Nr. 375
Die Zeitpanne Der kosmische Kundschafter im alten Rom von H. G. Ewers
Pthor, der Kontinent des Schreckens, ha...
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Nr. 375
Die Zeitpanne Der kosmische Kundschafter im alten Rom von H. G. Ewers
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Bran geln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrück ten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Während Atlan sich aus der Dimensionsschleppe den Weg zurück erkämpft und zur FESTUNG gelangt, wo er die Odinssöhne als Herren über Pthor ablöst, blenden wir um zu den weiteren Erlebnissen Algonkin-Yattas, des kosmischen Kundschafters, der zusammen mit Anlytha, seiner Gefährtin, Atlans Spuren durch Zeit und Raum verfolgt. Im Zuge dieser Verfolgung passiert eines Tages DIE ZEITPANNE …
Die Zeitpanne
3
Die Hautpersonen des Romans:
Algonkin-Yatta - Der kosmische Kundschafter auf Atlans Spuren.
Anlytha - Algonkins exotische Gefährtin.
Dorstellarain - Der Clanoc macht Karriere im alten Rom.
Marcus Aurelius - Römischer Imperator.
1. Das Objekt tauchte so plötzlich vor dem Kundschafterschiff auf, daß weder Algon kin-Yatta noch die Psiotronik rechtzeitig reagieren konnten. Ja, der Kundschafter von Ruoryc war nicht einmal in der Lage, zu er kennen, um was für ein Objekt es sich han delte. Anlythas vogelhaftes Kreischen erfüllte die Zentrale des Kundschafterschiffs, wäh rend es mit dem Bauch über etwas schrammte und während das Licht erlosch, weil die Psiotronik alle verfügbare Energie zur negativen Beschleunigung verwendete. Algonkin-Yatta blieb reglos vor den Kon trollen sitzen. Er wußte, daß er in Notsitua tionen wie dieser zur Untätigkeit verurteilt war. Er war sich klar darüber, daß, wenn überhaupt, nur die Psiotronik etwas zur Ret tung des Kundschafterschiffs und damit auch zu seiner eigenen Rettung und zur Ret tung seiner Begleiterin tun konnte. Diesmal aber schien sogar der ungeheuer leistungsfähige Ableger von MYOTEX machtlos gegen die Gewalten zu sein, die durch die Kollision entfesselt worden waren. Ein Schlag vermittelte Algonkin-Yatta den Eindruck, ein Gleiter würde mit voller Geschwindigkeit gegen seinen Hinterkopf prallen, so daß er sich für tot hielt, als sein Bewußtsein ihm entglitt. Aus dem gleichen Grund rührte er sich auch nicht, als er nach unbestimmter Zeit den Eindruck hatte, als erwachte er aus einer längeren Bewußtlosigkeit. Da er glaubte, daß sein Schädel zertrümmert worden sei, mußte er annehmen, daß es sein körperloses Bewußtsein war, das nach seinem Tode wei terlebte. Ein Schlag gegen sein Nasenbein und das
von seinem Bewußtsein registrierte reflekto rische Hochrucken seiner Arme zerstörten die Illusion. Seine Hände bekamen etwas zu fassen, das unzweifelhaft ein Stiefel war, in dem ein Fuß steckte – ein weiblicher Fuß, denn der Stiefel war zu klein für einen erwachsenen Mann. »Anlytha!« Mit bebenden Fingern zog er den für sei ne Körperkräfte federleichten Körper ganz zu sich heran und tastete Gesicht und Hin terkopf vorsichtig ab. Sein Herz blieb sekun denlang stehen, als er keine Verletzung fest stellte. Er wagte nicht zu hoffen, daß Anly tha nichts Ernsthaftes zugestoßen sei. Doch dann regte sich seine Begleiterin. Es war nur ein schwaches Zucken, das über ih ren Körper lief, dann hielt sie ganz still, aber nur, um im nächsten Augenblick wild um sich zu schlagen. Algonkin-Yatta spürte die Tritte und Schläge nicht. Er lachte, glücklich darüber, daß seine Begleiterin so offenkundig quick lebendig war. Es dauerte nicht lange, bis Anlytha ihn an seinem Lachen erkannte und ihre sinnlose Gegenwehr einstellte. Nach einem empörten Schnaufer sagte sie: »Ich weiß nicht, was es zu lachen gibt, Algonkin. Du hast mir schließlich einen Schrecken eingejagt. Zuerst dachte ich, ein Ungeheuer hielte mich in seinen Pranken ge fangen. Warum läßt du mich eigentlich nicht los?« Der Kundschafter lockerte seinen Griff et was, hielt Anlytha aber weiterhin fest. »Wir befinden uns im Zustand der Schwe relosigkeit«, erklärte er. »Jede abrupte Be wegung könnte dich davonfliegen und gegen eine Wand der Zentrale prallen lassen.«
4 Er runzelte die Stirn, denn in seinem Be wußtsein tauchte die Frage auf, ob Anlytha und er sich überhaupt in der Zentrale des Kundschafterschiffs befanden. Sie schweb ten in absoluter Dunkelheit, so daß sich die se Frage nicht durch optische Beobachtung beantworten ließ. Er griff nach der Handlampe, die für ge wöhnlich in einer Magnethalterung seines Gürtels hing. Sie war nicht dort. »Ich habe eine Lampe«, sagte Anlytha. Sie mußte seine Bewegung gespürt und rich tig gedeutet haben. Aber ihre Stimme hatte eigentümlich flach geklungen. Demnach zweifelte auch Anlytha daran, daß sie sich in der Zentrale des Kundschafterschiffs befan den. »Schalte sie ein, bitte!« sagte Algonkin-Yat ta. Der Lichtkegel wirkte nach der langen ab soluten Dunkelheit wie der Blitz einer Ex plosion. Unwillkürlich kniff Algonkin-Yatta die Augen zusammen, dann blickte er dem weißen Kegel nach und musterte die Flä chen, über die er wanderte und die sein Licht unterschiedlich reflektierten. Die Ahnung wurde zur Gewißheit. Sie befanden sich nicht in der Zentrale des Kundschafterschiffs, sondern in einem quaderförmigen großen Raum mit polierten Wänden aus Stahlplastik oder schwarzem Fels, mit zahlreichen unterschiedlichen Ni schen und zahlreichen eingelassenen Sym bolen oder Figuren aus verschiedenen Edel metallen und großen Kristallen. Algonkin-Yatta blickte zu Anlytha und sah im Widerschein des Lichts, daß der klei ne weiße Federkamm seiner Begleiterin sich hochgestellt hatte. »Wo sind wir?« flüsterte sie beklommen. »Und wo ist das Schiff?« »Das sind nur zwei von vielen Fragen, die sich uns stellen«, erwiderte der Kundschaf ter. »Ich bin schon sehr gespannt auf die Antworten, die wir finden werden.« »Willst du etwa …?« kreischte Anlytha entsetzt, verstummte und fuhr dann leise fort: »… etwa in diesem unbekannten Ge-
H. G. Ewers spensterschloß herumirren? Ich fühle, daß unsere Umgebung von den schwarzen Schatten unheimlicher Wesenheiten wim melt!« »Gegen Schatten hilft Licht«, entgegnete der Kundschafter. »Außerdem, willst du et wa darauf verzichten, in den kostbaren Ge schmeiden und anderen Kleinodien zu wüh len, die es hier haufenweise geben wird?« Anlythas Hände fuhren unwillkürlich an den breiten schwarzen Gürtel, der ihre sil berfarbene Raumkombination in Taillenhö he umspannte. Die zahlreichen daran befind lichen Taschen waren leer, doch das gierige Funkeln in Anlythas Augen verriet, daß sie entschlossen war, diesen Zustand baldmög lichst zu ändern. »Worauf warten wir noch, Algonkin?« stieß sie hervor.
* Algonkin-Yatta ließ sich von Anlytha die stabförmige Lampe geben. Systematisch suchte er mit Hilfe des Lichtkegels die Stel len in den Wänden ab, die er bei der ersten Betrachtung als denkbare Positionen von verborgenen Türen oder Schotten eingestuft hatte. Nach einiger Zeit vermerkte er ärgerlich, daß seine Konzentration zu wünschen übrig ließ. Zu viele verschiedene Gedanken be schäftigten ihn. Er fragte sich, auf welche Art und Weise Anlytha und er von dem Kundschafterschiff getrennt worden waren, er fragte sich, warum weder er noch Anlytha bei der Kollision mit dem unbekannten Ob jekt verletzt worden waren, obwohl er doch einen Schlag verspürt hatte, der nur von ei nem harten Aufprall herrühren konnte – und er fragte sich, ob er nicht doch tot sei und die vermeintlichen Wahrnehmungen und Aktivitäten nur Resultate seines vom Körper gelösten Geistes seien. Ein Tritt gegen das linke Schienbein riß ihn aus seinem Grübeln. »Was ist los mit dir?« fragte Anlytha. »Schläfst du mit offenen Augen?«
Die Zeitpanne Algonkin-Yatta seufzte abgrundtief, dann sagte er: »Ich habe nachgedacht.« »Wozu hat dein Schiff eine Psiotronik, die viel besser nachdenken kann als jedes organische Lebewesen?« fragte Anlytha vor wurfsvoll. Der Kundschafter musterte die Stelle sei nes rechten Unterarms, an dem bei Exkur sionen sein Kommandogerät befestigt zu sein pflegte. Bei dieser Exkursion fehlte es. Allerdings war sie auch nicht geplant gewe sen. »Hast du dir den Kopf angeschlagen, Al gonkin?« erkundigte sich Anlytha verwun dert. »Warum benutzt du nicht dieses Ding oberhalb deiner Hirnanhangdrüse?« Der Kundschafter konzentrierte sich auf den bimolekularen Auslöser des mikromi niaturisierten Duplikats seines Komman doarmbands. Es vermochte psionische Im pulse aufzufangen und in die normalen Hirn impulse von Mathonern umzuwandeln – und umgekehrt. Dadurch stellte es das ideale Kommunikationsorgan mit jeder Psiotronik dar. Nur war die Leistungsfähigkeit eben be grenzt. Deshalb wunderte sich Algonkin-Yat ta nicht übermäßig, als keine Verbindung mit der Psiotronik seines Kundschafter schiffs zustande kam. »Offenbar ist das Schiff zu weit entfernt«, erklärte er seiner Begleiterin. »Wir werden uns also bewegen müssen, wenn ich der Psiotronik meine Probleme unterbreiten will.« Ohne weitere Worte klemmte er sich An lytha unter den linken Arm, aktivierte sein Flugaggregat und steuerte eine zirka zwei mal vier Meter, große, halbmetertiefe Ni sche an, an deren Rückwand er ungefähr dreißig punktförmige Stellen entdeckt hatte, die das Licht von Anlythas Lampe reflek tierten. Und wieder verfiel er ins Grübeln. Aber diesmal ließ er nur die Ereignisse an seinem geistigen Auge vorüberziehen, die ihn und seine Begleiterin schließlich in diese Lage getrieben hatten.
5 Durch puren Zufall hatte er vor langer Zeit auf dem Planeten Perpandron von ei nem Sterbenden einiges über einen Arkoni den gehört, der als Kristallprinz von Arkon für sein Recht kämpfte, das Amt des Impera tors über das Große Imperium zu überneh men, dadurch den Usurpator Orbanaschol zu stürzen und seinem Volk die ersehnte Frei heit zu geben. Was Algonkin-Yatta über das Verhalten des Arkoniden Atlan erfuhr, machte diesen mutigen und ritterlichen Mann in den Augen des Kundschafters zu einem strahlenden Helden des Kosmos – und Algonkin-Yatta faßte den Entschluß, von seinem vorgegebe nen Kundschafterkurs abzuweichen und nicht eher wieder auf ihn zurückzukehren, bis er Atlan gefunden und mit ihm gespro chen hatte. In der Praxis hatte sich die Suche nach Atlan dann als erheblich schwieriger heraus gestellt, als Algonkin-Yatta ursprünglich an nahm. Der Kundschafter und seine Begleite rin waren in zahlreiche, oft lebensgefährli che Abenteuer verwickelt worden. Einige Male hatte ihre Suche sie relativ dicht an Atlan herangebracht, aber jedesmal waren sie durch Verkettungen unglücklicher Zufälle zu spät gekommen. Sie hatten dabei alle möglichen Intelligenzen, zahlreiche kos mische Zivilisationen, deren Vermächtnisse und viele Rätsel und Geheimnisse kennen gelernt. Irgendwann kam der Kundschafter unter mysteriösen Umständen in den Besitz der Zeitkapsel, die zuvor großes Unheil über Welten und Völker gebracht hatte. Algon kin-Yatta bereitete dem unheilvollen Einfluß ein Ende, benutzte die Zeitkapsel für die weitere Suche nach Atlan und traf eines Ta ges mit Loggy zusammen, dem ehemaligen Kontrollelement eines Zeitauges. Loggy schloß Freundschaft mit AlgonkinYatta und half ihm bei seinen Exkursionen durch die Zeit. Bei einer dieser Exkursionen geriet die Zeitkapsel in den temporären Wir bel eines unheimlichen Objekts und wurde dorthin geschleudert, woher dieses Objekt
6 gekommen war – in eine andere Zeit und zu einem Planeten, den seine Bewohner Erde oder auch Terra nannten. Es kam zu einem Unfall. Der Kundschaf ter geriet bewußtlos in die Gewalt der Terra ner, was nicht weiter schlimm gewesen wä re, wenn sich nicht eine verbrecherische Or ganisation seiner Zeitkapsel bemächtigt und ihn selbst entführt hätte. Glücklicherweise befand sich Loggy unentdeckt in der Zeit kapsel und steuerte sie in die Zeit zurück, in der Anlytha mit dem Kundschafterschiff wartete. Als Anlytha von dem unglaublichen Vor fall erfuhr, stufte sie die Menschheit pau schal als Schurkengesellschaft ein und be gab sich heimlich auf die Erde und in die Zeit, in der Algonkin-Yatta dort gefangenge halten wurde. Es gelang ihr anfangs, die So lare Abwehr und die Mutanten der Erde zu täuschen. Glücklicherweise blieb das nicht so, denn als Anlytha das Nest der Verbre cher im Alleingang ausheben wollte, war ihr die Solare Abwehr dicht genug auf den Fer sen, um im letzten Augenblick als rettender Engel einzugreifen. Algonkin-Yatta und Anlytha lernten an schließend die angenehme Seite der Menschheit kennen. Sie schlossen Freund schaft mit Perry Rhodan und erfuhren von Atlantis und davon, daß Atlan verschollen war, seitdem er nach Atlantis aufgebrochen war. Und sie erfuhren, daß das unheimliche Objekt, in dessen Wirbel die Zeitkapsel ge raten war, nichts anderes als das Neue At lantis gewesen war und daß dieses Neue At lantis mit unbekanntem Ziel verschwunden war, ohne daß jemand auf der Erde etwas über Atlans Schicksal ahnte. Mit Hilfe von Messungen, die Algonkin-Yat ta dort vornahm, wo das Neue Atlantis auf getaucht und wieder verschwunden war, lie ßen sich die Gesetzmäßigkeiten ermitteln, nach denen das Neue Atlantis sich zwischen den Dimensionen fortbewegte. Algonkin-Yatta und Anlytha verabschie deten sich von Perry Rhodan und ihren an-
H. G. Ewers deren terranischen Freunden und folgten mit dem Kundschafterschiff der Spur von Atlan tis. Der Kundschafter gelangte in die Galaxis Wolcion und erfuhr nach Abenteuern mit fremden Intelligenzen, daß das Neue Atlan tis vermutlich auf einem Planeten namens Loors gestrandet sei. Eine langwierige Su che begann, ein Wettlauf mit der Zeit in doppelter Bedeutung. Aber dank der Zähigkeit und dem kosmo nautischen Können Algonkin-Yattas wurde Loors schließlich doch gefunden. Allerdings waren in der Zwischenzeit auf dem Neuen Atlantis Entwicklungen eingetreten, die zum Gewaltstart des unheimlichen Objekts ge führt hatten. Als der Kundschafter über Loors auftauchte, zeugte nur noch eine große häßliche Narbe in der Oberfläche des Planeten davon, daß darauf einmal das gi gantische Gewicht eines Inselkontinents ge drückt hatte. Und bei seinen Messungen mußte Algon kin-Yatta feststellen, daß das Neue Atlantis sich nicht mehr nach den alten Gesetzmäßig keiten zwischen den Dimensionen bewegte. Das bedeutete eine zusätzliche Erschwerung der Suche nach Atlantis – und der Suche nach Atlan. Aber der Kundschafter von Ruoryc ver zagte nicht. Er war davon überzeugt, daß At lan lebte und auf dem Neuen Atlantis einen tapferen Kampf gegen die Mächte der Fin sternis führte. Abermals setzte er die Suche fort – und bei seinem geduldigen Kreuzen zwischen den Dimensionen war das Kundschafter schiff mit einem rätselhaften Etwas kolli diert, in dem unheimliche und vielleicht un begreifliche Kräfte wirkten. Algonkin-Yatta spürte, wie die Neugier in ihm wuchs. Natürlich würde er die Suche nach Atlan fortsetzen, aber zuvor mußte er das Geheimnis des rätselhaften Objekts lö sen.
*
Die Zeitpanne »Ich kann keine Tür sehen, Algonkin«, maulte Anlytha und starrte in die finstere Nische. »Du darfst hier keine Tür in unserem Sinn erwarten, Anlytha«, erwiderte der Kund schafter. »Sieh her!« Er richtete den Lichtkegel der Lampe in die Nische und ließ ihn langsam kreisen. »Siehst du die Reflexionen?« fragte er. »Sie sind kaum zu sehen – und noch weni ger kannst du sehen, was das Licht reflek tiert. Deshalb nehme ich an, daß es sich um winzige Öffnungen von Informationskanä len handelt, die entweder im subatomaren Bereich oder in einer anderen Dimension existieren und auf einen bestimmten Photo nenkode ansprechen.« »Photonenkode!« stieß Anlytha verächt lich hervor. »Das sagt mir viel, Algonkin. Vor allem aber sagt es mir, daß wir einen solchen Kode niemals knacken können.« »Knacken!« wiederholte Algonkin-Yatta. »Was für eine Verunstaltung der Sprache! Gib mir die Halskette, die du Frekson ge stohlen hast, Anlytha!« »Ich – Frekson gestohlen!« kreischte An lytha empört. »Ich habe es gesehen, obwohl du damals glaubtest, niemand hätte es bemerkt«, erwi derte der Kundschafter. »Aber ich habe es gesehen.« »Frekson hatte die Kette selber erst ge stohlen«, erklärte Anlytha trotzig. Sie öffne te das Oberteil ihrer Raumkombination, und im Lichtschein der Lampe funkelten und glitzerten die geschliffenen Edelsteine eines zweifingerbreiten Halsbands, das Anlytha trug. »Aber was sollte ein Drache mit die sem Geschmeide anfangen? Was willst du überhaupt damit anfangen, Algonkin?« Algonkin-Yattas blauschwarzes Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Wenn dieses Kollier dich so verblendete, daß du es stehlen mußtest, dann vermag es möglicherweise auch die Informationskanäle des unbekannten Türwächters zu blenden«, erklärte er. »Nimm das Kollier ab und halte es hoch! Ja! Noch ein Stück dort hinüber, et
7 was tiefer – so!« Er war neben die Nische geschwebt und richtete den Lichtkegel der Handlampe in ei nem bestimmten Winkel auf das Kollier. Als er traf, schienen die Edelsteine zu explodie ren. Algonkin-Yatta schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, daß die Rückwand der Nische verschwunden war. An ihrer Stelle schimmerte das Quadrat ei ner in einem schwachbeleuchteten Gang führenden Öffnung. »Phantastisch!« entfuhr es dem Kund schafter. Er steckte die Lampe in eine Tasche sei ner Raumkombination, ergriff die Hand An lythas und zog seine Begleiterin hinter sich her in den Gang hinein.
2. Kaum befand sich Algonkin-Yatta in dem Gang, als er am liebsten wieder umgekehrt wäre, denn er spürte nicht nur, wie die Schwerkraft zurückkehrte, sondern außer dem, wie sich ringsum alles auf bedrohliche Weise veränderte. Aber die Reaktion des Kundschafters kam zu spät. Als Algonkin-Yatta herumfuhr, gab es hinter ihm und Anlytha keinen Gang mehr und keine Öffnung. Algonkin-Yatta glaubte zu schwanken. Seine Begleiterin seufzte und sank in Ohn macht. Er nahm sie auf die Arme und kämpfte mit aller Energie gegen das Schwindelgefühl an. Wände, Decke und Bo den verformten sich unablässig unter allen möglichen optischen und akustischen Effek ten. Einmal glaubte der Kundschafter in ei ner viele tausend Meter tiefen Felsschlucht zu stehen, dann wieder schien er auf einer von aufgewühlter See umtosten Klippe zu liegen. Als er schon befürchtete, die Orientierung gänzlich zu verlieren, stabilisierte sich die Umgebung. Sie wurde nicht wieder zu ei nem Gang, sondern zu einem aus gläsernen Wänden, Treppen und Podesten bestehenden Saal, der zu einem Glaspalast zu gehören
8 schien. Algonkin-Yatta blieb breitbeinig stehen, Anlytha noch immer auf seinen Armen. Langsam drehte er sich einmal um sich selbst. Dabei musterte er die veränderte Um gebung sehr genau. Er vermochte aber nichts Verdächtiges zu entdecken. Unterdes sen war Anlytha wieder zu sich gekommen. »Algonkin?« fragte sie. »Kein Anzeichen von Gefahr«, beantwor tete der Kundschafter die unausgesprochene Frage. »Dann laß mich herunter!« forderte seine Begleiterin. Langsam stellte Algonkin-Yatta sie auf die Füße. Dabei überlegte er zum wiederhol ten Mal, ob es ihm jemals gelingen würde, mehr über Anlythas Herkunft zu erfahren, als er bisher wußte. Vor seinem schicksal haften Abstecher nach Perpandron hatte er irgendwo zwischen den Sternen ein hava riertes Kleinraumschiff gefunden. Als er es durchsuchte, entdeckte er darin die bewußt lose Pilotin. Sie wußte allerdings nur noch, daß sie Anlytha hieß. Alles andere, auch ihre Herkunft, hatte sie entweder infolge eines Schocks oder einer Gehirnerschütterung ver gessen. Inzwischen wußte er auf Grund entspre chender Erfahrungen ein wenig mehr. So beispielsweise, daß Anlytha psionische Fä higkeiten besaß, mit denen sie anderen We sen etwas vorgaukeln konnte. Außerdem hatte sie bei ihrem »Agenteneinsatz« auf Terra bewiesen, daß sie Kenntnisse und Fer tigkeiten besaß, wie sie eigentlich nur bei ei ner ausgebildeten Neurologin und Neuro chirurgin vorhanden sein konnten. Aber ob wohl Anlytha das entsprechende Wissen und Können praktisch angewandt hatte, ver mochte sie sich noch immer nicht daran zu erinnern, welche berufliche Laufbahn – au ßer der einer Raumpilotin, die aber sicher nur das Produkt einer Sekundärausbildung war – hinter ihr gelegen hatte, bevor der Un fall im Weltraum ihr das Gedächtnis raubte. »Was ist das dort?« fragte Anlytha und deutete auf einen Punkt der Glashalle, der
H. G. Ewers sich zur Rechten des Kundschafters an einer Wand in zirka neun Metern Höhe befand. Algonkin-Yatta schaute in die angegebene Richtung und sah ein blauweißes Glitzern über dem oberen Ende einer Wendeltreppe, wo mehrere gläserne Wände, die aber infol ge von Lichtreflexionen nicht vollständig durchsichtig waren, anscheinend ineinander verschachtelt standen. Da die Helligkeit gleichblieb und auch keine bewegliche Lichtquelle auszumachen war, konnte das Glitzern eigentlich nur zu stande kommen, indem ein besonders stark reflektierender Gegenstand sich hin und her drehte. Zuerst wollte der Kundschafter seine Be gleiterin auffordern, stehenzubleiben, wäh rend er die Wendeltreppe hinaufstieg und die Ursache des Glitzerns erforschte. Aber dann erinnerte er sich an die Verwandlung der Umgebung und hielt es für sicherer, sich nicht von Anlytha zu trennen. Er zog Anlytha also an der Hand hinter sich her, die Wendeltreppe hinauf – und blieb verblüfft stehen, als er einen Gegen stand sah, der in dieser zweifellos technisch hochwertigen Umgebung funktionell nichts zu suchen hatte. Es handelte sich um ein kurzes zwei schneidiges Schwert mit edelsteinverziertem Griff, das sich langsam hin und her drehte, wodurch seine scharfgeschliffene und auf Hochglanz polierte Klinge im wechselnd einfallenden Licht blinkte. Das Seltsamste aber war, daß das Schwert scheinbar frei in der Luft schwebte. Anlytha löste sich von Algonkin-Yattas Hand und huschte zu der Waffe. Ihre rechte Hand schloß sich zielstrebig um den Schwertgriff. Mit entschlossenem Ruck zog sie – und schwebte im nächsten Augenblick mit hoher Geschwindigkeit und völlig laut los nach oben, gezogen von dem Schwert, das offenbar an einer unsichtbaren Leine be festigt war. Der Kundschafter begriff sofort, daß das Schwert praktisch die Funktion eines Köders erfüllte und daß Anlytha in die Falle eines
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Wesens geraten war, dessen weitere Absich ten Anlaß zur Sorge gaben. Algonkin-Yatta aktivierte sein Flugaggre gat, schaltete es hoch und jagte seiner Be gleiterin nach, bevor sie einen Schreckens schrei ausstoßen konnte. Als er sie eingeholt hatte, sah er, daß sie vergeblich versuchte, die Hand vom Schwertgriff zu lösen. Kurzentschlossen packte er den Schwertgriff ebenfalls, wenn auch über Anlythas Hand. Im selben Mo ment fühlte er die saugende Kraft, die durch die Lücken zwischen ihren schmalen Fin gern hindurch auf seine Hand einwirkte. Plötzlich rutschten Anlythas Finger ab – und Algonkin-Yatta mußte blitzschnell mit der freien linken Hand zupacken, damit sei ne Begleiterin nicht abstürzte. In ihrer Ver wirrung hätte sie vermutlich nicht daran ge dacht, ihr Flugaggregat einzuschalten. Der Kundschafter zog Anlytha dicht an sich, als er über sich die reflektierende Ober fläche fester Materie bewirkte und erkannte, daß das kreisrunde Loch darin nicht viel größer war als der Leibesumfang eines Ma thoners. Ein Glück, daß Anlytha so klein und zart ist! dachte er, während er mit seiner Beglei terin durch das Loch gerissen wurde. Im nächsten Moment waren sie beide hin durch, wurden ein Stück nach vorn gezogen – und dann stand Algonkin-Yatta leicht schwankend auf einer Art gläserner, stellen weise mit Gold bedampfter Plattform und blickte neugierig auf die schemenhafte Er scheinung, die wenige Schritte vor ihm stand oder schwebte.
* Die äußere Form der Erscheinung war eindeutig humanoid, aber es handelte sich weder um einen Mathoner noch um einen Menschen oder Arkoniden, sondern um eine völlig andere Wesenheit. Algonkin-Yatta bemerkte, daß das Schwert sich noch immer in seiner Hand be fand, obwohl der unwiderstehliche Zug auf
gehört hatte. Er wog es prüfend und fand, daß es ausgezeichnet in der Hand lag und ei ne zwar primitive, aber recht wirksame Waf fe war. Der Kundschafter lächelte, drehte das Schwert blitzschnell um, so daß er seine Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und streckte es der rätselhaften Er scheinung entgegen. »Ich brauche es nicht«, erklärte er. »Und es gehört anscheinend Ihnen.« Er verneigte sich. »Mein Name ist Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc.« Die Erscheinung bewegte sich. Sie zog das Schwert an sich heran, ohne die Hände auszustrecken – und nahm das Schwert in sich auf. Dabei ließ sich erkennen, daß sich unter der kalt leuchtenden Haut nur ein flie ßendes milchiges Leuchten befand. Anlytha streckte die Hand hilflos nach dem Schwert aus, und als es in dem milchi gen Leuchten seine Konturen verlor, seufzte sie schwer. »Der Edelstein war bestimmt wertvoll, Algonkin. Du hättest ihn herausbrechen sol len, bevor du das Schwert zurückgabst.« »Unsinn!« erwiderte Algonkin-Yatta. Prü fend betrachtete er die rätselhafte Erschei nung, und allmählich dämmerte ihm, daß die Konturen eines humanoiden Lebewesens, die er sah, nichts mit der Erscheinungsform der fremden Wesenheit zu tun hatten, son dern wahrscheinlich nur präsentiert wurden, um nicht gar zu fremdartig zu wirken. Die Erscheinung bewegte sich wieder, aber auf eine nie gesehene Art und Weise. Zu spät begriff Algonkin-Yatta, daß das Fremde sich ausdehnte. Bevor er reagieren konnte, befanden Anlytha und er sich bereits im Innern der Erscheinung, deren »Außenhülle« anscheinend mit rasender Ge schwindigkeit nach allen Seiten davoneilte. Und im nächsten Augenblick hörte und sah der Kundschafter überhaupt nichts mehr. Dafür hatte er das Gefühl, als ob etwas Un sichtbares sich in seinen Geist drängte, alle Informationen abgraste, die in seinen Hirn zellen gespeichert waren und ihn anschlie
10 ßend wieder verließ. Eine unbestimmbare Zeitspanne danach war ihm, als explodierte die unablässig ex pandierende Erscheinung und als entleerte sie ihren Inhalt ins Nichts außerhalb des Universums. Für grauenhafte Sekunden hat te er das Gefühl, als stürzten die Atome sei nes Körpers in sich zusammen und anschlie ßend aufeinander zu, so daß er unweigerlich zusammenschrumpfen mußte, bis er prak tisch im subatomaren Mikrokosmos versank. Er, der sich so leicht nicht erschüttern ließ, wagte es nicht, den vermuteten Tatsa chen ins Auge zu sehen. Als er zu fühlen glaubte, daß der Schrumpfungsprozeß zum Stillstand gekommen war, hockte er sich nieder und barg den Kopf zwischen den Knien. Er wollte nicht sehen, wie winzig er im Vergleich zu durchschnittlichen Molekü len, Bakterien und Viren geworden war. Ein heller Ausruf ließ ihn zusammen zucken. »Da ist es ja!« Anlythas Stimme. »Was ist da?« flüsterte er verwirrt und hob unwillkürlich den Kopf und öffnete die Augen. Schräg vor sich sah er Anlytha knien und sich über das blitzende Schwert beugen, das doch im Innern der rätselhaften Erscheinung verschwunden gewesen war. Und ringsum ragten gläserne Wände und Treppen auf, de ren Dimensionen sich relativ zu Algonkin-Yat ta und Anlytha nicht verändert hatten. »Wir sind nicht geschrumpft!« stieß er unendlich erleichtert hervor. Hoffentlich nicht! wisperte es in seinem Gehirn. Es muß jedenfalls einen schwerwie genden Grund haben, daß ich dich bisher nicht erreichen konnte, Kundschafter. Die Psiotronik! »Was machst du für ein dummes Ge sicht?« erkundigte sich Anlytha. »Die Psiotronik hat sich gemeldet!« er klärte Algonkin-Yatta freudig erregt. »Hallo, Psiotronik, kannst du mir deine Position re lativ zum Schiff angeben?« Er hätte die Fra ge nicht auszusprechen brauchen, da die Kommandoschaltung in seinem Gehirn auch
H. G. Ewers auf die bloßen Gedanken ansprach, aber er wollte, daß Anlytha wenigstens seinen Teil der Kommunikation mitbekam. Ich versuche es. Pause. Was ist das? Die Entfernung zwischen uns beträgt nur knapp dreißig Meter. Die Ortung hätte euch längst erfassen müssen. »Was?« entfuhr es Algonkin-Yatta. »Hat die Ortung des Schiffes uns jetzt immer noch nicht erfaßt?« Nein, ich habe die Entfernungsbestim mung mit einer Direktanpeilung deines Kommandogeräts vorgenommen, Kund schafter. Komisch, sonst fühle ich mich auch als Schiff, aber jetzt … Algonkin-Yatta hatte sich intensiv auf die einfallenden Impulse der Psiotronik konzen triert. Sobald er in der Lage war, die Rich tung zu bestimmen, aus der die Impulse ka men, setzte er sich in Bewegung. Er achtete nicht darauf, daß Anlytha hinter ihm empört zeterte, weil er sie einfach stehenließ. Gleich einem Traumwandler schritt der Kundschafter über gläserne Brücken, die sich, nur doppelt fußbreit, über düsterrot glühenden Abgründen spannten. Sein Ge sicht war jedoch alles andere als abwesend. Er arbeitete intensiv; nur konzentrierte er sich auf die Einhaltung der Richtung, aus der die psionischen Impulse kamen. Wenig später stand er dort, wo sich auch sein Kundschafterschiff befand. Und es be fand sich dort, auch wenn er es nicht sehen konnte. Ein Mathoner vermochte ebensowe nig wie ein Mensch Dinge mit seinen bloßen Augen zu sehen, die kleiner waren als ein Staubkorn.
* Du bist hier, Kundschafter! übermittelte die Psiotronik. Demnach ist unser Schiff ge schrumpft. Zum erstenmal, seit sich Algonkin-Yatta in dem seltsamen Objekt befand, mit dem sein Kundschafterschiff kollidiert war, ver spürte er eisige Furcht. Denn ohne sein Schiff war er kein Kundschafter – und ohne
Die Zeitpanne sinnvolle Funktion war er ein Nichts. Dennoch konnte er nicht umhin, der Psio tronik zu widersprechen. »Mein Schiff, nicht unser Schiff!« Er streckte eine Hand schräg nach hinten aus, als er die leichtfüßigen Schritte Anlythas hörte. »Halt!« Doch seine Begleiterin konnte nicht mehr abbremsen. Sie prallte gegen seine Hand, strauchelte und ließ mit einer Verwünschung das Schwert los, das dicht an Algonkin-Yat ta vorbeiflog und im nächsten Moment für den Bruchteil einer Sekunde hell aufleuchte te. Dann fiel es zu Boden. Der Kundschafter ahnte, daß die Klinge mit seinem Raumschiff kollidiert war. Das erklärte allerdings nicht, warum sie aufge leuchtet hatte, denn die Kollision von zwei etwa atomgroßen Objekten … Algonkin-Yattas Gedanken setzten für einen Moment aus, dann kamen sie verstärkt wieder. »Das Schiff mag nicht größer sein als ein Atom, aber seine Masse muß die gleiche ge blieben sein wie vorher. Aber wie kann es sich dann in der Schwere halten? Es hätte doch längst ungehindert zum Schwerkraft zentrum dieses scheinbar gläsernen Objekts stürzen müssen.« »Dein Schiff – nicht größer als ein Atom?« flüsterte Anlytha mit blassen Lip pen, die sich clownhaft gegen ihre flieder farbene Haut abhoben. »Algonkin-Yatta, be deutet das, daß wir niemals wieder von hier wegkommen?« Der Kundschafter hatte inzwischen wei tergedacht und die Tatsachen mit anderen Ereignissen in diesem rätselhaften Objekt kombiniert, deshalb schüttelte er den Kopf. »Mein Schiff ist nicht infolge eines Natur ereignisses geschrumpft, Anlytha«, gab er zu bedenken, »sondern infolge von Manipu lationen, die von der Wesenheit durchge führt werden, die uns aufgenommen hat.« Anlytha blickte ihn verblüfft an, dann tippte sie sich an die Stirn, eine Geste, die sie den Erdenmenschen abgesehen hatte. »Wesenheit! Du spinnst ja, Algonkin! Wir
11 befinden uns in einer Art Glaspalast. Und seit wann ist ein Bauwerk eine Wesenheit?« »Wenn es sich tatsächlich um ein Bau werk handeln würde, dann hätte die Kollisi on es und uns vernichtet«, erklärte Algon kin-Yatta. »Da das nicht geschah, muß es sich bei unserem ›Gastgeber‹ um ein hochin telligentes Wesen handeln, das mit n dimensionalen Energien so spielerisch leicht umgeht wie du mit den Kostbarkeiten ande rer Leute.« »Du sprichst von einer Kunst, die ich aus übe!« protestierte Anlytha. »Die spielerische Manipulierung eines großen energetischen Spektrums und ande rer Wesen und Dinge ist auch eine Kunst«, entgegnete der Kundschafter. »Aber zu welchem Zweck …?« begann Anlytha und brach abrupt ab, als ihr ein Licht aufging. »Diese … diese Wesenheit ist auch so eine Art Kundschafter!« »Genauso ist es!« sagte Algonkin-Yatta. »Nur ist sie das Produkt einer Evolution, die wir uns noch nicht vorstellen können – und es dürfte uns, was seine Möglichkeiten der Manipulierung der Umwelt angeht, ebenso hoch überlegen sein wie mein Kundschafter schiff den Bakterien auf der trostlosen Ober fläche eines Planeten, dessen höchste Le bensform so etwas wie Flechten sind.« »Und dieser Kundschafter hat uns aufge fangen, von deinem Schiff getrennt und un ser Verhalten studiert.« »Und uns getestet«, fügte Algonkin-Yatta hinzu. »Ich hoffe nur, er definiert uns nicht etwa als biologischen Abfall anstatt als intel ligentes Leben. Das dürfte darauf ankom men, wie viele Erfahrungen er als Kund schafter gemacht hat. Vergiß nicht: Was er ist, vermögen wir uns nicht vorzustellen. Wir haben ihn nur durch die Auswirkungen seiner den unseren weit überlegenen Kräfte als intelligent erkannt. Umgekehrt war das aber nicht möglich.« »Aber wenn er intelligenter ist als wir …«, sagte Anlytha. »Er muß nicht intelligenter sein. Ein Vo gel ist wahrscheinlich nicht intelligenter als
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ein Hominide; dennoch kann er fliegen und ist dem Hominiden in dieser Hinsicht über legen.« Algonkin-Yatta wählte diese Aussage nicht zufällig. Er hatte Sekunden vorher wieder gespürt, wie etwas seine Gedanken welt sondierte und bis in die tiefsten Tiefen seines Unterbewußtseins vorstieß. Schaden froh, aber nicht bösartig, stellte sich der Kundschafter die Verblüffung eines sich grenzenlos überlegen fühlenden Wesens vor, das in den Gedanken der seiner Ansicht nach nicht intelligenten Wesen Zweifel an der eigenen, seiner Intelligenz erkannte. Seine Schadenfreude erlosch, als er erneut den vernichtend erscheinenden Schlag gegen seinen Schädel verspürte – aber einen Se kundenbruchteil vorher spürte er verblüfft und beschämt, daß die fremde Wesenheit ihn wegen seiner Emotionen bemitleidete.
* Als Algonkin-Yatta diesmal aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, überraschte es ihn nicht, daß er sich in seinem Pilotensessel in der Steuerzentrale des Kundschafter schiffs wiederfand. Was ihn überraschte, war das kurze zwei schneidige Schwert mit edelsteinverziertem Griff, das vor ihm auf dem Hauptschaltpult lag. Es sah genauso aus wie das Schwert, das er bei dem anderen Kundschafter in der Hand gehalten hatte. Ein schmerzliches Stöhnen ließ ihn nach rechts schauen. Er sah, daß Anlytha eigen tümlich verrenkt in den Anschnallgurten ih res Sessels hing und sich offenbar unter star ken Schmerzen wand. Sofort verließ der Kundschafter seinen Platz und eilte zu seiner Begleiterin. »Was hast du, Anlytha?« fragte er be sorgt. »Wie kann ich dir helfen, Vogelköni gin?« Für eine Sekunde vielleicht erstarrte An lytha, während sie den Kundschafter ver blüfft ansah, dann verdrehte sie die Augen, zuckte und flüsterte:
»Mein Koffer! Geheimfach im Griff! Ta bletten! Gelbe Schachtel! Zwei Tabletten in Wasser auflösen und mir geben!« Als Algonkin-Yatta bereits im Schiffskor ridor auf dem Weg zur Wohnzelle war, von der aus man in Anlythas Kabine kam, fiel ihm erst ein, daß er nicht einen einzigen Blick auf die Kontrollschirme der Zentrale geworfen hatte und deshalb nicht wußte, ob sich das Kundschafterschiff im freien Raum oder sonstwo befand. Aber er kehrte deswegen nicht um. Anly tha befand sich in Not. Da gab es gar keine andere Wahl. Er mußte alles tun, um ihr zu helfen. Als das Schott der kugelförmigen Wohn zelle sich vor dem Kundschafter öffnete, sprang er hinein, ohne daran zu denken, daß darin, wie meist, eine künstliche Schwer kraft von drei Gravos herrschte, im Unter schied zu den sonstigen Bereichen des Schiffes, in die Anlytha kam – und es hatte sich herausgestellt, daß sich Anlytha bei ei ner Schwerkraft von anderthalb Gravos am wohlsten fühlte. Obwohl Algonkin-Yattas Heimatwelt eine Schwerkraft von 4,52 Gravos besaß und drei Gravos für den Kundschafter deshalb keine spürbare Belastung darstellten, bewirkte der Unterschied doch, daß er hart auf den Boden gerissen wurde. Aber im nächsten Augenblick hatte Al gonkin-Yatta sich wieder gefangen. Er schnellte sich hoch, sprang ungefähr sieben Meter weit und hielt sich an dem flachen Griff neben dem Schott zu Anlythas Kabine fest. Das Schott öffnete sich automatisch für ihn. Der Kundschafter schwang sich hinein und schwebte bei der darin herrschenden Schwerkraft von nur anderthalb Gravos bei nahe. Er entdeckte den Hartplastikkoffer, den Anlytha von dem terranischen Arzt Or well Hynes geschenkt bekommen hatte, un ter ihrem Pneumobett. Rasch zog er ihn her vor, öffnete ihn, wobei er versehentlich das Schloß zerriß, und verwünschte sich selbst, als ihm einfiel, daß er ihn gar nicht zu öff
Die Zeitpanne nen brauchte. Er widmete sich der Untersuchung des breiten und dicken Tragegriffs. Da er sich mit allen möglichen Techniken auskannte, hatte er den Öffnungsmechanismus des Ge heimfachs schnell gefunden. Fünf dünne weiße Schachteln fielen ihm entgegen, als er es öffnete. Und eine gelbe Schachtel! Algonkin-Yatta zog die Schachtel auf, sah zwei Reihen weißer Tabletten darin, nickte zufrieden und schob sie wieder zu. Danach hastete er in die Zentrale zurück. Er befand sich bereits auf halbem Wege zum Getränkeautomaten, als ihm auffiel, daß Anlytha ganz still in ihrem Sessel saß. Er erschrak, denn er fürchtete das Schlimm ste. Auf leisen Sohlen kehrte er um und nä herte sich seiner Begleiterin. »Bleib stehen!« sagte Anlytha scharf. Algonkin-Yatta gehorchte. Verwundert versuchte er, etwas mehr von Anlytha zu se hen, was aber nicht möglich war, da sie mit dem Rücken zu ihm saß. »Warum soll ich stehenbleiben?« fragte er. »Und was ist mit deinen Tabletten?« »Ich brauche keine Tabletten!« antwortete Anlytha trotzig. »Dagegen habe ich keine Medizin. Bleib ja stehen und sieh mich nicht an, Algonkin!« »Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß ich gegen deine Wünsche verstoße«, erklärte der Kundschafter. Zum erstenmal nach dem Abenteuer mit dem anderen Kundschafter sah er sich die Kontrollschirme genau an. Er stellte beru higt fest, daß das Kundschafterschiff sich of fenkundig im freien Raum befand und an scheinend einwandfrei funktionierte. Sein Blick fiel auf das Schwert, und er stutzte. Von dem großen Edelstein ging eine schwache pulsierende Helligkeit aus, die vorher nicht dagewesen war. »Du hast recht mit deiner Vermutung, Al gonkin«, sagte Anlytha zerknirscht. »Ich ha be versucht, den Edelstein herauszubrechen. Wozu soll ein so kostbarer Edelstein an ei ner Mordwaffe sein. Außerdem würde ich
13 ihn durch ein ebenso großes Stück geschlif fenes Glas ersetzt haben.« Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts dergleichen vermutet, Anlytha«, erwiderte er. »Ach, ja!« entfuhr es Anlytha. »Wer nicht lügen kann, der kann allerdings nicht darauf kommen, daß er unter vorgetäuschtem Grund weggeschickt wird, damit jemand ihm etwas wegnehmen kann. Es tut mir ehr lich leid, daß ich dich getäuscht habe, Al gonkin.« »Nicht so wichtig!« sagte Algonkin-Yat ta. »Du kannst eben nicht anders. Aber was ist mit dir geschehen? Hat das Schwert dich verletzt?« »Oh!« stieß Anlytha hervor und schluchz te, dann drehte sie sich abrupt mitsamt ihrem Sessel um. Der Kundschafter stellte fest, daß ihr flie derfarbenes »Porzellangesicht« voller dicker roter Pickel war, die es furchtbar entstellten. Aber er ließ sich nichts anmerken, um Anlythas Kummer nicht noch zu vergrößern. »So schlimm ist es gar nicht«, erklärte er fest. »Du kannst ja doch lügen!« stellte Anly tha fest und zwitscherte triumphierend. »Für dich kann ich alles«, sagte der Kund schafter, zufrieden darüber, daß es ihm ge lungen war, seine Begleiterin wenigstens vorübergehend aufzuheitern. Er begab sich zu seinem Platz, setzte sich und nickte der Kontrollwand der Psiotronik zu. »Wie ist das werte Befinden?« erkundigte er sich. Auf der Kontrollwand zuckten farbige Lichtpunkte, dann erschienen auf einem an deren Schirm Schrift- und Zahlensymbole. »Alles in Ordnung?« stellte Algonkin-Yat ta verwundert fest. »Überhaupt keine Schä den? Weißt du, ich habe schon befürchtet, Anlytha und ich hätten nicht das Schiff im alten Zustand zurückbekommen, sondern wären mikrominiaturisiert und in das winzi ge Schiff transportiert worden.« »Das hätte aber nichts genützt, denn die
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energetischen Prozesse der Triebwerke und so weiter benötigen zum Funktionieren eine bestimmte räumliche Mindestausdehnung, einen bestimmten Ereignisraum sozusagen«, erklärte die Psiotronik – diesmal akustisch. »Bin ich aber froh, daß wir wieder normal sind!« rief Anlytha. »Hoffentlich ist dieser verflixte Kerl von der Konkurrenz auf Nim merwiedersehen verschwunden.« »Du meinst den anderen Kundschafter«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Leider ist er wirklich verschwunden, obwohl ich mich gern mit ihm unterhalten hätte.« »Ich nicht«, sagte Anlytha, und ihr weißer Federkamm sträubte sich. »Das mit dem Schwert werde ich ihm niemals verzeihen.« »Du hast also den Ausschlag bekommen, nachdem du versuchtest, das Schwert anzu fassen«, sagte Algonkin-Yatta nachdenklich. Er streckte die Hand aus und umfaßte ent schlossen den Schwertgriff. »Kannst du an mir etwas feststellen, Anlytha?« Anlytha beobachtete ihn eine Weile, dann kreischte sie einmal kurz auf und schimpfte: »Ja, ein selbstgefälliges Grinsen, du Un hold!« Algonkin-Yatta seufzte resigniert, denn er ahnte, daß sich Anlythas miserable Laune erst bessern würde, wenn ihre Pickel ver schwunden waren. Es würde während dieser unbekannten Zeitspanne ratsam sein, sich möglichst auf kein Gespräch mit Anlytha einzulassen. Er nahm Schaltungen vor, während er mittels des in sein Gehirn gepflanzten Kom mandogeräts unhörbar kommunizierte. Nach einiger Zeit fragte Anlytha scharf: »Was treibst du da eigentlich, Algonkin-Yat ta! Wohin soll das alles führen?« »Zu Atlan, hoffe ich«, antwortete der Kundschafter.
3. Nachdem offenkundig geworden war, daß das Kundschafterschiff sich zwischen zwei Galaxien befand, stellte Algonkin-Yatta mit Hilfe der Psiotronik komplizierte Messun
gen und Berechnungen an. Erst danach vermochte er zu sagen, wel che Galaxis Wolcion war. Vorher hatte er es deshalb nicht sagen können, weil beide Ga laxien sich glichen wie eineiige Zwillinge und weil das Kundschafterschiff unbeweg lich im Raum schwebte, so daß nicht festzu stellen war, aus welcher Richtung es gekom men war. »Der ›große Bruder‹ hat uns anscheinend ein Stück seines Weges mitgenommen«, stellte Anlytha fest, als Algonkin-Yatta ihr vom Ergebnis seiner Berechnungen berichtet hatte. Sie hatte ihre Pickel mit allen mögli chen kosmetischen Mitteln behandelt, aber noch keinen Erfolg erzielt; deshalb trug sie einen Gesichtsschleier, den sie aus einem terranischen Museum hatte mitgehen lassen. »Ich habe den Eindruck, daß er keinen Moment lang angehalten hat wegen uns«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Er hat uns auf gefischt, ohne seine Geschwindigkeit herab zusetzen, und hat mit uns gespielt, während er seinen Flug fortsetzte – und als er wußte, was er wissen wollte, hat er uns wieder frei gelassen.« Anlytha sagte etwas dazu, aber Algonkin-Yat ta hörte ihr nicht zu, denn seine Nase fing ein Geruchssignal auf, das ihn in hochgradi ge Erregung versetzte. Das auf der Erde und später auf Loors mit den an beiden Orten er mittelten Meßwerten justierte Spürgerät hat te zum erstenmal positiv reagiert. Eine Serie der für Atlantis typischen mo difizierten Tachyonengruppen stiegen – gleich Luftblasen im Wasser – aus der Tiefe der Zeit herauf an die Relativ-Oberfläche, auf der das Kundschafterschiff »schwamm«! Das allerdings hatte dem Kundschafter nicht die Geruchssignale übermittelt, son dern der Bildschirm der Psiotronik mit sei nen für Unbefugte sinnverwirrenden Licht blitzen und anderen Zeichen. »Wann?« fragte Anlytha. Erst durch diese Frage wurde es dem Kundschafter wieder bewußt, daß seine ge heimnisvolle Begleiterin mit den Funktionen des Schiffes und seinen Informationsmög
Die Zeitpanne lichkeiten fast ebenso vertraut war wie er. »Nur ein paar Jahre zurück«, antwortete Algonkin-Yatta. »Jedenfalls kommen die Tachyonen von dann. Ob sich Atlantis noch auf der gleichen Zeitebene befindet, kann ich nur mit Hilfe der Zeitkapsel feststellen.« »Mit der Zeitkapsel!« zeterte Anlytha. »Und mich willst du wieder einmal allein zurücklassen! Das könnte dir so passen! Ich komme diesmal mit!« »Von mir aus kannst du mitkommen«, er klärte der Kundschafter. »Aber soviel ich weiß, kennt man auf Atlantis keine Ge sichtsschleier. Da wir nicht auffallen dürfen, müßtest du dort den Schleier ablegen. Für mich bist du natürlich auch mit dem bißchen Ausschlag schön, aber ich weiß nicht, wie die Leute auf Atlantis das beurteilen werden …!« »Ich kümmere mich nicht um die Mei nung anderer Leute!« gab Anlytha zurück. Der Kundschafter sah, wie ihre Augen sich verdunkelten. Deshalb wußte er, daß er sich weitere Argumente sparen konnte. Als er sich anschickte, seine Ausrüstung zu überprüfen, kam denn auch die erwartete Reaktion Anlythas. »Wir sollten das Schiff nicht allein lassen, Algonkin«, sagte sie. »Vielleicht könnte Loggy diesmal die Wache übernehmen. Was meinst du?« Algonkin-Yatta machte ein bedenkliches Gesicht. »Eine Zeitreise ohne Loggy ist beschwer licher und gefährlicher als eine mit dem ge nialen Zeitnavigator, aber wenn du meinst …« »Oh, nein!« rief Anlytha. »Entschuldige bitte, daß ich egoistisch dachte. Selbstver ständlich darf ich weder dich noch den Er folg deiner Mission gefährden. Algonkin, unter diesen Umständen bringe ich gern das Opfer, auf meine Teilnahme an der Suche nach Atlantis zu verzichten.« »Dieses Opfer kann ich nicht annehmen«, entgegnete der Kundschafter. »Lieber irre ich ein paar Jahre länger herum, als daß ich dich um das Vergnügen bringe, auf Atlantis
15 an einem Schönheitswettbewerb teilzuneh men.« Eine Weile schauten Anlythas Augen den Kundschafter fragend an, dann stieß Anlytha ein gellendes Kreischen aus. Als sie damit aufgehört hatte, holte sie tief Luft und schrie: »Du bist ein gemeiner Schuft! Mich so hereinzulegen! Und ich dachte, du könntest nicht lügen!« »Ich habe ja nicht gelogen«, erwiderte Al gonkin-Yattas Stimme über die Bordverbin dung. »Ich habe nur eine Möglichkeit erwo gen.« »Ha!« machte Anlytha, dann bemerkte sie, daß der Kundschafter nicht mehr in der Zentrale war. »Wo bist du?« »Unterwegs zur Zeitkapsel«, antwortete der Kundschafter. »Du kannst natürlich im mer noch mitkommen, aber es könnte ja sein, daß du auf Atlantis deinen Schleier tat sächlich ablegen mußt. Und was wäre dann?« »Die Atlanter würden einen schlechten Eindruck von dir bekommen, wenn du mit einer häßlichen Begleiterin kämst«, sagte Anlytha. »Also muß ich schon dir zuliebe im Schiff bleiben. Allerdings nur dann, wenn du mir versprichst, die Zeitkapsel bis auf den letzten Kubikzentimeter mit Kunstge genständen von Atlantis vollzupacken.« »Und womit bezahle ich das alles?« woll te Algonkin-Yatta wissen. »Bezahlen?« echote Anlytha. »Seit wann bezahlt man für Dinge, die man sich nur zu nehmen braucht!« »Na, schön, ich will es versuchen«, ver sprach der Kundschafter. »Hüte du das Schiff gut – und weiche allen Gefahren aus, Anlytha! Ich möchte dich gesund wiederse hen, wenn ich zurückfinde.«
* Loggy tauchte wieder einmal als sche menhaftes humanoides Lebewesen von zirka anderthalb Metern Größe auf, verschwand wieder und kehrte halbtransparent zurück.
16 »Wir haben es fast geschafft, Algonkin«, sagte er auf Interkosmo. »Die modifizierten Tachyonengruppen lassen sich ausgezeich net zurückverfolgen.« Algonkin-Yatta stöhnte, als eine heiße Welle purer Erregung ihn durchflutete. Sei ne Finger zitterten. Das Jagdfieber hatte ihn mit aller Kraft gepackt – und noch stärker fieberte er der ersehnten Begegnung mit At lan entgegen. »Vielleicht kann ich den großen Arkoni den aus einer gefährlichen Lage befreien!« flüsterte er. »Dann wird er mir die Hand rei chen und sagen: ›Ich danke Ihnen, Algon kin-Yatta.‹« Loggys Hände fuhren zielsicher an den zahllosen verschlungenen Linien im Innen raum der Zeitkapsel entlang. Dadurch wur den Impulse ausgelöst, die auf eine dem Kundschafter unbekannte Weise eine Steue rung durch jenes überaus komplizierte Et was erlaubten, das »Zeit« genannt wurde. Trotz seines relativ geringen Verständnisses dieser Steuerungsvorgänge konnte auch Al gonkin-Yatta die Zeitkapsel navigieren. Loggy beherrschte diese Kunst aber noch besser, denn er war Teil eines sogenannten Zeitauges gewesen, bevor er auf seiner Odyssee der tausend Verwandlungen mit Algonkin-Yatta zusammentraf und sein Part ner wurde. An der Innenwandung der Kapsel blitzten zahllose goldfarbene Lichtpunkte auf, meh rere dumpf hallende Schläge dröhnten, und die Bildschirme der Außenbeobachtung lie ßen den bislang undurchdringlichen nebel haften Schleier sich aufhellen. »Du solltest deine Erwartungen nicht zu hoch stecken, Algonkin«, sagte Loggy. »Vielleicht erleben wir eine Enttäuschung.« »Ach, was!« entgegnete der Kundschafter hitzig. »Die Modifikation der Tachyonenim pulse stimmt, also werden wir demnächst Atlantis erreichen.« »Mich stört nur, daß die Tachyonenimpul se sich nicht verändern, wenn wir in der Zeit anhalten«, sagte Loggy. »Wenn unser Ziel sich durch Raum und Zeit fortbewegt, müß-
H. G. Ewers ten sie sich in solchen Fällen abschwächen.« »Dann hat Atlantis eben angehalten!« er klärte Algonkin-Yatta. Loggy konnte es nicht mehr hören, denn er hatte sich bereits wieder »aufgelöst« und befand sich entweder eine Nanosekunde in der relativen Vergangenheit oder in der rela tiven Zukunft. Der Kundschafter musterte mit ruhigem Blick die goldfarbenen Lichtpunkte. Nie mand hätte ihm angesehen, wie sehr es in ihm brodelte. Viele Jahre seiner eigenen Zeit und viele Tausende von Jahren zwischen den verschiedenen Zeitebenen war er ruhe los hinter einem Arkoniden hergejagt, den er noch nie persönlich gesehen hatte und den er dennoch so gut kannte wie seinen treuen Freund. Endlich lag das Ziel in erreichbarer Nähe! Die goldfarbenen Lichtpunkte erloschen; der Schleier rings um die Kapsel lichtete sich stärker und verschwand schließlich ganz. Leicht vornübergeneigt starrte Algonkin-Yat ta angestrengt auf die Bildschirme der Au ßenbeobachtung. Er sah, daß die Zeitkapsel dicht über ei nem kleinen See schwebte, der mitten in ei ner Landschaft aus nackten schwarzen Hü geln und anderen Seen bestand. Das lücken lose Weiß eines eigenartigen Himmels ver breitete genug Helligkeit, um Einzelheiten erkennen zu lassen. Linkerhand entdeckte Algonkin-Yatta in etwa zehn Kilometern Entfernung eine An sammlung von Gebilden, die eindeutig künstlicher Herkunft waren. Wahrscheinlich handelte es sich um Zweckbauten. Ihre Sil houetten hoben sich merkwürdig zerbrech lich gegen den Hintergrund ab. Der Kundschafter zögerte nicht. Er schal tete die Raumsteuerung der Kapsel ein und nahm Kurs auf die Ansammlung von Bau werken. Seine Erregung war noch nicht ab geklungen, aber er fühlte, daß sich etwas in ihm zu verkrampfen drohte. Er wehrte sich verzweifelt gegen dieses Gefühl, aber es ließ sich nicht vertreiben,
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sondern breitete sich gleich einem lähmen den Gift weiter in ihm aus. »Laß mich nicht vergebens gekommen sein!« sagte er inbrünstig. »Zu wem sprichst du, Algonkin-Yatta?« fragte die Psiotronik. »Was?« sagte der Kundschafter verblüfft. »Oh, ich glaube, ich dachte dabei an Atlan. Ich weiß, so etwas ist irrational, aber im Ge gensatz zu dir habe ich Emotionen – und Emotionen verführen manchmal zu irratio nalen Handlungen.« »Es tut mir leid für dich, Algonkin«, erwi derte die Psiotronik.
* Algonkin-Yatta hatte noch nicht die Hälf te der Entfernung zu den Bauwerken zurück gelegt, als er erkannte, daß es sich um Rui nen handelte. Atlantis soll sehr alt sein! sagte er sich. Also ist es nur natürlich, daß es darauf auch verfallene Städte und andere verfallene An lagen gibt! Er merkte aber bald, daß er sich aus Ver zweiflung an diese Gedanken klammerte. In Wirklichkeit ahnte er, daß sich seine Hoff nungen hier nicht erfüllen würden. Der Kundschafter bog einen Kilometer vom Rand der Stadt ab und schlug einen großen Kreis ein, der ihn in einigermaßen si cherer Entfernung einmal um die Ansamm lung von Bauwerken bringen sollte. Als er irgendwo weit entfernt zwei Gestalten über einen Hügel laufen sah, die riesigen Laufvö geln ähnelten, war er versucht, ihnen nach zufliegen. Er vermochte diesen Impuls je doch wieder zu unterdrücken und zu der Vorgehensweise eines Kundschafters von Ruoryc zurückzukehren. Aus einem Kilometer Entfernung sahen die Ruinen der Bauwerke düster und be drückend aus. Eine steife Brise wehte und erzeugte in den Fensteröffnungen, Rissen, Vorsprüngen und Erkern der Ruinen seltsam klagende Töne, die kalte Schauer über den Rücken des Kundschafters jagten.
Am schlimmsten aber dünkte es Algon kin-Yatta, daß sich kein einziges Lebewesen in den Ruinen zeigte. Alles war tot und steril – und doch mußten hier einmal intelligente Lebewesen gewohnt haben. Nach der Umkreisung der Stadt steuerte Algonkin-Yatta die Zeitkapsel mitten zwi schen die Ruinen, dann öffnete er die Schleuse, stellte sich in die Öffnung und richtete seinen Impulsdetektor auf die Wan dungen der düstergrauen Bauten. Kurz darauf starrte er entsetzt auf die An zeigen. Sie wiesen eindeutig aus, daß die Ruinen aus einem Material gebaut worden waren, das man auf von Menschen bewohnten Wel ten unlegierten Stahl nannte. Unlegierte Stähle aber pflegten bei Zufuhr von Feuch tigkeit und Sauerstoff recht schnell zu ro sten, wenn man sie nicht regelmäßig mit Kunststoff besprühte oder anderweitig schützte. Billige Schutzschichten hielten nicht lange, teurere etwas länger. Die Schutzbeschichtung der Ruinen aber bestand aus dem billigsten Plastikmaterial. Dennoch bildete sie überall dort, wo keine Schäden durch äußere Einwirkungen vor handen waren, eine geschlossene Schicht und wo sie aufgerissen oder sonstwie be schädigt war, ließ sich nur spärlicher Ansatz von Rost erkennen. Folglich mußten die jetzigen Ruinen noch vor wenigen Wochen intakte Bauwerke ge wesen sein! Das wiederum bedeutete, daß sich hier vor nicht langer Zeit entweder heftige Kämpfe abgespielt oder Naturkatastrophen ereignet haben mußten, die vielleicht ganz Atlantis verwüstet hatten. Der Wind wurde stärker und entwickelte sich innerhalb weniger Minuten zu einem Sturm, der aus den Ruinen die reinsten Or gelpfeifen machte. Die Zeitkapsel wurde von besonders starken Böen bedenklich ge gen die Ruinen abgedrängt. Algonkin-Yatta verließ die Ruinenan sammlung und steuerte aufs freie Land hin aus. Langsam ließ er die Kapsel in eine tiefe
18 Schlucht sinken, deren Ränder verrieten, daß hier noch vor kurzer Zeit mächtige Wasser massen mit großer Geschwindigkeit hin durchgeschossen waren. Also eine Naturkatastrophe! dachte er – und ihm fiel ein, daß die Terraner ihm er zählt hatten, vor dem Auftauchen des Neuen Atlantis wären auf der Erde Gerüchte umge laufen, die besagt hatten, daß das Neue At lantis auch eine neue Sintflut bringen würde. Konnte es sein, daß das Neue Atlantis auch hier, wo immer das war, eine Sintflut hervorgerufen hatte? Zum erstenmal wurde es Algonkin-Yatta klar, daß er überhaupt nicht wußte, ob er sich auf einem gewöhnlichen Planeten be fand, auf dem das Neue Atlantis aufge pfropft worden war oder ob das Neue Atlan tis für sich allein im Raum trieb. Er musterte die Ortungsanzeigen, schüt telte den Kopf und akzeptierte dann die Tat sache, daß sie verrückt spielten. Sie zeigten Werte an, die einfach unglaublich waren und sich zudem noch gegenseitig widersprachen. Eine Weile versuchte Algonkin-Yatta, sich einen Reim darauf zu machen, dann gab er es auf. »Jetzt brauchte ich die Psiotronik!« stellte er fest. »Das kann nicht Atlantis sein«, sagte die Stimme Loggys. Im nächsten Moment tauchte die Gestalt Loggys halb durchsichtig und scheinbar von wallendem grauen Rauch erfüllt, über dem Steuerpult auf. »Aber sicher ist das Atlantis!« wider sprach der Kundschafter und deutete auf die Anzeigen des Spürgeräts. »Das sind genau die gleichen modifizierten Tachyonenimpul se, die das Neue Atlantis als Reststrahlung sowohl auf der Erde als auch auf Loors zu rückließ – und sie kommen von dem Him melskörper, über dem wir schweben.« »Es herrscht keine Identität, sondern nur Analogie«, entgegnete das seltsame Wesen. »Ich spüre es, obwohl ich nicht sagen könn te, woran du es erkennen kannst.« Der Kundschafter dachte darüber nach,
H. G. Ewers dann sagte er: »Ich kann nur Fakten anerkennen, die meßbar sind. Vielleicht erhalte ich Klarheit über die Natur dieses Himmelskörpers, wenn ich uns ein paar Jahre in die Vergan genheit versetze.« Fragend sah er in Loggys Richtung; aber sein Partner war schon wieder verschwun den. Algonkin-Yatta konzentrierte sich auf die Zeitversetzung, die auf jeden Fall exakt be stimmt werden mußte, wenn er anschließend auf die gleiche Zeitebene zurückkehren wollte, auf der er sich befand. Danach fuhr er mit der rechten Hand langsam über die farbigen Linien, die die Innenfläche der Kapsel bedeckten und eine Art Schaltmuster darstellten, mit der eine kontrollierte Zeit versetzung möglich wurde. Wieder blitzten die bekannten goldfarbe nen Lichtpunkte auf, dröhnten die dumpf hallenden Gongschläge. Erwartungsvoll schaute Algonkin-Yatta auf die Bildschirme der Außenbeobachtung. Doch die nebelarti gen Schleier, die sonst eine Bewegung über die Zeitspur ankündigten und begleiteten, blieben aus. Statt dessen erloschen die goldfarbenen Lichtpunkte. Dort, wo sie geleuchtet hatten, blinkten grüne Lichter, dann erloschen auch sie. Auf den Bildschirmen der Außenbeobach tung hatte sich nichts verändert. Erschüttert setzte sich der Kundschafter. »Es ist nicht Atlantis«, stellte er fest. »Es ist ein Analogkörper, der zwar die gleiche Masse besitzt wie Atlantis, aber in eine di mensional übergeordnete Strukturblase gehüllt ist, die einen Kontakt mit dem nor malen Kontinuum verhindert und auch keine Zeitversetzung in ihrem Innern zuläßt.« Und das bedeutet, daß ich für unbestimm te Zeit zum Gefangenen dieses Analogkör pers geworden bin! fügte er in Gedanken hinzu.
4.
Die Zeitpanne Die schemenhafte Erscheinung Loggys schwebte aus der Mini-Psiotronik der Zeit kapsel und nahm über dem Boden der Kap sel feste Formen an. »Hast du es geschafft?« erkundigte sich Algonkin-Yatta, während er die Zeitkapsel dicht über die Oberfläche eines Schlamm sees steuerte, aus dem zahlreiche kalkweiße Bergspitzen gleich den Zahnruinen eines toten Ungeheuers ragten. »Was meinst du damit?« fragte Loggy. »Du sagtest mir einmal, daß du eines Ta ges immun werden würdest gegen den Zwang, immer wieder in andere Zeitebenen verschoben zu werden«, antwortete der Kundschafter. »Ach, so«, meinte Loggy. »Das habe ich leider noch nicht geschafft, aber in der Nähe des Analogkörpers werde ich diesem Zwang wahrscheinlich nicht mehr erliegen. Ich bin also daran interessiert, daß wir möglichst lange hierbleiben. Dennoch frage ich dich, wonach du suchst.« »Nach Zeugen von Aktivitäten intelligen ter Lebensformen«, erklärte Algonkin-Yatta. »Wenn dieser Analogkörper etwas mit At lantis zu tun hat, dann finde ich vielleicht Anzeichen dafür, daß Atlan auf Atlantis war und wohin Atlantis verschwunden ist.« »Dorstellarain!« sagte Loggy scheinbar zusammenhanglos. Der Kundschafter blickte seinen Partner verblüfft an und hätte dabei die Kapsel bei nahe gegen einen Felsgipfel gesteuert. Im letzten Augenblick konnte er sie nach rechts ziehen. Dadurch geriet ein allmählich anstei gender Felsrücken in sein Blickfeld. »Was war das?« fragte er. »Ich weiß es nicht, Algonkin«, erwiderte Loggy verwirrt. »Ich sprach den Namen aus, bevor es mir bewußt wurde. Es muß mir ein gegeben worden sein.« »Magie«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Du sprichst natürlich stärker auf Magie an, weil du selbst die Fähigkeit besitzt, magische Prozesse zu schalten. Dorstellarain ist dem nach der Name einer Person, die uns eventu ell weiterhelfen kann.«
19 Nachdenklich blickte er über die Schlam massen des Sees. »Die Sintflut muß fürchterlich gewütet haben. Sie kann nur von jemandem überlebt worden sein, der entweder über ausreichen de technische Hilfsmittel verfügte oder sich aber zu der Zeit auf einer Erhöhung aufhielt, die über dem höchsten Wasserstand lag.« Sein Blick wurde von dem Schlammsee abgelenkt und gleichsam mit magischer Kraft auf den Felsrücken rechterhand ge lenkt. Er wanderte ihn hinauf bis dorthin, wo er sich in dichten Wolken verlor. »Sein höchster Punkt dürfte oberhalb der Linie des höchsten Wasserstands liegen«, meinte er und steuerte die Zeitkapsel auf den Felsrücken zu. »Was für ein Zufall, daß der Felsrücken in dem Augenblick in Sicht kam, als du den Namen Dorstellarain erwähn test!« »Magische Kräfte lenken die Geschicke des Lebendigen und des Nichtlebendigen in nerhalb des Bannkreises der Dimensions schleppe«, sagte Loggy monoton. Der Kundschafter sah, daß sein Partner die Augen geschlossen hatte und begriff, daß etwas Unbegreifliches ihn als Medium benutzte, um ihm, dem Kundschafter, Infor mationen zukommen zu lassen. Um den Analogkörper schien eine magische Sphäre zu liegen, die auf rätselhafte Weise eine Art Eigenleben entwickelte. Stöhnend öffnete Loggy die Augen. »Was habe ich gesagt?« fragte er unsicher. »Du sagtest, der Analogkörper sei eine Dimensionsschleppe«, antwortete AlgonkinYatta. »Aber was ist eine Dimensionsschlep pe? Eine hinterher geschleppte Dimension oder etwas, das durch eine andere Dimensi on geschleppt wird – und zwar von einem ziehenden Objekt, das eventuell durch nor male Dimensionen oder durch unbekannte Dimensionen reist.« »Atlantis!« rief Loggy. »Atlantis ist der Schlepper, der den Analogkörper in einer anderen Dimension als er selbst hinter sich her zieht – oder gezogen hat!« Der Kundschafter steuerte die Kapsel in
20 die Wolken hinein und zog sie vorsichtshal ber in steilerem Winkel als zuvor höher. Er wollte nicht leichtfertig gegen eine Fels wand prallen. Nach einiger Zeit ließ die Zeitkapsel die Wolkenschicht hinter sich zurück. Auf den Bildschirmen war voraus eine weite Hoche bene zu erkennen, im Hintergrund von ei nem nackten Bergmassiv begrenzt und mit einem See, dessen kreisrunde Form auf eine vulkanische Entstehungsgeschichte schlie ßen ließ. Die grünen Ufer des Sees und das sich im Winde wiegende Schilf verrieten eindeutig, daß hier keine Sintflut gewütet hatte. Und ein aus unterschiedlichen Brettern zusammengenageltes zeltförmiges Bauwerk bewies, daß mindestens ein intelligentes Le bewesen die Sintflut überlebt hatte. Ohne Scheu steuerte Algonkin-Yatta die Zeitkapsel neben die Hütte, verankerte sie mit einem Kraftfeld dicht über dem Boden und stieg aus. Niemand war zu sehen, aber ein paar von Fliegen bedeckte Geflügelknochen verrieten, daß jemand vor nicht allzu langer Zeit eine Mahlzeit gehalten hatte. »Dorstellarain!« rief Algonkin-Yatta. Jemand murmelte etwas Unverständli ches. Da die Laute aus dem Innern der Hütte gekommen waren, ging der Kundschafter zu ihr und bückte sich, um das Halbdunkel dar in zu mustern. Eine von Pelzen größtenteils verhüllte Gestalt regte sich, stieß Laute einer unbe kannten Sprache aus und kroch schließlich ins Freie. Algonkin-Yatta sah, daß es sich bei dem Fremden um einen Humanoiden männlichen Geschlechts handelte, denn das Wesen trug einen Stoppelbart. Er war ein wahrer Hüne und überragte den Kundschaf ter um mindestens sechzig Zentimeter, maß also zirka 2,20 Meter. Aber außer dem verb lichenen »Besitzer« der Geflügelknochen schien er seit mindestens einer Woche nicht einen Bissen zwischen die Zähne bekommen zu haben. Sein Gesicht war tief eingefallen,
H. G. Ewers und das, was Algonkin-Yatta von seinem Körper zu sehen bekam, sah nicht besser aus. Langsam richtete Dorstellarain sich auf und musterte den Kundschafter aus getrüb ten dunkelblauen Augen. Nach einigen Mi nuten wurde sein stumpfer Blick jedoch hell und verriet die Intelligenz, die hinter den Augen steckte. Die Art, wie Dorstellarain auf ihn herab sah, verriet Algonkin-Yatta rechtzeitig, was er plante. Als der Hüne sich auf den Kund schafter stürzte, wich er nicht aus, sondern tat einen Schritt nach vorn, bückte sich und richtete sich im nächsten Augenblick mit der Kraft eines hochschnellenden Astes wieder auf. Dorstellarain gab einen dumpfen Laut von sich und flog einige Meter durch die Luft. Unmittelbar vor der Zeitkapsel landete er unsanft auf dem Gesicht. Der Kundschafter wartete, bis er sich wie der aufgerappelt hatte, dann öffnete er einen Konzentratriegel, brach ein Stück ab, das in seinem Nährwert und Wirkstoffgehalt einer vollwertigen Mahlzeit entsprach und hielt es Dorstellarain auf der ausgestreckten Hand hin. Als der Abgemergelte den Bissen nur mißtrauisch anstarrte, biß Algonkin-Yatta ein Stück ab und aß es selbst. An Dorstella rains Augen war zu sehen, wie die Gier über das Mißtrauen siegte. Er griff nach dem Konzentrat, wich ein paar Schritte zurück und aß es dort hastig, dabei ständig den Kundschafter beobachtend. Als Dorstellarain seine Mahlzeit beendet hatte, wirkte er wie verwandelt. Er lächelte Algonkin-Yatta freundlich an und bedeutete ihm durch Gesten, daß er seinen Angriff auf ihn bedauerte. Der Kundschafter lächelte zurück und sagte: »Sprechen wir nicht mehr davon, Dorstel larain, sondern fangen wir mit dem Sprach kursus an. Mein Name ist Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc …«
Die Zeitpanne
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* Es dauerte vier Stunden, bis eine differen zierte Form der Kommunikation zwischen Algonkin-Yatta und Dorstellarain möglich war. Das lag nicht etwa an einer Unzuläng lichkeit von Algonkins Übersetzungsgerä ten, sondern daran, daß der Hüne gleich am Anfang positiv auf das Wort Atlantis rea gierte. Aus diesem Grund entschloß sich der Kundschafter, unverzüglich die auf Atlantis gebräuchliche Sprache zu erlernen, denn er war sicher, daß er demnächst Atlantis betre ten und dort die Suche nach Atlan wieder aufnehmen würde. Von Dorstellarain erfuhr Algonkin-Yatta später, daß Atlantis eigentlich Pthor hieß (und die auf Pthor gebräuchliche Sprache Pthora genannt wurde). Aber in erster Linie interessierte sich der Kundschafter dafür, ob Dorstellarain jemals etwas von Atlan gehört und eventuell erfahren hatte, wo der Arkoni de sich befand. »Atlan?« fragte Dorstellarain und kratzte sich in seinem verdreckten rostroten Haar. »Was willst du von Atlan?« »Du weißt also, wer Atlan ist«, stellte Al gonkin-Yatta fest. »Ich will weiter nichts, als ihn persönlich kennenlernen – und viel leicht gestattet er mir, ihm zu helfen.« »Du kennst ihn nicht, Kundschafter?« fragte Dorstellarain. »Ich kenne ihn sogar sehr gut, denn ich bin seit Jahren auf seiner Spur und habe mit zahlreichen Intelligenzen gesprochen, die ihn persönlich kannten. Und das ist es, was ich will: ihn endlich persönlich kennenler nen und ihm die Hand drücken.« »Dann brauchst du ihm nur nach Pthor zu folgen«, meinte Dorstellarain trocken. »Er ist nämlich mit einem gewissen Grizzard und einer idiotischen Brandstifterin nach Pthor gegangen, um es unter seine Kontrolle zu bekommen.« »Dann ist er wahrscheinlich inzwischen schon König von Atlantis!« meinte der Kundschafter erfreut. »Wie komme ich nach
Pthor, mein Freund?« »Überhaupt nicht«, antwortete Dorstella rain. »Pthor hat die Verbindung zu seiner Dimensionsschleppe gekappt und ist mit un bekanntem Ziel gestartet. Die Trennung ist auch der Grund dafür, warum die Schleppe von Beben geschüttelt und von einer großen Flut aus Schmelzwasser ersäuft wurde – und warum wir beide hier verhungern werden, falls du kein Zauberer bist.« Algonkin-Yatta hatte das Gefühl, aus großer Höhe abzustürzen. Eben noch war die Freude über Atlans Erfolg rauschartig über ihn gekommen – und nun entnahm er Dorstellarains Worten, daß Atlans Pläne of fenbar fehlgeschlagen waren, denn andern falls hätte der Arkonide es niemals zugelas sen, daß die Dimensionsschleppe verwüstet wurde. »Die Vorräte, die du in deinem komi schen Fahrzeug hast, werden nämlich nicht ewig reichen«, fuhr Dorstellarain fort. »Und an diesem Ort, an dem die Flut nicht alles Leben getötet hat, gibt es außer ein paar Schwimmvögeln, Insekten, Schlangen und absterbenden Schneepilzen nichts Eßbares.« Er deutete auf seine kümmerliche Bretter hütte. »Auf dem Boden meiner Hütte wurde ich hier angeschwemmt, die übrigen Bretter fand ich, als die Flut zurückgegangen war. Aber ich vermochte nichts zu retten, was sich als Jagdinstrument gebrauchen ließe. Der Schwimmvogel, dessen Knochen hier herumliegen, war krank und konnte nicht mehr fliegen, sonst hätte ich ihn nicht mit ei nem Stein totwerfen können. Die Schneepil ze, die es hier gibt, verfaulen allmählich, weil die Temperatur sich erhöht hat.« Dorstellarain spie auf den Boden: »Was immer mit Pthor geschieht, es wird uns nichts nützen, denn wenn wir nicht ver schmachten, werden wir früher oder später zusammen mit der Dimensionsschleppe in die Schwarze Galaxis zurückgeholt, aus der Pthor angeblich stammt. Wenn wir dann noch leben, werden die Mächte der Schwar zen Galaxis uns als ihre Sklaven halten.
22 Aber ich werde mich lieber in diesen See stürzen und darin den Tod suchen, als es so weit kommen zu lassen.« »Das wäre ein Fehler«, erwiderte Algon kin-Yatta. »Atlan würde so etwas bestimmt nicht tun, sondern versuchen, die Mächte der Schwarzen Galaxis zu besiegen.« »Ich bin nicht Atlan«, erklärte Dorstella rain dumpf. »Niemand kann sein wie Atlan!« rief der Kundschafter aus. »Aber auch ein Kund schafter von Ruoryc gibt niemals auf. Dor stellarain, wenn du willst, werden wir ge meinsam um unsere Freiheit kämpfen und versuchen, Pthor und damit Atlan zu errei chen.« Er unterbrach sich, als an der Oberfläche der Zeitkapsel in kurzen Abständen grüne Lichter aufflammten. Warnsignale! Mit wenigen Schritten hatte der Kund schafter die Kapsel erreicht. Er sprang hin ein und überflog die Kontrollen. »Was ist los, Algonkin-Yatta?« fragte Dorstellarain und steckte neugierig den Kopf in die Röhrenschleuse, die in den In nenraum der Kapsel führte. »Anscheinend hat die Dimensionsschlep pe Fahrt aufgenommen und schickt sich an, auf Überlichtgeschwindigkeit zu beschleuni gen«, antwortete der Kundschafter. »Oh, ihr Götter des Regenflusses!« rief Dorstellarain verzweifelt. »Helft mir! Ich habe euch schließlich immer Opfer gebracht, als ich noch Pirat war.« »Wovor fürchtest du dich?« fragte Algon kin-Yatta. Dorstellarain wandte ihm sein vor Entset zen entstelltes Gesicht zu. »Begreifst du denn nicht!« rief er. »Man holt die Dimensionsschleppe heim in die Schwarze Galaxis! Das bedeutet, daß wir le bend in die Klauen der Dunklen Mächte fal len.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Al gonkin-Yatta. »Ich werde dich einfach mit nehmen. Sobald die Dimensionsschleppe die Lichtgeschwindigkeit überschreitet und sich
H. G. Ewers durch ein anders strukturiertes Kontinuum bewegt als jetzt, dürfte ihre Strukturblase den Kontakt mit der Umgebung nicht mehr verhindern. Dann verlassen wir diesen Ana logkörper – und außerhalb seines Einflußbe reichs gehen wir durch die Zeit zu meinem Kundschafterschiff, das uns im Raum dort hin bringen wird, von wo aus wir in der Zeit Atlantis erreichen.« Dorstellarains Gesicht hellte sich auf. »Bist du sicher, daß du das schaffst, Kundschafter?« »Wir werden sehen«, erwiderte AlgonkinYatta. »Steig ein!«
* Als die Kontrollen anzeigten, daß sich die unsichtbar um die Dimensionsschleppe schließende Strukturblase auflöste bezie hungsweise in dem Kontinuum aufging, durch das die Schleppe mit Überlichtge schwindigkeit raste, fuhren Algonkin-Yattas Finger über die Zeitschaltlinien der Kapsel. Gespannt beobachtete er die goldfarbenen Lichtpunkte, die daraufhin an der Innenwan dung aufblitzten – und er lauschte den dumpfen Gongschlägen. Vor sich sah er au ßerdem Dorstellarains Gesicht, das von einer Mischung aus Grauen und Hoffnung ge zeichnet war. Als sich auf den Bildschirmen der Außen beobachtung die für Zeitverschiebungen ty pischen Schleier zeigten, atmete der Kund schafter auf. Zu früh! Hinter den Schleiern tauchten nicht die bekannten Schemen auf; statt dessen wurde es finster. Und in der Finsternis bildeten sich grell leuchtende Schnüre oder Schlangen. Algon kin-Yatta vermochte nichts Genaues zu er kennen. Er schloß geblendet die Augen, dann suchten seine Hände nach einem Halt, als die Zeitkapsel in heftige Schwingungen versetzt wurde. Er hatte das Gefühl, als wäre die Kapsel zu einem Tennisball für imagi näre Giganten geworden, die sich mit
Die Zeitpanne Schmetterschlägen gegenseitig auszutrick sen versuchten. Von überall zugleich kamen die gellenden Entsetzensschreie eines ehemaligen Piraten von Pthor, dessen Nerven unter dieser letz ten Anspannung gerissen waren. Algonkin-Yat ta schloß die Augen und preßte die Handflä chen gegen seine Ohren. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, ebb ten die Schwingungen ab. Dorstellarain ver stummte – und kurz darauf verriet ein dump fer Aufprall, daß der Pthorer bewußtlos zu sammengebrochen war. Algonkin-Yatta nahm die Hände von den Ohren, öffnete die Augen und würgte eine aufsteigende Übelkeit hinunter. Mit aller Willenskraft konzentrierte er sich darauf, seine Lage zu überschauen. Die goldfarbenen Lichtblitze an den Wän den waren erloschen, und auch die Gong schläge waren verstummt. Die Kontrollen zeigten an, daß die Kapsel in eine strukturell stabile Lage glitt – und auf den Bildschir men der Außenbeobachtung waren der Bergsee und die Bretterhütte Dorstellarains zu sehen. Aus den Kontrollen kroch ein matt zuckendes Flämmchen und flüsterte kaum hörbar: »Wir kommen nicht weg, Algonkin. Die Kapsel ist temporär auf die Schleppe fi xiert.« Der Kundschafter wischte sich über die Augen. »Loggy?« fragte er unsicher und besorgt. »Ja!« flüsterte das Flämmchen. »Es ist noch nicht schlimm. Der Versuch hat nur meine sechsdimensionale Aufladung ge schwächt.« »Aber bei einem zweiten Versuch würde es schlimm für dich werden«, sagte Algon kin-Yatta. »Ich verstehe.« »Nimm keine Rücksicht auf mich!« sagte Loggy. Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Das wäre ja noch schöner, Freund und Partner. Selbstverständlich stelle ich die Versuche ein. Aber ich denke, daß ich eine
23 andere Möglichkeit finde, uns von der Di mensionsschleppe zu lösen – egal ob zeitlich oder räumlich.« Dorstellarain regte sich. »Gynsaal!« flüsterte er. »Was meint er?« wandte Algonkin-Yatta sich an Loggy. Doch das seltsame verwand lungsfähige Wesen war schon wieder ver schwunden. Dorstellarain wälzte sich auf den Rücken, verdrehte die Augen und sagte geistesabwe send: »Der Außenwelt zu zürnen, wäre töricht; sie kümmert sich nicht darum.« Algonkin-Yatta seufzte, dann erinnerte er sich an die Flasche Calvados, die er von dem reichlichen Vorrat, den der Barde Juan Pincenez ihm und Anlytha geschenkt hatte, in der Zeitkapsel verstaut hatte. Er öffnete sie, goß einen Trinkbecher voll, hob Dorstel larains Kopf an und setzte ihm den Becher an die Lippen. »Trink!« befahl er. Dorstellarain gehorchte mechanisch und leerte den Becher in einem einzigen dursti gen Zug. Danach holte er tief und geräusch voll Luft, riß die Augen weit auf und fragte: »Woher kommt dieser göttliche Nektar?« »Von einem Planeten namens Erde«, ant wortete der Kundschafter. »Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Mich interessiert, was du mit dem Wort ›Gynsaal‹ gemeint hast.« »Gynsaal?« fragte Dorstellarain. »Habe ich das gesagt? Dann muß ich es unabsicht lich gesagt haben. Es ist nur der Name der einstigen Zentrale, von der aus die Dimensi onsschleppe beherrscht wurde, bevor die Katastrophe alles zerstörte.« Algonkin-Yatta dachte über diese Ant wort nach, dann meinte er: »Vielleicht ist nicht alles zerstört. Jeden falls kann es nicht schaden, wenn wir uns dort umsehen. Kannst du mir den Weg zei gen, Dorjan?« »Dorjan?« fragte Dorstellarain verwun dert. »Dorjan oder Dorian; such dir einen Na men aus!« erklärte Algonkin-Yatta. »Dein
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vollständiger Name ist mir zu lang. Du darfst mich dafür Algonkin nennen.« »Einverstanden«, erwiderte Dorstellarain. »Nenne mich Dorjan, Algonkin! Hm, ich denke, ich könnte mich an den Weg nach Gynsaal erinnern, wenn ich noch einen Be cher dieses Gedächtnisauffrischers trinke.« »Einen Becher opfere ich noch, aber nicht mehr«, sagte der Kundschafter.
* Anderthalb Stunden später schwebte die Zeitkapsel über einer Trümmerwüste, die zu zwei Dritteln unter angeschwemmtem Schlamm und Sand begraben lag. »Wenn ich nicht wüßte, daß das Gynsaal ist, ich würde es bezweifeln. Das hat keine Ähnlichkeit mehr mit der Zentrale, wie ich sie kennengelernt habe.« Ratlos starrte Dor stellarain auf die Schirme. Algonkin-Yatta blickte von seinen Kon trollen hoch und sagte: »Die Instrumente der Kapsel messen drei Stellen an, die sich von ihrer toten Umge bung durch energetische Aktivität großer Bandbreite abheben.« Er steuerte einen Punkt der Alptraumland schaft an, an dem verdrehte Metallkonstruk tionen aus meterhohem Schlamm ragten. »Viereinhalb Meter unter dem Schlamm arbeitet etwas, das die Zeitschaltung beein flußt«, stellte er fest. »Paß auf!« Algonkin-Yatta erhob sich und fuhr mit den Fingern eine der Linien an der Innen wand entlang. Nichts geschah. »Ich sehe nichts«, meinte Dorstellarain. »Das meine ich ja«, erwiderte der Kund schafter. »Die fremde Energie löscht an scheinend jede Zeitschaltung in dem Augen blick, in dem sie vorgenommen wird.« »Es handelt sich um magische Energie, die von außerhalb ankommt, hier modifiziert wird und anscheinend dafür sorgt, daß die Dimensionsschleppe mit allem, was sich darauf befindet, in die Schwarze Galaxis ge holt wird«, erklärte Loggy, der wieder in hu manoider, wenn auch zwergenhafter Gestalt
erschienen war. »Was ist das?« erwiderte Dorstellarain und musterte die Erscheinung mit finsterem Blick. »Mein Freund und Partner Loggy«, sagte Algonkin-Yatta. »Und woher ist er gekommen?« fragte Dorstellarain. »Er pendelt laufend zwischen den Zei ten«, erklärte der Kundschafter. »Aber nicht für immer«, stellte Loggy fest. »Warum zerstörst du die Anlage nicht einfach, Algonkin?« »Du denkst auch, daß danach eine Flucht von der Schleppe möglich sein wird?« fragte Algonkin-Yatta. »Ich bin sicher«, antwortete Loggy. »Dann werden wir alle drei Anlagen zer stören, die hier in Gynsaal noch arbeiten«, erklärte der Kundschafter. »Aber ich möchte nach ihrer Zerstörung sofort verschwinden, wenn das überhaupt möglich ist, denn ich rechne damit, daß die Herren der Schwarzen Galaxis sehr hart reagieren, wenn ihre magi sche Verbindung zur Dimensionsschleppe zerrissen wird.« »Aha, du überlegst, wohin wir verschwin den sollen!« rief Loggy. »Ist das nicht egal?« Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Nein, denn ohne fremde Hilfe werden wir wahrscheinlich die Spur von Atlantis und damit auch von Atlan nicht wieder auf nehmen können. Und ich weiß auch schon, wer uns helfen wird.« »Wer?« fragte Dorstellarain. »Perry Rhodan«, sagte Loggy. »Perry Rhodan und die besten Wissenschaftler der Erde«, erklärte Algonkin-Yatta. »Perry als Freund Atlans wird alles tun, um mir bei der Suche nach ihm zu helfen.« »Die Erde ist ein Planet?« fragte Dorstel larain. Als Algonkin-Yatta bejahte, sagte er freudig erregt: »Das ist gut, denn ich wollte schon immer einen echten Planeten kennen lernen, der noch nicht von Atlantis verdor ben wurde. Gibt es auf der Erde Meere und Schiffahrt darauf?«
Die Zeitpanne »Sicher«, antwortete der Kundschafter. »Dann werde ich mir ein gutes Schiff ka pern und mir eine Mannschaft suchen, mit der ich die Meere unsicher und uns reich machen kann!« brüllte Dorstellarain. »Wenn du gern ausgelacht wirst, dann versuche es!« sagte Algonkin-Yatta. »Die Erde ist die Zentralwelt eines großen Ster nenreichs. Was meinst du, welche Chancen der ehemalige Pirat von Pthor hätte, seine Laufbahn auf der Erde fortzusetzen!« »Hm!« brummte Dorstellarain verlegen. »Aber ich möchte nicht untätig irgendwo herumsitzen.« »Du brauchst nur auf der Dimensions schleppe zu bleiben«, meinte Loggy. »Dann würden die Herren der Schwarzen Galaxis schon dafür sorgen, daß du dich bewegst.« »Als wir zuletzt auf der Erde waren, schrieb man dort den Februar des Jahres 2649«, überlegte der Kundschafter laut. »Vor diesem Termin möchte ich nicht an kommen, denn dann müßte ich Perry Rho dan erst umständlich erklären, woher wir kommen und daß wir später noch einmal ge kommen werden waren …« »Hä?« unterbrach Dorstellarain ihn be griffsstutzig. »Das Vokabular des Zeitreisenden ist für Normale verwirrend«, meinte der Kund schafter. »Manchmal komme ich selbst durcheinander. Aber, halten wir uns nicht damit auf! Ich denke, wenn wir etwa Mitte Oktober des Jahres 2649, also rund acht Mo nate nach unserem ersten Besuch ankom men, dürfte es keine Verwirrung geben.« Er führte mit Hilfe der Mini-Psiotronik, einem Ableger der Psiotronik des Kund schafterschiffs, einige Berechnungen durch. Anschließend stellte er drei handliche Sprengsätze auf einen gemeinsamen Explo sionszeitpunkt ein. Da die Zeitkapsel weder mit Strahlwaffen noch mit Abwurf- oder Abschußvorrichtun gen ausgestattet war, mußte der Kundschaf ter die Sprengsätze aus der offenen Schleuse auf die Stellen in der Schlammschicht wer fen, unter der sich die energetisch aktiven
25 Anlagen befanden. Als das erledigt war, steuerte Algonkin-Yat ta die Zeitkapsel auf eine Höhe von drei Ki lometern und wartete dort. Die überlicht schnell arbeitenden Instrumente der Kapsel zeigten die drei gleichzeitigen Explosionen an, bevor die Besatzung sie sehen konnte. Ohne zu zögern, fuhr der Kundschafter die Zeitschaltlinien entlang und erzeugte das Schaltmuster, das er mit Hilfe der MiniPsiotronik errechnet und sich eingeprägt hat te, damit es im entscheidenden Augenblick keine Verzögerung gab. Und plötzlich schien das Universum zu bersten. Algonkin-Yatta sah flammendrote Risse auf den Bildschirmen – und einen Herz schlag später nachtdunkle Schwärze, aus der sich nach kurzer Zeit zwei Feuerspiralen schälten: die beiden Galaxien, zwischen de nen sich die Zeitkapsel befand. Von der Dimensionsschleppe aber war keine Spur mehr zu sehen. Sie trieb in einer anderen Zeitphase und würde noch in Tau senden von Jahren ziellos dahintreiben, wenn es den magischen Kräften der Schwar zen Galaxis nicht gelang, sie wieder einzu fangen und zurückzuholen. Dafür hing etwas anderes düster und kom pakt ganz in der Nähe der Kapsel im Raum: ein ovales Raumschiff mit grünlich schim mernder glasähnlicher Außenhülle von drei undsechzig Metern Länge, einem Maxi mumdurchmesser von neununddreißig Me tern und verschiedenen Ausbuchtungen, de ren Zweck von Fremden nicht so leicht er kennbar war. Das Kundschafterschiff! Dorstellarain starrte lange auf den Bild schirm, der das Schiff des Kundschafters von Ruoryc zeigte, dann fragte er: »Kann es denn auch durch die Zeit reisen, Algonkin?« »Nein«, antwortete der Kundschafter mit hintergründigem Lächeln. »Wie kommt es dann hierher?« wollte der ehemalige Pirat wissen. »Wir sind doch durch die Zeit gereist, um zu einem be
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stimmten Termin auf dem Planeten Erde an zukommen, oder? Wieso finden wir das Kundschafterschiff dann in derselben Zeit?« »Das ist mein Geheimnis«, erklärte Al gonkin-Yatta. »Aber ich will dir einen Denkanstoß geben: Alles existiert in jedem Augenblick.« Dorstellarain blickte ihn verwirrt an, aber der Kundschafter ließ sich davon nicht beir ren. Er schaltete das Funkgerät ein und sag te: »Algonkin an Anlytha! Wir möchten ein schleusen.« Eine ganze Weile war nur leises Knistern und Rauschen zu hören, dann sagte eine zar te Stimme nach einer Folge zwitschernder Töne: »Na, endlich! Ich bin schon uralt gewor den beim Warten auf dich. Hoffentlich bleibst du mal ein paar Jahre in der gleichen Zeitphase wie ich.« »Später, Anlytha«, erwiderte Algonkin-Yat ta ungeduldig. »Zuerst müssen wir zur Erde fliegen und …« »Zur Erde!« jubelte Anlytha. »Zur Welt der milliardenfachen Kostbarkeiten!« Der Kundschafter seufzte. »Ich wollte, du würdest dir bei deinen Diebereien einmal die Finger einklemmen.« »Das wird nicht geschehen, Algonkin!« erwiderte Anlytha. »Warum schleust du nicht endlich ein?« Ihr Gesicht erschien auf einem Bildschirm – und es hatte keinen Ausschlag!
5. Das Kundschafterschiff kam nach langem Überlichtflug innerhalb eines dunklen Gas nebels zum relativen Stillstand. Dorstellarain blickte nacheinander auf alle Bildschirme der Außenbeobachtung, dann fragte er enttäuscht: »Ist die Erde so klein, daß man sie mit dem bloßen Auge nicht sehen kann?« Der Kundschafter lachte. »In diesem Nebel gibt es keinen Planeten. Es soll uns auch nur als Versteck für das
Kundschafterschiff dienen. Wir aber werden mit der Zeitkapsel die letzte Etappe des Zeit phasenwechsels bis zum Oktober 2649 be wältigen.« »Ich dachte, wir wären schon in der richti gen Zeit«, sagte Dorstellarain verwundert. »Verwirrend sind die Geheimnisse von Zeit und Raum«, sagte Algonkin-Yatta und nahm die entscheidenden Schaltungen vor. Aber noch während er die letzten Linien entlangfuhr, sah er, wie der Anfang des Mu sters aufleuchtete – und wie die leuchtende Linie von denen abwich, die er berührt hatte. »Algonkin!« kreischte Anlytha. Draußen legte sich ein undurchdringlicher Schleier um die Kapsel, verbarg sie vor der Außenwelt und verbarg die Außenwelt vor den organischen und elektronischen Augen der Kapselinsassen. Die gewohnten goldfar benen Lichtpunkte glommen an der Innen wandung auf. Dumpf hallende Schläge er tönten. Es war alles wie immer, nur hatten die Schaltlinien dem Steuermann nicht ge horcht. Die Konsequenzen waren dem Kundschafter klar. Dennoch versuchte er nicht, das Verhängnis durch erneutes Nach ziehen der richtigen Linien vielleicht abzu wenden, denn jeder Eingriff konnte eventu ell die Fehlleistung der Kapsel noch vergrö ßern. Nur Loggy konnte vielleicht noch helfen. Aber er war nicht mehr da und erschien auch dann nicht, als Algonkin-Yatta nach ihm rief. Sekunden später hätte auch er nichts mehr ändern können, denn es gab einen heftigen Knall, die Lichtpunkte erloschen schlagartig, und aus einem Riß der Innenwandung drang gelblicher Rauch. Algonkin-Yatta und Dorstellarain ver suchten hustend, die Glut auszutreten, die sich ihren Blicken entzog, aber als Ursache des Rauches vorhanden sein mußte. Es ge lang ihnen nicht. Immer dichter wurde der Rauch in der Innenzelle. »Wir müssen hinaus!« schrie Anlytha ver zweifelt. »Sonst verbrennen wir!«
Die Zeitpanne »Helme schließen!« erwiderte der Kund schafter. Er und Anlytha schlossen die Druckhelme ihrer Raumkombination. Dorstellarain starrte mit tränenden Augen um sich. »Willst du mich ersticken lassen!« schrie er den Kundschafter an. »Ich muß landen!« gab Algonkin-Yatta zurück. Er sah, daß Dorstellarain sich aus Verzweiflung auf ihn stürzen wollte und be täubte ihn mit einer Kopfnuß. »Tut mir leid, aber ich kann nicht landen, wenn du mich dauernd anzugreifen versuchst«, sagte er. »Wo willst du eigentlich landen?« fragte Anlytha. »Ich denke, in der Nebelwolke gibt es keinen Planeten.« »Ich hatte die Raumsteuerung der Kapsel programmiert und gleichzeitig mit der Zeit steuerung eingeschaltet«, gab Algonkin-Yat ta zurück, während er die Automatik aus schaltete und die Manuellbedienung akti vierte. »Wenn sie nicht auch verrückt ge spielt hat, müßten wir dicht über der Erd oberfläche sein.« Endlich gelang es ihm, den Rauch von ei nem Bildschirm fortzuwedeln, so daß er we nigstens sehen konnte, was sich unter der Kapsel befand. »Wir sind doch noch ziemlich hoch«, er klärte er. »Durch eine dünne hohe Wolken schicht erkenne ich ein Meer, in das eine stiefelförmige Halbinsel ragt. Ich gehe ein fach senkrecht hinab, damit wir nicht noch von einem voreiligen Knopfdrucksoldaten abgeschossen werden. Halte dich fest, Anly tha!« Die Zeitkapsel raste mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit durch die Wolken schicht. Algonkin-Yatta fürchtete nicht wirklich den Übereifer eines Angehörigen der terranischen Raumverteidigungsorgani sation, denn er wußte, daß die Menschen nicht mehr auf alles schossen, was sie nicht kannten. Was er fürchtete, war die zufällige Kollision mit einem startenden oder landen den Raumschiff oder Stratojet. Doch alles ging gut. In dreitausend Me tern Höhe öffnete Algonkin-Yatta die
27 Schleuse der Kapsel, so daß der Rauch ent weichen konnte. Allerdings verstärkte die Zufuhr frischer Luft die Rauchentwicklung weiter. »Wir müssen im Wasser landen«, sagte Algonkin-Yatta über Helmfunk zu Anlytha. »Anders können wir den Brand nicht lö schen.« Er fing den Sturz der Kapsel ab und ließ sie langsam über eine paradiesisch anmuten de Landschaft mit Weinbergen, Obstgärten und vereinzelten schmucken Gebäuden glei ten. Der frische Luftzug ließ Dorstellarain er wachen. Hustend stemmte er sich hoch und wankte zur Schleusenöffnung, um mehr fri sche Luft zu bekommen. Die Kapsel überflog die Küstenlinie und sank, eingehüllt in eine Rauchwolke und da durch selbst nicht sichtbar, gemächlich auf das leichtbewegte Wasser eines Meeres her ab. Von der Schleusenöffnung kam ein Freu denschrei, dann hörte der Kundschafter Dor stellarain rufen: »Und ich werde doch wieder Pirat mit ei genem Schiff, ja sogar mit einer eigenen Flotte, denn nichts ist leichter, als ein sol ches Schiff zu erobern!« Algonkin-Yatta setzte die Kapsel sanft auf die Wasseroberfläche, dann ging er Dor stellarain nach und musterte das Schiff, das in zirka tausend Metern Entfernung einen Hafen ansteuerte. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Seeschiffen, die der Kundschafter bei seinem ersten Besuch der Erde gesehen hatte. Dieses Schiff war zirka vierzig Meter lang, aus Holz gearbeitet und hatte eine Ru derreihe, zwei Masten und viereckige Segel. Die Segel waren allerdings eingerollt. Das Schiff wurde ausschließlich von vierund vierzig Ruderern mit Hilfe hölzerner Rie men vorangetrieben. Im Bug, der in einen gekrümmten Schiffsschnabel auslief, war ei ne Enterbrücke untergebracht. »Ich wollte, ich würde die terranische Ge schichte besser kennen«, sagte der Kund
28 schafter. »Dann wüßte ich vielleicht, wel cher Zeit dieser Schiffstyp zugerechnet wer den kann.« »Das interessiert mich weniger als die Frage, warum die Kapsel sinkt«, entgegnete Dorstellarain. Erschrocken bemerkte Algonkin-Yatta, daß sie Kapsel sich teilweise mit Wasser ge füllt hatte und noch weiter füllte und dabei allmählich tiefer sank. Anlytha und ihm würde das zwar nichts ausmachen, aber Dor stellarain konnte sich unter Wasser nicht helfen und würde ertrinken. »Ich schließe die Schleuse«, sagte er und kehrte um. In der Innenzelle angelangt, sah er, daß das Wasser die Glut gelöscht hatte. »Wenigstens das hat geklappt«, meinte er. »Dorjan, wo bist du?« Aber Dorstellarain antwortete nicht. Notgedrungen watete der Kundschafter durch hüfthohes Wasser zur offenen Schleu se zurück, um Dorstellarain zu holen. Aber der Pthorer hatte wohl kein Vertrauen mehr zur Kapsel gehabt. Algonkin-Yatta sah ihn in zirka zweihundert Metern Entfernung kraftvoll zum Hafenbecken schwimmen. Da er ihm vorerst nicht helfen konnte, ging er in die Innenzelle zurück, verschloß die Schleuse per Fernsteuerung und proji zierte einen Feldanker, mit dem er die Kap sel zum Grund des an dieser Stelle zwanzig Meter tiefen Wassers zog. »Was tun wir jetzt?« fragte Anlytha, nachdem sie beide ihre Helme zurückge klappt hatten. »Abwarten!« antwortete Algonkin-Yatta. »Dorjan kommt wieder.« »Bist du sicher?« erwiderte Anlytha. »Er hat die Mentalität eines Piraten«, er klärte der Kundschafter. »Folglich wird er es nicht über sich bringen, einen solchen Schatz wie die Kapsel mit ihrem wertvollen Inhalt – der dem Besitzer eine haushohe Überlegenheit gegenüber jedem Erdmen schen dieser Zeit verschafft – ihrem Schick sal zu überlassen. Er wird kommen, um ent weder unsere Unterstützung zu erhalten oder
H. G. Ewers um die Kapsel, falls wir ertrunken sind, aus zurauben.« »Und willst du zulassen, daß er zum Schrecken der terranischen Meere wird?« fragte Anlytha empört. »Ein wenig kann man ihn schon steuern«, meinte Algonkin-Yatta. »Das wäre mir zu unsicher«, entgegnete Anlytha. »Ich denke, es ist sicherer, wenn ich demnächst eine Naherkundung durch führe. Zu dem Hafen dort drüben gehört auch eine Stadt, und der Seehandel wird viele Kostbarkeiten aus allen Teilen der Erde zu ihr gebracht haben.« »Die du natürlich stehlen willst«, ergänzte der Kundschafter. »Aber das kommt nicht in Frage. Solange wir die Verhältnisse auf Ter ra nicht genau kennen, ist es zu gefährlich für dich, mitten unter Menschen zu gehen, die dich sofort als Fremde erkennen.« »Das werden sie nicht – und du weißt es«, gab Anlytha zurück. »Aber vielleicht wirst du geraubt. Ich ha be einmal gehört, daß in primitiven Gesell schaften Frauenraub üblich ist – und ich weiß nicht, wie appetitlich dir ein schmutzi ger, nach Schweiß stinkender, mit den Fin gern essender Wilder als dein Herr und Ge mahl wäre.« »Du kannst einem aber auch den besten Spaß verderben, Algonkin!« sagte Anlytha schmollend.
* Dorstellarain hütete sich davor, einem der Schiffe und Boote zu nahe zu kommen. Während seiner Zeit als Pirat war für ihn je der Hilflose ein willkommener Sklave gewe sen, und er befürchtete, daß es hier genauso sein könnte. An der äußeren Mole des Hafens ging er an Land. Zuerst kroch er zwischen zwei Felsblöcke, die vor der Mauer aus dem seichten Wasser ragten. Dort drehte er die Lederstiefel um, die er sich während des Schwimmens unter den schmalen Ledergür tel des Schurzes gesteckt hatte, der ihm als
Die Zeitpanne Unterwäsche diente. Seine Pelzkleidung hat te er noch in der Schleuse der Zeitkapsel ab gestreift und ins Wasser geworfen. Sie hätte ihn, nachdem sie sich voll Wasser gesaugt hatte, nur herabgezogen. Die weiße Pelzkap pe trug er allerdings noch. Der Pthorer spürte bald die Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Allerdings wußte er auch, daß er, der keine Sonnenbe strahlung mehr gewohnt war, sehr schnell einen schmerzhaften Sonnenbrand bekom men würde, wenn er sich längere Zeit den Sonnenstrahlen aussetzte. Ächzend und stöhnend kroch er in die nassen Stiefel, zog sich auf die Mole und schaute sich um. Das sechseckige, ins Festland eingegrabene Hafenbecken mit den schützenden Mo len, den Laderampen, Schiffshaltepfählen, Zeughäusern, Lagerräumen und dem qual menden Leuchtturm entlockte ihm einen be wundernden Pfiff. Auch die Schiffe darin nötigten ihm Bewunderung ab. Sie waren keineswegs überwiegend so klein wie das Schiff, das er während der Landung der Kapsel gesehen hatte. Es gab große Schiffe mit zwei bis fünf Reihen von Ruderern über einander, Lastschiffe unter bunten Segeln und wendige Kriegsschiffe mit Sturmböcken und Laufgängen an den Bordwänden. Auf den Kais und zwischen den Gebäuden sah Dorstellarain Transportkarren und Planwagen und ein Gewimmel von Terra nern, die Wagen lenkten, Lasten schleppten, Arbeiten beaufsichtigten und feilschten. Der Pthorer rieb sich die Hände, als etwa fünfzig Bewaffnete im Gleichschritt zur An legestelle eines Kriegsschiffs marschierten. Die Sonnenstrahlen funkelten auf ihren Me tallhelmen, den Metallscheiben auf dem Brustteil ihrer ledernen Panzer und den ei sernen Schildbuckeln. Angeführt wurden die Soldaten von einem athletischen Offizier mit großem Helmbusch, Kinn- und Lippenbart, narbigem Gesicht und Reliefscheiben aus poliertem Metall auf dem maßgearbeiteten Lederpanzer, die wahrscheinlich Auszeich nungen darstellten.
29 »Das wäre etwas für mich!« flüsterte Dor stellarain begeistert. »Ich würde es sicher bald zum Heerführer bringen.« Er verwarf die Idee, einen der Soldaten von seiner Truppe wegzulocken, ihn be wußtlos zu schlagen und in seine Rolle und Kleidung zu schlüpfen. Man würde ihn bei der Truppe sofort als Fremden erkennen. Außerdem beherrschte er die Sprache nicht. Zwar hatte er von Algonkin-Yatta und Anly tha ein paar Brocken Interkosmo gelernt, aber die Wörter, die hin und wieder bis zu ihm schallten, waren zweifellos kein Inter kosmo. Sicher verwendete man auf der Erde dieser Zeit ein präkosmisches Terranisch. Unangenehmes Brennen auf den Schul tern erinnerten ihn daran, daß er schleunigst Kleidung brauchte. Er sah sich dort um, wo nicht so viele Menschen waren und entdeck te dabei einen hageren Mann, der in eine beige Stoffbahn eingehüllt war und schein bar ziellos in Richtung des künstlich ange legten Kanals schlenderte, der den Hafen of fenbar mit einer größeren Stadt verband. Der Pthorer eilte ihm so unauffällig wie möglich nach. Er wunderte sich zuerst dar über, daß die zahlreichen Menschen ihm kaum Beachtung schenkten, bis er merkte, daß sie sich in Statur, Hautfarbe und sogar in ihren Sprachen vielfach voneinander un terschieden. Dorstellarain grübelte darüber nach, ob sich auf der Erde vielleicht früher die Kolo nisten zahlreicher ferner Planeten ein Stell dichein gegeben hatten, was die Unterschie de erklären mochte. In dem Fall müßten Er innerungen an jene Zeit überliefert worden sein. Als er nur noch wenige Meter hinter sei nem auserwählten Opfer war, schaute er sich aufmerksam um. Er wollte unnötiges Aufse hen vermeiden. Als er sicher war, daß nie mand zu ihm und seinem Opfer sah, schnell te er auf es zu und schlug ihm die Faust hin ter das rechte Ohr. Ohne einen Laut sackte der Mann zusam men. Dorstellarain schleppte ihn hinter ein Gebüsch, wickelte ihn aus seiner Kleidung
30 und zog sie an, was gar nicht so einfach war. In einer Ledertasche, die der Mann an einer Schnur unter seiner Kleidung trug, fand der Pthorer verschiedene Münzen aus zwei ver schiedenen Metallen. Er hängte sich die Schnur mit dem Beutel um den Hals. Eigentlich hatte er noch das Schuhwerk mit dem Fremden tauschen wollen, aber da er seine nassen Stiefel nicht mehr ausziehen konnte, ließ er es sein. Außerdem glich das Schuhwerk des Fremden dem seinen. Es handelte sich um bis zur Wade reichende Stiefel mit senkrechten Öffnungen, die mit Lederriemen geschlossen waren. Als er noch einmal zurückblickte, sah er, daß man ihn von einem Schiff auf dem Ka nal aus beobachtete. Plötzlich ertönten Kom mandos. Die Ruderer leiteten eine Wendung ein, während sich am Bug mehrere Soldaten aufstellten. Dorstellarain machte, daß er fortkam. Er zweifelte nicht an der Entschlossenheit der Soldaten, ihn ihre Speere und Schwerter ko sten zu lassen. Aber die Flucht erwies sich als schwierig. Das Kleidungsstück war einfach viel zu lang, so daß der Pthorer sich immer wieder mit den Füßen darin verfing. Anscheinend war es eine besondere Kunst, dieses Klei dungsstück sachgerecht anzulegen. Bald hörte Dorstellarain die Schreie von Verfolgern hinter sich näherkommen. Da durch wurden auch andere Menschen auf merksam, und der Pthorer zwang sich zu ei nem gemächlichen, würdevollen Gang und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wenn er auf den Rand seines Kleidungs stücks getreten war. Die ganze Zeit über sah er sich nach ei nem Versteck um, denn ihm war klar, daß die Verfolger ihn bald eingeholt haben wür den, auch wenn sie noch nicht wußten, in welche Richtung er sich gewandt hatte. Als er einen freien Platz erreichte und in der Menschenmenge darauf untertauchen wollte, hörte er von der gegenüberliegenden Seite scharfe Kommandos. Er reckte sich. Da er größer war als alle
H. G. Ewers Menschen – jedenfalls in diesem Hafen – konnte er die Menge einigermaßen über schauen. Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Anscheinend war einer seiner Verfolger zu den Soldaten geeilt, die zuvor in den Hafen einmarschiert waren, und hatte sie über den Überfall informiert. Jedenfalls ließ der Offi zier seine Leute eine Kette bilden und gegen den Platz vorrücken. Der Pthorer machte kehrt und tauchte in einer von älteren Häusern flankierten Gasse unter. Er wunderte sich, daß ihm kein Men sch begegnete, aber erst, als er am Ende der Gasse vor einer hohen glatten Mauer stand, wurde ihm klar, daß es hier keinen Durch gangsverkehr gab, weil es sich um eine Sackgasse handelte. Und er hatte sich selbst darin gefangen! Dorstellarain überlegte, ob es sinnvoll sei, wieder umzukehren und die Gasse zu verlas sen, als er sah, daß die Soldaten sich aus der Menge auf den Platz schoben und daß vier von ihnen sich anschickten, in die Gasse ein zudringen. Er drückte sich in den Schatten eines ge mauerten Tores und dachte darüber nach, ob er versuchen sollte, durch die Häuser oder über die Dächer zu entkommen. Aber dabei würde er zweifellos solches Aufsehen erre gen, daß die Soldaten eine gezielte Jagd auf ihn veranstalten konnten. Plötzlich knarrte etwas neben ihm. Dor stellarain fuhr herum und sah gerade noch den auf ihn herabsausenden Knüppel. Dann löschte ein Blitz sein Bewußtsein aus.
* Als er erwachte, wollte er auffahren, aber etwas hinderte ihn daran, etwas, das bei je der Bewegung klirrte. Dorstellarain vermochte nichts zu sehen, denn der Raum, in dem er sich befand, war dunkel. Immerhin konnte er feststellen, daß er auf kühlem Boden aus festgestampftem Lehm saß und daß seine Handgelenke mit Ketten an einen Eisenring gefesselt waren, der sich in einem Mauerwerk hinter ihm be
Die Zeitpanne fand. Die geraubte Kleidung und die Mün zen hatte man ihm abgenommen. An dem Schmerz in seinem Hinterkopf erkannte er, daß er wahrscheinlich eine Beu le davongetragen hatte. Ansonsten bemerkte er jedoch keine Verletzung. Er fragte sich, welche Strafe ihn für den Raubüberfall er wartete. Kurz darauf hörte er von vorn Schritte. Sie kamen offenbar eine Kellertreppe herab, verhielten unten, dann knarrte eine Tür. Licht aus einer primitiven Öllampe fiel in den Kellerraum. Hinter dem Licht erkannte Dorstellarain undeutlich die Gesichtszüge eines dunkelhäutigen Mannes. Aber die Stimme, die wenig später er klang, kam nicht aus dem Mund dieses Man nes. Es war außerdem die Stimme einer Frau – und wenig später kam sie an dem Dunkel häutigen vorbei nach vorn, so daß der Ptho rer sie sehen konnte. Allerdings sah er nur ihre Gestalt, nicht aber das Gesicht, denn das wurde von einer bronzenen Maske verborgen. Die Gestalt war die eines reifen Weibes und trug ein lan ges hemdartiges Gewand und darüber eine mit Purpurstreifen verzierte Stola. Die Kopf bedeckung bestand in einem viereckigen Tuch aus blauem, mit Fransen verzierten Stoff. Die Füße steckten in Ledersandalen – und die Fußnägel waren vergoldet. Der Pthorer erwiderte ruhig den Blick, der ihn durch die Augenschlitze der Bronzemas ke hindurch traf. Er lauschte den Worten, die der Mann und die Frau wechselten. Nach einiger Zeit wußte er, daß der Mann, der üb rigens enorme Muskelpakete besaß, Quintus hieß. Quintus sprach die Frau mit »Domina« an, aber Dorstellarain kam das eher wie ein Titel denn wie ein Name vor. Als die Frau eine Frage an ihn richtete, antwortete er mit der Begrüßungsformel auf Interkosmo, wie Algonkin-Yatta sie ihm bei gebracht hatte. Quintus stellte die Lampe ab, trat neben Dorstellarain und versetzte ihm eine Ohrfei ge, die dem Pthorer beinahe das Bewußtsein raubte.
31 Durch das Rauschen des Blutes in seinem Kopf hörte er Quintus zornig fluchen, dann sagte die Frau etwas, das ihn schweigen ließ. Abermals stellte sie ihm eine Frage – und abermals antwortete der Pthorer mit der In terkosmo-Begrüßungsformel. Quintus kam abermals auf ihn zu, aber diesmal war Dorstellarain gewarnt. Anschei nend hatte Quintus nie etwas vom KnieSeitwärts-Schlag gehört, denn er wollte sich wieder neben den Gefangenen stellen. Dorstellarain legte alle seine Kraft in den Schlag und traf Quintus' Schienbein so hart, daß es krachte und der Mann quer durch den Keller gefegt wurde. Er brüllte vor Schmerz, aber Sekunden später richtete er den Ober körper auf und holte mit einem Dolch zum Wurf aus. Ein Befehl der Frau zwang ihn, seine Mordabsicht zurückzustellen. Die Frau rede te auf ihn ein, dann trat sie bis auf drei Schritt an den Gefangenen heran, musterte ihn noch genauer und fing dann an, ihm die Grundkenntnisse ihrer Sprache beizubrin gen. Nach einigen Stunden mußte Quintus, der sich soweit erholt hatte, daß er mit schmerz verzerrtem Gesicht umherhumpeln konnte, etwas holen, das die Domina Capsa nannte. Es handelte sich um eine Art großer zylin drischer Dose aus Holz, in der sich Papier rollen befanden, die um Holz- und Knochen stäbe gewickelt waren. Die Domina nahm eine der Rollen und wickelte sie ein Stück auf. Dorstellarain sah farbige Abbildungen von Gegenständen, Menschen und Tieren. Anhand der Abbil dungen lehrte die Domina ihm die Namen der entsprechenden Dinge, aber auch die wichtigsten Regeln der Grammatik. Der Pthorer lernte relativ schnell. Bald wußte er, daß die Menschen in dieser Ge gend der Erde sich Römer nannten, daß das Römische Imperium – angeblich – den größ ten Teil der Welt beherrschte, daß es von ei nem Mann namens Marcus Aurelius regiert wurde und daß die Domina ihn für einen Spion aus Germanien hielt.
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Er verzichtete darauf, ihr klarmachen zu wollen, daß er in einer Zeitkapsel auf der Er de gelandet sei. Die Domina schien nicht einmal zu ahnen, daß die Erde rund war und daß die Sterne, die man nachts sah, Sonnen waren wie die Sonne, die die Erde beschien. Er ließ sie bei ihrem Glauben, er sei ein Spi on aus Germanien und suggerierte ihr zu sätzlich ein, daß er in seiner Heimat ein Kö nigssohn sei. Sie glaubte ihm. Inzwischen hatte der Pthorer begriffen, daß er sich nicht in offiziellem Gewahrsam befand, sondern der Gefangene der Domina war, die mit seiner Hilfe nicht nur ihre Wiß begier stillen, sondern ihn offenkundig zu einem noch unbekannten Zweck verwenden wollte. Als sie ihn nach seinem Namen fragte, er innerte er sich an Algonkin-Yattas Kurzfas sung und gab sich als Dorjan aus. Weil er aber begriffen hatte, daß jeder römische Bürger drei Namen besaß, fügte er zu sei nem »Vornamen« den »Geschlechtsnamen« Pthoricus und den »Beinamen« Clanocis hinzu. Ihren eigenen Namen verriet sie dagegen nicht, auch wollte sie ihm nicht sagen, wozu sie ihn gefangenhielt. Als sie ging, sagte sie, daß sie erst in drei Tagen wiederkäme, und er würde es nicht bereuen, wenn er sich in der Zwischenzeit gut führte. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte und Dorstellarain die Domina und Quintus die Kellertreppe hinaufgehen hörte, schloß der Pthorer die Augen und überlegte, wie er aus seinem Kerker fliehen könnte, denn er hatte keine Lust, noch viel länger untätig herumzusitzen.
* Er war noch zu keinem Ergebnis gekom men, als Quintus zurückkehrte. Seine Ab sicht stand ihm im Gesicht geschrieben, aber auch ohne das hätte Dorstellarain sie erraten, denn Quintus trug eine mehrschweifige Le derpeitsche mit sich, deren Schnüre mit
Knoten versehen waren. Der Pthorer starrte in das hämisch grin sende Gesicht und sagte verächtlich: »Ein feiger Wurm vergreift sich eigent lich nur an Aas, denn Aas kann sich nicht rä chen, wie ich mich an dir rächen werde!« Quintus Gesicht verzerrte sich im Haß. Er holte aus und schlug zu. Die Peitschen schnüre bissen schmerzhaft in Dorstellarains linke Körperseite und Schulter; ihre Knoten rissen Fleisch heraus. Der Pthorer mußte die Zähne aufeinander pressen, um nicht vor Schmerz zu schreien wie ein wildes Tier. Nach einer Weile wun derte er sich darüber, daß Quintus nicht wei ter auf ihn einschlug. Als er den Kopf hob, sah er Unsicherheit in Quintus' Blick. Sofort fühlte er sich ihm überlegen und rief: »Wenn du mich im ehrlichen Zweikampf besiegst, werde ich mich unterwerfen. Ver weigerst du mir aber den Zweikampf, so wird dich irgendwann ein Dolch von hinten durchbohren, oder vergifteter Wein wird dir das Gedärm zerfressen.« Er lachte höhnisch. »Aber da du ein Feigling bist, ziehst du den Tod aus dem Hinterhalt einem ehrlichen Kampf vor.« In Quintus' Augen flackerte Wut. »Ich bin stärker als du!« stieß er hervor. »Nicht einmal zwei Burschen von deiner Sorte könnten mich im Kampf besiegen.« »Mein Tritt warf dich in den Staub!« ent gegnete Dorstellarain. »Nur, weil ich unvorsichtig war«, erklärte Quintus. »Nein, weil du dumm und schwach bist!« höhnte der Pthorer. »Du bist überhaupt kein Mann, sondern ein fettes Weib!« Quintus erstarrte förmlich, dann drang ein dumpfes Grollen aus seiner Kehle. Er warf die Peitsche zu Boden, drehte sich um und jagte die Kellertreppe hinauf. Als er zurückkehrte, hielt er ein Netz in der rechten Hand, das er über Dorstellarain warf. An schließend befreite er ihn von seinen Fes seln, dann zog er ihm blitzschnell das Netz ab, rannte zur offenen Tür und warf von dort
Die Zeitpanne aus ein Krummschwert und einen kleinen Rundschild in den Keller. Er selbst hielt im nächsten Moment die gleichen Waffen in der Hand. Aber zusätz lich trug er einen Metallhelm, der mit einem Kinnriemen befestigt war. »Stirb, Dorjan!« schrie er. Dorstellarain parierte den ersten Schlag, versuchte aber keinen Gegenangriff, sondern wich vor jedem Ausfall seines Gegners zurück, aber immer nur so weit, wie unbedingt nötig war. Er verhielt sich nicht so, weil er feige gewe sen wäre, sondern weil er gewillt war, den vielleicht einzigen Vorteil seinem Gegner gegenüber ausgiebig zu nutzen: den Vorteil der Kaltblütigkeit, der sich durch Quintus' Raserei noch vergrößerte. Einige Male kam der Pthorer dabei in große Bedrängnis, vor allem wegen der En ge des Kellerraums, und ein paarmal fügte ihm Quintus Verletzungen zu, die aber jede für sich unbedeutend waren. Viel mehr durf ten es aber nicht werden, wußte Dorstella rain, sonst würde ihn der Blutverlust so schwächen, daß er ein leichtes Opfer für sei nen Gegner sein mußte. Als er merkte, daß Quintus langsamer wurde, wußte er, daß seine Zeit bald gekom men war. Wie erwartet, nahm Quintus alle seine Kräfte noch einmal zusammen, als ihm klar wurde, daß seine Siegeschancen mit länger andauerndem Kampf immer mehr sinken würden. Wieder einmal kam Dorstellarain in große Bedrängnis. Diesmal mußte er alle Tricks und einen Teil seiner Kraftreserven aufwenden, um den wütenden Schwertstrei chen des Gegners zu entgehen. Den nächsten Angriff Quintus' stoppte er stehend, was seinen Gegner nach all den Ausweichmanövern des Gefangenen so ver blüffte, daß er seinerseits zurückwich. Er merkte nicht, daß Dorjan ihn absichtlich an eine bestimmte Stelle manövriert hatte, an die Stelle nämlich, an der die Peitsche lag. Als Quintus auf die Peitsche trat, zückte sein das Hindernis spürender Fuß in einer Reflexbewegung zurück. Das Gehirn regi
33 strierte die Reflexbewegung den Bruchteil einer Sekunde später, wurde abgelenkt und irritiert. Dorstellarain nutzte seine Siegeschance so kaltblütig, wie er gekämpft hatte. Erst als Quintus tot zu seinen Füßen lag, wurde er von seinen Gefühlen überwältigt. Er sank schweißüberströmt und zitternd zu Boden. Doch er hockte nicht lange dort, denn in seinem Gehirn reifte als Ergebnis der bishe rigen Erlebnisse auf der Erde ein Plan, wie er nicht nur bald reich, sondern auch so be rühmt werden konnte, daß Marcus Aurelius ihn zum Kommandeur seiner Leibgarde ma chen würde. »Dorjan Pthoricus Clanocis« hatte nichts anderes vor, als ins nahe Rom zu gehen und sich in einer der beiden Kasernen der Via Labicana zu melden, um als Gladiator für die Arena verpflichtet zu werden. Wie es dort zuging, wußte er von der Domina – und er wußte auch, daß er nach dem ersten Sieg wieder frei sein und mit Edelsteinen, golde nem Geschmeide und Geld überhäuft wer den würde. Er wußte nur nicht, daß der Sieger die Freiheit nicht zwangsläufig erhielt, sondern nur dann, wenn er die besondere Gunst des Publikums gewonnen hatte.
6. Algonkin-Yatta und Anlytha gingen in der zweiten Nacht nach ihrer Ankunft auf der Erde an Land. Sie verwendeten dafür ih re Flugaggregate, flogen damit den Tiber vom Mündungsdelta an aufwärts bis nach Rom und landeten vor dem Titusbogen auf der Velia. Der Kundschafter hatte Zeit genug ge habt, die Erkundungsexpedition so gründlich vorzubereiten, wie das mit den bescheidenen Mitteln, die sich in einer Zeitkapsel verstau en ließen, möglich gewesen war. Bescheiden waren seine Mittel allerdings nur vom Standpunkt des qualifizierten Kundschafters aus, der dazu ausgebildet war, alles perfekt zu organisieren.
34 Er trug keine Toga, da sie zu seiner unter setzten Statur und seiner blauschwarzen Hautfarbe nicht gepaßt hätte, sondern ein Pallium, eine Art breiter Stola, die die Schultern bedeckte, sich vorn auf der Brust kreuzte und mit einem Gürtel in der Taille zusammengehalten wurde. Darunter verbarg sich allerdings einiges von seiner modernen Ausrüstung, das kein Römer bei einer Durchsuchung entdecken konnte. Auch Anlytha hatte sich der herrschenden Mode entsprechend gekleidet. Die entspre chenden Informationen hatten der Kund schafter und seine Begleiterin sich mit Hilfe von winzigen Sonden besorgt, die ihnen auch in Zusammenarbeit mit der MiniPsiotronik die Kenntnisse der Landesspra che, der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Zustände und alles andere bei gebracht hatten, was sie in die Lage versetz te, die Rollen von waschechten Bürgern Roms aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus zu spielen. Das genaue Datum hat ten sie beim besten Willen noch nicht ermit teln können. Anlytha hatte sich also hellbraun gefärbt und trug über einer bodenlangen Tunika die Stola und darüber wiederum die Palla, eine Art rechteckige Stola, die um den Körper gelegt wurde und auch den Kopf bedeckte, so daß niemand den weißen Haarschopf se hen konnte. Im Unterschied zu Algonkin-Yat ta, der geschnürte Wadenstiefel trug, hatte Anlytha Sandalen angezogen. Es war auch kein Zufall, daß die beiden Wesen direkt nach Rom gekommen waren. Eine der Sonden hatte die letzte Phase des Kampfes zwischen Dorstellarain und Quin tus übertragen und war dem Pthorer bis zu einem Pferdehändler gefolgt wo er sich für das von Quintus erbeutete Geld ein Pferd gekauft und dem Händler erzählt hatte, daß er im Kolosseum als Gladiator von sich re den machen würde. Die Mini-Psiotronik wertete die betreffen den Informationen aus und knüpfte Bezie hungen mit den übrigen ermittelten Fakten. Dadurch kam sie zu dem theoretischen
H. G. Ewers Schluß, daß zwischen dem Raubüberfall auf einen berühmten Arzt, der vergeblichen Su che einer halben Hundertschaft Legionäre und einigen Seeleuten nach dem Täter, dem plötzlichen Verschwinden Dorstellarains und seine spätere Entdeckung im Kellerver lies eines Hauses, in dem man sich, den Funden in mehreren Räumen nach zu schließen, mit der »Herstellung« von Leichnamen be schäftigte, die man dann an Mediziner ver kaufte, eine direkte Verbindung bestand. Kurz gesagt, es konnte eigentlich nur der Pthorer gewesen sein, der Galenus überfal len und seiner Kleider und seiner Barschaft beraubt hatte. Der Arzt hatte mehr Glück ge habt als Quintus, was nur darauf zurückge führt werden konnte, daß Dorstellarain ihn absichtlich geschont hatte. Das wiederum war einer der Gründe, wa rum Algonkin-Yatta und Anlytha nicht ta tenlos zusehen wollten, wie ihr Gefährte in der Arena abgeschlachtet wurde. Anlytha blickte hinüber zum Kolosseum, dessen helle Travertinblöcke im Schein des Mondes geisterhaft schimmerten. Sie er schauderte. »Ist dir kalt?« fragte Algonkin-Yatta be sorgt. »Nein, ich habe nur an die Menschen ge dacht, die sich in diesem Amphitheater ge genseitig ermorden. Wie kann man an sol chen Metzeleien auch noch Gefallen fin den?« »Ich fürchte, wenn ich gründlich darüber nachdächte, käme ich zu einem nieder schmetternden Ergebnis«, erwiderte der Kundschafter. Er zog das kleine Kontrollge rät aus seinem Gewand, schaltete es ein und sah auf den Bildschirm, der eigentlich den Pthorer hätte zeigen müssen, da die betref fende Beobachtungssonde den Auftrag er halten hatte, ihn nicht »aus den Augen« zu lassen. Aber der Bildschirm war dunkel. Nur an seinem unteren Rand glommen ein paar Symbole auf. Sie enthielten die Information, daß Dorstellarain sich nicht im Wahrneh mungsbereich der Sonde befand, und zwar
Die Zeitpanne deshalb, weil die Sonde sich in einem fest verschlossenem quadratischen Raum befand. »Was bedeutet das?« fragte Anlytha. »Es bedeutet, daß Dorstellarain die Beob achtungssonde überlistet und eingesperrt hat«, antwortete Algonkin-Yatta nachdenk lich. »Und das wiederum würde bedeuten, daß er erheblich intelligenter ist, als ich bis her vermutete. Kurzum: Der Bursche hat sich verstellt und den etwas beschränkten Barbaren gespielt, um uns über seine wirkli chen Qualitäten hinwegzutäuschen.« »Aber was sollte er sein, wenn nicht ein an Götter, Dämonen und Geister glaubender Barbar?« entgegnete Anlytha. »Er war doch nichts weiter als ein Regenfluß-Pirat auf Pthor.« »Jedenfalls eine Zeitlang«, meinte der Kundschafter. »Aber da spielte er mögli cherweise nur eine Rolle. In ihm muß schon immer mehr gesteckt haben, als er sich an merken ließ. Ich hätte selber darauf kommen sollen, als er uns berichtete, welche Aben teuer er und Atlan gemeinsam bestanden ha ben. Offenbar war er für Atlan eine echte große Hilfe – und das hätte mir verraten müssen, daß er intelligent, mutig und tech nisch versiert ist. Jedenfalls gehört schon ei ne Menge technisches Verständnis dazu, um eine Beobachtungssonde zu überlisten.« »Es wird hell«, flüsterte Anlytha. Algonkin-Yatta zuckte zusammen, als er mehrstimmiges lautes Gebrüll aus Richtung des Flavischen Amphitheaters hörte. Er sah im Schein des Morgenlichts, daß Anlytha den Mund zu einem Entsetzensschrei öffne te. Rasch legte er ihr eine Hand über den Mund und zog seine Gefährtin in die Deckung einer Säule des Titusbogens. Er hatte nämlich trotz des Gebrülls wilder Tiere in den Stallungen der Arena das monotone und bedrohliche Stampfen vieler im Gleich schritt marschierender Füße gehört. Als er um die Säule herumlugte, sah er ei ne Zenturie Legionäre mit ihren aus Leder streifen hergestellten Panzern, den hellglän zenden Metallscheiben in Brusthöhe und den mit Kinnriemen befestigten Metallhel
35 men, auf denen die Helmbüsche aus roten und schwarzen Federn im Marschtakt wipp ten. Ihre linken Arme trugen die rechtecki gen gewölbten Schilde; an ihren rechten Sei ten hingen in Scheiden aus Holz und Metall die kurzen zweischneidigen Schwerter iberi schen Typs. In der rechten Hand hielt jeder Legionssoldat die wie einen Wurfspieß zu handhabende Lanze. Angeführt wurde die Zenturie von einem hochgewachsenen kräftigen Zenturio mit zahlreichen metallenen runden Auszeich nungen auf dem Lederpanzer und einem Langschwert an der Seite. Außerdem sah der Kundschafter noch einige Prinzipales (Unteroffiziere), von denen einer das Feld zeichen seiner Einheit trug. »Sind das Gladiatoren?« flüsterte Anly tha, die die Legionäre nicht sehen konnte, weil Algonkin-Yatta sie immer noch fest hielt. »Nur eine Abteilung Soldaten«, antworte te Algonkin-Yatta. »Aber das scheint darauf hinzudeuten, daß heute morgen Hinrichtun gen in der Arena stattfinden. Sie werden stets am frühen Morgen vollstreckt.« »Das müssen wir verhindern!« zischelte Anlytha ihm zu. »Wer weiß, vielleicht will man den Pthorer auch hinrichten! Und auch so dürfen wir das als Angehörige ethisch hochstehender Völker nicht zulassen!« »Wahrscheinlich sind wir Mathoner mit den Menschen verwandt, also werde ich mich nicht ethisch überlegen fühlen – und über dein Volk wissen wir nichts, außer, daß es dich hervorgebracht hat. Zudem gibt es einen Aspekt, der besonders bei Zeitreisen gilt: Niemand weiß im voraus, welche Fol gen es für die Zukunft hat, wenn er einen zum Sterben bestimmten Menschen oder ein anderes intelligentes Lebewesen am Leben erhält – oder wenn er jemanden umbringt. Folglich dürfen wir uns nicht in die Angele genheiten der Römer mischen. Bestenfalls dürfen wir Dorstellarain retten.« Vor einem der siebzig Eingangstore des Kolosseums hielt die Zenturie auf einen scharfen Befehl des Zenturios an. Die Le
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gionäre marschierten auf der Stelle. Es klang wie dumpfer Trommelwirbel. Auf einen lauten Zuruf des Zenturios hin öffnete sich das Gitter des Tores. Zwei prunkvoll gekleidete hünenhafte Prätorianer befragten den Zenturio kurz, dann ließen sie ihn und seine Abteilung passieren. Hinter ih nen schloß sich das Tor wieder. »Prätorianer!« stieß Anlytha hervor, die sich aus Algonkin-Yattas Griff befreit und ebenfalls zu den Soldaten hinübergespäht hatte. »Das bedeutet, daß der Kaiser persön lich den Spielen beiwohnen wird!« »Das tut er doch immer«, erwiderte der Kundschafter verwundert. »Ach, so!« meinte Anlytha. »Na, ich bin jedenfalls neugierig auf ihn.« »Was tut ihr hier?« fragte eine männliche Stimme auf Lateinisch. Anlytha und Algonkin-Yatta wirbelten herum, wobei Anlytha sofort ihre Fähigkeit einsetzte, anderen Lebewesen etwas vorzu machen. Deshalb sahen die elf Prätorianer und ihr Offizier gar nicht erst ihr wirkliches Gesicht, sondern das Gesicht beziehungs weise den Kopf einer gelb-grün geschuppten Waran-Echse. Algonkin-Yatta hörte, wie die Römer überrascht und entsetzt die Luft einsogen. Er glaubte Anlytha und sich bereits gerettet, da wurde ihm durch die weiteren Ereignisse klargemacht, daß Soldaten, die sich für An gehörige einer Elite hielten, in ihrem Ehr geiz jede Furcht besiegen konnten. »Ihr seid verhaftet!« verkündete der Offi zier, und zu seinen Soldaten sagte er: »Packt das Gesindel!« »Nicht wehren!« konnte Algonkin-Yatta seiner Begleiterin gerade noch zuflüstern, dann fielen die Prätorianer über Anlytha und ihn her.
* Dorstellarain grinste, als er daran dachte, wie die Beobachtungssonde in dem Verlies, in das er sie gelockt hatte, umherschwebte und nach einem Ausweg suchte. Sie würde
keinen finden. Der Pthorer hoffte, daß Algonkin-Yatta und Anlytha noch einige Tage damit warten würden, selbst an Land zu gehen. Er konnte sich vorstellen, daß besonders der Kund schafter mit seinem Drang zum Perfektionis mus erst genug Informationen über Land und Leute sammeln und verarbeiten würde, bevor er sich – maskiert selbstverständlich – unter die Eingeborenen mischte. Er traute ihm sicher nicht zu, daß er schon am zwei ten Tag seines Aufenthalts auf der Erde in der Arena des Kolosseums als favorisierter Gladiator auftreten würde. Er hatte das allerdings auch nur fertigge bracht, weil er erstens mit seiner Größe von 2,20 Metern größer war als alle anderen Gla diatoren und weil er dem Aufseher der Gla diatorenschule in einem Kampf gegen drei erprobte Gladiatoren bewiesen hatte, daß er mutig, erfahren und von kaltblütigem Intel lekt war. Selbstverständlich war der Probe kampf nur mit langen Holzstangen ausgetra gen worden, denn das Publikum würde am nächsten Tage vor Wut toben, wenn nicht al le Kämpfer, für oder gegen die es gewettet hatte, in der Arena auftraten. »Träumst du, Dorjan?« fragte Manius Cornelii Cethegi, der Aufseher der Schule und selbst ein kampferprobter ehemaliger Gladiator, der nach seiner dritten Freilas sung den aktiven Dienst aufgegeben hatte. Der Pthorer lächelte kalt. »Ich träume von Kampf, Blut und Lor beer«, antwortete er. »Vielleicht stirbst du heute unter meinem Schwert!« rief ein zernarbter hellhäutiger Gladiator, der nur den Namen Ammianus bekannt war. »Oder du unter meinem!« erwiderte Dor stellarain und lachte. Der Arenameister tauchte auf, rannte ver stört hin und her und wurde schließlich von Manius am Arm festgehalten. »Hast du Flöhe in der Hose, Ascanius?« fragte Manius den gebürtigen Griechen. Ascanius rang die Hände. »Alles ist durcheinandergeworfen!« zeter
Die Zeitpanne te er. »Da bringt mir doch dieser ehrgeizige Prätorianer Aulus zwei Gefangene und rät mir, sie in die heutigen Spiele einzubauen.« »Beruhige dich!« sagte Manius. »Wer eingebaut wird, bestimmst du, nicht wahr? Also kann dir Aulus keine Vorschriften ma chen.« Ascanius schüttelte den Kopf und strich sich über die fettig glänzende Glatze. »Normalerweise ist es so, aber die Gefan genen, vor allem die eine Gefangene – ich weiß nicht einmal, ob es ein weibliches We sen ist, aber es trägt römische Frauenkleider – sind ausgesprochene Raritäten. Das ver mutliche Weib hat den Kopf eines Drachen und Drachenklauen! Der Kaiser wird darauf bestehen, daß sie heute auftreten.« Dorstellarain, der aus Sorge um seine Freunde bereits die Luft angehalten hatte, at mete auf. Anlytha ließ sich nun wirklich nicht mit einem Drachen verwechseln. »Hat sie eine gespaltene Zunge?« fragte er. Ascanius nickte, streckte die eigene Zun ge heraus und deutete mit einer Handbewe gung an, daß die Gefangene eine dreimal längere Zunge besaß. »Und sie ist gespalten!« lispelte er, weil er vergaß, die Zunge zurückzuziehen. Hastig holte er das Versäumnis nach. »Gespalten und rot wie Stierblut.« Plötzlich musterte er Dorstellarain ver wundert und zupfte dabei an seiner fleischi gen Nase. »Wer ist das, Manius?« fragte er schließ lich mit einem Seitenblick auf den Aufseher der Gladiatorenschule. »Das ist Dorjan Pthoricus Clanocis«, ant wortete Manius. »Er bewies mir gestern, daß er reif für die Arena ist. Ich brachte ihn mit. Selbstverständlich hätte ich dich gefragt, ob du ihn einsetzen kannst. Du kennst mich ja.« Der beleibte Grieche nickte und schritt dabei um den Pthorer herum. Seine Augen schienen Dorstellarain förmlich zu sezieren. »Plebejische Familie?« schoß er eine Fra ge ab. Dorstellarain gab ein Grunzen von sich.
37 Er wußte natürlich noch lange nicht alles über die römische Gesellschaft, deshalb konnte er mit Ascanius' Frage nichts anfan gen. »Er ist kein Römer«, stellte der Grieche fest. »Könnte ein Kelte sein. Aber selbst für einen Kelten ist er ungewöhnlich groß und kräftig – und er riecht so eigenartig.« Seine rechte Hand schnellte vor und um spannte Dorstellarains linken Oberarm. Sie preßte den Bizeps zusammen, und der Ptho rer wunderte sich über die Kraft, die er dem fetten Griechen nicht zugetraut hätte. Blitz schnell winkelte er den Unterarm an. Sein Bizeps dehnte sich dabei so heftig aus, daß Ascanius Hand aufgerissen wurde. »Prächtig!« sagte der Arenameister. Er wandte sich an Manius. »Halte diesen Kerl zurück! Ich will sehen, ob ich ihn gegen die Drachenfrau und den schwarzhäutigen Ma gier kämpfen lassen kann.« »In Ordnung, Ascanius!« antwortete Ma nius Cornelii Cethegi. Der Grieche schlug ihm leicht gegen den Unterarm, dann ging er. In Dorstellarain aber regte sich plötzlich wieder die Sorge, die beiden Gefangenen könnten der Kundschafter und seine geheim nisvolle Begleiterin sein, denn wenn der Ausdruck »schwarzhäutiger Magier« auf ein Lebewesen zutraf, dann auf Algonkin-Yatta. »Fürchtest du dich vor Drachen, Dorjan?« fragte Manius. »Ich habe als Kind das Blut von Drachen getrunken!« erklärte der Pthorer verächtlich.
* Algonkin-Yatta schirmte Anlytha mit sei nem Körper gegen die anderen Gefangenen ab, die teilweise noch nicht abgestumpft wa ren und versuchten, die Drachenfrau zu be rühren. Einige der zum Tode ad bestias ver urteilten Verbrecher machten unflätige Be merkungen und versuchten, die Drachenfrau zu demütigen. Der Kundschafter verhielt sich rein defen siv. Er wußte, welches Schicksal den Verur
38 teilten bevorstand und verzieh ihnen deshalb ihr Verhalten. Nur wenn jemand nach Anly tha griff, dann schlug er so fest zu, daß der Betreffende es nicht ein zweitesmal versu chen konnte. Als der Exerziermeister mit einigen Aus peitschern erschien, wurden die Verurteilten still und drückten sich an die Rückwand ih res Gefängnisses. Todesfurcht ließ sie dort erstarren, die schreckgeweiteten Augen auf den Exerziermeister gerichtet. Algonkin-Yatta mußte sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Er sagte sich immer wie der, daß es ihm nicht zustand, über die Men schen dieser Zeitepoche zu urteilen oder gar zu versuchen, sie an ihren bösen Taten zu hindern. Der Exerziermeister blieb vor der Gitter tür stehen und wartete, bis ein Helfer sie ge öffnet hatte. Danach las er die Namen der Verurteilten von einer Wachstafel ab. Die Auspeitscher übten den notwendigen Nach druck aus – und schließlich trotteten alle Verbrecher durch den düsteren Korridor ih rem letzten Auftritt entgegen. Algonkin-Yatta und Anlytha waren nicht aufgerufen worden. Allerdings hatte man sie auch nicht verurteilt. Aber kaum war der Exerziermeister mit seinen Gehilfen abgezo gen, als der Arenameister auftauchte und die beiden Gefangenen abschätzend musterte. Anlytha erwiderte seinen Blick – und im nächsten Augenblick veränderte sich Asca nius' Gesichtsausdruck und Haltung. Er lä chelte, dann betrat er das Gefängnis und ging zu der Stelle, die von den Verbrechern am stärksten verschmutzt worden war. Er schien zu glauben, daß sich dort ein beque mes Lager sowie auserlesene Speisen und Getränke befanden, denn er schickte sich an, sich dort auszustrecken. »Anlytha!« sagte der Kundschafter scharf. »Nein!« Anlytha seufzte enttäuscht. Im nächsten Moment fiel die Beeinflus sung von Ascanius ab. Angeekelt und ent setzt starrte er um sich, dann wich er zurück zur Gittertür.
H. G. Ewers »Fürchte dich nicht!« sagte Algonkin-Yat ta. Zu seiner Überraschung bekreuzigte der Arenameister sich. Da das Zeichen des Kreuzes nur von Christen gemacht wurde, mußte Ascanius ein Anhänger der christli chen Lehre sein – und das als Arenameister im Flavischen Amphitheater, wo zahllose Christen hingerichtet worden waren und noch immer ab und zu hingerichtet wurden, obwohl der regierende Kaiser moralische Ansichten vertrat, die sich mit zahlreichen Ansichten der Christen deckten. »Dominus?« fragte Ascanius zaghaft. »Ich bin kein Mensch, aber auch kein Gott«, erklärte Algonkin-Yatta. »Niemand soll mich anbeten.« »Aber auch niemand soll uns zu kränken versuchen!« fiel Anlytha mit kreischendem Unterton ein. »Der Magier und die Drachenfrau!« flü sterte der Arenameister. »Ich werde doppelt bestraft werden, denn der Kaiser wird mich zu den Bestien schicken, wenn er euch nicht noch heute in der Arena kämpfen und ster ben sieht. Er hat von euch gehört, und ver zeiht es mir nicht, wenn ich euch ihm vor enthalte – und euer Fluch wird mich treffen, wenn ich euch gegen den keltischen Götter sohn antreten lasse.« »Uns wird auch ein Göttersohn nicht be siegen«, erwiderte der Kundschafter. Betrübt schüttelte der Grieche den Kopf. »Der, der sich den römischen Namen Dorjan Pthoricus Clanocis gegeben hat, aber kein Römer ist, könnte es schaffen.« »Der Pthorer!« entfuhr es Anlytha. Ascanius bekreuzigte sich schon wieder. Seine Finger zitterten heftig dabei. »Kennt ihr den keltischen Göttersohn?« fragte er furchtsam. »Oder ist er ein Höllen sohn, den ihr …?« Seine Haltung straffte sich. »Ihr seid Ausgeburten der Hölle wie er!« schrie er furchtsam und zürnend zu gleich. »Höllenbrut: die Hexe, der Teufel und der Magier!« Schlagartig verwandelten sich seine Mie ne und seine Haltung abermals.
Die Zeitpanne
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»Ihr habt mich geprüft, Juno, Gattin des Jupiter«, sagte er stockend. »Ihr denkt, ich gehörte der verbotenen Religion an. Aber da irrt ihr euch. Ich opfere täglich allen Göttern und ganz besonders dir, der Göttin der Ehe und der Beschützerin des Staates.« »Kann eine Göttin sich irren?« fragte Al gonkin-Yatta. »Selbstverständlich nicht«, erwiderte As canius. Der Arenameister schien immer ver wirrter zu werden. Anscheinend wußte er nicht mehr, ob er wachte oder träumte. Als zwei seiner Gehilfen kamen, gaukelte Anlytha ihm nicht länger vor, sie sei Juno, sondern ließ ihn und die Gehilfen in ihr wie der eine Drachenfrau sehen. »Die ersten Spiele fangen an, Herr«, sagte der eine Gehilfe. Ascanius wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, zog eine Lederflasche unter seinem lockeren Gewand hervor und ließ einen halben Liter Falerner durch seine Keh le rinnen. Danach bekam sein Gesicht wie der etwas Farbe. »Ich eile!« sagte er zu seinen Gehilfen. »Und diese beiden Gefangenen?« fragte ein Gehilfe mit einem Blick auf Algonkin-Yat ta und Anlytha. Ascanius' Augen verschleierten sich. »Bringt sie nach der Sportula heraus. Sie werden gegen den Kelten antreten – ohne Waffen außer ihren Zauberkräften«, sagte er mit brüchiger Stimme und eilte endgültig davon. Die beiden Gehilfen blickten sich unsi cher an, dann zogen sie sich ein Stück vom Kerker der beiden Gefangenen zurück und flüsterten miteinander, während sie hin und wieder scheue Blicke auf Algonkin-Yatta und Anlytha warfen. Anlytha erschauderte. »Mir ist die Lust am Sammeln von Kunst gegenständen vergangen«, erklärte sie.
7. Als Dorstellarain, mit dem purpurfarbe nen Kriegsmantel bekleidet, ins Amphithea
ter geschickt wurde, während die Libitinarii noch den blutigen Sand zurechten, brannte die Nachmittagssonne mit voller Kraft am Himmel. Gelassen durchquerte der Pthorer die Are na, um dem Kaiser seine Ehrerbietung zu er weisen. Sein: »Ave imperator, morituri te salu tant!« schallte laut zur Tribüne des Kaisers und seines Gefolges hinauf. Ganz in der Nä he von Marcus Aurelius Antonius glaubte Dorstellarain zwei Personen zu sehen, die ihm bekannt vorkamen. Aber er wußte nicht, wo er sie einsortieren sollte. Zwei Helfer eilten zu ihm, nahmen seinen Mantel entgegen und reichten ihm die Waf fen, die der Arenameister im Auftrag der Veranstalter der Spiele für ihn ausgewählt hatten. Dorstellarain versuchte, sich seine Enttäu schung nicht anmerken zu lassen. Ein Retia rius mit seinem Netz, dem Dreizack und dem Armschutz aus Leder und Metall war nicht das Gladiatorenidol, das ihm vorge schwebt hatte. Der Auftritt als Schwert kämpfer hätte seiner Meinung nach viel im posanter gewirkt und ihm einen größeren Siegespreis eingebracht. Nur mit halben Ohr hörte er zu, wie eine Stimme ihn vorstellte. Hellhörig wurde er allerdings, als angekündigt wurde, daß er ge gen einen Magier und eine Drachenfrau an treten sollte. Er drehte sich um und kniff die Augen zu sammen, um die Blendwirkung der Sonne etwas abzuschwächen und die beiden Ge stalten zu mustern, die soeben durch ein Tor in die Arena getrieben wurden. Die eine Gestalt war zweifellos AlgonkinYatta, wie der Pthorer sofort erkannte. Die zweite Gestalt war nicht Anlytha, sondern ein anscheinend weibliches Wesen, aber mit dem Kopf eines Drachen und in ein undefi nierbares schillerndes Gewand gekleidet. Totenstille trat ein, als alle Zuschauer nach mehrmaligem Hinschauen das Ergeb nis des ersten Blickes bestätigt fanden: ein Drachenwesen, wie es nur aus Göttersagen
40 bekannt war, hatte die Arena des Flavischen Amphitheaters betreten. Sekunden später glichen die Sitzreihen ei nem Tollhaus. Die rund fünfundvierzigtau send Zuschauer schrien und redeten wild durcheinander. Dorstellarain drehte den Kopf zurück und sah, daß der Kaiser sich von seinem Platz er hoben hätte und dem Führer seiner Garde Befehle zurief. Kurz darauf schrillten helle Trompetentöne durch die hitzeflimmernde Luft über dem Amphitheater. Die Menschen verstummten und blickten zum Kaiser, der ihnen durch eine Handbewegung Ruhe ge bot. Allmählich trat Beruhigung ein. Auf ein weiteres Signal hin setzte sich Dorstellarain zur Mitte der Arena hin in Bewegung. Von der anderen Seite her näherten sich der Kundschafter und die Drachenfrau. Gegen seinen Willen drängte sich dem Pthorer der Gedanke auf, daß die Drachenfrau niemand anders sei als Anlytha. Nicht nur wegen ih rer Körpergröße und ihren Bewegungen tat er das. Er nahm auch den eigentümlichen Geruch wahr, der auch ständig in der Zeit kapsel herrschte und offenbar von allen Pas sagieren angenommen worden war. Dieser Geruch strömte nicht nur von dem Kund schafter, sondern auch von der Drachenfrau aus. Zweifellos war Anlytha, wenn sie sich das Gesicht eines Drachen geben konnte, eine mächtige Magierin. Dorstellarain spürte, wie sich in ihm alles zusammenkrampfte. Er hat te auf Pthor so viele Beispiele mächtiger Magie erlebt, daß er sich gegen die Kräfte einer Magierin keine Chance ausrechnete. Falls Anlytha ihn töten wollte, würde er wahrscheinlich sterben müssen. Auf der anderen Seite widerstrebte es ihm, gegen Algonkin-Yatta und gegen Anly tha zu kämpfen, auch aus dem Grund, daß er sie nicht verletzen oder gar töten wollte. Deshalb überlegte er fieberhaft, wie sich ein Kampf vermeiden ließ. Zweifellos ließ er sich nicht vermeiden, indem sie einfach nicht gegeneinander kämpften. Man würde
H. G. Ewers sie gewaltsam aufeinander hetzen oder durch eine Horde wilder Tiere zerreißen las sen. Das Publikum wollte Blut fließen sehen – trotz des vielen Blutes, das an diesem Tag schon in der Arena geflossen war. »Bist du Anlytha?« fragte der Pthorer lei se, als seine Gegner nur noch wenige Schrit te von ihm entfernt waren. »Wer sonst!« vernahm er die geflüsterte Stimme Anlythas. »Warum hast du dich für die Arena gemeldet?« »Weil ich nicht ahnen konnte, daß ihr euch von mir töten lassen wollt«, erwiderte Dorstellarain wütend. »Was nun? Be herrschst du die Magie so gut, daß du uns al le aus diesem Dilemma befreien kannst, An lytha?« »Du wirst schon Algonkin und mich töten müssen, um die Arena als strahlender Sieger zu verlassen!« sagte Anlytha und zwitscher te belustigt. »Das kann ich nicht«, erklärte Dorstella rain. »Du würdest es auch nicht schaffen, wenn wir nicht wollten«, erwiderte Anlytha. »Aber du sollst nicht uns, sondern die Trug bilder töten, die wir dir und dem Publikum vorgaukeln, Dorstellarain. Das Publikum muß glauben, daß wir wirklich tot sind.« Der Pthorer merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. »Und wie erkenne ich, daß ich nur gegen Trugbilder kämpfe?« »Du bist selbst so etwas wie ein magi scher Pol, denn du stammst von Pthor«, sag te Algonkin-Yatta. »Also müßtest du es ei gentlich fühlen, ob du gegen Schattenwesen der Magie oder gegen Lebewesen von Fleisch und Blut kämpfst.« Dorstellarain grinste unsicher und sagte: »Mors certa, hora incerta – Der Tod ist gewiß, die Stunde ungewiß!« »Omnes una manet nox – Alle erwartet die eine Nacht!« erwiderte Anlytha. Aus dem Publikum stieg ein Murren auf, zuerst nur dumpf murmelnd, dann zu einem bedrohlichen Grollen anschwellend. Dorstel larain sah, daß aus einem der Innentore einer
Die Zeitpanne der Exerziermeister mit einem Tuch winkte. Vorläufig wollte er sich wohl noch nicht dem Volke zeigen und somit dem Gladiator die Gelegenheit geben, den Kampf ohne er kennbaren äußeren Zwang aufzunehmen. »Bei den Göttern Pthors, ich kann nicht anders!« flüsterte er verzweifelt. Im nächsten Moment hatte er Mühe, dem gleichzeitigen Ansturm seiner Gegner aus zuweichen. Die nächsten Minuten bescher ten ihm turbulente Kampfszenen, die aber nicht von ihm, sondern von Algonkin-Yatta und Anlytha inszeniert wurden. Das Publi kum aber hielt ihn für die treibende Kraft und applaudierte oftmals stürmisch. Dorstellarain aber kämpfte mit bangem Herzen, denn er fürchtete, Algonkin und An lytha wirklich zu verletzen. Aber als es so weit war, spürte er, wie der Kundschafter und seine Begleiterin sich in sichtbare Schattenwesen und in ihre unsichtbaren Re alkörper trennten und wie die Realkörper auf verschlungenen magischen Bahnen ent schwanden, während die Schattenwesen sich mit Todesverachtung auf ihn stürzten. Innerhalb einer Minute war der Kampf entschieden. Die Leichenbestatter schleiften das hinaus, was sie für die sterblichen Über reste des Magiers und der Drachenfrau hiel ten – und unter dem begeisterten Toben des Publikums trat Dorstellarain unter die kai serliche Tribüne. Auf einen Wink des Kaisers hin eilten mehrere Sklaven in die Arena. Sie brachten dem Gladiator die Siegespalme sowie kost bare Edelsteine, goldenes Geschmeide und Geld. Aus der Gefolgschaft des Kaisers und aus der näheren Umgebung der Tribüne wurden Silber- und Goldmünzen und Schmuckstücke in die Arena geworfen. Doch vergeblich wartete Dorstellarain auf die Rudis, entweder einen Stab oder ein Schwert aus Holz als Zeichen seiner Freilas sung. Enttäuscht starrte er zur Tribüne hin auf, bis Ascanius seinen Arm umklammerte und flüsterte: »Du bist für den heutigen Abend bei Mar cus Aurelius eingeladen; mehr darfst du
41 nicht erwarten, wenn du dir nicht die Gunst des Kaisers verderben willst.« »Und die Rudis?« flüsterte Dorstellarain grimmig zurück. »Was bildest du dir ein!« entrüstete sich Ascanius und zog den Pthorer hinter sich zum Ausgang der Arena. »Nach dem ersten Kampf! Das Volk will dich noch oft sehen, nachdem du heute einen so erfolgreichen Einstand gegeben hast.« »Davon hat mir die Domina nichts ge sagt«, murmelte Dorstellarain vor sich hin, während er sich geistesabwesend in einen Baderaum führen und entkleiden und wa schen ließ.
* Rund ein Dutzend Gladiatoren waren zu dem Fest im Hause des Kaisers eingeladen worden, alles große Männer aus Knochen und Sehnen und Muskeln, mit verwegenen narbigen Gesichtern und wissenden Augen. Im Verlaufe der Vorbereitungen, die dem Herrichten der Eingeladenen galten, hatte der Pthorer erfahren, daß noch kein römi scher Kaiser Grund gehabt hatte, sich vor den Gladiatoren zu fürchten, sondern daß die Gladiatoren von Rom ein kleines Heer von Draufgängern waren, an die sich die Kaiser in gefährlichen Augenblicken unbe denklich um Hilfe wandten. Während Dorstellarain gemeinsam mit den anderen eingeladenen Gladiatoren und dem Arenameister zum Haupttor ging, be wunderte er die prunkvolle Kleidung und den Schmuck der vielen Menschen, die durch das Haupttor schlenderten. Laufend kamen Sänften mit hochgestellten Gästen an. Die Gladiatoren betraten den Seitenporti kus. Der Pthorer blickte bewundernd auf den von Säulen aus numidischem Marmor um gebenen Hofraum, auf die weißen Bildsäu len der Danaiden und anderen Darstellungen von Göttern und Helden. Die Männer und Frauen, die sich dort drängten, glichen den Statuen, denn wie diese waren auch sie mit
42 Toga, Peplos und Stola bekleidet. Dorstella rain sah goldverbrämte Tuniken, weiße pur purbestickte Sandalen, Perlenketten, Ge schmeide und mit Goldstaub gepudertes Frauenhaar. Zwischen den Gästen standen oder gingen die Prätorianer der Palastgarde, scheinbar völlig unberührt von all dem Reichtum und der Schönheit. Dorstellarain fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Waren das die gleichen blutrünstigen Barbaren, die sich am Nervenkitzel des ge genseitigen Mordens von Menschen weide ten? Oder hatte er eine andere Welt betre ten, als er diesen Hof erreichte? »Komm, Dorjan!« rief Ascanius ihm zu. »Der Kaiser wartet nicht gern auf seine Eh rengäste!« »Ja, beeile dich, keltischer Göttersohn!« spottete eine weibliche Stimme unmittelbar neben ihm. Er sah, daß eine unglaublich schöne Römerin dicht neben ihm stand und ihn anlächelte, aber an dem leisen Zwit schern, das sie von sich gab, erkannte er schließlich Anlytha. »Ich bin froh, daß du lebst«, erklärte er, während er neben Anlytha den anderen Gla diatoren folgte. »Wie geht es Algonkin?« »Gut! Er ist in die Kapsel zurückgekehrt, um festzustellen, was er zur Reparatur der Zeitmaschine braucht. Aber ich muß jetzt zurückbleiben. Wir sind im großen Triclini um. Ich nenne mich übrigens Callina. Viel leicht sehen wir uns noch.« »Das denke ich schon«, erwiderte der Pthorer geistesabwesend, denn zu viele Ein drücke stürmten auf ihn ein, als daß er sich einem einzigen ausreichend widmen konnte. Ascanius zog ihn mit schweißnassen Hän den mit sich fort. Als er anhielt, sagte er: »Sei gegrüßt, Marcus Aurelius! Das ist unser neuer Gladiator, der heute zeigen durf te, was in ihm steckt.« »Seid alle gegrüßt!« antwortete eine sono re Stimme, die Autorität und Gelassenheit ausstrahlte. »Ich grüße dich, Dorjan Pthori cus Clanocis! Dein Kampf gegen den Ma gier und die Drachenfrau war bewunderns-
H. G. Ewers wert. Selten sah ich einen so guten Retiari us.« Und das ist es! dachte Dorstellarain. Dar um wurde ich nicht freigelassen. Zwar sehen die Römer selten einen so guten Retiarius, aber ich war nicht eben der erste Netzkämp fer, dessen Leistung das Publikum begeister te. Er wollte etwas erwidern, denn er hätte es als dumm empfunden, gegenüber einem Barbarenkaiser den Maulfaulen zu spielen, als sein Blick auf die Frau schräg hinter Marcus Aurelius fiel, und er erschrak. Sie trug kein Kopftuch, und sie trug keine Maske, aber es waren nicht nur die vergol deten Fußnägel, die den Pthorer instinktiv wissen ließen, daß er der Frau aus dem Kel ler gegenüberstand, einer Frau, die ein Dop pelleben führte und in dunkle Geschäfte ver wickelt war. Da schaute auch die Frau auf. Ihre Blicke trafen sich – und der wissende Blick der »Domina« machte ihm klar, daß sie ihn je derzeit unter Druck setzen konnte. Zu allem Überfluß entdeckte er neben der »Domina« jenen Römer, den er im Hafenge biet nahe der Tibermündung überfallen und beraubt hatte. Er schien nicht nur mit der Frau des Kaisers vertraut zu sein, sondern auch die besondere Gunst des Kaisers zu ge nießen. Glücklicherweise hatte er ihn damals nicht gesehen. Marcus Antonius bemerkte seinen Blick und deutete ihn auf harmlose Weise. »Du erkennst also meinen berühmtesten Gast, Dorjan!« Er lächelte freundlich. »Galenus ist ein Genie, das noch nach Jahr hunderten von sich reden machen wird, mein Freund.« »Leider kann auch er nicht verhindern, daß Menschen sterben«, warf ein anderer Römer ein, der Lucius Verus hieß, wie Dor stellarain später erfuhr. Der Pthorer hob die Hände und sagte: »Was stirbt, verläßt darum noch nicht das Universum. Es wird nur in seine Grundstof fe aufgelöst, neu gemischt und zu neuem Le ben geformt, so wie auch die Elemente
Die Zeitpanne selbst sich verwandeln.« Er sah, daß Marcus Aurelius mit leuchtenden Augen einem Schreiber seine Worte diktierte, und er fragte sich, ob der Kaiser sie als eigene Gedanken mehr oder weniger verfälscht der Nachwelt überliefern wolle. Mit leichter Belustigung nahm er sich vor, bei jeder Gelegenheit weitere Sprüche von sich zu geben und dann, wenn er – falls überhaupt – die Erde in einer späteren Zeit besuchte, nachzusehen, was der Kaiser dar aus gemacht und wie er es weitergegeben hatte. »Laß ihn keine echte Weisheit erfahren, sondern immer nur halbphilosophische Pseudoweisheiten, Dorjan!« flüsterte Calli na-Anlytha neben ihm. »Die Dame neben Galenus, die dich so hochmütig mustert und gleichzeitig von Furcht geschüttelt wird, ist Marcus' ungetreues und dunklen Mächten verfallenes Eheweib.« »Seine Gattin?« flüsterte Dorstellarain zu rück. »Eine echte Nymphomanin«, meinte Cal lina-Anlytha. »Sie wird versuchen, dich für ein paar schwache Stunden einzufangen. Gleichzeitig wird sie immer befürchten, daß du ihre Geheimnisse an ihren Ehemann ver rätst. Sei also immer auf der Hut vor ihr!« »Scher dich zum Teufel!« gab Dorstella rain unwillig zurück. »Ich kann sehr gut auf mich aufpassen!« Zu seiner Verwunderung verschwand Cal lina-Anlytha tatsächlich von seiner Seite. Dafür tauchte plötzlich die Gemahlin des Marcus neben ihm auf und veranlaßte ihn mit dem sanften Druck ihrer Hände, sich mit ihm an der Tafel niederzulassen, die von Tausenden Lampen an den Wänden und auf den Tischen beleuchtet wurde. Scharen von Sklaven trugen immer neue Gerichte auf. Wein wurde in kleinen Misch krügen serviert, die großen, mit Schnee ge füllten Gefäßen entnommen wurden. Es gab Berge von verschiedenen Würsten, Fleisch klößen, Wildbret, Schweinefleisch, Hühner, Hasen und Fische. Dem Aussehen nach wa ren es Speisen, die Dorstellarain größtenteils
43 auch von Pthor kannte. Bald mußte er feststellen, daß es einen großen Unterschied gab. Allein der Geruch der Soßen war phantastisch und erregte bei dem Pthorer Übelkeit – und zwar nicht nur, weil die Speisen, die er gesalzen kannte, von den Römern mit Honig gewürzt wurden und weil sie scharfe und gleichzeitig widerlich süße Gerichte, die mit Sellerie, Rosinen, Es sig, Honig, Öl und Minze angemacht waren, aßen, sondern hauptsächlich, weil oft alles noch mit einer zusätzlichen Soße übergossen war, die nach Aas roch. Die Gattin des Marcus bediente ihn. Wenn sie ihm besonders delikate Braten stücke in den Mund schob oder gar eine Au ster zubereitete, sah Marcus Aurelius Anto nius manchmal stirnrunzelnd herüber, aber er blieb dem Pthorer gegenüber stets freund lich. Als Marcus' Eheweib ihm einmal die be wußte Soße über herrlichen gebratenen Tin tenfisch goß, lief er von dem Geruch ganz grün im Gesicht an und mußte gegen einen starken Brechreiz kämpfen. »Wir Römer würzen oft mit dieser Soße, dem Garum«, erklärte sie lächelnd. »Man er hält sie in einem langwierigen Verfahren aus einer Mischung verschiedener Fische, die man zerkleinert, umrührt, in der Sonne gären läßt und dann durchseiht.« »Ich kann gar nicht sagen, wie mir dieses Zeug schmeckt«, erwiderte der Pthorer dop peldeutig. »Aber ich habe schon soviel ge gessen, daß ich jetzt lieber etwas Obst hät te.« Seine Tischgefährtin winkte einem Skla ven und legte ihrem Gast mehrere Fleisch stücke auf den Teller. »Gesottenes Straußenfleisch«, erläuterte sie. »Zur Soße nimmt man Pfeffer, Minze, gerösteten Kümmel, Selleriesamen, Datteln oder Möhren, Honig, Essig, Wein aus ge trockneten Trauben, ein wenig Fleischbrühe und Öl, kocht alles in einem Tiegel, dickt es mit Stärke ein und gießt es über das Strau ßenfleisch. Anschließend streut man Pfeffer darauf.«
44 Dorstellarain nahm einen großen Schluck Wein, stieß laut auf und sagte dann: »Denke öfter an die Ewigkeit und die ganze Weltmasse und daran, daß jedes Ein zelwesen, mit dem All verglichen, als ein Feigenkörnchen und, verglichen mit der un endlichen Zeit, als einen Augenblick er scheint, in dem man einen Bohrer umdreht.« Belustigt beobachtete er, daß der Kaiser sich auch diese Worte merkte und anschlie ßend wieder seinem Schreiber diktierte. Da nach musterte er das gesottene Straußen fleisch, schüttelte sich und sagte: »Obst wollte ich haben, Weib!«
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den – und das vor den Augen von Marcus Aurelius!« »Du wirst dich irren!« erwiderte der Kundschafter. »Selbst eine Philosophennatur wie Marcus Aurelius würde da nicht ruhig zuschauen.« »Sein Eheweib ist eine Nymphomanin«, erklärte Anlytha. »In dem Fall bringt ein Ehemann seine Gattin entweder um, nimmt sich das Leben oder wird zum Philosophen und Dulder.« Algonkin-Yatta seufzte. »Was bist du doch für ein kluges Mäd chen! Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich ärmer als jetzt. Ich meine das nicht materia listisch, obwohl ich gerade heute gezwungen * bin, demnächst auch an den materialisti »Algonkin!« flötete es. schen Sinn zu denken.« Der Kundschafter hob den Kopf und stieß »Wie meinst du das?« erkundigte sich mit voller Kraft gegen die geliftete Ab Anlytha argwöhnisch. »Du willst doch etwas deckung des Zeitreise-Instrumentariums. von mir!« Stöhnend fiel er vornüber, mitten hinein in »Ich brauche deine Hilfe«, antwortete der die verkohlten Temporalkreise und Be Kundschafter ernst. schleunigerspulen. Er griff in eine Brusttasche seines ver »Hörst du mich nicht?« flötete Anlythas schmierten und zerkratzten Overalls und zog Stimme zuckersüß. eine der fingerlangen Beschleunigerspulen Diesmal hob Algonkin-Yatta den Kopf hervor. Sie sah schwarz aus von dem Ruß, behutsam, drehte ihn und sich so, daß er der sie hauchdünn bedeckte. durch die Einstiegsöffnung sah und machte: »Bitte, poliere sie!« bat er Anlytha. »Huh!« Seine Begleiterin zuckte erst vor dem ver Erschrocken kreischend, hüpfte Anlytha schmutzten Gegenstand zurück, aber dann bis zur Decke der Zeitkapsel empor. Aber nahm sie ihn mit spitzen Fingern entgegen, sie beruhigte sich rasch wieder. Ohne weiter holte ein Läppchen aus ihrer Kombination auf das geschwärzte Gesicht des Kundschaf und rieb die Spule damit ab. Ihre Augen ters einzugehen, breitete sie eine Plastikfolie weiteten sich, als unter dem Ruß gelbes auf dem Boden der Kapsel aus und leerte ih glänzendes Metall zum Vorschein kam. ren Utensilienbeutel darüber aus. »Es handelt sich um ein nichtrostendes Mit geweiteten Augen blickte Algonkin-Yat Weichmetall, dessen Schmelzpunkt bei 1049 ta auf kostbare Kameen und Münzen, eine Grad Celsius bei hundertprozentiger Rein Corona Civia, wertvolles Geschmeide, zwei heit liegt und dessen atomare Struktur …« kleine chirurgische Instrumente und einen »Es ist Gold!« unterbrach ihn Anlytha pompejischen Silberspiegel. und zwitscherte triumphierend. »Sag bloß, »Die ›Tageseinnahmen‹ einer Taschen die Zeitmaschine besteht innen aus purem diebin!« kommentierte er ironisch. Gold!« »Ha!« machte Anlytha. »Wer ist wohl »Gold ist nur ein Name«, antwortete Al schlimmer von uns: Dorjan oder ich? Ich je gonkin-Yatta. »Wichtig ist die atomare denfalls weiß, was ich gesehen habe. Dorjan Strukturformel – und wichtig ist es für uns, ist mit dieser Hexe von Kaiserin verschwundaß wir zirka dreihundert Kilogramm che
Die Zeitpanne misch hundertprozentig reinen Goldes be kommen, aus dem wir mit Hilfe eines soge nannten Psifilterverfahrens zirka dreißig Gramm Goldatome mit magisch aufgelade nen Kernen aussortieren. Soviel brauchen wir nämlich, um die Überzüge auf den Be schleunigerspulen und Kontaktstäben zu er neuern, die infolge unserer Panne zer schmolzen sind.« »Magisch aufgeladene Atomkerne!« ze terte Anlytha und stellte ihren Federschopf aufrecht. »So etwas gibt es doch gar nicht!« »Doch!« entgegnete Algonkin-Yatta. »Sie kommen sogar natürlich vor, aber selten mehr als drei auf Hüllentuchfühlung – und es müssen mindestens siebentausend unmit telbar beieinander sein, damit eine magische Ausstrahlung möglich wird.« Anlytha legte den Kopf schief und dachte nach. Als sie zu einem Ergebnis gekommen war, richtete sie den Kopf wieder auf, reich te dem Kundschafter eine goldene römische Münze und sagte: »Stell doch bitte fest, wie viele Goldato me mit magisch aufgeladenen Kernen sich darin befinden, Algonkin!« Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, edle Vogelköni gin.« Er wand sich aus der Öffnung, richtete sich in der Innenzelle seufzend auf und streckte sich. Danach ging er zu einer weite ren, aber kleineren und viereckigen Öffnung in der Innenwand, berührte einen Sensor und wartete, bis ein silbrig schimmerndes kubi sches Gebilde von zirka zwanzig Zentime tern Kantenlänge herausgeglitten war. Algonkin-Yatta legte die Goldmünze ein fach auf die obere Fläche des Kubus und wartete. Sekunden später schien die obere Fläche transparent zu werden, dann war die Münze plötzlich verschwunden. Nach einer Weile blinkte es in der nach vorn gerichteten Seite blitzschnell und mit rasch wechselnder Lichtintensität auf. Algonkin-Yatta hatte sich vorher zur Seite geneigt und musterte das Eingabeelement der Mini-Psiotronik, das sich genau gegenüber von dem Kubus an der Wandung befand.
45 Der Kundschafter machte ein enttäuschtes Gesicht, schloß die Augen und schien sich von der Umwelt abkapseln zu wollen. »Was ist plötzlich mit dir los, Algonkin?« fragte Anlytha besorgt. »Was hast du nur, Kleiner?« »Kleiner?« fragte Algonkin-Yatta und öffnete die Augen. »Wie meinst du das?« »Nett!« antwortete Anlytha. »Du bist schließlich ein lieber netter Kerl. Also, wie ist es mit der Goldmünze?« »Miserable Qualität!« erklärte Algonkin-Yat ta. »Voll von Verunreinigungen. Man scheint in dieser Zeit noch keine Raffinati onsverfahren für Gold zu kennen, wahr scheinlich noch nicht einmal die einfachste Elektrolyse.« Er deutete auf die Spule, die Anlytha noch immer in der Hand hielt. »Von dem Gold, das auf Ruoryc herge stellt wird, braucht man zirka zehntausend Gramm, um daraus ein Gramm Gold mit magisch aufgeladenen Atomkernen zu ge winnen. Aber das ist eben hundertprozentig reines Gold. Deshalb reichen uns dreihun dert Kilogramm. Aber von dem Römergold brauchten wir wegen seiner starken Verunreinigung etwa vierzigtausend Gramm zur Gewinnung eines Gramms mit magischen Atomkernen. Das wären insgesamt eintausendzweihundert Ki logramm. Um das hierherzubringen, müßtest du nicht nur flinke Hände haben, sondern auch sehr flinke Füße, Anlytha.« »Und viel Glück«, erwiderte Anlytha. »Wahrscheinlich könnte ich nicht halb so viel zusammenstehlen.« Algonkin-Yatta nickte. »Eben! Darum wird unser Freund Dor stellarain diese Aufgabe übernehmen. Sage ihm das, bitte, wenn du ihn wiedersiehst.« »Ich fürchte er müßte dazu das halbe Im perium Romanum ausplündern, Algonkin«, sagte Anlytha kleinlaut. »Wie er das Gold beschafft, ist seine Sa che«, erklärte der Kundschafter. »Ich könnte ihn nicht dazu bringen, aber du verstehst es, ihm die Sache schmackhaft zu machen. Au
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ßerdem filtern wir von dem gesamten Gold nur die dreißig Gramm mit den psionisch strahlenden Atomkernen aus. Dorjan kann also fast alles wiederhaben, sobald wir fertig sind.« Anlytha erhob sich. »Das wird ihm gefallen. Ich werde sofort …« »Nichts wirst du!« entschied Algonkin-Yat ta. »Jedenfalls nicht vor morgen früh! Oder willst du ihn jetzt stören?« Anlytha setzte sich im Schneidersitz. »Dieser Schurke!« Der Kundschafter lächelte. »Außerdem habe ich vor, nachher zu tauchen und ein paar leckere Fische zu fangen, die wir uns dann grillen können.« Anlytha zwitscherte erfreut. »Das ist eine gute Botschaft. Beeile dich, Yatta!« »Yatta?« echote der Kundschafter. »Das klingt mir besser als Algonkin«, meinte Anlytha. »Es klingt wie ein Kosena me.« »Du wirst dich beherrschen müssen«, er widerte Algonkin-Yatta, während er sich für den Tauchgang bis auf eine kurze Hose ent kleidete.
8. Dorstellarain erschrak, als Marcus Aureli us, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich neben dem Portikus stand, durch den er ge rade gehen wollte. »Ich habe nur etwas vergessen, Marcus«, stammelte der Pthorer in tödlicher Verlegen heit. Der Kaiser musterte ihn aufmerksam. »Genau das glaube ich dir nicht, Dorjan Pthoricus Clanocis! Ein Gladiator verläßt niemals kampflos die Arena. Was die Allna tur jedem zuträgt, ist ihm zuträglich, und ge rade dann zuträglich, wann sie es zuträgt.« »Was höre ich da!« staunte Dorstellarain. »Das war ja direkt Philosophie!« Marcus Aurelius nickte und lächelte ge schmeichelt.
»Philosophie, zu der du mich angeregt hast, Dorjan. Ich ließ mir mangels anderer Beschäftigung heute nacht deine gestrigen Aussprüche durch den Kopf gehen und fand dabei selbst einige der Selbstbetrachtung entsprungenen Worte. Es ist sehr ungewöhn lich für einen Gladiator, daß er weise Aus sprüche formuliert. Ich hätte dich gern im mer in meiner Nähe, sagen wir als Verwalter meines Hauses. Selbstverständlich würde ich dich, falls du den Posten annehmen willst, zum Freien ernennen.« Dorstellarain nahm seinen Gladiatoren helm ab, da es ihm darunter plötzlich zu warm geworden war. Das Angebot des Kai sers war mehr, als er sich in so kurzer Zeit zu träumen gewagt hatte. Mit dem uralten Wissen von Pthor würde er, soweit er dar über verfügte, den Kaiser bald noch stärker beeindrucken als bisher. Andererseits schämte er sich, weil Marcus Aurelius derart großzügig und gelassen über das Verhältnis hinwegsah, das er mit seiner Ehegattin ange knüpft hatte und das sie sicher aufrechterhal ten wollte. Marcus legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Es spricht nur für dich, daß du Entschei dungen von solcher Tragweite nicht aus dem Stand heraus fällst, Dorjan. Überlege dir al les gut und sage mir morgen abend Be scheid.« »Ich danke dir, Marcus«, erwiderte Dor stellarain und setzte in seiner Verwirrung den Helm verkehrt herum auf. Zwei Prätorianer, die ihn wenig später sa hen und auslachten, legten sich gleich da nach schlafen, wenn auch unfreiwillig. Der Pthorer aber begab sich in den Stall, in dem er sein Pferd untergestellt hatte und ritt auf der Via Ostiensis zur Küste. In der Nähe des alten Hafens von Ostia bog er nach Norden ab und ließ sein Pferd schmale We ge entlangtraben, bis er den von Trajan er richteten Hafen von Rom erreichte, an des sen Mole er seinen Fuß zum erstenmal auf römischen Boden gesetzt hatte – und wo er den berühmtesten Arzt einer ganzen Ge
Die Zeitpanne schichtsepoche hinterhältig überfallen und beraubt hatte, wie er beschämt dachte. Glücklicherweise hatte Galenus damals sein Gesicht nicht gesehen, da Dorstellarain ihn von hinten niedergeschlagen hatte. Da durch konnte er ihn nicht wiedererkennen. Nur die Gattin des Kaisers dürfte sich zu sammengereimt haben, wer den Arzt über fallen hatte. Dorstellarain band sein Pferd im Schatten einer Baumgruppe fest, ging zum Fischerha fen und lieh sich von einem schwatzhaften Küstenfischer ein kleines Ruderboot. Anschließend kostete er das Gefühl aus, das aufgeplatzte blutende Blasen bereiten, weil er die Hände zur Abkühlung immer wieder ins Wasser getaucht hatte. Als er un gefähr die Stelle erreichte, an der die Zeit kapsel gesunken sein mußte, warf er den Anker aus Eisenholz aus, entkleidete sich und sprang über Bord. Das Salzwasser brannte schmerzhaft in seinen aufgeplatzten Blasen und in den Au gen, aber der Pthorer ließ sich nicht beirren. Er brauchte nur fünfmal zu tauchen, bis er die Kapsel an einer relativ ruhigen Stelle des Deltas der Tibermündung auf Grund ent deckte. Er tauchte noch einmal auf, um durch zweiminütiges kräftiges Durchatmen sein Blut mit einer Sauerstoffreserve für fünf Mi nuten anzureichern, dann schwamm er ziel sicher auf die Kapsel zu. Als er die offene Schleuse entdeckte, er schrak er zuerst, denn er fürchtete, sie könn te sich durch eine Panne geöffnet haben, und das Wasser hätte Algonkin-Yatta und Anly tha ertränkt. Aber dann sah er in ziemlicher Entfernung schemenhaft den Kundschafter auf einen Schwarm Fische zugleiten und war erleichtert. Lautlos glitt er in die offene Schleusen kammer und verschloß das Außenschott. Danach öffnete er das Innenschott. Anlytha hatte die Geräusche dabei offen sichtlich gehört, denn sie sagte zwitschernd: »Fein, daß du wieder da bist, Yatta! Du bist eben doch verläßlich und nicht so ein
47 treuloser Herumtreiber wie Dorjan, dem ich ein Heer römischer Läuse auf die Haut wün sche.« Dorstellarain grinste, betrat die Innenzelle und verstellte seine Stimme so, daß sie wie die des Kundschafters klang. »Aber er hat Erfolg gehabt, Lytha. Drau ßen hörte ich, wie die Leute im Hafen schri en, daß Dorjan zum Kaiser ausgerufen wor den sei.« »Niemals!« zeterte Anlytha und fuhr her um. »Und nenne mich nicht Lytha!« Mit offenem Mund starrte sie den Pthorer an, dann sagte sie, das Gesicht abwendend: »Schäme dich, Kaiser Dorjan!« Der Pthorer ließ sich nieder, leerte das Glas mit Geetee, das vor Anlytha stand und sagte: »Kaiser bin ich noch nicht, wohl aber der Verwalter des kaiserlichen Palasts und der Vertraute des Marcus Aurelius Antonius. Alle Türen des Palasts stehen mir offen.« »Alle brauchst du nicht, Dorjan«, erklärte Anlytha trocken. »Du brauchst nur zwei of fene Türen: die, die zu den Räumen führt, in denen du deine Nächte verbringst – und die Tür zur Schatzkammer. Wir brauchen näm lich mehr als eine Tonne Gold, und in deiner neuen Stellung dürfte es einem Genie wie dir leichtfallen, es zu organisieren.« Dorstellarain schnappte nach Luft. Er hat te seine Fassung noch nicht wiedererlangt, als das Innenschott sich schloß und als we nig später der Kundschafter die Innenzelle betrat, mehrere große Fische in der Hand.
* Als Dorstellarain gegen Abend wieder in die Stadt Rom einritt, fiel ihm gleich die Aufregung auf, die unter den Bürgern und Sklaven herrschte. Zusammen mit den von Legionären begleiteten Wagenzügen und den durch die Straßen von Rom streifenden Soldaten-Abteilungen weckte das in Dorjan die Ahnung, daß sich große Ereignisse an bahnten. Mit Anlythas moralischer Hilfe und Al
48 gonkin-Yattas sachlichen Argumenten war in dem Pthorer der Entschluß gereift wor den, das ihm von Marcus Aurelius angebotene Amt anzunehmen. Er hatte versprochen, das benötigte Gold zu besorgen, wenn auch nur nach und nach in kleineren Mengen. An ders war es nicht möglich, wenn seine Be schaffungsaktion nicht bald auffallen und Gegenreaktionen hervorrufen sollte. Jedenfalls kehrte Dorjan nicht in die Gla diatorenkaserne zurück, sondern ritt sofort zum Haus des Marcus. Dort tat sich auch ei niges. Als erstes fielen Dorjan die Prätoria ner auf, die sich um die gesamten Mauern des Grundstücks postiert hatten. Anschei nend hatten die beiden Prätorianer, die sei nen Zorn gespürt hatten, geplaudert, denn ihre Kameraden empfingen den Gladiator mit finsteren Blicken. Sie wollten ihm sogar den Zutritt zum Hause des Kaisers verbie ten. »Du hast hier nichts zu suchen!« herrschte ihn ihr Anführer, ein Legatus, an. Dorjan beherrschte sich meisterhaft und zwang sich, den Legaten nicht einfach nie derzureiten. »Frage bei Marcus an, Affendressierer!« forderte er kalt. »Solltest du es nicht tun, wird er dich mit dem Hals in eine Gabel stecken und dich nach altem Brauch zu Tode peitschen.« Einige Sekunden lang sah es aus, als woll te der Legat den Gladiator von seinen Präto rianern in Stücke hauen lassen, doch dann schien der Unterfeldherr ernsthaft darüber nachzudenken, was für Folgen es für ihn ha ben würde, wenn der Gladiator recht hatte. Er gab sich einen Ruck und ging selbst in den Palast. Als er zurückkehrte, war sein Gesicht puterrot angelaufen. »Du darfst passieren, Dorjan!« sagte er mit vor Wut heiserer Stimme. »Danke!« erwiderte Dorjan und ritt durch das Tor, ohne den Legaten noch eines Blickes zu würdigen. Im stillen aber faßte er den Entschluß, für eine baldige Ablösung dieses Legaten zu sorgen. Er wußte, daß er in ihm einen Feind besaß, der mühelos für
H. G. Ewers seine heimliche Ermordung sorgen konnte, und er war nicht gewillt, seine Aufmerksam keit, die mehr als ausgelastet war, auch noch weiter zu zersplittern. Als er den Palast betrat, eilte ihm Marcus Aurelius mit gerötetem Gesicht entgegen. »Krieg!« rief er mehr schmerzlich als be geistert. »Die Parther rennen schon wieder gegen die Euphratlinie an. Ich werde mit ei nem starken Heer übers Meer fahren und die Unruhestifter zurücktreiben!« »Die Parther?« fragte Dorjan, denn er be saß bisher noch keine Informationen über »die Parther«. »Reiterkrieger, die aus den Steppen öst lich des Kaspisees kamen und zuerst die Sa trapie Parthia des Seleukiden-Reiches er oberten und dann die Seleukiden immer wei ter, bis schließlich zum Euphrat, zurück drängten. Sie fingen vor mehr als anderthalb Jahrhunderten einen Krieg mit Rom um Ar menien an und bedrohen außerdem unsere Handelswege nach China und Indien. Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als sie zu schlagen, so daß sie sich nicht so bald wieder erholen können.« »Das klingt unlustig«, meinte Dorjan. Marcus erwiderte bitter: »Ich werde auch keinen Spaß an diesem Feldzug haben – und auch nicht an den nächsten Feldzügen, die ich gegen die Bri tannier, Markomannen, Quaden und Sarma ten führen muß.« Er musterte Dorjan auf merksam: »Wie hast du dich entschieden?« »Ich nehme das Amt an, wenn ich dich auf dem Feldzug gegen die Parther begleiten darf, Marcus.« Marcus Aurelius sah verblüfft aus. »Du willst nicht in meinem Haus bleiben, Dor jan? Aber …« Dorjan konnte sich denken, was Marcus beinahe gesagt hatte. Er wollte ihm zu ver stehen geben, daß seine Ehefrau ihn nicht auf dem Feldzug begleitete. »Was soll ich in deinem Hause, wenn ich keine tiefsinnigen Gespräche mit dir führen kann, Marcus!« erwiderte er. »Außerdem drängt mein heißes Blut mich zu Abenteuern
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– und ich hoffe doch, daß wir im Land der Parther reiche Beute machen werden.« »Das werden wir, denn wir werden sie gen«, versicherte der Kaiser. »Wenn du mit kommst, dann sei morgen bei Sonnenauf gang im großen Hafen. Du wirst das Schiff erkennen, mit dem wir beide übers Meer fahren werden.« »Ich werde pünktlich dort sein«, ver sprach Dorjan.
* Dorstellarain war schon lange vor Son nenaufgang im Hafen von Rom. Er kümmer te sich aber nicht um die Kriegs- und Last schiffe, die an den Kais lagen und sich nur als dunkle Schemen gegen die fahle Hellig keit des Meeres abhoben. Das Boot, das er sich am Vortag entliehen hatte, lag wieder an derselben Stelle. Nur der Fischer war nicht da. Wahrscheinlich schlief er seinen Rausch aus. Das kümmerte den Pthorer nicht. Er nahm das Boot und ru derte zu der Position über der Zeitkapsel. Dort warf er wiederum den Anker aus und tauchte. Algonkin-Yatta ließ ihn erst ein, nachdem er mehrmals mit einem großen Stein gegen die Kapsel geschlagen hatte. »Warum weckst du uns?« fragte er gäh nend, als Dorjan die Innenzelle betrat. »Ich muß fort«, erklärte der Pthorer. »Marcus führt einen Feldzug gegen die Par ther. Ich begleite ihn. Bei Morgengrauen ste chen wir in See und fahren übers Meer in ein fremdes Land.« »Abenteurer!« schimpfte Anlytha. »So schnell vergißt du deine Versprechen?« »Aber, aber!« erwiderte Dorjan lächelnd. »Ich werde an der Seite des römischen Kai sers das Arsakiden-Reich und die umliegen den Dörfer erobern und sämtliche Geldkat zen, Truhen, Schränke und Verstecke aus räumen lassen. Ihr werdet sehen, ich brauche ein ganzes Lastschiff allein für meine – un sere – Beute, wenn ich zurückkomme.« »Wenn du zurückkommst!« sagte Algon
kin-Yatta bedeutungsvoll. »Und wann kommst du in diesem Fall zurück?« »Zehn Tage, zwanzig Tage!« erwiderte der Pthorer. »Ich weiß ja nicht, wie schnell Roms Schiffe sind.« »Es sind keine Raumschiffe, sondern Se gelschiffe mit Ruderern«, erklärte der Kund schafter. »Und auf dem Lande kommt ein Heer nicht schneller voran als seine zu Fuß marschierenden Legionäre! Es dauert min destens ein Jahr, bis du zurückkehrst.« Verwundert blickte der Pthorer den Kund schafter an. »Was macht es euch aus, Algonkin! Mit Hilfe der Zeitkapsel können wir die Warte zeit anschließend negieren. Und für mich ist es die einzige realisierbare Möglichkeit, zu soviel Gold auf einem Haufen zu kommen, wie du für die Instandsetzung der Kapsel brauchst.« »Wir können die Wartezeit negieren, aber nicht die Ereignisse, die sich in ihr abspielen werden«, erwiderte Algonkin-Yatta, dann machte er eine Gebärde der Resignation. »Aber ich predige tauben Ohren. Dorjan, du hast unseren Segen! Aber nimm dich vor Waffen, Schlangen und Seuchen in acht! Al les Gute – und reiche Beute!« Über das letz te Wort schämte er sich sogleich, aber da war es schon heraus. Anderthalb Stunden später stand Dorstel larain von Pthor neben dem römischen Kai ser Marcus Aurelius Antonius auf dem Hin terdeck eines massig und dennoch elegant wirkenden Fünfruderers vor der überdachten Kabine, in der der Kaiser und sein Vertrau ter Dorjan während der Seereise wohnen würden. Dort, wo die mächtigste irdische Stadt ei nes ganzen Zeitalters lag, ging blutrot die Sonne auf. Unter den Füßen der beiden Männer und auf Deck nahmen rund dreihun dert Matrosen und Ruderer ihre Arbeit auf. Hundertzwanzig kampferprobte Soldaten und zwanzig der besten Offiziere und Unter offiziere schauten auf den Kaiser, als er dem Schiffsführer das Zeichen zum Start gab. Knarrend bewegten sich die Riemen. Die
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Segel waren noch eingeholt; sie würden erst außerhalb des Hafenbeckens gesetzt werden. Fasziniert blickte Dorstellarain auf die mar tialische Pracht, auf die anderen Kriegsschif fe und das Land, das hinter ihnen zurückb lieb. »Es ist wunderbar, nicht wahr, Dorjan?« fragte Marcus Aurelius leise. »Schade, daß des Menschen Unrast den Frieden stört.« »Der Mensch bedroht sich selber nur, doch bleibt es nicht so, denn irgendwo lauert ein schwarzer Moloch und wartet auf den günstigsten Augenblick, um alle Welten in den dunklen Mahlstrom zu ziehen!« »Welche prophetischen Worte!« rief der Kaiser. Dorstellarain wandte sich um und schaute nach Westen, wo sich die Horizontlinie des Meeres scharf vom blaßblauen Himmel ab hob, dann streckte er die Hand in die Rich tung des Verstecks der Zeitkapsel und sagte, halb für Marcus, halb für seine anderen Freunde: »Du sagst es!« Der Kaiser nickte und sah die Sonde
nicht, die im Schutz des gläsern wirkenden Tarnfelds sein Haupt umrundete und dem vorwitzigen Pthorer eine derbe Kopfnuß verpaßte. Dafür sah er gleich darauf die Trä nen in den Augen Dorjans – und voller Rüh rung über den vermeintlichen Gleichklang ihrer Gefühle umarmte er seinen Vertrauten und küßte ihn auf beide Wangen. »Halte die Ohren steif, du falscher Pro phet!« flüsterte es aus der Sonde in Dorjans rechtes Ohr. Dann vernahm der Pthorer eine Minute lang das nervenzerfetzende Kichern Anlythas. »Das Schicksal schmiedet uns zusammen, Marcus!« sagte er, als das Kichern zu laut wurde und er fürchtete, jemand könnte es hören. Schmerzlich verzog er das Gesicht, als die Sonde mit einer letzten Kopfnuß Abschied nahm …
E N D E
ENDE