Das neue Abenteuer 468
Hans Ahner: Die Zeppelinkatastrophe
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illu...
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Das neue Abenteuer 468
Hans Ahner: Die Zeppelinkatastrophe
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illustrationen von Werner Ruhner © Verlag Neues Leben, Berlin, 1985 Lizenz Nr. 303 (305/97/85) LSV 7503 Umschlag: Werner Ruhner Typografie: Walter Leipold Schrift: Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 907 8 00025
"Also, Elektriker willst du werden?" Werner Franz nickte, den Kopf hochrot, er brachte kein Wort heraus. Seine dunkelbraunen Haare hingen ihm ins Gesicht. Elektromeister Max Riep schob die Mütze in den Nacken, dann ging er langsam um den Jungen herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Er schüttelte den Kopf. Für diesen kleinen Burschen würde man eine extrahohe Leiter haben müssen. Der kam für ihn nicht in Frage. Andererseits hatte Riep billige Arbeitskräfte nötig. Seit Hitler an der Macht war, wurden überall Kasernen gebaut, und er, Max Riep, setzte alles daran, ebenfalls Aufträge zu bekommen. Mit zwei Gesellen konnte er da nicht viel ausrichten, wenn er mit in das große Geschäft einsteigen wollte. Doch dieser kleine Kerl hier, dieser Hänfling, würde ihm nicht viel nützen, es sei denn, er stellte ihn als Arbeitsburschen ein, dann brauchte er nur zwanzig bis fünfundzwanzig Mark im Monat als Lohn zu berappen, und der Junge konnte Material herbeischaffen, das Frühstück holen und die Werkstatt fegen. "Wie alt bist du denn?" fragte er. "Vierzehn!" "Ziemlich klein für dein Alter, wann bist du denn aus der Schule gekommen?" "Zu Ostern, Herr Riep." "Und jetzt ist Juli. Besinnst dich wohl jetzt erst auf eine Lehrstelle?" Riep sah ihn argwöhnisch an. "Hast wohl keine Lust zum Arbeiten, wie?" "Doch, aber man hat mich überall abgewiesen, weil alles schon besetzt ist und ich ." "Weil du zu klein bist!" schnitt Riep ihm das Wort ab. Werner Franz' Mut sank. Was ihm der Elektromeister Riep sagte, hatte er schon oft genug gehört: Du bist zu
klein! Er setzte seine Mütze auf und kletterte die Hühnerstiege, die zu Rieps Werkstatt führte, wieder hinab. Er konnte nicht sagen, wie viele Absagen er schon seit Ostern erhalten hatte. Jeden Morgen bürstete er sorgfältig seinen Konfirmandenanzug, und nach dem kärglichen Frühstück ging er in die Frankfurter Innenstadt, dorthin, wo sich die Zeitungsredaktionen befanden. Er studierte die Stellenanzeigen, machte sich Notizen und sprach danach bald bei diesem oder jenem Meister vor. Doch man suchte ausgebildete Fachkräfte, kaum Lehrlinge, höchstens Arbeitsburschen, die bei geringem Lohn einen hohen Nutzen brachten. Aber er, Werner Franz, wollte einen richtigen Beruf erlernen, wollte beweisen, daß auch ein so kleiner Kerl wie er etwas leisten konnte. Wenn es nach ihm ginge, würde er am liebsten einen Beruf ergreifen, der etwas mit der Luftfahrt zu tun haben müßte. Doch in Frankfurt gab es keine Flugzeugfabriken, nur den neuen, vor wenigen Monaten eröffneten Rhein-Main-Luftschiffhafen, aber dort brauchte er gar nicht erst nachzufragen. Außerdem hatte der Vater zur Luftfahrt eine eigene Meinung. "Fliegerei, weißt du, was das heute heißt, Werner? Luftwaffe, Luftparaden und Bombenflugzeuge. Das läuft alles auf den Krieg hinaus. Nee, das ist nichts für dich, schlag dir diese Illusionen aus dem Kopf! Sieh mich an, mich hat's im Krieg erwischt, und was habe ich noch vom Leben? Das möchte ich dir ersparen." Der Vater! Im großen Krieg hatte er einen Kopfschuß erlitten, seit dieser Zeit war seine rechte Gesichtshälfte gelähmt. Nach dem Krieg hatte der Vater als Telefonist im Hotel "Frankfurter Hof" gearbeitet. Später mußte er dann ganz zu Hause bleiben. Meistens lag er auf der Chaise-
longue in der Wohnküche und starrte vor sich hin. Die Eltern versuchten, so gut sie konnten, ihre Sorgen vor den beiden Kindern zu verbergen. Manchmal hörte Werner die Mutter flüstern: "Was soll noch werden, Emil? Von deiner Versehrtenrente kann nicht mal eine Person, geschweige denn eine Familie leben, und wir sind vier." Von nun an war die Mutter wenig zu Hause, sie ging zu reichen Leuten die Wäsche waschen und die Wohnungen sauberhalten. Sie kam nur stundenweise nach Hause, dann erledigte sie rasch den Haushalt, kochte und versorgte den Vater, der immer häufiger Krampfanfälle bekam und an Kreislaufstörungen litt. Hin und wieder stakte er, auf einen Stock gestützt, durch die Wohnung, und er murrte immer öfter. "Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiß, haben sie damals gesagt, aber nun vegetieren die Kriegskrüppel dahin. Auch Hitler hat uns betrogen. Er versprach uns bessere Zeiten. Ich weiß nicht, wo die geblieben sind, vielleicht für die Großen, für die Fabrikanten. Ein Glück, daß Heinz aus dem Haus ist und eine Lehrstelle im ,Frankfurter Hof' hat, da sparen wir wenigstens das Essen für ihn. In einem Jahr wird er ausgelernt haben und als Kellner soviel verdienen, daß er uns mit unterstützen kann. Doch was soll aus Werner werden?" Werner grämte sich, daß er den Eltern Sorgen bereiten mußte. Doch was sollte er tun? Tag für Tag lief er durch die große Stadt und versuchte, Arbeit zu finden. Aber jetzt im Juli war das beinahe aussichtslos. Einmal riet ihm der Vater, Werner möge es auch im Hotel "Frankfurter Hof" versuchen, wo Heinz seine Lehrstelle habe und er, der Vater, als Telefonist tätig gewesen sei. Er möge sich dort an Direktor Wangemann wenden und auf den Vater berufen. Elektriker könne er dort zwar nicht werden, aber
vielleicht etwas anderes, denn Direktor Wangemann sei mit ihm zusammen in einer Kompanie gewesen und er, der Vater, hätte ihm einmal das Leben gerettet. Am nächsten Tag lief Werner zum Hotel. Vom Bruder wußte er, daß es mit seinen dreihundert Betten eins der größten und vornehmsten der Stadt war. Wahrscheinlich würde ihn schon der Portier wegschicken. Doch Werner täuschte sich. Direktor Wangemann, ein freundlicher, älterer Herr mit silbergrauem Haar und Schnurrbart, hörte ihn aufmerksam an und nahm ihn sogar mit in sein Büro. Er fragte, wie es dem Vater gehe. Werners Beklemmung wich, und er begann zu erzählen. Zwischendurch summte auf dem Schreibtisch das Telefon, und bunte Lämpchen leuchteten auf. "Ja", sagte Direktor Wangemann bedächtig, "heute sind schlechte Zeiten. Im Augenblick kann ich dir nicht helfen, aber ich werde dich vormerken lassen. Sobald ich etwas höre ." Er drückte einen Knopf, und in der Tür erschien gleich darauf eine junge Frau mit einem Stenogrammblock. "Fräulein Jensen, notieren Sie bitte die Anschrift des Jungen. Sobald bei uns eine Stelle frei wird, soll er berücksichtigt werden." Werner lief auf die Straße hinaus; sicher, er hatte nur halb gewonnen, aber was machte das schon. Nun war er vorgemerkt! Erleichtert schlenderte, er durch die Stadt, sie sah plötzlich viel schöner als sonst aus, und auch die Menschen schienen alle fröhlich zu sein. Doch Werners Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Endlich, an einem nebligen Septemberabend, erhielt er eine Nachricht. Sein Bruder stürmte aufgeregt in die Wohnküche, er trug noch seinen dunklen Servieranzug. "Was gibt es, Heinz?" fragte die Mutter erschrocken.
"Warum arbeitest du nicht?" "Direktor Wangemann hat mich hergeschickt! Wo ist Werner?" Vor Aufregung bemerkte er den Bruder nicht, der am Küchenherd saß. "Werner soll morgen um zwölf bei Direktor Wangemann sein. Er sagte, daß er für Werner etwas habe." Ehe die Eltern und Werner Fragen stellen konnten, war er wieder fort. In der folgenden Nacht schlief Werner Franz lange nicht ein. Ihn beschäftigten viele Fragen. Werde ich wirklich Arbeit bekommen? Lehrlinge stellen sie doch nur zu Ostern ein, dachte er. Vielleicht soll ich als Hotelpage den Gästen die Koffer in die Zimmer tragen oder den Lift bedienen. Am nächsten Morgen stand Werner schon sehr früh auf. "Warum schläfst du nicht mehr?" fragte ihn seine Mutter besorgt. Werner bürstete seinen Konfirmandenanzug besonders sorgfältig aus. Wenn er zu Direktor Wangemann ging, wollte er einen guten Eindruck machen, denn eine Arbeit im Hotel bekam man nicht alle Tage. Ehe die Mutter die Wohnung verließ, legte sie ihm dreißig Pfennig auf den Tisch. "Laß dir vorher noch einmal die Haare schneiden, damit du nicht so strubblig aussiehst. Und sie ermahnte ihn noch, die Fingernägel zu säubern und ein neues Taschentuch einzustecken, denn ein Direktor achte auf alles. Um halb zwölf stand Werner vor dem Hotel. In diesem vornehmen Haus würde er, wenn alles klappte, also arbeiten. Endlich war es soweit. Das blonde Fräulein Jensen im Vorzimmer führte ihn in das Büro des Direktors. Sein Herz klopfte heftig. Direktor Wangemann bat ihn, sich zu setzen, und sagte zu Fräulein Jensen: "Sehen Sie doch bitte im Restaurant
unauffällig nach, ob Herr Doktor Eckener noch speist. Wir wollen ihn nicht beim Essen stören." Eckener! dachte Werner. Das ist doch der berühmte Luftschiffkapitän. Was hat der mit meiner Arbeit zu tun? Werners Gedanken überschlugen sich. Er erinnerte sich an eine Stunde im letzten Schuljahr, der Lehrer hatte die Schüler nach den populärsten Deutschen der Gegenwart gefragt. Die Antworten schwirrten durcheinander: Der Luftschiffkapitän Doktor Eckener, der Autorennfahrer Manfred von Brauchitsch, der Boxer Max Schmeling, der Flieger Ernst Udet . Der Lehrer, er trug die braune Naziuniform, gebot dem Einhalt, er wollte die Namen der braunen Machthaber hören. Doch dann sprach er auch von Brauchitsch und Eckener. Ja, Doktor Eckener habe das Werk des Grafen Zeppelin fortgeführt und nach dem Kriege über hundertmal den Atlantik im Luftschiff nach Südund Nordamerika überquert. Vor sieben Jahren, also neunzehnhundertneunundzwanzig, sei er mit dem bewährten Luftschiff "Graf Zeppelin" sogar um die Welt gefahren, und zwei Jahre danach habe er eine ausgedehnte wissenschaftliche Polarfahrt unternommen, doch gemeinsam mit Russen, mit Bolschewisten, das verdammte der Lehrer damals sehr. Das alles ging Werner in diesen Minuten durch den Kopf. Er hatte Doktor Eckener manchmal, wenn er, was selten genug vorkam, ins Kino gehen durfte, in der Wochenschau gesehen; ein großer, etwas vornübergebeugter Mann mit einem Kinnbart, und sich auch aus der Schulbibliothek Bücher über seine abenteuerlichen Luftreisen ausgeborgt. Fräulein Jensen kam zurück. "Herr Doktor Eckener trinkt bereits seinen Kaffee!"
"Also dann komm, mein Junge!" sagte Wangemann aufmunternd. Werner wagte keine Frage zu stellen. Was hatte Doktor Eckener wohl mit seiner Arbeitsstelle zu tun? Sie gingen über dicke Teppiche ins Restaurant, und dann stand Werner vor einem großen alten Herrn mit eisgrauem, kurzgeschnittenem Haar und einem schmalen, sonnengebräunten Gesicht. Direktor Wangemann wies auf Werner. "Das also ist mein Schützling, Herr Doktor. Ich habe Ihnen schon von ihm erzählt." "So-o-o!" Eckener sog an seiner Zigarre und lächelte verschmitzt. "So, du willst also zu uns ins Luftschiff kommen?" sagte er bedächtig. "Ins Luftschiff?" fragte Werner verwirrt. An eine solche Möglichkeit hatte er überhaupt nicht gedacht. Im Luftschiff fuhren doch nur Auserwählte, die vorher eine komplizierte Ausbildung machen mußten, oder sehr reiche Leute, die sich eine solche Luftreise leisten konnten. Was sollte er, Werner Franz, der nichts gelernt und gerade die achtklassige Volksschule beendet hatte, auf einem Luftschiff? Eckener bemerkte seine Verwirrung. "Na, willst du bei uns anfangen? Vielleicht als Steuermann, als Maschinist oder als Navigationsoffizier?" scherzte er. Werner stotterte. "Ich kann doch nicht, kann doch nicht ." Eckener beruhigte ihn. "Wie ich gehört habe, suchen sie für das neue Luftschiff, den LZ 129, einen Kabinenjungen. Der muß der Besatzung das Essen servieren, das Geschirr abwaschen, die Schlafkojen richten und so manches andere tun. Gehe morgen zum Obersteward Kubis, er hat auf dem Luftschiff das Kommando über das ganze Bedienungspersonal." Er schrieb ein paar Zeilen auf seine Visitenkarte und gab sie Werner. "Morgen gehst du damit zum
Obersteward, aber mit deinem Vater, so, wie es sich gehört."
Sie stiegen die Treppe hinauf, der Vater und Werner. Obersteward Kubis wohnte im vierten Stock eines Mietshauses aus der Gründerzeit. Vater Franz schnaufte mühsam, und sein Stock klapperte auf der Treppe. Werner war immer eine halbe Stiege voraus. Sein Gesicht glühte. Würde es heute mit einer Arbeit klappen? Doch je höher er stieg, um so mehr Zweifel kamen ihm. Eine Arbeitsstelle? Und dazu noch im Luftschiff, davon träumten in Deutschland Millionen! Endlich waren sie im vierten Stock angelangt. "Heinrich Kubis", las Werner auf einem blankgeputzten Messingschild. Der Vater klingelte. Ein schlanker Mann mit Bürstenhaarschnitt öffnete. "Sie wünschen?" fragte er knapp. Vater Franz reichte ihm den Brief. "Eine Empfehlung von Herrn Doktor Eckener", sagte er unsicher. Kubis riß den Umschlag auf und las. Danach sah er Werner abschätzend an. "Treten Sie ein!" Er führte sie in ein einfach eingerichtetes Wohnzimmer. Werner betrachtete die zwei Bilder an der Wand über dem Sofa. Das eine, eine kolorierte Zeichnung, zeigte den "Graf Zeppelin" bei stürmischem Wetter über dem Ozean. Tiefhängende Wolkenfetzen hüllten ihn zum Teil ein. Auf dem anderen Bild, einer vergrößerten Fotografie, die von einem Flugzeug aus aufgenommen sein mochte, schwebte das Luftschiff über einer weiten Landschaft. "Also, du möchtest Kabinenjunge im neuen Luftschiff werden?" fragte Kubis, als ob es um eine alltägliche Arbeit ginge. Werner saß schüchtern auf der Vorderkante eines Stuhls, und er duckte sich beinahe, als der Oberste-
ward ihn fragte, was er für eine Ausbildung habe. "Ich konnte bisher nur die Achtklassenschule besuchen." "Zeig dem Herrn Kubis dein Schulzeugnis, Werner!" forderte ihn der Vater auf, doch der winkte ab. Er begann, sich mit Werner zu unterhalten. Danach entschied er: "Wir können es ja einmal mit dir versuchen. Allerdings ist die Arbeit an Bord hart, sie beginnt für dich morgens um sechs und endet während der Fahrt um zehn Uhr abends. Dazwischen hast du vor- und nachmittags einige Stunden frei." Werners Gesicht glühte wieder. Der Obersteward erläuterte ihm ganz genau seine Pflichten. Werner müsse den Offizieren, den Ingenieuren und Steuerleuten das Essen servieren, das Geschirr abwaschen und die Betten in den Schlafkojen herrichten. Mitunter seien auch einmal Uniformen auszubürsten oder Schuhe zu putzen, und das für zwanzig Mann. Insgesamt wären zwar fünfundfünfzig Besatzungsmitglieder an Bord, doch die meisten versorge der Hilfssteward Wilhelm Balla, dem sei er unterstellt. Werner hörte aufmerksam zu. "Ich kann dir noch nichts versprechen", sagte Kubis schließlich. "Das entscheidende Wort, ob du eingestellt wirst, spricht Kapitän Pruss, der Kommandant des neuen Luftschiffes. Komm morgen vormittag um zehn auf den Rhein-Main-Flughafen. Dort wirst du mich antreffen, dann gehen wir zusammen zum Kapitän. Na, und wenn es klappt", fuhr Kubis fort, "dann machst du dieses Jahr noch drei Fahrten mit, zwei nach Südamerika und eine nach Nordamerika. Zeigst du dich dabei deinen Aufgaben gewachsen, stellen wir dich fest ein, dann bekommst du einen Ausbildungsvertrag und kannst im Luftschiff einmal Steward werden. Ich sagte schon, die Arbeit ist hart, und du wirst sehen, daß auch die
kleinen Aufgaben ihre Größe haben. Die Fahrt nach Südamerika dauert dreieinhalb Tage. Zurück noch einmal dasselbe! Nach Nordamerika geht es rascher, diese Strecke schaffen wir in ungefähr zwei Tagen. Wenn wir von einer Fahrt zurück sind, hast du erst einmal einige Zeit frei, dann aber gibt es auch im Luftschiff für dich wieder Arbeit: die Passagierräume reinigen, die Schlafkabinen für die nächste Fahrt herrichten und dem Koch beim Verladen der Lebensmittel helfen. Am Montag beginnt, wenn alles klappt, deine erste Fahrt." Werner glaubte zu träumen. Er sollte über den Atlantischen Ozean fliegen, so wie andere mit der Straßenbahn oder dem Zug zur Arbeit fuhren? Als Werner mit dem Vater auf dem Heimweg war, überschlugen sich seine Gedanken, er konnte alles noch gar nicht fassen. Auch der Vater schien beeindruckt zu sein. Werner merkte es daran, daß er schwieg. In der Nacht fand Werner lange keinen Schlaf. Er sah sich schon über den Ozean fliegen in riesigen, gespenstischen Luftschiffen, die langsam ihre Bahn am Himmel zogen. Kapitän Max Pruss, ein hagerer Mann um die Fünfzig mit grauem Haar, sah irritiert von seinen Papieren auf, als Kubis mit Werner sein Büro betrat. "Ach so", sagte er, "es geht um den neuen Kabinenjungen, Kubis. Haben Sie alles mit ihm besprochen?" Kubis nickte. Dann sagte Pruss knapp: "Das war's!" Sie waren entlassen. Werner konnte es noch gar nicht fassen, daß er nun auf dem Luftschiff arbeiten durfte. Sie gingen in Kubis' Büro. Dort gab der Obersteward ihm einen Brief. Damit mußte er zum Arbeitsamt gehen und sich ein Ar-
beitsbuch geben lassen. Außerdem sollten ihm die Eltern eine weiße Servierjacke, eine schwarze Hose und einige weiße Hemden kaufen. "Ach so, beinahe hätte ich es vergessen: Dein Monatsgehalt beträgt sechzig Mark, und während der Fahrt erhältst du freie Verpflegung. Wenn das Schiff in der Halle liegt, kannst du in der Kantine essen es kostet nicht viel." "Sechzig Mark?" fragte Werner überrascht. "So viel Geld?" Kubis lächelte, dann ging er zum Telefon, wählte eine Nummer und sagte dann: "Schicken Sie mir Wilhelm Balla an den Apparat." Es dauerte eine Weile, bis sich Balla meldete. Kubis teilte ihm mit, daß er den neuen Kabinenjungen schicke. "Mach ihn gründlich mit dem Luftschiff vertraut, damit er sich auf der nächsten Fahrt überall zurechtfindet." Herr Kubis zeigte ihm vom Fenster aus die Luftschiffhalle und befahl ihm, dorthinüber zu gehen. Sein Vorgesetzter, der Hilfssteward Balla, erwarte ihn. Werner sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab und eilte, den weiten Platz überquerend, auf die mächtige Luftschiffhalle zu. Vom Tor her kam ihm ein junger Mann entgegen. "Balla", stellte er sich vor und streckte ihm eine feste Hand entgegen. "Also du bist der Werner! Sei gegrüßt. Gehen wir jetzt zum Luftschiff. Du wirst staunen, was es dort alles gibt! Aber spitz die Ohren, sag ich dir, denn wir vom Zeppelin pflegen nichts zweimal zu sagen." Obwohl Balla erst vor zwei Jahren zum Luftschiff "Graf Zeppelin" gekommen war, fühlte er sich Werner gegenüber als alter Hase. Sie gingen zum Hallentor. Überrascht blieb Werner stehen. Hoch über sich erblickte er zwischen den halb geöff-
neten Toren den silbergrauen Bug des Luftschiffes. "Komm schon!" mahnte Balla. "Du wirst das noch oft genug sehen." Sie traten in die Halle. Über ihnen wölbte sich der gigantische Leib des Zeppelins. Werner wagte kaum zu atmen. Er hatte das Schiff zwar schon einige Male in der Luft gesehen, aber daß es solche Ausmaße besaß, hätte er nie gedacht. Balla schien seine Gedanken, zu erraten.
"Zweihundertfünfundvierzig Meter lang und fünfundvierzig hoch. Wenn wir bis zum Heck gehen, brauchen wir ungefähr fünf Minuten." Werner war sprachlos. So etwas konnte in die Luft steigen? Unter dem Riesenkörper wirkten die Menschen wie Zwerge. Er stolperte über ein Kabel. Balla hielt ihn fest. "Zeig mir mal deine Schuhsohlen! Beinahe hätte ich es vergessen." Werner sah ihn verständnislos an, hob aber einen Fuß. Balla nickte. "Ist gut, wollte nur sehen, ob du Nägel auf
den Sohlen hast. Das ist hier streng verboten, wegen der Funkenbildung und dem Wasserstoffgas. Im Schiff ist es am besten, wenn du Gummisohlen unter den Schuhen hast, damit du nicht von den schmalen Laufgängen aus Leichtmetall im Rumpf abrutschst, wenn du mit einem Kaffeetablett zur Führergondel balancierst. Wirst es gleich sehen." Balla schien noch etwas einzufallen. "Rauchst du?" fragte er argwöhnisch. Werner blickte überrascht auf. "Nein." "Auch nicht heimlich?" "Ganz bestimmt nicht." "Laß dich hier ja nicht mit einer Kippe erwischen!" warnte ihn der Hilfssteward. "Das ist im Schiff und auf dem ganzen Platz streng verboten wegen der Explosionsgefahr. Ich sagte schon, hier wird mit Wasserstoffgas hantiert. Nur die Passagiere dürfen im Rauchsalon ihre Zigaretten und Zigarren paffen, dort hat man Schleusen eingebaut. Auf dem alten ,Graf Zeppelin' gab es so etwas noch nicht, und selbst Doktor Eckener mußte sich seine Zigarren verkneifen, obwohl der so gern raucht." Sie waren unter der silbergrauen Führergondel mit ihren großen Fenstern angelangt. Diese schwebte scheinbar schwerelos über dem Hallenboden, nur gestützt von einem dicken Laufrad, das in einer geknickten Strebe hing. Sie gingen unter dem Schiffsrumpf entlang. Arbeiter machten sich daran zu schaffen, sie standen auf hohen, fahrbaren Leitern an den Rumpfseiten, andere krochen in die Luken hinein oder arbeiteten an den vier Motorgondeln, die paarweise seitlich unter dem Rumpf hingen. Als sie am Heck mit seinen kreuzweise angeordneten Steuerflächen ankamen, sagte Werner erstaunt: "Die sehen ja wie die Flossen eines Fisches aus."
"Sind auch Flossen!" erwiderte Balla. "Zusammen mit den dahinterliegenden beweglichen Rudern bilden sie das Leitwerk, die Senkrechten das Seitenleitwerk, die Waagerechten über uns das Höhenleitwerk. Was glaubst du, wie dick die Flossen sind?" "Weiß ich nicht!" Werner schüttelte den Kopf. "So viel sag ich dir schon jetzt, sie sind so dick, daß man hineinkriechen kann. Wirst du nachher sehen." Sie gingen gemächlich zurück, und Balla gab sich so wichtigtuerisch, als ob er das Luftschiff erfunden hätte. "Halt!" kommandierte er. Sie standen vor einer hohen Gangway, die durch eine breite Luke in den Schiffskörper hineinführte. Über ihnen war die Bespannung des Rumpfes durch zwei lange Reihen übereinanderliegender Fenster ersetzt. Balla ging voraus, und Werner folgte ihm. Gleich darauf standen sie in einem großen, hellen Raum. Zwei Treppen führten in ein oberes Geschoß hinauf. "In der oberen Etage, wir sagen dazu A-Deck, befinden sich die Passagierräume, die Wandelgänge mit den großen Aussichtsscheiben, die Speisesäle, die Passagierkabinen und die Gesellschaftsräume", erläuterte Balla. "Dort hast du nichts zu suchen, dieses Deck gehört allein den Geldsäcken, die sich eine solche Reise leisten können. Wenn du aber trotzdem mal einem Passagier begegnest, hast du höflich zu grüßen, denn die reichen Leute sind besonders empfindlich. Sie wünschen respektiert zu werden, und schließlich können sie das auch verlangen", fuhr Balla ironisch fort, "denn zu einem Hund, der Geld besitzt, sagt man auch Herr Hund." Werner lachte schallend. "Hier unten sind wir jetzt im B-Deck, da befindet sich zunächst einmal die Offiziersmesse. Dahinter liegt die
Küche, aus der du das Essen für die Offiziere und Ingenieure herbeizuschaffen hast. Weit brauchst du also nicht zu laufen. Da drüben der Rauchsalon geht dich nichts an." Balla forderte ihn auf mitzukommen. Durch eine schmale Tür traten sie in den weiten, dämmerigen Schiffsrumpf. Ein schmaler, nur notdürftig von Glühlampen erhellter Gang zog sich längs durch den Riesenleib, links und rechts hingen große, merkwürdige Fässer, deren Bedeutung sich Werner nicht erklären konnte. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte er seltsame, von oben herabhängende überdimensionale Säcke, deren untere Enden er beinahe greifen konnte. Dazwischen führten hier und da vom Laufsteg schmale Schächte mit Leitern zur oberen Seite des Rumpfes empor. Werner brauchte einige Zeit, bis er sich an dieses für ihn unerklärliche Durcheinander gewöhnt hatte. Balla ließ ihm Zeit. Danach erklärte er ihm, daß der Schiffskörper aus vielen Ringen besteht, die durch Längsstreben, man nenne sie Gurte, mit Knotenblechen zusammengehalten werden. Dadurch erhält der Rumpf seine stromlinienförmige Gestalt. "Und die Säcke, die überall von da oben herabhängen?" "Sind keine Säcke", erwiderte Balla, "sondern Gaszellen, sechzehn gibt es davon. Morgen füllt man sie, weil wir ja am Montag nach Südamerika wollen." "Und womit ist das Gerippe bespannt?" "Mit Baumwolle, mehrfach mit Zellon imprägniert, damit die Bespannung straff und wasserdicht bleibt. Das Aluminiumpulver gibt dem Rumpf sein silbernes Aussehen, damit die Sonnenstrahlen gut reflektiert werden. Wäre das nicht der Fall, würde sich das Gas in den Zellen erwärmen und ausdehnen. Dann müßte man etwas ablassen, und die Tragkraft des Schiffes würde geringer."
"Und wozu sind diese Fässer zu beiden Seiten des Laufganges?" "Das sind keine Fässer, sondern Tanks, davon haben wir zweiundsiebzig an Bord. In ihnen befindet sich das Rohöl für die Motoren, der Schmierstoff, Frisch- und Ballastwasser und das Schmutzwasser." Balla gefiel Werners Interesse. "Zweiundvierzig Tanks brauchen wir allein für das Rohöl der Motoren", fuhr er fort. "Das sind neunzigtausend Liter. Damit kommen wir nach Südamerika und zurück. Ja, da staunst du, mein Lieber, was es so alles zwischen Himmel und Erde gibt." Werner nickte. "Und wozu schleppt man Ballastwasser mit?" Balla holte tief Luft. "Also da muß ich dir einen ganzen Vortrag über die Führung von Luftschiffen halten. Wenn das Schiff morgen nämlich mit Gas gefüllt wird, würde es, sobald der Auftrieb des Gases das Gewicht des Luftschiffes überschreitet, zu steigen beginnen und gegen das Hallendach gedrückt werden." Er winkte ab. "Ach was, das kapierst du sowieso nicht." Trotzdem erklärte er weiter: "Damit das nicht passiert, werden gleichzeitig die Tanks mit Rohöl und Wasser gefüllt. Das geht so lange, bis das Gewicht des Luftschiffes seinem Auftrieb entspricht. Dann werden die großen Ketten am Hallendach gelöst, an denen das ungefüllte Luftschiff hängt. Wenn also das Luftschiff in der Halle schwebt, so daß das Rad unter der Führergondel gerade noch den Boden berührt, dann gehen vor dem Start die Besatzung und die Passagiere an Bord. Weil dadurch das Luftschiff wieder schwerer wird, läßt man dieselbe Menge Ballastwasser ab. Wenn die Haltemannschaften das startbereite Schiff aus der Halle gezogen haben, schüttet man noch einmal einen Wasserschwall über Bord, damit das Luftschiff steigen kann. Erst dann werden die Motoren angeworfen." Balla blickte Werner
prüfend an. "Ja, so ist das, mein Lieber. Du wirst es ja am Montag erleben. Man muß natürlich sparsam mit dem Ballastwasser und dem Gas umgehen. Hat das Luftschiff wenig Ballastwasser an Bord, steigt es. Je höher es aber gelangt, um so mehr dehnt sich das Gas aus, und es entweicht durch die Überdruckventile aus den Zellen. Mit weniger Gas kommt man aber nicht so weit. Ist das klar?" Werner nickte. "Wir fahren deshalb so tief wie möglich, ungefähr zweihundert Meter hoch. Erreichen wir aber ein Regengebiet, kühlt sich das Gas ab, und durch die Feuchtigkeit wird das Schiff schwerer. In so einem Fall muß man ebenfalls Ballastwasser ablassen. Man kann also nicht genug davon an Bord haben. Wenn wir nach Südamerika fahren, landen wir manchmal noch einmal in Barcelona, ehe wir Europa verlassen. Diese Stadt liegt vierhundert Meter tiefer als Frankfurt, und wir können dort noch einmal viertausend Kubikmeter Gas aufnehmen und viertausend Liter Rohöl zusätzlich tanken. So einfach ist das alles, wenn man es versteht", sagte Balla schmunzelnd. "Lassen wir es jetzt genug sein. Sehen wir uns erst mal im Schiffsinneren um." Er balancierte den schmalen Laufsteg entlang, der zum Bug hin flach anstieg. Werner folgte ihm ungeschickt. Als sich der Laufgang zu einer Plattform ausweitete, blieb der Hilfssteward stehen und öffnete eine Luke zu ihren Füßen. "Dort unten befindet sich die Seele des Schiffes", erklärte er würdevoll. Geschickt kletterte er eine Leiter hinab. "Komm schon!" rief er Werner zu. Der folgte ihm unsicher, dann standen sie in der weiten, ringsum verglasten Führergondel. Es muß prächtig sein, während des Fluges aus diesen Fenstern zu schauen. Balla erklärte ihm das Gewirr von Instrumenten, Steuerrädern und Geräten. Er
zeigte ihm die Funkstation und den Navigationsraum, und er versuchte ihm klarzumachen, wie das Luftschiff seinen Weg über Kontinente und Ozeane fand. An Werner rauschte alles vorüber.
Balla bemerkte es, er klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. "Wenn du erst mal im Schiff bist, mußt du denen hier vorn jeden Tag den Kaffee servieren, und da bekommst du allmählich alles mit, mußt nur die Augen offenhalten und die Ohren spitzen. Aber eins sag ich dir, verschütte ja nicht den Kaffee, da können die Offiziere und die Steuerleute eklig werden." Er deutete wieder nach oben zu der offenen Luke. "Auf dem Laufsteg ist das nicht leicht: In der einen Hand das Tablett, die andere am Geländer, nee, so leicht ist das nicht, das will gekonnt sein. Aber wenn du meinen Rat brauchst, kannst du dich immer an mich wenden." Sie kletterten wieder die Leiter in den Schiffsrumpf hinauf.
Der Laufsteg führte immer steiler empor, zuletzt mündete er in einer Treppe. "Alles Duralumin", erklärte Balla. Werner sah sich überrascht um. "Wir sind jetzt im Bug", sagte Balla. Sie standen abermals auf einer Plattform mit klappbaren Bänken und einem Tisch. Durch zwei Fenster konnte man aus dem Bug des Luftschiffes ins Freie sehen. Direkt unter Werner lag der weite Flugplatz. Arbeiter liefen geschäftig hin und her. "Ganz schön hoch." Werner staunte. "Dreiundzwanzig Meter!" antwortete Balla. "Aber da mußte erst mal hinaussehen, wenn das Schiff in der Luft ist. Bei der Landung muß die wachfreie Mannschaft hierherkommen, damit das Luftschiff kopflastig wird und leichter zur Erde gebracht werden kann." Werner blickte noch einmal aus den Bugfenstern hinaus. "Komm schon!" mahnte Balla. "Wir sind nicht zum Spaß hier, während deiner Freizeit kannst du hergehen. Also los, auf!" Sie gingen wieder den Weg zurück durch den Passagiertrakt und kamen zum Hinterschiff. Hier bot sich das gleiche Bild wie vorn: Ungefüllte Gaszellen, Tanks, Kabel, Spanndrähte und senkrechte Schächte, nur daß zum Heck hin alles noch weitläufiger war. Knapp zweihundert Meter, schätzte Werner. Er wies auf die senkrechten Leitern, die in den Schächten bis zur Oberseite des Schiffes reichten. "Wozu sind denn die da?" "Für die Gaszellenprüfer! Die prüfen während der ganzen Fahrt, Tag und Nacht, ob die Gaszellen dicht sind." Sie gingen weiter und gelangten an einen seitlich abzweigenden Laufsteg. "Auf der anderen Seite ist noch einer, und weiter hinten kommen noch zwei solcher Gänge. Sie führen aus dem Schiff hinaus in die Motorgondeln." Er
öffnete eine Luke. Werner sah einen Steg, der bis zu der außenbords befestigten Motorgondel führte. Werner erschrak. "Müssen da auch während der Fahrt welche hinüber? Mir würde schwindlig." Balla lachte. "Die Maschinisten in den Motorgondeln werden alle zwei Stunden abgelöst, länger halten sie es bei dem Krach da drinnen nicht aus." "Dazu hätte ich keinen Mut", entgegnete Werner. "Daran gewöhnst du dich, ist doch ein Geländer da zum Festhalten. Ich mußte auch schon einige Male hinüber", sagte Balla. "Einmal habe ich sogar Kaffee zum Maschinisten gebracht. Das war schwierig bei dem Fahrtwind! Das Luftschiff macht immerhin einhundertdreißig Kilometer in der Stunde. Komm, gehen wir!" Vorsichtig balancierte Werner in zehn Meter Höhe über den fußbreiten Steg, ängstlich hielt er sich an dem Geländer fest. Sie kletterten durch eine schmale Luke in die Gondel und standen vor einem mächtigen Motor. "ZwölfZylinder-Diesel, eintausend Pferdestärken Leistung! Und das viermal im Schiff!" Balla sagte es fast andächtig. Sie kletterten wieder in den Schiffsrumpf und liefen weiter zum Heck. "Alles wie im Vorderschiff", sagte Balla. "Nur hier", er öffnete eine Tür, "die Mannschaftsräume, beinahe wie bei den Passagieren, nur nicht ganz so vornehm." Von einem Flur gingen links und rechts Türen ab. Balla öffnete eine. "Unsere Bude", sagte er. "Du schläfst im oberen Bett, ich unten. Nachts habe ich meistens Dienst, da werde ich dich morgens um sechs wecken, damit du es nicht vertriefst. So, und nun will ich dir noch was zeigen." Sie gingen wieder auf den Laufsteg hinaus und kamen bald zu den mächtigen Steuerflossen, die am Ende des nun
spitz zusammenlaufenden Rumpfes kreuzweise befestigt waren. Sie kletterten eine kleine Treppe hinab in die untere Flosse und standen plötzlich in einem Raum. Er war mit Instrumenten und Steuerrädern ausgestattet. Auch hier gab es mehrere Fenster. "Der Hilfsruderstand", sagte Balla. "Wenn die Steuerzüge von der Führergondel unter dem Vorderschiff mal versagen, kann das Luftschiff auch von hier gesteuert werden." Werner glaubte zu träumen. Alles mutete wie in einem Märchen an. Als er schließlich mit Balla wieder in der Halle unter dem silbergrauen Riesenkörper stand, fühlte er sich wie benommen. Er konnte sein Glück noch gar nicht fassen. "Jetzt kannst du abhauen, aber übermorgen, am Sonnabend, bist du pünktlich um acht hier, da mußt du Betten beziehen und dem Koch beim Verladen helfen", sagte Balla. "Knorke!" erwiderte Werner und strich sich das Haar aus dem Gesicht. "Nicht knorke", wies ihn Balla zurecht, "das ist ernste Arbeit, und wenn du nicht spurst, da sollst du Willi Balla mal kennenlernen." Werner Franz drückte die Nase gegen das schmale Fenster der Mannschaftsmesse, doch er sah nur die Innenseite der Luftschiffhalle. Schon um sechs Uhr morgens war er auf den Flugplatz gekommen, hatte hier und da mitgeholfen, bis man ihm wie allen anderen Besatzungsmitgliedern, die draußen nichts mehr zu tun hatten, befahl, in das Luftschiff zu steigen. Nun wartete er voller Spannung auf das, was jetzt kommen würde. In den letzten Tagen hatte er auf dem Flugplatz manches über den Flugbetrieb erfahren, Balla
erzählte ihm, daß die 10.500 Kilometer lange Reise von Frankfurt nach Rio de Janeiro dreiundeinenhalben Tag dauere, viermal weniger also, als ein Ozeandampfer von Spanien bis nach Südamerika benötigt. Kurz nach sieben Uhr kamen die ersten Passagiere an Bord, Punkt acht Uhr schallte ein Klingelsignal durch das Schiff: lang -kurz - kurz - lang! Fertig zum Aufstieg! Werner sah unter sich viele Menschen, die gespannt zu dem silbergrauen Riesen emporblickten. Auf einmal schien das Schiff nach der Seite wegzudrehen. Man hatte den Heckwagen an der unteren Seitenruderflosse gelöst, und das mächtige Schiff schwankte nun, nur noch mit dem Bug am Ankermast gefesselt, im leichten Nordwestwind. Gleich würde es sich vom Boden lösen. Da geschah es schon: Der Boden schien unter dem Schiff wegzusacken, lautlos stieg es fast senkrecht empor. Die Menschen auf dem Flugplatz wurden immer kleiner. In Werner jubelte es! Noch ehe er sich gefaßt hatte, ging ein leises Vibrieren durch das Schiff: Die mächtigen Rohölmotoren sprangen an und schoben den Zeppelin vorwärts. Er suchte die Straße, auf der er mit dem Autobus aus der Stadt gekommen war, doch er fand sich nicht zurecht. Alles wurde immer kleiner. Die Bauerngehöfte und die Laubbäume schienen nicht größer als Streichholzkuppen. Das schönste aber war für ihn, daß man in die Höfe hineinsehen konnte. Am Tag vor dem Abflug hatte Werner einige Karten aus seinem alten Schulatlas gerissen, um die Reise genau verfolgen zu können. Er zog sie jetzt aus der Innentasche seiner Servierjacke, denn Balla hatte ihm darauf die möglichen Fahrtrouten eingezeichnet. Das Luftschiff nahm des Wetters wegen nicht immer denselben Weg. Heute zum
Beispiel wich man von der üblichen Route über die Seealpen ab und fuhr in westlicher Richtung über Frankreich. Die Berge seien von Wolken verhüllt, und man wolle nicht darüber hinwegsteigen, weil das sehr viel Wasserballast koste, hatte ihm Balla erklärt. Ein breiter Fluß lag unter dem Luftschiff, auf ihm fuhren Schiffe. Nur die dünnen, weißen Bugwellen verrieten, daß sich diese vorwärts bewegten. Der Karte nach mußte es der Rhein sein. Jemand schlug ihm auf die Schulter. Es war Balla. "Oberrheinische Tiefebene!" erklärte er und deutete mit dem Finger aus dem Fenster. "Wir fahren jetzt rheinaufwärts. Über Basel gehen wir gegen zehn Uhr dreißig auf Westsüdwestkurs. Bis dahin hast du Zeit und kannst zum Fenster hinausgaffen, aber dann ." Werner wußte Bescheid. Kubis hatte ihm gestern noch einmal alle seine Pflichten aufgezählt und betont, daß jede Arbeit mit größter Sorgfalt und nach vorliegendem Zeitplan zu verrichten wäre. Unsicher ging Werner den Laufsteg im Rumpf entlang zur Offiziersmesse. Dort deckte er die Tische, stellte Getränke bereit und als die Offiziere kamen, teilte er die Suppe aus und brachte benutztes Geschirr sofort in die Spülküche. Er hätte vier Hände haben können. Während er die Gläser vollschenkte, schob der Koch bereits die Teller mit dem Hauptgericht aus der Durchreiche in die Messe. Werner mußte beim Servieren auf die Rangfolge achten: zuerst der Kommandant, dann der Erste Offizier, danach die Ingenieure und die Steuerleute. So hatte es ihm Kubis eingeschärft. Als er die Tische für die zweite Wache deckte, fühlte er sich schon sicherer. Das Luftschiff befand sich schon über Frankreich. Ein-
zelne von Buschwerk umgebene Gehöfte und kleine Dörfer zogen vorüber. Als die zweite Wache in den Kojen lag, um für den Nachtdienst "Vorrat" zu schlafen, rief man Werner in die Küche. Der Koch schob ihm eine große Portion Kalbsbraten hin. "Hau ordentlich rein, Junge, damit du noch wächst!" Werner ließ sich das nicht zweimal sagen. So reichliche Mahlzeiten konnten ihm die Eltern zu Hause nicht bieten. Als Werner gegessen hatte, wusch er das Geschirr ab. "Aber ordentlich", mahnte der Koch, "picobello polieren, ich seh es mir nachher an. Wenn du fertig bist, gehst du wieder in die Messe und deckst die Kaffeetische." Werner fand kaum Zeit, einmal auf die Erde hinabzusehen. Nach dem Abwasch die Betten der zweiten Wache machen, Tische zum Abendessen decken. Später servieren, abräumen und wieder abwaschen, Werner mußte sich beeilen, wollte er alles pünktlich erledigen. Gegen Abend erreichten sie die Biskaya. Über dem Meer ballten sich drohende, dunkle Wolken, die das Meer wie flüssiges Blei schillern ließen. Werner bekam Angst, als er das riesige Meer sah. Er fragte sich, ob es der Besatzung wirklich gelingen würde, den richtigen Weg zu finden. Als er nach dem Abendessen Kaffee in die Führergondel tragen mußte, verflogen seine Bedenken. Die Offiziere und Steuerleute dirigierten das große Schiff ruhig durch die Nacht, als ob es nichts Einfacheres gäbe. Der Navigationsoffizier saß vor einer Seekarte und zeichnete den Kurs ein. Der Erste Offizier winkte Werner nach vorn und erlaubte ihm, aus der Führergondel zu sehen. Von dort wirkte der Ozean noch viel gewaltiger. Zuweilen blitzte rötliches Sonnenlicht vom Horizont her zu ihnen herauf,
und gespenstische Wolken zogen vorbei. An diesem Abend sank Werner todmüde in seine Koje und fiel in einen traumlosen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen weckte ihn Balla unsanft. Der Hilfssteward knurrte. "Das war vielleicht eine Nacht. Die Passagiere sind verrückte Typen. Vier haben bis Mitternacht Skat gespielt! Ich dachte, nun verdrücken die sich endlich in ihre Kabinen, aber da fingen sie erst an zu saufen. Was ich an Bier und Wein rangeschleppt habe, das glaubst du nicht. Und dazu mußt du noch höflich sein und freundlich lächeln. Die ließen sich so vollaufen, daß ich dachte, es würde ihnen aus den Ohren kommen. Um halb drei mußte ich sie in ihre Kabinen schleifen. Und nicht mal einen Pfennig haben die herausgerückt. Sei froh, daß du mit denen nichts zu tun hast, mein Lieber!" Balla streckte sich in seiner Koje aus und gähnte. Auf die Passagiere schien der Hilfssteward überhaupt nicht gut zu sprechen zu sein, das hatte Werner schon in Frankfurt gemerkt. "So, Werner, jetzt wird Willi Balla mal die Matratze abhorchen. Und daß du mich zu Mittag pünktlich weckst, wenn es was zum Futtern gibt, klar?'' Der Tag verrann. Werner flitzte. Als er am Nachmittag Tee in die Führergondel brachte, herrschte dort erwartungsvolle Spannung. Der Navigationsoffizier rechnete über der ausgebreiteten Karte. Es dauerte nicht lange, da verkündete er den Steuerleuten triumphierend: "Es ist soweit! Der Passat weht!" Als er Werners verständnisloses Gesicht sah, erklärte er ihm, daß der Passat ein ständig über dem Atlantik wehender Wind aus nordöstlicher Richtung sei. Er setze bei fünfundzwanzig Grad nördlicher Breite ein und reiche bis nahe an den Äquator heran. Dann aber werde es - meistens kritisch, denn dort, wo seine
kühlen Luftmassen mit den warmen des Äquators zusammentreffen, gebe es meistens gewaltige Regengüsse, wie man sie nur in den Tropen kenne. Am Abend dieses Tages stieg Werner in den Bug hinauf. Er fühlte sich in dem dämmrigen Schiffsrumpf und auf dem schmalen Laufsteg schon völlig sicher. Von der Bugplattform aus bemerkte er den Schein einer Taschenlampe. Werner wußte Bescheid, der Zellenpfleger machte seine Runde, um die Gaszellen auf ihre Dichtheit zu prüfen. Werner drehte sich wieder um und sah zu den Bugfenstern hinaus. Hoch über dem Schiff blitzten die Sterne, und unter ihm breitete sich das wogende milchige Wolkenmeer aus. Es fiel ihm schwer, sich von diesem Anblick loszureißen. Am dritten Morgen dehnte sich immer noch der unendliche Ozean unter dem Luftschiff aus. Nirgends war eine Küste zu erkennen. Einmal kreuzte ein Segelschiff, ein großer Viermaster, ihren Kurs. Da sie nur in einhundert Meter Höhe fuhren, konnte Werner die Matrosen deutlich erkennen, die in die Rahen emporgeklettert waren, um dem Luftriesen ein Stück näher zu sein. Am Spätnachmittag breiteten sich Schichtwolken aus. Werner wußte, was das zu bedeuten hatte: Sie kamen in die Kalmenzonen, in denen die kühle Luft des Passats mit den warmen Strömungen des Äquators zusammentrifft. Das Unwetter würde bald beginnen. Da aber die Wolken nicht sehr hoch hinaufreichten, entschloß sich der Kommandant, sie zu überfliegen. Die ungeheuren tropischen Regengüsse würden das Luftschiff um einige Tonnen schwerer machen. Bald glitt der Zeppelin über den Wolken dahin. Von oben sahen sie aus wie Schneehügel, nur an den Stellen, wo sie gelegentlich aufrissen, dunkelgrau. Das
Regengebiet mußte eine große Ausdehnung haben, denn das Luftschiff fuhr einige Stunden über ihm hinweg, ohne daß der Ozean zu sehen gewesen wäre. Gegen neunzehn Uhr schallten drei lange Klingelzeichen durch das Schiff. Werner wußte nicht, was sie zu bedeuten hatten, doch der Koch lachte und goß ihm einen Krug Wasser über den Kopf. "So; nun bist du getauft, mein Junge!" sagte er, während sich Werner das Wasser vom Gesicht wischte. "Wir haben nämlich eben den Äquator überflogen, und da bekommt jeder Neuling etwas ab."
Am nächsten Morgen hatten sie Südamerika erreicht. Sie flogen dicht an der Küste entlang, gegen die eine stetige Dünung rollte. Hin und wieder, an vorgelagerten Felsen und Riffen, hörte man das Tosen der Brandung. Zuweilen sah Werner am Rand des tiefgrünen, undurchdringlichen Urwaldes kleine Siedlungen. Während seiner Arbeit blickte er immer mal wieder zum Fenster hinaus, denn
solche märchenhaften Landschaften kannte er nur aus Büchern. Der Koch reichte Werner das Fernglas und machte ihn auf einen dunklen Gegenstand aufmerksam, der halb aus der Dünung ragte. "Sieht aus wie ein Schiff", murmelte Werner. "Sieht nicht nur so aus", erwiderte der Koch, "es ist auch eins! Gestrandet! Die Küste hier ist gefährlich, überall gibt es Untiefen. Wer da einmal aufsitzt, kommt nicht mehr frei." Bald konnte Werner das Wrack mit bloßen Augen erkennen. Es war in der Mitte auseinandergebrochen. Er entdeckte an diesem Tag noch einige. Von ihnen ging etwas Düsteres und Hoffnungsloses aus, sie wirkten wie Totenschiffe. Gegen Mittag kam ein Sturm auf. Im Luftschiff war man darauf vorbereitet, denn die südamerikanischen Funkstationen von Fernando de Noronha bis hinunter nach Rio de Janeiro sendeten stündlich Wetterberichte. Deshalb stieg das Luftschiff etwas höher, um den am Boden dahinfegenden Sturm zu umfahren. Vom Schiff aus konnte man sehen, mit welcher ungeheuren Wucht er dahinbrauste, die Palmen bogen sich fast bis zum Boden, und die kümmerlichen Pflanzungen an der Küste waren bald verwüstet. Nun begann es zu regnen. Die Sicht wurde immer schlechter, so daß sich die Steuerleute auf den Kompaß verlassen mußten. Doch ebenso rasch, wie das Unwetter hereingebrochen war, wich es wieder der Sonne. Als die Dämmerung kam, lag vor ihnen das Ziel der Reise - Rio de Janeiro. Werner sah unter dem Luftschiff unübersehbare Lichtgirlanden, die von dem kilometerlangen Strand bis hinauf zu den kaskadenartig aufsteigenden
Bergen reichten. Das Luftschiff landete auf dem Flughafen Santa Cruz. Doch Werner durfte es erst verlassen, als es fest vertäut in der Halle lag. Er ging mit Wilhelm Balla aus der Halle. Werner staunte über alles: über die seltsamen Uniformen der Soldaten, über die dunkelhäutigen Menschen am Platzrand. Balla bemerkte es und sagte erhaben: "Wenn du erst mal so oft wie ich hier gewesen bist, ist das hier nichts Besonderes mehr." Als sie sich dem Empfangsgebäude näherten, sahen sie die auf ihre Koffer wartenden Passagiere. Balla wandte sich rasch ab und zog Werner mit sich. "Komm, gehen wir weg. Die Passagiere haben sonst für uns wieder etwas zu tun, Koffer schleppen, Fahrkarten lösen und auf ihr Gepäck aufpassen. Ein Steward bleibt für sie immer ein Dienstbote, nur weil sie Geld haben. Wir müssen sie zwar durch die Luft schippern, aber ich sag dir, Werner, wenn Willi Balla wieder unten auf der Erde steht, da ist er genauso ein Herr wie die da." "Hast natürlich auch soviel Geld wie die da", spottete Werner, dessen Selbstbewußtsein nach der ersten Luftreise gestiegen war. "Geld, Geld!" höhnte Balla. "Darüber spricht man nicht." Und verächtlich fügte er hinzu: "Das sind reiche Leute, was denkst du, was die während der Fahrt jeden Abend versoffen haben. Davon müssen wir einen ganzen Monat leben. Ich sage dir, wenn die mit ihren Piepen andere engagieren könnten, an ihrer Stelle zu sterben, dann würden wir armen Leute großartig leben." Sie machten einen großen Bogen um die Passagiere und verschwanden in der Nacht.
Das Jahr 1936 ging zu Ende, und Werner war zweimal in Südamerika und einmal in Nordamerika gewesen, und da er seine Arbeit gut gemacht hatte, gehörte er nun zur Stammbesatzung des Luftschiffes LZ 129. Am 3. Mai 1937 stieg das Luftschiff nach einigen kleineren Fahrten zu einer Reise nach New York auf. Es war seine sechsundfünfzigste Fahrt und zugleich die fünfunddreißigste Überquerung des Atlantiks. An Bord befanden sich einundsechzig Mann Besatzung, sechsunddreißig Passagiere, hundertacht Kilo Post, hundertachtundvierzig Kilo Fracht, achthundertneunundsiebzig Kilo Gepäck und zwei Körbe mit Hunden. Auch Werner Franz nahm an dieser Reise teil.
Das Luftschiff war um zwanzig Uhr fünfzehn zu seiner Fahrt aufgestiegen, bald breitete sich die Dämmerung aus, Lichter blitzten auf, und ehe sich Werner nach der harten Vorbereitungsarbeit schlafen legte, warf er noch einen Blick auf das funkelnde Lichtermeer der Stadt. Als Werner am nächsten Morgen mit seiner Arbeit begann, lag der Ärmelkanal schon hinter ihnen. Sie fuhren auf nördlichem Kurs, denn es war üblich, den Atlantik auf dem kürzesten Weg zu überqueren. Werner zog zwei Landkarten aus seiner Servierjacke und sah sich noch einmal die Route an. Balla hatte sie ihm wieder eingezeichnet. Wenn sich keine Schlechtwetterlagen einstellten, die sie zu Umwegen zwangen, könnten sie am nächsten Abend schon den nordamerikanischen Kontinent erreichen. Werners Mutter hatte jedesmal Angst, wenn er erneut auf große Fahrt ging. Werner erklärte ihr, daß ein vom Gas getragenes Luftschiff gar nicht abstürzen könne. Selbst
wenn ein oder mehrere Motoren ausfallen würden, bliebe das Luftschiff oben. Ein Flugzeug freilich, jawohl, das stürze bei einer Havarie wie ein Stein vom Himmel, aber auch das komme immer seltener vor. Das Luftschiff sei viel sicherer als ein Flugzeug. Was solle da schon passieren? Das sagte er nur, um die Mutter zu trösten, denn er wußte, welche Mißgeschicke einem Luftschiff passieren konnten. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte es große Luftschiffkatastrophen gegeben. Doch an Bord vermied man es, darüber zu sprechen. Jeden Handgriff führten die Besatzungsmitglieder, die mit wenigen Ausnahmen schon unter dem inzwischen verstorbenen Grafen Zeppelin gefahren waren, mit übermäßiger Sorgfalt aus, eben weil sie wußten, was alles geschehen konnte. Willi Balla hatte Werner im letzten Winter ein Buch über die Anfänge der Zeppeline geliehen, und darin konnte er viel über Havarien lesen. Aber das waren eben die Anfänge, da konnte es wohl nicht ausbleiben, daß oft etwas Unvorhergesehenes eintrat. Der Zeppelin kam auf seiner Fahrt gut voran, das Wetter schien ihm günstig zu sein, und so konnte er exakt den vorausberechneten nördlichen Kurs nehmen. Werner machte seine Arbeit: Tische eindecken, servieren, Geschirr abtragen, abwaschen, und dazwischen waren die Betten zu richten. Unter dem Schiff lag der Ozean grau und eintönig. Einmal konnten sie drei mächtige Eisberge sichten, die aus dem hohen Norden Richtung Süden drifteten. Schiffe wagten sich wegen dieser Gefahr kaum in die nördlichen Breiten. Bevor Werner am dritten Abend in seine Koje ging, wollte er sich Neufundland ansehen, das sie inzwischen
erreicht hatten, aber da es schon finster war, konnte er nichts erkennen. Am nächsten Morgen stand das Luftschiff schon über der amerikanischen Stadt Portland. Von den Dampfpfeifen der Fabriken stiegen weiße Wölkchen als Gruß zum Zeppelin empor. Nun wurde die Fahrt abwechslungsreicher. Da sie nur in zweihundert Meter Höhe fuhren, konnte Werner jede Einzelheit erkennen. Auf den breiten Landstraßen versuchten Autos, mit dem Luftschiff um die Wette zu fahren. Radfahrer stiegen von ihren Rädern und winkten hinauf. Eisenbahnen jagten dahin, und im Gegensatz zu der südamerikanischen Küste, an der es wenige Ansiedlungen gab, lag hier Stadt an Stadt. Manchmal kam Balla zu Werner in die Küche oder in die Offiziersmesse und erklärte ihm die Gegend, die sie überflogen. "Das da unten ist Boston, wir sind also über dem Bundesstaat Massachusetts, gleich werden wir über Connecticut sein, dann ist es nicht mehr weit bis New York." Um vierzehn Uhr erreichten sie die riesige Stadt zwischen Hudson und East River. Werner hatte gerade das Geschirr vom Mittagessen weggeräumt und konnte nun in Muße die große Stadt aus der Luft betrachten. In respektvollem Abstand von den Wolkenkratzern, die das Luftschiff wegen seiner geringen Flughöhe zum Teil überragten, zog es um die Halbinsel Manhattan einige Schleifen. Der Koch, Werner und Balla sahen aus den Fenstern. Abwechselnd blickten sie durch den Feldstecher in die Straßenschluchten, in denen die Fahrzeuge anhielten und Tausende Menschen auf die Straßen strömten, um den Luftriesen zu bewundern. Balla erklärte alles. "Seht ihr den großen Wolkenkratzer da drüben? Das höchste Gebäude der Welt! Vierhundertfünf Meter, das Empire State Building!" Als das Luftschiff zum zweiten Male vom
Meer her die Stadt anflog, deutete Balla auf eine silberglänzende Hängebrücke, die einen Arm des Hudson überspannte. "Die Triborough-Brücke! Wurde erst voriges Jahr eingeweiht." Werner staunte über die riesengroße Stadt. Er konnte sich von dem faszinierenden Anblick nicht lösen, doch das Luftschiff nahm nun Kurs auf den Flughafen Lakehurst. Dieser Flugplatz glich jedem anderen auch, den Werner kannte: eine große Rasenfläche, die Luftschiffhalle und abseits einige Nebengebäude, Unterkünfte für die Besatzungen und die Haltemannschaften. Kaum war das Luftschiff über Lakehurst angelangt, wendete es wieder und nahm östlichen Kurs auf, dem Ozean entgegen. Weder Balla noch der Koch konnten sich diesen plötzlichen Kurswechsel erklären. Sie mutmaßten manches, fanden aber keine plausible Erklärung. Balla erklärte wichtigtuerisch: "Vielleicht ist da unten ein Aufstand ausgebrochen, und es gibt eine Schießerei." Der Koch tippte mit dem rechten Zeigefinger verächtlich, an seine Stirn. "Du spinnst wohl, he?" Doch Balla wollte die Oberhand behalten. "Braucht ja auch kein Aufstand zu sein, weshalb wir von Lakehurst wieder abdrehen. Vielleicht ein Sturm? Kennt ihr die Geschichte von dem amerikanischen Luftschiff ,Shenandoah'?" Der Koch wandte sich ab, als ob ihn das alles nicht interessierte, und begann, in einem Topf zu rühren. Werner aber hörte gespannt zu. "Die ,Shenandoah'", wiederholte Balla, "das war neunzehnhundertfünfundzwanzig . Aus irgendwelchen Gründen hatte man an der Rumpfoberseite weniger Gasüberdruckventile angebracht, als es hätten sein müssen ."
"Weil sie das teure Helium sparen wollten", warf der Koch ein, um damit zu beweisen, daß er es besser wußte als Balla. "Also, eines Tages wollten sie mit ihrem Luftschiff landen, da kam ein Sturm auf und riß es auf tausendachthundert Meter Höhe hinauf. Das Gas in den Zellen dehnte sich aus, und da es nicht genügend Überdruckventile gab, zerbrach das große Luftschiff in drei Teile. Das Vorderund Mittelschiff segelten langsam zur Erde, aber das Heck plumpste wie ein Stein zu Boden, und alle, die sich darin befanden, waren tot. - Vielleicht kommt jetzt auch so ein Sturm auf uns zu", unkte Balla, um seine Furchtlosigkeit zu beweisen. Der Koch warf wütend seinen Kochlöffel nach dem Hilfssteward, der sprang jedoch geschickt zur Seite. "Wenn du Speckkopf nicht mit deinem Ulk aufhörst", rief der Koch ärgerlich, "verpaß ich dir ein Ding, daß du in den Geschirrschrank fliegst." Balla lachte. Dann war eine Weile Ruhe. Werner sah wieder zum Fenster hinaus, und auch der Koch warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Erde, denn die Kursänderung schien ihm keine Ruhe zu lassen. "Lakehurst kann tückisch sein", sagte Balla schließlich. "Da ist mal einer, so ein ganz berühmter Ozeanflieger, ich habe seinen Namen vergessen ." "Chamberlain!" warf der Koch ein. "Richtig, Chamberlain", bestätigte Balla. "Er kommt also mit seinem Flugzeug an, um zu landen, und auf einmal - piff, paff, puff - schießen ihm irgendwelche Gangster von der Erde aus den ganzen Laden voll. Zum Glück haben sie ihn selbst nicht getroffen."
Eine Weile schwieg Balla, dann sagte er: "Ich bin jedesmal froh, wenn ich Lakehurst wieder verlassen kann." Plötzlich kam er auf eine Idee. Er forderte den Koch auf, eine Kanne Kaffee zu kochen, und er, Balla, wollte sie in die Führergondel tragen. "Dort werde ich mal linsen, was eigentlich anliegt." Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis er zurückkehrte. "Na, schieß schon los!" forderte der Koch ihn auf . "Hab ich also doch recht", sagte Balla. "Da vorn herrscht dicke Luft." Werner sah ihn gespannt an. "In der Führergondel?" fragte er. "Quatsch, über Lakehurst!" "Ist vielleicht doch eine Militärrevolte ausgebrochen?" hänselte ihn der Koch. "Nein, über dem Flughafen steht ein Gewitter, kannst du aber von hier aus nicht sehen. Der Kapitän hat befohlen, zur Küste zurückzufahren und dort so lange zu kreuzen, bis es sich verzogen hat. Sonst geht es uns wie der ,Shenandoah'." Der Koch schüttelte den Kopf. "Wir haben genug Überdruckventile." "Hast eben keine Ahnung", entgegnete Balla. "Der Kapitän will einen Blitzschlag während des Landemanövers vermeiden." Werner war nun zufrieden, Ballas Gerede ängstigte ihn nicht, er wußte, daß der gern übertrieb. Nun konnte er sich das Küstengebiet in aller Ruhe aus der Luft ansehen. Ausgedehnte Seebäder und Parkanlagen wechselten miteinander ab. Da gab es Tennis- und Sportplätze, die Spieler unterbrachen ihre Matchs und sahen zu dem silbernen Luftriesen hinauf, der mit gedrosselten Motoren langsam
seine Bahn zog. Villenorte kamen in Sicht. Auf dem Ozean schaukelten Jachten. Die Zeit verrann. Der Koch blickte auf die Uhr. "Werner, ich glaube, du mußt noch mal ran. Es ist Kaffeezeit, decke die Tische!" Eigentlich hätte das Luftschiff längst in der Halle von Lakehurst liegen müssen, aber es kreuzte auch noch am Spätnachmittag über der Küste. Erst um siebzehn Uhr wendete es und nahm erneut Kurs auf den Flughafen. In zweihundert Meter Höhe flog es Lakehurst an. Balla schlug dem Koch auf die Schulter. "Los, Dicker, gehen wir in unsere Kojen und machen uns landfein." Und zu Werner sagte er: "Wasch rasch das Kaffeegeschirr ab und stell es in den Schrank. Kubis kommt am Ende der Reise kontrollieren." Um achtzehn Uhr zehn, Werner warf einen Blick auf die elektrische Uhr, schrillten die Klingeln und kündigten das Landemanöver an. Die wachfreien Besatzungsmitglieder stiegen in die Bugspitze hinauf, um das Luftschiff kopflastig zu trimmen. Mit laufenden Motoren fiel es auf achtzig Meter. Werner verstaute inzwischen das abgewaschene Geschirr in den Schränken. Balla hatte recht. Bei Obersteward Kubis mußte alles aufgeräumt sein, wenn das Schiff in die Halle gezogen wurde. Kubis rügte schnell. Werner sah einen Augenblick zum Fenster hinaus. Das Luftschiff war auf etwa sechzig Meter gesunken, genau konnte es Werner nicht schätzen. Die Motoren röhrten im Leerlauf. Langsam schob sich das Schiff auf den Ankermast zu. Werner sah die Haltetaue fallen, Marinesoldaten liefen herbei, faßten danach und zogen sie wie ein Spinnennetz auseinander. Die Soldaten patschten durch Pfützen. Der Gewitterregen mußte sehr heftig gewesen sein.
Werner spürte einen leichten Ruck; er kannte das nun schon: Die Motoren waren auf Rückwärtslauf geschaltet worden, um das Schiff kurz vor dem Ankermast abzubremsen. Das Luftschiff schien plötzlich stillzustehen. Werner beeilte sich mit der Arbeit. Als er zwei Kaffeekannen im Schrank verstauen wollte, ging ein erneuter Ruck durch das Luftschiff. Die Kannen fielen ihm aus den Händen und zerschellten am Boden, gleichzeitig wurde er in eine Ecke geschleudert. Er rieb sich den Kopf. Zum Teufel! Was war das? Wenn Kubis die Scherben sah, würde er schimpfen. Werner mußte sie gleich in den Abfallkübel werfen. Verwirrt raffte er sich auf. In diesem Augenblick fiel ihm das ganze Geschirr aus dem Schrank entgegen. Instinktiv breitete er die Arme aus, um es aufzufangen. Es gelang ihm nicht, denn er wurde durch einen erneuten, noch heftigeren Schlag zu Boden geworfen. Rings um ihn schepperte das Geschirr. Er hielt die Arme vor das Ge-
sicht, um nicht verletzt zu werden. Verdammt und zugenäht! Was war nur los? Er rappelte sich wieder auf, doch der Boden wankte unter seinen Füßen. Die Küche schien plötzlich nach hinten zu kippen, mühsam hielt er sich an einer Konsole fest. Etwas mußte nicht in Ordnung sein. Wenn nur Balla und der Koch bei ihm wären. Doch er lag allein in der Küche. Er kroch auf Händen und Füßen zur Tür, die jetzt quer vor ihm lag, als sei sie umgekippt. Er wollte sie öffnen, doch es gelang ihm nicht. Sie schlug zurück und klemmte seine linke Hand ein. Werner spürte den Schmerz nicht, er hatte entsetzliche Angst. Er drückte seinen ganzen Körper gegen die Tür, die jetzt wie eine Falle wirkte. Schließlich gelang es ihm, sie so weit zu öffnen, daß er sich hindurchzwängen konnte. Doch was er jetzt sah, schnürte ihm die Kehle zu. Vom Hinterschiff her loderten gelbrote Flammen, und in rasender Eile fraß sich das Feuer nach vorn, erfaßte eine Gaszelle nach der anderen. Das brennende Gerippe des Hinterschiffs krachte auf die Erde. Der Bug des Luftschiffs richtete sich steil auf, so, als ob er sich nicht geschlagen geben wollte, denn seine noch unversehrten Gaszellen trugen ihn noch. Werner begriff sofort, nur dort vorn im Bug gab es noch eine Rettung. Er wollte loseilen, aber er rutschte zurück, denn der Laufgang verlief in dem aufgerichteten Bug fast senkrecht nach oben. Hinter sich hörte er dumpfe Explosionen und das Tosen des Feuers. Panische Angst erfaßte ihn, er wollte nicht in dieser grauenhaften Feuersbrunst enden. Er griff nach den Halteseilen neben dem Steg und zog sich mühsam nach oben. Er wußte, daß dort eine Luke war, durch die man sonst die Lebensmittelvorräte ins Luftschiff hievte. Es fehlten ihm nur noch einige Schritte bis dahin, doch die kurze Entfernung schien ihm jetzt unüber-
windbar. Mit aller Kraft zog er sich keuchend weiter. Sein Gesicht brannte. Jetzt gab es nur noch eins: heraus aus diesem entsetzlichen Inferno. Wenn er nur nicht allein gewesen wäre. Niemand befand sich in seiher Nähe. Endlich konnte er den Riegel der Bodenluke packen. Doch die Luke schlug ebenso zurück wie die Küchentür. Werner drückte seine Schulter dagegen, endlich gab sie nach. Hinaus! Das Vorderschiff schwebte etwa zwanzig Meter über dem Boden. Nein! Das war zu hoch, um hinauszuspringen. Er mußte noch einige Sekunden warten. Aber war es dann nicht schon zu spät? Wenn doch der Bug schneller herabsinken würde! Werner blickte sich nach dem feurigen Inferno um, es kam rasch näher. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er sah wieder durch die Luke, doch der Bug war immer noch zu hoch. Da schrie er in das tosende Flammenmeer: "Willi! Willi!" Wo war der Freund geblieben? Ihm fiel ein, daß Balla mit dem Koch vor den ersten Explosionen in die Kabinen gegangen war, um die Sachen zu packen. Sie mußten mitten in der Feuersbrunst sein. Sollte er noch einmal in die Flammen rennen? Doch er sah bald, daß es zwecklos war. Raus, befahl er sich. Er sah abermals durch die Luke. Immer noch zu hoch! Viel Zeit blieb nicht mehr . Unter der offenen Luke eilte jemand vorüber. Werner erkannte ihn nicht. Die Hitze wurde immer unerträglicher, das Rumpfgerüst begann zu glühen. Jetzt mußte er springen. Da warf ihn ein Wasserschwall zu Boden, die Hitze ließ sofort nach. Er griff nach den Halteseilen, um nicht ins Feuer geschleudert zu werden. Über ihm war ein Wassertank geplatzt. Werner duckte sich wie ein Tier zum Sprung, dann ließ er sich durch die Luke fallen. Er schlug
hart auf den Boden, aber gleich raffte er sich auf und lief geduckt davon, um nicht noch unter dem herabsinkenden Bug begraben zu werden. Werner rannte, als ob hundert Teufel hinter ihm her wären, doch er hatte das Gefühl, nicht vorwärts zu kommen. Es war, als ob seine Beine von einer unsichtbaren Kraft festgehalten würden. Da fiel ihm Balla wieder ein. Werner machte kehrt, lief wieder auf die Feuersbrunst zu. Marinesoldaten versuchten ihn festzuhalten. "Verdammter Narr!" brüllten sie. Eine Sekunde blickte er sich um.
Das Luftschiff existierte nicht mehr. Es war nur noch ein Flammenmeer, nichts in diesem Chaos erinnerte noch an den stolzen Luftriesen. Nur der Bug schwebte, immer noch aufgerichtet, über dem Boden, doch aus der Spitze züngelten ebenfalls die Flammen. Da riß sich Werner wieder von seinen Beschützern los und lief davon. Plötzlich sah er Balla vor sich, den Anzug
zerfetzt. Er schleppte keuchend ein Bündel, nein, das war kein Bündel, das war ein Mensch. Sanitäter eilten mit einer Trage herbei. Abermals liefen Männer auf Werner zu, Journalisten. Polizisten versuchten, sie zurückzutreiben. Andere filmten die Katastrophe. Doch Werner lief und lief, bis sich alles um ihn herum verfinsterte. Als er später wieder zu sich kam, lag er in einem weißen Bett. Jemand gab ihm eine Spritze in den Arm. Bald darauf schlief er ein.
Werner Franz erholte sich rasch vom Schock. Außer einigen Prellungen und Hautabschürfungen vom Absprang hatte er keine Verletzungen. Da lag das ausgebrannte Gerippe des Luftschiffes wie ein enthäutetes vorzeitliches Ungeheuer. Nichts erinnerte mehr an den silbernen stolzen Luftriesen. Amerikanische Marinesoldaten mit geschulterten Gewehren ließen niemanden an die Unglücksstätte heran. Nachdem man alle Verletzten und Toten geborgen hatte, mußten die Reste des Luftschiffes unberührt bleiben, bis die deutsch-amerikanische Untersuchungskommission die Trümmer freigeben würde. Es konnte noch einige Tage dauern, ehe die deutschen Experten mit dem Schiff eintrafen. Auch die Fotografen und Kameraleute mußten sich in gebührender Entfernung halten. Während Werner die Unglücksstätte betrachtete, schlug ihm jemand heftig auf die Schulter. Es war Balla. Der immer muntere Hilfssteward schwieg lange, ehe er fragte: "Was sagst du nun, Werner? Wir haben mächtiges Schwein gehabt, daß wir davongekommen sind. Hast du nun noch Lust, wieder im Luftschiff zu fahren?"
Werner antwortete nicht, er zuckte unschlüssig mit den Schultern. Erst nach einiger Zeit fragte er den Freund: "Hast du eine Ahnung, wie das passieren konnte?" "Das weiß bis jetzt wohl noch keiner, die fragen zwar alle Überlebenden, was sie gesehen haben, doch keiner kann was Genaues sagen. Die reden alle nur von Explosionen und Feuer und daß sie zugesehen haben, so schnell wie möglich ins Freie zu kommen. Die ganze Katastrophe hat ja nur zweiunddreißig Sekunden gedauert ." "Zweiunddreißig Sekunden?" fragte Werner ungläubig, ihm schien es, als ob es Stunden waren. Noch einmal sah er vor sich das feurige Inferno im Hinterschiff, das glühende Gerippe und die Küchentür, die beinahe zur Falle geworden wäre. "Der Koch liegt mit schweren Verletzungen im Krankenhaus, soll böse mit ihm aussehen", sagte Balla. "Ich habe ihn im brennenden Schiff gefunden und weggeschleppt, er war besinnungslos." Balla war es peinlich, von seiner Rettungstat zu sprechen. "Verdammtes ScheißLakehurst! Erinnerst du dich noch, was ich euch gesagt habe, als wir vor der Landung über der Küste kreuzten, he? Ich bin jedesmal froh, wenn ich Lakehurst wieder verlassen kann." Werner fragte unsicher: "Vielleicht war es doch ein Attentat? Du hast von dem Flieger erzählt, den sie beim Anflug auf Lakehurst beschossen ." Balla wußte nicht sofort, was er antworten sollte. "Ein Attentat", sagte er langsam. "Das glaube ich nicht." "Was dann?" fragte Werner. "Wenn da einer irgendwo im Versteck gesessen und das Luftschiff vollgeballert hat?" "Da wäre gar nichts passiert. Ein paar kleine Löcher in
den Gaszellen, die hätte der Zellenprüfer schnell gefunden und zugeklebt." "Wäre das Schiff nicht explodiert?" "Nein! Da hätten sie Leuchtspurmunition nehmen müssen, so wie die englischen Flieger im Krieg über England die deutschen Luftschiffe abgeschossen haben. Aber Leuchtspurmunition kann jeder auf dem Flugplatz sehen, zumal eine Zeppelinlandung von den Reportern gefilmt wird. Das ließe sich also jetzt noch nachträglich feststellen." "Und wenn sie irgendwo eine Bombe im Luftschiff untergebracht hatten?" Werner gab sich nicht zufrieden. Balla sah Werner prüfend an, dann drehte er sich um, ob ihnen auch niemand zuhörte, und sagte fast flüsternd: "Kleiner, ich will dir mal was sagen, aber wenn du nicht die Schnauze hältst, breche ich dir sämtliche Gräten!" Werner wußte nicht, worauf Balla hinauswollte. "Bist du in der Hitlerjugend?" "Muß doch jetzt jeder ab vierzehn Jahre." "Machst du dort gern mit?" Werner wich aus: "Ich bin doch meistens mit dem Luftschiff unterwegs, aber sonst ." "Was, aber sonst?" Balla gab sich nicht zufrieden. "Keine Lust, exerzieren und solcher Mist, einer kommandiert: ,Hinlegen! Aufstehen!', und du mußt gehorchen. Scheiße!" "Sag das nicht zu laut. Und was nun deine Vermutung mit der Bombe betrifft: Ein Maschinist erzählte mir, daß der Goebbels, der Reichspropagandaminister, im deutschen Rundfunk behauptet hat, die Katastrophe sei ein Anschlag des sogenannten jüdisch-bolschewistischen Weltfeindes gewesen, um das Deutschland des Führers zu
treffen. Und weil der Goebbels das behauptet, glaube ich es eben nicht. Der schwindelt doch, daß sich die Balken biegen. Die machen doch für ihre Scheiße die ganze Welt verantwortlich, weil sie einen Krieg wollen." "Krieg? Wie kommst du denn darauf?" Werner sah ihn erschrocken an. "Du mußt eben die Ohren spitzen. Mir hat das ein Maschinist klargemacht, und seitdem sehe ich eben ein bißchen mehr, als im ,Völkischen Beobachter' steht. Aber, wie gesagt, häng das nicht an die große Glocke, was dir Willi Balla gesagt hat, und überlege dir immer, zu Wem du etwas sagst, sonst bist du, ehe du dich versiehst, in so einem Lager, und was sie dort mit dir machen .", Balla winkte ab. Werner dachte an seinen Vater. Wie hatte der doch gesagt, als er, Werner, auf die Fliegerei zu sprechen kam? Weißt du, was das heute heißt? Luftwaffe, Luftparaden und Bombenflugzeuge. Das läuft alles auf den Krieg hinaus. Werner sann vor sich hin, doch Balla nahm ihn am Arm und zog ihn mit. "Komm, gehen wir eine Partie Dame spielen." Balla behielt recht. Die Katastrophe von Lakehurst war auf keinen Anschlag zurückzuführen, so wie es sich Goebbels wünschte. Als sich die deutsch-amerikanische Untersuchungskommission konstituiert hatte, zeigte man allen überlebenden Besatzungsmitgliedern und Passagieren in einem kleinen Kinosaal alle Filme von der Katastrophe. Doktor Hugo Eckener war zum Vorsitzenden der Untersuchungskommission berufen worden. Von dem großen, alten, etwas gebückt gehenden Mann erfuhren sie, daß fünfunddreißig Menschen ums Leben gekommen
waren. Werner und Balla saßen nebeneinander und hörten gespannt zu. Die Explosionen, so erklärte Dr. Eckener, ließen den Schluß zu, daß kurz vor der Landung aus einer oder mehreren hinteren Zellen Gas ausgetreten sein müsse und sich Knallgas gebildet habe. Tatsächlich bestätigten die Steuerleute, daß das Luftschiff schwanzlastig geworden wäre, was den Gasverlust bestätigte. Die Filme zeigten wiederum, daß kurz vor der Landung ein Teil der Außenhaut zu flattern begann. Auch das beweise den Gasaustritt. Auf die Frage eines Zuhörers, wie es geschehen konnte, daß Gaszellen beschädigt wurden, antwortete Eckener, daß durch Materialermüdung oder durch ein zu hart ausgeführtes Steuermanöver ein Spanndraht gerissen sein müsse, der die Zellen schwer beschädigte. Bis zu diesem Punkt konnte Werner den Ausführungen folgen. Doch dann war von elektrischen Ladungen, Potentialgefällen, atmosphärischen Störungen und Büschelentladungen im Augenblick der Erdung des Luftschiffs durch die abgeworfenen Halteseile die Rede. Für Werner, der nur die Achtklassenschule besucht hatte, war das zu unverständlich. Er überdachte noch einmal das, was Balla ihm vor einigen Tagen gesagt hatte. Als sie den Kinosaal verließen, meinte Balla unvermittelt: "Also doch keine Leuchtspurmunition, die hättest du im Film sehen müssen. Das würde der Großschnauze Goebbels so ins Konzept passen." Werner antwortete nicht. Ihm fielen die Worte des Vaters ein, daß die ganze heutige Fliegerei auf den Krieg hinauslaufe; überhaupt hatte der Vater oft auf den Krieg und die neuen Machthaber in Deutschland geschimpft. "Meinste wirklich, daß es Krieg geben wird, Willi?" Balla sah ihn irritiert an: "Wie kommst du jetzt darauf?"
Werner wußte nicht, was er antworten sollte. "Nur so", murmelte er. Nach einer Weile erwiderte der Freund: "Das muß doch jeder sehen, der Augen im Kopf hat. Erst haben sie die Wehrmacht aufgebaut, die Luftwaffe und die Kriegsmarine, nun Kasernen und den Westwall. Und überall heißt es: ,Es gibt keinen süßeren Tod als den fürs Vaterland.'" Er sann vor sich hin. Während sie zu ihrer Unterkunft gingen, war Werner sehr nachdenklich. Im Luftschiff hatte sich ihm eine intakte Welt dargeboten. In Wirklichkeit aber war sie wohl so, wie der Vater und Balla sie sahen. Werner nahm sich vor, künftig alles vorsichtiger zu betrachten, und wie aus weiter Ferne hörte er Willi Balla sagen: "Und ich sage dir, du mußt noch viel lernen!"