heckmann wird die soziale Lage von Einwanderern über das Einkommen hinaus durch die soziale Sicherheit in ökonomischer, sozialrechtlicher und bürgerrechtlicher Hinsicht158, durch den aufenthaltsrechtlichen Status und durch die - selbst nach dem Weggang andauernden - familiären, weltanschaulichen, juristischen und politischen Beziehungen zur Herkunftsgesellschaft bestimmt. Letztere sind häufig Grund und Vorbild für die im Einwanderungsland geschaffenen Institutionen und informellen Beziehungen, d.h. sie sind „Momente der sozialen Lage (…) die sich zwar in der Zuwanderungsgesellschaft konstituieren, aber durch Beziehungen der Herkunftsgesellschaft vor- bzw. mitbestimmt werden“159. Insbesondere letztere sind wichtig, weil sie mit dazu beitragen, dass Einwanderer sich vorzugsweise in Vierteln niederlassen, in denen bereits Landsleute ansässig sind. Nach und nach entstehen solcherart Quartiere, die zwar nicht im strengen Sinne ethnisch homogen sind, aber von bestimmten Nationalitäten dominiert werden. Es entstehen - auch in Deutschland - Einwandererkolonien, besonders in den großen Städten160. So lebten Ende 2008 in Berlin z. B. 13,9% Migranten (461.000 von 3,339
156
Vgl. Heckmann 1981:145
157
Diese prekäre Lage der Migranten spiegelt sich u.a. im Begriff „Gastarbeiter“. Heckmann erwähnt z.B., dass Dieter Mertens vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit noch 1974 so dreist war, der breiten Öffentlichkeit ein völlig entwertendes Konzept für den Umgang mit der "Ausländerfrage" vorzustellen, das fünf Möglichkeiten anbot: 1.)Wachstumsverzicht im Inland durch Produktionsverzicht der Wirtschaft oder 2.) Produktionsverlagerung ins Ausland oder 3.) Beschleunigung des Produktivitätswachstums oder 4.) Kompensation der Arbeitskräftelücke durch Verlängerung der Arbeitszeit oder 5.) Schließung der Arbeitskräftelücken aus inländischen Reserven . Unabhängig von der faktischen Realisieroder Nichtrealisierbarkeit der einzelnen Punkte stört hier vor allem die untragbare, eindeutig auf Ausgrenzung und Abschiebung ausgerichtete Position.
158
Implizit sind damit die weiter oben von mir angeführten Kriterien Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation angesprochen.
159
Vgl. Heckmann 1981:183f.
160
Aber nicht nur. Inzwischen gibt es "viele ländliche Kommunen mit z.B. starker Aussiedlerund Spätaussiedlerkonzentration". Bade 2007:2
148
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Mio.)161. Der Anteil an Migranten im Bezirk Berlin-Tiergarten (Leopoldplatz) betrug aber 40,5% (22.526 von 55.621)162. Unter einer eingeschränkten - nämlich einer zutiefst auf kulturelle Assimilation (‚Germanisierung’)163 fixierten - Vorstellung von Integration werden diese segregierten Viertel von der einheimischen Bevölkerung in der Regel negativ betrachtet. Man fürchtet die dauerhafte Nichtintegration und sieht in den Ausländerkolonien den Keim zur Bildung dauerhafter "Parallelgesellschaften"164. Zugehörigkeit hauptsächlich über „kulturelle Gemeinsamkeiten zu definieren“165 gilt als Teil eines typisch deutschen Integrationsgedankens, der die Sorge um die nicht ausreichende Systemintegration von Migranten einschließt. Aber selbst wenn man den (von der Idee der Assimilation getragenen) Wunsch nach Integration als Sorge um die Bildung monoeth161
Vgl. Amt für Statistik 2009. Zum Vergleich lag der bundesrepublikanische Durchschnitt in 2008 bei 18,9%.
162
Vgl. www.statistik-berlin.de. Santel (2007:23) behauptet, dass die sozialräumliche und ethnische Konzentration in Deutschland im internationalen Vergleich eher gering ausgeprägt ist und (im Verweis auf Häußermann et al. 1997) zudem nicht per se negativ zu bewerten ist.
163
Bade 1983:111
164
In Deutschland gibt es laut Bade bis auf wenige Ausnahmen in Berlin-Neukölln zur Zeit keine echten Parallelgesellschaften, wohl aber Tendenzen, "die man im Auge behalten muss". Interessant ist hier, dass die Mitglieder der untereinander verfeindeten Neuköllner Clans "alle die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen - die sie gegen Abschiebung schützt" (Bade 2007:6). Bade bezieht sich hier offensichtlich auf die Studie von Heitmeyer et al. 1997, in der diese die mangelhafte Integration einer Mehrheit der türkischen Jugendlichen beklagen, lehnt deren Position jedoch ab. Ganz anders beurteilt Ates (2009:16f.) das Phänomen Parallelgesellschaften: „So haben sich in Deutschland aus den Minderheitengesellschaften Parallelgesellschaften entwickelt. Ich meine damit nicht die vielen Subkulturen, die sich im Zuge der wachsenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft herausgebildet haben, (…). Ich meine damit tatsächlich eine Gesellschaft, die sich als Konkurrenz und in Abgrenzung zu unserer Mehrheitsgesellschaft gebildet hat und das erklärte Ziel verfolgt, Strukturen der Mehrheitsgesellschaft, die nicht mit der eigenen Kultur vereinbar sind, zu verändern. Die Mehrheitsgesellschaft soll sich den Traditionen und Gewohnheiten der Minderheitengesellschaft anpassen oder gar unterordnen. Wir haben es mit einer sehr starken, selbstbewussten und teilweise arroganten muslimischen (…) Gemeinschaft zu tun, die sich eine von der Mehrheitsgesellschaft unabhängige Welt mit eigener Legislative, Judikative und Exekutive geschaffen hat. Kontakt zu Urdeutschen ist in dieser Welt gar nicht mehr nötig und oft auch nicht erwünscht.“ Vgl. auch die empirische Studie zum Thema „Parallelgesellschaft“ von Halm et al. (2007:60). „Der Begriff fokussiert die Form, das ‚Wie’ des Zusammenlebens, weniger die Frage, ob die Form des Zusammenlebens (oder Getrenntlebens) mit einer sozialen, ökonomischen und kulturellen Benachteiligung der Minoritätengruppe einhergeht. Damit blendet der Begriff den Umfang der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Teilhabe aus - und damit eines der wichtigsten Elemente der Sozialintegration, das eine wichtige Voraussetzung etwa für die Interaktion und Loyalität zum Aufnahmeland ist. Eben darum ist das Vorliegen parallelgesellschaftlicher Strukturen nicht gleichbedeutend mit fehlgeschlagener Sozialintegration“.
165
Vgl. Michalowski:33
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
149
nischer Ghettos versteht, muss man berücksichtigen, dass das aktuelle Deutschland eine liberale Gesellschaft ist (oder sich zumindest als eine liberale Gesellschaft darstellt), die es den Bürgern selbst überlässt, wie sie ihr Leben gestalten. Es ist also schon von daher ausgeschlossen, den Migranten ihre Lebensweise direktiv vorzuschreiben. Integration ist schließlich ein (auch) auf der Identitätsebene angesiedelter Entwicklungs-, Lern- und Veränderungsprozess, der alle Bereiche von Gesellschaft umfasst: das soziale, politische und wirtschaftliche System166. Damit Vorurteile hier abgebaut werden können, ist es mit Bade wichtig, die richtige Balance „zwischen der nötigen Forderung nach Integrationsbereitschaft und der eigenen Bereitschaft zum Erlernen des Umgangs mit kultureller Differenz bzw. Vielfalt"167 zu finden. Integration ist ein aktiver Prozess, der Prozessbereitschaft von beiden Seiten verlangt. Das bloße Zusammenwohnen mit den Minoritäten führt keineswegs zu automatischer Integration. "Interaktions- und Beziehungsschranken seitens der einheimischen Bevölkerung gehen einher mit Abschließungstendenzen seitens der Einwanderer durch Aufbau eines eigenen soziokulturellen Systems"168. Die fortbestehenden Beziehungen zum Herkunftsland und die andauernde Einbindung in dessen Traditionen führt unter anderem zur Bildung eigener Kirchengemeinden, schulischer Einrichtungen, Geschäfte, Restaurants und Lokale und zur Niederlassung ausländischer Ärzte169, also zur Bildung nationaler Enklaven. Diese werden dann zum Anlaufpunkt neu hinzuziehender Migranten: neu hinzuziehende Migranten integrieren sich nicht in die Gesellschaft des Einwanderungslandes, sondern in die geschlossenen Einwanderergesellschaft des Einwanderungslandes, also in die bereits bestehenden eigenständigen sozi-
166
Migrationsphänomene können nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Denn auf der individuellen Ebene wird die Entscheidung zur Migration sowohl von wirtschaftlichen als auch von nicht-wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt. Neben den Unterschieden bei der Lohnhöhe und der besseren wirtschaftlichen Perspektive am Zielort spielen in der Regel die politische Stabilität, die Freiheit von Konflikten, der Schutz der Menschenrechte, die allgemeinen Arbeitsbedingungen und die Möglichkeiten des Zugangs zur Gesundheitsfürsorge und Bildung eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus ist es von Bedeutung, ob es im Einwanderungsland bereits ein Netzwerk an Landsleuten gibt, das die Neuankömmlinge unterstützen und sie über das Zielland, über die Beschäftigungsperspektiven und über die Möglichkeiten eines sicheren und dauerhaften Aufenthaltsstatus’ informieren kann. Die geografische Nähe spielt eine Rolle, vor allem für gering qualifizierte Arbeitnehmer, wenn sie ihre Reisekosten selbst tragen müssen. Und die Entscheidung wird mit davon bestimmt, ob die Familienmitglieder mitreisen dürfen, ob es Möglichkeiten gibt, die bestehenden Kontakte in das Herkunftsland weiter zu pflegen, wie hoch die Lebenshaltungskosten und die Wechselkurs-Differenzen sind, wie hoch die Steuern sind, welche Sprache gesprochen wird, und welche Vorschriften es zur Anerkennung von Qualifikationen gibt. Vgl. World Migration Report 2008:44
167
Bade 2007:8
168
Heckmann 1981:258
169
Vgl. Heckmann 1981:210
150
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
al-kulturellen Organisationen der jeweiligen Minorität und erhalten dort zumindest Teile ihrer nationalen Identität: "Der Einwanderer arbeitet zwar in der Einwanderungsgesellschaft, aber er lebt nicht in ihr; er lebt in der Einwanderergesellschaft, der Kolonie als relativ eigenständigem sozial-kulturellem und ökonomischem System der Arbeiterimmigranten innerhalb der Einwanderungsgesellschaft. Die Kolonie ist der dritte, zentrale Konstitutionspunkt des Einwandererbewusstseins, das gesellschaftliche Bewusstsein des Einwanderers ist also im Grunde sogar, paraphrasierend, das Bewusstsein dreier Gesellschaften“170.
Erfolgreiche Integration bemisst sich eben nicht nur an der Anzahl der Kontakte zwischen der einheimischen und der ausländischen Bevölkerung. Gelungene Integration zeichnet sich auch dadurch aus, "dass sie unauffällig bleibt"171, und sie bemisst sich daran, ob und welche "Sozialsysteme die ausländische Bevölkerung selbst entwickelt, um ihre Angehörigen zu integrieren“172. Gleichwohl können diese "migratorischen Netzwerke" die durch Neuzuwanderung stets neu beginnenden Integrationsprozesse nur beschränkt unterstützen, weil sie mit hohen individuellen, familiären und gruppenspezifischen Belastungen verbunden sind173. Integration braucht (staatlicherseits vorgegebene) Leitplanken und staatliche Unterstützung, und es ist damit zu rechnen, dass sich im - überhaupt nur rekursiv zu denkenden - Integrationsprozess die Einwanderergesellschaften und die Mehrheitsgesellschaft ändern müssen. Die hier beschriebene Bildung nationaler Enklaven mit eigenen Sozialsystemen widerspricht einem "Gastarbeiterstatus" der Zuwanderer. Sie ist Ausdruck eines über die Jahre hinweg gelebten Einwanderungsprozesses, der durch Zu- und Abwanderungen gekennzeichnet ist. Ende 2006 lebten 63,3% der ausländischen Bevölkerung seit mindestens zehn Jahren in Deutschland. 34,6% seit mehr als zwanzig Jahren und 21,6% seit mehr als 30 Jahren. Insbesondere Staatsangehörige aus den ehemaligen Anwerbeländern haben einen langjährigen Aufenthalt: 80,1% der Türken, 83,8% der Griechen, 84,2% der Italiener und 88,5% der Kroaten lebten im Jahr 2006 seit mindestens zehn Jahren in Deutschland. Insgesamt lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der sich in Deutschland aufhaltenden Ausländer bei 17,3 Jahren174. Deutschland ist also längst von den Auswirkungen der Globalisierung erfasst und längst ein Einwanderungsland175. Aber wie bereits der Begriff „Gastarbeiter“ vermuten ließ, ist die kulturelle Integration des Fremden in Deutschland mit besonderen 170
Heckmann 1981:231
171
Bade 2007:2
172
Heckmann 1981:218
173
Vgl. Bade 2007:3
174
Vgl. Bundeszantrale für Politische Bildung: http://www1.bpb.de/files/9J7RE8.pdf; S.10.; 30.07.2010
175
Vgl. auch Ates 2009:20; Ates betont, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland ist, aber versäumt hat, klare Rahmenbedingungen für Einwanderer zu setzen.
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
151
Problemen belastet. Obwohl man in Deutschland vielfältige Erfahrungen mit Migration hat, scheinen die meisten Menschen dem Fremden eher skeptisch gegenüber zu stehen. Nicht zuletzt deshalb leiden Einwandererminoritäten besonders unter den Auswirkungen kurzfristig auftauchender ökonomischer Krisen: nicht nur, weil sich Krisen unmittelbar auf die Qualität ihres Lebensstandards auswirken, sondern insbesondere, weil sich Krisen negativ auf die Akzeptanz der Einwanderergruppen bei der einheimischen Majoritätsbevölkerung auswirken und deshalb die relative Instabilität ihrer sozialen Lage verstärken176. Die insbesondere in den 1970er Jahren aufgeworfene Frage, ob Deutschland überhaupt Migranten brauche, hat sich inzwischen selbst beantwortet: im Westen Deutschlands "stieg die Einwohnerzahl im Zeitraum von 1950 - 1998 durch Migranten um 14 Mio., während der Osten des Landes fast 6 Mio. Einwohner verlor. Insgesamt wurden von 1945 - 2005 rund 54 Mio. Zu- und Fortzüge verzeichnet, bei denen 9 Mio. Menschen mehr in die Bundesrepublik einwanderten als auswanderten. Da dabei ein Teil der Immigranten die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat und in der amtlichen Statistik als deutsch verbucht wird, liegt die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund aber deutlich höher als die Anzahl der Ausländer von 7,3 Mio."177. Insgesamt altert die Bevölkerung der westlichen Industriestaaten relativ schnell. Insbesondere die Kinderzahl der oberen und der mittleren Schichten sinkt hier konstant. In der Folge ist die Zahl der Kinder in den entwickelten Ländern rückläufig, und es gibt bereits weniger Kinder als Personen im Alter von 60 Jahren oder mehr. Ohne internationale Migration würde die erwerbsfähige Bevölkerung in den entwickelten Ländern von ungefähr 741,0 Mio. im Jahr 2005 auf ungefähr 571,0 Mio. im Jahre 2050 zurückgehen, also um rund 23%. Mit Migration auf dem erwarteten Niveau immerhin noch um rund 10% . Die auf 25 Mitgliedstaaten erweiterte EU z.B. "registered a net gain of 1.8 million people in 2005 owing to international migration, accounting for almost 85 per cent of Europe’s total population growth"178. Akzeptanz, präventive und begleitende Integrationspolitik Die Akzeptanz der ausländischen Bevölkerung in Deutschland ist also noch längst nicht so ausgeprägt, wie sie eigentlich sein sollte. Und um hier Zeichen nach außen und nach innen zu setzen, wurde (s.o.) das alte Ausländersgesetz 2005 durch das Zuwanderungsgesetz abgelöst. Gegenüber dem alten Ausländergesetz markiert das Zuwanderungsgesetz einen großen gesellschaftlichen Fortschritt, obwohl es nach der Streichung des Punktesystems nur noch eine vorwiegend restriktive Steuerung der 176
Es gibt eine unendliche Anzahl von Beispielen, bei denen tatsächliche oder angenommene Krisen als Vorwand für Demozide (Gewalt gegen Minoritäten) herhalten mussten. Vgl. zum Thema auch Rummel 2003.
177
Statistisches Bundesamt 2008:174
178
Vgl. World Migration Report 2008:457
152
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Einwanderung erlaubt: es beendet einen jahrzehntelang erbittert geführten politischen Streit und leistet einen wichtigen Beitrag zur weiteren Entideologisierung der Debatte um Einwanderung und Integration. Es zeigt, dass Einwanderungsprozesse in Deutschland in weiten Teilen erfolgreich abgeschlossen wurden. Aber es zeigt auch, dass es zusätzlicher Anstrengungen bedarf, um den begonnenen Akzeptanzprozess weiter voranzutreiben. Mit dem Zuwanderungsgesetz soll das häufig ambivalente und unkonkrete Vorgehen im Zusammenhang mit Migrationsprozessen ein Ende finden. Aber genau zu diesem Zweck wäre es von unschätzbarem Vorteil, wenn die Aussendarstellung Deutschlands durch ein konsistentes Selbstverständnis erweitert würde und wenn Deutschland sich in den Herkunftsländern der Migranten besser positionieren würde. Ersteres würde mehr Kongruenz vermitteln, letzteres würde dazu führen, dass Deutschland seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Hochqualifizierte besser nutzen könnte179. Mit dem Haager Programm180, dem dazugehörigen „Aktionsplan“181, dem Europäischen Sozialfond182, dem Integrationsfond183 und dem „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz“184 sind aber bereits erste Schritte in Richtung auf eine langfristig ange179
Vgl. etwa Bade 2007:4. „Das Einwanderungsland Deutschland (muss sich) endlich ein für andere und insbesondere für Einwanderer verstehbares öffentliches Bild von sich selber machen; denn woran sonst sollten sich Einwanderer orientieren bei dem Versuch, ihr Einwanderungsland zu verstehen?“
180
Das „Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union“ wurde im November 2004 vom Europäischen Rat angenommen. Es formuliert Richtlinien der gemeinsamen Politik der Europäischen Union in zentralen Bereichen von Recht, Migration, Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung, Datenschutz und Informationsaustausch etc. für den Zeitraum von 2005 bis 2010. Vgl. zum Thema auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2006
181
„Aktionsplan des Rates und der Kommission zur Umsetzung des Haager Programms zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union“ vom 10.06.2005
182
Der „Europäische Sozialfond“ (ESF) ist das wichtigste Finanzierungsinstrument der Europäischen Union zur Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen, zur Steigerung von Bildungsniveau und Qualifikationen und zur Sicherung der langfristigen Beschäftigungsfähigkeit der Einwohner der Mitgliedstaaten. Der ESF stellt für alle Mitgliedstaaten jedes Jahr mehr als 10 Mrd. Euro bereit - über 10% des Gesamthaushalts der Europäischen Union. Der ESF war Teil des Vertrags, mit dem 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft errichtet wurde. Vgl. auch Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften 2007:1
183
Dieser - bislang vom Rat der EU noch nicht angenommene Fonds - soll den Europäischen Sozialfonds ergänzen und die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung von Integrationsmaßnahmen zur verstärkten Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben des Aufnahmelandes unterstützen. Ein erster Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen den zuständigen Ministern der EU fand am 10. und 11. Mai 2007 in Potsdam statt.
184
Das am 18. August 2006 in Kraft getretene „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) umgangssprachlich „Antidiskriminierungsgesetz“ genannt - ist ein deutsches Bundesgesetz, das Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
153
legte Integrationsstrategie getan, in die die Erfahrungen der anderen europäischen Staaten integriert werden können. Zusätzlich müsste die bislang eher restriktive Einwanderungspolitik noch stärker als bisher durch eine an Nachhaltigkeit ausgerichtete Planungs- und Handlungsperspektive ersetzt werden. Bade schlägt hier z.B. vor, dass sich eine zielgerichtete, politisch und wirtschaftlich sinnvolle Integrationspolitik an dem Dreischritt185 „präventive“, „begleitende“ und „nachholende Integrationspolitik“ ausrichtet, damit nach Möglichkeit jedem Migranten die Chance zur gleichberechtigten Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen eröffnet wird. Präventive Integrationspolitik meint hier, deutsche Hilfe im Herkunftsland bereits im Vorfeld der Migration anzubieten, z.B. in der Form von vorbereitenden Sprach- und Orientierungskursen oder in der Form von begleitender beruflicher Qualifizierung. Begleitende Integrationspolitik meint die Stärkung und Unterstützung der weiter oben erwähnten migratorischen Netzwerke und die Förderung der Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Betroffenen im Niederlassungs- und Integrationsprozess. Nachholende Integrationspolitik schließlich meint hier die Nachsorge für schlecht gelaufene oder stagnierende Integrationsprozesse, insbesondere für die hinreichende Beherrschung der deutschen Sprache und eine auf ein „Höchstmaß an Chancengleichheit zielende Unterstützung des eigenen Engagements“186 derjenigen Migranten, die bereits lange, zum Teil bereits zwei bis drei Generationen in Deutschland leben. In Deutschland fehlt der den US-Amerikanern eigene positive Migrationsbegriff, der es trotz aller Einschränkungen gestattet, im Einwanderer einen Helfer zu sehen187. In Deutschland erfordert eine erfolgreiche Integration deshalb die weitere politische Aufklärungsarbeit zur Beförderung der Akzeptanz der Migranten in der Mehrheitsgesellschaft auf der einen Seite und die gezielte Werbung für die Maßnahmen der nachholenden Integrationspolitik bei den Adressaten selbst, also bei den schon längere Zeit im Land lebenden Migranten. Die Voraussetzungen, diese zu erreichen sind sogar gut, denn schließlich gibt es bereits eine große Anzahl interkultureller Initiativen, die dafür genutzt werden könnten: die Kommunen müssen nur Verbindungen schaffen „zwischen diesen vielfältigen Engagements der urbanen Zivilgesellschaft und den eigenen interkulturellen Konzepten“188.
Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindern und beseitigen soll. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dient der Umsetzung der vier Richtlinien „Antirassismus-Richtlinie“ (Richtlinie 2000/43/EG), der „Rahmenrichtlinie Beschäftigung“ (Richtlinie 2000/78/EG), der „Gender-Richtlinie“ (2002/73/EG) und der „Gleichversorgungsrichtlinie“ (2004/113/EG) 185
Vgl. Bade 2007:9f.
186
Bade 2007:11
187
Vgl. Bade 2007:8
188
Bade 2007:14
154
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Altersstruktur und Bevölkerungsentwicklung Die damals auch aufgeworfene Frage, ob es denn überhaupt der Ausländer zur Erhaltung von Produktivität und Lebensstandard bedürfe, hat sich inzwischen von selbst beantwortet. Bei der aktuell absehbaren Bevölkerungsentwicklung wird der Anteil der in Deutschland Geborenen weiter zurückgehen. Schlimmstenfalls wird Deutschland 2050 nur noch eine Bevölkerung von 67 Mio. haben, mit einem Anteil an über 80-jährigen von 12% und einem Anteil an unter 20-jährigen von 16%189. Diese Veränderungen in der Altersstruktur werden sich auch in der Bevölkerung im Erwerbsalter auswirken: "Vor allem die mittlere Altersgruppe der 35- bis 49-Jährigen wird deutlich abnehmen: bis 2050 um 31%. Zur jüngeren Gruppe der 20- bis 35-jährigen dürften 2050 24% weniger Personen gehören als heute. Demgegenüber werden im Jahr 2050 nur etwa 3% weniger 50- bis 64-Jährige leben. Damit steigt der Anteil der Älteren innerhalb der Gruppe der Personen im erwerbsfähigen Alter erheblich an“190.
Ohne Zuzug von Ausländern wird da nichts mehr gehen: „Bei mittlerer Lebenserwartungszunahme und niedriger Zuwanderung von etwa 100.000 Personen pro Jahr ergibt sich 2050 bei einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren ein Altenquotient von 59. Wandern jährlich 100.000 Personen mehr zu, beträgt der Altenquotient 55. Fällt die Zuwanderung ab 2011 jährlich um nochmals 100.000 Personen höher aus, sinkt der Altenquotient auf 51“191.
4.2.5. Die Kultur- und Diversity-Debatten Kultur Allgemein kann man unter Kultur die Summe der bedeutsamen verbalen und nonverbalen Zeichen oder "Kulturmuster" einer Gruppe von Menschen verstehen. Kultur ist kein Zustand, sondern ein Prozess192. Kulturmuster dienen der übergeordneten Sinnfindung und Sinnstiftung. Sie manifestieren sich in bestimmten Kulturgegenständen, in bestimmten Mustern des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens und Handelns und in bestimmten Vorgehensweisen beim Umgang mit Aufgaben und Problemen. Sie sind 189
Vgl. DeStatis 2003:7
190
DeStatis 2003:7. Santel (2007:22) führt hier noch zusätzliche Zahlen an: „1964 kamen auf 1000 Einwohner 18,2 Geburten und 10,2 Sterbefälle; im Jahr 2001 kamen auf 9,3 Geburten 10,3 Sterbefälle. Immer weniger Kinder werden geboren, während gleichzeitig die Lebenserwartung zunimmt und die Zahl der Alten sukzessive steigt. So wird ein heute 60 Jahre alter Mann den Prognosen der Bevölkerungswissenschaft zufolge 79 Jahre alt werden, eine heute 60 Jahre alte Frau sogar 83 Jahre. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung wird von 41,1 im Jahr 2000 auf über 48 Jahre im Jahr 2050 ansteigen.“
191
DeStatis 2003:7
192
Vgl. Bade 2007:5
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
155
zum großen Teil unbewusst oder vorbewusst und bestimmen in dieser Form die Werte und Einstellungen. Das heißt, sie entscheiden darüber, was man für richtig und gut oder für falsch und schlecht hält. Als Teil der persönlichen und gesellschaftlichen Identität eines Menschen erfüllen Kulturmuster eine doppelte Aufgabe: sie dienen der "Sicherheit durch Abgrenzung", und sie schaffen Sicherheit durch Gemeinsamkeit. Unter Kulturmustern versteht man demgemäß eine Reihe möglicher Reaktionsmuster von Menschen mit ähnlichem Erfahrungshintergrund, und es gibt daher nationale, regionale, familiäre, geschichtliche, religiöse und andere Kulturmuster. Nationale Kulturmuster sind stets von regionalen Kulturen, von Familienkulturen und individuellen Vorlieben durchdrungen, die ergänzend und unterstützend oder - im Zuge der Globalisierung stärker denn je - relativierend und konterkarierend wirken können. Sie bilden gleichsam nur die Grundlage, von der das Verhalten einzelner Individuen stets mehr oder weniger stark abweichen kann. Und Kulturmodelle werden zwangsläufig in die Lösungsvorschläge zur Einbindung von kulturellen Minderheiten in die Gesellschaft eingehen. Gleichwertigkeit und Anerkennung von Werten Wie bereits an anderer Stelle ausführlicher thematisiert wurde, erfordert Gleichberechtigung die Bewusstwerdung der vorhandenen Heterogenität und den bewussten Verzicht auf Egalisierung und hierarchische Strukturen, nicht aber die moralische Anerkennung all dessen, was vom anderen (von anderen Kulturen) gedacht, gesagt und getan wird. Das hier gemeinte (liberale) Prinzip der Gleichachtung ist Ausdruck eines immer noch tief in den Aporien des Christentums verankerten säkularen Weltbildes193, und auch der "Liberalismus ist eine kämpferische Weltdeutung"194, die selbst in ihren aufgeschlossensten Versionen Grenzen zieht und Grenzen ziehen muss. Der Liberalismus kann nicht die Stätte eines Austauschs aller Kulturen sein, "er ist vielmehr der politische Ausdruck eines bestimmten Spektrums von Kulturen und mit einem anderen Spektrum anderer Kulturen unvereinbar"195. Im Zusammenhang von Globalisierung und multinationalen Wanderungsbewegungen kommt es daher zwangsläufig zur Konfrontation mit anderen Kulturmustern und anderen Wertehaltungen, wenn es eine große Zahl von Personen gibt, die, anderen Kulturkreisen entstammend, die je eigene Wertehaltung in Frage stellt: die Schwierigkeit besteht darin, sich mit "ihrem Gefühl von Marginalisierung"196 auseinanderzusetzen, ohne die politischen Grundprinzipien zu verspielen. 193
Vgl. hier insbesondere Odo Marquard 1981, 1986 und 1987
194
Taylor 1993:57
195
Taylor 1993:57
196
Taylor 1993:58
156
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Das wirft die Frage auf, ob man neben der prinzipiellen Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen auch ihre zentralen Werte anerkennen muss. Charles Taylor verneint dies. Unter der Annahme, dass alle Kulturen von gleichen Wert sind, fordert er zwar die prinzipielle Bereitschaft zum Studium anderer Kulturen, die prinzipielle Bereitschaft zur Entwicklung eines neuartigen Wertverständnisses und die prinzipielle Bereitschaft zur Entwicklung eines neuen "Vergleichsvokabulars", mit dem kulturelle Gegensätze artikuliert werden können. Aber ihm geht es nicht um die - aus einem Rechtsanspruch heraus einklagbare - prinzipielle Anerkennung fremder Kulturwerte, sondern um die - von Respekt und Wertschätzung getragene und je individuell zu verantwortende Bereitschaft, fremde Wertmaßstäbe in den eigenen Kanon aufzunehmen, wenn sie sich als wertvoll herausstellen sollten. Letztere Forderung aber ist eine Haltung, die (s.o.) eine vorgängige Verschmelzung der unterschiedlichen Werthorizonte zur Voraussetzung hat: die "Bedingung ist, dass wir durch die Auseinandersetzung mit dem Anderen selbst eine Veränderung erfahren, also nicht mehr bloß nach unseren ursprünglichen Wertmaßstäben urteilen"197.
Die Urteilskategorien und Maßstäbe zur Einschätzung der Werthaftigkeit von Kulturmustern müssen im Dialog selbst entwickelt werden, wenn sie für die gemeinsame Gestaltung von Gesellschaft von Bedeutung sein sollen198. Auch in den im folgenden skizzierten Kultur- und Diversity-Debatten schlagen sich diese grundlegenden Überlegungen in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlicher Akzentuierung nieder. Die Kultur-Debatte Wie weiter oben bereits ausführlich dargestellt wurde, war die MultikulturalismusDebatte in den USA u.a. ein Ergebnis der Bewegung des Black-Nationalism und des im Zusammenhang dieser Bewegung erstarkten Selbstbewusstseins der anderen Minoritäten: die bislang benachteiligten Minderheiten erkämpften sich hier das formal verbriefte Recht auf eine von der ethnischen Zugehörigkeit unabhängige Chancengleichheit zu gesellschaftlicher Teilhabe. Da dabei auch der tradierte Umgang der amerikanischen Mehrheitsbevölkerung mit Minderheiten und der institutionalisierte Rassismus in die Kritik geriet, kam es schließlich zur Einführung multikultureller Komponenten in die Lehrerausbildung, zur Einführung multikultureller Erziehungsprogramme und zur verbesserten (wenngleich nicht ausreichenden) Chancengleichheit insgesamt. Dass die US-amerikanische Multikulturalismus-Debatte vor allen Dingen von Linguistikern getragen wurde, führte zu einer intellektuellen Radikalisierung der Position, 197
Vgl. Taylor 1993:68
198
In der Systemtheorie Niklas Luhmanns wird dieser Aspekt unter dem Stichwort "doppelte Kontingenz" abgehandelt. Ich werde im letzten Kapitel darauf zurückkommen.
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
157
mit der schließlich ein bloßes, nur durch zufällige Begegnungen unterbrochenes Nebeneinander der Minoritäten propagiert wurde. Im Modell des „plebiszitären Egalitarismus“ blieb es jedoch unklar, wie das soziale, politische und wirtschaftliche Gefüge praktisch geregelt werden soll, damit sich der angestrebte, respektvolle und ethisch akzeptable Umgang miteinander tatsächlich realisiert. In ihrem radikalen Flügel hatte die amerikanische Multikulturalismus-Debatte also eine starke, politisch motivierte Minderheitenbewegung zur Basis. Sie war (auch) eine soziokulturelle Protestbewegung der Minoritäten der neuen sozialen Bewegung, die schließlich in das Konzept der Cultural Democracy mündete. In den Diskussionen um die Situation der Migranten gewinnt das Thema "Kultur und kulturelle Vielfalt" schließlich auch in Deutschland an Bedeutung, wobei Kultur hier als „Lebensweise“ oder als Summe der bedeutsamen verbalen und nonverbalen Zeichen oder "Kulturmuster" einer Gruppe von Menschen verstanden wird. Zugleich wird die Diskussion der Einwanderungssituation hier gleichfalls eher intellektuell denn praxisbezogen geführt. Insbesondere der "Ethnopluralismusansatz", der "Multikulturalismusansatz" und der "Hybriditätsansatz" werden hier thematisiert. Der neurechte Ethnopluralismusansatz verneint die Möglichkeit des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft in einer Gesellschaft, da die multikulturelle Vielfalt die ethnisch-kulturellen Unterschiede letztendlich egalisieren und die politisch-kulturelle Eigenständigkeit des Einwanderungslandes schließlich bedrohen würde199. Der Multikulturalismusansatz sucht nach Möglichkeiten der friedlichen, aber verpflichtungsfreien Koexistenz der unterschiedlichen Kulturen. Aber da es in Deutschland keine ausreichend starke soziale Bewegung politisch bewusster Minoritäten gibt, hat diese Position einen von Anfang an sehr formalen Anstrich, mit mangelnden Be199
Der Begriff wurde nach Stöss (2006:525) erstmals von Henning Eichberg in die Debatte eingebracht. Nach Thomas Pfeiffer (o.J.:108) ist Henning Eichberg einer der wichtigsten Begründer und führenden Vertreter der Neuen Rechten. Der völkische Gehalt des Ethnopluralismusansatzes wird auch im Begriff „deutsche Leitkultur“ transportiert, selbst wenn man ihn - wie Merz es in Anlehnung an den Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi tut - als „freiheitliche deutsche Leitkultur“ umschreibt. Denn bereits Tibi gebraucht den Begriff der Leitkultur als ethnozentristische Vorgabe, die sich an den Werten der französischen Aufklärung und an den Werten der Französischen Revolution orientiert. Solcherart ist der Begriff Tibis auf Immigration nichteuropäischer Menschen nach Europa bezogen und „stellt Grund- und Menschenrechte als deutsche bzw. europäische Errungenschaften dar, die offensichtlich Nichtdeutschen bzw. Nichteuropäern (kollektiv wie auch individuell) nicht zu Eigen seien (...). Nichtdeutschen und Nichteuropäern wird damit kollektiv eine vormoderne, hauptsächlich religiös motivierte Kultur unterstellt. Die Werte von Demokratie, Aufklärung und Pluralismus sollten ihnen mit Hilfe der Leitkultur nahe gebracht werden. Insofern sind beide Interpretationen von Leitkultur, eine konkret an völkischen Traditionsmustern und eine an Verfassung und Grundrechten orientierte Leitkultur, äußerst problematisch“ (Hamm 2004:37). Es verwundert nicht, dass die - weitestgehend populistisch geführte und an die Ängste großer Bevölkerungsteile anknüpfende - Debatte breiten Raum einnahm. Vgl. zum Thema Leitkultur auch Hentges 2002.
158
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
rührungspunkten zu den Betroffenen und mangelndem Bezug zu ihren eigentlichen gesellschaftlichen Problemen. Aus dem radikalen US-amerikanischen Ansatz abgeleitet, wird die völlige Gleichbehandlung aller ethnischen und kulturellen Minderheitengruppen gefordert, wobei der gemeinsame Stolz auf die gegenseitig gelebte Toleranz das einzig verbindende Moment sein soll200. Alle in der Gesellschaft existenten Kulturen sollen hier gleichwertig nebeneinander stehen. Assimilationsprogramme wie die Schaffung einer allen in Deutschland lebenden Menschen gemeinsamen nationalen Identität und die gemeinsame Orientierung an einer für alle verbindlichen Kultur werden ebenso abgelehnt wie pluralistische, am amerikanischen „E pluribus Unum“ angelehnte Konzepte. Im deutschen Konzept des Multikulturalismus wird das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen akzeptiert, solange es Vorteile bringt. Kulturelle Eigenheiten, die möglicherweise Nachteile mit sich bringen, unterliegen dagegen dem Versuch der Denunziation und Ausgrenzung201. Der Multikulturalismus definiert die Spielregeln, nach denen die Migranten sich zu integrieren haben, damit Koexistenz möglich wird: Im "Prinzip ähneln sich Multikulturalismus und Ethnopluralismus. Beide gehen von prinzipiell unterschiedlichen Kulturen aus, die sich über das jeweilige Andere definieren. Trotzdem schließen sich beide Konzepte gegenseitig aus. Sie treten in den Diskursen um die Einwanderungssituation in der Regel nicht in Reinform auf“202.
Der bloße, an die deutsche Situation kaum angepasste Rückgriff auf das amerikanische Modell des „Multikulturalismus“ wirkt sich „in der öffentlichen und politischen Diskussion um Einwanderungsfragen in Deutschland“ 203 aber eher kontraproduktiv
200
Vgl. Wasser 2001:58
201
Diese Haltung lässt sich auch einem in Zeit-Online veröffentlichten Artikel entnehmen, den Daniel Cohn-Bendit zusammen mit Thomas Schmid bereits 1991 verfasste: „Kein Zweifel, je intensiver eine Gesellschaft von verschiedenen Nationalitäten, Ethnien, Kulturen, Religionen und Lebensstilen geprägt ist, desto spannender wird sie (und desto größer wird möglicherweise ihr Vermögen, mit ungewohnten Problemen pragmatisch umzugehen). Das heißt aber gerade nicht, dass die multikulturelle Gesellschaft harmonisch wäre. In ihr ist vielmehr - erst recht dann, wenn sich wirklich fremde Kulturkreise begegnen - der Konflikt auf Dauer gestellt. Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt und kennt Wanderungsgewinner ebenso wie Modernisierungsverlierer; sie hat die Tendenz, in eine Vielfalt von Gruppen und Gemeinschaften auseinanderzustreben und ihren Zusammenhalt sowie die Verbindlichkeit ihrer Werte einzubüßen. In der multikulturellen Gesellschaft geht es daher um die Gratwanderung zwischen verbindenden und trennenden Kräften - und eben deswegen ist es so wichtig, dass sie sich Spielregeln gibt.“ (Cohn-Bendit et al. 1991:2). Cohn-Bendit et al. berufen sich hier auf den US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Robert Ezra Park, der eine „kulturalistische Wende“ innerhalb der Debatten um die Einwanderungssituation einleitete und dabei die Rassendebatte in eine um Kultur und Ethnizität zentrierte Debatte umwandelte.
202
Hamm 2004:39
203
Bade 1996:13
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159
aus und bestärkt, „was abzubauen eine seiner Botschaften war - fremdenfeindliche Abwehrhaltungen in der Einwanderungssituation“204. Der Hybriditätsansatz lässt sich letzten Endes auch auf die US-amerikanische Multikulturalismusdebatte zurückführen, er verdankt seine zentralen Ideen aber überwiegend dem Spannungsverhältnis zwischen gegensätzlichen Formen der Kulturpolitik 'schwarzer' Bewegungen205. Einer der politisch bedeutsamen Auslöser dabei war der "Moment, in dem der Begriff 'schwarz' als Bezugspunkt für die gemeinsame Erfahrung von Rassismus und Marginalisierung in Britannien geprägt wurde. Für Gruppen und Gemeinschaften mit tatsächlich sehr unterschiedlichen Geschichten, Traditionen und ethnischen Identitäten wurde 'schwarz' zu einer organisierenden Kategorie für eine neue Politik des Widerstandes. 'Die schwarze Erfahrung' beruht auf der Bildung einer gemeinsamen Identität über ethnische und kulturelle Differenzen zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften hinweg"206.
Die hier um den gemeinsamen Nenner 'schwarz' zentrierte Kultur konnte als Gegenkultur zur herrschenden Mehrheitskultur Identität stiften und als Ersatz für die in der Diaspora kaum noch greifbare originäre Kultur dienen. Sie verlieh der "Erfahrung von Zerstreutheit und Fragmentierung, die allen Geschichten der aufgezwungenen Diaspora gemeinsam ist, einen imaginären Zusammenhang"207. Das war ihr Vorteil, ihr Manko war, dass sie mit der kollektiven Identität auch ein "schwarzes Wesen" konstruierte (oder an dessen Konstruktion festhielt) und dabei die immense Mannigfaltigkeit und Differenzierung der historischen und kulturellen Erfahrungen „schwarzer Subjekte"208 ignorierte. Unter den Bedingungen der Globalisierung mögen kollektive Identitäten noch eine gewisse Anziehungskraft haben, ihre Erklärungskraft haben sie schon längst verloren, der Rückgriff auf sie kann der wachsenden Komplexität der Globalisierung nicht mehr gerecht werden. In der Entfaltung des Widerspruchs zwischen dem eingrenzenden und dem grenzüberschreitenden Merkmal von Identität sieht Hall die Chance, die Bewegungen des Antirassismus und Multikulturalismus weiter zu entwickeln und die klassische, tendenziell dem Rassismus nahestehende Vorstellung von Ethnizität durch eine Politik der Ethnizität zu ersetzen, "die auf Differenz und Verschiedenheit"209 beruht und durch die Anerkennung notwendiger "Heterogenität und Verschiedenheit" existiert,
204
Ebda.
205
Einer der wichtigsten Theoretiker, der dieses Spannungsverhältnis aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, ist Stuart Hall. Ihm geht es vorwiegend darum, die aktuellen Verschiebungen in der schwarzen Kulturpolitik zu identifizieren und kritisch zu reflektieren. Vgl. z.B. Gilroy et al. 2000.
206
Hall 2000:15
207
Hall 2000:28
208
Hall 2000:18
209
Hall 2000:23
160
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
durch ein "Konzept von 'Identität', das mit und von - nicht trotz - der Differenz lebt, das durch Hybridbildung lebendig ist"210. In diesem Ansatz wird der situative und prozessbestimmte Aspekt von Kultur besonders stark betont: hybride Kulturen werden hier nicht unbedingt als Ergebnis der Transformation originärer Kulturen verstanden, sondern als neue Kulturen, die unter den konkreten sozialen und historischen Bedingungen von Globalisierung und Migration neu erschaffen werden211: die "neue Art der Globalisierung geht mit einer neuen Form globaler Massenkultur einher, die sich sehr stark von derjenigen unterscheidet, die mit (...) (den) in einer frühen Phase mit dem Nationalstaat verknüpften kulturellen Identitäten verbunden war. Die globale Massenkultur wird durch die modernen Mittel der kulturellen Produktion bestimmt, durch das Bild, das die Sprachgrenzen schneller und einfacher überschreitet und über sie hinweg in einer sehr viel unmittelbareren Art und Weise spricht. Sie wird dadurch bestimmt, dass die visuellen und graphischen Künste direkt in die Umgestaltung des Alltagslebens, der Unterhaltung und der Freizeit hineinwirken. Sie wird durch Fernsehen, Film und durch das Bild, die Metaphorik und die Stile der Massenwerbung bestimmt"212.
Wenn die hybride Kultur vielleicht auch keine Spielkultur ist, wie Hamm behauptet, so ist sie bei aller Ernsthaftigkeit und bei allem Emanzipationspotenzial doch eine zutiefst spielerische Kultur, mit der das bislang Marginalisierte einen machtvollen Raum bekommt. Sie ergreift die konstruktivere Wahl im Umgang mit einer in der Diaspora entwurzelten Ethnizität, indem sie zwar daran festhält, dass Ethnizität "der notwendige Raum ist, von dem aus Menschen sprechen"213, aber sie verweigert die Abwehr der Moderne und den defensiven Rückzug der Minoritäten in ihre selbst ge210
Hall 2000:41, vgl. auch Hall 2000:72f.: Identität bedeutet oder konnotiert "immer einen Prozess der Identifikation, der besagt, dass dieses hier dasselbe ist wie jenes dort, oder dass wir, in dieser Hinsicht, einander gleich seien. Doch haben wir aus der ganzen Diskussion, die Feminismus und Psychoanalyse um Identifikation führten, gelernt, in welchem Ausmaß die Struktur der Identifikation immer durch Ambivalenzen konstruiert ist, immer durch Spaltung zwischen dem, was der Eine, und dem, was der Andere ist. Der Versuch, den Anderen auf die andere Seite des Universums zu verbannen, ist immer auch mit den Beziehungen der Liebe und des Begehrens vermengt. Dies ist eine andere Sprechweise als die frühere, in der die Anderen immer vollständig vom eigenen Ich verschieden waren".
211
Vgl. zum Thema „hybride Kulturen“ auch Bronfe et al. 1997. Das Konstrukt der hybriden Kultur korreliert in gewisser Weise mit der weiter oben zitierten Behauptung Heckmanns (vgl. 1981:231), dass neu hinzuziehende Migranten sich nicht in die Gesellschaft des Einwanderungslandes integrieren, sondern in die geschlossenen Einwanderergesellschaft des Einwanderungslandes, also in die bereits bestehenden eigenständigen sozial-kulturellen Organisationen integrieren, allerdings mit der Erweiterung, dass es zumindest an den Randbereichen der Einwanderergesellschaften Übergangsbereiche zur deutschen Kultur gibt, die aufgrund ihres hybriden Charakters weder der einen noch der anderen Herkunftskultur zuzuordnen sind, sondern etwas Neues darstellen.
212
Hall 2000:52
213
Hall 2000:61
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
161
schaffenen Enklaven, in denen lokale Ethnizitäten genauso gefährlich werden können wie nationale214. Stattdessen nutzt sie die (provokative) Grenzüberschreitung zwischen den Kulturen der Herkunftsgesellschaft, der Einwanderungsgesellschaft und der Einwanderergesellschaft (s.o.). Hall benennt in diesem Zusammenhang drei mögliche Konsequenzen für kulturelle Identitäten, die sich alle aus der Tatsache ergeben, dass Spielraum und Tempo der globalen Integration seit den 1970er Jahren wesentlich gewachsen sind und sich der Austausch und die Verbindungen zwischen den Nationen stark beschleunigt haben: "1. Die Entwicklung der kulturellen Homogenisierung und der 'globalen Postmoderne' führt zur Erosion nationaler Identitäten. 2. nationale und andere 'lokale' oder partikularistische Identitäten werden als Widerstand gegen die Globalisierung gestärkt. 3. nationale Identitäten befinden sich im Niedergang, während neue Identitäten der Hybridität ihren Platz einnehmen"215. Es sieht so aus, als ob zumindest Teile der marginalisierten Gruppen in den USA und in den ehemaligen europäischen Kolonialmächten die Chance zur Entwicklung hybrider Kulturen nutzen. Die in Deutschland lebenden Migranten nutzen diese Chance m.W. eher wenig. Stattdessen changieren sie vorwiegend zwischen passiver Assimilation auf der einen Seite und Konstruktion einer kollektiven (Gegen-)Identität auf der anderen Seite, und hybride Kulturen entwickeln sich hier eher in und zwischen intellektuellen Gruppen zumeist deutscher Herkunft. Hamm mahnt hier an, dass die „grenzenlose Vermischung“ der Kulturen nur in spezifischen Bereichen stattfindet und nur in spezifischen Bereichen als produktiv angesehen wird, „nämlich im Bereich von beispielsweise Musik, Kleidung und Essgewohnheiten. Hybridität wird nur innerhalb einer ‚Differenzkonsummaschine’ akzeptiert, in der sie produktiv für das gesamte Leben der Gesellschaft sein soll“216: „Kulturelle Unterschiede werden hier offensichtlich als private Lebenshaltungen definiert, die nach Belieben entweder in das Gesamtbild der Gesellschaft eingespeist werden können, oder aber nicht: insofern dienen alte Klischees und Stereotype (Döner Kebap, Salsa, Hip-Hop und der Karneval der Kulturen) als Bild der hybriden Gesellschaft. Die Vermischung wird offensichtlich als produktiv gelobt, ebenso wie die Gesellschaft, in der Hybridität als anerkannt und gegeben betrachtet wird. Hegemoniale Strukturen, denen die 'Produktivität der Vermischung' unterworfen ist, werden dabei ausgeblendet“217.
Die Diversity-Management-Debatte Im Zusammenhang der US-amerikanischen Diversity-Diskussion wurden die drei Ansätze „Discrimination-and-Fairness Approach”, “Access-and-Legitimacy Appro214
Vgl. Hall 2000:61
215
Hall 2000:209
216
Hamm 2004:39
217
Hamm 2004:39
162
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
ach” und “Learning-and-Effectiveness Approach” entwickelt (s.o.), und in der deutschen Diskussion über Diversity und Diversity-Management ging es bislang primär darum, wie diese Ansätze denn nun zu verstehen seien, welche Bedeutung sie im einzelnen für das deutsche Umfeld haben könnten, und wie sie womöglich zu implementieren seien. Darüber hinaus war die Definition des Begriffes Diversity von großer Bedeutung. Man einigte sich schließlich auf Vielfalt und Vielfältigkeit, und deren primäre Dimensionen konnten - ebenfalls in Anlehnung an die US-amerikanische Diskussion - schnell benannt werden: Rasse, Ethnie , Religion, Gender, Alter, Sexuelle Orientierung und körperliche Behinderung. Diskutiert wurde u.a., ob DiversityManagement eher ein auf Wirtschaftsunternehmen beschränktes pragmatisches Konzept von Gleichbehandlung sei, oder aber ein an Gender-Mainstreaming angelehntes politisches Konzept von Gleichbehandlung, das aktiv über Quotenregelung realisiert werden müsse. Dabei schälte sich schließlich heraus, dass mit Diversity-Management durchaus ein Mehr an Heterogenität und ein Mehr an Chancengleichheit im Sinne der primären Diversity-Zielgruppendefinition erreicht werden könne, und dass dieses Mehr für Unternehmen prinzipiell von Vorteil sei. Mittlerweile greifen vor allen Dingen die größeren, international tätigen Unternehmen in Deutschland auf Diversity-Management zurück, um die Vielfalt der Mitarbeiter-, Kunden- und Lieferanten-Perspektiven für den eigenen Wettbewerbsvorteil zu nutzen, und auch in den mittelständischen und kleineren Unternehmen und in den Non-Profit-Organisationen der Verbände und Institutionen aus Politik, Gesundheitswesen und Wissenschaft wird Diversity-Management zunehmend ein Thema. EUGesetzgebung, zunehmende Freizügigkeit und zunehmende Kooperationen zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten entfalten hier ihre Wirkung. Auch in Deutschland werden Unternehmensgrenzen durchlässiger und Hierarchien flacher, und auch in Deutschland verändern sich die Ansprüche der Bevölkerung im Zusammenhang der gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse (s.o.). Gleichwohl sind es primär die europäischen Tochtergesellschaften US-amerikanischer Konzerne und / oder deren Fusionspartner, die bemüht sind, Diversity-Management in ihren hiesigen Niederlassungen zu implementieren218. Bei der Anpassung der US-amerikanischen Diversity-Konzepte an die deutschen Verhältnisse werden die konkreten ökonomischen Rahmenbedingungen insbesondere der kleineren und mittelständischen deutschen Unternehmen aber vermutlich zu wenig berücksichtigt. Trotz der nicht zu übersehenden zunehmend neoliberalen Orientierung und der verstärkten Hinwendung zu einem marktbasierten, auf Marktöffnung zielenden Ökonomiemodell gibt es in Teilen der kleineren und mittelständischen deutschen Unternehmen noch die Vorstellung, dass die komparativen Vorteile einer stärker regulierten Ökonomie die schlimmsten Auswirkungen der Globalisierung verhindern könnte: der "Bedarf an Diversity Management wird (...) bislang bei vielen Unternehmen noch nicht in seiner Bedeutung erkannt bzw. als nicht notwendig ange218
Vgl. Aretz 2006:59
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
163
sehen"219. Und in der theoretischen Reflexion wird der Einfluss der ökonomischen Rahmenbedingungen auf die Haltung der Entscheidungsträger zum DiversityManagement und auf die Ausgestaltung konkreter Diversity-Management-Konzepte ebenfalls nicht genügend gewürdigt: die "bisherige Diversity-Literatur macht zwar auf die Bedeutung einer Kontextsensibilität von Diversity-Maßnahmen aufmerksam, bezieht dies jedoch vornehmlich auf die betriebliche Ebene und nicht auch auf das institutionelle ökonomische Setting, in das die Unternehmen eingebettet sind"220.
Eine 2004 an der Freien Universität Berlin durchgeführte Fachtagung zum Thema "Managing Diversity in der deutschen Praxis", auf der verschiedene deutsche (international agierende) Unternehmen221 ihren Standpunkt darstellten, verlief aufgrund der oben skizzierten vielfältigen Standpunkte und Perspektiven höchst kontrovers. Abseits der wenig begründeten Aussage, dass Diversity als Nutzung der (individuellen) Vielfalt zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt unverzichtbar sei, gab es erstaunlich wenig Gemeinsamkeiten, aber große Unterschiede bei der Gewichtung der unterschiedlichen Aspekte hinsichtlich der Diversity-Management Approaches und bei der strategischen Ausrichtung der Unternehmen. Es gab so gut wie keinen Versuch, die Komplexität des Phänomens vor dem Hintergrund der globalen Dynamik zu analysieren. Hier materialisierte sich im Prinzip die frühe Klage Heckmanns, dass die „Minoritäten- und Gastarbeiterforschung (…) durch ein theoretisches wie empirisches Defizit an gesamtgesellschaftlicher, sozialstruktureller Ausrichtung“222 gekennzeichnet ist. Ähnlich ging es dann auf einer im März 2006 ebenfalls an der Freien Universität Berlin durchgeführten Akademietagung zum Thema „Rethinking Diversity: Perspektivenwechsel in Wirtschaft, Bildung und Gesundheit“ zu. Anders noch als bei der Tagung „Gender und Diversity: Albtraum oder Traumpaar?“ im Januar 2006 an der Freien Universität Berlin kreiste der Fokus der Diversity-Debatte hier zwar nicht mehr ausschließlich um die Dimension Gender - sie wurde um die Dimensionen Alter und ethnische Zugehörigkeit ergänzt - aber die Themenstellung der Debatte spiegelte den Stand der wirtschaftlichen Zwänge: Gender, Alter und ethnische Zugehörigkeit wurden nicht zuletzt deswegen thematisiert, weil sich abzeichnet, dass der demographische Wandel zu einer starken Verkleinerung des deutschen Arbeitskräftepotenzials und insbesondere zu einem Mangel an hochqualifizierten Fach- und Führungskräften führen wird, der sich ohne Gegenmaßnahmen in nicht allzu ferner Zukunft auf dem Weltmarkt als Wettbewerbsnachteil niederschlagen wird. 219
Aretz 2006:66f.
220
Ebda.
221
So z.B. Deutsche Telekom AG, Deutsche Bank AG, Ford Werke AG, Commerzbank AG, Schering AG, Motorola GmbH, Deutsche Lufthansa AG u.a.
222
Vgl. Heckmann 1981:141
164
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Die Integration von Frauen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Integration der älteren Mitarbeiter waren von daher tatsächlich wichtige Themen, aber die Dogmatik der Diskussion brachte auch eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit der Komplexität des Phänomens zum Ausdruck. Die Entscheidung für die Wahl des einen oder anderen Diversity-Management Approach konnte im wesentlichen nicht wirklich begründet werden. So blieb man sich schließlich uneinig darüber, wie das Thema nachhaltig zu implementieren sei, wie die Unternehmensangehörigen von seiner Dringlichkeit überzeugt, und wie sie zum Mitmachen angeregt werden könnten. 4.3.
Zwischenauswertung
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Migrationsdiskussion in Deutschland zwar heftig und langandauernd ausgetragen wurde, aber - wahrscheinlich auch aufgrund der fehlenden Beteiligung der Betroffenen223 selbst - nicht zu den praktischen Ergebnissen führte, zu denen sie in den USA führte, und wenn man Hamm hierin folgen mag, dann waren schließlich doch alle Positionen mehr oder weniger stark von der Idee beseelt, die vorfindlichen Kulturen nach „guten“ und „schlechten“ zu unterscheiden und die eigene („deutsche“) Kultur in dieser Werteskala obenan zu setzen. In Deutschland gibt es offensichtlich nicht genügend politisch motivierte Minoritäten, die ihre Rechte auf breiter Basis öffentlichkeitswirksam einklagen, und in Deutschland fehlt ein tiefer gehendes Verständnis von „Leadership“: es sieht so aus, als ob die hiesige Debatte stark von einem Managementverständnis bestimmt wird, das den Umgang mit Diversity vornehmlich als einen Verwaltungsprozess des Planens, Steuerns, Organisierens, Kontrollierens und Budgetierens begreift. So droht letzten Endes eine Entwicklung des Diversity-Managements in Deutschland, die weder den Interessen der Minoritäten entgegenkommt noch den wirtschaftlichen Notwendigkeiten entspricht: ohne echte Eigenbeteiligung der Betroffenen müssen Diversity-ManagementProgramme funktional-formal, lebensfremd und wirkungslos bleiben224.
223
Zum Zwecke der nachhaltigen und partizipativen Integrationspolitik und um die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, sind zwar zahlreiche Migrantenselbstorganisationen in den Prozess des Nationalen Integrationsplans eingebunden, sie sind aber ehrenamtlich tätig und haben keine wirkliche Durchsetzungsmacht. Vgl. auch Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2008:211-215
224
Das wirkt sich letztendlich auch auf die Forschung aus: die wissenschaftliche Reflexion der Diversity-Praxis in Deutschland ist noch relativ wenig entwickelt und "durch Uneinheitlichkeit gekennzeichnet" (Becker 2006:5), sie stellt sich "als Folge der Orientierung an der amerikanischen Forschungstradition als eklektisch, mit wenigen eigenen Schwerpunktsetzungen dar" (Becker 2006:12)224, und ein Großteil der Forschungsarbeit widmet sich dem Erfolg zwischen Diversity und unternehmerischem Erfolg, "um die Legitimationsbasis von Maßnahmen des Diversity-Management zu erweitern" (Becker 2006:12). Becker benennt hier als Ausnahmen mit eigener theoretischer Fundierung oder Konzeptualisierung: Krell (1998), Aretz et al. (2002), Wagner et al. (2000) und Petersen et al. (2005).
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
165
Der Erfolg von Migrationsprozessen lässt sich aus meiner Sicht daher weder mit dem Multikulturalismusansatz noch mit dem Hybriditätsansatz ausreichend bemessen. Beide gehen an der eigentlichen Integrationsrealität vorbei. Und deshalb sind beide abseits der eher akademisch geführten Diskussion - zugunsten eines pragmatischen und anwendungsbezogenen Integrationsbegriffes abzulösen, der die vier Punkte "Kulturation", "Platzierung", "Interaktion" und "Identifikation" berücksichtigt und jeden Punkt differenziert ausleuchtet: „’Kulturation’ bedeutet, dass Migranten Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben, um am Leben der neuen Gesellschaft teilnehmen zu können. ‚Platzierung' bedeutet, dass Migranten in entscheidenden gesellschaftlichen Bereichen wie dem Wohnungsmarkt, der Bildung, dem Arbeitsmarkt und Rechtssystem etc. eine bestimmte soziale Position erwerben. ‚Interaktion' meint den Aufbau (interethnischer) sozialer Beziehungen wie Nachbarschaftskontakte, Freundschaften oder gar Ehen, die ethnische Grenzen überschreiten. ‚Identifikation’ meint die mentale und emotionale Verbundenheit der Migranten mit ihrer neuen Aufnahmegesellschaft. Es geht hier um Gefühle von Loyalität, Identifikation und ‚Dazugehören’“225.
Erfolgreiche Integration würde sich dann danach bemessen, ob es - aus der Sicht der Migranten - genügend Chancen zur Realisierung dieser Punkte gibt, und ob diese Punkte von ihnen ausreichend realisiert werden. Eine Überlegung, die im Zusammenhang von Diversity-Management sicherlich von hohem Interesse ist.
225
Esser 2003:50f., zit. nach Michalowski 200:335
166
5. 5.1.
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Diversity-Management: Grundlagen und Chancen Vorbemerkung
Dieses Kapitel versucht sich dem Thema Diversity-Management durch einen abschließenden Dreischritt zu nähern. Zuerst werden die Auswirkungen der Globalisierung auf die Gestaltung von Organisationen, auf die Gestaltung der konkreten Arbeitsbeziehungen und auf die Entwicklung der Selbstverständnisse der Beschäftigten reflektiert. Dann werden die beschriebenen Phänomene am Modell der Luhmannschen Systemtheorie gleichsam gegengelesen, um die grundlegenden Erfordernisse an zeitgemäße Organisationsgestaltung und zeitgemäße Führungsarbeit freizulegen. Und in einem letzten Schritt wird dann untersucht, welchen Stellenwert DiversityManagement in diesem Zusammenhang beanspruchen kann. 5.2.
Umgang mit Vielfalt als historische Herausforderung
5.2.1. Neue Anforderungen an Unternehmen Wie weiter oben bereits gezeigt wurde, haben sich die politischen, ökonomischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 rasant verändert. Unternehmen stehen nun vor Herausforderungen, die an Komplexität kaum zu überbieten sind. Die Öffnung der Grenzen, die Liberalisierung Osteuropas, die Bildung neuer, hoch dynamischer Waren-, Finanz- und Arbeitsmärkte und die zunehmende Verflechtung von Wirtschaftsunternehmen bilden jetzt ein komplexes und unberechenbares Netz interdependenter Wirkfaktoren, das den produzierenden Unternehmen ein Höchstmaß an internationalen Aktivitäten und ein Höchstmaß an Flexibilität im Hinblick auf Technologietransfer und Ressourcenmanagement aufzwingt. Fusionen und strategische Allianzen werden wichtiger denn je. Globalisierung bedeutet auch Globalisierung der Arbeitsmärkte und Trennung der globalisierten Arbeitsmärkte in solche für Hochqualifizierte und solche für Niedrigqualifizierte. Das beeinflusst sowohl die Personal-Auswahlverfahren als auch die Personal-Auswahlkriterien: geeignetes Personal kann und wird jetzt - weitestgehend unabhängig von ethnischer, kultureller und sozialer Zugehörigkeit - weltweit gesucht. Die im Fordismus aufgrund der ganz anderen Markt- und Gesellschaftsstrukturen noch ohne größeren Schaden mögliche Verschwendung von gesellschaftlichen Ressourcen und gesellschaftlichen Produktionskapazitäten wird unter den Bedingungen der Globalisierung zunehmend obsolet. Die weltwirtschaftlichen Voraussetzungen der Phase des Toyotismus erzwingen die zunehmende Integration der bislang ausgegrenzten Arbeitskraftpotenziale von Frauen und ethnischen Minoritäten, wobei die ökonomische Leistungsfähigkeit noch stärker, aber auch anders als bislang in den Vordergrund tritt: statt spezieller handwerklicher Qualifikationen sind nun eher gene-
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relle und übergreifende, mit mentaler Stärke, Einsatzfreude, Teamfähigkeit, Integrationsfähigkeit, Flexibilität und Belastungsfähigkeit gepaarte Expertenqualifikationen gefragt: was "die Unternehmen und Volkswirtschaften in Zukunft unterscheiden wird, ist die Qualität interaktiver Formen auf der Basis psychosozialer Kompetenzen wie Kooperationsfähigkeit, Einsatzbereitschaft, Kreativität, Angstfreiheit und Verantwortungsbewusstsein"1.
Gleichzeitig unterscheidet sich die Epoche der Globalisierung von anderen Epochen der politisch-wirtschaftlichen Entwicklung vor allen Dingen durch ihr rasantes Tempo. Marktveränderungen schlagen viel schneller auf die Produktion durch als vorher. Der permanente Wechsel verlangt permanente Veränderungsbereitschaft, ausgeprägte Reaktionsfähigkeit und schnellstmögliche Intervention, er verlangt neue institutionelle Regeln und neue Verhaltenscodices, und er erzwingt die systemische anstelle der punktuellen Rationalisierung. Liberale und neoliberale Geschäftsmodelle und Organisationsmuster und neuartige "toyotistische" Produktionssysteme" gewinnen stark an Bedeutung. Die Stichworte Toyota-Produktionssystem, Lean Management, Knowledge Management, Business Reengineering, Organizational Learning, Individualisierung, Primat der Aufgabe etc. und die zunehmende Gruppenarbeit verweisen auf ein verändertes Organisationsverständnis und auf die gestiegene Bedeutsamkeit der sozialen Beziehungen und der mit ihnen einhergehenden Entscheidungsprozesse2. Das hohe Maß an interner und externer Kommunikation, das mit der internen und externen Kunden-Lieferanten-Beziehungen des Toyota-Produktionssystems (und der anderen postfordistischen Produktionssysteme) verbunden ist, verlangt den Aufbau eines neuen Hierarchieverständnisses. In dem Maße, in dem diskursive Prozesse an Bedeutung gewinnen, werden eng definierte und streng formalbürokratische Verhaltensanweisungen dysfunktional und das Verständnis von Hierarchien verändert sich. Die Hierarchien verlieren den Charakter reiner Befehlshierarchien, sie werden zu notwendigen, aber weitestgehend unabhängig voneinander agierenden Ebenen reduziert, die nur noch dort von Bedeutung sind, wo zentrale Entscheidungen getroffen werden müssen: „Hierarchie schützt vor den unberechtigten Eingriffen anderer in die eigene Arbeit und zeichnet exakt und präzise die wenigen Stellen aus, von denen aus Eingriffe erwartet werden müssen oder denen Eingriffe zugemutet werden können“3.
Diese, mit den flachen Hierarchien einhergehende Autonomie der Ebenen garantiert zweierlei: sie garantiert die Wirksamkeit zentraler Entscheidungen und gibt dadurch 1
Peters 2000:25. Und an anderer Stelle: "Es gilt nunmehr, unter Aspekten von Ressourcenausschöpfung und Optimierungschancen, Bildung und Lernen in Lebenszyklen von Menschen und Organisationen als einen lebenslaufbegleitenden Prozess zu implementieren". Peters 2000:29
2
Hacker 1986:61
3
Baecker 2003:27
168
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Orientierung, und sie garantiert ein Höchstmaß an Freiheitsgraden auf der operationalen Ebene und gestattet dadurch operationale Flexibilität. „Selbstbestimmung soll (...) dem Betrieb seine ursprüngliche schöpferische Vitalität wiedergeben, die ihm durch die tayloristischen und fordistischen Produktionsmethoden verloren gegangen sind“4.
Das aus der Linienfunktion begründete Durchregieren wird überall dort durch den kollegialen Austausch im Team ersetzt, wo Produktionsprozesse in Eigenregie gestaltet werden können, es wird dort beibehalten, wo es um die Gestaltung des Gesamtunternehmens geht. Hierarchie hat nunmehr die Funktion, „Kommunikation und Arbeitskontakte zwischen Gleichrangigen zu ermöglichen, die im einzelnen nicht vorreguliert sind, sondern sich aus der Situation ergeben können“5, und Kommunikation „ist nicht mehr nur ein mehr oder minder störanfälliger und optimierbarer Kanal der Übertragung von 'Befehl' (von oben nach unten) und 'Information' (von unten nach oben), sondern wird zunehmend als eine eigene Emergenzebene der Konstruktion von Wirklichkeit gesehen"6. Unternehmen, die nach dem Toyota-Produktionssystem organisiert sind, einigen sich also - zumindest im operationalen Bereich - diskursiv über die zentralen Ziele, Zwecke und Verfahrensweisen, und sie gewährleisten ihre Entscheidungsfähigkeit an sich durch die Bildung und Verknüpfung von Entscheidungsnetzwerken. Die gezielte Organisationsgestaltung, der bewusste Technologieeinsatz und der bewusste Einsatz der Humanresourcen sind hier die bevorzugten Steuerungsmedien, wobei die Parameter "arbeitsbezogene Kommunikation", "gegenseitige Unterstützung" und "Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe" als besonders bedeutsam bewertet werden7. Das Unter-
4
Reichert 2002:177
5
Baecker 2003:48. Die mit der Einführung der Teamarbeit verbundene Abflachung der Hierarchien scheitert offensichtlich häufiger am Widerstand von Führungskräften: „Man macht immer wieder die Erfahrung, dass junge aufstrebende Führungskräfte mit guten Ideen und großer Bereitschaft zu besserer Kommunikation und Führung diese Vorsätze vergessen, sobald sie in eine höhere Position aufrücken,“ meint Dr. Dieter Schlemmer, langjähriger Personalvorstand der Henkel KgaA und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Personalführung in: Handelsblatt - Karriere Nr. 25, 14.06.1991, S. K1, zit. nach Bösenberg et al. 1993:128, FN 12.
6
Baecker 2003:108. Baecker stützt sich hier im wesentlichen auf Merleau-Ponty 1964, Simon 1991 und Weick 1995
7
Vgl. z.B. Alioth 1986:200f. Im Zusammenhang dieser Arbeit kann leider nicht untersucht werden, welche Konzeption von "Wille" und "Entscheidung" hinter diesem Konzept der Aufgabenorientierung steht. Jedoch legt die bei Ulich (1992:156) zitierte Formulierung Freses (1978:165) - mit der er eine verbesserte Aufgabenkontrolle linear aus einer ganzheitlichen Aufgabenstellung ableitet - nahe, dass das Verständnis von Freiheit, Einflussnahme und Handlung eher den klassischen Konzepten einer vernunftgesteuerten Machbarkeit und an Konzepten
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nehmen gilt nun als ein in erster Linie eigendynamischer „selbstbestimmter sozialer Organismus“8, der mit dem überkommenen, autoritativen und personenzentrierten Führungsbild nicht mehr zu leiten ist. Arbeitsteilung im Betrieb soll nun nicht mehr verordnet, sondern bei „laufendem Betrieb (...) ausgehandelt“9 werden. Gleichwohl verbleiben die Hierarchien hier im paradoxen Spannungsfeld von Machtausübung auf der einen Seite und Machtakzeptanz auf der anderen Seite, wobei die konkrete Ausgestaltung dieses Spannungsverhältnisses als Vereinbarung zwischen den agierenden Parteien den historischen Bedingungen unterliegt. Das Spannungsverhältnis selbst kann nicht aufgehoben werden, ohne die Hierarchie selbst aufzuheben: „Im Spiel mit der Hierarchie wird immer auch die Leistung der Hierarchie mit vorgeführt, die darin besteht, den Rahmen zu setzen, innerhalb dessen mit dem Rahmen gespielt werden kann“10.
Die mit dem Toyotismus allgemein assoziierte Übergabe von mehr Verantwortung an die Mitarbeiter wird also simultan durch gleichsam gegenläufige Muster der zentralen Kontrolle ergänzt. Bei der toyotistischen Arbeitsorganisation handelt es sich mithin keineswegs ausschließlich um eine qualitative Verschiebung hin zu mehr Autonomie, sondern eher um eine neuartige Relation der Dimensionen „Qualifikation, Kontrolle, soziale Beziehungen und Belastungen“11 zueinander. Es handelt sich um eine „’kontrollierte Dezentralisierung’ (…), die für die Arbeitskräfte sowohl neue Elemente von Autonomie wie auch neue Formen von Heteronomie mit sich bringt“12. Das Mehr an Freiräumen und Befugnissen korreliert mit einem Mehr an Leistungserwartungen oder Leistungszwängen, und die Abnahme der klassischen Beschränkungen im arbeitsplatznahen Bereich wird durch eine verstärkte Vorgabe strategischer Leistungsbedingungen und strategischer Leistungsziele im Hinblick auf
des freien Willens orientiert ist, als an der Idee (weitestgehend unkontrollierbarer) autopoietischer Prozesse und rekursiver Schleifen, wie sie von Luhmann angedacht wird. 8
Bösenberg 1993:51
9
Baecker 2003:64
10
Vgl. Baecker 2003:49
11
Vieth 1995:105
12
Vieth 1995:104, in Anlehnung an Dohse et al. 1985:55. Vgl. auch Pongratz et al. 2003:10f., nach denen nicht nur diese beiden Produktionsparadigmen noch längere Zeit parallel existieren werden, sondern auch die dazugehörigen Idealtypen der Erwerbsarbeit. Folgt man diesen Autoren, wird man darüber hinaus eine größere Anzahl unterschiedlicher Mischformen annehmen müssen: „Betriebe mit denen für das fordistische Produktionsregime üblichen institutionellen Regelungen (u.a. differenzierte Arbeitsorganisation, etablierte Interessenvertretung, unbefristete Vollzeitarbeit als Standard) geraten durch Veränderungstendenzen in Richtung Selbstorganisation und Flexibilisierung (…) in ein Entwicklungsstadium, das vom Nebeneinander fordistischer und postfordistischer Organisationsprinzipien geprägt ist.“
170
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Kosten, Umsatz und Qualität usw. begleitet13: die traditionellen Führungsaufgaben der Arbeitssteuerung und Arbeitskontrolle werden nun überwiegend von den Arbeitenden selbst übernommen. Hier kommt der Entwicklung zugute, dass Selbstdisziplinierung und Selbstintegration sowohl im tayloristisch als auch im fordistisch organisierten Betrieb zu den notwendigen Basisqualifikationen der Mitarbeiter gehörten. Aber während persönliches Versagen dort noch durch die Hierarchie geahndet wurde, muss der Arbeitskraftunternehmer sich zuerst in allen Punkten selbst und mit großer Konsequenz reglementieren, um seinen Marktwert zu erhalten. Die Beschäftigten selbst transformieren ihre allgemeine Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, eigenverantwortlich in Leistung14, und sie müssen sich dabei zeitlich, räumlich, sozial und interpersonal, fachlich-technisch, medial und motivational selbst organisieren15: „Das persönliche Verhältnis zur Arbeit wird dann als ‚funktional’ für die betriebliche Ordnung anerkannt, wenn die ‚Selbstorganisation’ hinsichtlich der betrieblichen Kostenrechnung die Senkung der Kontrollkosten für Vorgesetzte bewirkt“16. Zusammen mit der Ausweitung der Beziehungen, die der einzelne Mitarbeiter zu pflegen hat, verschiebt sich der Einflussbereich des Managements also auf eine andere Ebene, nämlich auf den übergreifenden, hoch komplexen Gesamtprozess. Gerade weil die unmittelbare Kontrolle der operativen Prozesse in die Eigenverantwortung des Mitarbeiters gestellt wird und er dadurch bereit ist, sich den Bedingungen der Produktion zu unterwerfen, bleibt der Gesamtprozess (im Rahmen des überhaupt möglichen) kontrollierbar: mit der toyotistischen Arbeitsorganisation „geht eine Revolution der Unternehmens- und Arbeitskultur einher, die das traditionelle Verständnis von Organisation fast vollständig verändert“17: die detailliert durchstrukturierten Vorgaben des fordistischen Produktionsparadigmas werden sowohl auf der generellen Ebene als auch auf der Ebene der interindividuellen Vereinbarungen durch „marktähnliche Auftragsbeziehungen“18 ersetzt. 5.2.2. Vielfalt als Ergebnis fortschreitender Individualisierung Die von den Unternehmen im Toyotismus eingeforderte Selbststeuerung der Mitarbeiter nutzt die allgemeine Individualisierungstendenz19 der modernen Gesellschaft 13
Vgl. Voß et al. 2002:137
14
Vgl. Voß et al. 2002:139
15
Vgl. Voß et al. 2002:140; ablesbar an der drastischen Zunahme privater Kommunikationsmittel Zeitplaner, Handy, Laptop etc.
16
Vgl. auch Reichert 2002:185, in Anlehnung an Richter 1994:440f.
17
Baecker 2003:52
18
Vgl. Moldaschl 1998
19
Luhmann (1987:357) versteht - mit Bezug auf Maturanas Begriff der „Autopoiesis“ - unter Individualität die zirkuläre Geschlossenheit der selbstreferentiellen Reproduktion, die in der Reflexion als ein „Sich-selbst-Voraussetzen des Bewusstseins“ erscheint.
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und beschleunigt sie gleichzeitig. Die Veränderung in der gesellschaftlichen Fassung der Arbeitskraft, die damit verbunden ist, lässt sich gleichsam als rekursiver Prozess begreifen, der sowohl von arbeitsstrukturellen Faktoren als auch vom Selbstverständnis der Akteure beeinflusst wird. Die „Individualisierung der Erwerbsperspektiven“ lässt Selbstbestimmung und Sinnbezug stärker in den Vordergrund treten. Instrumentelle Erwartungen (Einkommen, Karriere etc.) an die Erwerbsarbeit werden wichtiger als arbeitsinhaltliche Erwartungen (Qualität der Arbeit, Möglichkeit zu sozialen Kontakten etc.): „Vor allem jüngere Erwerbstätige zeigen eine selbstbewusste Orientierung an einem erfüllten und selbstverantwortetem Arbeits-Leben, in dem sich Erwerbsarbeit und andere Lebensbereiche gleichberechtigt verbinden lassen. Dieser Orientierungswandel lässt generell auf eine Individualisierung der Erwerbsperspektiven schließen, mit der zunehmend nach individuellen Lösungen zur Kombination von Erwerbsinteressen mit anderen Freizeit- und Familieninteressen gesucht wird“ 20.
Die toyotistischen Produktionsmodelle können somit sowohl als Nutznießer als auch als zentraler Treiber des fortschreitenden gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses gelten. Nutznießer, weil Leistungserbringung aus der individuellen Verantwortungsperspektive bereits einen bestimmten Grad an individualisiertem Bewusstsein voraussetzt. Treiber, weil die toyotistischen Arbeitsbedingungen einen hohen Grad an Spezialisierung einfordern, weil sie die Teilung der Arbeitsmärkte in solche für Niedrigqualifizierte und solche für Hochqualifizierte vorantreiben, und weil sie den Konkurrenzdruck auf beiden Märkten verschärfen21. Die mit dem toyotistischen Produktionsparadigma einhergehende gesellschaftliche Veränderung trägt damit alle Kriterien der fortschreitenden Individualisierung: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freisetzungsdimension’), Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimension’) und - womit die Bedeutung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontroll- und Reintegrationsdimension’)“22. Freisetzung meint hier auch die Auflösung des proletarischen Milieus, den Rückgang der traditionellen Eheversorgung der Frauen, die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeiten und die Dezentralisierung des Arbeitsortes. Zusammen schaffen sie eine Ausgangslage, in der die 20
Vgl. Pongratz et al. 2004:35
21
Die Kriterien für hohe Qualifikation und niedrige Qualifikation sind nicht eindeutig bestimmt, wohl auch nicht eindeutig bestimmbar. Sie wechseln - vor allen Dingen im Zusammenhang mit Migrationsprozessen - in Abhängigkeit von den wirtschaftlichen und / oder politischen Anforderungen, aber „Most frequently, governments define highly skilled migrants not in terms of either/or, but in terms of both education and occupation. For example, the United States’ wellknown “specialty worker H-1B visa” is based on a list of specific occupations and a minimum academic requirement of a Bachelor’s degree. The definition of “highly skilled” depends on both an educational component and a thereshold defining minimum competence in a knowledge-based society“. World Migration Report 2008:53
22
Beck 1986:206
172
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
klassischen sozialen Zusammenhänge an Bedeutung verlieren, und in der „der oder die Einzelne selbst (...) zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“23 wird.
Die freigewordene Dimension des sozialen Zusammenhangs und der sozialen Bezugspunkte wird aber vor allen Dingen durch den Druck der arbeitsmarktabhängigen Existenzsicherung ausgefüllt und führt im Zusammenhang des arbeitsmarktimmanenten Konkurrenzgefüges zu einer stark ahistorischen Vereinzelung, in der sich alles um die eigene Person und um die eigene (konsumbestimmte) Lebensgestaltung dreht, in der aber auch alles selbst entschieden werden muss, gleichgültig, ob die Fähigkeiten dazu vorhanden sind oder nicht. „Biographien werden ‚selbstreflexiv’; sozial vorgegeben wird in selbst hergestellte und herzustellende Biographie transformiert“24. Herkunft, Schicht, Profession und Ausbildung verlieren damit ihre Bedeutung als hinreichende Individualitätskriterien. Individualisierung wird zunehmend zur Selbstdarstellung und soll in erster Linie durch Konsum und Konsumgüter realisiert werden. Die Formen der Selbstdarstellung werden modeabhängig und vergänglich wie die Konsumgüter selbst, und es wird zunehmend schwierig, aus der äußeren Erscheinungsform eines Menschen seine Bereitschaft zu konformem oder abweichendem Verhalten herauszulesen. An die Stelle allgemeingültiger Verhaltensstandards und Verhaltensvorgaben treten die in der Interaktion zwischen den Beteiligten festgelegten Vereinbarungen25. Da der klassische soziale Zusammenhang seine Bedeutung weitestgehend verloren hat oder kaum noch zur Verfügung steht, wird Reintegration in gesellschaftliche Zusammenhänge auf die individuelle Integration in teilautonome Arbeitsstrukturen reduziert: der Einzelne muss ein „ich-zentriertes Weltbild“26 entwickeln, um sein Leben erfolgreich zu gestalten. Zugleich wird eine langfristig gültige Absicherung von Zukunft aber zunehmend unwahrscheinlicher, eine langfristig anhaltende existentielle Verunsicherung dagegen immer wahrscheinlicher. „Normalbiographien“ und „Normalarbeitsverhältnisse“27 mit einer konstanten, auf einen längeren Zeitraum einplanbaren Vergütung und einer langfristig gültigen Lebensplanung werden für weite Teile der Bevölkerung unrealistisch; Arbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung und ungeschützte Arbeitsverhältnisse nehmen zu28. Demzufolge kann die Einführung toyotistischer Produktionssysteme auch nicht einfach als geradlinig verlaufende Humanisierung der Arbeitswelt oder als geradlinig
23
Beck 1986:209
24
Beck 1986:216
25
Vgl. Baecker 2003:105f.
26
Beck 1986:217
27
Osterland 1990
28
Vgl. Beck 1986:220
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
173
verlaufende Personwerdung29 interpretiert werden. Mit der Einführung toyotistischer Produktionsweisen entstehen „prekäre Arbeitswelten, die Chancen an Risiken binden“30. Die Epoche der modernen Globalisierung entwirft das Bild eines neuen "Idealmenschen"31, der auch unter "instabilen, fragmentierten sozialen Bedingungen"32 frei auf seine Ressourcen zugreifen kann. Der „verberuflichte Arbeitnehmer“ des Taylorismus und Fordismus weicht dem „Arbeitskraftunternehmer“33. Ersterer umschreibt gleichsam den Idealtypus des Befehlsempfängers in hochregulierten, stark hierarchisch strukturierten Organisationszusammenhängen. Letzterer den Idealtypus des selbst organisierten, für die Entwicklung seiner Arbeits- und Leistungsfähigkeit hochgradig selbst verantwortlichen Mitarbeiters, der nicht nur die Qualität seiner eigenen Produktion zu verantworten hat, sondern darüber hinaus eigenverantwortlich zusätzliche, spezielle Teilprozesse des Unternehmens betreffende Strukturierungsleistungen zu erbringen hat. Der Typus des „Arbeitskraftunternehmers“ wird zum normativen Leittyp für die erwartete Veränderung der Arbeits- und Erwerbsbedingungen, vor allen Dingen im Zusammenhang wichtiger, zukünftig bedeutsamer, hochqualifizierter und imageträchtiger Tätigkeitsfelder, die in der Regel für Hochschulabsolventen reserviert sind. In Arbeitsbereichen mit niedriger Qualifikation und geringer Entlohnung dagegen herrscht auch im Toyotismus ein eher durch Direktive gekennzeichneter Führungsstil und ein entsprechendes Selbstverständnis des Mitarbeiters vor, wobei Umfang und Bedeutung dieser Bereiche für den Gesamtproduktionsprozess im permanenten Rückgang begriffen sind. Wenig qualifizierte Arbeit wird zunehmend durch CNCgesteuerte Werkzeugmaschinen ersetzt: „Während Erwerbstätige, die über die nötigen personalen, sozialen und ökonomischen Ressourcen verfügen, durchaus zu ‚Erfolgsunternehmern’ ihrer eigenen Arbeitskraft taugen mögen, drohen für Gruppen mit unzureichender Ressourcenausstattung neuartige Belastungen und erhebliche Risiken (…). Im Durchschnitt dürften die neuen Arbeitsformen aufgrund der ungünstigeren, weil vereinzelten Marktmacht der betroffenen Erwerbstätigen gegenüber den Unternehmen eher zur Verschlechterung der Erwerbslagen beitragen. Chancen und Gefahren des Typus Arbeitskraftunternehmer bleiben eng verknüpft mit bekannten Ungleichheitsfaktoren, insbesondere mit Bildung, Besitz, sozialen Beziehungen, nationaler Herkunft und Geschlecht. Als wichtige neue
29
Vgl. Beck 1986:207
30
Beck 2007:87
31
Vgl. Sennett 2007:8. Hier ist gemeint, dass ein global denkender und handelnder Mensch im Idealfall alles ihm Vertraute zugunsten existenzieller Herausforderungen hinter sich lassen kann.
32
Sennett 2007:8
33
Vgl. Voß et al. 2002:138
174
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Ungleichheitsdimension könnte sich die Verteilung von Fähigkeiten zur Bewältigung der spezifischen Dilemmata selbstorganisierten Arbeitens erweisen“34.
Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung haben einschneidende Veränderungen im Selbstbild und in der Planung und Gestaltung des gesamten Privatlebens der Betroffenen zur Folge. Der „Arbeitskraftunternehmer“ kann (muss) seine Tätigkeiten selbständig planen, steuern und überwachen, er kann (muss) sich selbst gezielt vermarkten, und er unterwirft seinen privaten Alltag den gleichen Rationalisierungsstrategien, mit denen er seinen Arbeitsalltag organisiert. Er braucht eine starke Beziehung zu sich selbst, um sich auch in schwierigsten Kontexten selbst zu motivieren, denn zwischenmenschliche Beziehungen sind unter den Bedingungen der temporären, überregionalen oder gar internationalen Aufgaben- und Jobbewältigung nur noch die Ausnahme. Er muss bereit sein, auch in einem letztendlich unbefriedigenden Umfeld lebenslang zu lernen und sich jene Fertigkeiten und Fähigkeiten anzueignen, die der globale Bildungs-Benchmark fordert. Er muss laufend bemüht sein, seine Effizienz in allen Lebensbereichen zu steigern, da die allgemeine Schnelllebigkeit alle ökonomisch unrentablen Denk- und Handlungsweisen mit der Höchststrafe "Arbeitslosigkeit" belegt. Das ist bedeutsam im Zusammenhang der benötigten Qualifikationen. Statt der berufsspezifischen Qualifikationen im Taylorismus und Fordismus, braucht die kontinuierliche Selbstvermarktung kontextunabhängige, ganzheitliche und fachübergreifende Schlüsselqualifikationen35, die die eigenverantwortliche soziale und organisatorische Einbindung der eigenen Person in den betrieblichen Rahmen ermöglichen und die Entwicklung generalisierter Handlungspläne gestatten36. Solche Schlüsselqualifikationen sind z.B. „Problemlösefähigkeit, logisches Denken und Handeln, Urteilsfähigkeit, Eigeninitiative, Selbststeuerung, Kooperationsfähigkeit, Lernfähigkeit, Verantwortlichkeit“37, wobei der Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit mit der wachsenden Bedeutung von Projektarbeit, Teamarbeit und Expertennetzwerken und der wachsenden Bedeutung sozialer Beziehungen nochmals eine besondere Wichtigkeit zukommt. Dafür können die Beschäftigten im toyotistischen Unternehmen ihre Kompetenzen in einem weit umfassenderen Sinne in den Arbeitsprozess einbringen als im auf repetitive Teilarbeiten beschränkten Fordismus, und die erworbenen kontextunabhängigen Schlüsselqualifikationen können sowohl im Berufs- wie im Privatleben genutzt werden. Integrierte Arbeitsaufgaben, flache Hierarchien und attraktive Unternehmenskulturen erleichtern die Identifikation der Beschäftigten mit der Arbeit und mit den Unternehmenszielen: „Arbeit kann als ‚sinnvoll’ und konkordant mit den menschlichen 34
Pongratz et al. 2004:31
35
Zum Begriff der Schlüsselqualifikationen vgl. Wilsdorf 1991
36
Vgl. Vieth 1995:165-183
37
Vieth 1995:169
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
175
Arbeitspotenzen erlebt werden“38. Handlungsspielräume und arbeitsplatznahe Autonomie schaffen weit bessere Voraussetzungen zu einer Verknüpfung von Arbeitstätigkeit und Persönlichkeitsentwicklung als das unter den Bedingungen des Fordismus möglich war, aber sie können nicht wirklich umfassend zur selbst bestimmten Persönlichkeitsentwicklung genutzt werden. In der fordistischen Arbeitsorganisation war die persönliche Qualifizierung noch eine Möglichkeit, der repetitiven Teilarbeit zu entfliehen. Die persönliche Qualifizierung garantierte den Zugang zur qualifizierteren, strategisch wichtigeren und insgesamt humaneren Tätigkeit, und sie definierte den mit der Stellung in der Hierarchie verbundenen Spielraum zur Ausübung sozialer Kontrolle. In der toyotistischen Arbeitsorganisation gehen diese Vorteile weitestgehend verloren. Das tradierte Verhältnis von persönlicher Qualifikation, Entscheidungsspielraum und sozialer Verfügungsgewalt wird entkoppelt. Die persönliche Qualifikation garantiert weder eine höhere soziale Verfügungsgewalt, noch eine „gesündere“ oder „humanere“ Tätigkeit39. Die Erweiterung der „Handlungsspielräume verknüpft mit Leistungsdruck, permanente Qualifizierungsnotwendigkeiten und Gruppendruck können zu ganz andersartigen Belastungsformen führen als die repetitive Teilarbeit. Nicht mehr körperliche Anstrengungen, Monotonie und belastende Arbeitsbedingungen wie Lärm stehen im Vordergrund. Mit zunehmender Automation der Arbeitsprozesse treten verstärkt kognitive und abstrakte Leistungsanforderungen wie etwa bei der Maschinensteuerung und -überwachung auf. Im allgemeinen wird damit eine Verschiebung von physischen zu psychischen Belastungen erwartet. (…) Im Zuge toyotistischer Umstrukturierungen der Produktion wird die körperlich oder psychisch lokalisierbare Schädlichkeit von Arbeit unter Umständen ‚zur abstrakten, systemischen und eher unspezifischen Belastungsform ‚industrieller Mühe’ transformiert’. Folgen sind eher schwer definierbare Gesundheitsbeeinträchtigungen, psychische oder psychosomatische Störungen, die nur schwer mit Arbeitstätigkeiten und -bedingungen in Verbindung gebracht werden können“40.
5.2.3. Globalisierung und Internationalisierung der Arbeit Im Zusammenhang der Globalisierung geht es also nicht nur um die Verteilung der Rohstoff- und Energiereserven, sondern zunehmend um den Zugriff auf Wissenspotenziale und Talente. Gleichzeitig haben die klassischen Industrieländer mit einem deutlichen Bevölkerungsrückgang, mit starker Überalterung und mit dramatischen Qualifikationsmängeln in den jüngeren Bevölkerungsschichten zu kämpfen. Schon heute zeichnet sich hier ein bedrohlicher, irreversibler, der Innovationsfähigkeit abträglicher Fach- und Führungskräftemangel ab41, der nur durch Zuwanderung internationaler Spezialisten aufgefangen werden kann: die klassischen Industrieländer sind 38
Vieth 1995:180
39
Vgl. auch Vieth 1995:107f.
40
Dörr et al.1982:441
41
Vgl. z.B. Reinberg et al. 2004, Heinsohn 2007, Heinsohn 2008
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
zur weiteren Aufrechterhaltung ihrer Produktivität auf die qualifizierten Experten der Entwicklungs- und Schwellenländer angewiesen und versuchen diese durch unterschiedliche Anreiz- und Förderprogramme für sich zu gewinnen. Die Entwicklungsund Schwellenländer dagegen verzeichnen einen starken Überhang an gering qualifizierten Arbeitskräften. Auf den internationalisierten Arbeitsmärkten konkurrieren diese miteinander und mit den gering qualifizierten Arbeitskräften der klassischen Industrieländer. Die modernen Globalisierungs- und Rationalisierungsprozesse verändern und beschleunigen die internationale Migration und erhöhen die kulturelle Vielfalt in den weltweiten Bevölkerungs- und Belegschaftsstrukturen. Gerade für die Global Players und die TNC wird es zunehmend wichtiger, die Vielfalt der Perspektiven, Wertehaltungen und Überzeugungen der Mitarbeiter zu akzeptieren, wertzuschätzen und zu fördern und durch eine entsprechende Organisationskultur zu unterstützen42. Die Epoche der modernen Globalisierung bringt also die gesellschaftlich je schon vorhandene Diversität mit ihren Problem- und Risikopotenzialen und mit ihren Chancenpotenzialen stärker in das Bewusstsein der politisch und wirtschaftlich verantwortlichen Akteure. Das erfordert einen wesentlich bewussteren Umgang mit Vielfalt als bislang üblich. Wettbewerbsfähig werden vor allen Dingen die Unternehmen sein, denen es gelingt, „… die Verhaltensgrundsätze der Unternehmung gegenüber Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten, Kapitalgebern, Staat und Öffentlichkeit zu bestimmen und durch die Entwicklung und permanente Pflege konsensorientierter, tragfähiger Beziehungen zu allen diesen Gruppen deren Unterstützungs- oder Kooperationsbereitschaft sicherzustellen“43.
Gleichsam reziprok zum Bedeutungszuwachs der großen transnationalen Konzerne verlieren die Nationalstaaten im Zusammenhang der Globalisierung rapide an Bedeutung. Im Zusammenhang von Migration und Diversity-Management heißt das auch, dass die westlichen Staaten den mit dieser Entwicklung einhergehenden Anforderungen nicht wirklich gewachsen sind, gerade weil sie - unabhängig von der modernen Globalisierung - zumeist multikulturelle Ursprünge haben. Denn in fast allen modernen Nationalstaaten mussten sich die gemeinsam im Staatsgebiet lebenden Bevölkerungsgruppen einer Zentrumskultur unterwerfen, wenn sie die Rechte der Mehrheitskultur genießen wollten. Diese "immer umfassendere Inklusion der Bevölkerung in gemeinsam geteilte Bürgerrechte"44 war allerdings ohne Ausnahme von Ungleichgewichten bei der politischen, gesellschaftlichen und materiellen Teilhabe begleitet. Und sie hält bis heute an. Zumindest für gesellschaftliche Minoritäten hinkt die materielle Realisierung gleicher Rechte immer noch der formellen Gewährung hinterher. Vor allen Dingen auch im Zusammenhang der Globalisierung und im Zusammen-
42
Aretz et al. 2006:67f.
43
Hill 1968:225
44
Münch 1998:231
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
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hang des erstarkten Selbstbewusstseins der peripheren Kulturen ist sie aber nicht länger haltbar und muss durch Formen der Integration ersetzt werden, die die alte Forderung nach substanzieller Gleichbehandlung aller Menschen besser realisieren können. 5.2.4. Diversity-Management: Funktion und Erwartungen Insgesamt fallen also im Zusammenhang der Globalisierung drei miteinander verwobene Phänomene besonders auf:
auf der Ebene der Gesellschaft: eine deutliche Veränderung der Bevölkerungsstrukturen der alten Industriegesellschaften durch veränderte Altersstrukturen und durch Zuwanderung von Migranten
auf der Ebene der Unternehmen: eine deutliche Zunahme global operierender, multikultureller Unternehmen mit ungeheurer Finanzstärke
auf der Ebene der Arbeitsorganisation: eine deutliche Zunahme multikultureller Teamarbeit.
In allen drei Bereichen geraten gewachsene Selbstverständnisse und gewachsene Identitäten auf den Prüfstand und werden an globalen Effizienzstandards neu vermessen. Und ein Ende ist noch nicht in Sicht; der Stellenwert von "Vielfalt" wird vermutlich weiter steigen. Die Internationalisierung der Unternehmen und der Arbeitsmärkte, die mit ihr verbundene Migration und die insgesamt steigende Bedeutung individueller Kompetenzen für die Gestaltung organisationaler Prozesse wird eine weiter zunehmende Diversität nach sich ziehen und eine weitere Sensibilisierung im Umgang mit Diversity einfordern. Gesellschaften und Unternehmen, die sich unter den aktuellen Prämissen und im aktuell stets weiter steigenden Tempo verändern, brauchen einen geeigneten organisatorischen Unterbau. Diversity-Management hat hier die Aufgabe, das Konfliktpotenzial der individuellen und kulturellen Unterschiede soweit zu minimieren, dass die betrieblichen Prozesse nicht gestört werden, und darüber hinaus die Aufgabe, die hinter den Unterschieden verborgenen Wissenspotenziale für die Optimierung der Prozesse zu nutzen. Dabei werden politische, makroökonomische, mikroökonomische und soziale Ziele verfolgt: Diversity-Management soll die politische und ökonomische Teilhabe von Minoritäten an der Gesellschaft verbessern (also einen Beitrag zur verbesserten Ressourcennutzung auf nationalstaatlicher Ebene leisten), und es soll - vor allen Dingen für die international operierenden Unternehmen - die Heterogenität von Unternehmensbelegschaften zur Lösung organisationaler Probleme bereitstellen (also einen Beitrag zur verbesserten Ressourcennutzung auf organisationaler Ebene leisten)45,
45
Vgl. auch Crouch et al. 2000:16 und Cox 1993:11. Das Ziel des Diversity-Management ist "planning and implementing organizational systems and practices to manage people so that the
178
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
wobei sich sowohl die innere Struktur als auch die Inhalte und die Ziele mit der Zeit entwickelt und verändert haben. Die konkrete unternehmerische Ausgestaltung des Diversity-Management bleibt sowohl von den (nationalstaatlich geprägten) Rahmenbedingungen der Gesellschaft abhängig, in die die Unternehmen jeweils integriert sind als auch von den konkreten wirtschaftlichen Zielen, die sich die Unternehmen gesetzt haben. Etwa bis 1990 verstand man unter Diversity-Management vor allen Dingen das Modell der "Affirmative Action", mit dem die Integration von Minoritäten im Sinne einer demokratischen Gleichstellungspolitik durch direktive Quotenregelungen erzwungen werden sollte: der ethische Aspekt steht dem betriebswirtschaftlichen Aspekt hier noch zumindest gleichwertig gegenüber. Der Abbau formeller Schranken und die Verteilung gesellschaftlicher Positionen nach Quoten kann dabei aber nur ein Zwischenschritt sein. Quotierung und Quotenverteilung sind und bleiben formale Willkürakte, die höchstens noch durch die Organisations- und Konfliktfähigkeit der Minoritäten beeinflusst werden, denn nur Gruppen, "die genügend Macht mobilisieren können, finden bei der Quotenverteilung Berücksichtigung"46. Quotierung ist Ausdruck eines (prekären oder prekär werdenden) Machtverhältnisses, sie hat mit gewachsener Toleranz noch kaum etwas zu tun, und sie gibt nur eine unzureichende Basis für die Formen der gleichberechtigten Teilhabe und des freien Informationsflusses ab, die unter den Bedingungen der Globalisierung benötigt werden. Hier kann man die - im Zusammenhang von Migrationsprozessen verstärkt zu beobachtende Rückbesinnung auf die Herkunftskulturen der Migranten auch als "ein Scheitern des individualistischen Inklusionsprogramms"47 verstehen. Auch hier hat die Entwicklung in den USA gezeigt, welche Schritte der Weg hin zu mehr Chancengleichheit erfordert und welches Beharrungsvermögen die privilegierten Bevölkerungsschichten besitzen. Ab 1990 verschiebt sich dieses Gleichgewicht dann: der ethische Aspekt verliert, der ökonomische Aspekt gewinnt an Bedeutung. Diversity-Management muss nun neben der unternehmensinternen auch die unternehmensexterne Vielfalt ins betriebswirtschaftliche Kalkül integrieren und dafür besondere Schnittstellen einrichten: eine Schnittstelle zum Marktgeschehen (Produktvielfalt, Vielfalt der Kundenbedürfnisse und Vielfalt des globalen Arbeitskräftereservoirs etc.), eine Schnittstelle zur Personalführung und Personalentwicklung (Vielfalt der Arbeitskraftgewinnung und Vielfalt von Qualifizierungsmöglichkeiten) und eine Schnittstelle zur Politik und Gesellschaft (Wahrung von Demokratie, Chancengleichheit und Gerechtigkeit). potential advantages of diversity are maximized while its potential disadvantages are minimized." 46
Münch 1998:234
47
Münch 1998:236
K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management •
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Das Spektrum der Diversity-Merkmale wird dabei von der "surface-level diversity" (der Diversity der sichtbaren Merkmale) hin zur "deep-level diversity" (der Diversity der Motivations- und Wertehaltungen und der persönlichen Erfahrungen etc.) erweitert48, wobei die zunehmende Differenzierung des Diversity-Begriffs von den sichtbaren Merkmalen hin zu den unsichtbaren der im Zusammenhang der Rationalisierungsprozesse bereits beschriebenen zunehmenden Verwertung immer tieferer Persönlichkeitsschichten im Produktionsprozess folgt. Es wird deutlich, dass DiversityManagement kein Zweck an sich ist, sondern stets "Mittel zur Erreichung vorher explizit gesetzter oder implizit verfolgter individueller, unternehmerischer und gesellschaftlicher Ziele"49: Diversity-Management entwickelt sich im Kontext der weltweiten Verschärfung des Wettbewerbs von einer eher machtgestützten zu einer eher integrierten Verfahrensweise, die vor allen Dingen einen Beitrag zur ausreichenden Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens leisten und die dafür unabdingbaren Voraussetzungen generieren soll: hochmotivierte, perfekt auf die inneren und äußeren Anforderungen ausgerichtete Belegschaften und leistungsfördernde Unternehmenskulturen50. Die Entwicklung der unterschiedlichen Produktionssysteme und die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaften gingen hiermit Hand in Hand. Vielfalt wurde zu einem Synonym für Kompetenzenvielfalt, von der man glaubte, dass man sie durch gezielte Auswahl und gezielte Bündelung zu einem strategisch wirksamen Alleinstellungsmerkmal entwickeln könne. Die geschickt gebündelte Vielfalt sollte zu einzigartigen und unternehmensspezifischen Fähigkeiten führen, sie sollte sowohl den Zugang zu den globalen Märkten erleichtern als auch einen Beitrag zum Kundennutzen und einen Beitrag zur Produktionseffizienz leisten. Das heißt aber auch, dass sich der Bedeutungsgehalt von Vielfalt parallel zu diesem Wandel dramatisch verändert hat: Vielfalt entwickelte sich von einem Herd potentieller Unruhe und Beunruhigung hin zu einem Mittel der Produktivitätssteigerung und einem zentralen Moment der Wertschöpfungskette, und heute scheint es so zu sein, dass Vielfalt über die Intention des Learning-and-Effectiveness Approach hinaus - eine eigenständige, gleichsam emergente Qualität bekommt. Organisationen mit wenig diversen Belegschaften sollen - so wird nun allgemein behauptet - eher insgesamt lern- und anpassungsgehemmt, unflexibel, unkreativ und wenig innovativ sein, Organisationen mit diversen Belegschaften dagegen lern- und anpassungsfähig, flexibel, kreativ und innovativ. 48
Vgl. auch Thomas et al. 1996:80. "Diversity should be understood as the varied perspectives and Approach to work that members of different identity groups bring."
49
Becker 2006:208
50
Die Annahme, dass multikulturelle Teams und Gruppen tatsächlich mehr Leistung bringen würden, ist nicht bewiesen: in gruppenbezogenen Studien konnte im Zusammenhang des kognitiven Leistungsverhaltens keine "signifikant höhere Leistung heterogener Gruppen im Vergleich zu homogenen Gruppen nachgewiesen werden". Becker 2006:15
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
Gleichwohl können auch die Organisationen, die einen diversitätsgerechten, wertschätzenden und kreativen Umgang mit Vielfalt pflegen, sich keine willkürliche und amorphe Vielfalt von Unterschieden leisten. Jedes Unternehmen muss sich primär um Marktpräsenz, Gewinnerzielung und Zukunftsfähigkeit bemühen, und das Verhältnis von tatsächlich vorhandener Diversität zu wünschenswerter Diversität muss im Gleichgewicht mit dem Verhältnis aus Investitionskosten und Investitionsnutzen bleiben. Hier kommt auch zum Tragen, dass sich Anstellungsverhältnisse nicht auf die Person des Mitarbeiters als solche beziehen, sondern lediglich auf den Teil, der für den unternehmensspezifischen Produktionsprozess von Wert ist. Alle anderen sozialen und persönlichen Besonderheiten, biographischen Hintergründe, Erwartungen und Ziele etc. werden toleriert, solange sie den Produktionsprozess nicht behindern, sie werden (z.B. durch Diversity-Management) formalen disziplinierenden Regelsystemen unterworfen, wenn sie stören: im Zusammenhang betriebswirtschaftlich unterlegter Zwänge hat Diversity-Management zuvorderst für eine betriebswirtschaftlich vertretbare Balance zwischen Heterogenität und Homogenität zu sorgen51. Rein administrativ ist das unter den Bedingungen Toyotismus nicht zu realisieren. Der Abbau von Chancenungleichheiten erfordert neben dem permanenten und proaktiven Engagement der ungleich Behandelten52 auch die permanente Veränderungsbereitschaft der Angehörigen der privilegierten Schichten. Ob die westliche Vorstellung von Individualität dabei ungebrochen weitergetragen werden kann, ob sie modifiziert werden muss, oder ob sie anderen Vorstellungen von Individualität weichen wird, steht dabei offensichtlich noch nicht fest. Zu bedenken ist aber, dass das (mit landestypischen Unterschieden) mitteleuropäische (USamerikanische) Verständnis von Individualität auch der historisch gewachsene Ausdruck eines auf Konkurrenz, Kapitalakkumulation und Besitzstandwahrung gegründeten Gesellschaftsverständnisses ist. Es beruht mithin "auf einer Fiktion, der eine ganz anders geartete Realität gegenüber steht"53. Ein de facto gleichberechtigtes Nebeneinander der Kulturen und ein tatsächlich wertfreier Umgang mit Diversity - die ja nicht ohne Ziel sind, sondern unter anderem den freien Wissensfluss und die freie Entfaltung der Person intendieren - lassen sich auf dem Boden forcierter Konkurrenzverhältnisse nur schwerlich vorstellen. Die Anbindung des traditionellen Individualisierungsbegriffes an den Konkurrenzgedanken und die Nähe zum Besitzstanddenken macht es deshalb auch so schwer, im Zusammen-
51
Vgl. Aretz et al. 2002:28-31
52
Hier liegt vermutlich auch der in Deutschland - im Unterschied etwa zu Großbritannien, Frankreich und USA - stark zu beobachtende formale und formalisierte Umgang mit Diversity begründet: in Deutschland fehlt es den meisten Minoritätengruppen sowohl an öffentlicher Präsenz als auch an politischer Schlagkraft.
53
Münch 1998:239
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hang von Migrationsprozessen andere Formen von Individualität und Individualisierung zur Kenntnis zu nehmen und in der Diskussion angemessen zu berücksichtigen. Diversity-Management braucht eine formelle und informelle Struktur zur Integration der Minoritäten und zur Integration der oben erwähnten persönlichen Eigenheiten, damit Vorurteile über die Zeit hinweg abgebaut und Diskriminierungen und Intergruppenkonflikte nach Möglichkeit ausgeschlossen werden können54. Aber gleichzeitig muss die Zielstellung des Diversity-Management präzise formuliert werden, damit die angesteuerte situative "Optimierung von Heterogenität und Homogenität zur Erreichung der gesetzten Ziele"55 wirklich erreicht werden kann. Eine ethisch vertretbare Unternehmensentwicklung wird nur dann möglich sein, wenn die genutzten Diversity-Management-Programme ihr Motiv deutlicher als bislang offenlegen und wenn sie um die Dimension einer ehrlich gemeinten und korrekt realisierten Wertschätzung von Vielfalt ergänzt werden. Als „reconfiguration of Affirmative Action“56 können diese sich zwar weiterhin dem übergeordneten Ziel der Förderung jener Minderheitengruppen widmen, die in Unternehmen und Institutionen unterrepräsentiert sind, der Wertschätzungsaspekt muss aber stärker in den Vordergrund herausgearbeitet werden. Bereits die ersten Vorgaben müssen klar herausstellen, ob DiversityManagement im Sinne einer „Ensure Equality“ eher das traditionelle (aus von Affirmative Action überkommene) Ziel der Chancengleichheit und Gleichstellung von Einzelpersonen benachteiligter Minderheiten verfolgt, oder ob Diversity-Management das Ziel einer „Ensure Diversity“ verfolgt. Mit der ersten Zielsetzung ließen sich sämtliche Personalbeschaffungs- und Personalbesetzungsmaßnahmen unter der Zielsetzung einer allgemeinen Gleichheit subsumieren. Mit ihr könnte man der Quotenregelung Genüge tun. Aber mit der zweiten Zielsetzung ließe sich eine weit darüber hinausgehende Verbesserung der organisationalen Effizienz („organizational effectiveness“) insgesamt erzielen, weil die Summe der diversen Perspektiven die Kreativität im Zusammenhang von Entscheidungsfindungs, Problemlösungs- und Marketingprozessen wesentlich erhöhen würde57. Organisationale Effizienz gründet zutiefst in den Erfahrungen der Mitarbeiter: „diverse backgrounds = diverse issue“58. Mit der wachsenden Bedeutung von Diversity-Management erlangen Personalpolitik und Personalentwicklung eine neue Wichtigkeit. Entwicklungspotentiale von Mitarbeitern sind nun prinzipiell auf breiter Basis zu suchen. Auswahlmaßnahmen und individuelle Unterstützung dürfen sich nicht mehr an der (bereits erreichten) Position
54
Vgl. auch Böcher 1996:368f.
55
Becker 2006:10
56
Cox 1993:251
57
Vgl. Cox 1993:250f.
58
Carr-Ruffino 1996:8
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
orientieren, sie haben sich nun am Stand der persönlichen Entwicklung und der persönlichen Erfahrungen des Kandidaten auszurichten. Das "wachsende Tempo des Know-hows und der steigende Wettbewerbsdruck im Rahmen der Globalisierung erfordern Kreativität, Lernfähigkeit und selbständige Eigenverantwortung aller Mitarbeiter. Der Mensch wird zum Erfolgsfaktor des Unternehmens; selbst bei modernster technischer Ausstattung wird ein Unternehmen keinen Erfolg haben, falls seine Mitarbeiter sich nicht engagieren“59. Personalpolitik und Personalentwicklung sind nun verantwortlich für „ …die Ermittlung von Leistungspotentialen und für die durchzuführenden Strategien, mit der die Unternehmensziele erreicht werden sollen“60. Sie müssen darüber hinaus die Voraussetzungen schaffen, unter denen „alle vielfältig geprägten Beschäftigtengruppen der jeweiligen Unternehmen bereit sind, höchstmögliche Leistungen zu erbringen“61 und sich (wenigstens partiell) mit dem Unternehmen und seinen Zielen zu identifizieren. Dazu gehören auch die Verbesserung der Beschäftigungsperspektive für ältere Mitarbeiter, die Nachqualifikation für jüngere Mitarbeiter und Anbindungsstrategien für gut qualifizierte Mitarbeiter, sowie – im Zuge des verbesserten Umgangs mit der allgemein wachsenden Heterogenität – für Menschen aus anderen Ethnien und / oder mit anderen Wert- und Lebenseinstellungen62. Die im Multikulturalismus für besonders wichtig erachtete "interkulturelle Kompetenz" von Mitarbeitern muss jetzt zur umfassend gültigen "sozialen Kompetenz" ausgebaut werden. 5.3.
Reflexionen
5.3.1. Mängel der klassischen BWL Bereits die Krise des Fordismus in den 1979er Jahren verweist auf das mangelhafte Verständnis des an der klassischen Betriebswirtschaftslehre orientierten Managements für komplexe Organisationsprozesse. Dessen Machbarkeitsphantasien resultieren ja aus dem Anspruch, das Phänomen „Unternehmen“ in seiner ganzen Wirklichkeit inklusive aller genuin technischen, soziologischen und psychologischen Fragestellungen erfassen zu können63. Sie gründen in der Überzeugung, dass sich Prozesse 59
Franken 2004:2
60
Bleicher 1971:123
61
Sepheri 2002:3
62
Vgl. Rott 2006
63
Vgl. Baecker 2003:10-17. Baecker verweist hier insbesondere auf Edmund Heinens „Einführung in die Betriebswirtschaftslehre“ von 1968. Wie Baecker darüber hinaus zeigt, klammert Erich Gutenberg (1929) organisatorische, insbesondere genuin technische, soziologische und psychologische Fragestellungen 1920 noch bewusst aus der Betriebswirtschaftslehre aus, um sich ganz der Möglichkeit „der Anwendung eines ökonomischen Kalküls auf einen sich diesem Kalkül immer auch entziehenden, ihm widersprechenden Gegenstand, die unternehmerische
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entlang linearer Ursache-Wirkungsketten entwickeln, die sich durch gezielte Beeinflussung, d.h. durch zentralisierte Planung und rational begründete Beeinflussung einzelner Ursachenelemente gezielt steuern lassen64. Auch Entscheidungen sieht man in einem "Akt freier Willensbildung" begründet, der in der logischen Auswertung kausal zusammenhängender Zahlen, Daten und Fakten ruht: man versteht sie als Entschluss eines Menschen, "etwas so und nicht anders auszuführen. (...) Alles Geschehen in einer Betriebswirtschaft kann letztlich als Ausfluss menschlicher Entscheidungen oder Entschlüsse angesehen werden. Die Entscheidungen der in einer Betriebswirtschaft tätigen Menschen bilden somit einen geeigneten Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Untersuchung betriebswirtschaftlicher Probleme“65.
Die klassische Betriebswirtschaftslehre hält daran fest, dass Management eine objektive und normierbare, grundsätzlich in allen Organisationen anwendbare Verfahrensweise ist, die zur Lösung aller Problem- und Aufgabenstellungen einer Organisation geeignet ist. Das Moment der autopoietischen Reproduktion von Organisationen entgeht ihr völlig. Sie berücksichtigt die Komplexität der Umwelt in ihren Überlegungen ebenso wenig wie die Komplexität der internen Prozesse von Organisationen, die Komplexität der Austauschprozesse zwischen Umwelt und Organisationen und die Komplexität des Gesamtzusammenhangs. Die komplexe und nicht normierbare „fehlerhafte, unbewegliche, undurchdachte und lernunfähige Organisation (...), mit der Praktiker, Theoretiker und Berater sich alltäglich auseinandersetzen"66 taucht nur noch hinter den Schlagworten auf, und es entstehen Organisationswirklichkeiten, aus denen jedwede Negation verbannt ist, so als ob sie die organisationale Funktion selbst gefährden würde67. Die komplexe Eigendynamik treibt diese Organisationen "zwar zur maximalen Nutzung ihrer intern angelegten Möglichkeiten, aber ohne Rücksicht auf die widrigen Folgen ('negative Externalitäten') für ihre Umwelt68. Die klassischen, einer eher betriebswirtschaftlichen Sichtweise entstammenden und vorwiegend auf den betriebswirtschaftlich sinnvollen Einsatz von Ressourcen zielenden Managementkonzepte schaffen zwar eine brauchbare Plattform für die Bereitstellung, Kontrolle, Überwachung und Verwaltung von Ressourcen. Für die neuen orgaOrganisation, zu überprüfen, zu untersuchen und nicht zuletzt - als Ausbildungswissenschaft und Betriebslehre - auch durchzusetzen“. Baecker 2003:10 64
Bestes Beispiel ist hier der Versuch, in Anlehnung an die "Balanced Scorecard" eine "Diversity-Scorecard" einzuführen. Vgl. Rieger 2006:257-273. Man versucht hier offensichtlich, gesellschaftlich neuartige Phänomene zu bearbeiten, ohne das tradierte Führungsverständnis grundsätzlich zu überdenken.
65
Heinen 1968 ohne Seitenangabe, zit. nach Baecker 2003:14
66
Baecker 2003:89
67
Vgl. Baecker 2003:90. Seit Gregory Batesons bahnbrechenden Arbeiten ist bekannt, dass jede Aussage und jede Information auch normativen Charakter hat und damit zugleich ihr eigenes Gegenteil benennt. Vgl. z.B. Bateson 1983 und Bateson et al. 1995
68
Willke 1995:6f.
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
nisationalen Herausforderungen bilden sie keinen angemessenen Hintergrund, weil die sozialen Prozesse des Wissensaustausches hier mehr Gewicht haben als die rein administrativen Prozesse: klassisches Management beschränkt sich gewöhnlich auf das Management der Produktionsfaktoren Rohstoffe, Kapital und Arbeit, Management von Wissen gehört nicht zu seinen Kerndisziplinen, ebenso wenig wie der zielführende - hier weiteres Wissen generierende - Umgang mit den Wissensträgern selbst69. 5.3.2. Die Bedeutung der Luhmannschen Systemtheorie Die Lücke, die die klassische Betriebswirtschaftslehre hier hinterlässt, wird insbesondere durch die Systemtheorie Niklas Luhmanns geschlossen, weil sie die Systemidentität bildende und Identität erhaltende Differenz von System und Umwelt aufzeigt und die Funktions- und Operationsweise der zentralen Systemelemente und Systemrelationen bestimmt. Ersteres ist wichtig für das Verständnis des Phänomens "Organisation", letzteres für das Verständnis organisationaler Prozesse und organisationaler Steuerungsprobleme: die Luhmannsche Systemtheorie verweist auf die Eigensinnigkeit und Undurchdringlichkeit nichtmechanischer chaotischer Systeme, und sie liefert eine brauchbare Vorstellung für die Funktionsweise komplexer Netzwerke und verzweigter Hierarchien, allerdings ohne dass man konkrete Gestaltungs- und Handlungsempfehlungen aus ihr ableiten könnte70. Mit Luhmann wird klar, dass sich die Handlungsfähigkeit von Organisationen in einem begrenzten und begrenzenden, aber nicht kausallinear verknüpften Bedingungsgefüge konstituiert: Organisationen unterscheiden sich von ihrer Umwelt, obwohl sie nur im Verhältnis zu ihrer Umwelt zu verstehen sind, und Organisationen brauchen eine Identität, damit sie für Außenstehende identifizierbar sind und damit sich die Organisationsmitglieder ihrer Organisation zurechnen können. Sie brauchen also Grenzen, und diese Grenzen werden so durch ein Bündel selektiver, um Sinnfindung und Sinngestaltung zentrierter Interaktionen konstruiert, dass die Interaktionen entweder dem System selbst oder der Umwelt zugerechnet werden können71.
69
Vgl. Soukup 2001:33f. Die verbreitete Vorstellung, dass nur menschliche Subjekte über Wissen verfügen können, verkompliziert die Problemlage, weil sie ignoriert, dass es auch ein „organisationales Wissen“ gibt, das so mit dem individuellen Wissen verknüpft werden muss, dass gleichbleibende und langfristig stabile Leistungen möglich werden.
70
Vgl. Willke 1995:74
71
Vgl. Luhmann 1987:36. "Die Umwelt erhält ihre Einheit erst durch das System und nur relativ zum System. Sie ist ihrerseits durch offene Horizonte, nicht jedoch durch überschreitbare Grenzen umgrenzt; sie ist selbst also kein System, sie ist für jedes System eine andere, da jedes System nur sich selbst aus seiner Umwelt ausnimmt." Mit dem Begriff der Grenze wird es auch möglich, die Unterscheidung von geschlossenen und offenen Systemen "nicht mehr als Typengegensatz", sondern als "Steigerungsverhältnis" aufzufassen: "Elemente müssen, wenn Grenzen scharf definiert sind, entweder dem System oder dessen Umwelt zugerechnet werden. Re-
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Aus dieser Differenz von System und Umwelt ergeben sich dann zuvorderst zwei Aufgaben: die Organisation muss sich mit der Umwelt austauschen, d.h. sie muss Relationen zwischen ausgewählten eigenen Elementen und ausgewählten Umweltelementen herstellen, und sie muss ihre Identität in diesem Austauschprozess aufrecht erhalten. Sie tut dies nach Luhmann im selbstreferentiellen Modus, d.h. sie reproduziert sich im Austauschprozess selbst, indem sie die zu ihrer eigenen Selbstreproduktion benötigten funktionalen Elemente einschließlich aller Verknüpfungen und einschließlich der Grenze selbst reproduziert72. Zur Differenz von System und Umwelt tritt so die Differenz der Elemente des Systems und der Verknüpfungen dieser Elemente: eine Organisation ist sowohl durch ihr spezielles Verhältnis zur Umwelt und die hier zugehörigen Austauschprozesse als auch durch ihre speziellen Elemente und die zugehörige Verknüpfung dieser Elemente gekennzeichnet73, wobei sowohl die Umwelt als auch die Innenwelt der Organisation "komplex" strukturiert sind: beide enthalten eine so große Menge an Elementen und Relationen, dass es "nicht mehr möglich ist, jedes Element zu jedem anderen in Beziehung zu setzen" oder "jedes Element jederzeit mit jedem anderen Element" zu verknüpfen74. Und beide zeichnen sich durch eine hohe Kontingenz aus: in beiden gibt es stets sehr viel mehr Handlungsoptionen, als je aktualisiert werden können, und prinzipiell alle Handlungsoptionen sind von der Gefahr des Misslingens unterlegt75.
lationen können dagegen auch zwischen System und Umwelt bestehen. (...) Mit Hilfe von Grenzen können Systeme sich zugleich schließen und öffnen, indem sie interne Interdependenzen von System/Umwelt-Interdependenzen trennen und beide aufeinander beziehen". Luhmann 1987:52 72
Vgl. Luhmann 1987:59. "Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten selbst konstituiert und in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen lässt, auf diese Weise die Selbstkonstitution also laufend reproduziert."
73
Vgl. Luhmann 1987:41. "Die Differenz System/Umwelt muss von einer zweiten, ebenfalls konstitutiven Differenz unterschieden werden: der Differenz von Element und Relation. In jenem wie in diesem Falle muss man die Einheit der Differenz als konstitutiv denken. So wenig wie es Systeme ohne Umwelten gibt oder Umwelten ohne Systeme, so wenig gibt es Elemente ohne relationale Verknüpfung oder Relationen ohne Elemente. In beiden Fällen ist die Differenz eine Einheit (...), aber sie wirkt nur als Differenz. Nur als Differenz macht sie es möglich, Informationsverarbeitungsprozesse anzuschließen."
74
Luhmann 1987:46. Komplexität in einem weiteren Sinne ist "ein Maß für Unbestimmbarkeit oder für Mangel an Informationen. Komplexität ist, so gesehen, die Information, die dem System fehlt, um seine Umwelt (Umweltkomplexität) bzw., sich selbst (Systemkomplexität) vollständig erfassen und beschreiben zu können". Luhmann 1987:50f.
75
Vgl. Luhmann 1972:31. "Unter Kontingenz wollen wir verstehen, dass die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können als erwartet wurde; dass die Anzeige mithin täuschen kann, indem sie auf etwas verweist, das nicht ist oder wider Erwarten nicht erreichbar ist oder, wenn man die notwendigen Vorkehrungen für aktuelles Erleben getroffen hat (zum Beispiel hingegangen ist), nicht mehr da ist. Komplexität heißt also praktisch Selekti-
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Von besonderem Interesse ist hier die Vorstellung, dass das Paradigma der Differenz von System und Umwelt in der Fortführung dazu zwingt, die klassisch-theoretische Differenz von Ganzem und Teil "durch eine Theorie der Systemdifferenzierung zu ersetzen. Systemdifferenzierung ist nichts weiter als die Wiederholung der Systembildung in Systemen"76, wobei es zu (im Prinzip unendlicher, zum Teil auch transitiver) Ausdifferenzierung weiterer System-Umwelt-Beziehungen kommen kann, bei der das Gesamtsystem für jedes Teilsystem die Funktion der "internen Umwelt"77 übernimmt. Solche internen Teilsysteme oder "Subsysteme" innerhalb einer Organisation sind z.B. formelle Abteilungen, Unterabteilungen, Projektgruppen, Teams und Mitarbeiter etc., aber auch alle informellen, nur vorübergehend und situationsabhängig gebildeten Strukturen. Sie organisieren sich mit Luhmann ebenso wie die Organisation selbst autopoietisch, d.h., sie bilden die zentralen Elemente aus denen sie bestehen, selbst, und sie verknüpfen diese Elemente nach eigenen Vorgaben miteinander. Bedenkt man dann, dass alle (jeweils autopoietisch organisierten) Subsysteme einer Organisation sich auf die formale Hierarchie der Organisation verteilen, dann kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass Organisationseinheiten einer bestimmten Hierarchieebene einen geringeren Komplexitätsgrad aufweisen als die hierarchisch unter ihnen stehenden Einheiten78. Für die Organisationspraxis ist das insofern wichtig, weil die Kommunikation zwischen (hierarchisch abhängigen) Subsystemen unter dieser Voraussetzung nicht mehr "einfach nur so" erfolgen darf, wenn sie verständlich sein will, sondern sich nach dem Emergenzniveau79 des angesprochenen Subsystems richten und professionellen Qualitätsstandards genügen muss80.
onszwang, Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken." 76
Luhmann 1987:37
77
Ebda.
78
Vgl. Luhmann 1987:43. Systeme höherer Ordnung können also von geringerer Komplexität sein "als Systeme niederer Ordnung, da sie Einheit und Zahl der Elemente, aus denen sie bestehen, selbst bestimmen, also in ihrer Eigenkomplexität unabhängig sind von ihrem Realitätsunterbau. (...) Emergenz ist demnach nicht einfach Akkumulation von Komplexität, sondern Unterbrechung und Neubeginn des Aufbaus von Komplexität".
79
Emergenz bezeichnet die Eigenschaften eines Systems, die sich aus den Eigenschaften seiner Elemente selbst nicht erklären lassen. "Diese Eigenschaften sind nicht den Elementen zuzurechnen, sondern der bestimmten selektiven Verknüpfung der Elemente im Kontext des Systems". Willke 1996a:262
80
Solche Qualitätsstandards sind z.B. in der systemischen Therapie- und Beratungspraxis seit langem definiert, und es ist aus meiner Sicht dringend erforderlich, dass sie integraler Bestandteil der alltäglichen Führungsarbeit werden. Vgl. dazu z.B. Selvini-Palazzoli et al. 1993
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Dass Systeme sich in funktionaler Differenzierung in Subsysteme aufteilen, die wiederum ihre eigenen Subsysteme haben, organisiert die Komplexität sowohl innerhalb des Systems als auch innerhalb der Subsysteme so, dass stabile Teillösungen und nachvollziehbare Aufgabengestaltung möglich werden, selbst wenn diese Reduktion mit einem in Teilbereichen erhöhten Abstimmungsaufwand zwischen den Subsystemen einhergeht. Diese "Modularität" der Subsysteme bedeutet aber weder lineare Abhängigkeit (das würde - wie in einem mechanischen System - mechanische Steuerbarkeit implizieren) noch völlige Unabhängigkeit (das würde amorphe Strukturlosigkeit implizieren). "Modularität bezeichnet genau den Grenzfall, in dem die Subsysteme in bestimmten, für das System strategisch wichtigen Momenten zusammenhängen und über selektive Schnittstellen (Interfaces) miteinander kommunizieren, in vielen anderen Momenten und Hinsichten aber voneinander unabhängig sind, so dass nicht alle Ereignisse in den Subsystemen auch für das Gesamtsystem relevant sind, weil sie in der internen Operationsweise der Subsysteme abgearbeitet und durch Schwellenwerte, Relevanzkriterien oder ähnliches daran gehindert werden, auf das Gesamtsystem einzuwirken."81 Mit der Annahme, dass die Umwelt einer Organisation stets komplexer ist als die Organisation selbst, wird die enorme Komplexität organisationaler Rahmenbedingungen, organisationaler Anforderungen und organisationaler Prozesse augenscheinlich: die Gestaltung konkreter Organisationsprozesse ist stets durch eine so große Zahl möglicher Prozessvarianten und eine so große Zahl an möglichen Einflussfaktoren und Elementen im Bedingungsgefüge dieser Prozessvarianten unterlegt, dass weder objektive Bedingungsfeldanalysen noch objektive Ablauf- und Ergebnisprognosen möglich sind. Weder die Rahmenbedingungen noch die Prozesse selbst lassen sich formal-logisch erschließen und in kausal-linearen Handlungsketten begründen: sie müssen durch Auswahl, d.h. durch Entscheidung bestimmt werden82. Das ist mit Unwägbarkeiten und Risiken verbunden, denn sowohl im Falle geeigneter (dem Ziel dienlicher) als auch im Falle ungeeigneter (dem Ziel abträglicher) Entscheidungen sind neben den getroffenen Entscheidungen stets andere möglich, und welche genau die Aufgabe am ehesten zu erfüllen vermag, erweist sich erst im Prozess selbst. Das heißt aber auch, dass Entscheidungen nicht nur getroffen, sondern notfalls auch neu bewertet, revidiert und korrigiert werden müssen, und dass alle Entscheidungen in einer interdependenten Beziehung zueinander stehen. Für Niklas Luhmann ist eine Organisation deshalb ein operativ in sich geschlossenes Netzwerk von Entscheidungen83, das sich autopoietisch mit Hilfe bewährter Entscheidungsroutinen steuert84. 81
Willke 1995:72
82
Vgl. Luhmann 1987:47. "Komplexität in dem angegebenen Sinne heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko."
83
Luhmann 2000:63
84
Vgl. Luhmann 1987:58; insbesondere im Zusammenhang von Organisationen bedeutet der Begriff "Selbstreferenz" auch, dass die Einheit des Systems "nur durch eine relationierende Ope-
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Erschwerend kommt hier hinzu, dass die oben angesprochenen unüberschaubaren, der Entscheidung als Basis dienenden Handlungsalternativen nicht einfach passiv als reine "Datenmasse" wahrgenommen werden können. Da die Umwelt einer Organisation stets komplexer ist als die Organisation selbst, muss ihr zwangsläufig die Fähigkeit fehlen, auf jeden Zustand der Umwelt adäquat zu reagieren, bzw. "die Umwelt genau systemadäquat"85 einzurichten. Die Austauschbeziehung zur Umwelt bleibt also ein iterativer Prozess. Sowohl die den kontingenten Handlungsalternativen je zugrundeliegenden Bedingungsgefüge als auch die aus ihnen abzuleitenden Ergebnisszenarien sind so komplex, dass sie noch während der Wahrnehmung in vertraute Ordnungsstrukturen eingepasst werden müssen, um die Kommunikations- und Handlungsfähigkeit aufrechtzuhalten. Solche Ordnungsstrukturen sind z.B. "religiöse Deutungssysteme, moralische Wertordnungen, Institutionen, Normen, Rollen und andere Formen von Konventionen bis hin zur Sprache und informellen sozialen Normen"86. Sie entstammen ohne Ausnahme dem (durch Kulturmuster unterlegten) Selbstverständnis des Wahrnehmenden, sie beeinflussen die Bewertung des Wahrgenommenen, und sie führen in der (sozialen) Urteilsbildung bereits auf der Ebene des beobachteten Verhaltens, aber auch bei der Eindrucksebene und der Aussageebene zu starken Verzerrungen87. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf die Qualität von Entscheidungen aus. Da Entscheidungen eine von der Wahrnehmung und der Urteilsbildung abhängige Sonderform von Kommunikation (und / oder von Handlung) sind, basieren sie - wie die Urteilsbildung selbst - stets auf einer nur unzureichenden, niemals ausschließlich rational begründeten Datenbasis. Wie diese sind sie stark von kontextabhängigen, weder logisch noch kausal zu begründenden Vorannahmen belastet, die unter anderem eine Identität erzeugende oder Identität erhaltende Funktion haben88. Neben den Entscheidungen selbst sind auch die Prämissen der Entscheidungen „'autopoietisch' konditioniert durch die Bedingung, mit allen Entscheidungen neben allem anderen auch einen Beitrag zur Reproduktion des Netzwerkes zu leisten, innerhalb dessen die Entscheidungen getroffen werden können"89.
Individualität ist damit nicht nur eine Voraussetzung zur Verhaltensabstimmung und zur "Koordination von Interessen und Intentionen verschiedener Akteure"90 und nicht ration zustande kommen kann; dass sie also zustande gebracht werden muss und nicht als Individuum, als Substanz, als Idee der eigenen Operation immer schon im voraus da ist." 85
Luhmann 1987:47
86
Willke 1996a:27
87
Vgl. zum Prozess der sozialen Urteilsbildung z.B. Schuler 2000:41-45
88
Vgl. Luhmann 2000:222-255
89
Baecker 2003:153. Baecker stützt sich hier vor allem auf Luhmann 1988 und 2000, Simon 1945 und Maturana et al. 1980
90
Luhmann 1987:149
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nur eine Voraussetzung der Beziehung zwischen Individuen, sondern - im Zusammenhang von Sinnerleben und Sinnbestimmung - eine "Grundbedingung der Möglichkeit sozialen Handelns schlechthin"91. "Als endlose Offenheit der Welt"92 entfaltet sich "Sinn" gleichsam als ein Gegenpol selbstreferentiell geschlossener Ordnungen. Sinn bezeichnet die systemspezifischen Kriterien nach denen Systemeigenes und Systemfremdes unterschieden wird. Er erscheint "in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns"93, wobei Kommunikation zwischen Systemen nur unter der Prämisse eines gemeinsamen Sinns möglich ist. Sinn "kann sowohl in Weltbildern, Werten, Normen, Rollen etc. 'eingefroren' sein, als auch in laufenden Interaktionen produziert und ausgehandelt werden. Menschen orientieren sich sinnhaft in ihrer Welt"94. Hier soll der Begriff der "doppelten Kontingenz" das mögliche Anderssein des Gegebenen bewusst machen und auf das selbstreferentielle und selbst zu verantwortende Spiel der Kommunikationspartner verweisen: doppelte Kontingenz "ermöglicht die Ausdifferenzierung einer besonderen Weltdimension für sozial unterschiedliche Sinnperspektiven (Sozialdimension), und sie ermöglicht die Ausdifferenzierung besonderer Handlungssysteme, nämlich sozialer Systeme. Soziales ist demnach an allem Sinn zugänglich als Problem der Gleichsinnigkeit oder Diskrepanz von Auffassungsperspektiven"95.
Und an anderer Stelle: "Situationen mit doppelter Kontingenz erfordern gewiss, um, Kommunikation überhaupt in Gang bringen zu können, ein Mindestmaß wechselseitiger Beobachtung und ein Mindestmaß an auf Kenntnissen gegründeter Erwartungen. Zugleich ist durch die Komplexität solcher Situationen ausgeschlossen, dass die Beteiligten einander wechselseitig voll verstehen. (...) Zum Unterbau, der im Theorem der doppelten Kontingenz vorausgesetzt ist, gehören hochkomplexe sinnbenutzende Systeme, die füreinander nicht durchsichtig und nicht kalkulierbar sind"96.
Zumindest dreierlei tritt hier zu Tage: der notwendig dialogische, im Spannungsfeld von Eigeninteresse und gemeinsamer Sinnfindung angelegte Charakter von Kommunikation, deren notwendige Anbindung an ein gemeinsames umweltbezogenes Erleben und der im unterschiedlichen Erleben begründete Handlungsappell: die "doppelte Kontingenz erzeugt Aktionsdruck"97. Die Komplexität von Kommunikation und Handlung gibt hier den Rahmen vor. Völlig unabhängig von ethnischen und anderen kulturellen Unterschieden ist es generell unwahrscheinlich, dass "eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit Sinngebung) im Handeln anderer findet, 91
Luhmann 1987:149
92
Luhmann 1987:96
93
Luhmann 1987:93
94
Willke 1996a:265
95
Luhmann 1987:152f.
96
Luhmann 1987:155f.
97
Luhmann 1987:162
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
denn die Selbstfestlegung würde voraussetzen, dass andere sich festlegen, und umgekehrt"98. Aber es gibt eine einfache Lösung: "Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will"99, das Verhalten selbst reduziert "jene Unbestimmtheit, die aus der doppelten Kontingenz folgt", und es lässt sich im Wechsel von rekursiven Feedbackschleifen und Entscheidungen iterativ steuern100. Die Schwierigkeit, die sich dabei zwangsläufig ergibt, hängt mit der bereits oben thematisierten Rolle des Beobachters (hier: der intervenierenden Führungskraft) zusammen: dieser kann weder die Eigengesetzlichkeit der von ihm beobachteten Phänomene (z.B. der beobachteten "dysfunktionalen" Verhaltensweisen und Einstellungen eines Mitarbeiters) aus der Beobachtung erschließen, noch seine eigenen Interventionen so verständlich machen, dass sie sich dem angesprochenen Mitarbeiter mit Sicherheit erschließen, da beide Gesprächspartner die vom anderen vermittelten Informationen erst in die eigene Funktionslogik übersetzen müssen. Z.B. kann ein von einer Führungskraft beobachtetes, als dysfunktional eingestuftes Verhalten eines Mitarbeiters für den beobachteten Mitarbeiter selbst durchaus funktional, notwendig und identitätserhaltend sein: das für funktionierende Führungsarbeit erforderliche, systemadäquate Verständnis der Eigentümlichkeiten des Mitarbeiters kann - wie in anderen Fällen der unterstützenden Gesprächsführung auch - nur durch Fragen gleichsam "hermeneutisch" erschlossen werden, ohne dass das Verhältnis der Antworten in ein kausal-lineares Muster von Handlungsempfehlungen gepresst werden darf. Der Mitarbeiter muss die für ihn passenden Lösungen optimalerweise aus sich heraus erarbeiten, Unterstützung erhält er auf der Strukturebene und in den Bereichen, in denen seine eigenen Kompetenzen nicht zur Problemlösung ausreichen. Die Formeln von der Entwicklung von Humanressourcen und vom Stellenwert von Diversity laufen schnell ins Leere, wenn die Bedeutung systemischer Zusammenhänge ignoriert wird. Führungskräfte müssen die Vorstellung kausaler Steuerung gegen die "Vorstellung einer Anleitung zur Selbststeuerung"101 austauschen. 5.3.3. Implikationen Folgt man der Theorie von Komplexität und Komplexitätsreduktion, dann ermöglichen Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung eine im Prinzip unendliche Steigerung des "Optionenreichtums spezialisierter Funktionsbereiche"102. Aber eben nur unter der Voraussetzung der autopoietischen Steuerung von Prozessen und Organisation. Diese entspricht jedoch nicht der realen Organisationspraxis. In dieser Organisa98
Luhmann 1987:165
99
Luhmann 1987:166
100
Luhmann 1987:168
101
Willke 1996b:110
102
Willke 1995:124
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tionspraxis werden häufig die Nebenwirkungen übersehen, die durch einen unangemessenen (dem alten machtbasierten, technokratischen und mechanistischen Managementverständnis verpflichteten) Umgang mit Komplexität entstehen. Den alten Machbarkeitsphantasien verbunden, übersieht man hier, dass jede Komplexitätsreduktion in einem Bereich mit einer (häufig schwer bis gar nicht zu berechnenden) Zunahme von Komplexität in anderen Bereichen verbunden ist, die dort drängende Folgeprobleme auslösen kann. Der klassische, auf Planung und Direktive zielende Ansatz der Unternehmensorganisationen muss um eine verhaltenswissenschaftliche Perspektive ergänzt werden, in der „die Organisation nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als seinerseits Zwecke setzendes Zwecke suchendes System interpretiert wird"103. Komplexität lässt sich nicht einfach durch "Komplexitätsoptimierung", Right-sizing", "Reengineering" oder "Outsourcing" etc. reduzieren oder gar auflösen. Sie lässt sich nur verschieben oder verlagern: Outsourcing verlagert die Komplexität in die Abteilungen, die für die Umweltbeziehungen zuständig sind. Just-in-Time-Lieferung macht die Logistik extrem störanfällig, sie vermag die Produktion lahm zu legen oder sie erzwingt veränderte Kunden-Lieferanten-Beziehungen104. Die reservefreien Produktionsprozesse reagieren empfindlich auf Lieferungsmängel. Die knappe Personalbesetzung kann sich in kritischen Situationen zum Arbeitskräftemangel ausweiten. Und auch die Teamarbeit erweist sich bei näherem Hinsehen als Komplexitätstreiber, da die Zusammenarbeit von Spezialisten stets ein gewisses Konfliktpotenzial birgt und einen hohen Abstimmungsaufwand erfordert105. Hier wirkt sich besonders stark aus, dass das Prinzip der funktionalen Differenzierung in modernen Organisationen keinesfalls die solidarische und gemeinschaftliche Nähe der Akteure impliziert. Im Gegenteil, ein Großteil der Beziehungen ist von Indifferenz geprägt und hat "die Form routinisierter und normalisierter Leistungsbeziehungen, die im Rahmen historisch gewachsener (oder erkämpfter) Autonomien und auf der Basis funktionaler Interdependenz aller
103
Baecker 2003:101f.
104
Vgl. Kühl 1998:108f.
105
Darüber hinaus steht die Behauptung der "Komplexitätsreduzierer à la McKinsey" (Kühl 1998:116), dass einfache Regeln und einfache Strukturen wenig komplexe Organisationen herbeiführen würden, im Widerspruch zu jenen Ergebnissen der modernen Chaosforschung, die das Entstehen von Komplexität ausdrücklich auf das Zusammenwirken einfacher Regeln zurückführen. Da jede Reduzierung der Komplexität aus der Sicht der Chaostheorie zu neuer, gesteigerter Komplexität führt, empfiehlt Kühl den vollständigen Verzicht auf Perfektionierung der Organisation und den Verzicht auf durchgehend "leane" Produktionsabläufe. Stattdessen sollten Unternehmen die Unberechenbarkeit schätzen lernen und als Innovationspotenzial nutzen: nach Kühl ist es angesagt, "sich neuen komplexen Umweltbedingungen zu stellen und von der Hoffnung auf niedrigkomplexe, schlanke Strukturen endgültig Abschied zu nehmen". Kühl 1998:120
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arbeitsteilig spezialisierter Sozialsysteme als unproblematisch und wechselseitig gewinnbringend angesehen werden"106.
Diese "institutionalisierte Indifferenz" umschreibt aber keine generelle Interesselosigkeit, sondern nur das fehlende Interesse an dem, was der andere macht. Dennoch ist sie nicht unbedingt nur von Nachteil, da sie hilft, den mit der funktionalen Differenzierung verbundenen, erhöhten Abstimmungs- und Koordinationsaufwand zwischen den Subsystemen durch generalisierte Regelsysteme zu steuern und in erprobten Hintergrundsroutinen zu erledigen: Sozusagen in Ergänzung der mit den Prozessen der Industrialisierung stark angestiegenen funktionalen Differenzierung unterstützt die institutionalisierte Indifferenz die Autonomie und Selbstorganisation der organisationalen Akteure und liefert damit den Boden für das liberale Modell der Gesellschaftssteuerung. Die mit der funktionalen Differenzierung einhergehende Autonomie von Subsystemen in Organisationen ist dennoch nicht völlig frei, sie darf weder die organisationalen Prozesse noch die an diesen Prozessen beteiligten Akteure schädigen, d.h., sie muss Effizienz nicht nur gestatten sondern gewährleisten, und sie muss die Mindeststandards liberaler Ethik erfüllen107. In jedem Fall aber hat die funktionale Differenzierung von Organisationen zur Folge, dass sich in den Subsystemen eigene Systemidentitäten, eigene Selbstverständnisse, eigene Handlungsziele, eigene Systemsprachen und "eigene Relevanzkriterien, Exklusionen und Eigensinnigkeiten"108 entwickeln, die in ihrer Summe den kommunikativen Austausch über die Grenzen der operativen Ausschließung hinweg erschweren. Die Kommunikation zwischen Spezialisten unterschiedlicher Provenienz wird nur deswegen nicht zum Problem, weil sie unter den Bedingungen des fordistischen Produktionsparadigmas kaum erfordert ist und sich auf die Kommunikation an zentralen Schnittstellen beschränkt. An diesen Schnittstellen aber brauchen funktional differenzierte Systeme bereits im Fordismus "Spezialeinrichtungen für Übersetzungsleistungen"109. Unter den Bedingungen des nachfordistischen oder toyotistischen Produktionsparadigmas werden die zunehmende Differenzierung und die zunehmende Verlagerung von Verantwortung in die Kompetenz Einzelner die Problematik der Schnittstellenkommunikation drastisch verschärfen und dem Einzelnen die Übersetzungsleistung zunehmend mit überantworten. Das droht insbesondere dann Probleme aufzuwerfen, wenn die Kommunikation die Leitplanken der vorgegebenen formalisierten Routinen durchbricht oder durchbrechen muss, z.B. weil sie durch Konflikte unterlegt ist. Anders als gesellschaftlich tätige Spezialisten, die in der Regel kaum Berührungspunkte
106
Willke 1995:95
107
Vgl. Willke 1995:96
108
Willke 1995:94
109
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und deswegen auch kaum Konflikte miteinander haben110, sind die in den Organisationen tätigen Spezialisten ja stets Teil organisationsinterner Macht- und Interessenkoalitionen, von denen sie abhängig und denen sie verpflichtet sind. Schnittstellenkommunikation organisationaler Experten ist daher stets konfliktgefährdet, und man kann davon ausgehen, dass die Konfliktgefahr mit zunehmender Binnendifferenzierung wächst und sich im Falle der Zusammenarbeit von Menschen mit unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und religiösen etc. Hintergründen nochmals steigert. Prinzipiell haben Organisationsmitglieder die Möglichkeit, sich entweder über (versteckte) Konflikte oder über Leistung zu profilieren. Aber da Kooperation per se die Möglichkeit der Entdifferenzierung birgt, ist sie auch mit der Gefahr des Identitätsverlustes verbunden. So ist die Gefahr groß, dass sie nicht als Herausforderung, sondern als Zumutung begriffen wird, und dass die aus der drohenden Entdifferenzierung entstehenden (Verlust)-Ängste durch Rückbindung an Identität stiftende Routinen, Verfahrensweisen, Zusammenhänge und / oder Gruppenbindungen etc. minimiert werden sollen. Es kann deshalb leicht passieren, dass der "Prozess der Koordination als Herstellung von Einheit missrät oder so missverstanden oder missbraucht wird. Das wirkliche Problem von Koordination ist nicht die Schaffung von Einheit, sondern die Herstellung der erforderlichen und unabdingbaren Einheit unter der Bedingung, dass die Autonomie, Vielfalt, Varietät und Innovativität"111 der Subsysteme des Gesamtsystems garantiert bleibt.
Insofern dienen die Hierarchien im Unternehmen auch der Kontrolle der UmweltOrganisations-Beziehung, der Kontrolle der internen Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen und der Kontrolle der Qualifikation der Organisationsmitglieder. Eine völlige Enthierarchisierung wäre folglich mit einer immensen Zunahme unkontrollierbarer Konflikte verbunden. Auch hier zeigen sich relevante Unterschiede zwischen den fordistisch und den toyotistisch organisierten Unternehmen. Im fordistisch organisierten Unternehmen besaß die Geschäftsleitung eine nahezu uneingeschränkte Verfügungsgewalt und die Kontrolle der zentralen Bereiche lag nahezu vollständig in ihrer Hand. Hierarchien, Bürokratien und definierte Abteilungszuständigkeiten garantierten stabile, allseits gültige Rahmenrichtlinien für den Umgang mit Konflikten und boten Sicherheit, weil Problemlösungen prinzipiell an die nächst höhere Ebene delegiert wurden. Im toyotistischen (postfordistischen) Unternehmen ist eine solch umfassende Kontrolle nicht mehr denkbar, da sie die Flexibilität zu stark einschränken würde. Aber die zunehmende Kontrolle von Unsicherheitszonen durch die Mitarbeiter kann dennoch keinesfalls mit dem Terminus "Umverteilung von Macht" gleichgesetzt werden. Nur einzelne und nur isolierte Machtbereiche werden den Mitarbeitern überantwortet, aber stets so, dass die Gesamtkontrolle der relevanten Unsicherheitsbereiche in den Händen der Geschäftsleitung bleibt. Dennoch zeitigt auch diese - letzten Endes vielleicht nur geringe - Umverteilung von Macht bereits 110
Vgl. Willke 1995:99
111
Willke 1995:105f.
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Wirkungen und Nebenwirkungen: sie schwächt die kollektiven Vertretungsorgane (z.B. Gewerkschaften) und begünstigt - zusammen mit der permanenten Innovation die Entwicklung einer Vielzahl moralisch-ethischer Bewertungsmaßstäbe mit umfassendem Gültigkeitsanspruch. Die permanente Innovationsbereitschaft und die permanente Mitarbeiterorientierung birgt die Gefahr einer Dauerpolitisierung der internen Prozesse. Mit der Enthierarchisierung sind Entscheidungen prinzipiell dem Jedermann-Urteil ausgeliefert. Mit der Entdifferenzierung werden Informationen mehrdeutig, weil mit dem Wegfall gemeinsamer Erfahrungskontexte auch der Bezug zur Gesamtaufgabe verloren geht. Die permanente Innovation schafft intransparente, ständig wechselnde politische Koalitionen, deren Dynamik und Zusammensetzung kaum noch kalkulierbar sind. Es kommt zum Politisierungsdilemma112, d.h. zu einer Zunahme von personalisierten Machtkämpfen, die ungebrochen in die selbstverantworteten Produktionsprozesse eingetragen werden. Die - gesamtgesellschaftlich betrachtet - mangelnde Erfahrung mit Enthierarchisierungsprozessen verstärkt diese Tendenz zusätzlich. Im Kontext flacher Hierarchien mangelt es an Traditionen, Routinen und formalisierten Regeln für den Umgang mit Konflikten. Zusammen mit der propagierten Gleichberechtigung und der Vertraulichkeit der Gruppenbeziehungen bekommt Macht einen diffusen, unkontrollierbaren Charakter. Macht wird schwer erkennbar und schwer thematisierbar. Es kommt leicht zu umlaufenden Auseinandersetzungen, wenn die gruppen- oder organisationsinternen Regulierungsmechanismen versagen. Selbst dort, wo extrem flache Hierarchien augenscheinlich gut funktionieren, kann sich das Politisierungsdilemma noch bemerkbar machen, wenn der sowohl von außen als auch von innen erhobene Anspruch auf Konfliktfreiheit zur völligen Exkommunikation und Tabuisierung von Schlüsselproblemen und Machtverhältnissen führt. Schon deshalb brauchen postbürokratische Unternehmen ein Mindestmaß an fester Struktur. Vollständig enthierarchisierte Unternehmen würden schwer an verdeckten Machtkämpfen und Politisierungsprozessen leiden oder gar an ihnen zugrundegehen. Darüber hinaus hat die zunehmende Ausdünnung der Hierarchieebenen auch einen negativen Einfluss auf die Kooperationsbereitschaft der Führungskräfte, weil sie die die Karriere- und Berufchancen einschränkt und die Konkurrenz fördert: „durch kleine, sich selbst steuernde ‚Wertschöpfungseinheiten’ entstehen ‚Unternehmen im Unternehmen. An deren Spitze stehen ‚intrapreneurs’, angestellte ‚allround-manager’, von denen funktionsübergreifendes, betriebswirtschaftliches Denken und Handeln erwartet wird“113, obwohl herausgehobene Positionen, Strukturprivilegien und Symbole der Exklusivität aufgrund der Reduzierung von Hierarchiestufen knapper werden. Die damit verbundenen Anforderungen an permanente Qualifikation, hohe Mo-
112
Vgl. zum folgenden Kühl 1998:98f.
113
Altvater et al. 2004:289
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bilität und hohe Flexibilität erschweren eine ausgeglichene persönliche Work-LifeBalance114. Das zeitigt negative Konsequenzen für den Bereich Informationsfluss und Informationsverarbeitung. Aber es verstellt auch den Blick auf die komplexen Gruppenprozesse und die dem rationalen Kalkül entzogene eigensüchtige Verfolgung und Durchsetzung von Interessen, die ein wesentlicher Einflussfaktor im betrieblichen Geschehen ist. Der „Kampf um Positionen und Besitzstände, Ressourcen und Karrieren, Einfluss und Macht“115 ist kein „bedauerlicher und vermeidbarer Betriebsunfall oder ein unerklärliches Krebsgeschwür im ansonsten gesunden Organismus des Unternehmens, sondern unausweichlicher Bestandteil organisierten sozialen Handelns“116. Ähnlich wie die "permanente Mitarbeiterorientierung“ toyotistischer Unternehmen zu ungewollten und schwierig zu handhabenden Nebenwirkungen führen kann, bergen auch die "kompromisslose Kundenorientierung“ und die radikale „Vereinfachung der Prozesse“ Risiken, die dem erwarteten Nutzen prinzipiell konträr gegenüberstehen: die Kundenorientierung das Risiko eines möglichen Identitätsverlustes und die vorschnelle Vereinfachung die Gefahr der Nichtbewältigung komplexer Aufgaben und Prozesse117. Identitätsdilemmata entstehen bei Verzicht auf die Identität sichernden Grenzen nach innen und außen. Feste Organisationsgrenzen, ein fester Mitgliederstamm und funktionierende Selbstbehauptungsstrategien fungieren ja auch als Schutzmechanismen, die die äußere Komplexität handhabbar machen und die innere Komplexität reduzieren (s.o.). Sie werden brüchig, wenn die funktionale Ausdifferenzierung in Abteilungen zugunsten einer produktorientierten Ausdifferenzierung in nur noch über grobe Rahmenrichtlinien mit dem Mutterkonzern verbundene Profitund Leistungscenter aufgegeben wird, da diese aufgrund ihrer eigenen Kontingenzmuster die Tendenz haben, sich zu verselbständigen und vom Gesamtunternehmen zu lösen. Postfordistische Unternehmen neigen zur Selbstauflösung, da die beiden Entscheidungspole Autonomie und Flexibilität gleichermaßen mit Risiken behaftet sind. Auf der einen Seite bietet die maximale Autonomie der autonomen Fertigungseinheiten den höchstmöglichen Grad an Flexibilität, sie birgt jedoch die Gefahr des Zerfalls der Gesamtunternehmung. Und auf der anderen Seite bietet die Bildung fester Strukturen den höchstmöglichen Grad an Sicherheit und Identität, sie schränkt aber die geforderte Flexibilität unzumutbar stark ein. Toyotistische Unternehmen müssen daher ein Mindestmaß an Differenzierung aufrecht halten: sie müssen einen Weg finden, den 114
Vgl. Deutschmann et al. 1995:447 und Peters et al. 2006:165-190. Peters et al. untersuchen hier die Bedeutung der Work-Life-Balance für Führungsnachwuchskräfte im Kontext von Diversity und Management Diversity.
115
Neuberger 1990:261
116
Neuberger 1990:256
117
Vgl. Kühl 1998:52f.
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K. Jensen-Dämmrich • Diversity-Management
selbständigen Produktionseinheiten ein Höchstmaß an Autonomie zuzugestehen und sie gleichzeitig so zu integrieren, dass die Identität des Gesamtunternehmens erhalten bleibt118. 5.4.
Umgang mit Vielfalt und zeitgemäße Führungsarbeit
5.4.1. Die Anforderungen Unter den Bedingungen des Toyotismus zerbricht die im Fordismus noch gegebene Übereinstimmung von Aufgabenstruktur und Steuerungsstruktur, "weil Komplexaufgaben auftreten, die weder hierarchisch dekomprimierbar noch aggregierbar sind, etwa weil zwischen Teillösungen auf unterschiedlicher Ebene laterale Beziehungen bestehen, die Querschnittsverknüpfungen, ebenenübergreifende Koordination, hierarchiefreien Diskurs, hohe Entscheidungsautonomien vor Ort etc. verlangen"119.
Die Idee, dass eine Person nur eine Aufgabe zu erledigen habe, war nur in den fordistischen, monokratisch hierarchisch organisierten und "übersteuerten" Betrieben zu realisieren120. Sie wird obsolet, sobald die durch vielschichtige Hierarchien angewiesene repetitive Teilarbeit zugunsten der selbstorganisierten und funktionsbereichsübergreifenden Arbeit in den Hintergrund tritt. Gleichwohl ist die Idee, dass jede Person jede Aufgabe erledigen könne auch nicht unproblematisch. Ihre Realisierung verlangt ein Höchstmaß an Kooperationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft, und ein Höchstmaß an Flexibilität, Autonomie und Eigeninitiative. Sie ist extrem aufwändig, erfordert integrierte fachliche Kompetenzen und die Fähigkeit, in Gruppen oder Teams ohne hierarchische Struktur kooperativ und produktiv zusammenzuarbeiten121 und unterliegt der Gefahr, auf der Suche nach dem maximal möglichen Konsens dahinzutreiben122. Einen organisationstechnisch gangbaren Weg liefert die Idee "jede Person - überlappende Aufgaben"123. Hier verlangt die Matrixstruktur von Hierarchie und Aufgabe überlappende Kompetenzen. Weil jedes Mitglied mehrere Aufgaben erledigen kann, aber nicht alle Aufgaben erledigen muss, sind flexible Gestaltungsprozesse und variable Teilteams möglich, in denen Kompetenzen gebündelt werden. Diese Organisationsform eröffnet ein hohes Maß an Eigenständigkeit, die meisten Projekte sind so organisiert. Sie geht allerdings mit einem hohen Grad an Komplexi118
Vgl. Kühl 1998:84f.
119
Willke 1995:70
120
Vgl. Willke 1995:79
121
Vgl. Willke 1995:80
122
Willke 1995:75
123
Willke 1995:81
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tät einher und erfordert in der Führungsarbeit ein professionelles, von der Alltagskommunikation deutlich unterschiedenes Kommunikations- und Verhandlungswissen. Das moderne Management braucht ein dialogisch-partizipatives Verständnis von Führung, um die „Differenz des Wissens“124 zu managen, und „Pläne und Regeln auf dem Wege über komplexe Prozesse der Rationalisierung und der Konsenssuche“ 125 festzulegen: Führungsfähigkeit kann nicht mehr aus dem alten Autoritätsanspruch abgeleitet werden, sie muss durch „Situationsmanagement“ erworben werden, d.h. durch eine umfassende Fähigkeit, die Alltagskommunikation der Organisation gleichsam „metakommunikativ“ zu erfassen, zu sichten und im Hinblick auf die vorgegebenen Zielstellungen auszuwerten126. Das heißt aber auch, dass moderne Führungsarbeit - und das ist auch bedeutsam für das hier schwerpunktmäßig abgehandelte Thema des Diversity-Managements - sowohl die Komplexität der externen Rahmenbedingungen als auch die Komplexität der internen sozialen Prozesse bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen hat. Damit wird klar, dass die Idee der - klassischerweise machtbasierten - Steuerung durch andere Formen der Intervention ersetzt werden muss, damit die gesetzten Leistungsziele erreicht werden können. Das gilt auch für den hier thematisierten Bereich Diversity-Management. Zumindest wenn man unter Diversity mehr verstehen will als eine Summe beliebig zusammensortierter menschlicher Erscheinungs-, Ausdrucksund Daseinsformen, gilt auch für Diversity das Emergenztheorem. Damit ist gemeint, dass man Diversity nicht einfach als Summe der Eigenschaften einer Gruppe von Menschen umschreiben und den Nutzen von Diversity nicht einfach aus dieser Summe ableiten kann. Eine einfache Formel kann dies verdeutlichen. Nimmt man pro Person nur zwei Zustände an (z.B. Zuneigung und Ablehnung), dann ergeben sich 2n Möglichkeiten der "Musterbildung", wobei "n" die Anzahl der an der Gruppe beteiligten Personen bezeichnet. Eine Gruppe von zwölf Personen und zwei Zuständen kann so bereits 212 das sind 4096 verschiedene Beziehungsmuster bilden. Nimmt man drei Zustände an, also etwa Zuneigung, Ablehnung und Gleichgültigkeit, dann lautet die Formel 3n, und bei zwölf Personen ergeben sich 531.441 Möglichkeiten der Gruppenbildung. Eine gigantische Zahl, die mit zunehmender Diversität schnell astrologische Dimensionen annimmt, die von keiner Führungskraft mehr steuernd beeinflusst werden kann127. Zeitgemäße Führungsarbeit ist auf Dialog und Konsens angewiesen. 124
Willke 2001:65
125
Luhmann 2000:19
126
Vgl. Luhmann 2000:324. Ein Teil des Managements wird damit überfordert sein, denn „ein Management, dass darauf spezialisiert war, Arbeitskräfte zu koordinieren, ist deswegen noch lange nicht in der Lage, effiziente Entscheidungsabläufe zu entwerfen oder Kunden zu binden“. Baecker 2003:96
127
Willke 1996b:69. Die neuere Systemtheorie (s.o.) hat eindringlich auf diese Schwierigkeiten verwiesen. Aber dennoch sind die Möglichkeiten der Analyse komplexer lebender Systeme -
198
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Ein solches, "beratende Kommunikation" genanntes Führungsverständnis128 wurde insbesondere in der Systemischen Therapie- und Beratungspraxis entwickelt. Es "eröffnet Möglichkeiten, unterschiedliche Diagnosen zu testen und auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen. Das besondere Geschick von Beratungsexpertinnen besteht wohl zu einem guten Teil darin, ihre Diagnosen tatsächlich als präsumtive Konstruktionen zu behandeln und auf bestimmte Anzeichen hin zu revidieren - und dies so lange bis sich jene besondere Qualität einer wechselseitig akzeptablen und brauchbaren Systemdiagnose herauskristallisiert, welche die Eigen-Operationen dieses Systems bezeichnet und generiert. In einem sehr grundsätzlichen Sinne geht es um den Aufbau von Äquivalenzstrukturen im Sinne von Weick (1985:130f.) zur Überbrückung von operativer Geschlossenheit und basaler Zirkularität; um die Regulierung von zufälliger Variation im Sinne einer Rekonstruktion von 'order from noise' (v. Foerster); um die Konstruktion von Ordnungen, in denen die Konstruktionen von Wirklichkeiten anderer Systeme einen Spielraum haben; und schließlich um Verstehen im Sinne der Rekonstruktion der Selbstbeschreibung eines Systems durch einen Beobachter"129.
Eine in diesem Sinne den Gesprächspartner integrierende Beratung entwickelt - dem Gesprächsfaden dabei folgend - ein Netz von als-ob-Szenarien, das die Konsequenzen des Gesagten für die anstehenden Aufgaben und Ziele abbilden und die Entwicklung der dazugehörigen Entscheidungs- und Handlungsoptionen unterstützen kann130. Eine in dieser Form beratende Führungsarbeit ("Coaching") erweist sich als hoch produktiv, aber sie verändert die Anforderungen an Führungskräfte radikal131, da sie die dem alten Managementverständnis verhaftete „Ebenendifferenzierung von Kompetenzen“132 in Frage stellt und die diskursive, wechselseitige und gleichberechtigte Akzeptanz der individuellen Beobachtungen zur Voraussetzung und zum Maßstab hat.
zu denen auch das "soziale System Organisation" gehört - noch kaum erforscht, ebenso wie die Möglichkeiten der Intervention in solche Systeme. 128
Ich verstehe hier unter "Führung" nicht nur die Aufgaben von Linienvorgesetzten. "Führung" im erweiterten Sinne muss jeder übernehmen, der Verantwortung übernimmt, z.B. als Elternteil, Lehrer, Therapeut, Berater, Projektleiter etc. und eben auch als Linienführungskraft.
129
Willke 1995:244
130
Vgl. auch Willke (1996a:71). "Der Aufbau von Erkenntnis läßt sich begreifen als das experimentelle Erlernen interner Operationen oder Operationssequenzen, welche eine brauchbare Koordination oder »Passung« von Systemverhalten einerseits und prinzipiell unbekannten Umweltgesetzen andererseits ermöglichen."
131
Doppler et al. (1996:61) meinen hier „Führung wird neu definiert“. Neben der Zukunftssicherung des Unternehmens und der Menschenführung verstehen sie vor allen Dingen das „Management des permanenten organisatorischen Wandels“ als zentrale Führungsaufgabe: „Koordination von Tagesgeschäft und Projektarbeit; Steuerung des Personaleinsatzes; Bereinigung von Meinungsverschiedenheiten und Konfliktsituationen, Sicherstellen der internen und externen Kommunikation; und: sorgfältige Behandlung heikler Personalfälle“. Ebda. 1996:60
132
Luhmann 2000:323
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Sie wird nur dann möglich, wenn die Führungskräfte bereit sind, sich vorurteilsfrei und wertschätzend auf den Gesprächspartner einzustellen und - eventuelle Unsicherheiten konsequent reduzierend - so mit ihm zu kommunizieren, dass er seine Ressourcen angstfrei und selbstverständlich zur Geltung bringen kann. Dazu gehören neben dem rein handwerklichen Wissen um geeignete Kommunikationsmethoden und werkzeuge ein klares, kognitiv reflektiertes und jederzeit präsentes Wissen um die eigene Außenwirkung und die eigenen Kommunikationsanteile, ein großes Einfühlungsvermögen, eine ausgeprägte Ambiguitätstoleranz und eine gewisse interkulturelle Sensibilität: „Whether you are an entry-level trainee, a team leader, or a top manager, your level of career success and enjoyment increasingly depend on how well you understanding and relate to a diverse range of people”133.
Ziel ist es, die durch tradierte Vorurteile und Stereotypien verzerrte Kommunikation systematisch in sinnstiftende Kommunikation zu verwandeln: "Da für psychische und soziale Systeme Sinn die Ordnungsform ihrer Weiten ist", erfordert die Anbindung an den Gesprächspartner eine "gleichsinnige Kommunikation", d.h. einen sinnbezogenen Konsens über Ziel und Zweck der gemeinsamen Aktion und über die, auf das Ziel und / oder die Zielerreichung bezogenen Erwartungen, Haltungen, Handlungsmuster und Handlungen etc.134. Die bislang ausschließlich auf praktischen Konsequenzen rationaler Entscheidungen bezogene Führungsarbeit (Management im klassischen Sinn) bekommt solcherart eine "hermeneutische Komponente"135, die keine Nähe mehr zu logisch strukturierten und kausal-linear interpretierbaren Zahlen, Daten und Fakten hat. Die Mehrzahl der bedeutsamen Phänomene muss hier diskursiv erschlossen und die Mehrzahl der erzielten Ergebnisse diskursiv überprüft werden. Erst im Wechsel der iterativen Annäherung der Beobachtungen einerseits und der Urteile andererseits lassen sich konstruktive Feedbackschleifen generieren, die die (sinnbezogene) Ergebnisqualität des Handelns überprüfbar und gegebenenfalls optimierbar machen. Der mit der verliehenen Autorität einhergehende Expertenstatus hat einem Verständnis von Führung zu weichen, in dem persönliches Nichtwissen und Nichtverstehen akzeptiert sind und Wissenslücken durch Befragung geschlossen werden dürfen. Die Individualität der Mitarbeiter und das von ihnen gebildete Netzwerk der Kommunikation werden zunehmend zu bedeutsamen Faktoren der organisationalen Leistungsfä-
133
Carr-Ruffino 1996:8
134
Willke 1996a:71. Wichtig dabei ist, dass "Gleichsinnigkeit keineswegs mit Konsens gleichgesetzt werden kann. Auch und gerade Dissens kann gleichsinnige Kommunikationen vorantreiben und den Aufbau sozialer Systeme fördern. Verständigung über Dissens kann produktiver sein als der Versuch, Verstehen auf den Sonderfall von Konsens zu verengen." (Ebda.)
135
Vgl. Baecker 2003:98f.
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higkeit und Effizienz136, „vernetztes Denken“ gewinnt an Bedeutung137. Damit fällt aber auch das instrumentelle, auf Rationalität gegründete und auf Rationalität ausgerichtete Selbstverständnis in sich zusammen: Führungskräften muss bewusst werden, dass Führungsarbeit "an Konstruktionen einer Wirklichkeit arbeitet, die sich nur als Konstruktionen bewähren können"138. Chester Barnard139 hat hier als einer der ersten erkannt, dass die so genannte “Indifferenzzone” über die Bereitschaft zur Ausführung von Direktiven entscheidet: problemlos und ohne Widerstand werden nämlich nur jene Direktiven ausgeführt, die konform mit den wichtigsten ethischen, moralischen, sozialen, ethnischen und religiösen etc. Werten und Überzeugungen des Angesprochenen gehen. Nicht - oder nur mit Widerstand ausgeführt - werden die, die dagegen stehen140. Auf den organisationalen Zusammenhang übertragen heißt das aber letztendlich, dass auch jede Veränderung der vorhandenen hierarchischen Strukturen und jede Veränderung der bewährten Entscheidungsroutinen der Veränderung des Selbstverständnisses der Akteure Rechnung tragen muss, um Konformität zu gewährleisten: „Man will darauf zählen können, dass (…) jedes Mitglied der Organisation sich von allen Anweisungen der Organisationen im wahrsten Sinne des (…) Wortes ‚betroffen’ fühlt. Man will erreichen, dass die Leute mitdenken und all ihr Wissen, aber auch ihre Moral, ihre Überzeugungen, ihre Sensibilität und ihren Selbstrespekt den Entscheidungsabläufen der Organisation zur Verfügung stellen. Die Forderungen der 1960er Jahre nach Selbstverwirklichung auch am Arbeitsplatz wurden zur Zumutung der 1980er Jahre nach Einbringung des Selbst auch bei der kleinsten Arbeit“141.
Nichts darf den Mitarbeiter gleichgültig lassen, „alles muss für ihn zur Information (…) werden können. Erst wenn diese Differenzzone etabliert ist, können verschiedene Selektionsformen wie Unternehmenskulturen, corporate identities, Missionen und Visionen für jenes Maß an Orientierung sorgen, das eine Arbeit braucht, die nicht durch jedes und alles ständig irritierbar sein kann“142. 136
Vgl. z.B. Bösenberg et al. 1993:50f. „Der leane Unternehmer weiß noch ein wenig mehr: Die Lenkung, Gestaltung und Entwicklung eines Unternehmens ist ein komplexer, ganzheitlicher, umfeldbezogener Prozess, an dessen Verlauf er zwar maßgeblich beteiligt ist, dessen Ergebnis er aber nicht alleine bestimmen kann.“ Vgl. zum Thema auch Ulrich et al. 1990 und Baecker 1999.
137
Vgl. zum Thema vernetztes Denken z.B. Vester 1988, Probst 1987, Probst et al. 2004
138
Baecker 2003:99f.
139
Barnard 1970
140
Vgl. Baecker 2003:31
141
Vgl. Baecker 2003:32. Baecker sieht in dieser Entwicklung weder eine Renaissance des Humanismus, noch einen Versuch, die westlichen Prozesse nach dem Vorbild der japanischen Unternehmensfamilie zu gestalten, sondern einen völlig neuartigen Prozess, der „es erlaubt, von einer Revolution der Organisation zu sprechen“. Ebda.
142
Baecker 2003:67
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Unter der Annahme, dass die Umwelt eines Systems stets komplexer ist als das System selbst, sind geradewegs alle Diversity-Variablen der Belegschaft von Bedeutung, weil sie im Zusammenhang unvorgesehener Umweltveränderungen als Ressource zur Veränderung überkommener Entscheidungsroutinen der Organisation und zur Steigerung ihrer Leistungs- und Innovationsfähigkeit dienen können. Es ist in etwa auch diese Überlegung, die die großen Unternehmen zu einem elaborierten Wissensmanagement treibt. Und es ist aus meiner Sicht auch diese Überlegung, die einen natürlichen Zusammenhang zwischen Diversity-Management und Wissensmanagement herstellt143. Die Lösung konkreter Probleme gelingt am ehesten, wenn die beteiligten Akteure ihre individuelle beschränkten Einstellungs-, Denk- und Handlungsmuster um gemeinsam entwickelte Alternativen ergänzen, und qualitativ hochwertige - weil zielführende - Entscheidungen lassen sich in hochkomplexen Systemen vor allen Dingen dann treffen, wenn das Wissen aller Kontaktpersonen, aller Mitarbeiter, aller Kunden und aller Lieferanten eingeht144. Unter den heutigen Möglichkeiten der weltweiten „Anknüpfung, Vernetzung und Reaktanz von Kommunikationen“145 hat Management in erster Linie Wissensmanagement zu sein: mit Wissensmanagement wird das eigene Wissen „rekonstruiert, um in den Anschlüssen der Organisation, in dem dieses Wissen gepflegt wird, Dispositionsspielräume, d.h. ungenutzte Vernetzungsmöglichkeiten zu schaffen. Das Wissen der Partner, mit denen man es zu tun hat, sei es innerhalb der Organisation, sei es außerhalb bei Kunden, Lieferanten und Kapitalgebern, wird rekonstruiert, um sich selbst mit den Augen der anderen beobachten zu können und daran anschließend die eigenen Vernetzungsangebote für diese Anderen attraktiver gestalten zu können. (…) Das eigene Wissen wird korrigiert, um Vernetzungsmöglichkeiten wahr nehmen zu können, die bislang außer Reichweite lagen"146. Von der Idee der Kernkompetenz ausgehend, wird es zur wichtigsten Aufgabe von Unternehmen, „...to identify and develop the hard-to-imitate organizational capabilities that distinguish a company from its competitors in the eyes of the customer“147.
Diese Vorgabe wird aber dadurch erschwert, dass Wissen keine Ressource im klassischen Sinne ist. Es lässt sich nicht per Verwaltungsakt generieren, gestalten, verwalten und einsetzen. Wissen, vor allen Dingen auch das organisationale Wissen - lässt sich nur im Diskurs generieren und nur im Diskurs weiterentwickeln, wobei das Mo-
143
Vgl. zum Thema Wissensmanagement z.B. Soukup 2001, der die Perspektive eines systemischen Wissensmanagements entwickelt.
144
Malik (1996:80f.) umschreibt Organisationen mit einer solch umfassenden Informationsstruktur in Anlehnung an Beer (1972) als lebensfähige (viable) kybernetische Systeme.
145
Willke 2001:323
146
Baecker 2003:94. Allerdings ist Baecker so ehrlich, zuzugeben, dass niemand absehen kann, „ob diese Praxis des Wissensmanagements zur wechselseitigen Aufklärung oder zur Konstruktion eines wechselseitig gestützten Verblendungszusammenhangs führen wird". Ebda.
147
Stalk et al. 1992:62
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ment der Differenz von Beobachtung und Beobachtetem (hier i.e.S. die Einbettung des individuellen Wissen in subjektive Wertehaltungen und subjektive Wirklichkeitskonstruktionen) besonders zu berücksichtigen ist148. Für Führungsarbeit heißt das, dass der Ausbau der eigenen Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Reflexionskapazität und die Unterstützung beim Ausbau der Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Reflexionskapazitäten der Mitarbeiter zu den zentralen und unabdingbaren Aufgaben gehört. Entscheidungsvorbereitung erzwingt die Integration diverser Standpunkte, und Handlungsfähigkeit lässt sich nur noch intersubjektiv erzeugen. Jede Verbesserung der Wahrnehmungs-, Kommunikationsund Reflexionskapazitäten schlägt sich deshalb sofort in qualitativ hochwertigeren Entscheidungen, Prozessen und Ergebnissen nieder. Da Kooperation aber nicht selbstverständlich ist (s.o.) und nahezu jeder jedem anderen in einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Konkurrenzverhältnis steht, wird die "Einsicht in die Notwendigkeit einer Rücksichtnahme auf die anderen Akteure"149 nur nach der bereits oben erwähnten Verfahrensweise "Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will"150 zu realisieren sein, und eben hier liegt begründet, "warum der Aufbau von Vertrauen in Netzwerken eine so entscheidende Rolle spielt"151. Unter den komplexen Bedingungen des Toyota-Produktionssystems hat rein machtbasierte Führungsarbeit keine Bedeutung mehr152. 5.4.2. Teamarbeit und Teamführung Das zielorientierte und zeitlich begrenzte Zusammenwirken von Experten an einer Aufgabe ist von hoher Komplexität. Im Team ist es deshalb besonders wichtig, dass die Beteiligten sich die mit dem Gesamtkonstrukt verbundene Kontingenz verdeutlichen, dass sie sich mit den Chancen und Risiken der eigenen Teamidentität, des eigenen Selbstverständnisses, der eigenen Handlungsziele, der eigenen Systemsprache und der eigenen "Relevanzkriterien, Exklusionen und Eigensinnigkeiten"153 vertraut machen. 148
Vgl. Luhmann 2000:126f. und Luhmann 2000:323
149
Willke 1995:129
150
Luhmann 1987:166
151
Willke 1995:129
152
Vgl. auch Luhmann 1975:9. "Macht verliert ihre Funktion, doppelte Kontingenz zu überbrücken, in dem Maße, als sie sich dem Charakter von Zwang annähert. Zwang bedeutet Verzicht auf die Vorteile symbolischer Generalisierung und Verzicht darauf, die Selektivität des Partners zu steuern. In dem Maße, als Zwang ausgeübt wird - wir können für viele Fälle auch sagen: mangels Macht Zwang ausgeübt werden muss -, muss derjenige, der den Zwang ausübt, die Selektions- und Entscheidungslast selbst übernehmen; die Reduktion der Komplexität wird nicht verteilt, sondern geht auf ihn über."
153
Willke 1995:94
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Im Zusammenhang von Teamführung müssen Teamgrenzen, Beziehungs- und Verhaltensnormen und Selbstverständnisse für den Umgang mit der Umwelt und Beziehungs- und Verhaltensnormen und Selbstverständnisse für den Umgang miteinander definiert werden. Dass diese Definitionen in der Regel entlang konkreter Schnittstellen mit klar definierten Aufgaben und Zuständigkeiten entwickelt werden können, lässt die hohe Komplexität des Geschehens etwas in den Hintergrund treten, vor allen Dingen, wenn die Beteiligten über ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit ein zielgerichtetem Engagement verfügen. Sie ist aber in jedem Fall (auch und besonders im Konfliktfall) mit einem hohen Abstimmungsaufwand der Teammitglieder untereinander verbunden. Teamarbeit erfordert somit neben der Bereitschaft der Beteiligten zur vertrauensvollen Partizipation die Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortung und zur individuellen Kompetenzentwicklung. Im Team muss der Einzelne gewillt sein, sich übergreifendes Wissen eigenverantwortlich anzueignen und dieses Wissen dann (selbstlos) in den Prozess zurückzugeben. Ziel ist es u.a., das vorhandene, bei den Individuen verortete „implizite“ Expertenwissen in „explizites“ oder „taktisches“ Wissen zu überführen und dieses dann für die Gesamtheit der Unternehmensprozesse zu nutzen154. Teamarbeit wird damit zum wichtigen Baustein des organisationalen Wissenmanagements, ist aber in einer konkurrenzgeprägten Gesellschaft mit Schwierigkeiten verbunden, die selbstverständliches Teamlernen erschweren. Denn Teamlernen würde erfordern, dass „nicht nur die einzelnen Mitglieder des Teams etwas lernen, sondern dass das Team als Team in dem Sinne lernt, dass die Regelsysteme und Kommunikationsstrukturen des Teams sich auf veränderte Anforderungen einstellen“155. Deshalb wird leistungsorientierte Teamarbeit nur dann möglich sein, wenn die Teammitglieder entweder tatsächlich gleichwertige Leistungen erbringen oder aber gewillt sind, ihre Leistungen wechselseitig als gleichwertig anzuerkennen. Teamstrukturen werden in der Regel von „generalisierten Austauschbeziehungen“ begleitet: „Generalisierte Austauschbeziehungen ‚sind langfristig angelegt, sie beschränken sich nicht darauf, dass vertragliche Verpflichtungen erfüllt werden, sondern verlangen das Engagement der ganzen Person von beiden Seiten. (…) Wesentlich ist (…) das Bewusstsein einer umfassenden persönlichen Verpflichtung füreinander, das beide Seiten demonstrieren und intakt halten müssen“156.
Aber gerade deswegen ist es schwierig, die hohen Erwartungen zu erfüllen, die an Teamarbeit gerichtet sind. Denn Organisationen mit einem hohen Anteil an Teamarbeit sind durch einen hohen Konkurrenzdruck gekennzeichnet, der durch die Teamarbeit selbst hervorgerufen wird. Zum einen, weil die Teamorganisation als solche zur überkommenen „fordistischen“ Organisationsform der Linienstruktur in Konkurrenz steht. Zum anderen, weil die einzelnen Gruppen in der Regel miteinander in Konkur154
Vgl. Nonaka 1994:20, vgl. auch Reger 1997
155
Willke 2001:50
156
Deutschmann 1989:90, zit. nach Vieth 1995:97f.
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renz stehen und dabei um die Gültigkeit ihrer teameigenen Selbstverständnisse und ihrer teaminternen Handlungsziele werben müssen. Zusätzlich beinhaltet Teamarbeit eine permanente und gegenseitige Leistungskontrolle, bei der die zugehörigen Auseinandersetzungen aufgrund der teaminternen, häufig sehr differenzierten, in der Regel verdeckten und unzureichend institutionalisierten Machtstrukturen von den Beteiligten nur schwer zu durchschauen sind. Die teaminternen Machtstrukturen bilden sich gleichsam autopoietisch im informellen Geflecht aus Führungsanspruch, Konformitätsdruck und Restriktion. Sie reduzieren die Gleichheit der Teammitglieder auf eine formale Vorgabe, in deren Grenzen der Spielraum zwischen gerechter und ungerechter Machtausübung vom Team selbst definiert werden muss, das der Rückgriff auf die übergeordnete Hierarchie häufig nicht möglich oder nicht sinnvoll ist157. Wie oben angedeutet erfordert Teamlernen von allen Teammitgliedern die Fähigkeit zur Reflektion der Teamstrukturen und der eigenen Position im Team, die Fähigkeit zur Reflexion der Gruppenkommunikationsmuster und der eigenen Anteile an dieser Kommunikation und schließlich eine hohe Bereitschaft, die Prozesse im diskursiven Austausch mit allen Beteiligten zu optimieren. Insbesondere die Dialogbereitschaft ist jedoch tendenziell durch die fortschreitende Individualisierung und das langjährig angeeignete Konkurrenzdenken eingeschränkt und zugleich von die Gefahr unterlegt, dass einzelne Teammitglieder in die Vereinzelung zurückfallen oder sich in die Vereinzelung (zurück)-flüchten. Konkurrenzorientierte Metaregeln im Zusammenhang von Belohnung und Karriere drohen die „Veränderungsabsichten in den Regeln für Teamarbeit“158 permanent zu durchkreuzen. Konkurrenzdenken und Mangel an systemischem Wissen zusammen führen dazu, dass die teamspezifische (von der Kommunikation der beobachtenden Führungskraft unterschiedene) Kommunikation und das ihr implizite sensible Regelwerk gar nicht als eigene Realität begriffen, geschweige denn beobachtet und verstanden werden kann: weil die Beteiligten ihre alltäglichen Kommunikationsstrukturen, Sprachmuster und Sinnarchitekturen selbst nicht zur Kenntnis nehmen können, sind sie geneigt, "ihre Existenz anzuzweifeln und sie für Mummenschanz zu halten“159. Erfolgreiche Teamführung würde aber genau dies erfordern, sie würde die Anerkennung der selbsterzeugten Realität des Teams zur Voraussetzung haben, egal wie widersinnig oder chaotisch diese zunächst erscheinen mag160. Ohne intensive Aneignung von Instrumenten und Modellen für das Verstehen komplexer sozialer Systeme können Führungskräfte die Dynamiken komplexer Systeme weder erkennen, noch nut157
Vgl. Vieth 1995:97
158
Willke 1996b:75
159
Willke 2001:53
160
Vgl. Willke 1996b:134
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zen161. Insbesondere die elaborierte Kenntnis der Probleme und Risiken der Koordination und der Kooperation ist hier von Bedeutung, um keinem blauäugigen Aktionismus aufzusitzen. Es gehört zum Aufgabenspektrum jeder zielgerichteten Projektund Teamarbeit, den auf ihre Exklusivität bedachten Subsystemen den Nutzen von Zusammenarbeit und den Vorteil generalisierter Austauschbeziehungen mit wirksamen Anreizen nahe zu bringen und erfolgreiche Kooperation nachhaltig zu belohnen. Die einfache Betonung des ursprünglich aus der Physik stammenden "Synergieprinzips"162, um Teamleistungen zu generieren, hilft hier nicht wirklich weiter, sondern verstellt sogar das zentrale Problem. Gruppen und Team erzeugen zwar auch Synergie- oder Emergenzeffekte, aber das sind nur qualitativ unterschiedene, und nicht automatisch qualitativ hochwertigere Zustände. Koordination und Kooperation ist (s.o.) stets mit dem Risiko des Identitätsverlustes belegt. "Sie widerspricht der Logik der Differenzierung, die überhaupt erst zu der Ausbreitung von autonomen Reinheiten geführt hat, die nun koordiniert werden sollen. Jede Koordination riskiert deshalb die Vorteile der Komplexifizierung von Systemen durch Differenzbildung, d.h. die Vorteile des Aufbaus interner Komplexität (Eigenkomplexität) von Systemen durch Differenzierungen der unterschiedlichsten Art"163.
5.4.3. Globale Teamarbeit Die Praxis zeigt, dass die Aspekte von Koordination, Differenzierung und Entdifferenzierung im Zusammenhang von Globalisierung und Migration immer stärker an Bedeutung gewinnen, weil die Internationalisierung der Teams die in Teamarbeit (in Führungsarbeit allgemein) angelegten Widersprüche und die mit Teamarbeit ohnehin einhergehenden Schwierigkeiten nochmals verstärkt164. Bei der von den Global Play161
Vgl. Willke 1996b:179. Willke stützt sich hier auf Senge 1990
162
Vgl. Haken 1982:24. „... die spontane Entstehung geordneter Strukturen in offenen Sy-stemen (ist) kein Einzelfall, sondern ist in Natur und Technik weit verbreitet. Dies führte mich (...) dazu, ein interdisziplinäres Forschungsgebiet zu begründen, das ich SYNERGETIK nannte und das sich als erstes der systematischen Behandlung derartiger Übergänge von mikroskopischem Chaos zu makroskopischer Ordnung widmet. Wie die (...) Theorie zeigte, wird die Ordnung in den verschiedenen Systemen durch ganz bestimmte Veränderliche, die sog. Ordner bestimmt. Im Beispiel des Laserlichts ist die Lichtwelle ein solcher Ordner. Diese kann die Bewegung der Elektronen in den Atomen in seinen Bann zwingen, (...) sie versklavt die Atome. Umgekehrt kommt das Lichtfeld erst durch die Lichtausstrahlung der Atome zustande, so dass wir eine zirkuläre Kausalität vor uns haben. Das Verhalten des einen bedingt das Verhalten des Anderen.“
163
Willke 1995:104
164
Die Wirkungen und Nebenwirkungen interkultureller Teamarbeit sind dennoch nur unzureichend erforscht. Vgl. hier stellvertretend für viele Podsiadlowski 2002:11. „Zum einen ist die verstärkte Entwicklung in Unternehmen zur Zusammenarbeit von Personen mit unterschiedlichen kulturellem Hintergrund seit Ende der 90er Jahre eine unumstößliche Tatsache; und obwohl dem so ist, besteht zum anderen ein ausgesprochen geringes theoretisches und empirisch fundiertes Wissen über die Prozesse und Ergebnisse multikultureller Teamarbeit. Die Frage, ob
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ers global organisierten Teamarbeit stehen die Netzwerkpartner in Konkurrenz zueinander, obwohl sie eigentlich miteinander kooperieren müssen. Der „strukturelle Egoismus“ der einzelnen Tochterunternehmen verführt dazu, sowohl die zentralen Vorgaben als auch die strategische Entscheidungen der Konzernspitze zu umgehen und stattdessen geschönte Daten zu produzieren. Entweder um sich selbst besser darzustellen oder aber um die interne Konkurrenz in ein schlechtes Licht zu rücken165. Darüber hinaus tendieren eigenverantwortlich operierende Teams und eigenverantwortlich operierende Cost-Center auf der Unternehmensebene auch dazu, eigene Identitäten und eigene Handlungsziele zu entwickeln, die nicht wirklich zu den Handlungszielen des Gesamtunternehmens passen. Globalisierte Unternehmen leben deshalb mit der permanenten Gefahr des Auseinanderdriftens an der Basis, und es braucht permanente Anstrengungen, die soziale Bindung der Beschäftigten an das Unternehmen zu erzeugen und/oder aufrechtzuhalten: die global tätigen Manager der TNC müssen in relativ großer Unsicherheit leben, und Stress, überlange Arbeitszeiten, zeitliche und emotionale Belastungen führen bei vielen Führungskräften zu schweren emotionalen Störungen166. 5.5.
Diversity-Management: Auswertung und Ausblick
Nimmt man das systemtheoretische Modell Luhmanns zur Basis, dann ist Diversity aber auch und in erster Linie ein soziales Konstrukt und als solches ein Ergebnis kollektiver Bedeutungszuschreibungen. Hier wie anderswo im Kontext zwischenmenschlicher Kommunikation lässt sich nur das kommunizieren, was für einen Beobachter als Unterschied wahrnehmbar ist oder für einen Beobachter die Form eines Unterschiedes annehmen kann. Der Beobachter muss das von ihm Beobachtete stets im Rückgriff auf seine biologischen, sozialen, kulturellen und individuellen Möglichkeiten selbst konstruieren: thematisiert wird deshalb nicht die wirklich vorhandene "Diversität-an-sich", sondern die durch verschiedene "Vorurteile" aus dieser selektierte Diversität, wobei der Bedeutungsverlust der Reihe "Beobachtung, Beschrei-
und unter welchen Bedingungen multikulturelle Arbeitsgruppen und Teams erfolgreich zusammenarbeiten können, kann somit bislang nur sehr unpräzise beantwortet werden.“.. Vgl. auch Becker et al. 2006:38. "Einen Mangel in diesen Studien stellt die häufig fehlende Angabe bezüglich der Dauer der Zusammenarbeit dar, obwohl diese als unverzichtbar zur Beurteilung der gefundenen Diversitätseffekte im Rahmen von Metanalysen anzusehen ist." Und an anderer Stelle im Zusammenhang mit Diversity-Management: "Die implizit unterstellten Wirkungszusammenhänge zwischen Diversity-Management und Unternehmenserfolg weisen zwar eine hohe Plausibilität auf, es handelt sich jedoch um empirisch noch nicht ausreichend bestätigte, ad hoc entwickelte Annahmen, die nur punktuell durch Fallstudien gestützt werden konnten". Becker 2006:28 165
Vgl. Deutschmann et al. 1995:445, zit. nach Altvater et al. 2004:296
166
Vgl. Altvater et al. 2004:299
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bung und Verstehen" den Kommunikationsprozess selbst und die mit ihm günstigenfalls intendierten Handlungs- und Gestaltungsprozesse zusätzlich erschwert. Die Wahrnehmung von Differenz (und damit die Wahrnehmung des anderen Menschen) bleibt also immer bruchstückhaft, unfertig und unvollkommen. Darüber hinaus ist sie prozesshaft und sie muss die (gesellschaftlichen, kulturellen, individuellen etc.) Prozesse des Wahrgenommenen berücksichtigen und integrieren. Sie kann also nicht auf Wahrheit gerichtet sein und keine Wahrheit zum Ziel haben: Diagnosen und Etikettierungen führen zur Verdinglichung, sie werden der Prozesshaftigkeit menschlichen Seins nicht gerecht. Nicht zuletzt aufgrund dieser prinzipiellen Unbestimmbarkeit des Anderen kann die Wahrnehmung von Unterschieden - abhängig von Kontext, Situation und Persönlichkeit des Beobachters - entweder Angst oder Neugier provozieren. Angst, wenn die (physische oder psychische) Identität durch das Wahrgenommene in Gefahr zu geraten scheint, Neugier, wenn das nicht der Fall ist. Für den Umgang mit dem Fremden impliziert das zwei Voraussetzungen: die im Diversity-Management geforderte Einheit der Unterschiede setzt voraus, dass die Selbstbilder (Identitäten) aller Beteiligten während des Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Handlungsprozesses soweit gesichert bleiben, dass Unterschiede angstfrei erlebt, angstfrei beschrieben und angstfrei kommuniziert werden können. Und sie hat zu berücksichtigen, dass Veränderungen nur in iterativer Annäherung aufeinander bezogener Fremdbeschreibungen möglich sind. Mit Veränderungen muss ein für alle Parteien verbindlicher, über rekursive Schleifen realisierbarer, anhand von Dissens und Konsens kommunizierbarer Sinn einhergehen. Berücksichtigt man dies, dann kann Diversity keine organisierbare, geordnete, verwaltbare, kategorisierbare und systematisierbare Ressource sein, die als dinghafter Bestand vorkommt und auf organisierte Weise abgerufen werden kann. Was unter Diversity und Diversity-Management zu verstehen ist, muss im wechselseitigen Dialog der Akteure festgelegt werden. Aber es reicht nicht aus, dass die Mitarbeiter das Phänomen der individuellen und kulturellen Vielfalt dabei als solches akzeptieren. Sie müssen darüber hinaus bereit sein, Vielfalt prinzipiell als Lernchance zu begreifen und das Anderssein des Anderen bewusst zur Basis der eigenen wie der organisationalen Lernprozesse zu nehmen. Hier müssen Führungskräfte notfalls unterstützend eingreifen. Eben das aber wird im betriebswirtschaftlich orientierten Management weitestgehend ignoriert. Die diversen Diversity-Maßnahmen selbst zeugen davon, dass unter Vielfalt im klassischen, betriebswirtschaftlich orientierten Managementdenken eine objektiv vorhandene Entität verstanden wird, die man mit Hilfe geeigneter Verfahrensweisen gestalten kann, und unter dieser Prämisse versucht man Diversity häufig noch, nach verwaltungstechnischen, logistischen und bilanztechnischen Prinzipien zu organisieren. Wie im Falle der bereits vertrauten Ressourcen Rohstoffe, Kapital und Arbeit soll Vielfalt durch Managementeinsatz "erzeugt" oder "erhöht" (durch Einstellung der geeigneten Mitarbeiter), "verteilt" (durch richtigen Einsatz der geeigneten
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Mitarbeiter), "gesteuert" (durch Vorgabe und Kontrolle geeigneter Ziele) und "bewertet" (durch Bilanzierung der mit dem Einsatz von Vielfalt verbundenen Leistung) „verwaltet“ und besser "passend" gemacht werden. Vielfalt wird hier als eine Art objektivierbares und akkumulierbares Gut betrachtet, von dem man vielleicht nicht einfach möglichst viel, aber möglichst viel Passendes haben möchte. Gleichzeitig erzeugt der enorme Leistungsdruck Erwartungen, die dem Stand der Prozessbeherrschung nicht angemessen sind. Es scheint so, als ob die Globalisierung mit ihrem Zwang, die mondiale Vielfalt zu handhaben, das klassische Managementverständnis in seine Schranken verweist. Im Zusammenhang von Diversity-Management verwischt die Grenze zwischen Subjekt und Objekt der Führungsarbeit, denn Diversity-Management impliziert den Widerspruch zwischen der autopoietischen Entwicklung der Vielfalt und dem Anspruch der Führungskräfte, diese Vielfalt verwalten zu können, obwohl sie selbst Teil von ihr sind. Beim Umgang mit Vielfalt offenbart sich der Steuerungsanspruch des klassisch operierenden Managements als Zumutung, der durch andere Vorgehensweisen ersetzt werden muss. Erst abseits der üblichen Machbarkeitsphantasien lassen sich dysfunktionale Rahmenbedingungen vermittels rekursiver Schleifen isolieren und korrigieren und ungewollte Nebenwirkungen ohne Schuldvorwurf thematisieren. Damit wird Diversity-Management als eine isoliert neben den anderen, ebenfalls von einander isolierten Verfahrensweisen "Lieferantenmanagement", "Wissensmanagement", "Human-Resources-Management", "Produktionsmanagement" und "Kundenmanagement" etc. stehende Verfahrensweise jedoch selbst fragwürdig. Der Umgang mit Vielfalt ist kein - irgendwie an ethnischer und kultureller etc. Vielfalt festzumachender - Sonderfall von Führungsarbeit, sondern alltägliche Aufgabe von Führungsarbeit. Er verlangt die Revision des klassischen Organisationsverständnisses ebenso wie die Revision des klassischen Führungsverständnisses. Er verlangt eine verstärkte Sensibilität für die Komplexität der organisationalen und sozialen Prozesse, eine verstärkte Sensibilität für die Kommunikationsstrukturen, Sprachmuster und Sinnarchitekturen der Beteiligten, eine neuartige, von "Fürsorge" getragene Unterstützung beim Handhaben der sozialen Prozesse entlang der Linie und entlang der informellen Organisationsstrukturen, und er verlangt ein fundiert-professionelles, für die beratende Unterstützung selbstorganisierter Mitarbeiter geeignetes Kommunikations- und Beratungswissen. Die ergebnisorientierte Zusammenarbeit mit dem (fremden) Anderen gebietet den wertschätzenden Umgang miteinander, macht Gleichwertigkeit (im Produktionsprozess) erlebbar und beschleunigt das Bedürfnis nach realer Gleichbehandlung auch im Alltagsleben. Hier wechselt das Geschehen die Bühne: mit der Veröffentlichung des Gleichbehandlungsinteresses wird das Anliegen politisch und sieht sich - fern vom Zwang zur ergebnisorientierten Bewältigung überschaubarer Aufgaben im Unternehmen - mit anderen, ebenso bedeutsamen Anliegen konfrontiert. Insofern beschleunigt sich mit der Globalisierung die je schon mit Industrialisierung einhergehende Individualisierung der Gesellschaft einschließlich ihres inhärenten Wider-
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spruchs: sie transportiert die zunehmende Verwertung immer tieferer Persönlichkeitsschichten und Persönlichkeitsanteile im Produktionsprozess, und sie beschleunigt ihr direktes Gegenteil, nämlich den Wunsch nach umfassender politischer und sozialer Selbständigkeit und nach Anerkennung der eigenen Individualität. Aber selbst wenn der optimal gestaltete, gemeinsame Arbeitsprozess den Beteiligten eine Erfahrungs- und Austauschbasis bietet, die eine weit bessere Grundlage für die Entwicklung von Selbstachtung und gegenseitiger Akzeptanz liefert als jeder moralische Appell und jede moralische Vorschrift, ist kaum damit zu rechnen, dass ein auf Kooperation ausgerichteter Dialog zwischen den Kulturen auf der gesellschaftlichen Ebene von selbst in Gang kommen kann. Dafür sind die vorurteilsgebundenen Vereinzelungs- und Abgrenzungstendenzen sowohl in den Mehrheitsgesellschaften als auch in den "Einwanderungsgesellschaften" (noch) zu stark. Schließlich ist die zur vollkommenen Akzeptanz von Vielfalt geforderte ethisch-moralische Toleranz weder integraler Bestandteil der Kultur(en) der klassischen Einwanderungsländer, noch integraler Bestandteil der Immigrantenkulturen. Der Weg hin zur Gleichbehandlung aller Gesellschaftsmitglieder braucht weitere - vermutlich sogar langfristige - Unterstützung durch gesetzlich geregelte, im öffentlichen Dialog der Interessen herauszuarbeitende Rahmenbedingungen und administrative Maßnahmen, und es ist anzunehmen, dass diese wiederum über rekursive Schleifen auf die Entwicklung der Produktionssysteme und auf die Gestaltung des Produktionsprozesses zurückwirken. Die Bedeutung von Individualität und individueller Vielfalt wird dabei weiter zunehmen. Führungsarbeit, die hier mehr sein will als zahlenfixiertes Verwalten von Humanressourcen muss sich die Bedeutung dieser vielfältigen rekursiven Schleifen für die innere und äußere Komplexität des Unternehmens und für die Komplexität der gesellschaftlichen Prozesse bewusst machen. Sie muss einen Weg finden, den wachsenden ökonomischen Druck mit dem sozialen Anspruch der individualisierten Akteure zu verbinden. Die ökonomischen Ziele des Diversity-Management lassen sich (auch und insbesondere in Deutschland) nur in dem Maße verwirklichen, in dem die ethischen Ziele in das Selbstverständnis der beteiligten Personen, insbesondere aber in das Selbstverständnis der verantwortlichen Führungskräfte integriert sind. So lange das nur unzureichend realisiert ist, wird es (staatliche) Gleichstellungsprogramme nach dem Vorbild der Affirmative Action brauchen, um Chancengleichheit zu realisieren, und es wird Kontrollprogramme brauchen, die bereits die Tendenzen zur nur symbolischen und unreflektierten Adaption der Vorgaben unterbinden können. Da Handlungen niemals rational kalkuliert werden können, bedürfen sie der permanenten und wechselseitigen Interpretation durch die Akteure. Organisationale Strukturen, Subsysteme, Hierarchieebenen, Teams, Handlungsvorschriften und Verfahrensregeln etc. können die damit zwangsläufig entstehende Komplexität reduzieren, weil sie - und nur: wenn sie - Sinn stiften und Orientierung geben. Für Führungsarbeit bedeutet das aber, dass sie die Bereitschaft entwickeln müssen, sich wertschätzend und respektvoll in ihre Mitarbeiter einzudenken und sie beim Ausbau zieldienlicher
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Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Reflexionsmuster und bei der Entwicklung zieldienlicher Handlungsmuster zu unterstützen. Entscheidung und Entscheidungsvorbereitung in komplexen (sozialen) Situationen erzwingt per se die Integration diverser Standpunkte, und Handlungsfähigkeit lässt sich nur intersubjektiv erzeugen. Heutzutage muss Autorität erworben werden, eine lediglich verliehene Autorität genügt den aktuellen Ansprüchen an Führungskräfte nicht mehr. Der wertschätzende und respektvolle Umgang mit Verschiedenheit sollte deshalb der Normalfall und kein (auf bestimmte Gruppen bezogener) Sonderfall von Führungsarbeit sein.
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