Die Zeit-Jäger
von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans: Demeter Carol Washington –
Die Chefin der Time-Squad ha...
9 downloads
635 Views
413KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Zeit-Jäger
von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans: Demeter Carol Washington –
Die Chefin der Time-Squad halt eine wichtige Besprechung ab.
Don Slayter - Leiter des Time-Squad-Büros in San Francisco.
Tovar Bistarc, Inky und Charriba
Drei Zeitagenten - Millionen Jahre in der Vergangenheit.
1. Ich hatte es mir bequem gemacht. Seit meinem letzten Einsatz durfte ich das; es war mir sogar gestattet, die Füße auf Demeter Carols Schreibtisch zu legen. Angeblich hatte ich die etwas befremdlichen Manieren eines Khans der KököNomaden noch nicht völlig überwunden. Wir waren zu siebt: D. C. , unsere Chefin, Don Slayter, Leiter der Time-Squad in San Francisco, Anastasius Immekeppel, kurz Inky genannt, Maipo Ruedo, der hünenhafte Schwarze mit dem Elfenbeingebiß, Joshua Slocum, vom Seewetter gebräunt und mit dem unvermeidlichen Seeräuberbart, und ich, Tovar Bistarc. Den siebten Mann kannte ich noch nicht. Es war ein Indianer, groß und muskulös, sehr schweigsam und beherrscht. „Wenn ich die gesamte Geschichte wiederhole“, eröffnete Slayter seinen Vortrag zur Lage, „dann nicht, um Sie zu langweilen. Ich weiß sehr wohl, daß Sie diese Einsätze abgewickelt haben - jeder einzelne von Ihnen hat zum Ergrauen meiner Haare beigetragen. Ich fasse die Ereignisse zusammen, um das Wesentliche besser hervorheben zu können.“ „Nur zu“, ermunterte Inky ihn und grinste breit. Daß er vorlaut war, lag hauptsächlich daran, daß er in seiner ursprünglichen Zeit den Mund nicht hatte aufmachen dürfen. Ich hatte ihn Anno 1944 als Gefreiten der reichsdeutschen Wehrmacht aufgelesen und in meine Zeit mitgenommen. „Alles fing damit an“, setzte Slayter seinen Vortrag fort, nicht ohne Inky mit einem verweisenden Blick bedacht zu haben, „daß Tovar entdecken mußte, daß es außer der Time-Squad noch eine andere Organisation gibt, die über technisch ausgereifte Zeitmaschinen verfügt. Bei Tovars erstem Einsatz für die Time-Squad fanden wir nur dies heraus. Einen Namen bekam der Gegner erst durch das Unternehmen Zeit-Camp. Wir entdeckten ein Ausbildungslager, in dem Zeit-Verschleppte zu Elitesoldaten gedrillt werden wollten. Neben unserem Freund Inky fanden wir dort eine Führungspersönlichkeit des
Gegners - Valcarcel.“ Es war keine Effekthascherei, daß er nach diesem Namen eine Pause machte. Er brauchte uns nicht mit solchen Mätzchen zu beeindrucken wir bekamen auch ohnedies eine Gänsehaut. Niemand, der Valcarcel in voller Aktion erlebt hatte, konnte seinen Namen noch auf normale Weise anhören oder gar aussprechen. „Nach diesen beiden Operationen stand für uns eines fest: Wir mußten neben unserer eigentlichen Arbeit ein zweites Betätigungsfeld aufbauen. Die TimeSquad durfte sich nicht länger ausschließlich damit beschäftigen, normale Verbrechen aufzuklären und für ordentliche Gerichte vorzubereiten. Wir mußten vielmehr das Time-Intelligence-Corps schaffen, als erste Organisation, die dem Gegner Paroli bieten sollte. Daß diese Abteilung der Time-Squad aus aktuellen, innenpolitischen Gründen stets im geheimen arbeiten mußte, hat sich als ausgesprochenes Handikap erwiesen. Um künftigen Klagen vorzubeugen, möchte ich hier verkünden: Wir werden auch weiterhin nicht an die Öffentlichkeit unserer Zeit treten. Eine allgemeine Panik würde uns nur schaden und dem Gegner Vorschub leisten. Kommen wir zum dritten Unternehmen, der Operation Zeit-Piraten. Es ist uns gelungen, einen Stützpunkt des Gegners auszuheben, im Jahre 1692 und am Ort Port Royal.“ Das war das Vertrackte mit der Zeitreise - man mußte zu jeder Ortsangabe stets eine Zeitbestimmung mitliefern. „Von diesem Unternehmen brachten wir außer einigen ungebetenen Gästen“ der vorwurfsvolle Blick galt diesmal mir - „nur einige Informationen mit. Wir mußten feststellen, daß die Zei tmaschinen des Gegners den unseren technisch überlegen sind, und wir fanden weiterhin heraus, daß unser Gegner nichtmenschlichen Ursprungs ist. Eine letzte Bestätigung lieferte uns dafür die Aktion Zeit-Zauberer. Es gelang uns zwar, Valcarcel in Atlantis festzunehmen, aber er starb uns unter den Händen. Kommen wir zum nächsten Unternehmen. Uns war klar, daß wir für den schlimmsten aller Fälle gerüstet sein mußten. Die Konsequenz aus dieser Einsicht wurde mit der Operation Zeit-Arche gezogen. Der Auftrag lautete, für die Time-Squad einen sicheren Zufluchtsort in der Zukunft zu schaffen. Auch dieses Unternehmen endete mit einem Fehlschlag. Gefunden wurde ein Stützpunkt des Gegners, der zwar zerstört werden konnte, aber dabei nur neue Rätsel aufgab.“ Slayter holte tief Luft und blätterte in seinen Unterlagen. „Zu allem Überfluß mußten wir dann feststellen, daß unser - fast möchte ich sagen: persönlicher - Gegner Valcarcel keineswegs tot war. Charriba White Cloud stieß während der Aktion Zeit-Scout auf den Zeit-Zauberer. Er hat ihn zwar unschädlich gemacht, aber ich fürchte, das wird nicht lange anhalten.“ Charriba hieß der Indianer also. Ich hatte nicht gewußt, daß neuerdings auch Indianer für die Time-Squad arbeiteten. „Vorläufiger Höhepunkt unserer Arbeit war Tovar Bistarcs Einsatz als ZeitKhan. Bistarc übernahm zu diesem Zweck den Körper eines Ungeborenen. Geboren wurde dieses Kind auf dem Planeten Ceres, der in zirka 80 000
Jahren an dieser Stelle des Universums stehen wird. Leider fanden wir heraus,
daß in 80 000 Jahren wir Menschen offenbar den Kampf gegen den Gegner
verloren haben werden. Die Menschen scheinen die Söldner für unseren Feind
geworden zu sein, zwar der Schrecken der Galaxis, aber dennoch Sklaven.
Ceres und seine Bewohner wurden von diesen Terranern überfallen und
erobert. Das ist der letzte Stand der Dinge.“
„Und wie soll es weitergehen?“ erkundigte sich Maipo.
Jetzt war die Reihe an D. C. , zu antworten. Sie trug ein knöchellanges Kleid
aus grünem Samt, der prachtvoll mit ihren roten Haaren kontrastierte.
- „So beschränkt unsere Mittel auch sind“, sagte sie halblaut; ihre Stimme
klang sehr nachdenklich,“ wir werden den Kampf auf drei Ebenen fortsetzen.
Zunächst einmal werden wir versuchen, in dieser Zeit unsere Machtmittel zu
vergrößern. Es wird meine Aufgabe sein, vom Senat die entsprechenden
Finanzmittel zu beschaffen!
Gleichzeitig werden wir zwei völlig verschiedenartige Operationen starten. Ich
habe diese beiden Operationen Zeit-Archiv und Zeit-Späher genannt.“
Vorstellen konnten wir uns bei diesen beiden Namen bestenfalls den
Gedankenstrich.
„Das Unternehmen Zeit -Späher wird in die Zukunft führen. Mr. Bistarc hat,
als er den Gastkörper des Kökö-Khans Kurthan verließ, diesem versprochen,
ihm und seinem Volk im Kampf gegen die Terraner zu helfen.“
Mein Magen drehte sich förmlich um bei dieser Formulierung. Menschen, die
gegen Menschen kämpften!
„Die Zeit-Späher werden zum einen versuchen, mit Hilfe der Ceresiden eine
Untergrundarmee aufzustellen, die dem Gegner zu schaffen machen wird. Zum
anderen wird ihre Aufgabe darin bestehen, möglichst viele Informationen zu
sammeln. Uns interessiert alles, was mit den gefürchteten Terranern und ihren
Oberherren zusammenhängt.“
„Und das Zeit-Archiv?“ warf ich ein.
Demeter Carol Washington strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Das zweite Unternehmen“, erklärte sie uns, „zielt auf die Vergangenheit. In
der Geschichte der Menschheit gibt es so viele Dunkelstellen, daß wir erst
dann vernünftig werden arbeiten können, wenn wir in diesen Fragen Klarheit
haben. Eine der wichtigsten, wenn nicht gar die wichtigste Quelle überhaupt
für die Früh- und Vorgeschichte der Menschheit ist die große Bibliothek von
Alexandria mit ihren mehr als 200 000 Bänden. Da von diesen Schriftstücken
so gut wie nichts übriggeblieben ist, werden wir die Papyri an Ort und Stelle
studieren müssen. Dies wird die Aufgabe der Operation Zeit-Archiv sein.“
„Ist das alles?“ fragte Charriba. Er hatte eine angenehm dunkle Stimme.
D. C. lächelte. „Für unsere Bedürfnisse reicht es“, sagte sie. „Ich schlage vor, daß Maipo und
Joshua sich um die alexandrinische Bibliothek kümmern, während Tovar, Inky
und Charriba sich der Ceres-Bewohner annehmen werden.“
„Kann ich...“, begann Charriba, und Inky sprang auf.
„Nein!“ schrie er. „Er wird seinen vermaledeiten Gaul nicht mitnehmen! Ein
Verrückter reicht mir!“
Ich hatte Inky seit einiger Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen, und ich
verstand den Grund für seine Erregung nicht. Nur eines war mir sofort klar -
Inky und der Indianer waren alles andere als gute Freunde.
„Sie werden das Unternehmen ohnehin nur als Beobachter durchführen“, gab
D. C. bekannt. „Ihre Frage erübrigt sich damit, Charriba.“ „Wann sollen wir aufbrechen?“ wollte ich wissen. „Sind Sie wieder so weit hergestellt, daß Sie an einen Einsatz denken können?“ fragte D. C. zurück. Ich lachte großspurig. „Ich bin so fit wie je, Chefin“, entgegnete ich. „Von mir aus kann es sofort losgehen.“ „Das Lehrprogramm ist noch nicht fertig“, wandte Slayter ein. „Wir werden noch mindestens einen Monat brauchen, bis Mr. Bistarc das Lehrprogramm für die Ceres-Sprache fertiggestellt hat. Und dann werden die anderen Teilnehmer der Operation diese Sprache erst lernen müssen.“ „Also kann es frühestens in drei bis vier Monaten losgehen“, murmelte Inky enttäuscht. „Was veranstalten wir in der Zwischenzeit?“ Diese Frage hätte er niemals stellen dürfen. Wenn die Time-Squad etwas haßte, dann waren es Mitarbeiter, die sich über Beschäftigungsmangel beklagten. Gegen solche Klagen wußte vor allem D. C. ein unfehlbares Mittel - Training, Arbeit, Training. Sie fand Dinge und Fähigkeiten, die man einüben oder trainieren konnte, die sich in keinem Lexikon aufspüren ließen. So hatte ich einen Schnellkurs in Ikebana, der japanischen Kunst des Blumensteckens, absolvieren müssen, danach hatte man mich in die Geheimnisse der PizzaBäckerei eingeweiht. Von einem aktiven Agenten der Time-Squad wurde erwartet, daß er nicht nur in jede beliebige Rolle schlüpfen konnte - er hatte in dieser Rolle auch perfekt zu sein, und das schloß nun einmal Dinge ein, an die man normalerweise nicht dachte: Kartenspiele, Trinkgewohnheiten, Nahrungsmittelkunde, modische Kenntnisse... Die Liste ließ sich ins Endlose verlängern. Nach diesen Erfahrungen wußte - ich bereits, was D. C. sagen würde, bevor sie auch nur den Mund aufgemacht hatte. Zur Ruhe kommen ließ sie uns nie und nimmer. „Sie werden sich in den nächsten Wochen mit Biologie beschäftigen“, verhieß uns D. C. „Sie werden lernen, wie man Pflanzen bestimmt, wissenschaftlich einordnet, erforscht, ihre Nutzbarkeit ermittelt, ihr Stoffwechsel funktioniert...“ „Ich verstehe“, sagte Inky. „Wir werden uns erst wieder bei Ihnen melden, wenn wir selbst Blätter abwerfen können und Früchte tragen.“ Ich bedachte ihn mit einem bitterbösen Blick. Etwas Schönes hatte er uns mit seiner Frage eingebrockt. Pflanzen! Und das mir, der ich ein leidenschaftlicher Fleischvertilger war. *
Nach Ablauf einer Woche leistete ich Inky im stillen Abbitte. Wir waren nicht in einem vegetarischen Kloster gelandet, ganz im Gegenteil. Die Forscher, die in diesem Institut arbeiteten, zogen fleischhaltige Kost entschieden vor. Da der Versuchsanstalt ein Institut für Zuchtviehhaltung angegliedert war, bekamen wir Steaks und Braten in Hülle und Fülle. Besser hätte es uns nirgendwo gehen können. Ansonsten waren wir eingespannt - D. C. hatte eigens für uns ein Programm zusammenstellen lassen, das uns kaum zur Ruhe kommen ließ. Die Unterrichtsstunden fingen am frühen Morgen an, und erst spät am Abend konnten wir die Lehrbücher und filme zur Seite legen und vergessen. Die Fachwissenschaftler des Instituts gaben sich alle Mühe mit uns, ersannen neue Beweisverfahren, versuchten neue Experimente, die uns bestimmte Abläufe in der Natur veranschaulichen sollten - sie taten ihr Bestes, und so blieb uns nichts anderes übrig, als ebenfalls äußerste Anstrengung zu zeigen. Wir waren daher auch nicht sichtbar verärgert, als am zehnten Tag unseres Bildungsurlaubs Dr. K urtschew bei uns auftauchte und uns in das Zentrallabor bat. Als einziger Wissenschaftler war er annähernd über unsere Aufgabe informiert worden. Er wußte, daß wir einer streng geheimen Spezialabteilung der Polizei angehörten. „Ich weiß, daß Sie einen sehr anstrengenden Tag hinter sich haben“, sagte Kurtschew, während wir zum Labor hinübergingen. „Aber wir haben etwas gefunden, das uns alle sehr erstaunt hat. Mit normalen wissenschaftlichen Methoden kommen wir nicht einen Schritt weiter. Ich habe gehört, daß sich Ihre Abteilung mit - sagen wir - nebenwissenschaftlichen Verfahren beschäftigt. Vielleicht können Sie mit unserem Problem etwas anfangen.“ Er tat mir leid, unser Doktor Kurtschew. Er sah genauso aus, wie man sich einen führenden Biologen vorstellte - klein, zierlich, weißhaarig und ein wenig verträumt. Daß dieser Mann so leichthin seine Kapitulationsurkunde unterzeichnete und zu einem Wissenschaftsbereich Zuflucht nahm, der allgemein als anrüchig angesehen wurde, sprach Bände. Offenbar war Dr. Kurtschew tatsächlich auf ein ungewöhnliches Problem gestoßen - allerdings hatte ich große Zweifel, ob wir ihm würden helfen können. Das Zentrallabor lag tief unter der. Erde und ,war nur über einen Antigravschacht zu erreichen. Wir schwebten nach Dr. Kurtschew in die Tiefe und sahen uns dabei etwas hilflos an. Inky zuckte mit den Schultern, ich machte ein nachdenkliches Gesicht, und Charriba hatte „Maske gemacht“, wie Inky sein wie versteinert wirkendes Standardgesicht nannte. Wir waren die einzigen Besucher des ausgedehnten Labortrakts, in dem es alles gab, was einen Biologen erfreuen konnte. Vom größten Teil der Geräte kannten wir nicht einmal den Namen, geschweige denn Verwendungszweck und Funktionsweise. Kurtschew ging zu einem Tisch hinüber und hob eine Handvoll Ähren auf. „Sie wissen, was das ist?“
Ich nickte sofort, wir hatten unsere Lektionen gelernt. „Triticale“, rasselte ich los. „Eine Hybridzüchtung aus Weizen, lateinisch Triticum, und Roggen, lateinisch Secale. Erste erfolgreiche Züchtung im Jahre 1981, seither das irdische Standardgetreide.“ „Sehr richtig“, murmelte Kurtschew leicht erheitert. „Aber sehen Sie sich bitte einmal die Ähren genauer ah!“ Er drückte jedem von uns ein paar Ähren in die Finger. Das Korn war frisch geschnitten, fiel mir auf. In den USA war noch nicht Erntezeit, wahrscheinlich stammte das Getreide also von einem anderen Erdteil. Ich befühlte die Körner, zerdrückte einige und roch daran. Nichts Auffälliges war festzustellen. „Nehmen Sie die Elektronenmikroskope zu Hilfe“, riet uns Kurtschew. Wir befolgten den Rat, und wenig später konnten wir die einzelnen Körner in hauchdünnen Schnitten sehen, mehrmillionenfach vergrößert. Wir waren keine Fachleute, aber selbst uns wurde nach einiger Zeit klar, daß sich diese Getreidekörner ganz erheblich von normalen Triticalekörnern unterschieden. Die Körner, die wir. untersuchten, waren nicht keimfähig. Ich blickte zu Dr. Kurtschew, der mit verschränkten Armen in meiner Nähe stand. „Ist es das, was Sie meinten?“ fragte ich. „Daß diese Körner nicht keimfähig sind, also keine neue Frucht hervorbringen werden?“ Kurtschew nickte. „Das allein wäre nicht weiter schlimm“, sagte er leise. „Ich will Ihnen die Geschichte von Anfang an erzählen. Wir untersuchen Triticalekörner routinemäßig. Diese Spezies wurde in unseren Labors hergestellt, und wir wollten natürlich wissen, was aus unserer Züchtung geworden ist. Daher studieren wir seit Jahren die Ernteerträge unserer Hybridpflanzen, wo immer sie auch eingesetzt werden. Jahr für Jahr werden Tonnen von Getreide bei uns abgeliefert, und wir nehmen davon Stichproben und untersuchen sie. Auf diese Weise haben wir einen genauen Überblick über die Triticaleproduktion der ganzen Welt - Australien natürlich ausgenommen.“ Langsam dämmerte mir, worauf Kurtschew hinauswollte. „Wollen Sie behaupten, dies seien keine Einzelfälle?“ Kurtschew schüttelte langsam den Kopf. „Nein“, sagte er leise. „Es sind keine Einzelfälle. Es sind auch nicht viele Fälle. Die Mehrzahl aller Triticalepflanzen, die zur Zeit auf der Erde wachsen, sind nicht fortpflanzungsfähig!“ Nur Charriba, der sich offenbar durch überhaupt nichts aus der Ruhe bringen ließ, fragte kalt: „Quote?“ Kurtschew antwortete flüsternd: „Nur noch eine von einer Million Ähren ist fruchtbar.“ Charriba schaltete das Elektronenmikroskop aus und kam langsam näher. „Das bedeutet“, sagte er gelassen, „daß der Menschheit nur noch eine Ernte an Brotgetreide zur Verfügung steht. Für das nächste Jahr gibt es praktisch kein Saatgut mehr.“
„Genauso ist es“, bestätigte Kurtschew tonlos. „Wir hielten das zunächst für einen Zufall, bis wir bei einer Reihenuntersuchung feststellen mußten, daß fast alle Triticalepflanzen davon betroffen sind.“ „Was hat diese Unfruchtbarkeit hervorgerufen?“ fragte Charriba weiter. Er hatte seinen Block hervorgezogen und machte sich Notizen. „Ein Virus vielleicht“, erklärte Kurtschew. „Wir hatten nicht genügend Zeit, die Angelegenheit zu untersuchen. Sobald ich einen Verdacht hegte, habe ich versucht, die Sache geheimzuhalten. Es gäbe eine weltweite Panik, würden diese Tatsachen bekannt. Bedenken Sie - es wird im nächsten Jahr praktisch kein Brotgetreide geben! Natürlich, wir haben Ausweichmöglichkeiten aber nicht in diesem Ausmaß. Wenn wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, können wir vielleicht ein Drittel der Menschheit retten - mehr nicht. Ich brauche Ihnen wohl nicht auszumalen, was das bedeutet!“ Nein, das brauchte er nicht. Die Schreckensszenen drängten sich mir förmlich auf. Nur jeder dritte konnte überleben, und das vermutlich auch nur knapp. Es würde zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen, zu einem erbarmungslosen Kampf aller gegen alle. Inky war es, der als erster den entscheidenden Verdacht hatte. „Ich weiß „, begann er bedächtig, „daß es Viren gibt, die Pflanzen befallen können. Aber mich wundert, daß so ein Virus derart plötzlich auftaucht und dann sofort weltweit verbreitet ist. Da stimmt doch etwas nicht. Ist dieses Virus eigentlich... normal? Mir fällt kein besseres Wort dafür ein.“ Leise, aber sehr deutlich sagte Dr. Kurtschew: „Sie haben mit Ihrem Verdacht vermutlich recht. Es gibt Anhaltspunkte, daß dieses Virus kein Naturprodukt ist, sondern in einem Laboratorium gezüchtet wurde!“
2. „Australien scheidet demnach aus!“ stellte Inky fest. Es war eine überflüssige Bemerkung, denn mit Australien hatte der Rest der Welt seit langer Zeit nichts mehr zu tun. „Wir haben überall herumgefragt“, sagte Demeter Carol Washington. „Keines der Labors, die wir kennen, hat sich in den letzten Jahren mit derartigen Viren beschäftigt. Führende Virologen und Genetiker haben zudem behauptet, die derzeitigen Kenntnisse und Möglichkeiten irdischer Laboratorien reichten überhaupt noch nicht aus, um ein derart kompliziertes Virus züchten zu können.“ „Wenn sie es schon nicht herstellen können“, warf Inky ein, „kennen die famosen Wissenschaftler dann wenigstens ein Mittel, das Virus zu bekämpfen?“ „Ein Gegenmittel wurde bereits gefunden“, wußte D. C. zu berichten. „Genauer gesagt, es wurde in überraschend kurzer Zeit eine Triticale-Spezies gefunden, die gegen das Virus immun ist. Aber bis wir eine Ernte aus dieser
Züchtung bekommen, die genügend groß ist, werden Jahrzehnte vergehen. Unser Problem aber lautet, wie wir für das nächste Jahr genügend Brotgetreide heranschaffen.“ Es wurde still in dem kleinen Konferenzzimmer. Es hatte sich die gleiche Runde eingefunden, die vor unserem Abflug in das biologische Institut getagt hatte. Diesmal war allerdings auch noch dieser Bursche mit der Bürstenfrisur anwesend, der auf den Namen Smith hörte und Demeter Carols Sekretär darstellte - weder Inky noch ich mochten den Kerl. Aber es war ausgerechnet Smith, der einen Einfall hatte. „Brauchen wir“ - wen meinte der Kerl eigentlich mit wir? - „eigentlich Brotgetreide - oder nur ausreichende Mengen von Saatgut?“ „Saatgut würde reichen“, erklärte D. C. „Worauf wollen Sie hinaus, William?“ „Der Vorrat an keimfähigem Getreide ist sehr klein“, überlegte der Stoppelkopf laut. „Um aus diesem Vorrat einen Weltjahresbedarf an Saatgut zu züchten, würden wir einige Jahren brauchen. Das Getreide aus diesem Saatgut aber wird bereits in wenigen Monaten dringend gebraucht. Nun, wir haben doch genügend Zeit - zwar nicht in unserer eigenen Ebene, aber in Vergangenheit und Zukunft. “ „Richtig!“ rief ich unwillkürlich aus. Smith war doch gar nicht so übel, wie ich angenommen hatte. Immerhin hatte er einen brauchbaren Einfall, wie man die Menschheit retten konnte, und das war immerhin etwas. „Wir leihen uns das benötigte Saatgut einfach in der Zukunft aus!“ „Dieser Einfall“, bemerkte Smith süffisant, „erscheint mir wenig erfolgversprechend. Sie vergessen, Mr. Bistarc, daß beim augenblicklichen Stand der Dinge die Menschheit keine, Zukunft mehr hat. Ein Kleinkind kann sich ausrechnen, daß es für das Saatgut nur eine Beschaffungszeit geben kann die Vergangenheit!“ Überheblich grinste mich der Bursche an, ich hätte am liebsten zugeschlagen, ob Retter der Menschheit oder nicht. Jedenfalls hatte er nicht das Recht, so zu tun, als wären ich oder mein Einfall hirnrissig. „Sie haben recht“, überlegte D. C. halblaut. „Wir werden uns einen Teil des noch verwendbaren Saatguts besorgen und damit in die Vergangenheit reisen. Dort werden wir Felder anlegen und das Saatgut vermehren. Selbst wenn wir einige Jahre dafür brauchen sollten - in unserer Zeit müssen dabei nicht mehr als ein paar Tage vergehen.“ Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Theoretisch hätten wir nicht eine Sekunde zu verlieren gebraucht, ja, es wäre sogar - rein technischmathematisch - möglich gewesen, daß das Saatgut vor unserer Abreise in die Vergangenheit bei der Time Squad auftauchte. Aber D. C. und ihre Wissenschaftler hatten vor dieser Zeitüberkreuzung eine Heidenangst und taten alles, um solche Paradoxa tunlichst zu vermeiden.
„Ich setzte dafür zehn Tage an“, fuhr D. C. fort. „Zehn Tage in unserer Zeit,
versteht sich. In welches Zeitalter sollen wir unsere Zuchtfarm verlegen? Ich
bitte um Anregungen!“
Charriba hob die Hand.
„Wir sollten alle Zeitalter ausnehmen, in denen Menschen gelebt haben - um Widersprüchlichkeiten in der Geschichte zu vermeiden. Weiterhin schlage ich vor, alle Epochen auszusparen, für deren Geschichte sich Fachwissenschaftler interessieren. Es wird sich vielleicht nicht umgehen lassen, daß wir Spuren verursachen, die wir zu verwischen vergessen. Es genügt ein verkappter Alkoholiker, der halbvolle Whiskyflaschen mitschleppt und versteckt damit dann später erstaunte Paläontologen konstatieren müssen, daß bereits die Australopithecinen Bourbon gekannt haben müssen. Das gleiche gilt entsprechend auch für das Gebiet, in dem die Zuchtfarm angelegt werden soll.“ „Dann bleibt eigentlich nur noch eines übrig“, murmelte Inky. „Das Gebiet der heutigen Sahara, und zwar einige hunderttausend Jahre vor unserer Zeitrechnung. Dort können wir unbesorgt arbeiten und sogar Spuren hinterlassen. Der Wüstensand wird alles bedecken.“ „Angenommen“, sagte D. C. rasch. „Inky, Tovar, Charriba - ich vermute, daß Sie die Operation mitmachen wollen!“ Wir nickten nahezu synchron. Endl ich gab es wieder ein Abenteuer - auf jeden Fall versprachen die nächsten Tage interessanter zu werden als der biologische Lehrgang, den wir hinter uns hatten. Zu diesem Zeitpunkt fehlte uns noch jegliche Ahnung, wie interessant die nächste Zeit werden würde! * „Wo Gras wächst, gedeiht auch Getreide!“ behauptete Inky und zerrieb eine Handvoll Erde zwischen den Fingern. Es sah sehr fachmännisch aus. „Waren deine Vorfahren Bauern?“ fragte Charriba, der ein sehr niedergeschlagenes Gesicht machte. D. C. hatte ihm verboten, seinen Grauen mitzunehmen, damit das Tier nicht die gesamte Abstammungslehre auf den Kopf stellte. „Nein“, beantwortete Inky die Frage und grinste spitzbübisch. „Ich kann zwar nachweisen, daß ich reinarische Ahnen bis hinab zum Neandertaler habe, aber sehr rühmlich ist mein Stammbaum nicht. Meine werten Vorfahren hatten sehr häufig mit dem Strick zu tun - mal auf dieser, mal auf jener Seite des Galgens. Mal Räuber, mal Henker, meine Ahnen lebten nicht sehr solide.“ Charriba lachte unterdrückt. Mir war weniger heiter zumute, denn ich hatte gerade einen meiner Vorfahren entdeckt. Er hockte hinter einem Baum und äugte zu uns herüber. Am linken Handgelenk trug ich eine normale Uhr, ein erstklassiges Chronometer. Am rechten Handgelenk trug ich eine zweite Uhr; sie war auf die Ortszeit eingestellt, und nach dieser Uhr schrieben wir den 14. März 13 576 876 vor Christus. Es erschien mir irgendwie völlig absurd, angesichts einer Zeitspanne von dreizehn Millionen Jahren Monat und Tag anzugeben (von Stunden, Minuten und den Bruchteilen von Sekunden ganz zu schweigen, die die Uhr ausweisen konnte).
Man schrieb also den 14. 3. 13 576 876, und es war 11:13:22:46 Uhr, als ich in der Nähe dieses Baumes die Gestalt entdeckte. Beim ersten Hinsehen dachte ich an einen ganz normalen Affen, wie man sie aus dem Zoo und den VideoFilmen kennt. Dieser Affe jedoch war etwas größer als die mir bekannten Arten und außerordentlich häßlich. Ich wußte es nicht genau, aber ich glaubte, daß es sich um ein Exemplar des Prokonsul handelte, der in jedem Stammbaum der Summoprimaten auftauchte, und zwar erst sehr weit unten, an der Wurzel. Summoprimaten, das war die wissenschaftliche Bezeichnung für jene Gruppe von Erdbewohnern, die sich selbst für den Gipfelpunkt der Schöpfung hielt, aber ihre nächsten Verwandten noch zu den Tieren rechnete. Summoprimaten, das waren Menschenaffen und Menschen, und einer ihrer gemeinsamen Vorfahren war nach Meinung der Fachleute der Prokonsul. Ich trug einen Nadler an der Hüfte, und in unserem Gepäck steckten auch Lasergewehre. Was würde passieren, wenn ich den Laser hervorkramte und auf den Prokonsul feuerte? Wenn er starb, verschwand dann das Geschlecht der Menschen? Was konnten oder durften wir in dieser Zeit tun, ohne die Entwicklungslinie zwischen unseren Vorfahren und uns zu unterbrechen? Das klassische Paradoxon war greifbar nahe: der Mann, der in die Vergangenheit reist und seinen Vater erschlägt, bevor er selbst geboren wird. In unserem Fall konnten wir praktisch die gesamte Menschheit verschwinden lassen. Unwillkürlich sahen wir uns an. Uns dreien, Inky, Charriba und mir, war plötzlich klargeworden, was für eine Macht wir in diesem Augenblick besaßen. „Träumen wir nicht, handeln wir!“ sagte Inky in die plötzlich entstandene Stille hinein. Sein Urahn hinter dem Baum erschrak und suchte fluchtartig das Weite. Unsere Aufgabe war ziemlich einfach. Wir sollten das Gelände erkunden und geeigneten Boden für eine Farm aufstöbern. Da uns für diesen Zweck ein riesiges Gebiet zur Verfügung stand, hatten wir wenig Schwierigkeiten - wir hätten jedenfalls nur geringe Schwierigkeiten haben dürfen. Als Besiedlungsland hatte man sich für das Saharagebiet entschieden. Im Augenblick hielten wir uns in der Ära Känozoikum, Periode Tertiär, Unterperiode Neogen, Epoche Miozän auf - und zu dieser Zeit, 12 - 25 Millionen Jahre vor der Zeitenwende, war es in der Sahara angenehm warm und durchaus feucht genug, um in dem späteren Wüstengebiet Getreide anzupflanzen. Die Wissenschaftler der Time-Squad hatten sich aus gutem Grund für die Sahara entschieden. Sie besaß den Vorteil, daß sie in unserer Gegenwart Wüste war, kaum erforscht und kaum erforschbar. Selbst wenn wir Spuren hinterließen, man würde sie unter dem Sand nicht wiederfinden können. Das zweite wichtige Problem, das wir hatten berücksichtigen müssen, war die eigentliche Arbeit gewesen. Es war völlig ausgeschlossen, riesige Mengen Getreide sozusagen einzusparen. Es würde sich nicht vermeiden lassen, daß
sich einzelne Pflanzen sozusagen davonstahlen und sich neuen Lebensraum suchten. Um diese wilde, ungezügelte Vermehrung verhindern zu können, hätten wir einen Maschinenpark mitschleppen müssen, den nicht einmal der Sand der Sahara wieder hätte zum Verschwinden bringen können. Das Zuchtgebiet, für das wir uns entschieden hatten, war zwar beeindruckend groß, hatte aber den Vorzug, von Gebieten umschlossen zu sein, die der natürlichen Verbreitung unseres Getreides entscheidende Hemmnisse in den Weg legten. An drei Seiten war das Land vom Meer umgeben, und im Süden erstreckte sich ein Dschungelgebiet, in dem der widerstandsfähigste Getreidesamen verfault wäre. Zudem war das Triticale eine moderne Züchtung, auf regelmäßige Zufuhr von Kunstdünger angewiesen und sehr empfindlich. Selbst wenn uns das Getreide sozusagen entwischte, würde es in kurzer Zeit so verwildern, „daß kein Forscher mehr den Ursprung hätte feststellen können. Unser Triticale war ein behütetes Etwas, dem erbarmungslosen Auslesekampf der Natur war es nicht gewachsen. Inky hatte zweifellos recht, als er feststellte, daß Getreide überall gedeihen mußte, wo es ohne menschliche Mitwirkung bereits Gräser gab. Die Landschaft um uns herum war mit Gras bestanden, sie erinnerte stark an den amerikanischen Mittelwesten - bevor die Siedler gekommen waren. „In zwei bis drei Jahren haben wir erreicht, was wir brauchen“, behauptete ich kühn. Immerhin, das hieß für uns drei, daß wir uns drei Jahre lang in diesem Gebiet würden aufhalten müssen. Daß in der Zentrale der Time-Squad währenddessen hur einige Tage vergehen würden, war für uns uninteressant - drei Jahre ließen uns, gleichgültig, auf welcher Zeitebene wir uns bewegten, um drei Jahre altern. Im Extremfall konnten wir die Zeitmaschine als Knaben betreten und als zahnlose Gleise verlassen. Ich mußte kichern. Jetzt endlich hatte ich begriffen, warum D. C. mit keinem ihrer aktiven Agenten ein sonderlich enges Verhältnis unterhielt. Was hätte sie auch mit einem Partner anfangen sollen, der innerhalb weniger Wochen um Jahre älter wurde? Wahrscheinlich würden Inky, Charriba und ich nach zehn oder zwölf weiteren Einsätzen dieser Art viel zu alt für D. C. sein. „Machen wir uns an die Arbeit?“ Ich nickte auf Inkys Frage. Die Time-Squad hatte uns mit etlichem Material auf die Reise geschickt. Darunter befand sich auch eine Antigravscheibe mit einer Hochleistungskamera. Charriba, der von uns dreien den besten Gleichgewichtssinn hatte, übernahm die Aufgabe, mit dieser Scheibe die nähere und weitere Umgebung zu überfliegen. Dabei machte die Kamera dann präzise Aufnahmen, die anschließend von einem Computer ausgewertet und in ein Datenband verwandelt wurden. Mit diesem Band wurde dann schließlich der Farmroboter gefüttert, der die eigentliche Arbeit unserer Operation zu erledigen hatte. Die Maschine hieß Farmrobot, hätte aber besser und treffender Robotfarmer geheißen, denn für einen Farmer im herkömmlichen Sinn blieb wenig zu tun.
Es war unsere Aufgabe, dieses Monstrum von Maschine aus den Einzelteilen zusammenzusetzen, die uns von der Time-Squad geliefert wurden. Hatten wir diese Schinderei erst einmal hinter uns, machte der Robotfarmer die restliche Arbeit. Als erstes pflügte und eggte er den Boden. Seine Fahrtrichtung und die Eindringtiefe der Pflugschar ermittelte er aus den Fotos der Oberflächenkamera, die selbst die kleinsten Unebenheiten aufzeichnete und verwerten konnte. Das Säen besorgte der Robot, und er sagte uns auch, welches Düngerfabrikat wir in seine Silos zu schütten hatten. Der Robot düngte und bekämpfte Unkraut, und am Ende der Zeit lieferte er uns in Säcke abgepacktes, fertiges Getreide und sorgsam zusammengepreßte Strohbündel. Wir waren nur drei Männer, aber wir verstanden unser Handwerk, daher hatte D. C. auch darauf verzichtet, uns einen präzisen Zeitplan mitzugeben, nach dem wir uns hätten richten können. Es lag ohnedies auf der Hand, welche Arbeiten zuerst erledigt werden mußten. Während einer von uns dreien das Gelände studierte, bauten die beiden anderen das provisorische Lager auf, zwei einfache Zelte, die leicht aufgestellt und ebenso einfach wieder zusammengelegt waren, Erst nachdem dieses kleine Lager errichtet war, machten wir uns daran, das Dorf zu bauen. Dazu mußten wir nur Lehm, Wasser und einen geeigneten Bauplatz finden. Aus den Rohstoffen wurden Ziegel gepreßt, die in der Sonne trocknen mußten, bevor sie verbaut werden konnten. Als wir nach drei arbeitsreichen Tagen zum ersten Mal nicht mehr unter freiem Himmel schlafen mußten, hatten wir uns an diese Art der Übernachtung bereits so gewöhnt, daß wir auch weiterhin mit dem Nachthimmel als Decke zufrieden waren. Die Hütten konnten die Nachzügler für sich beanspruchen. Die Nachzügler, das waren zwanzig Männer und Frauen, die uns helfen sollten, die Ackerfläche so rasch wie möglich zu vergrößern. Außerdem gab es für uns noch allerhand zu tun, während das Getreide wuchs. Wir mußten Heerscharen von Vögeln abwimmeln, die unser Saatgut aufpicken wollten, und spätestens einige Wochen vor der Reife kamen mit Sicherheit Tausende von Tieren aus der näheren Umgebung, um sich an dem von uns reichgedeckten Futtertisch gütlich zu tun. Außerdem war es die Aufgabe von uns dreien, dafür zu sorgen, daß unsere Gefährten nicht während der Arbeit verhungerten. Es galt, Früchte und Fleisch zu beschaffen, und das in möglichst großen Mengen. Während Inky, Charriba und ich jagten und fischten und dabei ein Gebiet nach dem anderen mit der Antigravscheibe überflogen, nahm im Lager langsam der Robotfarmer Gestalt an. Die Time-Squad schickte die Einzelteile, und unsere Freunde bauten sie zusammen. Wir brauchten sechzehn Tage, bis das Monstrum fertig war, und aus den Teilen, die wir notgedrungen übrigbehalten hatten, bastelten unsere Freunde dann noch ein Motorrad, eine Kuckucksuhr und eine moderne Plastik, die Wasser spie.
Am Abend dieses Tages schickten wir eine Nachricht an D. C.: „Testlauf morgen früh, wenn keine neue Nachricht kommt, Saatgut schicken!“ * Inky, Charriba und ich wurden als erste wach, und das ohne Hilfe der Posten, die wir aufstellen mußten. Die Wachen wechselten sich im Zwei -StundenRhythmus ab und hatten dafür zu sorgen, daß uns weder Säbelzahntiger noch Megatherien oder andere Tiere des ausgehenden Tertiärs einen Besuch abstatteten. Es war noch früh am Morgen, und wir gähnten, reckten und streckten uns erst einmal ausgiebig, bevor wir aufstanden. Unsere Waffen hatten wir wie immer griffbereit neben uns liegen. „Der große Tag“, stellte Inky gähnend fest. „Seid ihr sicher, daß das Monstrum auch funktioniert?“ „Es wird funktionieren“, behauptete ich. „Es muß!“ Inky grinste. „Sag das dem Monstrum“, erklärte er und deutete auf die Metallkonstruktion. Der Farmrobot bewegte sich auf vier Laufketten und besaß die Höhe eines zweigeschossigen Hauses. Länge und Breite standen dem wenig nach. Inky hatte die Maschine einmal als Panzer mit Fernsehgerät bezeichnet, auf die Abmessungen einer Scheune vergrößert. Wir wuschen uns in dem Bach, der in der Nähe des Dorfes floß und uns mit Wasser und frischen Fischen versorgte. Das Wasser war eisig kalt und machte uns vollends wach. Nach und nach kamen unsere Gefährten aus den Hütten gekrochen. Es war vereinbart worden, daß wir den Farmrobot vor dem Frühstück starten würden danach würde uns die erste Mahlzeit des Tages besonders munden. Das hatten wir jedenfalls angenommen. Erwartungsvoll versammelte sich die Gemeinde um das Monstrum. Mehr als eines Knopfdrucks bedurfte es nicht, den Robot zu aktivieren, und nach langem Hin und Her war die Ehre, das Monstrum starten zu dürfen, Charriba zugefallen - per Los. Charriba sah ein wenig bedrückt aus. Er kam langsam auf mich zu. „Du bist sicher“, sagte er leise, „daß dieser metallene Götze gehorchen wird, wenn ich ihm befehle, zu arbeiten?“ „Irgend etwas wird die Maschine tun“, orakelte Inky fröhlich. „Es fragt sich nur, was.“ Charriba betrachtete das Monstrum mit sichtlichem Mißtrauen. Ich konnte ihn gut verstehen. Mit dem Zusammenbau des Monstrums hatten wir wenig zu tun gehabt, und daher hatten wir nicht die leisteste Ahnung, wie es im Innern der Metallkonstruktion aussah. Angeblich ersetzte sie eine Hundertschaft von landwirtschaftlichen Arbeitskräften - Geräte und Maschinen eingeschlossen. Aber niemand war sicher von uns dreien, daß die Maschine das ebenfalls wußte. „Was willst du eigentlich?“ spottete Inky. „Entweder funktioniert das Ding, oder du bist in ein paar Sekunden bei deinen Freunden in den ewigen
Jagdgründen!“
Charriba antwortete mit einem Blick, der allein fast ausgereicht hätte, einem
den Skalp vom Schädel zu ziehen. Dann aber raffte er sich auf, machte einige
Schritte auf den Robot zu und legte die Hand auf den Knopf. Faustgroß war
das Ding, und es schillerte in einem tückischen Rot.
„Los!“ brüllte ich.
Mit dem verzweifelten Mut eines Todeskandidaten drückte Charriba den
Knopf in die Fassung.
Wir alle hielten den Atem an.
Und dann setzte sich die Maschine in Bewegung.
3. Jubelgeschrei hallte über den Platz und übertönte das Brummen der Motoren. Der Robotfarmer rollte auf seinen Ketten vorwärts. Wir hatten es geschafft, er nahm seine Arbeit auf. Uns fiel ein Stein vom Herzen, und wir machten unserer Freude mit lautem Schreien Luft. Wir tanzten auf dem Platz, umarmten uns und lachten vor Freude, als der Robotfarmer das erste Gebäude erreichte und verschlang, aus seinem Innern ein grauenerregendes Heulen erklang und Sekunden später herzförmige Ziegel durch die Luft flogen. Die Geschosse fegten wie Granaten durch die Hütten, demolierten die hölzernen Stützen und zertrümmerten die Kunststofffenster. Ein Feuerwerk stieg in die Höhe, als unser Prachtrobot das Stroh der Hüttenabdeckung in die Luft blies, wo sich die brennenden Halme zu einer Krone zusammenfanden und dann auf uns herabstürzten. Sekunden später knisterten die ersten Flammen über den Dächern, und der Robot machte sich daran, auch diese Gebäude zu verarbeiten. Einen Teil der Wände zerbröselte er zu feinstem Staub, der sehr bald alles mit einer bräunlichen Schicht überzog. Den anderen Teil preßte er zu originellen Ziegeln zusammen, die er hinter sich ließ und um sich herum streute, so daß keiner es wagte, sich der Maschine zu nähern. „Stell das Ding ab!“ kreischte Inky entsetzt. „Schießt auf den Kasten!“ „Kein Waffengebrauch!“ brüllte ich noch lauter. Wir durften die Maschine nicht zerstören. Es steckte viel Arbeit darin, vor allem aber kostbare Zeit. Wenn wir mit einer zweiten Maschine von vorne anfangen mußten, würden wir unweigerlich den Saattermin verpassen. „Eine Flasche nach Wahl für den, der das Biest ohne Gewaltanwendung zum Stillstand bringt!“ Niemand machte Anstalten, auf dieses Angebot einzugehen, obwohl D. C. unsere Expedition völlig trockengelegt hatte. Offenbar hatten meine Gefährten mehr Angst als Durst. Mich wunderte das nicht, denn unser mechanischer Freund entwickelte einen beängstigenden Arbeitseifer. Offenbar hielt er unser
Dorf - beziehungsweise dessen Ruinen - für nicht sicher genug, also hob er neben den Trümmern einen Graben aus - mindestens zehn Meter breit und auch annähernd so tief. Den Aushub benutzte er dazu, das Dorf mit einem Wall zu sichern - einem Wall auf der inneren Seite des Grabens. „Beeilt euch!“ schrie ich mit aller Kraft. „Stoppt das Ding!“ „Leicht gesagt“, erklärte Charriba trocken. „Ich habe nichts damit zu tun, ich habe von Anfang an erklärt, daß ich dieser Maschine nicht traue!“ Zu Debatten war jetzt wirklich keine Zeit, also verzichtete ich darauf, ihm einen Fußtritt zu verpassen. Es mußte etwas geschehen, und zwar in allernächster Zeit. Der wildgewordene Robot hatte inzwischen das Grabensystem beendet, und das Grundwasser begann mit Hilfe des nahen Bachs, den Graben aufzufüllen. Uns konnte das nicht beeindrucken - wir starrten wie hypnotisierte Kaninchen auf unseren elektronischen Sämann, der mit robotischer Unbeirrbarkeit Anlauf auf die Zeitmaschine nahm, die uns mit der Zentrale der Time-Squad verband. Ich erstarrte förmlich. Wenn der vermaledeite Robot unserer Zeitmaschine etwas antat... die Konsequenzen waren unvorstellbar. Theoretisch hätte die Time -Squad uns überall und jederzeit erreichen können, aber in der Praxis gab es da einige Haken. Je näher, räumlich wie zeitlich, das Ziel bei der Ausgangszeitmaschine lag, desto leichter war es, eine Zeitreise auf den Millimeter und die Zehntelsekunde genau zu vollziehen. Je weiter das Ziel zeitlich entfernt war, desto mehr Energie mußte in der Zentrale aufgewendet werden - und desto schwieriger war es, das Ziel genau zu finden.Über eine Distanz von 13 Millionen Jahren war noch nie eine Reise gemacht. worden; bei dieser Distanz stiegen die Schwierigkeiten gewaltig an. Darum waren wir zusammen mit einer kleinen Zeitmaschine im Ziel angekommen.Ähnlich wie bei der Zeitarche diente diese Maschine nicht dazu, uns die Rückreise zu ermöglichen - dazu war die Energieversorgung viel zu schwach. Unsere Maschine stellte lediglich ein schwaches Zeitfeld her - das allerdings von der Maschine in der Zentrale präzise angepeilt werden konnte. Nur so war die sekundengenaue und ortspräzise Verbindung mit der Zentrale möglich. Wenn der Farmrobot die Maschine beschädigte... Die Time-Squad hätte jahrzehntelang nach uns suchen können, uns aber nie erreicht. Eine Abweichung von nur einem Promille lief in unserem Fall auf einen Fehler von mehr als zehntausend Jahren hinaus! Die Maschine der TimeSquad arbeitete präzise, aber selbst bei ihr mußten wir ohne Peilsender auf Abweichungen von einem Jahrhundert und mehr rechnen. Dazu kam dann noch die Aufgabe, den Ort zu bestimmen, wo wir in das Zeitfeld einsteigen konnten. Dieses Zeitfeld konnte pro Tag Realzeit der Zentrale nur jeweils eine Stunde lang aufrechterhalten werden, mehr gab der Reaktor der Zentrale nicht her. Wenn der Farmrobot, wie zu befürchten stand, unseren Peilsender zerstörte, standen wir vor einer ausgesprochenen heiklen Aufgabe: Irgendwann innerhalb der nächsten hundert Jahre würde irgendwo auf der Erdoberfläche für eine Stunde ein Zeitfeld auftauchen - und genau dieses Zeitfeld brauchten wir. All dies schoß mir durch den Kopf, während sich der Farmrobot auf
unsere Zeitmaschine zuwälzte. Dabei verschwand er fast in der Staubwolke, die er mit seinen Panzerketten aufwirbelte. Ich brachte es nicht fertig, etwas zu tun, und so ging es den meisten von uns. Die Aussicht, für immer abgeschnitten zu sein, lähmte uns. Nur einer brachte es fertig, sich zu bewegen. Ein Pfeil schwirrte davon, verschwand irgendwo in der Staubwolke, die den Farmrobot umgab, und schlug scheppernd ein. Schlagartig hörte das Motorengeräusch auf, der Koloß kam zum Stillstand. „Allmächtiger!“ stöhnte Inky auf. „Da fehlte wirklich nicht mehr viel!“ Was fehlte, war bestenfalls noch ein Meter, dann hätte das Monstrum die Zeitmaschine erreicht gehabt. Charriba stand wie erstarrt, dann ließ er langsam den Bogen sinken. Inky schlug ihm auf die Schulter, und auch die anderen kamen herbeigeeilt, um dem Schützen für diesen lebensrettenden Treffer zu danken. Ich ging respektvoll zu unserem agrartechnischen Wunderwerk hinüber und sah mir den Schaden an. Irgendwie hatte es Charriba geschafft, mit seinem Pfeil genau den Hauptschalter zu treffen, der dem Monstrum auf einen Schlag die Energie entzog. „Glück gehabt“, murmelte ich erleichtert. Wir brauchten jetzt nur noch die Maschine zu reparieren, dann konnte ein zweiter Versuch gestartet werden - allerdings, so nahm ich mir vor, ohne meine Anwesenheit. * Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg. Am Abend war ausgiebig gefeiert Worden. Die Zentrale hatte nach einer erschröcklichen Schilderung der Ereignisse eine Ladung Alkohol bewilligt. Ich hatte mich bei der Feier zurückgehalten und mir zur Belohnung für das Abenteuer einen Braten bewilligt. Irgendwo mußte sich in dieser Zeit ein Tier herumgetrieben haben, dessen Fleisch es mir ungetan hatte. Die Fachleute hatten das Tier Megaceros euryceros getauft, mich interessierte aber weniger das Geweih dieses Riesenhirsches, ich war an seinem Rücken interessiert. Wildschweine, die den zum Spicken benötigten Speck liefern konnten, hatte ich schon gefunden, und irgendwo würden bestimmt auch die Preiselbeeren wachsen, mit denen man den Geschmack von Apfelmus anreichern konnte. Pilze hatte ich ebenfalls in gewaltigen Mengen entdeckt. Einem Festtagsschmaus stand also nur noch eines im Wege - der Braten mußte gefunden und erlegt werden. In dieser Gegend hatte ich noch keinen Riesenhirsch gesehen, also suchten wir weiter nördlich. Charriba begleitete mich, weil er darauf brannte, seinen Bogen an einem solchen Wild zu erproben. Ich hatte ihm den ersten Schuß zugesagt. Inky war mit von der Partie, weil er keine Gelegenheit versäumen wollte, sich mit Charriba zu zanken. Unter entsprechenden Gesprächen flogen wir an diesem Morgen in geringer Höhe nach Nordosten. Ich wußte - seit ich das Fachlexikon befragt hatte -, daß
der gesuchte Hirsch in den Mergelschichten Irlands gefunden worden war. Daher erschien es mir folgerichtig, an den Verbindungsstellen von Europa und Afrika zu suchen. Die Sinai-Halbinsel lag unserem Lager näher als die Meerenge von Gibraltar, also flogen wir in diese Richtung, obwohl ich gern gewußt hätte, ob die berühmte Meerenge in dieser Epoche der Erdgeschichte überhaupt existierte. Die Navigation erwies sich mit jeder Stunde Fahrt als immer schwieriger. In der Nähe des Lagers war es ziemlich einfach, sich zu orientieren. Wir merkten uns charakteristische Baumgruppen, bestimmte Wasserlöcher, Hügel und dergleichen. Bei weiteren Ausflügen mußte diese Methode naturgemäß versagen. Unsere Karten halfen uns auch nicht weiter, denn davon stimmten nur noch die Umrisse der Kontinente, und auch die nicht sonderlich genau. Das einzige Verfahren, das uns verblieb, sah so aus: Wir bestimmten mit dem Kompaß die Himmelsrichtung so genau wie möglich. Dann stoppten wir die Zeit, während der wir mit möglichst gleichbleibender Geschwindigkeit in diese Richtung geflogen waren. Wenn man diese Angaben sorgfältig aufschrieb und sich beim Rückflug nicht verrechnete, mußten wir eigentlich unser Lager leicht finden können. Dies sollte sich aber als Fehleinschätzung erweisen. So. hatte beispielsweise niemand vor Antritt der Fahrt damit gerechnet, auf ein Baluchitherium zu stoßen. Nicht genug damit, daß dieses größte Landsäugetier, das die Erde jemals hervorgebracht hatte, nicht zu wissen schien, daß es im Vorkommen nur auf Asien beschränkt war - Baluchitherium hieß übersetzt: Belutschistantier -, es hatte auch vergessen, daß es als Pflanzenfresser mit uns überhaupt nichts anfangen konnte. Eine halbe Stunde lang jagte der Koloß hinter uns her. Während dieser Verfolgungsjagd war überhaupt nicht daran zu denken, jede Kursänderung sorgam zu protokollieren. Wir waren vollauf damit beschäftigt, das Baluchitherium abzuschütteln, und atmeten erleichtert auf, als es endlich die Jagd einstellte und sich wieder dem Fressen von Blättern widmete. Anschließend kreuzten wir eine Zeitlang ziemlich hilf- und ratlos hin und her, bis es Mittag wurde. Hungrig und durstig geworden, setzten wir unser Fahrzeug auf den Boden und packten unsere Vorräte aus. „Irgend etwas fehlt“, murmelte Charriba. „Ich weiß nicht, was, aber an diesem Picknick stimmt etwas nicht.“ Ich grinste. „Schalte doch das Radio ein“, schlug ich ihm vor, und Charriba griff wirklich unwillkürlich nach dem Einschalteknopf. Erst als der Lautsprecher das charakteristische Rauschen hören ließ, wurde ihm klar, warum ich grinste. Die unvermeidliche Geräuschkulisse fehlte uns, die sich in unserer Zeit nie und nirgends vermeiden ließ - der Verkehrslärm von der Straße, Schreibmaschinengeklapper aus dem Nebenraum, Gespräche, von denen man nur Fetzen mitbekam. Erst, wenn dieser Hintergrund fehlte, wurde man aufmerksam. Charriba hatte recht - wir alle vermißten jetzt das stete Plärren eines kleinen Radios. Selbst die unvermeidlichen Reklamesendungen hätten
uns im Augenblick erfreut - sie hätten uns verraten, daß die Zivilisation nicht allzuweit entfernt sein konnte. Charriba wollte gerade grinsend das Radio wieder ausschalten. Er stoppte mitten in der Bewegung. Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte. „Hört ihr das?“ flüsterte er und veränderte die Lautstärke. Unser Gleiter war ein Serienprodukt, desgleichen das vom Werk mitgelieferte Radio. Es gehörte zu jenen Geräten, die entweder auf bestimmte Sender einstellbar waren oder aber auf Knopfdruck den gesamten Wellenbereich abgrasten und stoppton, sobald ein Sender genügend klar und deutlich war. Als Charriba sein Radio eingeschaltet hatte, war gleichzeitig die Suchautomatik aktiviert worden. Sie hätte in diesem Erdzeitalter eigentlich ununterbrochen wandern müssen, aber genau das tat sie nicht. Die Automatik hatte gestoppt; sie hatte einen Sender gefunden - einen Radiosender im Miozän! „Lauter!“ forderte Inky erregt. Charriba schob den Regler bis zum Anschlagdurch. Ein Geräusch war zu hören, klar und deutlich - ein dumpfes Pochen in sehr großen Abständen. Daß es sich nicht um ein natürliches Geräusch handeln konnte, war klar - außer unserem Gerät konnte und durfte es im Miozän kein UKW-Radio geben. „Wißt ihr, was das ist?“ flüsterte Inky plötzlich. „Das sind Herzgeräusche!“ „Unsinn“, wehrte ich ab. „Ein normales Herz schlägt mindestens sechzigmal in der Minute.“ „Das muß kein Mensch sein“, gab Inky zu bedenken. „Sollen wir... ?“ Er leckte sich die Lippen. Charriba sah mich ruhig an, ihn schien das Problem nicht zu interessieren, aber ich kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, daß auch er von der Neugierde gepackt war. Jeder von uns wußte, was zu tun war. Als erstes hätten wir mit dem Funkgerät unsere Freunde im Dorf verständigen müssen. Die hätten wiederum die Zentrale der Time-Squad informiert, und von dort aus hätte D. C. uns befohlen, zu warten, bis ein Trupp Wissenschaftler anrücken konnte, um der Angelegenheit mit Exaktheit und modernem Gerät auf den Grund zu gehen. In zwei bis drei Jahren hätten wir dann vielleicht erfahren, was aus der Sache geworden war. „Wir sehen nach“, entschied ich. „Im Miozän gibt es nur ein Radio, und das gehört uns. Wo nichts ist, kann auch nichts senden, und wir können nichts gehört haben. Sollten wir dennoch etwas finden, dann sind wir halt darüber gestolpert.“ „Wenn D. C. das erfährt“, murmelte Inky. Wir stiegen in den Gleiter, und Inky versuchte, den Sender anzupeilen. Charriba steuerte den. Gleiter zunächst mit hoher Fahrt nach Norden, dann stoppte er, und Inky machte sich daran, eine zweite Peilung des fremden Senders zu bekommen. Es dauerte ziemlich lange, bis wir das stete, aber unerträglich langsame Pochen wieder hören konnten. Während Inky sich in Berechnungen vertiefte, versuchte ich, mir das Wesen
vorzustellen, das zu diesem Herzschlag gehörte. Intelligent mußte es sein, denn sonst würde es keine ultrakurzen Radiowellen kennen. Im ersten Augenblick fühlte ich mich versucht, an Menschen zu denken, aber diese Idee verwarf ich sofort. Wo sollten im Miozän Menschen herkommen, Menschen, die UKW kannten und benutzen konnten? Nein, es mußte sich um fremdes, intelligentes Leben handeln. Sehr langsam schlug das Herz, aber es schlug. War der Körper, der zu diesem Herzen gehörte, besonders groß? Ich wußte, daß die Herzen um so schneller schlugen, je kleiner der dazugehörende Körper war. Bei dem Tempo des fremden Herzschlags, den wir hören konnten, mußte es sich um ein Wesen handeln, daß es sehr gut mit dem Baluchitherium aufnehmen konnte, das uns gehetzt hatte. Oder schlief das Wesen? Warum meldete es sich nicht, sondem übertrug nur seinen Herzschlag? Sollte das ein Signal sein, ein Zeichen für Freunde? „Ich habe den Sender“, meldete Inky und sah von seinem Block auf. „Paßt auf, Freunde: Wenn mich die Mathematik nicht völlig im Stich gelassen hat, dann lebt unser Freund dort, wo sich in unserer Zeit die Kantara-Senke befindet.“ „Du meinst das Kantara-Meer!“ korrigierte Charriba. Inky schüttelte den Kopf. „Ich meine eine Senke an der nordafrikanischen Küste Ägyptens“, widersprach Inky. „Von einem Meer weiß ich nichts.“ „Der Verbindungskanal zwischen dem Mittelmeer und der Senke wurde vermutlich erst nach deiner Zeit gebaut“, versuchte ich zu helfen. „In unserer Zeit liegt dort jedenfalls das Kantara-Meer, alljährlich Treffpunkt von Hunderttausenden von Touristen.“ „Ob Meer oder Senke, jedenfalls treibt sich unser Freund in dieser Gegend herum“, erklärte Inky und tippte mit dem Stift auf die Karte. „Wenn wir der Peilung nachfliegen und genau Kurs halten, müßten wir früher oder später auf ihn stoßen. Wer kommt mit?“ Die Frage war überflüssig. Jeder von uns brannte darauf, das Geheimnis des Senders zu lüften. Inky ließ die Maschine anlaufen und nahm auf dem Pilotensitz Platz. Langsam stieg der Gleiter in die Höhe. Ich sah auf der Karte nach. Wenn die Eintragungen stimmten, dann hatten wir mindestens eine Stunde zu fliegen, bis wir die Senke erreichten. Ich tippte Inky auf die Schulter. „Was meinst du“, fragte ich. „Sollen wir einfach hinfliegen? Oder verstecken wir den Gleiter im Gelände und pirschen uns zu Fuß an?“ „Wir nähern uns zu Fuß“, schlug Charriba sofort vor. „Wir brauchen noch einen Trumpf für den Notfall.“ Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, daß wir bald wesentlich mehr als nur einen Trumpf brauchen würden, um mit heiler Haut davonzukommen. * „Es können nur noch wenige Kilometer sein“, erklärte Inky, während er den Fahrthebel zurückzog. „Ich schlage vor, wir parken den Gleiter hier.“ Er ließ
das Fahrzeug tiefer sinken, bis die Kufen knirschend den Boden berührten. Wenige hundert Meter vor uns konnten wir eine Hügelkette sehen, und dahinter mußte die Kantara-Senke beginnen. Inky hatte vollkommen richtig gehandelt, als er den Gleiter an dieser Stelle landen ließ. Es gab hier genügend Buschwerk, um das Fahrzeug zu ver... Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Vor wem oder was versteckten wir eigentlich den Gleiter? Es gab hier keine Menschen außer uns! Es durfte einfach keine geben! Trotzdem half ich mit, Buschwerk zusammenzutragen, das wir über den Gleiter breiteten. Im Grunde genommen war fast alles, was wir taten, völlig absurd. Nicht allein, daß wir einen Gleiter versteckten - wir verhielten uns dabei so, als hielten wir uns in unserer Zeit auf. „Waffen?“ Charriba nickte sofort auf Inkys Frage. Er trennte sich nie von seinem Bogen, einer prachtvollen Waffe. „Sicher ist sicher“, sagte ich und holte die langläufigen Lasergewehre aus dem Waffenkasten. In der Halfter trugen wir, wie bei jedem Einsatz, die betäubenden Nadler. Diesmal hatten wir zwei Magazine in den Gürteln stocken - die meisten Bewohner dieser Epoche waren mit einer Handvoll Betäubungsnadeln nicht zufrieden, die normalerweise jeden ausgewachsenen Kampfstier in Sekundenfrist zusammenbrechen ließen. Ich überprüfte hastig meine Ausrüstung.. Messer, Feldflasche, Notration, Arzneipäckchen, Nadler, Laser - alles war an Ort und Stelle. Neben diesen Hilfsmitteln schleppten wir noch einige Pfund an Kleinwaffen mit uns, die in unserer Kleidung versteckt waren. Nahrungsmittel in Konzentratform und dergleichen. Meine Ausrüstung war komplett, unserem Entdeckungsspaziergang stand nichts mehr im Wege. Ich sah meine Gefährten an, auch sie waren bereit. * Wir gingen hintereinander, Charriba an der Spitze, ich als Nachhut. Charriba hatte seinen Bogen in der Hand, jederzeit bereit, die Sehne zu spannen und einen Pfeil abzuschießen. „Großer Manitou!“ hörte ich Charriba plötzlich flüstern. Er hatte die Spitze des vor uns liegenden Hügels erreicht und sich dort zu Boden geworfen. Sein Bogen lag neben ihm. Inky, noch halb aufgerichtet, schien in der Bewegung förmlich erstarrt zu sein. „Was gibt es?“ fragte ich. Inky winkte mir zu. „Komm herauf und sieh es dir selbst an“, murmelte er, sichtlich aus der Fassung gebracht. Ich beeilte mich, den Gipfel des Hügels zu erreichen. Dort angekommen, blieb auch ich wie angewurzelt stehen. Was wir sahen, durfte es eigentlich gar nicht geben. Der Anblick sprach jeder
Vorgeschichtsforschung hohn, er war ein Widerspruch in sich selbst. Sie war zu weit entfernt, als daß man Einzelheiten hätte erkennen können, aber es ließ sich nicht leugnen. Vor uns lag eine Stadt! Das Wort Stadt war der einzige Begriff, mit dem man das Gebilde bezeichnen konnte. Von einer steinzeitlichen Siedlung konnte keine Rede sein, Dorf wäre eine Untertreibung gewesen. Nein, wir sahen eine Stadt, ein ausgeprägtes Gemeinwesen mit zahlreichen Gebäuden und einer regelrechten Stadtmauer. Die Bewohner der Stadt mußten eine hohe Kulturstufe erreicht haben, das ließ sich anhand der Häuser mühelos ablesen - und an dem goldenen Glanz, der über der ganzen Stadt lag. Es sah aus, als seien die Dächer dieser Stadt mit goldenen Schindeln gedeckt. Es war nicht das Gold, das uns verblüffte - es war die Tatsache, daß es diese Stadt gar nicht geben durfte, Es mußten noch Jahrmillionen vergehen, bis das erste Wesen in der Schöpfung auftauchte, das nicht mehr als Menschenaffe bezeichnet werden mußte, sondern schon als Affenmensch gelten konnte - dem Menschen also näher stand als dem Affen, Selbst die ältesten bekannten Funde, der homo zinjirli oder der homo habilis, beide in der Oldeway-Schlucht in Afrika gefunden, lagen noch mehrere Millionen Jahre in der Zukunft. Höher entwickelte Wesen, die regelrechte Städte bauten, durfte es im Miozän nicht geben. Sie waren unmöglich - oder das gesamte Lehrgebäude der Paläanthropologie brach in sich zusammen. Da sich die goldene Stadt auch durch mehrmaliges Kneifen in den Arm und wiederholtes Augen wischen nicht fortzaubern ließ, gab es wohl nur eine Möglichkeit - die letzte Stunde der bekannten Geschichtswissenschaft hatte geschlagen.
4. „Was nun?“
Inkys Frage klang sehr simpel, war aber äußerst schwierig zu beantworten.
Was sollten wir tun?
„Wir müßten eigentlich sofort umkehren“, murmelte Charriba, der den Blick
nicht von der Stadt wandte. „Wir müßten D. C. informieren. Auf keinen Fall
dürften wir versuchen, das Rätsel der Stadt auf eigene Faust zu lüften.“
„Wen soll D. C. uns denn schicken?“ fragte Inky bitter. „Die Time-Squad ist
hoffnungslos überlastet. Nicht nur, daß wir für die beiden von D. C.
vorgeschlagenen Projekte nicht genügend Leute haben, wir haben inzwischen
auch noch das Problem der Nahrungsmittelbeschaffung für zwei Drittel der
Welt auf dem Hals. Und jetzt kommt auch noch das da auf uns zu!“
Er deutete auf die Stadt.
Ich bedauerte, daß wir keine Feldstecher mitgenommen hatten. Wir hatten
geglaubt, so moderne Geräte nicht nötig zu haben.
Trotzdem konnten wir auch über diese Entfernung hinweg erkennen, daß in
der Stadt reges Leben herrschte. Aus zahlreichen Schornsteinen stieg Rauch in den Mittagshimmel, und vor den Toren der Stadt weideten Herden. Herden, Braten, Mittagessen - diese Assozi ationskette war im Nu geschlossen und feuerte mein Denkvermögen an. „Inky hat vollkommen recht“, erklärte ich meinen Freunden. „D. C. und ihre Leute haben für diese Aufgabe keine Zeit. Die einzigen mit sehr viel freier Zeit sind wir drei - unser Lager erhält sich nahezu von selbst, also können wir uns ungestört der Stadt widmen.“ Ich machte eine kleine Pause. „Außerdem“, fügte ich hinzu, „habe ich Hunger!“ Zufrieden stellte ich fest, daß der Trick funktionierte. In dem Augenblick, in dem ich das kritische Wort fallenließ, merkten auch meine Gefährten, daß sie seit den frühen Morgenstunden nichts mehr zu sich genommen hatten. Inky, der bei der Time-Squad eine Vorlesung in angewandter Psychologie belegt hatte, grinste mich an. Er hatte den Trick durchschaut, aber das half ihm nichts - der Hunger meldete sich auch bei ihm. „Schleichen wir uns heran, oder...“ „Über offenes Gelände?“ unterbrach Inky unseren indianischen Freund. „Ein guter Krieger kann sich selbst auf einer Eisfläche ungesehen anschleichen“, behauptete Charriba trocken. „Aber nur ein guter Krieger!“ „Ich habe verstanden, Winnetou“, murmelte Inky. „Ich kann das nicht, also werden wir uns offen nähern.“ „Ich wäre dir verbunden“, ließ sich Charriba ergrimmt vernehmen, „würdest du mich nicht immerzu Winnetou nennen. Ich heiße Charriba, Charriba White Cloud.“ „Schon gut, wird nicht wieder vorkommen, Winne... Charriba!“ Inky hatte recht. Uns blieb tatsächlich nichts anderes übrig, als sich offen der Stadt zu nähern. Zudem sahen wir keinen Grund, uns anzuschleichen. Wir hatten keinerlei böse Absichten, wir waren nur neugierig. Wir richteten uns also auf und stiegen langsam den Hügel hinab auf die große Ebene. In einigen Millionen Jahren würde dieses Gebiet völlig ausgetrocknet sein, eine Sandwüste, die alljährlich ihre Opfer forderte. Erst der große Kanal, der das Wasser des Mittelmeers in die Senke fließen ließ, konnte das Land wieder zum Leben erwecken. Von der Goldenen Stadt würde in unserer Zeit nichts mehr übrigbleiben, jedenfalls nichts, was sich archäologisch verwerten ließ. Seit der große Kanal existierte, war es völlig ausgeschlossen, noch nach Überresten der Stadt zu fahnden. „Wer wird dort wohnen?“ fragte Inky, während er hinter Charriba herstapfte. Charriba zuckte mit den Schultern; auch ich konnte Inky keine Antwort auf diese Frage geben. Jede denkbare Erklärung schloß sich von selbst aus - sie hätte auf wissenschaftlichen Kenntnissen fußen müssen, die durch die Existenz der Stadt zu Makulatur geworden waren. „Fünf- bis zehntausend Einwohner“, schätzte Charriba. „Ob das die einzige Stadt dieser Art ist?“ „Vermutlich“, überlegte Inky laut. „Die Bewohner können schließlich nicht
wissen, wie ihre Landschaft in 15 Millionen Jahren aussehen wird. Daraus folgt, daß diese Stadt zufällig hier steht und nich t absichtlich an einer Stelle errichtet worden ist, die man später nicht mehr untersucht hat. Daraus folgt, daß, gäbe es andere Städte dieser Art, die eine oder andere in einem Gebiet liegen müßte, das archäologisch interessant ist. Gäbe es also noch andere Städte dieser Art, hätten unsere Fachwissenschaftler sie längst gefunden.“ „Eure bestimmt nicht“, kommentierte Charriba trocken. Ab und zu, wenn Inky ihm gegenüber den zivilisierten Kulturmenschen herauskehren wollte, machte Charriba solche Bemerkungen. Sie zielten auf die Tatsache, daß Inky ein Mitbringsel von mir war, aus dem mittleren 20. Jahrhundert in unsere Zeit hinübergerettet. So betrachtet, war Inky der Wilde und Charriba als Bewohner des 25. Jahrhunderts der Kulturmensch. Inky streckte Charriba die Zunge heraus und murmelte einen Fluch auf deutsch, den ich nicht verstand. Wir marschierten betont ruhig und gleichmäßig. Wir wollten den Bewohnern der Goldenen Stadt frühzeitig Gelegenheit geben, uns zu erkennen und sich auf unsere Ankunft vorzubereiten. Wahrscheinlich waren die Städter ebenso überrascht wie wir, in dieser Zeit auf Menschen zu stoßen. Ich blieb stehen, als sei ich gegen eine Wand geprallt. Inky und Charriba stoppten ebenfalls. Sie sahen mich fragend an. „Wer sagt uns eigentlich“, erklärte ich ihnen meinen plötzlich entstandenen Verdacht, „daß in dieser Stadt Menschen leben?“ „Ob Menschen oder Neandertaler“, sagte Inky mit einer wegwerfenden Handbewegung, „ist doch ziemlich gleichgültig.“ „Erstens hat es bis zum Neandertaler noch sehr viel Zeit“, erklärte ich ihm. „Und zweitens dachte ich nicht an Urmenschen anstelle von normalen Menschen. Ich befürchte, daß es sich um eine Kolonie von Außerirdischen handelt!“ Charriba pfiff leise durch die Zähne, und Inky zuckte mit den Schultern. Mich wunderte immer wieder, daß ein Bewohner seines Zeitalters den Gedanken an intelligentes nichtmenschliches Leben im Kosmos so gelassen ertrug. „Meinetwegen mögen es Marsmenschen sein“, sagte Inky leichthin. „Fressen werden sie uns wohl nicht.“ Charriba hatte bereits den gedanklichen Schritt gemacht, der mich abrupt hatte anhalten lassen. „Natürlich“, murmelte er. „Das wäre eine Möglichkeit. Wir haben immer befürchtet, der Gegner würde den Hebel in unserer bekannten Geschichte ansetzen. Aber im Miozän... !“ Ich nickte nur. „Vor allem läßt sich ein Gegenschlag praktisch nicht einleiten“, setzte ich den Gedankengang fort. „Wir haben es selbst heute morgen erlebt, als der Farmrobot unseren Peilsender demolieren wollte. Wenn wir die Maschine verlieren, sind wir praktisch abgeschnitten. Wenn der Gegner einen Schlag gegen die Menschheit so tief an der Wurzel führt, können wir diesen Schlag praktisch nicht parieren. Wo sollen wir nach dem Gegner suchen - und vor allen Dingen: wann?“ Die Time-Squad konnte unmöglich alle - ich rechnete die Zahl schnell aus - 4.
955. 547. 740 Tage bis zur Zeitenwende nach einem Anschlag des Gegners absuchen, der unter Umständen in einer halben Stunde durchgeführt werden konnte. Charriba hob plötzlich die Hand. „Du irrst dich“, sagte er, und sein Lächeln zeigte Erleichterung. „Wieso?“ „Der Gegner kann zweierlei versuchen“, erklärte Charriba. „Er kann versuchen, die gesamte Menschheit zu vernichten. Dazu muß er nur zu irgendeinem Zeitpunkt ein Virus in die irdische Atmosphäre einführen. Wenn dieses Virus eigens für diesen bestimmten Zweck gezüchtet wurde, dann wird es sicher seine Arbeit tun - der Mensch wird aus der Geschichte verschwinden.“ „Der Fall ist inzwischen ja eingetreten“, bemerkte ich. Charriba schüttelte den Kopf, „Irrtum“, belehrte er mich. „Das Virus, mit dem wir im Augenblick zu tun haben, zielt nicht auf die gesamte Menschheit. Der Gegner kann sich ausrechnen, daß ein totaler Ernteausfall beim Brotgetreide noch nicht das Ende der Menschheit ist. Es gibt Ausweichmöglichkeiten, jedenfalls für eine Minderheit. Und genau das ist das Ziel der Fremden - die Menschen sollen sich um die lebensnotwendige Nahrung eine Schlacht liefern.Überleben soll nur der Gerissenste, Skrupelloseste, der Stärkste. Ihm soll das Feld gehören.“ „Aber wieso spricht das gegen meine These, daß dies eine Stadt unserer Gegner ist?“ fragte ich. „Die Zeit spricht dagegen“, erklärte Charriba, „Ein Ereignis, das im Miozän beginnt, wird sich im Laufe der Zeit immer mehr zerfasern, immer vielfältiger werden - bis niemand mehr abschätzen kann, was für Folgen ein Eingriff in dieser Vergangenheit haben wird. Wer in dieser Zeit einen Prokonsul tötet, rottet damit vielleicht einen Zweig der Menschheit aus - vielleicht sämtliche Chinesen, vielleicht die Ägypter... Wer einen Baum zurechtstutzen will, um ganz bestimmte Früchte zu bekommen, wird nicht mit einer Axt auf die Wurzel des Baumes losgehen.“ Ich nickte. Charribas Erklärung hörte sich vernünftig an. „Wissen das auch die Bewohner dieser Stadt?“ erkundigte sich Inky mit leisem Spott. Wir waren inzwischen so nahe gekommen, daß wir Einzelheiten erkennen konnten. Die Goldene Stadt sah imposant aus. Wir sahen die Stadtmauer, mindestens acht Meter hoch und ziemlich dick. Auf der Brüstung patrouillierten Soldaten, jedenfalls sahen die Gestalten so aus. Ein Stadttor konnten wir ausmachen, die dicken Bohlen waren deutlich zu erkennen. Von den Häusern, meist zweigeschossig, konnten wir nur die Dächer sehen. Die meisten Häuser hatten flache Dächer, kein Wunder in diesen Breiten, die mit einer metallischen Folie überzogen zu sein schienen. Wenn diese Folie aus Gold bestand, dann waren die Bewohner der Stadt reiche Leute. In der Mitte der Stadt erkannten wir ein Gebäude, das auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Tempel und Festung wirkte. Ein hoher Turm, weitaus höher als die Stadtmauer, umgeben von einer Säulenreihe, die allerdings nur bis zur halben Höhe reichte. Die obere Hälfte des Turmes war, wie die Dächer der Häuser, mit Gold oder einem
goldähnlichen Material überzogen.
Inky stieß mich an.
„Fällt dir nichts auf?“ fragte er mit hörbarer Verwunderung.
Ich sah mich um. Von der Stadt waren noch nicht allzu viele Einzelheiten
auszumachen, und in unserer Nähe gab es nur die ersten abgesteckten Weiden
für das Vieh. Die Ähnlichkeit mit modernem Vieh beschränkte sich darauf,
daß auch diese Tiere ein Gehörn und vier Beine hatten, ansonsten aber waren
die Parallelen gering.
„Nichts“, sagte ich schließlich. „Ich sehe nichts.“
„Eben“, meinte Inky mißtrauisch. „Eben. Wovon ernähren sich diese Leute
eigentlich?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Von der Landwirtschaft und Viehzucht“, erklärte ich. „Du siehst doch die
Weiden!“
„Die Weiden seh ich wohl“, antwortete Inky, „allein, ich vermisse die Felder!“
Charriba und ich sahen uns verdutzt an. Tatsächlich, Weiden waren in großer
Zahl zu erkennen, aber es fehlten jegliche Anzeichen für normalen Ackerbau.
Dieser Umstand mußte naturgemäß unser Mißtrauen wecken.
„Also doch keine Menschen“, sagte Charriba. „Aber was dann?“
„Daß es keine Menschen sein können, die die Stadt bewohnen, haben wir
bereits festgestellt“, erwiderte ich. „Wir müssen ganz einfach hingehen und
nachsehen.“
„Ganz einfach hingehen“, wiederholte Inky mit hörbarer Skepsis.
„Vorwärts!“ munterte ich meine Gefährten auf.
Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, wenn wir nicht wieder
verschwinden und den Fachleuten von der Time-Squad das Feld überlassen
wollten. Und dazu verspürte ich überhaupt keine Lust. Inky und ich konnten
uns zwar rühmen, zu den ersten Menschen zu gehören, die in ein fremdes
Sonnensystem vorgedrungen waren, aber dieser Ruhm war wohl nicht genug
für uns. Ich konnte zusätzlich damit angeben, daß ich als einziger Mensch der
Erde eine außerirdische Sprache perfekt beherrschte, aber auch das genügte
mir nicht. Nach weiteren Ersttaten stand uns nicht der Sinn, wir wollten ganz
einfach herausbekommen, was es mit der Goldenen Stadt auf sich hatte. Und
wir wollten nicht eher weichen, bis wir dieses Geheimnis gelüftet hatten.
Daher marschierten wir weiter.
Auf den Weiden trabten fette Kühe über das Gras, zumindest deren Vorläufer.
Wie die Tiere genau hießen, wußte ich nicht - aber ich erinnerte mich, sie in
einem Lehrbuch gesehen zu haben.
Auf Stadtbewohner stießen wir einstweilen nicht. Sie überließen ihr Vieh
offenbar sich selbst. Wir konnten nur die Posten auf den Wällen erkennen, die
dort patrouillierten.Über der Schulter trugen sie lange Spieße, deren Spitzen
vergoldet zu sein schienen.
„Es sind Menschen“, erklärte Charriba, der von uns die besten Augen hatte.
„Es gibt keinen Zweifel, es sind Menschen. Ich kann die Arme sehen, die
Gesichter - wenn sie nicht gerade Hufe an den Beinen haben, sind es
Menschen, wie wir auch.“ Wir sahen uns völlig ratlos an. Wie kamen Menschen in diese Zeit? Oder sollte man besser fragen: Woher kamen diese Menschen? Mir wurde schlagartig bewußt, daß die Zeitmaschine, die in der Zentrale der Time-Squad stand, nicht die einzige ihrer Art war. Es gab nicht nur die Maschine des Gegners, vermutlich sogar eine ganze Reihe davon - auch die Nachfolger von D. C. , Don Slayter und uns würden aller Voraussicht nach über Zeitmaschinen verfügen. Steuerten wir auf einen Punkt zu, an dem sich ein Kreis durch die Zeit schloß? Vielleicht kamen die Bewohner der Stadt aus einer Epoche, die - aus der Sicht unserer Realzeit - in der Zukunft lag. Vielleicht mußte alles so ablaufen: Wir erzählten in der Zentrale der Time-Squad von der Stadt, und dieser Bericht ging dann zu den Akten. Damit er jemals Wirklichkeit werden konnte, mußte dann, irgendwann in der Zukunft, eine Expedition losgeschickt werden, auf die wir im Miozän stoßen konnten. Es war ein Paradoxon, eine jener Gedankenkonstruktionen, bei denen die Logik Knoten bekam. Was geschah, wenn wir einfach umkehrten und den Mund hielten? Löste sich die Stadt dann in Luft auf, verschwand sie einfach? Oder mußten wir drei die Stadt anzünden und in Schutt und Asche legen, damit dreizehn Millionen Jahre nach dieser Feuersbrunst überhaupt noch eine Time-Squad existierte, die uns auf die Reise schicken konnte? Vorerst waren wir nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen. Wir hatten schon einmal mit Zeit-Paradoxa zu tun gehabt, und bisher hatten wir uns an die Devise gehalten, vorsichtshalber zu handeln, gleichgültig, was theoretisch aus der Angelegenhe it werden konnte. Ich erinnerte mich an das, was Inky und Charriba mir über ihren Einsatz in der Frühgeschichte der USA erzählt hatten. Sie waren in den Westen gereist und hatten gegen Indianer gekämpft, um das Verschwinden von einigen tausend Personen aufzuklären, die sich in unserer Realzeit sclieinbar in Luft aufgelöst hatten. Bei einer präzisen Ermittlung hatte sich ergeben, daß alle diese verschollenen Personen Vorfahren in einem ganz bestimmten Siedlertreck gehabt hatten. Dieser Treck war von Indianern überfallen und massakriert worden,“ und daraufhin waren die Nachkommen dieser Opfer einfach aus der Geschichte verschwunden. Die Time-Squad hatte den Fall untersucht und gehandelt. Der Überfall auf den Treck war verhindert worden - und prompt waren die Verschwundenen wieder aufgetaucht. Dies war ein Paradoxon, wie man es sich klassischer kaum denken konnte. Natürlich hatten unsere Wissenschaftler nicht darauf verzichten wollen, diese Personen genauestens zu befragen, vor allem über die Zeit, in der sie aus unserer Realität verschwunden gewesen waren. Aber, merkwürdig genug, die Verschwundenen hatten sich - und das ausnahmslos - geweigert, auch nur eine Silbe über die Zeit ihres Verschwindens aus der Realität fallenzulassen. Selbst die Verhörspezialisten hatten nicht einen Krümel von Information aus diesen
Leuten herausgeholt.
Nur eines war nach vergleichsweise kurzer Zeit klargeworden: Die ehemals
Verschwundenen schienen ihr Leben mit wesentlich mehr Konzentration zu
erleben, als wollten sie jede einzelne Sekunde so intensiv wie möglich in sich
aufnehmen.
Was konnte aus den Gestalten werden, die wir auf den Wällen der Goldenen
Stadt patrouillieren sahen, wenn wir einfach abdrehten und uns nicht weiter
um sie kümmerten? Würden sie ähnliches erleben wie die Opfer der Paradoxa,
die wir bereits kannten? Für wie lange würden sie in ein Kontinuum
verschwinden, das für uns Normalsterbliche unvorstellbar war - und
vermutlich auch bleiben würde?
Oder... ?
Würden vielleicht wir verschwinden? Lieferten, anders als wir dachten, nicht
die Bewohner der Goldenen Stadt, sondern vielmehr wir das Paradoxon?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden, und diesen Weg mußten wir gehen,
gleichgültig, wohin er uns führte!
„Mir ist gar nicht wohl, wenn ich diese Wälle sehe“, murmelte Inky plötzlich.
„Diese Zinnen sehen ganz so aus, als warteten sie darauf, mit abgeschlagenen
Köpfen verziert zu werden.“
„Auf deinen Schädel wird man dort drüben besonders gewartet haben“,
spottete Charriba. Er wirkte völlig ruhig, aber mir fiel auf, daß sich seine
Finger nervös bewegten.
Inzwischen konnten wir die Wachen auf den Stadtmauern genau sehen.
: Es waren Menschen, ganz normale Menschen - aber es durften einfach keine
sein! Die Situation war verrückt, und ich war nahe daran, es zu werden.
Die Männer - wenn es Männer waren - auf den Wällen hatten dunkle Haare,
die ihnen bis auf die Schultern fielen. Ich konnte sehen, daß ihre Oberkörper
von metallenen Panzern bedeckt waren; auch an den Unterarmen saßen
metallene Schienen. Über den Schultern trugen die Wachen Bögen, deren
Konstruktion an die von Charribas Bogen erinnerte - und das war einer der
besten, den es in unserer Zeit gab.
An den Wällen waren Pechnasen zu erkennen, alle Kanten waren nach außen
hin mit scharfkantigen Steinsplittern gespickt - damit sollten offenbar
Wurfanker wirkungslos gemacht werden. Die gesamte Goldene Stadt machte
auf mich den Eindruck, als sei in dieser Zeit unversehens eine Filmdekoration
nebst sämtlichen Statisten aufgetaucht, um uns zu erschrecken.
„Blödsinn“, murmelte Charriba kopfschüttelnd. „Hirnverbrannter Blödsinn!“
Er blieb abrupt stehen.
„Paßt auf“, versuchte er uns zu erklären. „Nach allem, was wir über die
Entwicklungsgeschichte wissen, darf es an diesem Ort und zu dieser Zeit
keinerlei Menschen geben, von einer ausgewachsenen Stadt gar nicht zu reden.
Diese Stadt aber ist unzweifelhaft vorhanden. Daraus folgt, daß irgend jemand
oder irgend etwas mit der Zeit herumgespielt hat. Wer Zeitmaschinen besitzt,
kann natürlich auch Städte im Miozän anlegen.“
„Das hört sich logisch an“, erklärte Inky.
„Aber wer, frage ich euch, der bei klarem Verstand ist, verfügt über Zeitmaschinen und rüstet dann die Bewacher seiner Stadt mit altmodischen Waffen aus? Zum Betrieb einer Zeitmaschine gehört ein atomarer Reaktor und diese Menschen hier laufen mit Schwertern, Spießen und Bögen herum. Erkennt ihr den Widerspruch?“ „Bruder“, sagte Inky trocken. „Wir erkennen ihn - und dort drüben hat man uns erkannt. Wir werden alle Fragen klären, die diese Stadt betreffen - aber erst, wenn wir sie betreten haben.“ Daß uns nichts anderes übrigbleiben würde, als die Stadt zu besuchen, war sehr bald festzustellen. Die Posten auf den Wällen hatten uns entdeckt. Noch während Inky redete, wurden die ersten. Bögen gespannt. Ein halbes Hundert Pfeilspitzen zielte in unsere Richtung, und wenn die Schützen auf den Mauern es an Treffsicherheit mit unserem Freund Charriba aufnehmen konnten, dann waren wir prächtige Zielscheiben. Auf diese Entfernung traf Charriba für gewöhnlich ins Schwarze. Am Stadttor in unserer Nähe wurde es lebendig. Bewaffnete tauchten auf und quirlten durcheinander. „Allerhand Aufregung“, kommentierte Inky gefaßt. Die Waffenträger am Tor sahen uns im Bereich der Bogenschützen und warteten daher auf uns. Mit gespielter Gleichgültigkeit gingen wir langsam auf das Tor zu. Es war eine befremdliche Situation. Immer wieder fühlte ich mich versucht, mir über die Augen zu wischen und das hinwegzufegen, was wie mir mein Verstand sagte - nur eine bösartige Halluzination sein konnte. Die Männer - im Näherkommen sahen wir, daß es sich tatsächlich um Männer handelte - waren so gekleidet, wie man es nach ihrer Bewaffnung erwarten konnte: an den Füßen Riemensandalen, ein knielanges, tunikaähnliches Gewand darüber, die Arme bloß. .. Es scheint sich um einen Kostümfilm zu handeln“, spöttelte Inky halblaut. „Ich frage mich nur, wer hier die Regie führt.“ „Woher kommt ihr, und was wollt ihr?“ Ich zwinkerte verblüfft. „Los, rede Mann, oder du bekommst die Spitze meines Speeres zu spüren!“ Der Druck auf meinen Bauch zeigte mir, daß der Soldat es ernst meinte. Die Lage wurde immer gespenstischer - ich verstand jedes Wort, das der Soldat sagte. Er sprach englisch, einwandfreies Englisch, wenn auch mit einigen Aussprachefreiheiten „Oh, Boy!“ sagte ich unwillkürlich. „D. C. , stehe uns bei!“
5. Es war nicht zu fassen, und ich begriff es auch nicht.
Die Tatsache, daß mitten im Miozän Menschen herumliefen, war schon
schwer genug zu verdauen, aber daß diese Menschen dann auch noch in vorsintflutlicher Kostümierung auftauchten und modernes Englisch sprachen, übertraf alles, was ich mir vorstellen konnte. Zu meinem Leidwesen mußte ich feststellen, daß es im Augenblick nicht auf meine Vorstellungskraft ankam. Die Spitze in meiner Magengrube war hart, und der Druck dahinter wurde stärker. „Wir kommen von dort“, stotterte ich und deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Wir wollen uns nur ein wenig ausruhen. Können wir bei euch etwas zu essen bekommen und vielleicht sogar ein Quartier für die Nacht?“ Die Wache musterte uns skeptisch und senkte die Speerspitze, aber nur um eine Handbreit. „Verehrt ihr die wahre Göttin?“ fragte er, und seine Stimme verhieß uns nichts Gutes, wenn wir falsch antworteten. Zum Glück gab er uns mit seiner Formulierung einen wertvollen Hinweis. „Selbstverständlich“, begehrte Charriba auf. „Wer bist du, daß du dich erdreistest, uns derart zu molestieren?“ Der Himmel mochte wissen, woher er in seinem Wortschatz den fossilen Ausdruck molestieren genommen hatte - aber das Fremdwort tat seine Wirkung. Die Miene der Wache hellte sich ein wenig auf. „Sieh her!“ fauchte ich ihn nun an. „Und dann gib den Weg frei!“. Ich hielt ihm die Faust unter die Nase. Dabei wollte ich nicht mit meiner Kraft protzen, das wäre bei der Muskulatur des Postens vergebliche Liebesmüh gewesen, zumal seine Kollegen uns umstanden - ich wollte ihm nur den Ring zeigen, den ich an der Hand trug. Es war ein Goldring mit einer antiken Münze - allerdings hatte niemand je feststellen können, welcher Monarch zu welcher Zeit diese Münze hatte prägen lassen. In jedem Fall hatte das Stück so beeindruckend ausgesehen, daß es in meiner Familie selbst in größter Not nie verkauft, sondern immer nur vererbt worden war, jeweils an den ältesten Sohn. Der Posten sah auf die von Grünspan überzogene Münze und runzelte die Stirn. Offenbar begriff er, daß ich damit meine Stellung und meine Macht demonstrieren wollte - nur schien meine Münze in seinem Katalog von Rangabzeichen nicht vorzukommen. „Herr“, sagte der Posten, nun schon bedeutend höflicher, aber nichtsdestotrotz widerspenstig, „ich darf Euch erst einlassen, wenn Ihr durchsucht worden seid. Ihr wißt, daß dies Gesetz ist!“ „Nur zu!“ ermunterte ich ihn. Mit sichtlichem Respekt untersuchten uns die Wachen, und sie schienen nichts Verdächtiges zu finden. Sie bestaunten unsere Lasergewehre, aber sie erhoben keinerlei Einsprüche, auch nicht gegen die Handwaffen in unseren Halftern. „Ihr könnt passieren“, erklärte der Posten schließlich und gab den Weg frei. Ich runzelte möglichst verachtungsvoll die Stirn, dann setzte ich mich in Bewegung. Das unmöglich Erscheinende war zur Wirklichkeit geworden. Eine Stadt mit Wällen im Miozän; Bewohner dieser Stadt, die sich in nichts von normalen Menschen unterschieden und ein schauerliches, aber durchaus verständliches
Englisch sprachen; Zeitreisende aus dem 24. Jahrhundert, die von den Bewohnern der Miozän-Stadt kontrolliert wurden und passieren durften langsam kam ich mir vor, als bewegte ich mich in einem zur Wirklichkeit gewordenen Traum. Allerdings plagte mich von Minute zu Minute stärker die Frage, ob sich dieses Phantomgebilde nicht bald in einen handfesten Alptraum verwandeln würde. * Wieder einmal rief er nach den anderen. Wieder einmal antworteten sie nicht. Er weinte, still und intensiv. Es waren viele Jahre vergangen, aber das hatte seinen Gefühlen nichts von ihrer Intensität genommen. Seit einiger Zeit - er war nicht mehr in der Lage, diese Zeitspanne in verarbeitbare mathematische Symbole zu verwandeln - wurde er von Erinnerungen gepeinigt, sich schmerzhaft aufdrängenden Informationen, die mit Gefühlen förmlich überfrachtet waren. Der Tag der Ankunft, und die Wochen und Monate der Arbeit, in denen sich langsam Beziehungen herauskristallisiert hatten - Partnerbeziehungen, die nachher legalisiert werden konnten, flüchtige Verbindungen, oberflächliche Sympathien, tiefe Abneigung, gärender Haß. Es hatte nicht einmal ein halbes Jahr gedauert, um ein komplettes Programm aller nur denkbaren Gefühlsregungen durchzuspielen - Liebe, Eifersucht, Neid, Mißgunst, Freundschaft, Ekel... Nichts war ausgelassen worden, auch nicht die Angst. Sie vor allem, die Angst. Angst und Entsetzen von dem Augenblick an, der die unwiderrufliche Gewißheit gebracht hatte, die schmerzvolle Einsicht, daß ein Teil der Zukunft verschüttet war und sich nicht mehr wieder frei machen lassen würde. Die Verzweiflung, die der treue Gefährte der Monate gewesen war, die sich der Katastrophe angeschlossen hatten. Verzweiflung in jeder nur denkbaren Spielart - und natürlich meistens auftretend mit ihrem infamen Gefährten, der durch nichts begründeten Hoffnung. Sie riß die Wunden, in die das ätzende Gift der klaren Erkenntnis tropfen konnte. Und dann der Tag, der einen Ausweg zeigte, einen gangbaren Ausweg. Zum ersten Mal seit vielen Monaten war wieder helles Lachen durch das Lager geklungen. Dieses Lachen hatte zu einer Hoffnung gehört, die sich als handfest erwiesen hatte, als logisch begründbar und technisch nachvollziehbar. Gewiß, es mußte Neuland betreten werden, aber daran hatten sie sich gewöhnt. Vier Jahre hatten sie gebraucht, um das Programm in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Weitere fünfzehn Jahre hatten vergehen müssen, bis sie das Programm hatten abschließen können. Danach war ihnen nur eines verblieben - das Warten. Er rief wieder nach seinen Gefährten, aber sie gaben keine Antwort. Sie gaben seit langer Zeit keine Antworten mehr, und er war nicht einmal mehr in der Lage, genau anzugeben, seit welcher Zeit er allein gewesen war. Und doch - irgendwo war da die deutliche Gewißheit, daß die Gefährten nicht
völlig verschwunden waren. Die Freunde existierten noch, glaubte er fest, sie waren nur nicht mehr in der Lage, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, seine drängenden Rufe zu beantworten. Oder wollten sie nicht mehr antworten? Es gab eine Erklärung, die zu dieser Frage paßte, und diese Erklärung fraß wie ein Pestgeschwür an ihm. Sie lief darauf hinaus, daß die anderen ihn nicht mehr mochten, ihn vielleicht gar verabscheuten - und dies in einem solchen Ausmaß, daß nicht einmal die besondere, einzigartige Lage, in der sie sich alle befanden, ausreichte, sie so mitleidig zu stimmen, daß sie sich wieder mit ihm in Verbindung setzten. Jedesmal, wenn dieser Gedanke in ihm hochstieg - die furchtbare Angst, in einer Gesellschaft von Ausgestoßenen der Ausgestoßene zu sein -, verlor er fast den Verstand. Dann überschwemmte er seine Umgebung mit Impulsen und Befehlen, die mehr als einmal zu einem Chaos geführt hatten. Wäre das von ihm selbst mitgeplante, mitentworfene und mitgebaute System nicht so ungeheuer belastbar gewesen - das System und er selbst hätten einen solchen Anfall nur wenige Male ertragen. So aber erzitterten die einzelnen Teile des Systems unter dem Ansturm seiner chaotischen Impulse, aber sie zerbrachen nicht. Allerdings begann sich allmählich der Zeitpunkt abzuzeichnen, da das System zusammenbrechen mußte, und es war typisch für seine Anfälle, daß er diesen tag mehr und mehr herbeizusehnen begann - während er in seiner normalen Verfassung von steigender Angst vor den Folgen eines solchen Anfalls erfüllt wurde. So lebte er, sich selbst zur Qual und seinen Zeitgenossen zum Entsetzen. * „Freunde“, sagte Inky leise. „Mir ist nicht geheuer. Wir haben uns auf etwas eingelassen, das unsere Kräfte übersteigt - und dieses Eingeständnis will aus meinem Mund etwas besagen!“ Damit hatte Inky allerdings recht. Verzagtheit gehörte normalerweise nicht zu seinen alltäglichen Gefühlen. „Wir können nicht mehr zurück“, stellte Charriba gelassen fest. „Wer die Höhle dos Löwen betritt, kommt entweder mit dem Fell oder überhaupt nicht mehr zum Vorschein!“ Die Goldene Stadt - wir hatten inzwischen herausgefunden, daß es sich bei dem Gold um poliertes Messing handelte - war nach modernen Gesichtspunkten angelegt, exakt schachbrettförmig, ein Häuserblock wie der andere. Die Straßen waren breit und ungepflastert. Nackte Füße hatten sie glattgestampft. Im Winterregen verwandelten sie sich wahrscheinlich in grundlose Moräste. Inky blieb an einer Ecke stehen. „Seht euch das an!“ murmelte er. Wir hatten einen Stadtbereich betreten, der in unmittelbarer Nähe des großen
Turmes lag, der offenbar das Zentrum dieser Stadt bildete. Inky deutete auf ein Eckhaus, dessen Verputz einige Beschädigungen aufwies. „Fällt euch nichts auf?“ erkundigle sich Inky. „Achtet einmal auf den Zustand der Häuser. Ihr könnt dabei ganz genau die Entwicklung der Stadt verfolgen. Die Bewohner haben von Anfang an nach dem Schachbrettmuster gebaut, auch im Zentrum der Stadt. Sie haben eine Schicht nach der anderen um diesen Kern gelegt, ein Mauerviereck nach dem anderen gezogen. Dieses Eckhaus gehörte einmal zu einer Stadtmauer, ich habe darauf geachtet. Offenbar wird diese Stadt schubweise vergrößert. Wenn der Bevölkerungszuwachs eine bestimmte Grenze erreicht hat, wird ein neues Viereck von Häuserblocks angelegt, und gleichzeitig wird die Stadtmauer entsprechend erweitert.“ „Richtig“, murmelte Charriba. „Und ich glaube sogar, daß ein neues Stadtviertel, bereits in Angriff genommen wird, bevor die Bevölkerung die kritische Größe erreicht hat. In der Nähe der Stadtmauer nämlich habe ich einige Häuser entdeckt, die ganz offensichtlich nicht bewohnt werden!“ Ich versuchte, diese Informationen zu verdauen, wahrend ich ein hundeähnliches Tier mit einem Fußtritt davonjagte. Die Lage wurde immer verworrener. „Ich habe einen sehr üblen Verdacht“, sagte Inky plötzlich halblaut. „Wenn Charriba recht hat, und ich fürchte, er hat, dann wird im Bedarfsfall zuerst die neue, erweiterte Stadtmauer in Angriff genommen und dann erst werden die Häuser gebaut! Diese Stadt ist nichts weiter als ein gigantisches Gefängnis!“ * Er hätte alles darum gegeben, davonlaufen zu können. Obwohl ihm sein wissenschaftlich geschulter Verstand sagte, daß er einen hervorragenden Tausch gemacht hatte, trauerte er der primitiven Vergangenheit nach, in der er noch so viel Unvernünftiges hatte tun dürfen und können. Jetzt fehlte ihm diese Freiheit, und der Verlust schmerzte ihn - obgleich er sehr wohl wußte, daß er für diese Freiheit das Leben getauscht hatte. Er spürte den leisen Schmerz in seinem Innern, jenen rein psychischen Schmerz, der mit nichts zu bekämpfen war. Körperliche Schmerzen kannte er seit langem nicht mehr. Quälten ihn aber seelische Schmerzen, so stand er vor einem schlechthin unlösbaren Problem: Entweder überließ er sich dem Schmerz, der seine Persönlichkeit veränderte und toben ließ, oder er stillte den Schmerz mit Drogen, die ebenfalls seine Persönlichkeit veränderten und das gesamte System gefährdeten. So oder so, er fand gegen die immer häufiger wiederkehrenden Attacken nur ein Mittel - er mußte sich um seine Schöpfung kümmern. Gerade jetzt, so fiel ihm ein, würde dies wieder notwendig werden. Der lnformationsstand des Systems hatte sich geändert. Es waren neue Informationsgruppen aufgetreten. Und bei diesen Informationsgruppen fehlte die Input-Codierung.
Mit anderen Worten: Im System waren Fremdkörper aufgetaucht, obwohl die Grundlage des Systems ein Bündel von Axiomen war, in dem das Auftauchen von Fremdkörpern überhaupt nicht enthalten war, es sei denn, unter ganz bestimmten Bedingungen. Er begann zu überprüfen, ob diese Bedingungen gegeben waren. Natürlich prüfte er nicht selbst, er hatte dafür ausführende Organe. Er hatte auch ausführende Organe bereitstehen, für den Fall, daß neu aufgetretene oder bereits vorhandene Informationsgruppen aus dem System eliminiert wurden, und zwar dergestalt, daß sie - nach den Regeln der Logik und den Denkgesetzen niemals wieder würden in Erscheinung treten können. * „Wer mag diese Stadt gebaut haben“, überlegte ich halblaut. Mir fiel auf, daß sich niemand fü r uns zu interessieren schien, obwohl wir mehr als auffällig sein mußten. Unsere Kleidung wich erheblich von der der Stadtbewohner ab, die meist in tunikaähnliche Gewänder gehüllt waren. Zwar trafen uns ab und zu Blicke, die eindeutig Neugierde verrieten, aber niemand stellte sich uns in den Weg, fragte nach dem Woher oder Wohin oder forderte gar Ausweispapiere oder ähnliches. Offenbar waren wir hinreichend durch den Umstand legitimiert, daß wir uns in der Stadt aufhielten. Auch die ziemlich zahlreich vertretenen Wachen nahmen keine Notiz von uns, allerdings hielten wir uns auch strikt an das Vorbild, das die Stadtbewohner uns lieferten - wir taten nichts, was wir nicht einen Bewohner der Stadt hatten tun sehen, im Vertrauen darauf, daß wir bei diesem Nachahmungsverfähren nichts falsch machen konnten. „Keine Ahnung“, murmelte Inky. Wir gingen auf den großen Turm zu. Dieses Gebäude mußte den Schlüssel zum Verständnis der Stadt enthalten. Nur dort konnten wir auf unsere Fragen Antworten finden. „Die Ähnlichkeit mit Atlantis ist verblüffend“, stellte Inky plötzlich fest. Charriba sah ihn verwundert an. Ich schüttelte den Kopf. Charriba kannte die Geschichte unseres Ausflugs nach Atlantis nur vom Hörensagen. Inky aber hatte dieses Unternehmen mitgemacht. „Die Ähnlichkeit ist nur bedingt“, erklärte ich. „Beide Kulturen stehen auf einem vergleichbaren technischen Stand - Bronzezeit etwa. Das führt dazu, daß verschiedene Völker für verwandte Probleme auch ähnliche Lösungen finden, beispielsweise die Töpferscheibe, die Massenherstellung von Waffen und dergleichen. Aber niemand käme auf die Idee, Chinesen und Japaner für ein Volk zu halten, nur weil man in beiden Ländern zum Essen Stäbchen benutzt.“ „Mag sein“, murmelte Inky. „Aber...“ „Zwischen dieser Stadt und der Basileia der Atlanter liegen mehr als zwölf Millionen Jahre. Es ist absurd, hier die Vorläufer der Atlanter zu suchen.“ Ich warf einen prüfenden Blick auf den Himmel. Er wurde langsam finster über diesem Teil Afrikas, und damit wurde die Lage für uns einigermaßen
kompliziert. Wo sollten wir über Nacht bleiben? Auf der Straße sicherlich nicht, da hätten sich sehr bald die Wachen um uns gekümmert. Und einfach in eines der Häuser gehen durften wir auch nicht. Niemand kannte uns in der Goldenen Stadt, und ihre Bewohner würden sicherlich nicht einfach zusehen, wenn Fremde in ihre Wohnungen eindrangen. So oder so, die Angelegenheit strebte einer Entscheidung zu. * Er hatte die drei Informationsbündel geortet, seinen Datenschatz um die Koordinaten der drei Fremden bereichert. Auch ihre Bewegung erfaßte er und verarbeitete sie. Er ging mit sich selbst zu Rate. Sollte er abwarten, was die Fremden unternahmen, oder sollte er sofort eingreifen? Was planten die Fremden - wenn sie überhaupt etwas planten? Wußten sie, wohin sie sich gewagt hatten, was sie erwartete? Und vor allem, wo kamen sie überhaupt her? Schließlich... es durfte sie gar nicht geben, und das wußte er ganz genau. Oder... ? In seinen Verbindungen, überschlugen sich die Gedanken. Er hatte logisch angefangen, aber nun spülten die Gefühle in ihm hoch. Diese Emotionen durchrasten das System; der Energieverbrauch wurde gesteigert. Er gab Alarm. * Im ersten Augenblick hörte es sich angenehm an. Es war ein dunkler, warmer Ton, der von der Spitze des Turmes zu uns herüberdrang, aber die Reaktion der Stadtbewohner gab diesem Ton einen sehr unerfreulichen Beigeschmack. Die Bewohner der Goldenen Stadt spritzten förmlich auseinander. In Windeseile verließen sie die Straßen und verschwanden in den Häusern. Ohne sich um das entsetzte Geplärr ihrer Kinder zu kümmern, zerrten Mütter ihre Sprößlinge über die Schwellen, und dann wurde das Geheul vom Krachen übertönt, mit dem die Riegel und Läden zufielen. „Großalarm“, stellte Inky trocken fest. „Ob das auf uns gemünzt ist?“ Vorsichtshalber rannten wir ebenfalls. Laufende, hetzende Menschen waren zu diesem Zeitpunkt die Regel, und wir hielten uns an diese Regel. Dabei rannten wir auf den Turm zu, in der Hoffnung, dort Antworten für eine ganze Reihe von Fragen zu finden. Die erste Antwort bekamen wir recht bald. Sie bestand aus Bronze, wies eine bedrohliche Spitze auf und saß an den Spitzen von einem Dutzend Speerschäften. Unversehens war die Patrouille aufgetaucht und hatte sich uns in den Weg gestellt. „Nicht so eilig!“ murmelte Inky und hob abwehrend die Hände. Glücklicherweise sprach er so leise, daß die Soldaten ihn nicht verstehen
konnten. Hinter den Speerträgern war eine Gruppe von Bogenschützen
aufgetaucht, acht Mann, und sie hielten ihre Bögen gespannt in den Händen.
Ich verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das aber recht kläglich ausgefallen
sein mußte. Der Anführer des Trupps verzog keine Miene.
Vielleicht hätten wir uns durchkämpfen können, wenn wir rücksichtslos von
unseren modernen Waffen Gebrauch gemacht hätten, aber das erschien mir
noch nicht nötig. Zudem war eine Auseinandersetzung zwischen
Lasergewehren und mäßig guten Bögen eine ausgesprochen unfaire
Angelegenheit: moderne Waffen gegen primitive...
Unwillkürlich schluckte ich.
Was der Anführer der Soldaten da aus einem ledernen Beutel an seiner Hüfte
hervorzog, war unverkennbar ein Sprechfunkgerät moderner Bauart;
Reichweite dreißig Kilometer, Lebensdauer mit einer atomaren Kleinbatterie
annähernd zehntausend Betriebsstunden, also eine mittlere Ewigkeit.
„Wir haben die Fremden festgenommen, Herr!“ sagte der Offizier in das
Mikrophon.
„Bringt sie zu mir“, lautete die Antwort.
Die Sprache des Offiziers hatte ich verstehen können, wenn auch mit Mühe;
das Englisch seines Gesprächspartners aber war tadellos und einwandfrei. Ich
sah Inky und Charriba verdutzt an.
„Ein Rätsel mehr“, sagte Charriba achselzuckend.
Der Offizier bedeutete uns mit einer energischen Kopfbewegung, loszugehen.
Die Richtung unseres Marsches wurde uns von den Speerspitzen angedeutet
es ging auf den Turm zu, der sich in der Mitte der Stadt erhob.
Jetzt, wo wir dem Turm sehr nahe waren, schätzte ich seine Höhe auf knapp
sechzig Meter.
„Fällt dir nichts auf?“ murmelte Inky plötzlich.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Wir gehen über Pflaster“, klärte Inky mich auf. „Es handelt sich übrigens um
Steinpflaster, und zwar ohne die Einschüsse, die wir von Atlantis her kennen.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Das sind keine Steine“, behauptete ich. „Ich bin kein Fachmann, aber ich
glaube nicht, daß es auf der Welt eine Gesteinsart gibt, die dieser gleicht.“
Das Pflaster bestand aus einem einförmigen bräunlichen Material in
quadratischen Platten.
„Wer sagt“, murmelte Inky, „daß das Pflaster von der Erde stammen muß?“
Charriba kicherte leise.
„Das letzte, was ich auf eine Weltraumexpedition mitnehmen würde“, sagte er
amüsiert, „wären die Pflastersteine für meine erste Ansiedlung. Werde nicht
albern, Bleichgesicht!“
Zu diesem Zeitpunkt wußte er noch nicht, daß uns nur noch kurze Zeit von
Erlebnissen trennte, die auch unseren roten Bruder Charriba für den
Spitznamen Bleichgesicht passend machen würden.
6.
Unsere Schritte waren deutlich zu höre“, obwohl wir Sandalen aus weichem Leder trugen. Unter den quadratischen Kacheln mußte es einen Hohlraum geben, anders ließ sich der Hall nicht erklären, den unsere Schritte hervorriefen. Von der großen Tempelhalle wurde auch das Waffenklappern unserer Wächter gewaltig verstärkt. Wir hatten den Turm erreicht, genauer gesagt, die Säulenreihen, die den Fuß des Turmes umgaben. Der Boden zwischen den Säulen, die ohne jeden Zweifel griechischen Vorbildern entlehnt waren, war mit den quadratischen Platten bedeckt, auf denen wir schritten. Uns war alles andere als wohl zumute, unsere Lage hatte etwas Gespenstisches an sich. Zum Glück hatten wir wenigstens unsere Waffen zur Hand, damit ließ sich die Lage schon etwas leichter ertragen. „Welchem Zweck mag der Turm dienen?“ erkundigte sich Inky sehr leise. „Ein Tempel?“ Es mochte so sein. In jedem Fall würden wir die Antwort sehr bald bekommen, denn vor uns zeichnete sich der Eingang ab. Der Turm war, zumindest im ersten Geschoß, nach dem Muster griechischer Tempel gebaut. Das hieß: außen eine möglichst beeindruckende Säulenreihe, darin die einfältigste aller denkbaren architektonischen Konstruktionen, ein Kasten aus Ziegelwerk. Erst als ich dies mit eigenen Augen sah, wurde mir langsam bewußt, welches Glück moderne Touristen hatten, daß sie von den klassischen Tempeln nur noch die schmucken Säulenreihen sahen. In der Realität mußten die Gebäude gewirkt haben wie platingefaßte Glasstücke. Als wir über die Schwelle traten - mir fiel auf, daß die Wachen es peinlichst vermieden, auf den Schwellenbalken zu treten -, hoben unsere Bewacher den Speer, als grüßten sie einen Vorgesetzten. Außer uns war aber niemand sonst zu sehen. Unsere Augen mußten sich erst an das Dämmerlicht im Innern des Tempels gewöhnen. Der Quader aus Ziegelsteinen hatte keinerlei Fenster, er wurde lediglich von Kienspänen erleuchtet, die in bronzenen Haltern an den Wänden staken und blakten. Während ich noch die Halter betrachtete, sah ich aus den Augenwinkeln heraus, wie Inky plötzlich schluckte und blaß wurde. Seine Augen weiteten sich, und sofort folgte ich seinem Blick. Auch der Boden des Tempels bestand aus steinernen Platten, aber das war es nicht, was Inky hatte erbleichen lassen und mir schlagartig den Atem nahm. Diese Platten waren knapp daumennagelgroß und bildeten ein Mosaik. Und was dieses Mosaik darstellte, wußten wenigstens zwei von uns nur zu gut. Gewiß, es gab Abweichungen: Der blaue Untergrund wies wolkenartige Strukturen auf, die zu klar erkennbar waren, als daß man sie auf Unzulänglichkeit des Materials oder der Künstler hätte zurückführen können; unter dem Querstrich war ein ebenfalls gelber Stern mit neun Zacken zu
erkennen.
Diesen Stern kannten wir bislang noch nicht, auch nicht die wolkigen
Strukturen des Untergrunds.
Den Rest dieses Zeichens aber kannten wir sehr wohl: Es war die goldene
Sieben auf blauem Grund, das Zeichen, das wir mehr als einmal auf dem
Umhang des Zeit-Zauberers Valcarcel gesehen hatten.
„Alle Teufel!“ stieß Inky hervor. „Valcarcel!“
* Durch das System der Leitungen raste ein Informationsbündel. Die Rezeptoren hatten es aufgenommen und führten es dem Decoder zu, der die Informationen so verwandelte, daß sie verständlich wurden. Er brauchte einige Zeit, bis er begriffen hatte, was ihm seine Informationsorgane gemeldet hatten. Er hatte mit vielem gerechnet und auf einiges gehofft - diese Überraschung aber kam völlig unerwartet. Die Fremden hatten sich zu erkennen gegeben. Und sie hatten sich als feindlich, ausgewiesen. Zum Glück gab es für diesen Sonderfall nur eine einzige Antwort, und er zögerte nicht, diese Antwort sofort zu geben. Er löste den Vernichtungsalarm aus. * Als erstes hörten wir wieder den großen Gong, der die Wachen der Goldenen Stadt in Alarm versetzt hatte. Der Mann, der den Klöppel bediente, schien den Verstand verloren zu haben - er hämmerte wie besessen auf dem Gong herum. Als nächstes fielen mir die Wachen auf. Ihre Gesichtszüge veränderten sich und wiesen bald alle Zeichen panischen Schreckens auf. Ich begann zu reagieren, als ich merkte, daß auch dieser Gesichtsausdruck nicht lange vorhielt. An seine Stelle trat grimmige Wut, und die Mimik ließ nur den einen Schluß zu, daß diese Wut uns galt. Ich ließ einen Fuß in die Höhe schnellen und trat dem Mann, der mir am nächsten stand, unter die Hand. Die Hand flog samt Speerschaft in die Höhe, dann krachte das Holz des Speeres dem Mann ins Gesicht. Bevor er noch reagieren konnte, rammte ich ihm einen Ellenbogen in den Solarplexus. Mehr brauchte ich nicht zu tun. Ich wartete nicht ab, bis der Posten auf dem Boden lag. Ich wandte mich sofort einer weiteren Wache zu. Charriba hatte einen seiner Gegner über die Schulter gehebelt und setzte gerade zu einem Hüftwurf an, der den zweiten Gegner außer Gefecht setzen sollte. Der Mann schrie gellend, als er durch die Luft flog. Er verstummte, als der behelmte Schädel mit einer Wand kollidierte. Ich versetzte meinem Gegner zwei Handkantenschläge, die ihn ausschalteten, mußte dafür aber eine leichte Stichwunde an der Hüfte einstecken.
Die Bogenschützen hatten sich geteilt. Während eine Gruppe sich etwas entfernte, um Platz zum Spannen und Zielen zu bekommen, hatte die zweite Gruppe die Bögen fortgeworfen und nach Schwertern und Messern gegriffen, mit denen sie uns zu Leibe rückten. Eingedenk der Grundforderung der Time-Squad, Menschenleben wo immer zu schonen, hatten wir unsere tödlichen Lasergewehre fallen lassen. Nun mußten wir uns mit den Fäusten wehren, oder mit den Messern, die wir am Gürtel trugen. Charriba konnte zusätzlich noch seinen Tomahawk einsetzen, aber auch diese Waffe schlug nicht selten tödliche Wunden. „Wir müssen von hier verschwinden!“ schrie Inky, während er unter einem Schwerthieb hinwegtauchte und Sekunden später dem Bewaffneten mit einem Fußhebel die Beine unter dem Leib wegzog. „Verrate mir, wie!“ schrie Charriba zurück. Ihm schien der Kampf zu gefallen, er hatte die Zähne gefletscht und sah jetzt wirklich so aus, wie sich Regisseure kämpfende Indianer vorstellten. Die erste Gruppe von Soldaten hatten wir außer Gefecht gesetzt, aber dafür schwirrten uns die ersten Pfeile um die Ohren. Die Schützen schossen, obwohl sie dabei auch ihre Gefährten treffen konnten, und dieser Hinweis reichte für uns völlig. Er ließ uns erkennen, daß wir offenbar eine höchst empfindliche Saite berührt hatten. Die Stadtbewohner waren offenbar fest entschlossen, uns den Garaus zu machen, und wenn sie dabei ein Dutzend ihrer eigenen Leute töten mußten. Wovor hatten diese Menschen so viel Angst, daß sie nicht einmal auf ihre Freunde und Gefährten Rücksicht nahmen? Wir konnten damit nicht gemeint sein. Sie mußten uns für Vertreter einer gefährlichen Macht halten, und ich hätte nur zu gerne gewußt, wie diese Macht beschaffen war. Einstweilen ging es in dem Tempel zu hektisch zu, als daß ich eine Antwort auf diese Frage hätte finden können, die sich mir in den wenigen Sekunden aufgedrängt hatte, in denen ich Atem schöpfte. Die Stadtsoldaten ließen uns nicht zur Ruhe kommen. Nachdem sie zwei ihrer Leute verletzt hatten, die wir als Schilde vor uns gehalten hatten, war uns keine andere Wahl geblieben. Mit zwei Laserschüssen hatte Charriba einen Stützbalken der Halle durchtrennt und einen Regen von teilweise glimmenden Splittern auf die Soldaten niedergehen lassen. Die Männer waren etwas zurückgewichen und hatten hinter den Säulenreihen im Innern des Tempels Deckung gesucht. Dennoch war die Gefahr noch lange nicht vorüber. Die sorgfältig gefiederten Geschosse mit ihren geschärften Bronzespitzen sausten pfeifend heran und schlugen in das Gebälk der Tempelhalle ein. Inky konnte nicht rechtzeitig zur Seite springen und wurde am linken Oberarm verletzt. Das Blut floß zwar reichlich, und Inky ließ auch eine Anzahl ansehnlicher Flüche vom Stapel, aber er hatte sich nur eine Fleischwunde eingehandelt, die lediglich etwas hinderlich war. „Ich versuche, uns den Weg freizumachen!“ rief ich. „Deckt mir den Rücken!“ Inky und Charriba hielten mit ihren Lasern die Bogenschützen in Schach, während ich den Weg zurück ins Freie zu erkunden versuchte.
Bereits nach wenigen Minuten wußte ich, daß es für uns kein Entkommen gab. Ich konnte mich gerade noch fallen lassen. Auf dem Rücken liegend und ziemlich fassungslos dreinblickend, konnte ich zusehen, wie sich ein Schwärm von Pfeilen und Speeren in das Holz des halbgeöffneten Türflügels bohrte. Es waren mindestens fünfzig Geschosse. Offenbar hatte der Alarm - der Herr des tönenden Bleches trommelte auf dem Dach des Turmes noch immer wie ein Besessener auf dem Gong herum - die gesamte Einwohnerschaft der Goldenen Stadt auf die Beine gebracht, und nun belagerten diese Bewohner den Turm in der Stadtmitte. Vorsichtig robbte ich zurück. Immer wieder kam ein Speer geflogen, landete funkensprühend auf dem Boden und schlitterte über die Mosaikplättchen hinweg in den Tempel hinein. Die Stadtbewohner versuchten, uns zu treffen, selbst wenn sie uns nicht sehen konnten. Mit aller gebotenen Vorsicht kam Charriba herangerobbt. In der rechten Hand hielt er seinen Nadler. und aus der Ruhe hinter meinem Rücken folgerte ich, daß es meinen beiden Freunden gelungen war, die Soldaten im Innern des Tempelbaus auszuschalten. „Wie sieht es aus?“ raunte Charriba. „Die ganze Stadt ist auf den Beinen“, sagte ich laut. „Offenbar haben wir unbemerkt einen Großalarm ausgelöst. Ich möchte nur wissen, was hier gespielt wird.“ „Hasenjagd“, sagte Charriba trocken. „Und uns fällt die Rolle der Hasen zu. Haben wir Chancen, die Stadt zu verlassen?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht“, rechnete ich ihm vor. „Aber nur dann, wenn wir uns rücksichtslos den Weg freischießen. Du weißt, worauf das hinausläuft!“ Charriba nickte. „Tote!“ sagte er dumpf. „Sehr viele Tote. D. C. wird uns am nächsten Baum aufknüpfen lassen, wenn sie davon erfährt.“ „Oder sie straft uns wochenlang mit Schweigen“, fuhr Inky fort, der sich fast lautlos genähert hatte. „Und das wäre noch schlimmer. Innen ist alles ruhig!“ Um so lebendiger ging es draußen zu. Immer wieder kamen Speere angeflogen, und die Türflügel waren mittlerweile von Pfeilen gespickt. Charriba murmelte einen Fluch. „Sollen wir einfach hier warten?“ schimpfte er leise. „Wenn ich mir anhöre, was die da draußen für einen Aufwand machen, dann kann ich mir kaum vorstellen, daß sie sich nur mit uns unterhalten wollen. Die sind an unseren Köpfen interessiert, Freunde.“ „Den Skalp wird es nicht gleich kosten“, konterte Inky trocken. „Wenn man uns auf der Stelle totschlagen wollte, hätte man das weit früher besorgen können. Wir haben zumindest die Hoffnung, daß man sich doch erst einmal mit uns unterhalten wird. Wer wir sind, was wir wollen, woher wir kommen etc. Vielleicht bietet sich dann eine Gelegenheit zur Flucht. Wenn sie uns in sicherem Gewahrsam glauben, werden sie den Alarm abblasen.“
Ich war mir nicht ganz sicher, ob Inky die Verhaltensweise der Stadtbewohner richtig einzuschätzen vermochte. Einstweilen sah es nicht so aus, als wollten sie uns schonen. „Der Tempel hat mit Sicherheit noch weitere Eingänge“, sagte Charriba plötzlich. „Wir müssen aufpassen, daß man uns nicht...“ Noch während er sprach, hatte er sich herumgedreht, und da standen sie bereits. Die Spitzen der Pfeile zielten auf uns. Charriba konnte sie sehen, ich konnte sie sehen - nur Inky starrte weiterhin in Richtung Straße. Wenn wir Widerstand versuchten, blieb er - weil ungewarnt wie auf dem Präsentierteller liegen. Fast gleichzeitig zogen Charriba und ich die Abzugshebel durch, und die betäubenden Narkonadeln jagten aus den Läufen. Beide Waffen waren auf Dauerfeuer eingestellt und hörten erst dann auf, wenn entweder die Druckflasche oder aber das Nadelmagazin erschöpft war. Bis dahin blieb aber noch viel Zeit. Die ersten Angreifer kippten, von den Nadeln fast schlagartig betäubt, auf den Boden, ihre Pfeile zischten wirkungslos irgendwohin. Einen winzigen Augenblick lang waren die anderen verblüfft, und diese kurze Zeitspanne rettete uns. Noch bevor sie richtig begriffen, was mit ihnen geschah, schlugen die Narkonadeln auch in ihre Körper ein. Die Männer brachen bewußtlos zusammen und leisteten ihren Gefährten auf dem kühlen Mosaikboden Gesellschaft. Sie hatten nur Sekundenbruchteile gezögert, aber für uns hatten sie ausgereicht, die Hand einmal von links nach rechts zu bewegen und die gesamte Gruppe mit Nadeln zu bestreichen. „Rückzug!“ bestimmte ich. „Inky, du übernimmst diesen Eingang! Charriba und ich werden uns im Innern umsehen. Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, hier herauszukommen, ohne dabei ein Blutbad anzurichten!“ Inky nickte knapp und gab uns mit der Hand ein Zeichen. Wir zogen uns vorsichtig zurück, denn noch immer hatten die Angreifer den Versuch nicht aufgegeben, uns mit einem Regen von Pfeilen und Speeren einzudecken. Erst jetzt, wo wir unser Leben verteidigen mußten, fanden wir Zeit, uns den Innenraum etwas eingehender anzusehen. Der Anblick, der sich uns bot, war beeindruckend. Die Decke war niedrig und bestand aus massiven dunklen Holzbalken.Ähnliche Balken stützten die Decke, und in dem spärlichen, flackernden Licht der Fackeln verlieh diese Konstruktion dem ganzen Raum eine Atmosphäre des Bedrückenden, Unheimlichen. Dazu kam der Mosaikfußboden, dessen Anblick sich im Spiel der Fackelflammen immer wieder änderte. Fast hatte es den Anschein, als lebe dieser blaue Untergrund, über den wir schritten und der unter unseren Tritten widerhallte. Das Zusammenwirken von groben Ziegeln, viel dunklern Holz und dem stetig wechselnden Licht der Fackeln gab dem Tempelraum den barbarischen Anstrich, der jeden Besucher beeindrucken mußte. Der Raum war rechteckig, und an einer Stirnseite, der wir uns langsam näherten - längsam, weil wir hinter jedem der mannsdicken Balken einen versteckten Bogenschützen gewärtigen mußten -, prangte ein Bild an der
Wand. Im Näherkommen erkannten wir, daß das, was dort befestigt war, eine Maske war. Eine große,“ hölzerne Maske, deren Gesichtszüge stark abstrahiert waren. Der Vergleich mit den kantigen Gesichtszügen der Tanzmasken aus Afrika oder Polynesien drängte sich auf. Auch diese Gigantmaske wies keinerlei Porträtähnlichkeit auf, aber es fiel nicht schwer, den Ausdruck zu deuten, den die Schöpfer den abstrahierten Zügen gegeben hatten. Was wir erkannten, war verachtungsvoller Spott, maßlose Überheblichkeit gepaart mit nackter Grausamkeit. Grausamer, brutaler hätte man die Geisteshaltung eines größenwahnsinnigen Tyrannen nicht ausdrücken können. Und dieses Gesicht schien zu leben. Einige Meter vor der Maske - sie maß etwa sechs zu zehn Meter stand ein Würfel aus Bronze vor der Wand. Auf der Oberfläche, die leicht nach unten gewölbt war, brannte ein Feuer. Obwohl das Holz auf diesem Altar deutlich zu erkennen war, konnte man kein Knistern hören, und wo doch, stammte es von den Fackeln. Auch schien das Holz seltsamerweise nicht zu glühen. In jedem Fall aber waren die Flammen deutlich zu erkennen. Wir hatten viel damit zu tun, uns zu sichern. Hinter jedem Balken konnte ein Angreifer lauern, hinter jedem Stück Mauerwerk konnte eine Geheimtür versteckt sein. Dennoch fanden wir Zeit genug/den Altar zu betrachten, und mir wurde plötzlich auch klar, wer hier verehrt wurde. Der Boden mit dem unverkennbaren Zeichen, der Altar in dieser dumpfen, bedrückenden Umgebung, die Maske mit ihren deutlichen Zügen... Es gab nur ein Wesen, das in diese Atmosphäre paßte, zu dessen Verehrung ein Tempel gehörte, der ein Gefühl der Angst und der Einschüchterung durch seine Bauweise erzwang, dessen Abbild Furcht erregte... „Valcarcel!“ murmelte Charriba an meiner Stelle. Er war zum gleichen Ergebnis gekommen wie ich, obwohl er Valcarcel nur einmal erlebt hatte, und das nicht einmal in seiner üblichen Art und Weise. Jetzt wußten wir, woran wir waren. Wir steckten in der Höhle des Löwen, ja, fast schon in seinem Rachen. Er brauchte nur zuzubeißen. * Charriba und ich sahen uns an. Uns war klar, daß die eigentliche Gefahr nicht von den angriffslustigen Eingeborenen ausging, die das Haupttor des Tempels belagerten. Die wirkliche Gefahr hieß Valcarcel. „Und ich war fest davon überzeugt, den Medizinmann getötet zu haben“, murmelte Charriba niedergeschlagen. Ich lachte unterdrückt. „Das habe ich auch schon geglaubt“, erklärte ich ihm. „Aber Valcarcel scheint auf unsere Waffen nicht zu reagieren. Außerdem, vergiß nicht, daß wir uns nicht in unserer Zeit befinden. Du weißt nicht, an welchem Punkt von Valcarcels Lebensweg wir jetzt stehen.“ „Am letzten, hoffe ich“, sagte Charriba, obwohl er so gut wie ich wußte, daß
die Aussichten für unser Ende wesentlich günstiger standen als für Valcarcels Tod. Unwillkürlich überdachte ich alle Auswege aus dieser mehr als verfahrenen Lage. Unsere Funkgeräte lagen in dem Gleiter, den wir intelligenterweise draußen vor der Stadt zurückgelassen hatten. Hilfe herbei funken konnten wir auch nicht. Vermissen würde man uns frühestens in einigen Stunden, und dann würden unsere Freunde genug damit zu tun haben, auch nur die Richtung festzustellen, in der wir verschwunden waren. Zudem hätten sie gegen einen Befehl von D. C. verstoßen, der im Anfang ziemliches Kopfschütteln ausgelöst hatte: Ausflüge waren nur jeweils einer Gruppe gestattet, und diese Gruppe wiederum durfte entweder nur aus Männern oder aber ausschließlich aus Frauen bestehen. Der Grund dafür war relativ einfach einzusehen, wenn man mit Unglücksfällen rechnete. Wurde nämlich eine gemischte Gruppe versprengt, dann war es mehr als unwahrscheinlich, daß ihre Mitglieder für den Rest ihres Lebens wie Heilige lebten. Andererseits war es unausdenklich, was geschehen würde, wenn in der Geschichte der Erde moderne Menschen auftauchten, noch bevor der erste Australopithecine. aufgetaucht war. Darum durften nur solche Gruppen das Lager verlassen, die sich aus natürlichen Gründen nicht fortpflanzen konnten. Auf der anderen Seite war nicht auszuschließen, daß bei einer solchen Expedition Paare auseinandergerissen wurden. Dann bestand die Gefahr, daß sich der Partner oder die Partnerin eines Vermißten davonstahl, und das durfte auch nicht geschehen. Daher durfte immer nur eine Gruppe den engeren Lagerbereich verlassen, gleichgültig, was passierte. Eine Rettungsaktion war damit praktisch ausgeschlossen. Nur wenn wir unseren genauen Standort hätten angeben können, wären wir abgeholt worden. Da wir dies nicht konnten, würde man nicht nach uns suchen. Wir waren abgeschnitten. Wenn es uns nicht gelang, zu unserem Gleiter zu kommen und damit zu unserem Lager zurückzukehren, gab es für uns keine Rettung mehr. Unser einziger Trost bestand darin, daß wir nach der Planung der Time-Squad immerhin drei Jahre Zeit hatten, den Anschluß an das Lager wie-derzufinden. Ob es uns gelingen würde, in drei Jahren ganz Nordafrika zu durchqueren, stand auf einem anderen Blatt. Es war beklemmend still um uns herum. Das Lärmen vor dem Portal des Tempels schien aus weiter Entfernung zu kommen, sonst war nur das Knistern der Fackeln zu hören. „Was nun?“ murmelte Inky. Ich zuckte mit den Schultern. Auf diese Frage w ußte ich keine Antwort. Wir hatten beim Näherkommen geschätzt, daß die Stadt fünf bis zehntausend Einwohner haben mochte. Durch diese Bevölkerung hätten wir uns durchkämpfen müssen, ein aussichtsloses Unterfangen, selbst wenn wir moderne Waffen einsetzten. Weder schleppten wir Magazine mit zehntausend Narkonadeln mit uns, noch konnten wir mit unseren Lasern so viele Schüsse abgeben. Ich hatte auch große Zweifel, ob sich die Stadtbewohner sehr lange
von den Laserschüssen würden beeindrucken lassen. Früher oder später würden sie uns zu fassen bekommen, und jeder Tote, der eventuell auf unser Konto ging, würde die Wut der Stadtbewohner gegen uns steigern. „Es gibt nur eine Möglichkeit“, sagte ich schließlich. „Wenn dies ein Stützpunkt von Valcarcel ist, dann muß es hier irgendwo eine Zeitmaschine geben. Wenn es uns gelingt, diese Zeitmaschine zu finden und zu erobern...“ Ich brauchte nicht weiterzusprechen, Charriba hatte begriffen, daß es für uns nur einen, eben diesen Ausweg gab. Im Rachen des Löwen steckten wir bereits. Jetzt galt es, sein Herz zu finden, bevor er zubeißen konnte.
7. Sie waren zwanzig gewesen am ersten Tag, acht Frauen und zwölf Männer. Von den Frauen war eine, von den Männern waren drei jenseits der Fortpflanzungsgrenze gewesen. Am Tag ihrer Ankunft hatte das keine Rolle gespielt. Die Zeitmaschine hatte sie an diesem Ort und in dieser Zeit abgesetzt, und nach wenigen Stunden hatte bereits festgestanden, daß man sich in der Zentrale geirrt hatte - katastrophal geirrt. Die Stadt, die sie hätten untersuchen sollen, war überhaupt nicht vorhanden. Sie hatten nur eine fruchtbare Ebene gefunden, mehr nicht. Aber es war bereits zu spät gewesen. Es war eine Expedition der unglücklichen Zufälle. In der Zentrale hatte man sich geirrt, vermutlich um einige tausend Jahre. Das war bei einer Expedition ins Miozän nicht weiter verwunderlich, aber unglücklicherweise war der Zeitplan der Zentrale nahezu lückenlos gewesen. Der Nachschub rollte bereits, als man noch gar nicht genau wußte, ob man überhaupt an der richtigen Stelle war. In unablässigem Strom kam das Material am Ziel an. Es war nicht nur für den zwanzigköpfigen Vortrupp gedacht, es sollte für das gesamte Team reichen, und das sollten nach gewisser Zeit mehr als zweitausend Personen sein. Die zwanzig hatten mehr als genug damit zu tun gehabt, das ankommende Material wegzuräumen und zu verstauen. Der Versuch, eine Nachricht gegen diesen Strom von Material in die Zukunft zu schicken, mißlang. Die Einbahnstraße in die Vergangenheit war perfekt gewesen. Und als der Strom von Kisten, Ballen und Paketen endlich aufgehört hatte, war das Tier gekommen. Niemand hatte die Zeit gefunden, den Tierriesen als Baluchitherium zu identifizieren. Sie hatten mehr als genug damit zu tun, sich vor dem Giganten in Sicherheit zu bringen. Es war wiederum Zufall, verhängnisvoller Zufall, daß der beste Schütze des Teams dem Baluchitherium vor die Füße lief. Er starb zwar nicht, aber er wurde verletzt, und das schockierte zwei weibliche Mitglieder des Teams
derart, daß sie das Schießen vergaßen. Mehr noch: Die Verwunderung und Wut darüber, daß der Verletzte - der im übrigen jämmerlich schrie - offenbar zwei Verhältnisse zur gleichen Zeit gehabt hatte, hatten die beiden Frauen so beschäftigt, daß man sie aus der Gefahrenzone hatte schleppen müssen. Das Ergebnis eines allgemeinen Durcheinanders, das kaum länger als zwei Minuten gedauert hatte, war schlichtweg katastrophal gewesen. Die Zeitmaschine war hoffnungslos defekt, der Chronokom besaß nur noch Schrottwert. Es gab einen Verletzten, dem ein Bein amputiert werden mußte, dazu zwei Frauen mit Nervenschocks, und über dem ganzen Lager schwebte eine Wolke aus Wut, Angst und Verzweiflung. Diese Angst und diese Verzweiflung waren bei ihnen geblieben, wochenlang, monatelang. Schließlich hatten sie sich zu der Erkenntnis durchringen müssen, daß es keine Rückkehr für sie gab. Die Verbindung zu ihrer eigenen Zeit war abgerissen, und es war ihnen klar geworden: Die Stadt, die sie hatten untersuchen wollen, mußte erst gebaut werden, von ihnen gebaut werden. Also hatten sie die Arbeit aufgenommen. Von der Stadt selbst hatten sie nicht mehr gewußt, als daß sie existierte. Eine rein zufällig entstandene Satellitenaufnahme der betreffenden Gegend in der Technik der sogenannten Falschfarbenfotografie hätte gezeigt, daß tief im Boden eine Stadt versteckt sein mußte. Eine weitere Untersuchung hatte dann ergeben, daß diese Stadt im Miozän entstanden sein mußte - ein Ding der Unmöglichkeit nach den herkömmlichen Erkenntnissen. Die zufällige Satellitenaufnahme ein glücklicher Zufall? - war Anlaß für die Expedition gewesen; damit war der Kreis durch die Zeit geschlossen. Aus der Ursache war Wirkung geworden, aus der Wirkung eine Ursache. Zwei Gedanken hatten die Gruppe beherrscht: Sie mußten die Stadt bauen, in der Hoffnung, einen Kreis durch die Zeit zu schlagen. Wenn sie vermißt blieben, würde man in ihrer Zeit vielleicht die Reste der Stadt genauer untersuchen und dann die Hinweise finden, die sie hinterlassen mußten. Dann würde man sie vielleicht in der Vergangenheit finden und zurückholen. Der zweite Gedanke war nach kurzer Zeit zu fixen Idee geworden, zur Besessenheit. Alles, nur nicht in dieser Zeit sterben! Sie waren zwanzig gewesen, zwanzig Wissenschaftler, jeder einzelne nicht nur Spezialist auf seinem Gebiet, sondern zusätzlich auch noch Überlebensexperte. Man hatte sie ausgewählt, weil sie - alle zwanzig in nahezu allen Fachgebieten improvisieren konnten. Sie hatten die Stadt angelegt, genau in der Form, die sich Jahrmillionen später im Boden abgezeichnet hatte. Den Platz in der Mitte hatten sie freigelassen. Dort sollte später die Überlebenskammer eingerichtet werden. Jahre waren vergangen. Kinder waren geboren worden, zwei Expeditionsmitglieder waren gestorben - eine bei einem Unfall, eines durch einen Mord, dessen Täter nie hatte gefunden werden können - drei weitere hatten ihrem Leben freiwillig ein Ende gesetzt. Ein Expeditionsmitglied nach dem anderen war aus der Wirklichkeit
ausgeschieden und hatte sich der Überlebenskammer anvertraut.
Bezeichnenderweise waren die Männer weit eher bereit gewesen zu diesem
Schritt - die Frauen hatten ihre Kinder erst verlassen wollen, wenn diese
nahezu erwachsen waren und auf sich selbst aufpassen konnten.
Schließlich war nur noch einer übriggeblieben. Er.
Und dann war auch er den Weg gegangen, den alle gegangen waren und der
der einzige war, der noch einen Funken Hoffnung enthielt, eines Tages doch
wieder in die vertraute Zeit zurückkehren zu können.
Danach blieb nur noch eines - warten!
Warten, bis zu jenem Tag, an dem sich ihr Schicksal erfüllen würde, da sie
wieder würden zurückkehren können in die Zeit, aus der sie gekommen waren.
Oder bis zu jenem Tag, an dem...
* „Irgendwo muß der Zugang sein“, erklärte ich hartnäckig. Charriba zuckte nur mit den Schultern. „Wenn dies ein Stützpunkt des Zeit-Zauberers ist, und alle Anzeichen sprechen dafür, dann ist hier irgendwo eine Zeitmaschine versteckt. Zu diesem Versteck muß es logischerweise einen Weg geben - und diesen Weg werden wir finden, so wahr ich Tovar Bistarc heiße!“ „Auch ein Schwur“, murmelte Charriba geringschätzig. „Und wo, bitte, soll dieser Eingang sein? Ich sehe nichts, und wir haben bereits alles abgesucht!“ Seit einer Stunde bemühten wir uns zu zweit, einen Ausgang aus der Tempelhalle zu finden, der uns nicht geradlinig in die Speerspitzen der Stadtbewohner führte. In regelmäßigen Abständen hatten wir uns abgewechselt - während zwei Mann suchten, mußte der dritte den Eingang sichern, eine Aufgabe, die nicht nur Nerven kostete, sondern auch einige Kubikdezimeter Blut. Wir bluteten alle drei aus zahlreichen kleinen Wunden. Es war keine Verletzung von Bedeutung dabei; ein drei Zentimeter tiefer Schnitt im Oberarm warf keinen von uns um - aber die Menge solcher kleiner Wunden setzte unsere Kampfkraft doch erheblich herab. Uns blieb also nicht mehr viel Zeit. Noch konnten wir die erzürnten Stadtbewohner hinhalten, aber das würde naturgemäß nicht ewig dauern. Wenn es uns nicht bald, sehr bald gelang, einen entscheidenden Gegenschlag anzusetzen, würden sie uns überwältigen - und was uns in diesem Fall bevorstand, wagte ich mir nicht auszumalen. Charriba schien plötzlich jegliche Lust verloren zu haben. Er hockte sich einfach mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und begann in die Flammen des Opferfeuers zu starren. Ich runzelte die Stirn. Gab Charriba etwa auf? Versuchte er, sich auf seinen Tod vorzubereiten. „Es gibt in dieser Stadt keine modernen Energieerzeuger“, sagte Charriba plötzlich. „Und?“ „Wenn eine Tür existiert, dann ist sie weder elektronisch gesichert noch mit automatischen Spiegelsystemen oder anderen Tricks dieser Art unkenntlich
gemacht worden. Diese Tür wird zwar geschickt versteckt sein, aber sie wird auch einen ziemlich primitiven Zuschnitt haben.“ Soweit war Charriba gekommen, als mir ein Licht aufging. Ich schritt zu dem Altarfeuer hinüber. Jetzt, wo mir die Augen aufgegangen waren, konnte ich das Gas sogar riechen, mit dem das Feuer unterhalten wurde. Die angeblichen Holzscheite bestanden wahrscheinlich aus bemaltem Metall. Irgendwo an der Seite des Altarwürfels mußte es einen Hahn geben, und richtig, nach kurzer Zeit hatte ich das Gas abgesperrt. Wir mußten einige Minuten warten, aber dann war der Weg frei. Der Trick war so einfach, daß man hätte lachen mögen. Der Altar steckte auf einem langen Hohlzylinder, und das sehr luftdicht. Sobald das Feuer auf dem Altar entfacht wurde, wurde auch die Luft im Innern dieses Hohlzylinders erwärmt. Nach den Gesetzmäßigkeiten der Natur mußte sich diese Luft dabei ausdehnen, und dabei wurde der Altar angehoben und in Stellung gebracht. Verlöschte das Feuer, kühlte sich die Luft im Innern ab, der Druck sackte ab, und der gesamte Altar sank langsam in die Tiefe. Ich sah Charriba an. „Vabanque?“ fragte ich, und Charriba nickte. Ich legte die Hände als Schalltrichter vor den Mund und rief nach Inky. Seine Antwort kam prompt, und wenig später hatte er uns erreicht. Jetzt kam es auf die Sekunde an. So schnell wie möglich schlüpften wir in das Loch, das der absinkende Altar im Boden hinterlassen hatte, und sobald ich festen Boden unter den Füßen spürte, griff ich wieder nach dem Hahn für die Gaszufuhr. Ein Handgriff genügte, um das Gas wieder strömen zu lassen, und ein kleines Katalysatorplättchen auf der Oberfläche des Altars setzte das Gas sofort in Brand. Wenn der Altar wieder in seiner alten Position war, bevor die Eingeborenen ihn erreicht hatten, waren wir - vielleicht - in Sicherheit, jedenfalls vorläufig. Mit steigender Spannung verfolgten wir, wie der Altar langsam in die Höhe stieg, von der expandierenden Luft in seinem Innern emporgedrückt. Der Spalt zwischen Altar und Boden wurde immer kleiner. Als die Lücke völlig verschwand, wußte ich, daß wir noch nicht gewonnen hatten. Für den Bruchteil einer Sekunde war in dem Spalt ein Gesicht erkennbar gewesen, das Gesicht eines Stadtbewohners, und zu meinem Erstaunen war in diesem Gesicht kein Haß zu erkennen gewesen - eher ein Ausdruck des Mitleids. Was war so schrecklich und stand uns bevor, daß selbst unsere Feinde Mitleid empfanden? * „Wir hätten eine Fackel mitnehmen sollen.“ Charriba enthielt sich jeglichen Vorwurfs, aber ich spürte, daß seine Bemerkung ein Tadel war und daß dieser Tadel mir galt. Er hatte natürlich recht. Als ich ihn und Inky gedrängt hatte, so rasch wie möglich unter der Erde
zu verschwinden, hatte ich natürlich nicht daran gedacht, daß es dort unten stockfinster sein würde. Als moderner Mensch war ich so daran gewöhnt, überall, wohin ich auch kam, Schalter für elektrisches Licht zu finden, daß mir solche Vorsichtsmaßnahmen fremd erschienen. Jetzt standen wir im Dunkeln, noch dazu in einer Umgebung, die wir überhaupt nicht kannten und in der wir auf alles gefaßt sein mußten, vor allem auf mörderische Überraschungen. „Es hilft nichts“, erklärte ich. „Wir müssen versuchen, uns durchzuschlagen.“ Da das Fehlen der Fackeln auf meine Kappe ging, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu opfern. Ich setzte mich also als erster in Bewegung, die Hände in Brusthöhe vorgestreckt. Daß mich dies nicht daran hindern würde, steile Treppen hinabzufallen, wußte ich, und entsprechend unbehaglich war mir zumute. Zu hören waren nur unsere Schritte, unsere Atemzüge und ab und zu ein fallender Tropfen, der auf dem Boden aufprallte. Es war kühl in dieser Finsternis, kühl und feucht. In der Luft hing ein seltsamer Geruch, für den ich nur eine, allerdings sehr merkwürdige Bezeichnung fand technisierter Moder. Es roch nach alten Maschinen, und das machte die Angelegenheit noch unbehaglicher. Von diesem Geruch ging eine unübersehbare Drohung aus. „Es riecht nach Vampir“, stellte Inky plötzlich fest. Ich zog die Luft durch die Nase. Nein, nach Vampir roch es hier nicht - im Gegenteil. Charriba mochte Inkys Bemerkung rätselhaft vorkommen, aber für mich ergab dieser Einwurf durchaus einen Sinn. Ich erinnerte mich genau an den Höhepunkt der Operation Zeit-Arche. Wir hatten zu dritt - Inky, Corve Munther und ich - ein Raumfahrzeug bestiegen, das uns 80 000 Jahre in die Zukunft befördern sollte, zu einem Sonnensystem, das zu dieser Zeit am gleichen galaktischen Fleck stehen sollte wie in unserer Zeit das Solarsystem. Dort sollten wir im Auftrag der TimeSquad die Voraussetzungen für eine größere Station der Time-Squad erkunden. Dazu waren wir nicht gekommen, aber wir hatten einen Mond entdeckt und im Innern dieses Mondes eine Station des Gegners - von dem wir immer noch nicht sehr viel wußten. In dieser Station waren wir auf eine Art Gruft gestoßen, in der fünf Wesen auf den Transportplattformen von fünf Zeitmaschinen gelegen hatten. Eines dieser Wesen war, wenn auch stark mumifiziert und auf Puppengröße zusammengeschrumpft, Valcarcel gewesen, ein anderes, zum Entsetzen aller Beteiligten, eine perfekte Kopie der Chefin der Time-Squad. Und ich erinnerte mich auch, was sich kurz nach dieser Entdeckung abgespielt hatte. Kurz nach unserer Landung auf dem Mond waren wir auf etwas gestoßen, an das wir in unseren kühnsten Träumen nicht zu denken gewagt hätten - auf riesige Knoblauchplantagen. Im Innern der Station war dann eine kleine Flasche aufgetaucht, die nichts anderes enthalten hatte als ein Konzentrat des Geruchstoffs, der Knoblauchdünste unverwechselbar machte. Das
Zusammentreffen dieses penetranten Gestanks - die Flasche war au f den Boden gefallen und zerbrochen - mit den erwachenden Schläfern in den Zeitmaschinen hatte dann zu einer Katastrophe geführt, an die ich mich nur mit Schaudern erinnerte. Inkys Bemerkung hatte ins Schwarze getroffen. Es roch zwar nicht gerade nach Vampir - aber in der Luft hing der Geruch nach einem alten Volksheilmittel gegen Vampire. Es roch nach Knoblauch, nur schwach einstweilen, aber unverkennbar. Und schlagartig überfiel mich ein Gefühl, dessen ich nicht Herr zu werden vermochte und das mich von Minute zu Minute ärger zu quälen begann - ich bekam Hunger. Einstweilen ließ sich gegen dieses Gefühl nichts unternehmen, das sich verstärkte, je stärker der Geruch wurde. „Ich spüre eine Fackel!“ rief Charriba plötzlich. „Hat einer von euch ein Feuerzeug?“ „Ich!“ meldete sich Inky, der sich das Laster des Rauchens noch nicht hatte abgewöhnen können. Er brachte ein altmodisches Feuerzeug zum Vorschein und entzündete damit die Fackel. Ich schluckte. „Das war knapp“, murmelte Inky und wurde ein wenig blaß. Wir standen in einem Gang, der aus dem massiven Fels des Untergrunds gemeißelt worden war - die Meißelspuren waren noch deutlich zu sehen. Der Gang war breit genug, daß wir nebeneinander darin stehen konnten. Unmittelbar vor uns verwandelte sich dieser Gang in eine Treppe, die furchterregend steil. in die Tiefe führte. Hätte Charriba nicht gerade noch rechtzeitig die Fackel entdeckt... die Vorstellung, diese Treppe hinabzukollern, von der wir nur die ersten vierzig oder fünfzig Stufen im Licht der Fackel sehen konnten, war alles andere als erheiternd. Unwillkürlich warf ich einen Blick zurück. Hinter uns war nur der Fels des Ganges zu erkennen. Offenbar hatten die Stadtbewohner darauf verzichtet, uns nachzusteigen. Vermutlich hockten sie jetzt vor dem Maskengötzen und warteten darauf, daß wir entweder wieder auftauchten oder aber der Götze verkündete, daß er uns den Garaus gemacht habe. „Es hilft nichts“, murmelte Charriba und stieß mich an. „Wir müssen dort hinunter, ob es uns gefällt oder nicht. Mir gefällt es nicht!“ Ich nickte schweigend. Es lag auf der Hand, daß wir uns dem eigentlichen Heiligtum dieses Tempels näherten, und dieses Heiligtum war sicherlich gegen unbefugten Zutritt hervorragend geschützt. Allein die Tatsache, daß die Stadtbewohner darauf verzichteten, uns nachzusetzen, wies auf Sicherungsmaßnahmen hin. Unwillkürlich faßte ich meinen Laser fester. In dieser buchstäblich - vorsintflutlichen Umgebung verschaffte mir der Besitz dieser moderner Waffe ein angenehmes Gefühl der Beruhigung. Auf der anderen Seite: Wenn dies eine Station Valcarcels war, dann würden uns auch Lasergewehre nicht weiterhelfen.
*
Seine Nervosität stieg. Die Fremden näherten sich dem Zentrum der Anlage, und die Angst vor den Fremden ließ ihn fast verrückt werden vor Angst. Er wußte selbstverständlich, daß da noch Hilfsmittel waren, mit denen man die Fremden zurückschlagen konnte, aber er wußte auch, daß er dazu die Verbindung zu den anderen wieder würde herstellen müssen, und dazu hatte er begreiflicherweise keine Lust. Sie würden ihn erneut beschimpfen, wenn er die Kontakte wieder aufbaute. Sie würden ihn einen Mörder nennen und behaupten, daß er wahnsinnig sei, obwohl das überhaupt nicht stimmen konnte, denn er wußte, daß er nicht wahnsinnig war, und wer das behauptete, dem wollte er den Bauch aufschlitzen, nein, ihn würden sie nicht überlisten, ihn nicht, und sie schon gar nicht, die er übertölpelt hatte, hahaha, hatten sie sich gewundert, als er die Leitungen durchtrennte und sie ihrer Einsamkeit überließ und dem Summen der Maschinen, diesem ewig gleichförmigen Summen, das ihm immer in den Ohren klang, die doch längst nichts mehr hören konnten, und das einfach nicht aufhören wollte und immerzu in seinem Schädel zu dröhnen schien und Schmerzen bereitete und nicht abzustellen war, dieses Summen, das ihn nervte und erschöpfte und das ihn fast vergessen ließ, daß da die Fremden waren, vielleicht waren sie schuld an dem Summen, sicher waren sie schuld, ganz bestimmt, und er mußte ihnen zeigen, wozu er fähig war, er, der Große, der Unüberwindliche, der Allmächtige, der Herr der Goldenen Stadt, die seinem Gebot gehorchte und tat, was immer er wollte... auch töten. TÖTEN! TÖTEN! TÖTEN... ! * Wir stiegen die Stufen hinab, die Waffen schußbereit in den Händen. Bei einem Gegner von Valcarcels Schlage half das nicht sehr viel, aber es war besser als gar nichts.’ Der Geruch nach Knoblauch verstärkte sich. Ich begriff die Zusammenhänge nicht, die Angelegenheit ging langsam über meine geistigen Kräfte. Das Mosaik im Boden der Tempelhalle deutete auf Valcarcel hin, desgleichen die große Maske an der Tempelwand vor dem Altar - der langsam penetrant werdende Geruch nach Knoblauch aber wies auf ganz andere Zusammenhänge hin. Danach mußten die wahren Herren der Goldenen Stadt Feinde des Z eit-Zauberers sein. Noch mit diesen Gedanken beschäftigt, erreichte ich das Ende der Treppe. Ein zweiter Gang war zu sehen, in einiger Entfernung schimmerte Licht. Da dieses Licht gleichmäßig und stetig schien, konnte es sich nur um Kunstlicht handeln. Wir hatten also das Ziel erreicht. „Vorwärts“, sagte ich und grinste dazu, um meine immer stärker werdenden Angstgefühle zu verdecken obwohl ich längst wußte, daß ich weder Inky noch
Charriba täuschen konnte. Die beiden hatten mindestens soviel Angst wie ich,
jeder hätte in einer solchen Lage Angst gehabt.
Es gab nur ein Mittel, diese Angst loszuwerden - vorwärtsgehen, nachsehen
und das Rätsel lösen.
Ich ahnte nicht, daß des Rätsels Lösung zwar in jenem erleuchteten Bereich zu
suchen war, daß wir aber nicht diejenigen sein würden, die diese Lösung
finden würden.
* Langsam faßte er sich wieder. Es war die Angst, die ihn zur Besinnung kommen ließ. Er wußte, daß die Fremden bewaffnet waren, und er hatte auch gesehen, daß sie ihm keineswegs mit primitiven Mitteln auf den Pelz rücken wollten. Primitiv konnte man Lasergewehre schwerlich nennen. Im Gegenteil, er selbst kannte keine moderneren Waffen. Seine Angst verstärkte sich. Was sollte er tun? Abwarten? Versuchen, herauszufinden, wer die Eindringlinge waren? Das hätte bedeutet, daß er die Initiative den Fremden hätte überlassen müssen. Wenigstens für kurze Zeit mußte er sich dann wehrlos den Mündungen der Lasergewehre darbieten, darauf vertrauend, daß die Fremden nicht sofort schießen würden, wenn sie seiner angesichtig wurden. Das Risiko schien ihm zu groß. Was blieb ihm dann noch? Nur noch eines: Er mußte den alten Verbund erneuern, die Verbindung zu den anderen wiederherstellen, selbst auf die Gefahr hin, daß die Mehrzahl ihn überwand und seine Herrschaft für immer beendete. Er krümmte sich vor inneren Schmerzen, während er diese Möglichkeiten durchdachte, von denen nicht eine angenehm zu nennen war. Wie auch immer er sich entschied, es würde in jedem Fall zu seinem Nachteil sein. Hatte er deswegen solange gelebt, um nun entweder von der Hand der Fremden sterben zu müssen oder von den früheren Freunden in jenes Gefühl der Ohnmacht zurückgestuft zu werden, das ihm schlimmer als der Tod erschien? Er begann leise zu weinen, aber niemand hörte ihn. Niemand kam, ihn zu trösten, ihm einen neuen, überraschenden Ausweg aus seinen Schwierigkeiten zu zeigen. Ihm blieb keine andere Wahl, wenn er sich eine Chance erhalten wollte, am Leben zu bleiben. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, den Kopf zwischen die Schultern nahmen und losrennen. Drauf und durch, etwas anderes blieb nicht, und angesichts dieser Tatsache brachte er es nicht einmal fertig, zu kichern, obwohl sich ihm ein Gedanke von bösartigem Spott aufgedrängt hatte genaugenommen hatte er nämlich weder Zähne, die er hätte zusammenbeißen, noch einen Kopf, mit dem er hätte durch die Wand brechen können. Er zögerte minutenlang, dann hatte er die inneren Widerstände überwunden.
Er stellte die Verbindung mit den anderen wieder her. * Ich ließ die Fackel sinken. Das Licht kam von Leuchtstoffröhren an der Decke und fiel auf den felsigen Boden der Halle. Wir standen am Eingang und warteten ab. Viel konnte nicht geschehen, das war nach dem ersten prüfenden Blick klar. „Langsam verstehe ich gar nichts mehr“, murmelte Inky. „Was hat das nun wieder zu bedeuten?“ Ich hatte mich geirrt. Die Stadt besaß moderne Energieerzeuger, aber die Bewohner konnten diese Energie nicht dafür benutzen, die Straßen zu beleuchten. Der kleine Reaktor, den wir in der Mitte der Halle sehen konnten, lieferte gerade soviel Strom, um die Lebenserhaltungssysteme zu speisen. Lebenserhaltungssystem war ein sehr beschönigender Ausdruck für die Apparaturen, die wir erkennen konnten. Zwanzig Nischen zählten wir. Sie waren in den massiven Fels des Untergrunds gemeißelt, und in diese Nischen hinein hatte man - wer auch immer sich hinter diesem man verbarg - ein Sammelsurium von Apparaturen hineingestellt. Wären nicht die Glasbehälter gewesen, um die herum sich die Maschinen gruppierten, wir hätten nicht einmal ahnen können, was dieser Aufwand bezwecken sollte. „Allmächtiger“, ächzte Inky. Inky war im zwanzigsten Jahrhundert geboren und nur durch eine Kette von Zufällen in unsere Zeit verschlagen worden. Für ihn mußte der Anblick schreckerregend sein, mir waren dergleichen Bilder wesentlich vertrauter wenn auch nur aus einschlägigen Filmen: In den gläsernen Gefäßen trieben Gehirne, weißgraue Klumpen mit dem Anhängsel des vollständigen Rückenmarks. Gefüllt waren die Gefäße mit Nährflüssigkeit, und ein Bündel von Kabeln und Leitungen verband die einzelnen Teile des Maschinenparks miteinander. Es war wirklich ein Anblick, der auf den Magen schlug. Ich war nicht einmal sicher, daß es sich bei den Gehirnen um menschliche Organe handelte, aber das änderte wenig an meinen Gefühlen. Was mochten die Besitzer dieser Gehirne gedacht und gefühlt haben, welcher Wahnwitz hatte sie geleitet, als sie sich zu diesem Schritt entschlossen hatten? Ich wußte, daß dieser Schritt irreversibel war, es gab danach kein Zurück mehr. Offenbar hatten die zwanzig Personen einen geradezu fanatischen Lebenswillen gehabt, anders konnte ich mir nicht erklären, warum sie auf ihre Körper verzichtet hatten. Vergeblich versuchte ich mir vorzustellen, was sie empfunden haben mochten, als der erste sich dieser Prozedur unterzogen hatte. Was hatten die anderen gedacht, als sie das Gehirn ihres Gefährten freilegten, das Rückenmark aus den Wirbeln schälten und. Nerven kappten, die niemals wieder zusammenwachsen würden? In welcher Not hatten sie sich befunden, daß sie dies gewagt hatten.
„Fünf fehlen!“
„Bitte?“
Ich fuhr hoch. Inky hatte mich angestoßen. Er sah käsig aus, als er in die
Runde wies.
„Es sind zwanzig Nischen“, sagte er erstickt.
Jetzt war die Reihe an mir, blaß zu werden.
„Du meinst... ?“
„Es sind noch Plätze frei“, erklärte Charriba mit kalter Grausamkeit. „Herzlich
willkommen in der Vorhölle!“
8. Sie war völlig verblüfft, als sie aus ihren Gedanken gerissen wurde und überrascht feststellen konnte, daß die seit langem durchtrennte Verbindungen plötzlich wieder bestanden. Eingedenk der Erfahrungen vieler Jahrzehnte hielt sie sich zurück. Was hatte Konher vor? Warum erinnerte er sich plötzlich wieder seiner Gefährten? War dies eine neue Grausamkeit des Irren? Sie wußte nicht, wieviel Zeit sie in halbem Dämmerschlaf verbracht hatte. In ihren Gedanken klaffte eine Lücke, deren Größe sie nicht einmal annähernd bestimmen konnte. Sie konnte sich nur noch an Bruchstücke erinnern: An den Aufbruch, den Transport in die Vergangenheit, die Katastrophe - und dann der Weg der Rettung. Sie hatten die Stadt gegründet und ihr eine Bevölkerung gegeben. Noch erinnerte sie sich der erbitterten Debatten zu diesem Thema. Zwei der Frauen waren bereits schwanger gewesen, als sie die Zeitmaschine in der Zentrale der Time-Squad betreten hatten. Es lag auf der Hand, daß man diese Frauen nicht zwingen konnte, das werdende Leben zu vernichten, nur um so ein Paradoxon verhindern zu können. Daraufhin hatten natürlich die anderen Frauen das Recht gefordert, ebenfalls Nachwuchs in die Welt setzen zu dürfen. So war die Stadt zu einer Bevölkerung gekommen, und schließlich hatte sich das sogar als Vorteil herausgestellt. Wer hätte sonst die Wartung des Maschinenparks übernehmen sollen - jeder Handgriff sorgfältig als sakrale Handlung getarnt -, der den Überlebenden der archäologischen Expedition den letzten Weg zurück offenhalten sollte. Erst als es für Gegenmaßnahmen viel zu spät war, hatten sie begriffen, daß Konher krank geworden war. Er hatte damals den Mord begangen, und als er sich vor seinen Gefährten sicher gefühlt hatte, waren von ihm die Maßnahmen eingeleitet worden, die den Verbund schon vor seinem Entstehen zerstört hatten. Konher hatte die Goldene Stadt in den sich anschließenden Jahrzehnten kontrolliert und beherrscht, er hatte seine Leidensgefährten rücksichtslos
zurückgedrängt. Sie hatten keinerlei Informationen mehr bekommen, sie wußten nicht einmal mehr, wann die Sonne schien und wann es Nacht war. Sie spürte, wie sie vor Erregung zu zittern begann. Sie war intelligent genug, um zu wissen, daß dies ein Phantomphänomen war. Sie besaß gar keinen Körper mehr, er war längst verfault. Aber sie hätte vor Erregung am ganzen Leib gezittert, hätte sie noch einen Körper besessen, und hinsichtlich der Empfindungen hatte sich die Lage der Körperlosen nicht geändert. Konher hatte also die Verbindung wiederhergestellt. Was konnte das bedeuten? War die Time-Squad gekommen, sie endlich abzuholen? Oder kamen die Nokhter, um einer der wenigen noch vorhandenen Widerstandsorganisationen den Garaus zu machen? Sie mußten ja nicht einmal selbst kommen, sie konnten ja auf genügend hilfsbereite Sklaven zurückgreifen. Sie beschloß, die Lage zu prüfen und sich in den Informationsfluß einzuschalten. Die Nachrichten, die sie empfing, verwirrten sie. Und als sie begriff, was sich um sie herum abspielte, stieg die Panik in ihr hoch. * Noch waren wir vollständig. Ich besaß noch Arme und Beine, und einstweilen war auch noch niemand zu sehen, der mich ausweiden wollte. Aber die Aussicht allein, in kurzer Zeit als Gehirn nebst Rückenmark in einem gläsernen Gefäß zu schweben, genügte, um mich schaudern zu lassen. Meinen Gefährten ging es nicht anders. „Alle Teufel“, murmelte Charriba. „Wenn das hier nicht Valcarcels Werk ist, will ich nicht länger...“ Er kam nicht mehr dazu, uns zu erklären, was er nicht länger wollte. Durch die Halle gellte Sirenengeheul, und wir suchten unwillkürlich Deckung. Und dann, als das Heulen verebbt war, erklang ein neues Geräusch ein stetiges, sehr lautes Ticken, wie von einer riesengroßen Uhr. Wir sahen uns an. Jetzt begann ein Wettlauf mit der Zeit, wenn wir unser Leben retten wollten. * Es war erschreckend. Zuerst war Konher wahnsinnig geworden, aber sie hatte niemals damit gerechnet, daß auch die anderen den Verstand verlieren würden. Offenbar hatte die lange Zeit, in der die Gehirne von allen Nachrichten abgeschnitten gewesen waren, die Betroffenen in den Wahnsinn getrieben. Sie stellte entsetzt fest, daß nicht nur Konher zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig war. Die anderen waren ebensowenig in der Lage, die Vorgänge in der Halle zu erfassen und richtig zu beurteilen. Gewiß, als sie hörte, wie einer der Männer den Namen Valcarcel aussprach,
war auch sie zusammengezuckt und hätte beinahe das Bewußtsein verloren, so sehr war sie erschrocken. Aber dann hatte sie sich wieder gefangen und die Bilder genauer ausgewertet, die von den Kameras aufgenommen und den Gehirnen zugeleitet wurden. Zum einen war ihr klargeworden, daß der Tonfall, in der Valcarcels Name genannt worden war, eher auf Abscheu schließen ließ, denn auf Unterwürfigkeit oder gar Verehrung. Und zweitens trugen die drei Männer an ihrer Kleidung ein Abzeichen, an das sie sich dunkel erinnern konnte. Der schwarze Hintergrund, davor die Sanduhr mit dem goldfarbenen Sand, davor gekreuzt das Schwert und das Lasergewehr - das alte Abzeichen der Time-Squad, seit mehr als drei Jahrhunderten aus der Mode. Sie war sich sicher, daß dies kein Trick war; außer ihr hätte wahrscheinlich niemand das uralte Abzeichen erkannt. Noch während sie sich zu freuen begann - endlich zeichnete sich eine Möglichkeit der Rettung an -, wurde sie erneut in tiefstes Entsetzen gestürzt. Konher löste Generalalarm aus, und seine wahnsinnig gewordenen Gefährten unterstützten ihn dabei. Sie waren so sehr von Sinnen, daß sie bei der bloßen Namensnennung Valcarcel in Panik verfallen waren. Generalalarm! Das hieß, daß jeder Bewohner der S tadt aufgefordert war, eventuelle Angreifer mit allen nur denkbaren Mitteln zu bekämpfend. Und das hieß vor allem, daß sich automatisch die geheimen Arsenale öffnen würden. Dort lagerten seit dem Entstehen der Stadt die modernen Waffen, mit denen die Expedition ausgerüstet worden war. Diesem Ansturm hatten die drei Männer nichts entgegenzusetzen. Sie waren erfahrene Kämpfer, das ging schon aus der Geschwindigkeit hervor, mit der die drei beim ersten Aufheulen der Sirenen in Deckung gegangen waren. Aber gegen modern bewaffnete, fanatische Stadtbewohner hatten sie keine Chance. Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, die Katastrophe aufzuhalten. Und dann fiel ein weiteres bedeutungsvolles Wort... * „Wir müssen verschwinden“, stellte ich hastig fest. „Und im Notfall werden wir uns den Weg halt freischießen müssen. Die eigene Haut ist jedem am nächsten.“ „Dann los“, stimmte Charriba zu. „Ich gehe voran. Übernimm du unsere Rückendeckung, Tovar!“ * Erneut zuckte sie zusammen. Tovar! War es möglich, daß es sich dabei um... sie verwarf den Gedanken sofort wieder; er war zu utopisch. Was aber, wenn doch...
Die äußeren Daten konnten stimmen. Das Aussehen, das alte Abzeichen... Aber warum wußte sie dann nichts von dieser Aktion? Wenn der Mann, der gerade mit Tovar angeredet worden war, tatsächlich der Tovar war, an den sie dachte, warum kannte sie dann nicht auch die andere Seite der Geschichte, die sich in diesem Augenblick abspielte? Warum hatte man ihr nichts gesagt, als sie sich bei der Time-Squad für dieses Unternehmen gemeldet hatte? Dann dämmerte ihr langsam die Wahrheit, eine entsetzliche Wahrheit. * Wir stürmten die Treppe hinauf, zurück in den kleinen Raum, in dem der Altar abgesenkt werden konnte. Der Handgriff, der das brennende Gas abstellte, war rasch gefunden. Zu meinem Erstaunen war es über unseren Köpfen ruhig. Hatten sich die Eingeborenen etwas zurückgezogen? Nach diesem Sirenengeheul? Wir mußten auf der Hut sein. „Ich steige als erster in die Höhe“, bestimmte ich. Meinen Laser gab ich an Inky weiter, dafür übernahm ich seinen Nadler. Beide Waffen waren mit frischen Magazinen gefüllt. Noch einmal wollte ich versuchen, Blutvergießen zu vermeiden. Gelang das nicht, dann hatten wir zu entscheiden, wie die Sache ausgehen sollte entweder starben wir, oder wir bahnten uns einen Weg über die Leichen der Stadtbewohner hinweg. Inky und Charriba faßten sich an den Händen, um mich mit einem Schwung in die Höhe befördern zu können. Ich hielt in jeder Hand einen Nadler, beide Waffen waren schußbereit; eine Fingerbewegung reichte aus, das Dauerfeuer aus zwei Waffen auszulösen. „Fertig? Dann... los!“ Ich flog durch die Luft. Wie eine kleine Rakete aus dem Abschußloch stieg ich in die Höhe. Sobald ich den Kopf über Fußbodenhöhe hatte, sah ich mich um. Die wartenden Eingeborenen entdeckte ich sofort, und die Stadtbewohner brauchten nicht viel Zeit, um mich anzupeilen. Noch während ich flog, zischten mir die ersten Pfeilspitzen entgegen. Ich schrie laut auf, als ich den ersten Treffer empfing. Der Pfeil hatte sich in die linke Schulter gebohrt, und so groß war die Wucht, mit der das Geschoß in meinen Körper schlug, daß ich mich im Flug herumdrehte. Eine neue Schmerzwelle durchraste mich, als ich auf dem Boden aufprallte, abrollte und dabei mit der verletzten Schulter über den Boden schrammte. Obwohl der Schmerz mich halb bewußtlos machte, zog ich die Abzugshebel beider Nadler durch. Ein Teil der Geschosse klatschte wirkungslos auf den Boden, bohrte sich in Holzbalken oder landete sogar an der Decke, aber die Mehrzahl traf dorthin, wo ich es haben wollte. Die Reihen der Stadtkrieger lichteten sich rasend schnell, und als ich mich nach einer Zeitspanne, die mir wie eine Ewigkeit erschienen war, endlich aufrichten konnte und sich das Bild der Umgebung vor meinen schme rzverschleierten Augen klärte, sah ich gerade noch zwei
Speerschleuderer in eiliger Flucht. Auf dem Boden lagen mindestens zwei Dutzend Männer, von den Nadeln aus meinen Waffen außer Gefecht gesetzt. „Kommt herauf!“ rief ich in die Öffnung hinab, die der absinkende Altar geschaffen hatte. „Hier oben ist es ruhig!“ Ich hatte den Satz noch nicht ganz beendet, als ich einknickte. Erst jetzt entdeckte ich, daß es nicht bei dem Treffer in der Schulter geblieben war. In meiner linken Wade steckte quer ein zweiter Pfeil, der den Wadenmuskel getroffen hatte. Ich kippte um und landete laut aufschreiend auf der verletzten Schulter. Bei dem Versuch, diesen Sturz abzufangen, brach ich mir dann auch noch drei Finger. Zum Glück betraf das nur die linke Hand, aber mit diesen drei Verletzungen war meine Kampfkraft derart eingeschränkt, daß ich für meine Gefährten eher hinderlich als nützlich sein mußte. Inky und Charriba kämen nacheinander aus dem Loch gekrochen. Sie erschraken heftig, als sie meine Verletzungen sahen, die auch ihre Überlebungschancen stark dämpften - vorausgesetzt, sie belasteten sich auf ihrer weiteren Flucht damit, mich mitzuschleppen. „Es sieht düster aus“, preßte ich zwischen den Zähnen hervor, während ich ein leergeschossenes Nadlermagazin auswechselte. „Laßt mich hier zurück und versucht, den Gleiter zu erreichen. Damit könnt ihr mich anschließend abholen. Wenn die Eingeborenen eine fliegende Maschine sehen, werden sie wahrscheinlich fluchtartig das Weite suchen!“ Daß dies ein grundlegener Irrtum war, bewies mir einen Augenblick später Inkys Aufschrei, der in gleichem Maß Schmerz wie Erschrecken verriet, und als ich den qualmenden Fleck auf seinem rechten Oberschenkel sah, wußte ich auch, wie sehr ich mich geirrt hatte. Während Inky umfiel und mit beiden Händen nach der Verletzung griff - Laserwunden taten für gewöhnlich teuflisch weh - und Charriba sich auf den Boden warf, dämmerte mir, daß wir nun mit Laserwaffen angegriffen wurden und unsere Überlebenschancen sich rapide dem Nullpunkt näherten. Ich unterdrückte einen Fluch. Vorsichtig und immer wieder ungewollt aufstöhnend, robbte Inky und ich hinter die Deckung, die Charriba uns verschafft hatte, indem er den Altar wieder hatte aufsteigen lassen. Zwischen der Wand mit der Riesenmaske daran und dem Altar waren wir fürs erste sicher, aber das konnte unmöglich zum Dauerzustand werden. Während wir in Deckung gekrochen waren, hatten die Angreifer die Zeit genutzt und sich gleichfalls Deckungen ausgesucht, aus denen heraus sie uns beschossen. Jetzt, wo sie mit modernen Waffen hantierten, wirkten sie überhaupt nicht mehr primitiv, im Gegenteil - die Kombination von altmodischen Gewändern und modernen Waffen ließ die Angreifer noch gefährlicher aussehen, als sie ohnehin schon waren. „Ich schätze“, sagte Inky unterdrückt, „uns bleiben bestenfalls noch ein paar Minuten, dann haben sie uns. Was werden sie mit uns anstellen?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts“, erklärte Charriba an meiner Stelle. Seine Stimme verriet, daß er
seine Worte ernst meinte. „Mich werden sie nicht lebend bekommen!“ Ich sah Inky an. * Sie kamen wirklich in allerletzter Sekunde. Ich wollte gerade in einem stummen Dialog mit Inky klären, ob wir tatsächlich so eingekreist waren, daß uns nur noch der Selbstmord als Lösung verblieb, als Charriba mich anstieß. Das Flimmern in der Luft war unverkennbar, und als sich die Luft rötlich zu verfärben schien, konnte es keinen Zweifel mehr geben. Man hatte uns gefunden. Die Time-Squad kam, um uns abzuholen. Die Eingeborenen wichen schreckerfüllt zurück, als sich das rötlich schimmernde Transportfeld in der Tempelhalle aufbaute, und wir unterstützten ihre Flucht, indem wir ihnen dutzendweise Narkonadeln nachschickten. Obwohl Inky und ich Schmerzen hätten, lachten wir erleichtert, als in unserer Nähe eine vertraute Gestalt auftauchte. Joshua Slocum war zu sehen, bewaffnet bis an die Zähne, und hinter ihm war Maipo Ruedo erschienen und blinkte uns mit seinem Gebiß an, und William Chadwick, den wir aus dem 17. Jahrhundert mitgebracht hatten... offenbar hatte D. C. alles geschickt, was sich in der Time-Squad hatte auf treiben lassen. Ich winkte meinen Freunden zu. „Hallo, Jungs!“ brachte ich noch über die Lippen, dann sackte ich zusammen. Bewußtlos wurde ich nicht, aber ich hörte die Worte nur durch eine dichte Lage von Schleiern, als kämen sie aus weiter Ferne. Und der Inhalt dieser Worte trug noch mehr dazu bei, mich glauben zu machen, daß ich träumte: „An die Leute von der Time-Squad“, sagte die Stimme. „Schafft eure Verwundeten schnellstmöglich in Sicherheit, und dann verlaßt diese Stadt, Meine Gefährten sind ausnahmslos wahnsinnig geworden, und sie haben in ihrer Umnachtung die Selbstzerstörung ausgelöst. Ich kann die Katastrophe noch eine Zeitlang verhindern, aber die Zeit drängt. Schafft die Verwundeten fort und verlaßt die Stadt. Wenn es euch möglich ist, dann versucht, die Bewohner der Stadt ebenfalls zu retten. Sie sind unsere Nachkommen und können nichts für ihre Fehler. Versucht, sie zu retten, wenn ihr könnt. Aber beeilt euch. Es bleibt nicht mehr viel Zeit!“ Zu diesem Zeitpunkt verlor ich die Besinnung. * Als ich wieder zu mir kam, glaubte ich im ersten Augenblick, der Traum habe eine Fortsetzung. Aber ich träumte nicht.
Ich spürte keine Schmerzen mehr, nur noch ein leichtes Druckgefühl dort, wo die Verbände saßen, am Unterschenkel und an der Schulter. Um mich herum war alles weiß - das Bett, die Bettbezüge, die Verbände, die Wände, die Decke, der kleine Schrank... sogar die Blumen waren weiß. Der auffä lligste Farbtupfer in dieser monochromen Umgebung war ein roter Haarschopf, darunter ein paar grünliche Augen. D. C. trug wie üblich Jeans und ein buntkariertes Holzfällerhemd - man konnte fast glauben, sie könne sich bei ihrem Gehalt keine andere Kleidung leisten. „Hallo“, sagte ich schwach. Zwar fühlte ich mich ausgezeichnet, vor allem, weil ich mich ganz offenkundig wieder in der Normalzeit befand, in einer modernen Klinik lag und Demeter Carol Washington an meinem Bett saß, aber ich hütete mich, das zuzugeben oder zu zeigen. „Wie fühlen Sie sich?“ erkundigte sich D. C. teilnahmsvoll. Ich stutzte. Sie? In Fällen von akuter Lebensgefahr und wenn wir unter uns waren, pflegte D. C. zu duzen. Wurden wir beobachtet? „Leidlich“, log ich. „Was ist eigentlich passiert?“ D. C. sah mich skeptisch an. „Werden Sie die Wahrheit ertragen können?“ fragte sie.
Ich sah sie verwirrt an. Ihre Stimme hatte nicht so geklungen, als hätte sie mir
irgendeine sehr bedeutsame Nachricht mitzuteilen. Da ich in dieser Zeit
keinerlei Angehörige hatte, war die Bemerkung meiner Chefin doppelt
rätselhaft.
„Nur zu“, ermunterte ich sie. „Ich hoffe, ich werde es überleben.“
„An die Ereignisse bis zu dem Zeitpunkt, an dem Sie ohnmächtig wurden,
erinnern Sie sich wohl noch. Nun, während man Sie und Inky abtransportierte,
haben unsere Leute es nicht nur fertiggebracht, die gesamte Bevölkerung der
Stadt in Sicherheit zu bringen, sie haben sich auch eingehend mit der
unterirdischen Anlage beschäftigt. Dabei stießen sie auf eine fast unglaubliche
Geschichte.“
„Sie machen es sehr spannend, D. C.“, erklärte ich. „Bekomme ich die
Geschichte zu hören?“
„Natürlich. Diese Geschichte ist nämlich besonders für Sie recht interessant.
Hören Sie genau zu, Tovar...“
* Aufgebrochen waren sie im Jahre 2976, um die Reste einer Stadt zu untersuchen, die rein zufällig auf alten Satellitenfotos entdeckt worden war. Trainiert, ausgerüstet und bezahlt hatte diese Expedition... die Time-Squad. „Also gibt es anno 2976 noch eine Time-Squad“, unterbrach ich Demeter Carols Bericht. Ja, es gab noch eine Time-Squad, aber mehr als diese Information hatte sich nicht gewinnen lassen. Bei einem Unfall war die Zeitmaschine der Expedition zerstört worden, und damit war der Rückweg in die Zukunft abgeschnitten.
In ihrer Verzweiflung hatten sich die Forscher schließlich einen Weg einfallen lassen, der nur dem Gehirn eines Verzweifelten entspringen konnte. Als umfassend gebildete Wissenschaftler wußten sie, daß es in ihrer Zeit erste Erfolge bei sogenannten Totaltransplantaten gegeben hatte. Es war gelungen, Hirn und Rückenmark eines Affen auf einen entsprechend präparierten zweiten Affenkörper zu übertragen. Die in der Zeit Verlorenen hatten sich dazu entschlossen, diese Verfahren am eigenen Leibe auszuprobieren. Es mußten Männer und Frauen gewesen sein, die nicht nur über eine atemberaubende Allgemeinbildung verfügt hatten; sie mußten auch eine unbändige Energie gehabt haben. Was sie in den nächsten Jahren erreicht hatten, hielt jeden Vergleich mit den größten Genieleistungen der Menschheit aus. Aus dem Nichts hatten sie die Goldene Stadt geschaffen. Sie hatten geforscht und gearbeitet, entwickelt und konstruiert. Sie hatten mit dem Material auskommen müssen, das zur Hand war - alles andere mußte erst entwickelt werden. Dazu kam das gigantische Problem, keine Spuren in der Geschichte zu hinterlassen. Und ständig hatte über ihnen ein Damoklesschwert gehangen - die Gefahr, vom Gegner entdeckt zu werden, möglicherweise zu Verrätern an der Menschheit zu werden. Sie hatten versucht, sich dage gen zu sichern. Die Kinder, die aus den Partnerschaften hervorgegangen waren, hatten diese Aufgabe übernehmen sollen. Daß sich der Wissensstand der Eltern nicht lange halten würde, war offenkundig gewesen. So war es leicht gewesen, um die Überlebenssysteme herum eine Götzenherrschaft aufzubauen. Die rasch verdummten Nachfahren der Pioniere taten naturgemäß alles, was ihnen über versteckte Lautsprecher aufgetragen wurde. Sie wagten sich nicht aus der Stadt, bauten aus Lehm, der relativ rasch spurlos in der Geschichte verschwinden konnte, ihre Häuser, heirateten nur den Partner, der ihnen von den Göttern gestattet wurde - sie gehorchten aufs Wort. Sollte tatsächlich der Gegner auftauchen, dann sollten die Nachkommen der Pioniere sie bekämpfen, mit den Waffen, die ihnen die Vorväter hinterlassen hatten. Vorher aber mußte der Gegner getäuscht werden. Da sich Wesen vom Schlage eines Valcarcel überall herumtreiben konnten, konnten nicht einmal seine Gefolgsleute absolut sicher sagen, wo überall Valcarcel eines seiner Verstecke hatte. Das Symbol auf dem Mosaikboden und die augenfällige Maske sollten den Gegner täuschen und in Sicherheit wiegen, bis die Konservierten sich informiert hatten und zum Gegenschlag ausholen konnten. Sie hatten sich so perfekt abgesichert, wie das nur irgend möglich war. Nur eines hatten sie übersehen: die eigentliche Schwachstelle ihres kunstvollen Systems lag nicht in der Technik, die sie souverän handhaben konnten. Die Schwäche lag in den Menschen selbst. Niemand hatte vorher wissen können, daß einer der Teilnehmer geistig erkrankt war. Es war erst offenkundig geworden, als dieser Mann es fertiggebracht hatte, als letzter operiert und in die Überlebenssysteme
integriert zu werden. Er hatte die anderen Teilnehmer dieses Verbunds einfach abgeschaltet, sie von jeder Information getrennt. Bis auf eine Frau waren in den nächsten vier Jahrhunderten, in denen die Goldene Stadt bestand, alle Männer und Frauen wahnsinnig geworden. „Und in ihrer Umnachtung“, setzte D. C. ihren Bericht fort, „hielten sie euch für Helfer Valcarcels, und als sie merkten, daß sie euch nicht mehr gewachsen waren, lösten sie die Selbstvernichtung aus. Nur die Frau, die als einzige psychisch gesund geblieben war, stellte sich dieser Vernichtung entgegen. Sie konnte sie nicht mehr verhindern, aber sie schaffte es, sie zu verzögern.“ „Und in dieser Zeit hat sie die Geschichte der Expedition erzählt?“ „Dazu war sie nicht mehr fähig. Unsere Leute haben die Daten rekonstruiert, mehr konnten sie nicht tun.“ „Was wurde aus den Bewohnern der Stadt?“ „Wir haben sie umgesiedelt“, erklärte D. C. mit hörbarer Zufriedenheit. „Sie sind zur Zeit damit beschäftigt, das neue Saatgut für uns zu züchten. Diese Männer und Frauen sind ein Segen - ich hatte nämlich keine Idee, wie ich die dafür nötigen Fachkräfte aus unserer Zeit hätte abziehen sollen, ohne dabei die Öffentlichkeit zu informieren.“ „Und nach der Aktion...“ „Werden sie in unsere Zeit gebracht“, versprach D. C. „Es scheint der Fluch der Aktionen der Time-Squad zu sein, daß bei jedem Einsatz Dutzende von Menschen in unsere Zeit gerettet werden müssen. Ich kann bald eine Filiale der Einwanderungsbehörde in unserer Zentrale eröffnen.“ „Wer weiß, wann wir einmal auf die Hilfe dieser Männer und Frauen angewiesen sein werden“, murmelte ich. Erst als D. C. die Stirn runzelte, begriff ich, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Für einen Sterbenskranken hatte ich wohl doch etwas zu munter ausgesehen. „Wie sieht es an der Agrarfront aus?“ „Die ersten Tonnen des neuen Saatguts sind vor einigen Stunden angekommen. Sie sind absolut virusfest. Die Ernährung der Menschheit ist gesichert. Hier, nehmen Sie einen Bissen!“ Das Brot, das sie mir reichte, war noch warm und ofenfrisch. Ich seufzte vor Behagen, als ich den ersten Bissen nahm. Es schmeckte hinreißend - vor allem, weil ich sehr lange auf diesen Genuß hatte verzichten müssen. D. C. sah lächelnd zu, wie ich das Brot verzehrte, dann wurde sie plötzlich sehr ernst.
„An einem der Behälter unter dem Turm haben wir das hier gefunden“, sagte
sie leise. Sie warf mir ein kleines Metallschild in den Schoß.
Ich las die wenigen Buchstaben auf dem Schild.
Nyree Janice Bistarc, 2951 – 2994 Ich sah auf.
„Diese Frau...“, stotterte ich.
„Ist eine Urur... enkelin von Ihnen“, sagte D. C. leise. „Und sie hat Sie
erkannt. Kurz, nachdem Sie ohnmächtig wurden, grüßte diese Frau Sie.“
Das kleine Schild wog schwer wie Blei in meiner Hand, doch dann mußte ich
lächeln. War dieses Schild nicht der beste Garant dafür, daß die Arbeit der Time-Squad erfolgreich sein würde? Allerdings wußte ich im gleichen Augenblick auch, daß ich nun vor einer Frage stand, die ich so schnell nicht würde beantworten können. Wenn es im Jahre 2951 eine Nachfahrin von mir geben würde, mußte ich früher oder später die Urururahnin dieser finden. Und ich hatte auch schon eine Idee, wer sich für diese Aufgabe sehr gut eignen würde.
ENDE