Die Abenteuer der Time-Squad V
Peter Terrid
Die Zeit-Arche
Peter Terrid · Die Zeit-Arche
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Die Abenteuer der Time-Squad V
Peter Terrid
Die Zeit-Arche
Peter Terrid · Die Zeit-Arche
Peter Terrid Die Abenteuer der Time-Squad 5. Heft
Terra Astra 331
Peter Terrid Die Zeit-Arche
Sie sollen die Zukunft erobern – um die Gegenwart zu retten
1977
Peter Terrid - Die Zeit-Arche
Einem alten Sprichwort zufolge war keine Höllenfurie so schlimm wie ein verschmähtes Weib. Wenn an dieser Weisheit auch nur ein Wort stimmte, dann begriff ich nicht, warum D. C., unsere allseits verehrte Chefin, kein größeres Vergnügen kannte, als die Männer, die sie keineswegs verschmähten, so schnell wie möglich umzubringen. Nach unserem haarsträubenden Abenteuer auf Atlantis hatte sie uns ganze zehn Tage Ruhe gegönnt. Zum ersten Mal, seit ich für die Time-Squad arbeitete, war dieses Wort Ruhe sogar einigermaßen zutreffend. Ausnahmsweise brauchten wir uns nur morgens zu schinden; der Nachmittag war tatsächlich frei – allerdings benötigten wir diese Stunden dringend, um unsere Kräfte wieder zu sammeln und einigermaßen zu Luft zu kommen. Demeter Carol Washington, im Dienstgebrauch kurz D.C. genannt, schien der Meinung zu sein, unser Aufenthalt auf Atlantis habe uns verweichlichen lassen. Dementsprechend sah unser morgendliches Trainingsprogramm aus. Zudem vertrat D. C. die Meinung, daß unsere Arbeit im Dienste der gesamten Menschheit entschieden wichtiger sei als geregelte Essenszeiten. Die Besprechung des nächsten Einsatzes des Time-Intelligence-Corps (TIC) hatte sie dann auch prompt auf die Mittagsstunden des zehnten Tages gelegt. Ich stand unter den Warmluftdüsen und wartete darauf, daß meine dunklen Haare trockneten. In der Nachbarkabine war mein Partner Inky – bürgerlich Anastasius Immekeppel – mit der gleichen Arbeit beschäftigt. »Was mag D. C. jetzt mit uns vorhaben?« hörte ich ihn fragen.
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»Ich weiß es nicht«, gab ich zurück. »Mir schwant nur eines – es wird wieder mörderisch werden!« Es war ein Kreuz mit unserer Arbeit. Bereits die ersten Unternehmungen, die ich für die Time-Squad durchgestanden hatte, waren hochgefährlich gewesen. Jedesmal waren wir nur knapp dem sicheren Tod entronnen. Auf die Idee, uns deswegen ein wenig zu schonen, kam D. C. natürlich nicht, im Gegenteil. Je schwieriger und risikoträchtiger ein Unternehmen der Time-Squad war, desto eher konnten wir damit rechnen, zu einem solchen Himmelfahrtskommando eingeteilt zu werden. Fast schien es, als suche D. C. auf diese Weise eine legale Möglichkeit, uns unter die Erde zu befördern. Haut und Haare waren trocken. Ich schlüpfte in die leichte zweiteilige Kombination, Unter- und Oberbekleidung in einem Stück. Sie saß wie eine zweite Haut. Als ich mich im Spiegel betrachtete, war ich mit mir zufrieden. Ich war durchtrainiert und in körperlicher Höchstform, ich konnte kein Gramm überschüssigen Fettes an mir entdecken. »Alter Narziß«, sagte Inky grinsend, als er mich sah. Er war in den Schultern etwas schmaler als ich, aber wehe dem, der sich von diesem Eindruck täuschen ließ. Inky war schon in seiner Zeit er war 1920 geboren, also mehr als vier Jahrhunderte älter als ich – ein formidabler Kämpfer gewesen. In den Trainingslagern der TimeSquad hatte er nur noch die modernen Kampfsportarten erlernen und seine Kondition verbessern müssen. Als ich ihn kennenlernte – damals, im Zeit-Camp im Amazonasdschungel –, hatte er bereits fünf Jahre nahezu ununterbrochenen Kampfes hinter sich, und diese Jahre hatten ihn geprägt. Was Inky auszeichnete, war
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ein unerschütterlicher Lebenswille, unbegrenzter Optimismus in üblen und entnervender Pessimismus in guten Lagen, dazu ein bissiger Humor, der seine Quelle aus der Einsicht bezog, daß letztlich doch alles menschliche Treiben eitler Wahn war. Nebeneinander trabten wir durch die Gänge der Time-Squad-Zentrale. Einen Gesamtplan dieser unterirdischen Anlage hatte ich nie gesehen, doch ich wußte, daß man sich in diesem Labyrinth prächtig verlaufen konnte. Wir befanden uns unter dem Boden eines Talkessels im Herzen der Rocky Mountains. Hier wurden die Vorbereitungen für die Einsätze getroffen, mit denen wir uns eines scheinbar übermächtigen Gegners zu erwehren suchten. Die Entdeckung, daß eine geheimnisvolle Macht gegen die Time-Squad angetreten war, war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. In dieser Zeit hatten wir ununterbrochen ein Unternehmen nach dem anderen gestartet, denn – so seltsam es klang – die Zeit brannte uns auf den Nägeln. Irgend jemand hatte schon mehrmals versucht, die Geschichte der Menschheit in seinem Sinn zu ändern. Welches Ziel diese fremde Macht anstrebte, wußten wir nicht – wohl aber, daß ihre Arbeit das Schicksal der gesamten Menschheit beeinflussen würde, wenn wir dieser Macht nicht mit allen verfügbaren Mitteln entgegentraten. Es waren erst zehn Tage vergangen, seit wir den ersten Vertreter dieser Macht zur Strecke gebracht hatten. Auf erschreckende, geheimnisvolle Weise war der Gestaltwandler Valcarcel gestorben, den wir seiner unheimlichen Fähigkeiten wegen den Zeit-Zauberer genannt hatten. Er allein hatte uns mehr als einmal vor schier unlös
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bare Aufgaben gestellt, und dennoch gab mir sein Tod keine Beruhigung. Mir schwante, daß sein Tod nicht nur ein neues, ungeheuerliches Täuschungsmanöver war, sondern daß wir mit Valcarcel – wenn überhaupt – nur einen von mehreren Gegnern ausgeschaltet hatten. Allein die Vermutung, daß Valcarcel in der Organisation des Gegners nur ein kleines Licht darstellte, genügte, um die Zukunft in schwärzesten Farben malen zu können. Wir erreichten die Amtsräume der Chefin der TimeSquad. Washington, D. C. stand auf dem Schild an der Tür. D. Cs Vater schien ein Mann mit absonderlichem Humor gewesen zu sein. Wie nicht anders zu erwarten, wurde uns von William Smith geöffnet. Der Bursche mit den Geheimratsecken in der Bürstenfrisur hatte uns nicht das geringste getan, dennoch konnten Inky und ich ihn nicht ausstehen. »Gehen Sie gleich durch«, brummte er. »Die Chefin erwartet Sie!« Demeter Carol Washington hatte es sich in ihrem breiten Sessel bequem gemacht. Sie trug enge, ziemlich verwaschene Jeans, darüber ein weitgeschnittenes kariertes Cowboyhemd und ein gelbseidenes Halstuch. Das Tuch paßte in der Farbe nicht sehr gut zu ihrem roten Lockenkopf und den blaugrünen Augen, aber über derlei Kleinigkeiten sah ich gern hinweg. Sie blickte kaum auf, als wir den Raum betraten. Offiziell waren Inky und ich dem Time-Squad in San Francisco unterstellt. Daß es das TIC gab, wußten nur wenige Eingeweihte, darunter der Chef unserer Organisation in San Francisco – Don Slayter. D. C. s vierter Gast war ein Junge, ich schätzte ihn auf knapp siebzehn Jahre. Er war schlank und von mitt10
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lerer Größe. Seine Augen waren hellblau, die Haare hellblond – eine Kombination wie im Märchen. Dazu machte er das passende Sonnenscheingesicht, er strahlte uns an. »Ich darf vorstellen«, sagte D. C. halblaut. »Tovar Bistarc, Anastasius Immekeppel, kurz Inky genannt – Corve Munther.« Ich schüttelte dem Jugendlichen die Hand. »Sie werden in der nächsten Zeit zusammenarbeiten«, gab D. C. bekannt. Inky und ich sahen uns an. Was hatte D. C. vor? Was sollten wir mit dem Knaben anfangen, der bei der ersten kritischen Situation wahrscheinlich lauthals nach seinen Eltern schrie? »Setzen Sie sich«, befahl D. C. Auf dem Schreibtisch vor ihr stand für jeden eine Tasse Tee. Anhand des rauchigen Aromas hatte ich meine Tasse und meinen Platz rasch gefunden. Zufrieden setzte ich mich. Daß D. C. sich der Tatsache erinnerte, daß ich chinesische Rauchtees bevorzugte, freute mich. »Hm!« machte Inky nach einem Probeschluck genießerisch. »Assam! Woher kennen Sie meine Lieblingssorte, Chefin?« Falls er mit einer Liebenswürdigkeit gerechnet hatte, wurde er ebenso enttäuscht, wie ich Sekunden zuvor. »Wir haben ein Archiv«, stellte D. C. trocken fest. »Zur Sache!« Wir setzten uns aufrecht hin. D. C. hatte die Angewohnheit, kein Wort zuviel zu sagen. Wer nicht mitbekam, was sie sagte, hatte zuzusehen, wie er sich zurechtfand. »In einem Punkt sind wir uns hoffentlich einig – mit dem Tod von Valcarcel ist die Angelegenheit noch lan11
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ge nicht beendigt. Selbst ein Wesen, das über so beeindruckende Fähigkeiten wie der Zeit-Zauberer verfügt, ist nicht in der Lage, allein eine Organisation aufzubauen, wie wir sie in Bruchstücken bereits kennengelernt haben. Wir müssen also jederzeit mit neuen Maßnahmen des Gegners rechnen. Je mehr Zeit vergeht, um so größer wird die Gefahr, daß der Gegner zu einem Schlag ansetzt, den wir nicht bereits im Ansatz auffangen können. Ich habe mich daher entschlossen, für die Time-Squad eine sichere Fluchtburg zu finden. Unsere Aufgabe wird darin bestehen, einen Stützpunkt zu bauen, der für den Gegner langfristig unauffindbar ist. Dort werden wir eine Reserveabteilung der Time-Squad unterbringen. Sie wird dort stationiert bleiben und sich zurückhalten, bis wir hier nicht mehr in der Lage sind, uns gegen den Feind zur Wehr zu setzen.« »Ein Trumpf im Ärmel«, faßte Inky zusammen. »Richtig«, bestätigte D. C. »Das Unternehmen Zeit-Arche ist die größte Operation, die wir bisher in die Wege geleitet haben. Angesichts der Wichtigkeit dieses Unternehmens habe ich entschieden, daß Sie beide die Führung übernehmen sollen.« Dabei sah sie Inky und mich an, allerdings wollte mir der Anflug von Mitleid in diesem Blick überhaupt nicht gefallen. »Wo soll der Stützpunkt angelegt werden?« erkundigte ich mich. »Auf der Erde?« Kopf schütteln, von einem Lächeln begleitet. »Mond?« Immer noch Kopfschütteln. Ich stand vor einem Rätsel. Vorsichtig erkundigte ich mich: »Außerhalb des Sonnensystems?« 12
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D. Cs Lächeln wurde noch geheimnisvoller. »Ungefähr«, verriet sie. »Wie gut sind Sie in Astronomie bewandert?« »Leidlich«, räumte ich ein. »Aber wieso …?« »Dann wissen Sie vielleicht, daß sich nicht nur die Erde um die Sonne bewegt. Das gesamte Sonnensystem dreht sich, sehr langsam zwar, aber stetig, um das Zentrum unserer Milchstraße, außerdem bewegen sich die einzelnen Galaxien noch relativ zueinander. Wir haben nun errechnet, daß in der Zukunft ein Sonnensystem genau an dieser Stelle des Kosmos sein wird, wo sich heute das Solare System befindet. Wir müssen bei dieser Überlegung allerdings von einem Koordinatensystem ausgehen, das keinerlei Veränderungen unterworfen ist, eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, kann ich Ihnen versichern. Aber unsere Mitarbeiter haben das Problem gelöst. Wir haben weiter hinreichende Beweise, daß dieses Sonnensystem über Planeten verfügt. Wenn möglich, wollen wir auf einem dieser Planeten einen Stützpunkt anlegen!« Sie schwieg. Wir hatten alle Mühe, diese Eröffnung zu verdauen. Ein Stützpunkt der Time-Squad auf einer fremden Welt? »Wie weit müssen wir dazu in die Zukunft vordringen?« wollte ich wissen. »Schätzungen sprechen von achtzigtausend Jahren«, antwortete D. C. freundlich. Ich hatte ein Gefühl, als stellten sich meine Nackenhaare auf. 80 000 Jahre in die Zukunft reisen, das war ungeheuerlich. »Und wie kommen wir zurück?« fragte Inky freundlich. »Oder ist an eine Rückkehr gar nicht gedacht worden?« 13
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D. Cs Lächeln wirkte auf mich nicht sehr beruhigend. »Wir werden genauso vorgehen, wie wir es im Fall Atlantis getan haben. Allerdings …« D. C. biß sich leicht auf die Unterlippe. Ich übernahm es, Inky aufzuklären. Was D. C. zu sagen hatte, lag auf der Hand. »Der Plan geht davon aus, daß das Rettungsverfahren funktioniert«, sagte ich grimmig. »Schlägt das fehl, müßte die Time-Squad einen kompletten Fusionsreaktor in die Zukunft schicken. Das ist Punkt eins. Punkt zwei besteht in der Gefahr, daß der Gegner die Menschheit förmlich übernimmt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß das Geheimnis dieses noch zu bauenden Stützpunkts nur einem sehr kleinen Personenkreis zugänglich gemacht werden darf. Die Gelder, die im Zweifelsfalle zum Bau eines Reaktors gebraucht werden, bekommt die Time-Squad aber nur, wenn sie der Regierung plausibel erklären kann, wofür diese Beträge verwendet werden sollen. Damit wäre erstens das Geheimnis des Stützpunkts gelüftet. Zum anderen aber bestehen berechtigte Zweifel, ob die Regierung einen Reaktor im Wert von einigen Milliarden Soldor bauen wird, nur um uns zu retten. So viel sind wir vermutlich nicht wert.« »Also ein Himmelfahrtskommando?« meinte Inky. D. C. zuckte mit den Schultern. »Wir haben, fürchte ich, keine andere Wahl«, sagte sie ruhig. »Sie können natürlich ablehnen …!« Sie brauchte nicht weiterzusprechen. Uns war längst klargeworden, daß dieser Geheimstützpunkt die Notbremse darstellte, auf die wir in keinem Fall verzichten durften, wenn wir die Menschheit vor der Versklavung retten wollten. 14
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»Opfer müssen gebracht werden, Agnes«, murmelte Inky betroffen. »Agnes?« wunderte sich Slayter. »Das waren die letzten Worte von Otto Lilienthal«, erklärte Inky düster. »Er starb nach einem Unfall mit seinem Gleitflugzeug, einem der ersten der Welt. Agnes war seine Frau.« Ich warf einen besorgten Blick auf den Jungen mit dem blonden Haarschopf. Was für eine Aufgabe hatte D. C. ihm zugedacht? Es wollte mir gar nicht gefallen, daß die Time-Squad zu einem solchen Selbstmordunternehmen einen Jugendlichen abkommandierte. D. C. sah meinen Blick und lächelte verhalten. »Sie urteilen vorschnell, Tovar«, sagte sie ruhig. »Corve Munther ist erheblich älter, als er aussieht. Er ist durchaus kein Grünschnabel. Falls es Sie interessiert – er ist vor einigen Tagen erst vom Jupiter zurückgekommen. Munther gehörte zu dem Team, das als erstes eine Landung auf dem Planeten zuwege brachte!« Mein Mißtrauen verwandelte sich schlagartig in Respekt. Wenn D. Cs Aussage stimmte, und daran zweifelte ich keinen Augenblick, war dieser Milchbart einer der berüchtigsten Teufelskerle, die das Sonnensystem kannte. »Munther wird die Zeit-Arche fliegen«, klärte uns D. C. auf. »Sind Sie bereit?« »Jetzt schon?« fragte Inky entgeistert. »Hat das nicht noch ein wenig Zeit?« »So seltsam es sich anhören mag«, gab Don Slayter zu bedenken, »aber gerade die Time-Squad hat überhaupt keine Zeit. Wir müssen handeln, bevor der Gegner uns die Möglichkeit dazu nimmt. Vergessen Sie 15
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nicht, daß wir versuchen, unsere Realzeit zu retten. Die Time-Squad wurde als Polizeitruppe gegründet, von einem unerbittlichen Abwehrkampf gegen einen geheimnisvollen Gegner war bei ihrer Gründung nie die Rede!« »Dann haben wir wohl keine andere Wahl«, murmelte ich. »Wieviele Leute werden an diesem Unternehmen teilnehmen?« »Drei!« sagte Demeter Carol Washington schlicht. »Sie, Tovar, Inky und Corve Munther. Wir haben noch einige andere Aktionen eingeleitet, daher stehen uns nicht mehr Leute zur Verfügung. Außerdem müssen wir unseren normalen Polizeibetrieb aufrechterhalten. Wir sind schwach, Tovar, sehr schwach sogar. Was wir in diesem Kampf zu bieten haben, ist nicht mehr als der Mut eines Haufens entschlossener Partisanen, mehr nicht.« »Ein schöner Vergleich«, warf ich ein. »Und wo steht nun diese Zeit-Arche?« Die Zeit-Arche stand in einem Raum, an den ich mich nur ungern erinnerte. In der gleichen Halle, auf der gleichen Zeitmaschine hatte auch die NECHO gestanden, jenes Schiff, mit dem wir ins Jahr 1692 gereist und fast untergegangen wären. Wenn ich an den Beginn des Unternehmens Zeit-Piraten dachte, wurde mir nachträglich noch übel. Auf den ersten Blick wirkte die Zeit-Arche wie ein modernes Kunstwerk aus Stahl und Glas. Erst bei näherem Hinsehen schälten sich Einzelheiten heraus. Die Arche bestand aus drei Funktionseinheiten. Da war zunächst der quaderförmige Wohnraum, der alles enthielt, was man bei einem mehrwöchigen Ausflug 16
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ins All brauchte. An diesem Kasten angeflanscht waren ein Raumlandefahrzeug, mit dem wir den Planeten anfliegen und untersuchen sollten. Erst wenn sich herausgestellt hatte, daß der Planet für unsere Zwecke geeignet war, trat der dritte Teilkörper der Konstruktion in Aktion. Während der Wohnraum im All bleiben mußte, konnte dieser dritte Körper gelandet werden – allerdings nur ein einziges Mal. Er enthielt eine komplette Zeitmaschine, allerdings ohne Energiezufuhr. Der kleine Spaltungsreaktor lieferte nur gerade genug Strom, um die Zeitmaschine zu einer Art Peilsender zu machen. Nachdem uns D. C. die einzelnen Teile erklärt hatte, wußten wir, wie wir vorzugehen hatten. Als erstes mußten wir das komplette Gefährt in einen stabilen Orbit bringen. Unwillkürlich mußte ich grinsen, als D. C. das Wort Orbit aussprach. Ursprünglich war dieses Wort aus der lateinischen Sprache nur auf die Erde bezogen. Ein Orbit um einen anderen Planeten war, sprachlich gesehen, glatter Unfug. Danach sollten wir mit dem Landefahrzeug den Planeten untersuchen und geeignete Plätze für den Stützpunkt finden. War dies geschehen, wurde die Zeitmaschine gelandet, wenig später konnte dann der Nachschub rollen. »Hört sich alles sehr einfach an«, stellte Corve fest. Ich konnte mich seinem Optimismus nicht anschließen. Schließlich hatten wir in Valcarcel einen lebenden Beweis für die These gehabt, daß der Mensch nicht das einzige intelligente Geschöpf im Universum sei. Wer garantierte uns, daß wir am Ziel nicht erneut auf intelligentes Leben trafen, Leben, das uns vielleicht ebenso feindlich gesinnt war wie der Zeit-Zauberer? 17
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Die Reise konnte beginnen. Corve Munther hatte die Steuerung der Zeit-Arche überprüft und das Ergebnis über Mikrophon bekanntgegeben. Inky und ich hatten uns in unseren Sesseln angeschnallt. »Das Zeitfeld kann aufgebaut werden!« sagte Corve. Ich konnte sehen, wie D. C. nickte. Aus den Projektoren, deren Spitzen auf die Zeit-Arche zielten, kam ein feines, rötliches Flimmern, das sich mit jedem Herzschlag verstärkte. Ich kannte dieses Phänomen bereits, also erschrak ich nicht, als ich schlagartig sehr müde wurde. Jede Zeitreise begann mit diesem unwiderstehlichen Schlafbedürfnis, das in der Zielzeit ebenso schlagartig verging, wie es in der Gegenwart gekommen war. Das Leuchten des Zeitfeldes verstärkte sich; ich gähnte. Die letzten Sekunden des Reisebeginns verliefen wie immer – übergangslos wurde ich bewußtlos. Und übergangslos kam ich auch wieder zu mir. Sofort warf ich einen Blick auf die Uhr. Es waren knapp vier Sekunden vergangen, seit ich das Zifferblatt zuletzt betrachtet hatte. Danach warf ich einen Blick auf die Bildschirme. Außenbordkameras zeigten uns, was im Raum vorging. Auf den ersten Blick war klar, daß wir das Sonnensystem verlassen hatten. Der Stern, dessen Licht uns beschien, war nicht die Sonne. Er war entschieden größer, dafür aber weiter entfernt. 18
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»Wir sind am Ziel«, stellte Corve Munther fröhlich fest. »Wir sind die ersten Menschen, die tatsächlich ein anderes Sternensystem erreicht haben. Ein historischer Augenblick, Freunde!« Ich brauchte nur einen Blick auf den Schirm zu werfen, um zu wissen, daß wir von diesem historischen Augenblick nicht sehr viel haben würden. Es gab den Planeten, den die Wissenschaftler der Time-Squad erhofft hatten. Es gab aber auch einen Mond, der diesen Planeten umkreiste. Im Augenblick raste er uns mit aberwitziger Geschwindigkeit entgegen. Wir waren nur knapp einhundert Kilometer von seiner Oberfläche entfernt, verriet der Taster. In kosmischen Maßstäben gerechnet, schrumpfte diese Distanz zu einem Nichts zusammen Corve reagierte, ohne daß ich ihn warnen mußte. Er schob den Beschleunigungshebel nach vorn. Das Triebwerk der Zeit-Arche brüllte auf. Für einen Sekundenbruchteil kam die elektronisch gesteuerte künstliche Schwerkraft nicht mit, wir wurden in unsere Sitze gepreßt, und der Andruck trieb mir die Luft aus den Lungen. Neben mir stöhnte Inky auf. Munther war ein überaus erfahrener Raumpilot. Er kümmerte sich nicht um uns, und die auf ihm lastende Beschleunigung konnte ihn nicht hindern. Er aktivierte das Triebwerk der Landefähre. Es war ein gewagtes Manöver. Die beiden Einheiten waren niemals dafür gedacht, zusammen beschleunigt zu werden. Aber in dieser Lage blieb uns keine andere Wahl, wir mußten so reagieren, wollten wir einen Aufprall auf dem Mond vermeiden. Der Mond war nicht sehr groß, aber seine Anziehungskraft reichte durchaus, um uns zu vernichten. 19
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»Haltet euch fest!« schrie Munther. »Es gibt eine Bruchlandung – hoffentlich!« An ein Ausweichen war nicht zu denken, im Gegenteil. Das Feuern des Triebwerks der Fähre hatte zwar unsere Fahrt erhöht, dafür aber wirbelte die Zeit-Arche durch den Raum. Auf den Bildschirmen waren die Sterne nur als dünne Striche zu erkennen. Einigermaßen deutlich hob sich nur das zernarbte Gesicht des Mondes ab, das sich uns unablässig näherte. »Festhaaaa…!« Der Rest von Corves Schrei ging im Kreischen sich verbiegenden Metalls unter. Glas splitterte, Röhren detonierten. Ich wurde nach vorn geschleudert. Mit einem häßlichen Schnalzen platzte mein Gurt, ich flog weiter nach vorn. Meine Schulter prallte gegen einen harten Gegenstand, aber ich kam nicht mehr dazu, vor Schmerz aufzuschreien. Schlagartig verlor ich das Bewußtsein. Etwas Feuchtes sickerte über meine Lippen. Blut. Es war mein Blut, aber das erschreckte mich nicht. Ich spürte einen Schmerz, der in jeder Nervenfaser tobte. Unterdrückt stöhnte ich auf. Noch lebte ich. Nur sehr langsam wurde mir klar, wo ich mich befand und was überhaupt geschehen war. Die Zeit-Arche, der Mond, ein Aufprall … Ich versuchte mich zu bewegen. Der Schmerz war höllisch, aber das Schultergelenk funktionierte noch. Meine Fingerspitzen fühlten die Feuchtigkeit auf meinem Gesicht, die Wunde am Haaransatz. Dann die Beine. Trotz der Schmerzen stieß ich einen erleichterten Seufzer aus. Die Beine ließen sich bewegen, nicht sehr 20
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viel, aber ich hatte Gefühl in ihnen. Ich hatte mir also nicht die Wirbelsäule gebrochen. »Inky!« rief ich. »Corve!« Ich bekam keine Antwort. Sollte ich als einziger den Absturz überlebt haben? Es wurde langsam Zeit, mich aus meiner Lage zu befreien. Ich steckte zwischen Trümmern. Spitze Gegenstände bohrten sich in meinen Rücken, meine Glieder waren seltsam verdreht. Ich versuchte, die Trümmer über meinem Kopf aus dem Weg zu räumen. Eine Platte lag auf mir, über deren. Oberfläche ein zerrissener Kabelstrang pendelte. Feine Blitze zuckten zu der Platte hinüber. Trotzdem schaffte ich es, das Hindernis zu beseitigen. Und dann sah ich über mir die Sterne. Unwillkürlich stockte ich. Was ich sah, war absolut unmöglich. Der Teil der Zeit-Arche, in dem ich mich befinden mußte, besaß kein einziges Fenster. Die Bilder, die wir im Innern hatten sehen können, wurden von Kameras geliefert. Von den Bildschirmen konnte nach einer derartigen Erschütterung kein einziger mehr funktionieren. Es gab also nur eine Erklärung für das, was ich sah: Ein Teil der Verkleidung des Wohnbereichs war zerstört worden. Ich sah unmittelbar in die Höhe. Das aber bedeutete, daß in der Außenhaut der ZeitArche ein Loch klaffte, ein Loch, durch das aller Sauerstoff entwichen sein mußte. Logisch betrachtet, konnte ich gar nicht mehr leben. Trotz der Schmerzen begann ich zu kichern. Ich hatte mir zwar logisch einwandfrei bewiesen, daß ich tot sein mußte. Andererseits ließ sich nicht bezweifeln, daß Ich – aller Logik zum Trotz – lebte, wenn auch nicht sehr angenehm. 21
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»Aaahhh!« hörte ich in einiger Entfernung einen Mann stöhnen. Der sich daran anschließende Fluch verriet, daß es sich um Inky handeln mußte. »Wie fühlst du dich?« »Lausig«, verriet Inky, »Was ist eigentlich los?« »Du bist tot«, verriet ich ihm. »Genau wie ich!« »Ich habe schon bessere Scherze gehört«, knurrte Inky. »Hilf mir lieber. Irgendein Flegel rammt mir immer wieder seinen Fuß in den Bauch.« »Ich bitte um Verzeihung«, erklang Corves Stimme. Sie klang so fröhlich, als handele es sich um ein leicht verregnetes Picknick. »Sagt einmal, wer von euch hat die künstliche Schwerkraft verändert?« fragte Corve. »Schwerkraft? Verändert?« protestierte Inky. »Mann, die einzigen Muskeln, die ich im Augenblick bewegen kann, sitzen in meinem Gesicht. Ansonsten kann ich mich um keinen Millimeter rühren. Und höre endlich auf, mir in den Bauch zu trampeln!« »Ich habe auch nichts verändert«, erklärte ich. »Wie kommst du auf die Idee?« »Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl dafür«, verriet Corve. »Und dieses Gefühl sagt mir, daß die Schwerkraft um mindestens zehn Prozent geringer geworden ist.« Für einen Augenblick war es still in dem Trümmerhaufen. Dann verkündete ich alles andere als fröhlich: »Freunde, wir sind in diesem Teil des Universums nicht allein. Dieses Sonnensystem ist bewohnt!« Wieder wurde es still. »Hast du Beweise?« fragte Inky. »Ich kann direkt in den Himmel sehen«, gab ich bekannt. »Unser Fahrzeug ist nämlich defekt. Normaler22
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weise müßten wir allen Sauerstoff längst verloren haben, denn die Anziehungskraft dieses kleinen Mondes ist viel zu gering, um eine atembare Atmosphäre festhalten zu können. Die Sache sieht anders aus, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß irgend jemand hier für künstliche Schwerkraft gesorgt hat. Diese Schwerkraft hält den Sauerstoff fest, und sie ist es auch, die Corve gespürt hat. Unsere Anlage liegt vermutlich in Trümmern.« »Sehr erfreulich«, kommentierte Inky. »Und wie soll es weitergehen? Wollen wir warten, bis man uns befreit?« Ich hatte es mittlerweile geschafft, meinen Oberkörper freizubekommen. Ich stützte mich mit beiden Händen ab. Unter Aufbietung aller Kraft gelang es mir schließlich, auch die Beine zu befreien. »Ich bin frei«, verriet ich meinen Gefährten. »Könnt ihr es noch ein paar Minuten aushalten?« »Es wird uns wohl nicht viel anderes übrigbleiben«, brummte Inky. »Was kannst du sehen?« Ich sah eine Landschaft, die der des irdischen Mondes zum Verwechseln glich. Die gesamte Oberfläche war von kleinen und großen Kratern übersät. Ringwälle waren zu erkennen, staubgefüllte Mulden, und in einigen Kratern lagen, noch deutlich erkennbar, die Trümmer der Meteoriten, die diese Krater hervorgerufen hatten. Von Leben war nichts festzustellen. Langsam ging ich um die Arche herum. Die Landefähre hatte nur noch Schrottwert, sie war völlig zermalmt. Ein Wunder, daß der Treibstoff nicht explodiert war. Nicht wesentlich besser stand es um den Wohnbereich. Auch von ihm waren nur noch Konturen zu erkennen. 23
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Einen leidlich intakten Eindruck machte der dritte Funktionsteil. Mit etwas Glück mußte sich die Zeitmaschine wieder verwenden lassen. Offenbar war die Arche mit der Landefähre zuerst auf dem Mond aufgeschlagen, dann hatte sie sich überschlagen. Nur so war zu erklären, daß die Zeitmaschine noch einigermaßen erhalten wirkte. Wie es im Innern des Behälters aussah, würde sich allerdings erst später feststellen lassen. Ich machte mich an die Arbeit. Meine beiden Freunde waren unter den Trümmern der Landungsfähre begraben, eingekeilt zwischen Metallstreben, Glassplittern und herabgefallenen Verkleidungsplätten. Als ersten befreite ich Inky. Er hatte sich einen Finger der linken Hand gebrochen, außerdem hatte er am rechten Bein einige Quadratzentimeter Haut eingebüßt. Es handelte sich um eine jener Wunden, die eigentlich unbedeutend waren, dafür aber um so penetranter schmerzten. Gemeinschaftlich befreiten wir dann Corve Munther. Um an ihn herankommen zu können, mußten wir den halben Wohnbereich leerräumen. Endlich standen wir, schwach, aber einigermaßen wiederhergestellt, auf dem Boden des kleinen Mondes. Corve brauchte nur einen Blick auf den nahen, stark gekrümmten Horizont zu werfen, um zu wissen, daß ein Himmelskörper dieser Größenordnung niemals eine Schwerkraft von 0,9 g erzeugen konnte. Diese Schwere wurde uns von Maschinenanlagen beschert, und daraus ergab sich logisch, daß es auch Wesen gab, die diese Maschinen gebaut hatten. 24
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»Die Sache kommt mir nicht geheuer vor«, murmelte Inky. Die Luft war ein wenig dünner, als wir es von der Erde gewohnt waren, aber sie war durchaus atembar. »Was stört dich?« erkundigte ich mich. »Ärgerst du dich, daß du noch lebst?« »Unfug«, wehrte Inky ab. »Aber mir fallen gerade Überlegungen ein, die erstmalig in meiner Zeit angestellt wurden. Kluge Leute arbeiteten sich damals an die Erkenntnis heran, daß der Mensch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht das einzige intelligente Lebewesen im Kosmos sei.« »Was soll an dieser Überlegung falsch sein?« wollte Corve wissen. »Nichts«, gab Inky zurück. »Nur das Hauptargument dieser Leute war die Tatsache, daß unglaublich viele Sonnen allein in unserer Milchstraße existieren. Wenn davon nur jede tausendste Planeten besitzt, von denen wiederum nur jeder tausendste erdähnlich ist … ihr kennt diese Argumentation.« »Sicher, aber ich weiß immer noch nicht, worauf du hinauswillst!« »Überlegt einmal: nur eine unter tausend Sonnen hat Planeten, davon nur einen unter tausend, der erdähnliche Bedingungen aufweist. Das bedeutet, daß von einer Million Sonnen nur eine einzige einen erdähnlichen Planeten besitzt. Für die Beweisführung, daß es noch andere Intelligenzen gibt, ist dies belanglos, im Gegenteil. Gerade die riesige Zahl der Sonnen macht es wahrscheinlich, daß es irgendwo noch anderes Leben im Kosmos gibt. Aber mir erscheint es mehr als unwahrscheinlich, daß wir ausgerechnet beim aller25
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ersten Ausflug in ein anderes Sonnensystem sofort auf fremdes Leben stoßen. Es gibt unter einer Million Losen nur einen Treffer, und den sollen wir gleich beim ersten Zugreifen gezogen haben?« Corve nickte nachdenklich. »An dieser Überlegung ist einiges wahr«, murmelte er. »Daß es Leben außer uns gibt, ist sicher, aber daß wir es auf Anhieb finden … ?« »Wir werden auch dieses Problem lösen«, versprach ich zuversichtlich. »Zunächst wollten wir über einmal nachsehen, was von unserer Ausrüstung noch zu gebrauchen ist. Alles andere ist jetzt zweitrangig!« Wir machten uns an die Arbeit. Von der Landefähre war so gut wie nichts mehr gebrauchsfähig. Etwas besser sah es im Wohnteil aus. Zwar hatte der Aufprall auch hier erhebliche Schäden verursacht, aber wir fanden genug Wasser und Nahrungsmittel in unzerstörten Behältern, um uns die nächsten zehn Tage überstehen zu lassen. Wenn wir sofort die Nahrungsmittel und vor allem das Wasser rationierten, konnten wir sogar mehr als zwei Wochen durchhalten. Es tat gut, das zu wissen. Wir hatten also Zeit, uns etwas einfallen zu lassen. Fast unbeschädigt war die Zeitmaschine. Einzelne Streben waren ein wenig verbogen, etliche Kabel gerissen, aber wir fanden keine Beschädigung, die wir mit Bordmitteln nicht in kurzer Zeit beheben konnten. »Was nun?« fragte Inky. »Erkunden wir die Landschaft?« Der Vorschlag klang verführerisch, aber ich schüttelte den Kopf. Bevor wir dazu aufbrachen, gab es anderes zu tun. 26
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»Als erstes werden wir die Zeitmaschine reparieren und aufbauen«, bestimmte ich gegen meinen Willen. »Bevor wir uns auf dem Mond näher umsehen, sollten wir uns den Rückweg öffnen. Wer weiß, welche Gesellen sich hier herumtreiben. Ich will kein Risiko eingehen.« Zusammen machten wir uns an die Arbeit, die Zeitmaschine aus ihrem Gehäuse zu ziehen und aufzubauen. Wir arbeiteten Stunde um Stunde. Die Sonne stand hoch am Himmel, und wir waren in Schweiß gebadet, als die Maschine endlich stand. Corve sah nach oben und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine blonden Haare waren verklebt. Nachdenklich sah er mich an. »Wieso sind wir eigentlich nicht längst verschmort?« fragte er halblaut. »Auf dem Mond wäre es jetzt unerträglich heiß – mehr als einhundert Grad über Null.« Inky hatte in den Schulungskursen der Time-Squad genau aufgepaßt. »Die Sonnenstrahlung wird durch die Atmosphäre gefiltert«, verriet er. »Aber nur dann, wenn diese Atmosphäre dicht und dick genug ist. Wie weit, glaubt ihr, reicht unsere Atemluft in den Raum hinaus?« »Offenbar weit genug«, antwortete ich gereizt. In meinem rechten Auge brannte ein Schweißtropfen. »Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun!« Noch einmal überprüften wir alle Anschlüsse und Leitungen. Erst als wir sicher waren, nichts falsch gemacht zu haben, schaltete ich die Energiezufuhr ein. Das Zeitfeld baute sich auf. Würde es von der Anlage der Time-Squad aus anpeilbar sein? Ich wagte nicht, mir vorzustellen, was gesche27
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hen würde, wenn unsere Verbindung mit der (relativen) Vergangenheit abriß. Wenn es uns nicht gelang, die Time-Squad von dem Mond zu unterrichten, würden sie eine Rettungsaktion nach der anderen starten – und jede dieser Aktionen würde an dem Mond scheitern – so lange, bis die TimeSquad ihre Rettungsversuche einstellte und uns unserem Schicksal überließ. In der Zukunft abgeschnitten, kein schöner Gedanke.
Einen Teil meiner Sorgen konnte ich beruhigt vergessen. Was sich über dem Transporttisch unserer Zeitmaschine langsam bildete, was unzweifelhaft ein Zeitfeld. Die Verbindung zur Time-Squad war hergestellt. Ich hielt eine kleine Metallröhre in der Hand. Im Innenraum steckte eine kurze Nachricht an D. C., die den Mond betraf und den Planeten, den wir unter uns sehen konnten. Ich holte aus und warf den Metallzylinder in das Zeitfeld. Er verschwand augenblicklich. Drei Minuten vergingen, dann tauchte eine Gestalt auf. Während das Zeitfeld langsam verschwand, erkannte ich auf der Platte eine Person, deren Ankunft ich als letztes erwartet hätte. »Herzlich willkommen in der Zukunft, Chefin!« sagte Inky fast automatisch. Er war ebenso verblüfft wie ich. Es gab keinen Zweifel. Demeter Carol Washington gab uns die Ehre. Sie trug eine enge Kampfkombinati28
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on, deren Schnitt erheblich mehr von ihrer prachtvollen Figur verriet als die weiten Cowboyhemden, die sie üblicherweise trug. An der linken Hüfte hatte sie einen Laser, rechts saß ein Narkonadler im Holster. Am rechten Unterschenkel steckte ein Messer in einer ledernen Scheide. D. C. war beeindruckend bewaffnet, und ich war sicher, daß sie diese Waffen auch handhaben konnte. Ob Chefin oder nicht, sie war in jedem Fall eine wertvolle Ergänzung unseres Teams. Mit geschmeidigen Bewegungen glitt D. C. von der Platte und baute sich vor uns auf. »Ich habe Ihre Botschaft bekommen, Tovar. Die Tatsache, daß wir es auf diesem Planeten offenkundig mit intelligentem Leben zu tun haben, hat mich dazu gebracht, selbst nach dem Rechten zu sehen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht!« Einmütig wiesen wir diese Vermutung weit von uns. Selbstverständlich war sie uns willkommen, sehr willkommen sogar. »Gibt es hier noch etwas zu tun?« »Einstweilen nicht … äh!« D. C. sah mich belustigt an. »Wie nennen Sie mich, wenn ich nicht dabei bin?« Ich schielte zu Inky hinüber, der ebenso dümmlich grinste wie ich. »D. C.!« gestand ich, einigermaßen verlegen. »Dann bleiben wir dabei«, entschied sie. Unsicher sah ich mich um. Der Mond war nicht sehr groß, aber wir hatten keinerlei Anhaltspunkte, wo wir suchen sollten. D. C. nahm uns die Entscheidung ab. Sie marschierte einfach los. Wir trotteten folgsam hinter ihr her. Be29
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reits nach kurzer Zeit wurde aus diesem Trott ein flotter Marsch. D. C. legte ein erstaunliches Tempo vor. Der Boden war extrem uneben. Viele hundert kleine und große Himmelskörper waren auf der Oberfläche aufgeprallt und hatten ihre Spuren hinterlassen. Bei einem der kleineren Krater blieb D. C. stehen. Sie kniete nieder und betrachtete das Stück Meteorgestein, das halb im Boden vergraben war. Sie betrachtete den Boden und strich mit der Hand über den gelblichen Sand. »Hm«, machte sie nachdenklich. Sie sah nach oben und hielt eine Hand über die Augen, um sie vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. »Offenbar ist dieser Mond erst vor kurzer Zeit besiedelt worden.« Ich schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommen Sie zu dieser Schlußfolgerung?« erkundigte ich mich. Diesmal war es D. C., die den Kopf schüttelte. »Die Atmosphäre muß ziemlich dick sein, andernfalls hätten wir längst etwas von der UV-Strahlung bemerkt. In einer dichten Atmosphäre jedoch hätte ein Meteor dieser Größe keine Chance gehabt, jemals den Boden zu erreichen. Außerdem entspricht der Krater nicht der Aufschlagswucht, die der Meteor hätte haben müssen, wenn er bei einer Schwerkraft von knapp einem g auf den Mond herabgestürzt wäre. Folglich besteht eine Atmosphäre dieser Dichte erst seit kurzer Zeit!« Ich nickte. Einmal mehr mußte ich den brillanten Sachverstand und die Intelligenz dieser Frau bewundern. Langsam begann ich zu begreifen, wieso ausgerechnet D. C. Washington zur Chefin der Time-Squad aufgerückt war. Eine bessere Vorgesetzte konnte ich mir kaum vorstellen. 30
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Vor uns ragte ein Gebirgszug in die Höhe. Auf unserem heimischen Mond jedenfalls wäre dies ein Gebirgszug gewesen. Hier konnte man bestenfalls von einer Hügelkette reden. Immerhin waren die Erhebungen hoch genug, uns den Blick zu versperren. Der Aufstieg erwies sich als mühsam. Wir hatten Vorräte und Wasser für eine mehrtägige Exkursion mitgenommen, dazu hatten wir an unseren Waffen zu tragen. Der Boden war brüchig, bei jedem Schritt mußten wir darauf gefaßt sein, den Halt zu verlieren und abzustürzen. Daher kamen wir nur langsam voran. Wir brauchten fast eine Stunde, bis wir den Kamm der Hügelkette erreicht hatten. Jetzt konnte es überhaupt keinen Zweifel mehr geben, daß der Mond von intelligenten Lebewesen in Besitz genommen worden war. Der Krater, auf dessen Rand wir standen, war aus den Einschlägen mehrerer großer Meteoriten entstanden. Die Bewohner – oder Eroberer – des Mondes hatten die Unebenheiten im Innenraum der Umwallung eingeebnet und in Parzellen eingeteilt. Vor uns erstreckten sich weite Felder. Es war ein merkwürdiger Anblick – eine von jungen Pflanzen bedeckte Ebene inmitten des trostlosen Gelbgraus der Mondoberfläche. Auf der uns gegenüberliegenden Seite der Umwallung sahen wir etwas glitzern. Ich setzte das Fernglas an die Augen. Das Glitzern entpuppte sich als Wasser. Aus einer mehr als mannshohen Öffnung im Ringwall schoß ein breiter Wasserstrahl, der in einem großen Becken gesammelt und von dort durch immer kleiner werdende Kanäle den Pflanzenbeeten zugeführt wurde. Ich gab das Glas an D. C. weiter. Demeter war sehr ruhig geworden. Inky und Corve schwiegen ebenfalls. 31
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Die Szenerie hatte etwas Unwirkliches. Ich durfte nicht darüber nachdenken, was wirklich geschehen war. Wir hielten uns in der Zukunft auf. Mehr als 80 000 Jahre trennten uns von unserer Zeit, zwischen uns und dem jetzigen Standort des Sonnensystems lagen Lichtjahre. Noch nie waren Menschen so weit gereist, weder räumlich noch zeitlich. Wir hielten uns in einer Zeit an einem Ort auf, zu dem uns jeder Bezug fehlte aber der Anblick, der sich uns bot, war Menschen seit Jahrtausenden vertraut. Eine aberwitzige Konstellation von Daten. »Machen wir uns an den Abstieg«, sagte D. C. leise. Ich konnte ihr ansehen, wie beeindruckt sie war. Der Abstieg erwies sich als nicht einfacher. Auch hier war der Boden sehr brüchig und morsch. Endlich hatten wir die Ebene erreicht. Corve marschierte mit verzücktem Gesicht auf die Pflanzen zu. Vorsichtsmaßnahmen schienen ihn nicht zu interessieren. »Corve ist ein leidenschaftlicher Hobby-Biologe«, raunte mir D. C. zu. »Sein Werk über die Fauna und Flora des Jupiter gilt als Standardwerk.« Inky runzelte die Stirn. »Gibt es dort überhaupt Tiere und Pflanzen?« fragte er skeptisch. »Nicht einmal Spuren«, versicherte D. C. lächelnd. Corve war mittlerweile vor der ersten Pflanze niedergekniet und betrachtete sie fasziniert. Er holte ein Notizbuch aus der Tasche und begann eifrig zu schreiben. »Was mag diese Anlage für einen Zweck haben?« überlegte Inky laut. »Auch die Bewohner dieses Mondes werden Hunger haben«, antwortete ich. »Vermutlich handelt es sich bei diesen Pflanzen um Nahrungsmittel!« 32
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»Oder um die Bewohner«, setzte D. C. hinzu. »Man sollte nie vorschnell urteilen!« Corve setzte sich auf den Boden. Ich sah, daß er die Pflanze zu skizzieren begann. Ich ging langsam auf ihn zu und sah ihm über die Schulter. Auch als Zeichner war Corve Munther kein Stümper. Ich tippte ihm auf die Schulter. »Hat das nicht noch etwas Zeit?« fragte ich vorsichtig. Corve schüttelte sofort den Kopf. »Wissenschaftliche Entdeckungen haben nie Zeit«, behauptete er. »Sieh dir diese Pflanzen an. Sie sind wie viele irdische Pflanzen auf Insekten angewiesen, die sie bestäuben. Hier gibt es aber keine Insekten, jedenfalls habe ich noch keine gesehen. Daraus folgt, daß diese Pflanzen hier nicht heimisch sind. Sie kommen vermutlich von dem Planeten.« »Und das wiederum bedeutet«, setzte D. C. seinen Gedankengang fort, »daß es dort Bedingungen geben muß, die stark erdähnlich sind. Um was für Pflanzen handelt es sich eigentlich, Corve?« »Hm«, murmelte der junge Mann. »Zu sehen sind einstweilen nur flache, breitlineale Blätter. Man müßte warten, ob sich später kugelige rote Scheindolden entwickeln.« »Mach es nicht so spannend«, murmelte Inky. »Ich tippe auf allium sativum«, präzisierte Corve. »Leicht verändert gegenüber dem irdischen Typus, aber einigermaßen deutlich zu erkennen.« »Allium sativum«, wiederholte ich ratlos. »Hat das Kraut auch einen volkstümlichen Namen?« »Es hat«, meinte Corve grinsend. »Knoblauch!« Ich mußte mich setzen. Inky schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. 33
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»Allmächtiger«, stöhnte er. »Wir entdecken einen bewohnten Mond, Tausende von Jahren in der Zukunft, lichtjahreweit von der Erde entfernt – und was finden wir dort? Eine Knoblauchplantage? Willst du uns …?« »Keineswegs«, wehrte Corve ab. »Es ist so, wie ich es sage. Ich gebe zu, daß es etwas ungewöhnlich klingt, aber ich bin mir meiner Sache sicher!« Ich hatte Mühe, diese Erkenntnis zu verdauen. Gewiß, wir mußten damit rechnen, daß wir auf seltsame Dinge stießen, und wir hatten auch damit gerechnet. Aber selbst in den wirrsten Fieberträumen wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, beim ersten Kontakt mit einer fremden Zivilisation ausgerechnet auf eine riesige Knoblauchplantage zu stoßen. Der Gedanke war einfach absurd. D. C. war längst einen Schritt weiter als ich. »Corve«, sagte sie nachdenklich. »Wenn Sie diese Pflanze zu benennen hätten, welchen Namen würden Sie ihr geben?« Corve grinste über das ganze Gesicht.. »Allium sativum muntheri«, sagte er. D. C. rieb mit dem Zeigefinger am Nasenflügel. »Es handelt sich also nicht um eine Art, die man gleichberechtigt in die Reihe der anderen Allium-Arten stellen könnte – wie Zwiebel, Lauch, Schnittlauch, Schalotten und dergleichen?« »Nein. Dies ist keine neue Art, sondern eine Unterart des Typs allium sativum«, erklärte Corve. »Für wie groß halten Sie die Wahrscheinlichkeit, daß Menschen auf einer fremden Welt ausgerechnet auf eine Unterart des Knoblauchs stoßen? Keine exotischen Schlingpflanzen, keine wandernden Bäume – nur ganz simpler Knoblauch?« 34
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Corves Unterkiefer klappte herunter. Auch mir wurde schlagartig bewußt, was D. C. sich überlegt hatte. »Praktisch null«, antwortete Corve zögernd. »Wollen Sie damit sagen …?« »Das will ich«, meinte D. C. ruhig. »Zwischen dieser Plantage und der Erde muß es irgendeinen Zusammenhang geben. Wie diese Verbindung aussieht, weiß ich nicht, aber es muß eine existieren.« Ich hob abwehrend beide Hände. »Chefin«, sagte ich hastig. »Überlegen Sie – wir halten uns in der Zukunft auf und sind Lichtjahre von der Erde getrennt!« D. C. sah mich ruhig an. »Wollen Sie meine Schlußfolgerung bezweifeln? Halten Sie meine Überlegung für unlogisch?« Der kaum wahrnehmbare Unterton ihrer Stimme verriet mir, daß sie mir sehr dankbar gewesen wäre, hätte ich ihr einen logischen Fehler nachweisen können. Ich ließ die Hände sinken. D. C. hatte recht, so absurd es sich auch anhören mochte. »Gehen wir weiter«, bestimmte Demeter Carol. Sie war etwas nervös, das war deutlich zu sehen, als sie überflüssigerweise – die Ladeanzeige ihres Nadlers prüfte. »Ich möchte die Wesen kennenlernen, die diese Pflanzung angelegt haben.« Ich war nicht minder interessiert. Knoblauch gab es hier in schier unbegrenzter Menge, aber dafür fehlte es an allem, was man mit Knoblauch hätte würzen können. Ernährten sich die Bewohner des Mondes etwa von Knoblauch pur?
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Wir wußten nicht, wer die Plantage angelegt hatte, wir wußten auch nicht, was für ein Gefühlsleben diese Wesen besitzen könnten. In jedem Fall war es uns ratsam erschienen, nicht einfach querbeet über die Plantage zu stapfen und dabei einige hundert der Pflanzen zu zertrampeln. Wir hielten uns daher an die schmalen Wege zwischen den einzelnen Beeten. Sie waren gerade breit genug, daß wir darauf gehen konnten. »Die Bewohner des Mondes müssen ziemlich klein und zierlich sein«, schätzte Corve. »Für Wesen unserer Größe wurden diese Pfade jedenfalls nicht angelegt!« »Wie wollen wir den Mond eigentlich nennen«, bemerkte D. C. plötzlich. »Ich finde, er sollte einen Namen haben.« »Wie wäre es mit Demeter?« erkundigte sich Inky höflich. D. C. reagierte auf diese Schmeichelei anders, als er erwartet hatte. »Als Name so gut wie jeder andere«, erklärte sie. »Bleiben wir dabei!« »Die Bewohner müßten dann folgerichtig Demetriden heißen«, setzte Corve Munther den Gedanken fort D. C. bedachte ihn mit einem verweisenden Blick. »Wenn es hier Bewohner gibt, werden sie bestimmt einen eigenen Namen haben, um sich zu bezeichnen!« Vermutlich würde es sich um ein Wort handeln, das einfach nicht zu übersetzen war, ähnlich dem Begriff Mensch. Ich mußte daran denken, daß viele der früheren Völker der Erde eigentlich gar keinen Namen gehabt hatten – der Name, den man ihnen gegeben hatte, bedeutete in den meisten Fällen einfach Mensch. Die Eskimos hatten sich Innuit genannt, und dieses Wort bezeichnete nicht ihren Stamm, sondern den Menschen 36
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an sich. Erst als diese Völker mit anderen Kulturen zusammengestoßen waren, hatte sich der Begriff im Sinn geändert. Homo sapiens recens lautete die wissenschaftliche Bezeichnung weiser Mensch der Gegenwart. Schon beim ersten Hinsehen erwies sich dieser Begriff als ein Bündel von Heuchelei und Wichtigtuerei. Die tatsächlichen Eigenschaften des homo hatten wenig mit dem gemein, was man sich unter Menschlichkeit vorstellte. Der Begriff Menschlichkeit umfaßte vielmehr alle jene Eigenschaften, an denen es dem Menschen ermangelte. Es war müßig zu untersuchen, ob diese Kreatur homo tatsächlich über die charakteristische Eigenschaft sapientia – Weisheit – verfügte. Die Chronik der Menschheit sprach da eine deutliche Sprache. Körperlich mochten die Menschen in der Gegenwart leben, geistig waren sie in den meisten Fällen in anderen Zeiten angesiedelt – entweder träumten sie von einer sagenhaften Zukunft, die ihnen endlich das erhoffte Glück bringen sollte, oder sie träumten einer großen Vergangenheit nach, der sprichwörtlichen guten alten Zeit. Hier waren wir nun und bereiteten uns auf eine Begegnung mit einer anderen Spezies vor. Erst in diesen Augenblicken wurde mir schmerzhaft bewußt, wie wenig der Mensch eigentlich von sich selbst wußte. Was wir kannten, waren praktisch nur Widersprüchlichkeiten. Was sollten wir sagen, wenn fremde Wesen uns nach den charakteristischen Eigenschaften der Spezies Mensch fragten? Wir hatten inzwischen jene Stelle des Ringwalls erreicht, aus der das Wasser hervorbrach, das die Felder befeuchtete. Deutlich war zu erkennen, daß es sich um 37
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eine künstliche Anlage handelte. Was wir sahen, war eine mehr als mannshohe Öffnung im Fels, mit geraden Kanten und einem mathematisch exakten halbkreisförmigen Gewölbe. In den massiven Fels des Bodens war eine knietiefe Rinne eingegraben worden, deren Kanten genau parallel verliefen. Ausgeschlossen, daß diese Einrichtung eine Laune der Natur sein konnte. Auf beiden Seiten dieser Wasserleitung gab es einen Steg, auf dem wir hintereinander gehen konnten. Wir schalteten die Handscheinwerfer ein und leuchteten die ersten Meter des Stollens aus. Die Wände waren glatt. Die Erbauer dieses Stollens hatten sich nicht darauf beschränkt, diesen Weg zu bahnen – sie hatten sich auch die Mühe gemacht, sämtliche Unebenheiten des Ganges zu beseitigen. Allerdings war auch durchaus denkbar, daß sie über Maschinen verfügten, die solche Arbeiten gleichsam nebenbei erledigten. Ich hörte, wie Demeter tief Luft holte. »Vorwärts«, sagte sie. Wir setzten uns in Marsch. Ich ging hinter D. C., während Corve und Inky die andere Seite des Kanals benutzten. Leuchtkörper gab es nicht, wir waren auf unsere Handscheinwerfer angewiesen. Ich folgerte daraus, daß dieser Stollen, wohin er auch führen mochte, nicht eigentlich als Weg gedacht war. Das Reich der Demetriden betraten wir also gleichsam durch den Hintereingang, auf Schleichwegen. Das gab uns – hoffentlich – nicht nur die Chance, erst einmal zu beobachten, bevor wir etwas unternahmen. So hatten wir auch einen guten Rückzugsweg, falls wir gezwungen sein sollten, uns schnellstens abzusetzen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß zwei verschiedenartige intelligente Lebewesen beim ersten Aufeinander38
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treffen sofort zu den Waffen griffen, aber ich hatte dennoch stets eine Hand an der Waffe. Man konnte nie wissen. Daß Inkys Finger unablässig mit dem Kolben seines Nadlers spielten, war verständlich. Vor wenigen Monaten hatte er noch als Soldat inmitten eines mörderischen Chaos leben müssen, das wir als den Zweiten Weltkrieg kannten. Daß er zwischen sich und dieses Völkerschlachten mehr als vier Jahrhunderte gelegt hatte, konnte nichts an seiner Grundeinstellung ändern, jederzeit auf der Hut zu sein. Der einzige, der sich keine Sorgen zu machen schien, war Corve. Im Gegenteil, anstatt sich um die Sicherung unseres Vormarschs zu kümmern, kritzelte er im Gehen weiter fleißig Bemerkungen in sein Notizbuch. Er schien zu jener Sorte von wissenschaftlichen Fanatikern zu gehören, die über einem interessanten Experiment den Weltuntergang völlig vergessen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, daß wir sehr bald etwas erleben sollten, das sich mit einem Weltuntergang sehr wohl vergleichen ließ.
Vor uns wurde es laut. Die Arbeitsgeräusche von Maschinen waren zu hören, und mit jedem Meter, den wir zurücklegten, wuchs der Schallpegel. »Maschinen!« flüsterte D. C. In ihrer Stimme schwang Erleichterung mit. »Die Unbekannten sind zum Leben also auf Technologie angewiesen!« »Was sonst?« gab ich leise zurück. »Denken Sie an Valcarcel!« erinnerte mich Demeter. »Ich hatte ziemliche Angst, daß diese Zivilisation 39
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sich vielleicht auf mentale Kräfte stützt. Dann hätten wir hier wenig zu bestellen gehabt. Auf diesem Gebiet sind wir noch sehr rückschrittlich!« Wir verlangsamten unser Tempo. Auf den letzten Metern war der Weg ziemlich steil gewesen, und der Aufstieg war uns nicht leichtgefallen. Ich schlängelte mich an D. C. vorbei nach vorn und legte mich auf den Boden. Kriechend bewegte ich mich vorwärts. Nach kurzer Zeit konnte ich den Handscheinwerfer ausschalten. In dem Raum, der vor uns lag und aus dem uns der Maschinenlärm entgegenschlug, gab es Licht. Wir waren diesem Raum so nahe gekommen, daß wir auf unsere Scheinwerfer verzichten konnten. Ich warf einen Blick zu Seite. Auf dem anderen Ufer des Kanals robbte Inky vorwärts. Ich bedeutete ihm, zurückzubleiben. Wenn es dort vorn eine Falle gab, dann war es besser, wenn nur einer von uns hineintappte. So geräuschlos wie möglich bewegte ich mich vorwärts. Ich erreichte eine Halle, einen riesenhaften Raum, den ich von meinem Standort aus gut überblicken konnte. Ziemlich rasch wurde mir klar, was sich unter mir abspielte. Die fremdartig aussehenden Maschinen bauten das Gestein des Mondes ab. Aus diesem Mondgestein wurde das Wasser gewonnen, das anschließend mit starken Pumpen in ein großes Becken befördert wurde. Vier stählerne Säulen hielten das Becken, das man in der Wölbung des Felsendoms untergebracht hatte. Ich befand mich an der Verbindung dieses Wasserspeichers mit dem Kanal. Wenn ich mich etwas erhob, konnte ich 40
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auf der gegenüberliegenden Seite zwei weitere Abflüsse erkennen. Also war die Knoblauch-Plantage nicht die einzige Pflanzung auf diesem Mond. Ich drehte mich um. »Ihr könnt kommen!« rief ich gedämpft. Lebewesen hatte ich in dem Felsendom nicht sehen können, nur Maschinen. Auch von Abwehrvorrichtungen war nichts zu erkennen gewesen. Offenbar rechneten die Erbauer dieser Anlage nicht mit unerwünschten Besuchern. »Gewaltig«, flüsterte D. C. neben mir. »Ich habe die Anlagen auf Luna gesehen, aber diese hier sind entschieden kleiner und vermutlich auch leistungsfähiger!« »Mit anderen Worten«, setzte ich ihren Gedankengang fort, »wenn es uns gelingt, mit den Erbauern Freundschaft zu schließen, könnte die Menschheit ein gutes Geschäft machen.« »Mag sein«, murmelte D. C. »Es fragt sich nur, was für ein Preis dafür zu zahlen wäre!« Nachdenklich betrachtete sie die Stützkonstruktion des Wasserbeckens. »Glauben Sie, daß Sie dort hinunterklettern könnten?« Ich zuckte mit den Schultern. Das Becken lag mindestens dreißig Meter über dem Boden, und ich konnte mir angenehmere Beschäftigungen vorstellen, als dreißig Meter eines Stahlgerüsts zu durchklettern. Aber es gab keine andere Wahl, wenn wir weiter vordringen wollten. »Ich versuche es«, kündigte ich an. »Inky, gibst du mir im Notfall Feuerschutz?« »Selbstverständlich«, sagte Inky sofort. Corve nickte. D. C. sah mich einen Augenblick lang nachdenklich an. 41
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»Aber nur im äußersten Notfall«, sagte sie leise. »Nur, wenn gar keine andere Möglichkeit mehr besteht!« Ich wußte, was sie sagen wollte. Der erste Kontakt zwischen zwei galaktischen Völkern war ein entscheidendes Ereignis. Der kleinste Fehler konnte katastrophale Folgen für alle Beteiligten haben. Mißverständnisse und Kurzschlußhandlungen mußten um jeden Preis verhindert werden. Kam es bei einem solchen Kontakt zu einem Schußwechsel, würde sich das Verhältnis beider Parteien nur überaus schwer wieder normalisieren lassen. Um dieses Risiko zu vermeiden, mußte unter Umständen ein Opfer gebracht werden, das Opfer eines Menschenlebens. Was D. C. mir mit ihren Worten hatte andeuten wollen, war, daß sie notfalls mich opfern würde, um einen Konflikt zwischen den Menschen und den Demetriden zu vermeiden. Mit dieser erfreulichen Aussicht im Gepäck, machte ich mich an den Abstieg. Zunächst turnte ich am Rand des Beckens entlang, bis ich eine der Säulen erreicht hatte. Dort tauchte sofort die erste Schwierigkeit auf. Die Außenwand des Beckens war glatt, daran fand ich keinerlei Halt. Ich schätzte die Höhe dieser Wand auf fünf Meter. Die Außenkante der viereckigen Säule bildete die Fortsetzung dieser Wand. Mir blieb keine andere Wahl. Ich mußte mich fallen lassen und darauf hoffen, im Fallen sofort eine der Streben zu fassen zu bekommen. Gelang mir das nicht, würde mein Fall erst auf dem Felsboden der Halle enden, und bei einer Höhe von dreißig Metern machte ich mir keine Illusionen, wie dieses Ende für mich aussehen würde. Noch einmal sah ich mich um, aber es gab keine andere Lösung. 42
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Ich ließ mich fallen, parallel zur Außenwand des Riesentanks. Ich konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken, als hartes Metall gegen meine Finger schlug und einen Sekundenbruchteil später ein Schmerz meine Schultern durchzuckte, als sollten mir die Arme aus den Gelenken gerissen werden. Meine Knie prallten gegen eine Strebe, und wieder stöhnte ich unterdrückt auf. Obwohl mir die harte Kante des Metalls in die Finger schnitt, lockerte ich meinen Griff nicht. Nach wenigen Sekunden hörte die Pendelbewegung meines Körpers auf. Meine Füße fanden Halt. Eine neue Schmerzwelle durchraste mich, als ich endlich den Griff etwas lockern konnte. Über meine Handgelenke liefen schmale Blutfäden; den Mittelfinger der linken Hand hatte ich mir bis auf den Knochen aufgerissen. Die Verletzung war nicht lebensgefährlich, aber sie tat scheußlich weh. »Gut gemacht«, rief Inky herüber. Dieser Zuspruch war als schmerzlinderndes Mittel nicht zu gebrauchen. Trotzdem konnte ich mich an dieser Stelle nicht lange aufhalten. Jeder Demetride, der die Halle betrat, konnte mich sofort sehen. Ich machte mich an den Abstieg. Er erwies sich als einfacher, als ich gedacht hatte. In dem Gewirr von Metallstreben fand ich jederzeit Halt für Hände und Füße, auch wenn ich mich stellenweise geradezu akrobatisch krümmen und winden mußte. Auf diese Weise legte ich Meter um Meter zurück, die stählerne Säule hinab, die das Wasserbecken trug. Dabei hielt ich unausgesetzt nach Demetriden Ausschau, auch wenn ich gar nicht wissen konnte, wie die Bewohner des Mondes 43
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überhaupt aussahen. Ich wußte auch, daß ich im Ernstfall überhaupt keine Chancen haben würde, zur Waffe zu greifen. Ich hatte vollauf damit zu tun, meinen Halt zu sichern. Wenige Meter über dem Boden angelangt, hörte ich neben mir, in unmittelbarer Nähe, ein eigenartig klickendes Geräusch. Sofort ließ ich mich los. Ich fiel einige Meter, rollte mich ab und kam wieder auf die Füße. Meine Rechte zuckte zum Gürtel hinunter und umklammerte den Kolben des Nadlers. »Was ist los?« hörte ich Inky gedämpft rufen. Ich zuckte mit den Schultern. »Ein Geräusch«, gab ich zurück. Ich sah mich um. Von Lebewesen war nichts zu sehen, das einzige, was sich außer dem Stoßtrupp der TimeSquad in dem Felsendom bewegte, waren die Maschinen, die sich in ihrer Arbeit nicht stören ließen. Was war das für ein Klicken gewesen, fragte ich mich insgeheim. Eine Kamera vielleicht? Ein automatisches Überwachungsgerät, das unser Eindringen sofort einer Wachmannschaft meldete? Ich nahm die Hand von der Waffe. Unter gar keinen Umständen durfte ich den ersten Schuß abgeben, es hätte verheerende Konsequenzen haben können vor allem, wenn man daran dachte, daß die Demetriden uns erkennbar voraus waren, was Technologie betraf. Ich bewegte mich so leise und vorsichtig wie möglich. Nach wenigen Minuten fand ich dann eine Möglichkeit, meine Gefährten auf den sicheren Boden der Halle zu bringen, ohne ihnen eine ähnlich halsbrecherische Kletterei zumuten zu müssen, wie ich sie gerade erst hinter mich gebracht hatte. 44
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»Inky!« rief ich in die Höhe. »Haltet euch am Rand des Beckens fest und bewegt euch auf die Säule halbrechts von euch zu. Dort gibt es einen Lift!« »Verstanden!« gab Inky zurück. Einen Lift gab es, daran hatte ich keinen Zweifel. Ich sah die kleine Plattform aus Metall und die Schienen, an denen diese Plattform in die Höhe steigen konnte. Nur die Bedienungselemente des Lifts fand ich nicht, weder Hebel noch Druckknöpfe. Einen Augenblick lang beschlich mich die Furcht, der Lift könnte vielleicht auf Gedankenimpulse reagieren. In diesem Fall hätten wir es mit einem Volk von Telepathien zu tun gehabt – ein alles andere als erfreulicher Gedanke. Ich stand auf der metallenen Plattform und ärgerte mich, daß ich den Lift nicht in Betrieb setzen konnte. Ärgerlich stampfte ich mit dem Fuß auf. Ich hatte gerade noch Zeit, mich auf den Boden zu werfen, als sich der Lift in Bewegung setzte. Mit erschreckender Geschwindigkeit raste die Platte in die Höhe. Zehn Sekunden später hatte sie die Spitze der Säule erreicht und, bremste abrupt. Nur um Haaresbreite entging ich dem Schicksal, von der Platte zu fallen und mir unten den Schädel einzuschlagen. »Das ist kein Lift«, schimpfte ich lautstark, »das ist eine verkappte Hinrichtungsmaschine!« »Regen Sie sich nicht auf, Bistarc«, ermahnte mich D. C. »Die Erbauer werden sich bei der Konstruktion dieses Aufzugs sicherlich etwas gedacht haben. Wie haben Sie das Ding in Tätigkeit gesetzt?« »So!« sagte ich und wiederholte mein Stampfen. Die Fahrt abwärts verlief fast noch schneller als der Aufstieg, und das Bremsmanöver war so hart, daß D. C. 45
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und ich in die Knie brachen und von der Plattform fielen, zum Glück nur einige Zentimeter über dem Erdboden. »Habe ich es nicht gesagt«, erklärte ich wütend. »Das ist eine Mordmaschine!« »Ich glaube es«, versetzte D. C. »Würden Sie mich jetzt bitte loslassen. Ich kann auch ohne Ihre Hilfe aufstehen.« Ich entschuldigte mich und ließ sie los. Demeter ging zu dem Lift hinüber, der uns voller Unschuld silberfarben anglänzte. D. C. versetzte dem Ding einen Tritt, und prompt raste es wieder in die Höhe. Eine Minute später hatte sich der Stoßtrupp der Time-Squad wieder gesammelt. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, überlegte Inky laut. »Entweder haben die Demetriden ein besonders gut ausgebildetes Gleichgewichtsgefühl, oder der Lift wurde für Wesen gebaut, die keinerlei Probleme mit dem Gleichgewicht haben – Maschinen. Absturzgefahr besteht bei diesem Lift nur für Wesen, die erschrecken, weil sie kein Geländer sehen, oder von der Beschleunigung überrascht werden. Ansonsten ist dieser Lift so gut wie jeder andere auch.« »Na«, murmelte ich. »Ich weiß nicht recht.« »Die Sache ist doch ganz einfach«, belehrte mich Inky. »Dieser Lift führt exakt senkrecht in die Höhe. Der Vektor dieser Bewegung verläuft ebenfalls exakt senkrecht. Eine Maschine, die auf dieser Plattform steht, kann nicht herunterfallen, weil es dafür keinen Kraftvektor gibt – sie erschrickt nicht, bewegt sich also nicht. Folglich kann sie auch nicht herunterfallen. Das gleiche würde auch für ein Lebewesen gelten, das solche Kräfte 46
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genau in Vektoren zerlegen kann. Wer auf dem Lift erschrickt, um sich greift und die Balance verliert, ist natürlich verloren.« »Maschine oder Lebewesen?« überlegte D. C. halblaut. »Welche dieser Möglichkeiten ist richtig?« »Maschinen«, antwortete Inky sofort. »Ich kann mir kein lebendes Wesen vorstellen, dessen Gleichgewichtssinn so exakt, schnell und zuverlässig wäre wie bei einem Computer.« »Lebewesen«, konterte Corve sofort. »Kennst du vielleicht Roboter, die Knoblauch essen?« »Warum nicht?« sagte Inky achselzuckend. »Wenn es um Maschinen geht, wundert mich gar nichts mehr.« »Diese Diskussion bringt uns nicht weiter«, entschied D. C. »Wir werden nach den Benutzern des Lifts suchen, dann haben wir die Antwort!« Wenn ich mich von dem Anblick des Felsendoms hatte beeindrucken lassen, dann war ich einer Tauschung erlegen. Der Anblick, der sich uns wenig später bot, übertraf die ersten Eindrücke bei weitem. In unmittelbarer Nachbarschaft hatten wir eine weitere Maschinenhalle gefunden, nicht minder imposant als die erste. Dort hatten wir dann den Antigravschacht entdeckt, der in die Tiefe des Mondes führte, Der Schacht war groß genug, um mindestens zehn Personen Platz zu bieten, und wurde von starken Lampen erhellt. Er war aber so lang, daß wir das andere Ende trotz der Beleuchtung nicht sehen konnten. Dies war der erste Hinweis auf das, was uns erwar-tete. Wir hatten diesen Schacht benutzt, um unsere Erkundung fortzusetzen. Was wir gefunden hatten, wa47
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ren Maschinen, Maschinen und nochmals Maschinen. Der Mond Demeter schien eine einzige riesige Baustellenlandschaft zu sein. Überall wurden Stollen vorgetrieben, Gänge angelegt und große Hallen aus dem Fels gesprengt. Lebewesen hatten wir nicht entdeckt, aber der Anblick der Roboter hatte uns reichlich entschädigt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich echte Roboter gesehen. Natürlich gab es auch auf der Erde Maschinen, die Arbeiten ausführten. Genau das – Arbeitsmaschine – hatte das Wort Roboter ursprünglich bedeutet, dann hatte sich der Begriff im Sinn geändert. Eine Zeitlang hatte man bei dem Wort an einen Maschinenmenschen gedacht, aber dieser Bedeutungswandel hatte nicht lange angehalten. Moderne Arbeitsmaschinen hatten nichts Menschenähnliches mehr an sich, wenn man von den Greifwerkzeugen absah, mit denen viele derartige Maschinen ausgestattet waren. Aus diesen Konstruktionen waren dann die sogenannten Robotfabriken hervorgegangen – riesige Anlagen, in die Rohstoffe eingeführt wurden, die dann von einem zusammenhängenden Maschinenkomplex zu einem Fertigprodukt verarbeitet wurden. Menschen waren in solchen Fabriken fast nur noch in Kontrollfunktionen tätig. Die Roboter, die wir zum erstenmal im Innern von Demeter sahen, waren von ganz anderer Art. Dies waren jene Roboter, von denen Menschen in früheren Jahrhunderten geträumt hatten – stark menschenähnliche Konstruktionen, die alle das konnten, was ein Mensch auch fertigbrachte, nur schneller, präziser und mit mehr Kraft. Es waren Roboter, die man an jeden be48
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liebigen Arbeitsplatz stellen konnte. Was sie von Menschen unterschied, war – abgesehen vom leicht abweichenden Äußeren – die Tatsache, daß diese Maschinen weder Erschöpfung kannten noch unter der Monotonie von Arbeiten litten. »Phantastisch!« rief Inky. Er war sichtlich begeistert. D. C. sah mich an. »Halten Sie es für möglich, eine dieser Maschinen mitzunehmen?« fragte sie nachdenklich. Ich zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher«, gestand ich. »Rein technisch ließe sich das Problem lösen. Aber wir wissen nicht, was die Demetriden davon halten werden, wenn wir ihnen eine ihrer Maschinen stehlen. Und es ist auch nicht sicher, was die Maschinen selbst von einer Entführung halten werden. Das sind keine sturen Automaten, die sich gegenseitig mit Farbe bespritzen, wenn man es ihnen befiehlt. Diese Maschinen können denken. Sehen Sie sich nur diesen Burschen dort an!« Dieser Bursche, das war der Leiter einer Sprengkolonne. Mit großer Gründlichkeit suchte er die Stellen für die Sprenglöcher aus, dann winkte er andere Maschinen heran, die an den vorgegebenen Stellen ihre Bohrer ansetzten. Insgesamt acht Sprenglöcher wurden, gebohrt. Es gab bestimmt einige Tausend verschiedene Konstellationen, bei denen das Sprengergebnis ähnlich gut gewesen wäre. Vor dem Problem, zwischen zwei gleichguten Lösungen ein und desselben Problems eine Entscheidung zu treffen, hätte jeder irdische Automat versagt. Der robotische Sprengmeister der Demetriden aber zeigte ein Verhalten, das mich so merkwürdig dies in diesem Zusammenhang klingen mochte – an ei49
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nen irdischen Sprengmeister erinnerte, der große Sachkenntnis mit jenem undefinierbaren »Riecher« verbindet, der aus jahrzehntelanger Berufserfahrung erwächst und sich nicht logisch erfassen läßt. Der Sprengmeister gab einen hohen Pfeifton von sich. Die anderen Maschinen zogen sich zurück, während er die Sprengkapseln in den Löchern verstaute und mit Drähten verband. Uns hatte man bisher nicht beachtet, die Maschinen schienen uns überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. Endlich drehte sich der Sprengmeister herum. Er mußte uns sehen, jedenfalls erkannte ich am Kopf der Metallkonstruktion einige Linsen. Er stieß einen weiteren, hohen Pfeifton aus, diesmal erheblich lauter. »Stehenbleiben«, flüsterte ich. »Wir wollen sehen, wie er mit diesem Problem fertig wird!« Wieder erklang das Pfeifen, noch höher und noch lauter. Die Maschine rollte auf ihren Ketten auf uns zu. Sie breitete die sechs Arme aus, an denen die verschiedenen Werkzeuge befestigt waren. Ein halbes Hundert anderer Werkzeuge klebte förmlich am Rumpf des Robots. Dann begann der Robot zu sprechen. Wir verstanden kein Wort, aber das hatten wir erwartet. Verblüffend aber war, daß uns seine Worte auf merkwürdige Weise vertraut klangen. Er gab in diesem Satz keinen Laut von sich, der nicht in irgendeiner menschlichen Sprache vorhanden gewesen wäre. Da sich die Agenten der Time-Squad – aus naheliegenden Gründen – sehr intensiv mit Sprachen zu beschäftigen hatten, konnte ich sogar einen Schritt weiter gehen. Die Laute, die der Sprengmeister von sich gab, stammten wenn 50
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man es so ausdrücken wollte – nur aus Kultursprachen der Erde. Die typischen Schnalzlaute, wie man sie bei den südafrikanischen Buschmännern traf, fehlten ganz. Ich machte meine Gefährten auf diese Entdeckung aufmerksam. »Zufall«, wehrte Corve ab. D. C. runzelte die Stirn. Der Sprengmeister hatte uns erreicht. An ihm vorbei konnten wir nicht, er versperrte den Stollen vollständig. Ich wartete darauf, daß er uns berührte. Wie würde er mit uns umgehen? Was schrieb ihm seine Programmierung vor? Würde er uns als Verwandte seiner Erbauer ansehen oder als Tiere, die sich zufällig in den Stollen verirrt hatten?
Die stählernen Arme packten zu. Der Robot handelte mit einer Geschwindigkeit, der wir nichts entgegenzusetzen hatten. Noch bevor ich auch nur den kleinsten Muskel rühren konnte, hatte er mich am Genick gepackt. Unnachsichtig drehte er mir den Kopf herum. Wenn ich mir nicht den Hals brechen lassen wollte, mußte ich die Bewegung mitmachen. »Laß los, du Blechkerl!« schimpfte Inky, aber der Robot reagierte nicht. Unerbittlich schob er uns vor sich her, ohne auf unser Fluchen zu achten. Als er plötzlich anhielt, glaubte ich bereits meine Wirbel bersten zu hören. Die Maschine hatte naturgemäß wesentlich kürzere Reaktionszeiten, daher kam ihr Stop für uns völlig unerwartet. Noch während ich die Zähne zusammenbiß, um den Schmerz zu unterdrüc51
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ken, hörte ich hinter mir das dumpfe Grollen der Sprengung. Sekunden später schob sich eine Staubwolke heran, die uns völlig einhüllte. Der Staub legte eine undurchdringliche Wand um uns, fraß sich in die Lungen und trieb uns Tränen in die Augen. Mit Husten und Augenwischen vollauf beschäftigt, bemerkte ich zunächst gar nicht, daß der Robot meinen Hals nicht länger umklammert hielt. Als mir dies auffiel, setzte ich mich sofort in Bewegung. Hustend und keuchend stolperte ich vorwärts, der Staub war unglaublich dicht und fein, ich bekam kaum noch Luft. Sehen konnte ich nichts, mühsam mußte ich mich an den Wänden entlang tasten. Erst nach mehr als einhundert Metern Strecke wurde es langsam wieder hell um mich. Trotzdem konnte ich nicht genug sehen, um verhindern zu können, daß ich stolperte. Ich kippte vornüber und hörte, wie das Metall meines Nadlerkolbens auf anderes Metall schlug. Ich schrie erschreckt auf, als ich den Boden unter mir wegsacken fühlte. Etwas Hartes schlug gegen meine Knöchel, ich wirbelte durch die Luft. Ich spürte, wie ich fiel, einige Meter tief, dann prallte ich irgendwo mit dem Kopf auf. Schlagartig verlor ich das Bewußtsein. Es war kalt um mich herum. Kalt und feucht. Als erstes faßte ich nach meinem Kopf, in dem ein kleines Männlein mit beachtlich großen Stiefeln herumzutrampeln schien. Auch meine Hüfte schmerzte, dort, wo der Nadler in seinem Halfter steckte. Sehr vorsichtig richtete ich mich auf. Langsam begriff ich, was mit mir geschehen war. Offenbar war ich, vom Staub halbblind, auf einen zweiten Lift gestoßen, nicht minder heimtückisch als das er52
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ste Exemplar. Als der Kolben des Halfters auf die Transportplatte aufgeschlagen war, hatte sich der Lift sofort in Bewegung gesetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch mit den Beinen auf dem Boden des Ganges gelegen. Daher war mein Körper dem hinabsausenden Lift gleichsam nachgefallen, bis er ihn eingeholt hatte. Ob ich bewußtlos geworden war, weil ich im Fallen mit dem Kopf gegen die Schachtwand des Lifts gestoßen war oder ob ich beim Aufprall auf die Plattform die Besinnung verloren hatte, ließ sich jetzt nicht mehr feststellen. Mir genügte, daß ich noch lebte und leidlich gesund war. Mit der gebotenen Vorsicht bewegte ich mich von der Transportplatte herunter. Ein Fußtritt genügte, um das verwünschte Gefährt in die Höhe zu jagen. Anschließend konnte ich den massiven Fels betrachten, den die Platte verdeckt hatte. Tiefer hinab ging es also nicht, ich hatte die Sohle des Schachtes erreicht. Ich fluchte leise in mich hinein. Meine Lage war alles andere als erfreulich. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo ich mich befand, ich wußte auch nicht, in welchem Bereich der Unterwelt von Demeter sich meine Freunde herumtrieben. Wenn ich Pech hatte, dann war der halbe Mond von Höhlen, Gängen und Hallen durchsetzt, ein Labyrinth, in dem sich eine Division spurlos hätte verstecken können. Das Gefühl, das sich bald nach dieser Enttäuschung einstellte, war nagender Hunger. Ich mußte etwas essen, und das möglichst bald. Mißtrauisch untersuchte ich meine Vorräte. Wie bei Unternehmen dieser Art üblich, hatte man uns mit platz- und gewichtssparender Kost ausgerüstet. 53
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Unter anderem hielt ich ein durchsichtiges Päckchen in der Hand, das eine bräunliche Masse enthielt. Die gedruckte Aufschrift behauptete, daß es sich dabei um Rinderbraten handelte. Ich wußte, daß für die Time-Squad hervorragende Köche arbeiteten, ich hatte ihnen einige Male über die Schultern geschaut. Aber angesichts der Barbarei, einen Rinderbraten in einer durchsichtigen Zahnpastatube einzusperren, erschien mir die Geisteshaltung der Inder, die ihre Rindviecher gar nicht erst anfaßten, verständlich. Ob mit Widerwillen oder nicht, ich mußte etwas essen. Um das bräunliche Mus halbwegs genießbar zu machen, brauchte ich vor allem Wasser, und um das schien es schlecht bestellt. Während des Sturzes hatte sich meine Feldflasche selbständig gemacht, sie lag auf dem Gang, inmitten eines feuchten Fleckes auf dem felsigen Boden. Beim Aufschlag war die Flasche geplatzt; was sich noch in den Trümmern befand, reichte gerade aus, die Fingerspitzen naß zu machen. Ich machte mich auf den Weg. Wohin ich ging, konnte mir gleichgültig sein. Jede Richtung war so gut wie die andere. Ich mußte nur Wasser finden, und das möglichst bald. Seit ich entdeckt hatte, daß ich kein Wasser mehr besaß, war der Hunger einem immer stärker werdenden Durstgefühl gewichen. Daß dieser Durst mehr psychischer als körperlicher Natur war, wußte ich, aber das änderte an diesem Gefühl nichts. Ich konnte mir ausrechnen, daß dieses Verlangen nach Wasser sehr bald immer stärker werden würde – so lange, bis ich vor Durst fast den Verstand verlieren würde. »Vermaledeites Unterbewußtsein!« schimpfte ich. 54
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Die Stille, die mich umgab, war fast gespenstisch. Ich hörte nur meine eigenen Schritte und das Geräusch meines Atems, mehr nicht. Wenn ich etwas anderes hören wollte, blieb mir nur die Möglichkeit, mit mir selbst zu reden. Die ersten Räume, die ich betrat, waren leer. Ich konnte nur die glatten, plastikverkleideten Wände sehen. Die Platten dieser Verkleidung waren von einigen hundert kleinen Löchern durchsetzt. Ich vermutete, daß die Demetriden dieses System verwendeten, um eine größtmögliche Auswahl an Verwandlungsmöglichkeiten bei der Gestaltung dieser Räume zu haben. Ob Tapeten, textile Bespannungen, Holztäfelungen, alles ließ sich mühelos, an den Wänden befestigen, vermutlich sogar nicht allzu schwere Möbelstücke. »Vorausgesetzt, diese Kammern sind als Wohnräume gedacht«, überlegte ich laut. Ich erinnerte mich an den ersten Felsendom, in den wir eingedrungen waren. Dort waren die Wände unverkleidet gewesen. Es lag also nahe, in den ausgekleideten Räumen Zimmer zu sehen. Wenn meine Überlegung stimmte, dann mußte es irgendwo in der Nähe auch Wasser geben. Ein Lebewesen, das ohne Wasser auskam, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Meine Vermutung bestätigte sich bereits wenige Minuten später. In einem wesentlich größeren Raum, vermutlich als Versammlungshalle gedacht, stieß ich auf einen kleinen Springbrunnen, aus dessen Düsen klares, sauberes Wasser plätscherte. Das Becken wirkte in diesem Zusammenhang etwas deplaciert; es erinnerte mich stark an jenen scheußlichen Bau- und Wohnstil, den ein scharfzüngi55
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ger Kritiker einmal als Pittsburgher Renaissance bezeichnet hatte. Die Ähnlichkeit mit längst vergangenen Stilelementen der Erde war nicht zu übersehen, aber diese einzelnen Elemente paßten überhaupt nicht zusammen. Gehalten wurde das Becken von einer Konstruktion aus Chromstahl und Glasplastik ohne jeden Schnörkel, eine typische Konstruktion aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Darauf saß ein barockes Metallbecken aus Bronze, gekrönt. von einigen scheußlich aussehenden Drachen, die unverkennbar chinesisch beeinflußt waren. Ich trank, bis mein Magen zu schmerzen begann, dann erst wurde mir langsam klar, daß dieser Springbrunnen in diesen Räumen nichts zu suchen hatte, überhaupt nichts. »Es sei denn …«, murmelte ich. Es gab eine Möglichkeit, die Existenz dieses Springbrunnens zu erklären, aber diese Erklärung erschien mir widersinnig. Es sprach jeder Vernunft Hohn, anzunehmen, daß es eine Beziehung zwischen den Bewohnern des Mondes und den Menschen geben sollte. Obwohl – da war zunächst einmal die Knoblauchplantage, dann die merkwürdige Sprache des Robots, und nun kam noch der Springbrunnen dazu! Aber wie hätte eine Beziehung zwischen den Demetriden und Menschen aussehen sollen? Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich, das war die Lösung. Zwischen meiner Gegenwart und der Zeit, in der ich mich aufhielt, lagen 80 000 Jahre. Was hatte in dieser Zeit nicht alles geschehen können? Fast eine Million Jahre hatte der Mensch gebraucht, um sich – grob vereinfacht ausgedrückt – vom Affen über die ersten Af56
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fenmenschen zu Frühformen des Menschen weiterzuentwickeln. In weiteren einhunderttausend Jahren war aus dem Frühmenschen jene Spezies geworden, die wir als homo sapiens kannten. Von da an war die Entwicklungskurve des Menschen rasend schnell in die Höhe gestiegen. Zwischen der ersten Verwendung des Eisens als Werkstoff und einer regelrechten Stahlindustrie hatten fast drei Jahrtausende gelegen; von der Entdeckung der Transistoren bis zu deren Verwendung in subminiaturisierten integrierten Schaltungen in Kleinkomputern waren nicht einmal fünfzig Jahre vergangen. Wenn das Tempo der menschlichen Entwicklung nicht erlahmt war, war es durchaus denkbar, daß wir im Innern des Mondes Demeter auf Spuren menschlicher Kultur stießen. Was wußte ich, in welchen Winkeln der Galaxis sich Anno 82 378 Menschen herumtrieben? Vielleicht hatten sie längst andere Galaxien erreicht, vielleicht gar … Mit einiger Mühe holte ich mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Denkbar war durchaus, daß Menschen bereits die Grenzen ihres Universums erreicht hatten, aber das half mir nicht einen Schritt weiter bei der Lösung meiner eigenen Probleme. »Ich brauche einen Lageplan«, überlegte ich laut. Ich mußte einen Weg finden, aus diesem Labyrinth herauszukommen, andernfalls konnte ich mich abschreiben. Noch hatte ich genug Nahrungsmittel, um zwei Wochen durchzuhalten, vielleicht auch länger, wenn ich sorgsam damit umging. Wasser hatte ich gefunden, damit war mein Überleben fürs erste gesichert. Dennoch mußte ich mich beeilen. Wenn D. C. und die anderen es geschafft hatten, beieinander zu bleiben 57
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und noch wußten, wo sie sich befanden, würden sie sich in absehbarer Zeit zurückziehen. Ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als mich meinem Schicksal zu überlassen. Das war das Risiko, das jeder einging, der sich für den Dienst bei der Time-Squad entschloß. »Vorwärts«, ermunterte ich mich selbst. Die Peitschenschnur pfiff durch die Luft. Noch bevor sich das geflochtene Leder in meinen nackten Rücken grub, zuckte ich zusammen. »An die Arbeit, du Faulpelz!« schrie mich der Aufseher an. »Los, vorwärts! Wir füttern euch nicht zum Spaß durch!« Ich rappelte mich hoch und griff wieder nach der Spitzhacke. Ich spürte warmes Blut über meinen Rücken laufen, quer über die Narben, die frühere Peitschenschläge hinterlassen hatten. Die Aufseher machten nie den Fehler, uns totzuprügeln. Sie schlagen uns nicht einmal krankenhausreif selbst dann nicht, wenn man alles daransetzte, sie dazu zu provozieren. Sie kannten ihre Sklaven genau, sie wußten, wie man sie zu behandeln hatte. Aus jedem Sklaven eine höchstmögliche Arbeitsleistung herauszuholen, das war ihr Geschäft, auf das sie sich meisterhaft verstanden. Die Mittagssonne strahlte auf uns herab, der Schweiß lief in Strömen über die Körper und brannte in den Wunden, die man uns zugefügt hatte. Ich haßte die Aufseher. Es war ein Unding, mit Hämmern, Hacken und Spaten einen Stollen quer durch die Rocky Mountains bahnen zu wollen. Wozu gab es Sprengstoffe, computerge58
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steuerten Schildvortrieb, die riesigen Maschinen, die in einer Stunde mehr schafften als tausend Arbeiter? Es ging gar nicht um den Stollen, obwohl er gebraucht wurde. Es ging darum, uns langsam das Rückgrat zu brechen, uns fügsam zu machen. Zwei Jahre dieses Arbeitsdienstes hatte ich bereits hinter mir, zehn weitere standen mir noch bevor. Beleidigung eines Hohen hatte die Anklage gelautet; sie war so gut und so schlecht wie jede andere auch. Es gab immer zwölf Jahre Arbeitsdienst, für jedes Vergehen. Wer es schaffte, vor seinem dreißigsten Lebensjahr nicht verurteilt zu werden, galt als Wundermann. In der ganzen Geschichte hatte es nur zwei Männer gegeben, die bis an ihr Lebensende davon verschont geblieben waren; sehr alt waren sie nicht geworden. Die Arbeit war von teuflischer Stupidität. Ein Trupp trieb den Stollen vorwärts, ein anderer schaffte das losgebrochene Gestein aus der Höhle; ein dritter Trupp zerschlug die Brocken zur Größe von Spielzeugwürfeln, ein vierter zerstieß sie in steinernen Mörsern zu Staub. »Schneller!« hörte ich den Aufseher schreien. Die Peitsche strich mir um die Füße. Noch zehn Jahre standen mir bevor. Ein Jahr weiter im Felsengebirge, dann drei Jahre in südamerikanischen Sümpfen, drei weitere in einer Polgegend, dann – zur Krönung der Grausamkeit – drei Jahre als Aufseher. Erst dann bekam man die Heiratserlaubnis, erst dann hatte man zeitweise – seine Ruhe. Mehrfach hatte ich an Flucht gedacht, diese Pläne aber jedesmal wieder verworfen. Wohin hätte ich auch fliehen sollen? Es gab keinen Winkel der Erde, der nicht kontrolliert, nicht den 59
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kleinsten Fleck, der nicht beobachtet wurde. Und jeder Fluchtversuch wurde mit einem Monat Verlängerung der Arbeit bestraft. Darin lag das Perfide. Sie spielten mit uns, sie unterdrückten uns und hatten ihren Spaß dabei. Daß sie uns schuften ließen wie Tiere, wäre vielleicht noch zu ertragen gewesen, nicht aber der ätzende Hohn, der hinter jeder Maßnahme der Aufseher steckte. Es war reiner Zynismus, wenn sie einmal jährlich ein Fest feierten. Sie nannten es roundup, Auftrieb, und genau das war es auch. Einmal jährlich wurden Männer und Frauen sonst schärfstens voneinander getrennt – wie Zuchtvieh zusammengetrieben. Es gab gewaltige Essensportionen für jeden, die Alkoholmengen waren schier unerschöpflich. Und die Aufseher hatten ihren Spaß dabei! Sie genossen es, wenn wir Sklaven an diesen Tagen versuchten, den letzten Rest Menschenwürde zu bewahren, wenn wir trotz der einjährigen Abstinenz nur mäßig aßen, am Alkohol nur nippten und mit den Frauen nur höflich plauderten. Zum tausendsten Mal tastete ich nach dem kleinen Beutel an meinem Gürtel. Ein Griff hätte genügt, niemand hätte mich gehindert. Das Recht, sich selbst zu töten, war jedem belassen worden. Bei der Einlieferung in das Arbeitslager bekam jeder seinen Selbstmordbeutel. Er brauchte nur die Pillen zu schlucken. Sie wirkten allerdings erst einen Tag später – damit die Aufseher etwas zu lachen hatten. Um die Bewegung ausführen zu können, hatte ich meine Arbeit unterbrechen müssen. Trotzdem bekam ich die Peitsche nicht zu schmecken. Der Aufseher hatte die Bewegung beobachtet, er lauerte. 60
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»Nun?« fragte er halblaut. Ich hob die Spitzhacke und ließ sie auf den Fels prallen. Ich legte meinen Haß in die Arbeit, es gab keine andere Möglichkeit zu überleben. Splitter flogen durch die Luft und ritzten meine Haut. Ich spürte es nicht. Ich spürte … Irgend etwas stimmte nicht. Die Bilder um mich herum verschwammen, wurden unscharf und verloren an Farbe. Wo war ich? Ich lag auf dem Boden, dämmerte mir. Harter, nackter Fels, ich spürte es an den Fingerspitzen. Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, die mich umfangen hielt. Ich sah nach oben. Kaltes Licht stach mir in die Augen. Wo war ich? Und wer war ich überhaupt? Ich versuchte zu sprechen, aber mehr als ein Krächzen brachte ich nicht über die Lippen. Langsam richtete ich mich auf. Auf allen vieren kroch ich vorwärts, einem Ziel entgegen, das ich nicht kannte. Ich kam mir vor, als wäre ich im Halbschlaf, noch von den Bildern eines grauenhaften Alptraums benebelt. In meinem Schädel dröhnte es. Wo war die Spitzhacke geblieben? Ich mußte weiterarbeiten, oder der Aufseher würde meinen Rücken mit der Peitsche bearbeiten. Ich wandte den Kopf, aber da war kein Aufseher mehr, auch keine Peitsche. Eine Hitzewelle überfiel mich, ein brennender Durst wütete in meiner Kehle. »Wasser!« krächzte ich. Der Klang meiner Stimme war verändert, ich erkannte sie selbst kaum wieder. Bistarc, fiel mir ein. Du bist Tovar Bistarc! 61
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Und was noch? Zentimeter um Zentimeter robbte ich vorwärts. Aus weiter Ferne erklang ein leises Plätschern. Das Geräusch machte mich fast wahnsinnig. Ich kroch auf die Quelle des Geräusches zu, leckte mir die trockenen, aufgesprungenen Lippen. Ich gierte nach diesem Wasser, alles andere hatte ich vergessen.« Dann sah ich die Quelle. Das Wasser schoß in hohem Bogen aus einem Felsspalt. Es glitzerte verführerisch im Licht der Sonne. Halb besinnungslos vor Durst kroch ich darauf zu.
Es war mehr Instinkt als Vernunft, was mich zurückhielt. So benommen ich auch war, noch hatte ich genügend Verstand, der mir sagte, daß hier irgend etwas nicht stimmen konnte. Ich drehte mich um und kroch mitletzter Kraft in die entgegengesetzte Richtung. Das Plätschern des Wassers tönte in meinen Ohren und wurde immer stärker. Gleichzeitig wuchs in mir das Verlangen, mich diesem Wasser zu nähern. Mit dem letzten Rest freien Willens schleppte ich mich weiter. Meter um Meter legte ich auf diese Weise zurück. Der harte Felsboden scheuerte Hände und Knie blutig, dennoch setzte ich meine Flucht fort. Nur langsam wurde mir klar, daß ich genarrt wurde. Wenn ich auf den Boden blickte, den meine Hände berührten, dann sah ich Fels. Blickte ich nach vorn, entdeckte ich endlose Sanddünen, über denen die Luft flimmerte. Auf den Kämmen dieser Dünen schimmer62
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ten weiß einige Skelette. Es war heller Wahnsinn, vom rettenden Wasser fort auf den sicheren Tod zuzukriechen, aber ich schaffte es. Ich spürte vage, daß mir Bilder vorgegaukelt wurden, daß meine Sinne nur noch eingeschränkt arbeiteten. Tue das Falsche, sagte ich mir. Immer wieder hämmerte ich mir diesen Gedanken ein. Tue das Gegenteil von dem, was dir so aufdringlich als richtig präsentiert wird. Dann war die Illusion verschwunden. Vor meinen Augen tauchte ein völlig neues Bild auf – hell erleuchtete Räume mit Wandverkleidungen aus durchlöchertem Plastikmaterial. Schlagartig verschwand auch der quälende Durst. Ich ließ mich vornüberfallen, total erschöpft. Nach wenigen Sekunden war ich eingeschlafen. Es mußte etwas mit dem Wasser zu tun haben, mit dem Wasser aus dem obskuren Springbrunnen. Auf dem Boden erkannte ich deutlich die Blutspur, die ich hinterlassen hatte, als ich mir die Hände beim Kriechen zerschnitten hatte. Die Spur begann auf der gegenüberliegenden Seite des Brunnenraums, führte dann geradlinig auf den Brunnen zu. Hart an der Wasserquelle beschrieb die Spur einen Bogen, dann zeigte das deutliche Hin und Her, daß mir die letzten Meter sehr schwergefallen waren. Nachträglich überfiel mich noch die Furcht. Diese Falle war teuflisch, sie ließ dem Opfer so gut wie keine Chance. Ich vermutete, daß das heimtückische Wasser irgendeine chemische Substanz enthielt, die auf das Bewußt63
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sein wirkte. Dieses Medikament hatte mir die Szenen im Arbeitslager vorgegaukelt, ihm verdankte ich den quälenden Durst, der mich an den Brunnen zurückführen sollte. Ich konnte mir unschwer ausmalen, was aus mir geworden wäre, hätte ich diesem Impuls nachgegeben. Eine neue Dosis des teuflischen Medikaments hätte die Illusionswelt verstärkt und damit auch das Durstgefühl. Ich hätte mich immer mehr in diese Welt des Wahnsinns hineingesteigert, so lange, bis ich zugrunde gegangen wäre – entweder an körperlicher Erschöpfung oder aber an geistiger Überanstrengung. Soviel hatte ich begriffen. Was ich nicht verstand, war das Problem, warum es diese mörderische Falle überhaupt gab. Ich kam mir vor wie eine Maus, die sich unversehens mit einer Falle konfrontiert sieht, die sie überhaupt nicht erwartet hat. Ein Giftköder im Speiseraum, im Vorratslager – vernünftig. Aber im Badezimmer? Oder sollte ich, ohne es überhaupt zu wissen, mich der Speisekammer des Mondes genähert haben? Gab es auf der anderen Seite des Brunnenraums ein Geheimnis, das mit diesem heimtückischen Mittel gesichert werden sollte? Gesichert vor wem oder was? Ich begann zu ahnen, daß ich auf ein Rätsel gestoßen war, und ich begriff auch ziemlich rasch, daß ich allein nicht in der Lage war, dieses Rätsel zu lösen. Als erstes mußte ich den Anschluß an meine Gefährten wiederherstellen. Wo mochten D. C., Inky und Corve stecken? Ich sah auf die Uhr. Seit zwanzig Stunden hatte ich keinen Kontakt mehr mit meinen Freunden gehabt. Vielleicht hatten sie den Mond längst verlassen. 64
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Erst jetzt kam mir in den Sinn, das zu tun, was ich schon längst hätte tun sollen. Ich mußte versuchen, meinen Weg zu rekonstruieren. Nach den Erfahrungen der letzten Stunden sehr vorsichtig geworden, kehrte ich langsam zu jener Stelle zurück, an der ich nach meinem Sturz in den Liftschacht aufgewacht war. Ein Fußtritt auf den Boden genügte, um die Plattform zu mir zurückkehren zu lassen. Vorsichtig ließ ich mich darauf nieder; ich traute dieser Konstruktion nicht über den Weg. Ein leichter Faustschlag genügte, um den Lift in Bewegung zu setzen. Erstaunlicherweise verlief die Fahrt diesmal recht langsam. »Hm!« machte ich. Ich schlug noch einmal zu, diesmal wesentlich härter. Abrupt stoppte der Lift. Ein neuer Schlag, sehr schwach diesmal, und das Gefährt setzte sich wieder in Bewegung. Offenbar wurde das Tempo der Reise von der Stärke des Signals bestimmt, die dem Lift das Startzeichen gab. Ein leises Antippen genügte, ihn sanft steigen zu lassen. Wer – wie ich – so dumm war, dem Ding einen Fußtritt zu verabreichen, wurde im Raketentempo in die Höhe katapultiert. Die langsame Fahrt des Lifts gab mir Zeit, die Stockwerke zu zählen, die ich passierte. Es waren mehr, als ich geahnt hatte. Die Zahl wurde zweistellig, dann dreistellig, und noch immer stieg der Lift. Stockwerk um Stockwerk glitt an mir vorbei, die Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. Als der Lift endlich stoppte, war ich bei der Zahl vierhundertfünfzig angelangt. Wenn ich pro Etage eine Höhe von drei Metern ansetzte, kam ich auf 1 350 Meter. Die Demetriden hatten also mehr als einen 65
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Kilometer tief in den Mond hineingebaut, jedenfalls an dieser Stelle. Für mich lag auf der Hand, daß kein Baumeister derart in die Tiefe ging, wenn er an den Seiten noch Platz hatte, es sei denn, es lagen besondere Gründe vor. Wenn ich diese Möglichkeit ausschloß, dann ergab sich ein atemberaubendes Bild: eine Kugelschale von mehr als eintausend Meter Dicke, ausgehöhlt wie ein Schwamm. Das ergab Wohn- und Lebensraum für Armeen. Ich korrigierte mich. Wenn man auf der begrenzten Fläche der Stadt New York bei einer höchsten Bauhöhe von fünfhundert Metern zwölf Millionen Menschen unterbringen konnte, wieviele Menschen hätten dann in der von mir errechneten Kugelschale Platz gefunden? Einhundert Millionen? Eine Milliarde? Ich spürte, wie mich die Angst überfiel. Auf was hatten wir uns eingelassen? Was waren das für Wesen, die über derartige technische Möglichkeiten verfügten? Wenn der Mond schon so aussah, wie mochte es da erst auf dem Planeten zugehen, den dieser Mond umkreiste? Ich gab es auf, über dieses Problem länger nachzudenken, bevor ich dabei völlig den Verstand verlor. Ich wollte den Anschluß an meine Freunde wiederherstellen, das war meine vordringliche Aufgabe. Ich versuchte mich zu erinnern, welche Strecke wir zurückgelegt hatten. Nach einigem Überlegen fand ich heraus, daß ich nicht sehr weit von der Stelle entfernt sein konnte, an der wir uns getrennt hatten. Ich tippte den Lift an und glitt einige Stockwerke in die Tiefe. Bei jeder Ausstiegsöffnung ließ ich die Platt66
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form anhalten, und nach kurzer Zeit hatte ich den ersten Hinweis gefunden. Man mußte schon ziemlich scharf hinsehen, um den Pfeil erkennen zu können, den einer meiner Gefährten mit dem Messer in den Fels geritzt hatte. Ich verließ den Lift und sah mir die Markierung genauer an. Das Alter konnte ich nicht schätzen, wohl aber, wer diesen Hinweis hinterlassen hatte. An der Spitze des Pfeiles las ich die beiden Buchstaben D. C. »Inky!« rief ich mit aller Stimmkraft. Ich wartete einen Augenblick lang, aber ich bekam keine Antwort. Mir blieb nichts anderes übrig, ich mußte dem Zeichen folgen und auf diese Weise versuchen, den Anschluß wiederzufinden. Mit einem leisen Seufzen machte ich mich auf den Weg. Der Stollen, den ich entlangmarschierte, war leicht gekrümmt. Ich versuchte, den Radius dieser Krümmung zu berechnen, und kam zu dem Ergebnis, daß dieser Gang einmal um den gesamten Ringwall des Kraters herumführte. Früher oder später mußte ich also wieder an dieser Stelle vorbeikommen. Der Weg zurück zur Zeit-Arche war damit gesichert. Natürlich hätten wir in diesem Labyrinth ein Suchspiel mit einer Laufzeit von Jahren veranstalten können. Auf der Ringstraße, wie ich sie getauft hatte, konnten wir aufeinander warten, uns entgegengehen, einander nachlaufen, und das alles, ohne uns jemals wieder zu Gesicht zu bekommen. In der Praxis war ein solches Versteckspiel ausgeschlossen. Es verstand sich von selbst, daß jeder Versprengte früher oder später ein vorher bestimmtes Ziel aufsuchte und dort darauf wartete, 67
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daß man ihn wieder auflas. In unserem Fall war dieser Anlaufspunkt die Zeit-Arche. Irgendwann mußte jeder von uns dorthin zurück. Obwohl ich mich alles andere als wohl fühlte, schlug ich einen flotten Trab ein. Die beiden Ohnmachten waren mir gar nicht gut bekommen, ein vernünftiger Arzt hätte mich wahrscheinlich bereits nach der ersten Gehirnerschütterung für einige Tage ins Bett gesteckt, aber an derlei war im Augenblick nicht zu denken. Je mehr ich von dem Innenleben des Mondes zu sehen bekam, um so größer wurde meine Besorgnis. Die Ausmaße des Abenteuers, auf das wir uns eingelassen hatten, waren einstweilen nicht einmal grob abzuschätzen. Ich kam mir vor wie ein römischer Legionär, der bei einem Erkundungsvorstoß unversehens im Hauptquartier einer modernen Luftlandedivision auftaucht. »Wir müssen von hier verschwinden«, murmelte ich, während ich meinen Trab fortsetzte. Noch war der Legionär nicht entdeckt worden, noch gab es die Möglichkeit, sich sehr schnell und überaus leise zu verziehen. Wenn erst einmal das Alarmsignal ertönte, war es zu spät. Unterwegs kam ich an einem Dutzend und mehr Liftschächten vorbei, ein weiterer Beweis für meine Vermutung, daß sich der Stützpunkt der Demetriden nicht nur an einer Stelle tief in den Boden des Mondes hineingefressen hatte. Was mich allerdings immer mehr wunderte, war die Tatsache, daß ich bislang kein lebendes Wesen entdeckt hatte. Roboter gab es dafür in großer Zahl. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ab und zu in einen der Räume hineinzuspähen, die von der Ringstraße mit68
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einander verbunden wurden. Überall fand ich Maschinen an der Arbeit. Sie fertigten geheimnisvolle Apparate an, andere Robots waren damit beschäftigt, aus dem Gestein des Mondes Wasser und Atemluft herzustellen. Die dabei anfallenden Abfälle wurden bis zum letzten Krümel weiterverarbeitet ich fand große Lager, in denen Metallbarren gestapelt waren, Silos für feingemahlenen Gesteinsstaub, Tanks für flüssige Produkte der Gesteinszerlegung. In einer anderen großen Halle war ein halbes Hundert Robots damit beschäftigt, Waffen herzustellen. Ich konnte einen Kolben erkennen, einen Abzug und ein unterarmlanges, röhrenförmiges Etwas, das auf diesem Kolben saß. Um was für eine Art Waffe es sich dabei handelte, wie sie funktionierte und worauf ihre Wirkung beruhte, konnte ich nicht feststellen. Ich brachte nicht den Mut auf, eine der Waffen zu stehlen. Nach dem Zusammentreffen mit dem Sprengmeister hatte ich einen gewaltigen Respekt vor diesen Maschinen bekommen. Ich konnte nicht absehen, wie sie reagieren würden, wenn ich versuchte, eine der Waffen an mich zu bringen. Mit den Waffen, wie sie auf der Erde verwendet wurden, hatten diese Geräte – abgesehen von den typischen Konstruktionsmerkmalen wenig gemein. Es handelte sich weder um antike Feuerwaffen noch um Laser, und einen Nadler hätte ich sofort erkannt. Damit hatte ich einen neuen Beweis – die Demetriden waren uns Menschen technisch weit voraus, beängstigend weit. Bei meinem nächsten Vorstoß in eine der Hallen fand ich endlich einen meiner Freunde wieder. 69
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Corve Munther war völlig damit beschäftigt, eine Pflanze zu bestaunen und sorgfältig abzuzeichnen. Daß ich den Raum betreten hatte, nahm er überhaupt nicht wahr, und er erschrak auch nicht, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte. »Jetzt nicht stören«, wehrte er ab, ohne sich umzudrehen. »Ich muß dieses Gewächs beobachten!« Mir war rätselhaft, was an der Pflanze so bestaunenswert war. Für mich sah sie aus wie tausend andere Pflanzen auch – klein und dunkelgrün. »Wo sind Inky und D. C. ?« fragte ich Corve. Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, murmelte er und zeichnete wie besessen weiter. »Irgendwo. Ich habe sie aus den Augen verloren!« Ich stöhnte leise auf. Als Raumpilot mochte Corve Munther zur Spitzenklasse zählen, aber als Kampfgefährte war er eher eine Belastung. Sobald irgend etwas Grünes in seinem Blickfeld auftauchte, drehte er durch. »Laß jetzt dieses Unkraut in Frieden und komme mit!« herrschte ich ihn an. »Wir müssen D. C. und Inky suchen!« »Das ist kein Unkraut!« begehrte Corve auf. »Das ist eine glossopharyngea evai!« »Hat sie sich vielleicht vorgestellt?« fragte ich spöttisch. Corve starrte mich entgeistert an. »Ich habe sie getauft«, erklärte er mir. »Das ist das Recht des Entdeckers!« »Und wie, glaubst du, werden die Demetriden dich taufen, wenn sie auf dich stoßen? Wir haben keine Zeit für botanische Exkursionen!« »Kann ich sie nicht mitnehmen?« fragte Corve traurig. 70
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»Nein!« brüllte ich, ziemlich aus der Fassung gebracht. »Du kannst ihr später schreiben, daß sie dich besuchen soll. Am besten auf Latein, das scheint sie zu verstehen, deine glossierende Eva!« »Glossopharyngea evai«, wehrte Corve ab. Mit einem wehleidigen Seufzer stand er auf. Er sah drein, als habe man ihm die Braut am Traualtar verschleppt. »Also gut. Ich komme mit. Aber wundere dich nicht, wenn in der Biological Review ein Bericht über deine wissenschaftliche Barbarei stehen wird!« Da ich von D. C. seit meinem Eintritt in die TimeSquad nahezu ohne Pause quer durch alle Länder und alle Zeiten gehetzt wurde, hatte ich ohnehin wenig Zeit, Zeitschriften zu lesen. Corves furchtbare Drohung ließ mich daher kalt. Mir blieb nichts anderes übrig, ich mußte den übereifrigen Jünger Linnes regelrecht aus dem Raum zerren. Erst als er das vermaledeite Kraut nicht mehr sehen konnte, fand er in die Wirklichkeit zurück. »Wie lange beschäftigst du dich schon mit dem Gemüse?« wollte ich wissen. Corve zuckte ratlos mit den Schultern. »Keine Ahnung«, gestand er. »Zehn Stunden, vielleicht auch mehr?« Ich sah ihn entgeistert an. Zehn Stunden, um eine nichtssagende Pflanze zu studieren? In dieser Zeit konnten D. C. und Inky in ein halbes Hundert von Fallen getappt sein. »Setze dich in Bewegung«, fauchte ich Corve an, der sich mühte, seinem Gesicht einen Ausdruck der Zerknirschung zu verleihen. »Wir müssen die beiden finden!« 71
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Unterwegs erzählte ich Corve von meinen Erlebnissen. Er hörte mir aufmerksam zu. »Verstehst du etwas von Biochemie?« fragte ich ihn schließlich. Corve nickte. »Das gehört zur Standardausbildung«, behauptete er. »Fein, dann kannst du mir sicher sagen, ob es eine Droge gibt, die jene Phänomene auslösen kann, die ich erlebt habe!« Zu meiner Verwunderung mußte Corve keine Sekunde lang nachdenken. »Ausgeschlossen«, sagte er sofort. »Es gibt Psychopharmaka in Mengen, also Drogen, die auf das Bewußtsein einwirken. Die Liste fängt bei den klassischen Stoffen an – Cannabis, also Haschisch, dann Opium und seine Derivate Morphium, Heroin und so fort – und geht weiter über Stoffe wie Mescalin und Lysergsäurediäthylamid, kurz LSD genannt. Aber alle diese Stoffe haben eine eher grobe Wirkung. Sie führen nur zu einem psychischen Ausnahmezustand, aber niemand kann genau vorhersagen, was ein Mensch empfindet, der eine dieser Drogen einnimmt. Euphopsychin versetzt den Menschen beispielsweise in eine Hochstimmung; er fühlt sich wunderbar, alle seine Wunschträume gehen in Erfüllung. Die Art dieser Träume aber kann durch Drogen nicht beeinflußt werden. Der eine Patient kann träumen, Schwergewichtsweltmeister zu werden, ein anderer träumt vom Nobelpreis für Literatur, ein dritter tobt sich in einem orientalischen Harem aus. Es gibt also Glücksdrogen – wobei das Glück meist nicht von langer Dauer ist und sich ins Gegenteil verkehrt aber eine Spezialdroge für den 72
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Traum Schwergewichtsweltmeister gibt es nicht. Die Droge liefert nur den jeweiligen Rahmen, die grundsätzliche Stimmung – die Details stammen immer von dem, der eine solche Droge geschluckt hat!« Ich brauchte einige Zeit, bis ich diese Informationen verarbeitet hatte. »Das heißt also, daß jenes Gift im Wasser des Springbrunnens ganz allgemein ein Angstgefühl hervorruft. Die Szenen, die ich in dieser Scheinwelt gesehen habe, stammen dann aus meiner Phantasie?« »Richtig«, bestätigte Corve. Wenn es sich um Botanik handelte, mochte er unzurechnungsfähig sein, ansonsten aber war er in Hochform. Er brachte es trotz des schnellen Trabes fertig, klar und deutlich zu sprechen, ohne dabei übermäßig nach Luft schnappen zu müssen. »In deinem Fall«, erklärte er weiter, »scheint die Droge die Aufgabe zu haben, ein tief im Unterbewußtsein sitzendes Angstgefühl anzustacheln. Bei dir scheint man es auf deinen Stolz abgesehen zu haben. Was dich in diesem Illusions-Arbeitslager am meisten gequält hat, war das Herumtrampeln auf deiner Menschenwürde.« »Und als das nicht funktionierte, wurde auf Durst umgeschaltet«, setzte ich den Gedankengang fort. Corve blieb so abrupt stehen, daß ich ihn beinahe umgerannt hätte. »Augenblick«, murmelte er und versank in Nachdenken. »Das geht nicht! Das kann nicht funktionieren. Eine Droge kann nicht einfach umschalten, ebensowenig, wie ein Stück Brot plötzlich deinen Durst löschen könnte. Eine so gezielte Wirkung ist biochemisch nicht erklärbar!« 73
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»Wie dann?« fragte ich. Ich stieß ihn an, damit er sich wieder in Bewegung setzte. Wir verlangsamten unser Tempo etwas. »Von der Droge kann dieser Gefühlsumschwung nicht bewirkt worden sein, von deiner Psyche sicherlich auch nicht. Es bleibt nur noch eine dritte Möglichkeit. Irgendeine Apparatur muß dich überwacht haben, während du in der Traumwelt warst. Und diese Apparatur hat dann die Umschaltung vorgenommen!« Ich holte tief Luft. Das Gefühl der Beklemmung, das ich verspürte, seit ich zum erstenmal in das Labyrinth von Gängen und Kammern eingedrungen war, verstärkte sich. Nur mit Schaudern dachte ich an die Gewalten, die der Zeit-Zauberer mehr als einmal auf uns losgelassen hatte. Bislang hatte ich immer geglaubt, dieses Entsetzen sei aus der Angst vor dem Unbegreiflichen erwachsen, sei die Reaktion auf die Bilder gewesen, die Valcarcel uns gezeigt hatte. Hatte ich mich einmal mehr getäuscht? War dieser Schrecken gar nicht in uns selbst entstanden, sondern von einer Apparatur, einer Maschine in uns hineinprojiziert worden? Mit erschreckender Deutlichkeit wurde mir klar, daß die Menschheit gleichsam mit dem Rücken zur Wand kämpfte. Bislang hatten wir Agenten und Mitarbeiter der Time-Squad geglaubt, der unbekannte Gegner, der systematisch gegen die Interessen der Menschheit kämpfte, habe es darauf abgesehen, die Menschheit sich botmäßig zu machen, sie zu zwingen, in seinem Sinn zu arbeiten und zu handeln. Die Gefahr, die jetzt in meiner Vorstellung heraufdämmerte, war ungleich größer. Wenn sich auch nur ein 74
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Teil meiner ängstlichen Phantasien bewahrheitete, stand der Menschheit nicht nur eine physische Unterjochung bevor. Der Gegner würde es nicht damit bewenden lassen, die Handlungen der Menschen zu lenken und zu steuern – er würde den Willen der Menschen versklaven. Aus dieser Unterdrückung konnte es keine Befreiung geben. Unwillkürlich dachte ich an die vielen Fälle in der Geschichte der Menschheit, in denen ein Volk ein anderes erobert hatte. Fast immer hatten sich später die Besiegten durchgesetzt, oft erst sehr spät, aber meistens erfolgreich. Fast ein Jahrtausend hatte das Imperium Romanum existiert, aber der Wille der Eroberten war stärker gewesen als die Schwerter der Legionen. Mehr als ein Dutzend eigenständiger Staaten waren im Laufe der Zeit aus diesem Imperium hervorgegangen. Das Großreich Alexanders, die Reiche der Perser, das Weltreich der Mongolen unter Dschingis-Khan – sie alle hatten nicht sehr lange bestanden. Der Wille der Unterworfenen, sich nicht unterjochen zu lassen, hatte früher oder später gesiegt. Diesmal aber … Wenn es der Gegner schaffte, die Menschheit zu zwingen, ihre Versklavung zu wollen, dann gab es keine Gegenwehr mehr. Ein Zitat fiel mir ein. Ernest Hemingway hatte einmal gesagt: »Der Mensch kann besiegt, aber nicht vernichtet werden!« Es sah so aus, als sei eine unbekannte Macht auf dem Weg, der Menschheit das Gegenteil zu beweisen.
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Eine halbe Stunde später fanden wir Inky. Er lag regungslos auf dem Boden, am Kopf eine klaffende Wunde, das Gesicht von Erschöpfung und Angst gezeichnet. Ich beugte mich zu ihm nieder, fühlte nach der Halsschlagader. Sein Herz schlug noch, seine Atemzüge waren tief und regelmäßig. Neben Inky lag seine Waffe, völlig zermalmt. Die betäubenden Nadeln lagen verstreut auf dem Boden. Ich begann, Inky zu rütteln. Seine Augen öffneten sich leicht. »Laßt mich in Ruhe, Freunde«, murmelte er schwach. »Ich will schlafen!« »Aufwachen, Inky! Du mußt wach werden! Wo ist D. C.?« Inky zuckte schwach mit den Schultern. »Weiß nicht«, murmelte er kaum hörbar. »Wir haben uns verloren. Diese Maschinen!« Kraftlos fiel sein Kopf zurück. »Du bleibst bei ihm, Corve. Inky braucht Ruhe. Ich werde versuchen, D. C. zu finden. Anschließend kehren wir hierher zurück.« »Und wenn nicht?« Corves Frage war ruhig gestellt, obwohl er genau wußte, was er damit sagte. Inkys Zustand und die Tatsache, daß unsere Gruppe praktisch auseinandergefallen war, bewies genug. »Sobald Inky wieder bei Kräften ist, kehrt ihr zur Zeit-Arche zurück. Wartet dort auf uns – und fordert 76
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Verstärkung an. Die Time-Squad soll ihre besten Männer schicken!« Nachdem wir Inky halbtot aufgefunden hatten, stand für mich fest, daß unsere Anwesenheit bekannt war. Ich brauchte die Lage nur auf irdische Verhältnisse umzuschreiben: Selbst wenn wir die Zentrale der Time-Squad aus irgendwelchen Gründen geräumt hätten, hätte sich dort kein Eindringling lange Zeit unentdeckt herumtreiben können. Es gab mit Sicherheit irgendeine Überwachungsanlage, die uns längst registriert hatte. Es kam jetzt darauf an, schnell zu handeln und den Vorsprung zu nutzen, den wir – hoffentlich – hatten. Ich ließ Corve zurück und rannte los. An den Wänden der Ringstraße entdeckte ich in unregelmäßigen Abständen Zeichen von Demeter. Eigentlich hätten mich diese Zeichen beruhigen sollen. Sie verrieten mir, daß D. C. noch gelebt hatte und bei klarem Verstand gewesen sein mußte, als sie diese Zeichen hinterlassen hatte. Mich störte aber, daß sie Inky zurückgelassen hatte. Das sah D. C. überhaupt nicht ähnlich. Sie war weder feige noch dumm; warum also war sie nicht bei Inky geblieben? Nach der Wegstrecke zu schließen, die ich zurücklegen mußte, war D. C. flott marschiert. Sie hatte immerhin viel Zeit gehabt, während ich bewußtlos in der Tiefe des Mondes gelegen und Corve vor Entzücken über irgendein Gewächs Zeit und Raum vergessen hatte. Die meisten dieser Zeichen waren Warnungen. Offenbar gab es hinter den stählernen Türen allerhand Überraschungen für unwillkommene Besucher, und es sah so aus, als wäre D. C. auf keine dieser Fallen hereingefallen. 77
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Dann gab es eine Änderung. Ich hatte einen Liftschacht erreicht. Auf dem Stück Gang jenseits der Transportplattform erkannte ich einen Hinweispfeil, der mich weiter die Ringstraße entlangschickte. Aber unmittelbar vor mir wies ein zweiter Pfeil in die Tiefe. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich begriffen hatte. Ich hatte den Rundgang beendet und war wieder bei jenem Lift herausgekommen, der mir fast zum Verhängnis geworden war. D. C. war inzwischen ebenfalls an diese Stelle gelangt, hatte ihre alte Markierung erkannt und sich zu einem Richtungswechsel entschlossen. Ich wurde erst wieder ruhiger, als ich an den Wänden neue Zeichen auftauchen sah. Auch von diesem Teil der Ringstraße führten Türen in seitlich gelegene Räume. Neben einigen dieser Türen entdeckte ich Hinweise, die D. C. mit dem Messer in den Fels geritzt hatte. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich wußte, was auf D. C. am Boden des Schachtes wartete. Ich holte die Plattform herauf und begann meine zweite Fahrt in die Tiefe des Mondes. Bereits zwei Stockwerke unter der Ringstraße entdeckte ich die nächste Markierung. D. C. hatte den Lift auf diesem Niveau verlassen. Sie konnte nicht sehr weit entfernt sein. Meine Hoffnung, sie lebend und unverletzt zu finden, stieg. Ich fand die Chefin der Time-Squad an einem Ort, wo ich sie normalerweise zuletzt gesucht hätte. Sie lag in einem Bett und schlief. Sie lag auf der Seite, den rechten Arm unter den Kopf gelegt, die linke Hand am Kolben ihrer Waffe. 78
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»Deine Nerven möchte ich haben, Mädchen!« murmelte ich. Sofort machte ich einen Satz zurück. D. C. war blitzschnell erwacht und hatte ihre Waffe in Anschlag gebracht. »Langsam, Chefin«, sagte ich vorsichtig. »So viele Mitarbeiter haben Sie nun auch wieder nicht.« D. C. stand auf und wischte sich eine Strähne ihres roten Haares aus der Stirn. Während sie die Waffe in das Halfter zurücksteckte, sagte sie: »Ich freue mich, Sie gesund wiederzusehen, Tovar. Wo haben Sie gesteckt? Und wo sind Inky und Corve?« Ich gab ihr eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse der letzten Stunden. »Wieso haben Sie nicht nach Corve und Inky gesucht?« fragte ich anschließend. D. C. sah mich ruhig an. »Es mußte wenigstens einer übrigbleiben, der der Time-Squad von den Anlagen auf diesem Mond berichten kann. Hätten Sie anders gehandelt?« Ich konnte auf diese Frage keine Antwort geben. Einmal mehr stellte ich fest, daß diese Frau ein Phänomen war. Sie hatte stets nur das Interesse der gesamten Menschheit im Sinn, dann erst kamen für sie andere Gesichtspunkte. Leichtgefallen wäre es ihr sicher nicht, ihre Kameraden im Stich zu lassen, aber sie hätte es getan, wenn es zum Wohl der Menschheit nötig gewesen wäre. Und ihre Frage bewies mir, daß sie von uns die gleiche Handlungsweise erwartet hatte – wenn es uns unumgänglich erschienen wäre, hätten wir sie opfern sollen. »Was haben Sie herausgefunden?« fragte ich, als das Schweigen langsam peinlich zu werden begann. 79
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»Nicht sehr viel«, gab D. C. zu. »Ihre Theorie, daß der gesamte Mond überall so unterminiert sei wie an dieser Stelle, ist falsch. Ich habe festgestellt, daß von der großen Ringstraße, wie Sie sie nennen, Räume ausgehen. Aber es gibt keinen Hinweis auf eine Verbindungsstraße zu einer ähnlichen Anlage. Außerdem ist der Radius der tieferliegenden Ringstraßen etwas geringer als der der Straßen auf der Oberfläche. Vermutlich hat dieser Stützpunkt eine Form, die an einen umgedrehten Kegel erinnert!« Ich versuchte, mir das Bild vorzustellen. Auf der Oberfläche die Plantagen, darunter die Bereiche, in denen die Robots eine Art Bergbau betrieben. Unter diesem Bereich wiederum lagen die Fabrikationsanlagen, danach kamen … Ich sah mich kurz um. … Wohnbereiche. Die Tatsache, daß D. C. auf einem ganz normalen Bett geschlafen hatte, war dafür ein deutlicher Beweis. Was konnte dann noch kommen. Ich mußte an die heimtückische Falle denken, in die ich hineingetappt war und der ich fast zum Opfer gefallen wäre. Gab es dort unten, in der Tiefe des Mondes, etwas, das diesen Aufwand rechtfertigte? Die Zentrale der Time-Squad war ebenfalls tief in den Erdboden hineingebaut worden. Herzstück dieses Bezirks war die große Zeitmaschine, die unsere Zeit-Arche in die Zukunft befördert hatte. Welchen Zweck hatte die Anlage, in der wir uns befanden? Wie sah das Etwas aus, das von den Robots und den Fallen geschützt werden sollte? »Was sollen wir jetzt unternehmen?« fragte ich D. C. Sie dachte kurze Zeit nach. 80
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»Wir ziehen uns zurück!« entschied sich dann. »Selbst wenn diese Anlage erheblich kleiner ist, als Sie annehmen, sind vier Leute zu schwach, sie auszukundschaften. Wir werden uns Verstärkung besorgen!« Wir fanden Corve und Inky dort, wo wir sie vermutet hatten. Noch war Inky nicht zu sich gekommen, also mußten wir ihn tragen. Es erwies sich als ein ausgesprochen mühsames Unterfangen, Inkys Körper zurück zu dem Bewässerungsstollen zu schaffen, durch den wir in das Innere Demeters eingedrungen waren. Einmal fehlte nicht viel, und Inky wäre dreißig Meter tief gestürzt. Erst das kalte Wasser des Kanals brachte ihn; wieder zur Besinnung. Zwar mußten wir ihn jetzt nicht mehr schleppen, dafür jammerte er uns die Ohren voll, wie müde und zerschlagen er sei. »Was hat Sie eigentlich in diesen Zustand versetzt, Inky?« erkundigte sich D. C. beiläufig. »Ich weiß es nicht«, gab Inky zu. »Ich weiß nur, daß ich plötzlich wieder in meiner Zeit war, mitten im Zweiten Weltkrieg. Es war alles andere als angenehm.« »Irgendwelche interessanten Einzelheiten?« forschte D. C. Inky schüttelte den Kopf. »Dieser Traum, wenn man ihn so nennen will, war sehr realistisch«, erklärte Inky. »Abgesehen von der Tatsache, daß in dieser Welt Hitler ein Außerirdischer war, gab es keine Details, die euch interessieren könnten.« D. C. nickte nachdenklich. »Das bedeutet«, überlegte sie halblaut, »daß diese Fallen unvollkommen sind.« 81
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»Ja? Wirklich?« fragte ich entgeistert. Ich für meinen Teil war mit der Perfektion dieser Fallen vollauf zufrieden. »Diese Strahlung – wenn es eine ist – braucht beim Opfer Angstgefühle, die sie verstärken kann«, fuhr D. C. fort. »Wenn es uns gelänge, einen Stoßtrupp aufzustellen, dessen Mitglieder keinerlei Angst kennen, müßte dieser Trupp eigentlich ungehindert an den Fallen vorbeimarschieren können.« »Kennen Sie Menschen, die überhaupt keine Angstgefühle kennen?« fragte ich. »Ich meine jene Art von Angst, die viele für lächerlich halten. Also nicht die handgreifliche Furcht vor einer klar erkennbaren Gefahr, sondern ein Angstgefühl, das praktisch kaum zu greifen ist – Angst vor Mäusen, vor dem Zahnarzt, vor dem bösen Blick und dergleichen.« D. C. lächelte schwach. »Vielleicht gibt es solche Wesen ohne Angst«, sagte sie leise. »Aber das sind dann mit Sicherheit keine Menschen. Es mag Menschen geben, die unfähig sind zu lieben, andere kennen keinen Haß – aber Angst kennen alle.« »Vielleicht nicht alle«, murmelte Inky. Wir hatten den Stollen hinter uns gelassen und durchquerten nun zum zweitenmal die Knoblauchplantage. »Wie meinen Sie das?« fragte D. C. »Nun«, erzählte Inky grinsend. »Es gibt da eine hübsche Anekdote. Alexander der Große soll noch vor seinem Zug nach Asien einmal in den Norden vorgedrungen sein, bis zu den Kelten. Bei einer Unterhaltung mit dem Anführer dieser Kelten fragte Alexander ihn, vor 82
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was sich die Kelten am meisten fürchteten. Natürlich erwartete er, daß man ihn für die größte Gefahr hielt, aber er wurde enttäuscht. Die Antwort des Keltenhäuptlings war einfach und völlig verblüffend: er erklärte Alexander, die Kelten hätten vor gar nichts Angst – es sei denn davor, der Himmel könne ihnen auf den Kopf fallen.« »Irgendwoher kommt mir dieser Spruch bekannt vor«, murmelte Corve. »Ist diese Geschichte verbürgt?« »Sogar ziemlich gut«, antwortete Inky. »Wer waren eigentlich die Kelten?« wollte Corve wissen. »Wo kamen sie her, und wo sind sie geblieben?« »Viele Fragen auf einmal«, erklärte Inky, »aber nur wenige Antworten. Wie aus den steinzeitlichen Menschen Völker wurden, die eine gemeinsame Sprache, Kultur und Tradition hatten, weiß kein Mensch genau. Von den Kelten wird vermutet, daß sie – lange bevor man sie Kelten nannte – in Südrußland gelebt haben.« Ich griff nach Inkys Arm. Mir war plötzlich etwas eingefallen. »Inky«, sagte ich langsam und deutlich. »Von welchem Kulturvolk der Erde kennt man eigentlich seine Geschichte genau und lückenlos, also von der Steinzeit bis zur Entwicklung einer geschriebenen Sprache?« Inky dachte nur kurz nach. »Von keinem«, sagte er dann sehr leise. »Worauf willst du eigentlich hinaus?« Wir waren stehengeblieben. Die anderen sahen mich verwundert an. »Wir sind in die Zukunft vorgestoßen«, sagte ich, »weil wir begründeten Verdacht haben, daß ein Gegner, den wir nicht kennen, den Versuch macht, die Geschichte der Menschheit zu beeinflussen. Wir nehmen 83
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an, daß der Gegner diese Versuche erst seit kurzer Zeit unternimmt – aber wo haben wir den Beweis für diese Vermutung? Wer garantiert uns, daß das, was wir als Geschichte der Menschheit betrachten, nicht das Ziel dieser Manipulationen ist, sondern vielmehr deren Ergebnis? Wenn der Gegner nicht versucht, die Geschichte zu ändern, sondern vielmehr seit geraumer Zeit an der Arbeit ist?« Corve und Inky waren bleich geworden, nur D. C. zeigte sich einigermaßen ruhig. »Sie irren sich, Tovar«, sagte sie ruhig. »Erinnern Sie sich an das Unternehmen Zeit-Piraten! Sie selbst waren es, der darauf aufmerksam gemacht hat, daß kein vernünftiger Mensch eine Station ausgerechnet in der Nähe einer vom Untergang bedrohten Stadt errichten würde. Sie waren es, der daraus gefolgert hat, daß die Erbauer der Anlage in Port Royal keine Menschen sein können. Ihre neue These, daß unser Gegner schon seit langer Zeit die Geschichte der Menschheit beeinflußt, widerspricht dieser alten Überlegung. Ein Gegner, der schon seit längerem gezielt in die Geschichte eingreift, würde keine Station an eine Stelle in der Zeit setzen, an der sie nach kurzer Zeit vernichtet wird. Erkennen Sie den Widerspruch?« Ich wiegte den Kopf. »Ich sehe ihn«, gab ich zu. »Aber ich traue dieser Logik nicht. Wir haben schon einmal erlebt, daß sich bei Zeit-Phänomenen wenig mit herkömmlicher Logik ausrichten läßt.« Wir hatten mittlerweile die gegenüberliegende Seite des Ringwalls erreicht. In einiger Entfernung erkannten wir das Wrack der Zeit-Arche. Obwohl selbst auf die84
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se Entfernung die schweren Beschädigungen deutlich zu erkennen waren, fühlte ich mich bei diesem Anblick erstaunlich beruhigt. Die Stelle, an der der Gegner seine Station aufgebaut hatte, war sehr gut ausgewählt worden. Die Sonne, die vorher die Landschaft erhellt hatte, war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden. Jetzt wurde dieser Bereich des Mondes vom zurückgeworfenen Licht erhellt, das von dem Planeten ausging, den der Mond umkreiste. »Wie mag es dort unten aussehen«, überlegte Corve laut. Es war typisch für Raumfahrer, daß für sie der Planet immer unten lag, auch wenn er hoch am Horizont stand. Was wir sehen konnten, während wir auf die Zeit-Arche zugingen, waren ausgedehnte Wolkenbänke. Dazwischen entdeckten wir Landmassen und Ozeane. Bläulich schimmerte das Wasser der Meere zu uns hoch, die Kontinente waren braun und grün gefärbt, ab und zu von weißen Flecken unterbrochen. Die Ähnlichkeit mit der Erde war nicht zu übersehen. Da waren Meere, und auf den Kontinenten mußte es Pflanzen geben und schneebedeckte Berge. Wenn die Zusammensetzung der Atmosphäre einigermaßen mit den irdischen Werten übereinstimmte, mußten auf dieser Welt Menschen recht gut leben können. Spuren von Zivilisation waren auf dem Planeten nicht zu erkennen. »Glauben Sie, daß diese Welt besiedelt ist?« fragte ich D. C. »Bewohnt«, gab sie knapp zurück. »Besiedelt nicht unbedingt. Wenn der Planet so bevölkert wäre, daß man auf den Mond ausweichen mußte, hätten wir An85
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zeichen dieser Zivilisation auch mit bloßem Auge erkennen müssen. Wir können aber nichts sehen, folglich ist der Planet nicht dicht bevölkert.« »Vielleicht gibt es außer Pflanzen dort überhaupt kein Leben?« überlegte ich. »Dann wäre es wesentlich einfacher gewesen, die Station auf dem Planeten anzulegen. Ein intelligentes Wesen würde sich die Mühe, einen Mond mit einem künstlichen Schwerefeld zu versehen, sicherlich gespart haben, wenn in unmittelbarer Nähe ein Planet zu finden ist. Logisch?« Ich konnte nur nicken. Wir hatten die Zeit-Arche erreicht. Das leuchtende Feld über der Zeitmaschine war erloschen, kein Wunder, wenn man daran dachte, welche Energiemengen dieses Transportfeld verschlang. Allerdings brauchten wir nur unsere Zeitmaschine einzuschalten, um die Verbindung zur Gegenwart – unserer Gegenwart herstellen zu können. Das schwache Feld, das wir erzeugen konnten, reichte gerade als Peilzeichen aus. Mit einem Handgriff schaltete D. C. die Zeitmaschine ein. Ich staunte immer wieder, wenn ich diesen Vorgang sah. Das Zeitfeld baute sich auf. Die Zentrale hatte prompt reagiert. »D. C.?« Demeter Carol Washington drehte sich zu mir um. »Ich habe Lust, allein weiterzumachen. Ist es wirklich nötig, daß ich in unsere Zeit zurückkehre? Während Sie Verstärkung auftreiben und hierherschicken, könnte ich mich noch einmal mit der Station beschäftigen.« 86
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D. C. nickte nach einer kurzen Pause. »Einverstanden«, sagte sie. »Passen Sie auf sich auf, Tovar. Und noch eines: Haben Sie keine Angst« Ich grinste dazu. D. C. wußte genau, welchen Bereich der Station ich mir für meinen Erkundungsspaziergang ausgesucht hatte. Sie hatte recht. Ich durfte tatsächlich keine Angst haben. Das Dumme war nur, daß ich genau in dem Augenblick, in dem D. C. mir diesen vernünftigen Rat gab; spürte, wie die Angst in mir hochkroch und mir zu verstehen gab, daß sie mich einstweilen nicht aus ihrem Griff entlassen würde.
Ich brauchte eine knappe halbe Stunde, um den tiefsten Punkt der Station zu erreichen. Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich den heimtückischen Springbrunnen, dessen Wasser ich bestimmt nicht noch einmal anrühren würde. Aus den reichhaltigen Medikamentenvorräten der Zeit-Arche hatte ich eine Portion Antidepressiva mitgenommen, jene Pillen, die einem – so behauptete jedenfalls die einschlägige Werbung eine »rosa Brille für die Seele« verschafften. Mit dem Wasser aus einer neuen Feldflasche spülte ich zwei der Kapseln hinunter. Hoffentlich half das Zeug. Auf dem Hinweg hatte ich mir genau gemerkt, welche Strecke ich zurückgelegt hatte. Wenn D. Cs Vermutung stimmte, dann konnte die Ringstraße auf diesem Niveau nur noch einen. Radius von knapp fünfzig Metern haben. Das Zentrum der Station konnte also nicht sehr weit entfernt sein. 87
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Ich spürte, wie das Mittel zu wirken begann. Mehr als eine grundsätzlich optimistische Stimmung bemerkte ich einstweilen nicht. Die eigentliche Wirkung konnte naturgemäß erst dann einsetzen, wenn ich seelisch stark erschüttert wurde, und davon war einstweilen keine Rede. In jedem Fall machte ich mir keine großen Sorgen, als ich weiterging. Nach meiner Schätzung mußte ich ziemlich genau in die bösartige Strahlung hineinlaufen, die mir den furchtbaren Alptraum beschert hatte. Ich ging langsam, um jederzeit die Möglichkeit zu haben, mich schnellstens zurückziehen zu können. Von der Strahlung war nichts zu spüren; ich hatte meine fünf Sinne beieinander. Von Alpträumen oder Halluzinationen war nichts zu spüren. »Auf denn!« stieß ich hervor. Fast wäre ich über den Klang meiner eigenen Stimme erschrocken. Sie hörte sich merkwürdig fremd an. Die Räume auf der anderen Seite des gefährlichen Springbrunnens waren leer. Ich fand nicht mehr als die bekannten Wände, nichts, was darauf hindeutete, daß es hier etwas gab, das mit so heimtückischen Mitteln geschützt zu werden verdiente. Ich brauchte eine geschlagene Stunde, dann war ich an den Ausgangspunkt meiner Wanderung zurückgekehrt. Auf diesem Marsch hatte ich zwei weitere Springbrunnen entdeckt und ein wohlgefülltes Vorratslager. Der Versuchung, von den dort gestapelten Lebensmitteln zu kosten, hatte ich widerstanden. Die Früchte waren mir nicht geheuer erschienen, und den brotähnlichen Laiben aus grauem Material traute ich ebensowenig. Ich setzte mich auf den Boden und zündete mir eine Zigarette an. 88
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Die kurze Pause nutzte ich dazu, meinen Fund genauer zu betrachten. Wie die Hersteller es fertiggebracht hatten, in dem gläsernen Würfel ein dreidimensionales Bild unterzubringen, war mir ein Rätsel vor allem, weil dieses Bild auch noch beweglich war. Es zeigte eine Figur, die winkte, etwa zehn Sekunden lang. Man mußte den Würfel nur von seiner Unterlage lösen, um den Vorgang auslösen zu können. Die Figur stellte ein Lebewesen dar, und dieses Lebewesen war unzweifelhaft nichtmenschlich. Zwar besaß dieses Wesen Arme und Beine, einen Rumpf und einen Kopf, aber damit war die Liste der Ähnlichkeiten nahezu erschöpft. Die Haut des Wesens schimmerte grünlich, im Kopf saßen zwei nachtblaue Augen mit einer weißen Pupille, und im Kiefer waren Zahnreihen zu erkennen, die intensiv gelb leuchteten. War dieses Wesen ein Exemplar jener Spezies, die diesen Stützpunkt angelegt hatten? Sah ich als erster Mensch einen Demetriden? Ich war mir meiner Sache nicht sicher. Der Raum, in dem ich den Bildwürfel gefunden hatte, war ansonsten leer gewesen. Das machte diesen augenfälligen Hinweis auf die Bewohner des Mondes doppelt merkwürdig. Eine neue Falle für Unvorsichtige? Ich sah auf die Uhr. Bis die Verstärkung eintraf, mußten noch einige Stunden vergehen. Was sollte ich von dem Bild halten? Im Hintergrund des Bildes war ein Arbeitsroboter zu sehen, eine Maschine des Typs, den wir bereits kannten. Anhand dieses Maßstabs ließ sich abschätzen, wie groß der Demetride sein mochte – wahrscheinlich reichte er mir knapp bis an den Bauchnabel. 89
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Ich hatte schon einmal die Erfahrung machen müssen, daß die Tricks des Gegners auf unsere Psyche abgestellt waren. War dieser Demetride ein neuer Trick? Die kleinen, bunten Wesen erinnerten eher an lustige Puppen denn an intelligente Lebewesen. War dieser Blindruck beabsichtigt? Sollten wir auf das harmlose Äußere der Demotriden hereinfallen? Ich drückte die Zigarette aus. Eine Antwort auf diese Frage würde ich einstweilen nicht finden können. Aber ich betrachtete meinen Fund als Warnung. Ich mußte auf der Hut sein. Noch waren nicht alle Geheimnisse der Demeter-Station gelüftet. »Was nun?« murmelte ich. Auf diesem Niveau war nicht mehr viel zu finden. Es gab nur noch einen Weg – ich mußte tiefer hinab. Dieser Vorsatz war leicht zu fassen, nur um die Ausführung schien es schlecht bestellt zu sein. Ich hatte keinen Lift, keinen Antigravschacht gefunden, der tiefer in das Innere des Mondes geführt hätte. Wenn es einen Zugang zu den Tiefen des Mondes gab, dann war er jedenfalls sehr gut getarnt. Ob ich ihn finden würde wenn dieser Zugang überhaupt existierte – war mehr als zweifelhaft. Ich versuchte, mir zu vergegenwärtigen, wo ich mich befand. Ich stellte mir einen umgestülpten Kegel vor, der mit der Spitze nach unten wies. Die obere Grenze dieses Raumes wurde vom Niveau der oberen Ringstraße begrenzt. Ich selbst bewegte mich in der Nähe der Spitze. Wenn das Kegelmodell stimmte, war ich von dieser hypothetischen Spitze vielleicht noch fünfzig Meter entfernt. 90
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Wo war nun der Eingang zu dieser Spitze zu suchen? Nach meinen bisherigen Erfahrungen hätte ich irgendwo im Bereich der Ringstraße einen Lift finden müssen, der schräg in die Tiefe führen mußte. Von einem solchen Lift hatte ich aber keine Spuren finden können. Mir fiel das Gefährt ein, das mich beim erstenmal sehr unsanft in diesem Bereich des Mondes abgesetzt hatte. Von einer Röhre oder einem Schacht, in dem sich die Transportplattform bewegte, war nichts zu sehen gewesen. Es hatte vielmehr so ausgesehen, als wäre der Lift einfach durch den massiven Fels gerast. Daß so etwas physikalisch nicht möglich war, lag auf der Hand. Vermutlich wurden die Löcher im Fels jeweils erst kurz vor dem Passieren des Lifts geöffnet und anschließend sofort wieder geschlossen. Daraus ergab sich, daß die Stelle, an der ein Lift betrieben wurde, auf den ersten Blick nicht zu erkennen war. Theoretisch brauchte ich also nur einmal die kleine Ringstraße auf. meiner Ebene abzuschreiten und dabei kräftig zu stampfen. An irgendeiner Stelle würde dann eine Transportplattform herangeschossen kommen. Ich schüttelte den Kopf. Irgendwie erschien mir diese Lösung wenig wahrscheinlich. Ich überlegte mir, wie ich an dieser Stelle der Station weitergebaut hätte. Ich hätte für die letzten, wichtigsten Räume der gesamten Station nur einen Zugang gelassen – und zwar zentral. Wenn meine These stimmte, dann mußte es irgendwo in der Mitte der Ebene einen Liftschacht geben, wahrscheinlich sehr gut versteckt und nur Eingeweihten bekannt. Ich machte mich auf den Weg. 91
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Die Erbauer der Station hatten es für Besucher nicht eben einfach gemacht. Es gab, wie ich nach kurzer Zeit feststellen konnte, keinen geradlinigen Weg, der von der Ringstraße in das Zentrum geführt hätte. Spätestens nach fünf Metern Weg stand man vor einer Wand, stets ohne Tür. Mir dämmerte, daß die Räume in dieser Ebene nur einen geringen praktischen Wert hatten – sie bildeten vielmehr ein erstklassiges Labyrinth. Unwillkürlich begann ich zu lächeln. Für eine Rasse, die die Weltraumfahrt beherrschte und komplizierte Waffen herstellen konnte, war ein Labyrinth eigentlich keine sonderlich intelligente Art, einen geheimen Raum zu sichern. Selbst das aufwendigste Labyrinth ließ sich mühelos überwinden, wenn man sich an die alte Faustregel hielt: eine Hand an eine Wand, und dann niemals loslassen. Wer so verfuhr, machte zwar gewaltige Umwege und lernte jeden Winkel des Irrgartens kennen, aber er kehrte unweigerlich an den Ausgang zurück. Und wenn es zwischen diesem Ausgang und dem Zentrum des Irrgartens eine Verbindung gab, dann kam man auf diese Weise mit tödlicher Sicherheit an das Zentrum heran. Ich hatte den Radius der Kegelschnittscheibe, auf der ich mich bewegte, auf fünfzig Meter geschätzt sehr viel Wegstrecke ließ sich darauf nicht unterbringen. Die Gefahr, daß der Irrgarten so groß war, daß man bei dem narrensicheren Marschverfahren verhungerte oder verdurstete, bestand also nicht. Ich blieb stehen. »Wozu dann überhaupt ein Irrgarten?« Ebensogut hätten die Erbauer den Boden mit Reißnägeln bestreuen können. Auch dies wäre ein Hindernis ge92
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wesen – nicht unüberwindlich, aber lästig. Das einzige, was damit erreicht werden konnte, war ein Zeitgewinn, mehr nicht. Kletterstrecken, Rutschbahnen, Niespulver oder Wände aus Griesbrei hätten den gleichen Zweck erfüllt. »Vorsicht«, ermahnte ich mich selbst. Ich witterte förmlich, daß ich in eine Falle lief. Von einem Irrgarten ließ sich nur ein Dummkopf beeindrucken. Wenn der Gegner aber trotzdem ein Labyrinth angelegt hatte, dann hatte dies mit Sicherheit einen triftigen Grund. Wo lag der Trick, welche Schurkerei versteckte sich hinter dem Irrgarten? Ich machte mich auf den Rückweg und erreichte nach kurzer Zeit die Ringstraße. So sah die Falle also nicht aus. Mir wurde der Rückweg nicht versperrt, und es gab auch keine Wände, die überraschend im Boden verschwanden oder aus ihm emporstiegen, um ein sich ständig änderndes Labyrinth zu erzeugen. Darin hätte ich mich allerdings prachtvoll verirren können. Ich war mir sicher: Irgendwo in dem Fels steckte ein Automat, ein Wächter, der. mich fortwährend beobachtete und nur darauf wartete, daß ich ihm in die Falle ging. Ich wußte, daß ich bespitzelt wurde; um so sorgfältiger mußte ich mir überlegen, wie ich vorgehen wollte. Ich kehrte zum Stichwort Labyrinth zurück. Schwach erinnerte ich mich an eine Vorlesung, die ich bei der Time-Squad gehört hatte – vielmehr hätte hören sollen. Da D. C. diesen Fortbildungskurs ebenfalls besucht hatte, hatte ich mich mehr darauf konzentriert, sie anzustarren, als dem Dozenten zuzuhören. Thema der Vorlesung war Dimensionsmathematik gewesen, von der ich nur wenig verstanden hatte, aber langsam begann ich mich zu erinnern. 93
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Der Dozent hatte uns aufgefordert, uns einen Würfel aus Käse vorzustellen, der gerade von zwei Maden entdeckt wird – allerdings auf einander gegenüberliegenden Seiten. Freudig und gefräßig machen sich beide daran, sich in den Käse hineinzufressen, allerdings nicht geradlinig, sondern – nach Madenart – in einer vielfach gewundenen und gekrümmten Röhre. Der Trick bestand darin, daß sich die beiden Maden niemals trafen. Ihre Gänge waren zwar miteinander verschlungen, aber sie kreuzten sich nie. So fraßen die Maden sich durch den Käse. Wenn man nun die Maden immer kleiner und ihre Röhren immer enger machte, wenn man gleichzeitig die Dicke der Trennwände zwischen dem Gangsystem immer mehr verringerte, kam man allmählich zu einem verblüffenden Ergebnis: Wenn man nämlich die Dicke der Röhren und der Trennwände dem Wert Null entgegengehen ließ, entstand das Phänomen, daß sich in dem durchaus begrenzten Raum des Käsewürfels zwei Räume (Gangdicke mal Ganglänge) unterbringen ließen – und zwar zwei völlig unabhängige Räume, deren Wert sich immer mehr dem Volumen des ganzen Käsewürfels näherte. Im Extremfall lief dieses Gedankenexperiment darauf hinaus, zwei gleichgroße Räume in einem dritten von gleicher Größe unterzubringen. War es denkbar, daß die Demetriden einen Trick gefunden hatten, mich in die Rolle einer der Maden zu versetzen? Hatten sie es geschafft, in dem vorhandenen Raum nicht nur den Irrgarten unterzubringen, den ich betreten hatte, sondern auch noch einen zweiten, den ich niemals betreten konnte? 94
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Wenn das stimmte, war der Zugang zum Zentrum der Station perfekt abgesichert. Dann gab es keine Möglichkeit, dieses Zentrum jemals zu erreichen. Allerdings auch nicht für die Demetriden, fiel mir ein. Plötzlich begann ich zu lachen. Ich lachte, bis mir die Tränen über das Gesicht liefen. Es hätte nur wenig gefehlt, und ich wäre auf den ältesten und dümmsten Trick überhaupt hereingefallen. Ich war schlauer gewesen als die Demetriden, viel schlauer sogar, so schlau, daß ich mich im Kreis gedreht hatte. Was lag näher, als nach den bereits bekannten Fallen eine noch perfektere zu vermuten? Das Labyrinth war nichts weiter als ein Bluff, es gab keine Fallen darin – nur die, die sich der Besucher selbst ausdachte. Wenn dann noch irgendwo ein Projektor stand, der die Befürchtungen des Ängstlichen unterstützte und verstärkte, war das Hindernis perfekt. In seine immer größer werdenden Befürchtungen und Ängste verstrickt, mußte der Eindringling früher oder später überschnappen. Fast wäre es mir ergangen wie jenem Examenskandidaten, den sein Prüfer behutsam anfassen will. Um den nervösen Kandidaten zu beruhigen, stellt er ihm eine ganz einfache, simple Frage – hinter der der Kandidat sofort ein unerhört kompliziertes Problem wittert, das er zu lösen versucht, aber natürlich nicht lösen kann. Der dann fast unvermeidliche Nervenzusammenbruch trug bei Studenten den treffenden Namen Examenskoller. Hätte ich nicht vorsorglich die Psychopharmaka genommen, wäre ich wahrscheinlich auch hereingefallen. Noch immer erheitert, drang ich zum zweitenmal in den Irrgarten ein, diesmal nicht mit der Befürchtung, 95
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in eine Falle stolpern zu können. Ich hielt mich an die Faustregel und kam gut vorwärts. Es war etwas schwierig, sich immer wieder auszurechnen, an welchem Punkt der Ebene ich mich aufhielt, aber es gelang mir leidlich. Zudem war ich ziemlich sicher, daß der Raum in der Mitte der Ebene einigermaßen leicht herauszufinden war. Irgendein kennzeichnendes Merkmal gab es bestimmt. Der Irrgarten erwies sich als recht geschickt angelegt. Ich brauchte mehr als eine halbe Stunde, bis ich glaubte, den zentralen Raum erreicht zu haben. Zu meiner Verärgerung fand ich dort keinen Hinweis. Es war nur ein Raum mit vier kahlen Wänden und einer Tür, sonst nichts. Nicht der geringste Hinweis auf einen Lift oder einen Antigravschacht. Mit dem Kolben meiner Waffe hämmerte ich auf dem Boden herum; außer einem allmählich erlahmenden Arm erzielte ich kein Ergebnis. Ich begann lauthals zu fluchen. Es mußte einen Weg geben, der in die Tiefe führte. Wenn ich auch nur ein wenig logisch denken konnte, dann mußte es einen Lift geben oder einen Antigravschacht, oder irgend etwas, aber auf keinen Fall nichts. Wer grub eine solche Anlage in das Innere eines Mondes hinein, errichtete dort Fabriken und eine gewaltige Anlage zur Erzeugung künstlicher Schwerkraft für den ganzen Mond, Vorratslager und vieles mehr – einfach nur zum Spaß? Wer sicherte obendrein etwas Wichtiges, das gar nicht vorhanden war, mit so heimtückischen Fallen, wie ich sie bereits kennengelernt hatte? Niemand, sagte ich mir. Eine Mausefalle ohne Speck ist ein Unding. Ebensogut hätte man eine Sicherheits96
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maschine wie Fort Knox bauen können, um dort halbzerfetzte Telefonbücher aufzubewahren. Etwas wurde hier gesichert und bewacht, und wenn jemand dieses Etwas in diese sichere und bewachte Zone bringen konnte, dann mußte es doch auch einen Weg geben, wieder an dieses Etwas heranzukommen. »Es sei denn …«, murmelte ich. Abgesehen vom staatlichen Steuersäckel gab es noch eine Errichtung, in die man nur etwas hineinstecken konnte, aber niemals wieder etwas herausbekam – Gräber. Ich dachte an die Pyramiden Ägyptens, diese gewaltigen Steingebirge, mit denen die Leichname der Pharaonen für alle Zeiten dem Zugriff der Menschen entzogen werden sollten. Ich wußte zwar, daß die Pyramiden niemals Gräber gewesen waren schon aus dem einfachen Grund, daß es aus der betreffenden Zeit wesentlich mehr Pyramiden als zu begrabende Pharaonen gab –, aber die Analogie drängte sich mir förmlich auf. War ich in einer gigantischen Gruft gelandet? Sekunden später wurde mir klar, daß diese Vermutung nicht stimmen konnte. Tote brauchten weder Waffen, wie sie in der Station hergestellt wurden, noch konnten sie etwas mit ausgedehnten Knoblauchplantagen anfangen. Zwar konnte ich mir auch niemanden vorstellen, der überhaupt Verwendung für soviel Knoblauch haben könnte, aber dieser Einwand zählte nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich mußte Gewalt anwenden. Ich zog meinen Laser und feuerte auf die Wand, die mir gegenüberlag. Der Strahl fraß sich in den Fels, verflüssigtes Gestein begann herabzurinnen. Drei Minuten lang mußte ich feuern, dann konnte ich deutlich sehen, 97
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daß der Strahl den Stein durchbohrt hatte. Zwar stieg von der getroffenen Stelle noch immer Rauch auf, aber es floß keine Lava mehr herab. Ich steckte die Waffe zurück und machte mich auf den Weg. Wenn ich wirklich das Zentrum der Ebene gefunden hatte, dann mußte ich, wenn ich den Irrgarten noch einmal systematisch abschritt, auf der anderen Seite der Wand die Ausschußöffnung sehen können. Eine Stunde später wußte ich, daß ich mich geirrt hatte. Ich hatte den Ausgang wiedergefunden, ich war auch wieder in jene Kammer zurückgekehrt, in der ich den Laser betätigt hatte. Nur das Gegenstück zu dem Loch, das ich geschossen hatte, war nirgendwo aufgetaucht. Mein Orientierungsvermögen hatte mich im Stich gelassen. Ich hatte mich zu früh am Ziel gewähnt. Genaugenommen war ich um den Mittelpunkt des Irrgartens herumgelaufen. Wenn ich das Geheimnis der Station lüften wollte, mußte ich nicht nach einem Weg in die Tiefe suchen. Zunächst einmal mußte ich mir in der Ebene den Weg bahnen, und das hieß in diesem Fall: freischießen. Mein Laser war als Ersatz für eine Tunnelfräse nur schlecht zu gebrauchen, aber mit genügend gefüllten Magazinen mußte es möglich sein, in die Wand eine Öffnung zu schießen, durch die ich schlüpfen konnte. Verbissen machte ich mich an die Arbeit. Ich mußte dabei den Laser sehr ruhig halten und nur sehr langsam bewegen, und das erforderte viel Kraft. Die Wand vor mir wurde nach kurzer Zeit derart heiß, daß ich den La98
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ser am ausgestreckten Arm betätigen mußte, wenn ich mir nicht Brandblasen im Gesicht und abgesengte Haare einhandeln wollte. Zentimeter um Zentimeter zog der Strahl seine Bahn. Auf dem Boden sammelte sich eine rotglühende Lache. Immer wenn ein neuer Tropfen Lava herabfiel, stoben winzige Spritzer auf, die kleine Löcher in meine Kleidung brannten. Ich verbrauchte vier Magazine, bis ich nach einer Stunde angestrengter Arbeit sicher war, daß das Loch groß genug für mich war. Jetzt brauchte ich nur noch zu warten, bis die Ränder soweit abgekühlt waren, daß ich sie mit bloßen Händen berühren konnte. Ein Blick auf die Uhr belehrte mich, daß inzwischen die versprochene Verstärkung eingetroffen sein mußte. Wahrscheinlich waren die Kameraden von der TimeSquad gerade dabei, den Knoblauch zu bestaunen. Die Sache ließ sich gut an, fand ich. Ich ächzte und schnaufte. Entweder hatte mich mein Augenmaß getrogen oder ich hatte Fett angesetzt. In jedem Fall hatte ich gehörig zu tun, um mich durch die Öffnung zu zwängen. Da das Gestein immer noch ziemlich heiß war – ich hatte meine Ungeduld nicht länger zügeln können –, war ich bald in Schweiß gebadet. Zudem wurden meine Aktivitäten arg durch den Anblick gebremst, der sich mir bot. Da war zunächst die Tür, die ich auf der mir gegenüberliegenden Seite entdecken konnte. Vermutlich hätte ich sie mit einer Fingerbewegung zur Seite schieben können, hätte ich nur gewußt, wo sie zu suchen gewesen wäre. 99
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Das zweite war das Loch im Boden, knapp vier Meter im Durchmesser. Die Öffnung war nicht erleuchtet, also konnte ich nicht abschätzen, wie tief das Loch hinabführte. Eine zweite Öffnung in der Decke legte die Vermutung nahe, daß es sich um einen Antigravschacht handelte. Unglücklicherweise hatte dieser Schacht nur einen Rand von knapp einem halben Meter Breite. Wenn ich mich zu heftig bewegte und förmlich aus dem von mir geschaffenen Loch stürzte, fand ich unter Umständen keinen Halt auf diesem Rand. Dann hätte ich am eigenen Leib erproben müssen, ob es sich bei dem Schacht wirklich um einen Antigrav oder um die zentrale Müllabfuhr handelte. Zu diesem Test verspürte ich nicht die geringste Lust. Ich bewegte mich sehr vorsichtig, und unter Aufbietung aller Konzentration und Körperkraft gelang es mir, mich auf den schmalen Rand zu retten. Allerdings mußte ich mich dabei an den Rändern meines Durchschlupfs festhalten, um nicht zu stürzen. Mit der freien Hand nestelte ich ein Nadlermagazin aus dem Gürtel und warf es in die Öffnung. Schlagartig flammte in dem Schacht die Beleuchtung auf. Das Magazin fiel ein Stück, dann begann es langsam zu sinken. Ich war also wirklich auf einen Antigravschacht gestoßen. Ich sah wieder auf die Uhr. Meine Freunde mußten mich bald erreicht haben. Sollte ich ihnen den Vortritt lassen? Ich schwang mich in den Schacht und registrierte mit großer Erleichterung, daß das schwerkraftaufhebende Feld auch meinen Fall abbremste und in ein sanftes Sinken verwandelte. 100
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Langsam glitt ich in die Tiefe, den Nadler schußbereit in der rechten Hand. Ich war gespannt auf das, was ich sehen würde. Als erstes hörte ich die Maschinen. Zuerst nahm ich nur ein feines Singen wahr, dann wurde das Geräusch lauter und deutlicher. Tief unter mir brummten Maschinen, allerdings nur sehr gedämpft. Es hörte sich an, als wären sie auf Leerlauf gestellt. Das Ende des Schachtes kam in Sicht. Auf den letzten fünfzig Metern wurde der Schacht von einer durchsichtigen Röhre gebildet, in der ich langsam hinabglitt. Hastig sah ich mich um. Ich war nicht in einer Kegelspitze angekommen. Ich war vielmehr in einem wahren Felsendom gelandet, einer in den Fels gearbeiteten Halbkugel mit einem Radius von etwa fünfzig Metern. An der Decke hingen Leuchtkörper, die den Dom in ein sanftes Dämmerlicht tauchten. Auf dem Boden, dem ich unaufhaltsam näher kam, standen Maschinen, dichtgedrängt. Ein verwirrendes System von Kabeln, Röhren und Leitungen verband die Apparaturen untereinander. Welchem Zweck sie dienten, konnte ich nicht einmal annähernd abschätzen. Ich erreichte den Boden des Schachtes. Sanft setzte mich das Antigravfeld auf dem Fels ab. Erst beim zweiten Hinsehen entdeckte ich die Besonderheit dieses Bodens. Sofort fiel mir Atlantis ein. Auch dort hatte der Boden so ausgesehen – eine massive, meterdicke Masse aus einem glasähnlichen Material, durchzogen von einem hauchfeinen, goldfarbenen Gespinst aus Metall, dessen Verlauf völlig ungeplant zu sein schien. 101
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Auf Atlantis hatte ich neben diesem Boden noch Wände gefunden, die ebenfalls von hauchfeinen Drähten umsponnen waren. Ich schaltete den Handscheinwerfer an und richtete den Strahl auf die Wände. Ich hatte mich nicht getäuscht, auch hier gab es die geheimnisvollen Kondensatorspulen. In dieser Bezeichnung ergab nur das Wort geheimnisvoll einen Sinn. Ob es sich um Spulen handelte, welche Wirkung sie hatten und welche Energien – wenn überhaupt – davon kondensiert wurden, hatten wir nicht herausfinden können. Wir waren vielmehr heilfroh gewesen, dem Tempelbezirk der atlantischen Basilika schnell und lebend entkommen zu sein. »Valcarcel!« flüsterte ich unwillkürlich. Ich war sicher, daß mir die Haare zu Berge gestanden hätten, hätte ich nicht unter dem Einfluß der Antidepressiva gestanden. Alles in diesem Felsendom war dazu angetan, die grauenvollen Szenen ins Gedächtnis zu rufen, die uns der Zeit-Zauberer beschert hatte. Es war still um mich herum, nur das leise Brummen und Singen der Maschinen war zu hören. In dieser Umgebung glich das Geräusch allerdings eher einem unheilverkündenden Grollen. Ein Fiepen riß mich aus meinen Gedanken. Das neue Armbandfunkgerät, das ich mir im Wrack der Zeit-Arche besorgt hatte, hatte sich gemeldet. Ich schaltete den Empfänger ein. »Tovar!« konnte ich verstehen. »Hören Sie uns?« »Ich höre klar und deutlich. Wo seid ihr?« »Auf dem untersten Niveau der Station. Wo können wir Sie finden?« Ich beschrieb den Irrgarten und den Weg, den meine Freunde bis zu dem Antigravschacht zu102
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rückzulegen hatten. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, sie ebenfalls durch das enge Loch klettern zu lassen, aber angesichts des Felsendoms erschien es mir ratsam, auf diesen Scherz zu verzichten. Je eher meine Freunde bei mir eintrafen, um so besser für mich. Trotz der Medikamente fühlte ich mich alles andere als wohl in meiner Haut. »Vergeßt nicht, die Pillen einzunehmen«, erinnerte ich zum Schluß. »Wird gemacht«, wurde mir versprochen. Trotz der geringen Wiedergabequalität des Lautsprechers konnte ich die Stimme von D. C. erkennen. Es tat gut, sie in der Nähe zu wissen. Ich wagte nicht, allein weiterzugehen. Der Maschinenpark war mir nicht geheuer. Ich begann zu ahnen, daß uns noch einiges bevorstand. Nach meinen Anweisungen brauchten D. C. und ihre Begleiter nur kurze Zeit, um mich zu erreichen. Nacheinander kamen sie herabgeschwebt, D. C. an der Spitze, wie nicht anders zu erwarten. Hinter ihr tauchte Corve auf, über das ganze Gesicht grinsend. Bei ihm wirkten die Drogen offenbar besonders stark. D. C. hatte aufgeboten, was die Time-Squad zu bieten hatte. Maipo Ruede war dabei, der hünenhafte Schwarze mit dem ewigen Grinsen, Susan Gilmore, wie immer ruhig und konzentriert, Joshua Slocum, William Chadwick – D. C. hatte offenbar auf die besten Leute zurückgegriffen. Wenn es mit diesen Männern und Frauen nicht gelang, das Geheimnis des Felsendoms zu lüften, dann wahrscheinlich überhaupt nicht. »Ist Ihnen aufgefallen, daß dieser Maschinenpark ein bestimmtes Muster bildet?« erkundigte sich D. C. kurz nach ihrer Landung. Ich schüttelte den Kopf. 103
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»Die Wege zwischen den Maschinen bilden ein exaktes geometrisches Gebilde«, verriet D. C. gelassen. »Ein Pentagramm!« Eine Zeitlang war es still. Jeder brauchte etwas Zeit, um diese Information verarbeiten zu können. Ein Pentagramm. Geometrisch war diese Figur nicht sonderlich interessant. Aber es gab Unzählige, die beim Anblick dieses Zeichens keineswegs an Geometrie dachten. Magier zeichneten Pentagramme, wenn sie Geister beschworen und sie zwingen wollten, im Bereich dieses Zeichens zu bleiben. Andere verbanden fünf Punkte mit Linien, um böse Geister von sich fernzuhalten. Das Pentagramm war sozusagen das geometrische Symbol des Aberglaubens. Dämonen, Teufel, Spuk, Hexenglaube – das alles verband sich mit diesem Zeichen. Was hatte das Symbol hier zu suchen? Daß es sich nicht um einen Zufall handelte, war mir sofort bewußt. Und mit erschreckender Deutlichkeit erinnerte ich mich an jenes Wesen, das wir den ZeitZauberer genannt hatten, das Wesen, das seine Gestalt ändern konnte, das nur die Hände zu heben brauchte, um Phänomene auslösen zu können, die ein naturwissenschaftlich geschulter Verstand niemals erfassen konnte. Ich spürte, wie mir etwas Kaltes den Rücken hinabkroch und sich zwischen meinen Schulterblättern festsetzte. Ich brauchte mich nur umzusehen, meinen Gefährten erging es nicht besser. Auch sie waren bleich geworden. Nur einige, die niemals persönlich mit dem Zeit-Zauberer zu tun gehabt hatten, sahen eher verwirrt 104
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und belustigt drein. Maipo Rueda zeigte erheitert seine prachtvollen Zähne. »Warten und ängstigen hilft nichts«, erinnerte uns D. C. »Untersuchen wir die Sache!« Nur langsam wich die Beklemmung von uns. Ich ertappte mich selbst dabei, daß ich krampfhaft die rechte Hand um den Kolben des Nadlers klammerte. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, daß es einigen anderen nicht besser erging. Wir waren nervös, sehr nervös sogar. Nichts rührte sich, und doch wagten wir kaum zu atmen. Alle, die den Zeit-Zauberer erlebt hatten, waren von Furcht erfüllt, die bloße Erinnerung ließ uns schaudern. Fast glaubte ich Valcarcels Lachen hören zu können und einen merkwürdigen Geruch zu spüren, der an Moder und Fäulnis erinnerte. D. C. sah mich kurz an und lächelte schwach. »Reißen Sie sich zusammen, Tovar«, sagte sie leise. »Und wenn Sie Angst haben, zeigen Sie es nicht zu deutlich. Eine Panik können wir uns nicht leisten!« Ich grinste mühsam. D. C. hatte leichtes Reden. Während wir beim Anblick Valcarcels fast in Ohnmacht gefallen waren, hatte ihr Anblick den Zeit-Zauberer derartig um den Verstand gebracht, daß er unter irrsinnigem Schreien und Toben gestorben war. Der Antigravschacht führte in den geometrischen Mittelpunkt des Felsendoms. Sein Ende war von Maschinen förmlich umkreist. Beunruhigt stellte ich fest, daß von diesem Punkt fünf Wege ausgingen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, jederzeit gewärtig, 105
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Valcarcel auftauchen zu sehen. Ich konnte einfach nicht glauben, daß er tot war. Ein Wesen wie er, das mit Mächten in Verbindung stand, für die wir nicht einmal einen präzisen Namen hatten, starb nicht einfach so. Ich war sicher, daß er uns geäfft hatte. »Die Beleuchtung könnte wirklich besser sein«, sagte hinter mir eine fröhliche Stimme. Ich fuhr herum, als säße mir ein Panther im Nacken. Meine Rechte zuckte hoch. Ich konnte gerade noch vermeiden, eine Narkonadel auf Corve Munther abzufeuern. »Mach das nicht noch einmal«, sagte ich. Meine Stimme war aggressiv und drohend, ich erkannte sie kaum wieder. »Ruhig, alter Freund, ganz ruhig«, sagte Munther. Ich entspannte mich etwas. »Nur keine Panik!« Er hatte gut reden, ihm saß nicht die Angst im Nacken, eine Angst, die die Wirkung der Psychopharmaka hinwegfegte. Allmählich schälten sich Einzelheiten aus der diffusen Ansammlung von Maschinen. Das Pentagramm bestand aus einem kleinen inneren Fünfeck und einem größeren Außenfünfeck. Wir hatten den Rand des inneren Fünfecks erreicht. »Donnerwetter!« staunte Joshua Slocum. Vor uns war eine Zeitmaschine zu sehen, unverkennbar eine Zeitmaschine. Sie unterschied sich von dem Modell der Time-Squad nur durch die Tatsache, daß im Umkreis dieser Maschine alles ebenfalls in Form eines Fünfecks angeordnet war. Ich sah, wie D. C. auf die Maschine zuging. Über ihre Schulter hinweg stellte ich fest, daß die Maschine arbeitete. Das Transportfeld war nicht zu übersehen. 106
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Und dann sah ich, wie D. C. zusammenbrach. Die Beine knickten unter ihr weg, sie seufzte leise und schlug dann der Länge nach auf den Boden. Ich sprang nach vorne und wollte sie auffangen, aber ich kam nicht dazu, die Bewegung auszuführen. Gebückt, mit weit ausgestreckten Armen blieb ich stehen, wie vom Schlag getroffen. Wie durch dichten Nebel hörte ich das Geräusch, mit dem meine Gefährten ihre Waffen entsicherten. Ich sah Demeter Carol Washington. Ich sah sie gleich zweimal. Die eine D. C. lag vor mir auf dem Boden, ohnmächtig. Die andere D. C. lag reglos auf der Transportplatte der Zeitmaschine. Es war D. C., daran gab es keinen Zweifel. Demeter Carol Washington – oder ihre Zwillingsschwester, wenn sie überhaupt eine hatte. Joshua stieß mich an und weckte mich aus meiner Erstarrung. Sein Gesicht war weiß. Stockend fragte er: »Hat D. C. eine Schwester? Eine Zwillingsschwester?« Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Ich konnte seine Frage kaum verstehen. Mir war, als hätte mein Verstand ausgesetzt. Was ich sah, durfte es nicht geben. Es war unmöglich. Wie kam D. C. in diese Anlage? Hätte sie auf der Plattform ihre Zwillingsschwester erblickt, wäre sie sicherlich nicht ohnmächtig geworden, dafür war sie zu nervenstark. Sie war umgefallen, weil sie sich selbst gesehen hatte. Es gab keinen Zweifel. Der einzige, der sich von diesem Anblick nahezu ungerührt zeigte, war Corve Munther. Er ging auf die Zeitmaschine zu und betrachtete den Körper darauf. Sein 107
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Blick wanderte von einer Gestalt zur anderen. Er verglich Haarfarbe, Gesichtszüge, Augenfarbe – ich war sicher, daß er keinen Unterschied finden würde. Demeter Carol begann sich zu regen. Sie kam wieder zu sich. Ich half ihr, sich aufzurichten. Als sie den Körper auf der Plattform sah, schrie sie leise auf, dann drehte sie sich um. In ihren Augen flackerte nacktes Entsetzen. »Tovar«, flüsterte sie. »Bin ich wahnsinnig geworden? Habe ich Halluzinationen? Rede, Tovar! Sag mir die Wahrheit!« »Wenn das eine Halluzination ist, dann erliegen wir alle der gleichen Täuschung!« sagte ich langsam. Ich sah, wie die anderen zurückwichen und ihre Waffen auf D. C. und mich richteten. Sie hatten Angst, fürchterliche Angst. Was sie sahen, ging über ihre Kräfte. D. C. richtete sich auf. Sie biß sich auf die Lippen und drehte sich langsam herum, bis sie mir den Rücken zukehrte. Mit einer raschen Handbewegung öffnete sie das Oberteil ihrer Kombination, dann schob sie das karierte Hemd darunter im Nacken zurück. Eine dunkle Stelle in ihrem Nacken wurde sichtbar, ein unregelmäßig geformtes Muttermal. »Sieh nach, Tovar«, flüsterte Demeter. »Sieh nach, ob sie es auch hat!« Ich ging um sie herum und auf die Gestalt zu, die auf der Transportplattform der Zeitmaschine lag. Von einem Druckluftpolster in gleichmäßiger Höhe gehalten, schwebte der Körper über der Platte. Das Transportfeld hüllte ihn ein. Ich zögerte einen Augenblick lang, dann streckte Ich die Hände aus. Als ich mit dem Feld Kontakt bekam, lief ein Prickeln von den Händen aus über den ganzen 108
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Körper. Ich konnte sehen, wie meine Hände zitterten, als ich die Gestalt berührte. Diese D. C. war anders gekleidet. Sie trug nur einen weiten Umhang aus Seide, der sich in der Druckluft bauschte. Blau war die Seide dieses Umhangs, und auf der Brust sah ich, was ich erwartet hatte – die verschnörkelte Sieben aus gelber Seide. Valcarcel hatte das gleiche Zeichen getragen, einen ähnlichen Umhang. Vorsichtig drehte ich den Körper herum, schob den Umhang am Hals zurück. Das Muttermal war nicht zu übersehen. »Hat sie das Mal, Tovar? Hat sie es?« Ich schloß die Augen und nickte. Es war nicht zu begreifen, aber es war so. Es gab Demeter Carol Washington zweimal – einmal als Chefin der Time-Squad, ein zweites Mal als … Ich drehte mich herum. »Wir haben den Zeitfaktor vergessen«, sagte ich mit hörbarer Erleichterung. »Wir haben vergessen, daß wir uns in der Zukunft befinden. Wir halten dies für einen Stützpunkt unseres Gegners …« »Und das ist er auch«, hörte ich Joshua Slocum laut sagen. Er trug einen Gegenstand in der Hand. »Ich habe mich umgesehen. Es gibt hier insgesamt fünf Zeitmaschinen, und auf einer – sie war abgeschaltet – habe ich dies hier gefunden!« Er hielt den Gegenstand in die Höhe. D. C. preßte die Hände vor den Mund, um einen entsetzten Schrei zu unterdrücken. »Valcarcel!« stöhnte ich. Diese scharf gemeißelten Züge vergaß niemand, der sie einmal gesehen hatte. In welcher Verbindung stand diese Station zu dem Zeit-Zauberer? »Sieh dir das Ding genau an, Tovar«, sagte Joshua Slocum. Während er mir den Gegen109
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stand reichte, hatte er eine Hand ständig an seiner Waffe. Auf den ersten Blick glaubte ich eine Statuette in der Hand zu halten. Knapp drei Handspannen groß war die Figur. Es war Valcarcel, unverkennbar. Diese Statue bestand nicht aus Holz. Sie war weder aus Marmor noch aus Metall gefertigt worden. Kein Glas, kein Porzellan. Es war … Wenn man aus einem menschlichen Körper alles Wasser entzogen hätte, wenn man einen solchen Körper hätte auf drei Handspannen Größe zusammenschrumpfen können, dann wäre ein solches Gebilde entstanden. Ich konnte den Seidenstoff des Umhangs spüren, er zerbröckelte unter meiner Hand. Ich konnte die trockene, spröde Haut fühlen. »Darf ich?« fragte Corve Munther plötzlich. Aus einer Tasche seiner Kombination förderte er eine Lupe zutage. Er nahm mir die Statue aus der Hand und betrachtete sie durch das Vergrößerungsglas. Jetzt erst begann sich auch sein Gesicht zu verfärben. »Wenn man genau hinsieht«, sagte er tonlos, »kann man in dieser Haut Poren erkennen. Tovar, dies ist keine Statue!« »Es ist Valcarcel«, fuhr Slocum erbarmungslos fort. »Besser gesagt, das, was von ihm übriggeblieben ist, als er starb. Was wir von ihm gesehen haben, war nur eine Illusion, ein Phantombild, wenn auch ein durchaus greifbares. Sein wirklicher Körper ruhte während seiner Aktionen in dieser Station. Und wir wissen jetzt auch, warum er starb. Er mußte sterben, weil er den Anblick von Demeter nicht ertragen konnte. Er konnte ihn nicht ertragen, weil er genau wußte, daß es nicht D. C. sein konnte.« 110
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»Warum nicht?« fragte Maipo Rueda. »D. C. kann schließlich ebenso ein Phantom sein wie Valcarcel. Warum sollte er erschrecken, wenn er auf einen Artgenossen stößt?« D. C. hatte lautlos zu weinen begonnen. Dieser Situation war sie nicht gewachsen. Ich hätte allerdings auch niemanden zu nennen gewußt, der das hätte ertragen können. »Es gibt nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden«, sagte Joshua Slocum. Ich sah, daß er sich nur mühsam beherrschen konnte. »Wenn die Vermutung stimmt, daß Demeter nur ein Phantombild ist, eine Illusion, dann mußte sie in dem Augenblick verschwinden, in dem ihre Zeitmaschine abgeschaltet wird. Nach allem, was wir über Zeitmaschinen wissen, lebt nur der Körper auf der Platte wirklich. Wird die Maschine abgeschaltet, kehrt der Geist des Zeitreisenden sofort in seinen Körper zurück. Das Phantombild müßte sich dann auflösen!« Slocum leckte sich die Lippen, bevor er fortfuhr: »Chefin, wir alle hier sind fest davon überzeugt, daß Sie kein Werkzeug des Gegners sind. Aber ich für meinen Teil sehe keine andere Wahl. Mit diesem Verdacht, so vage er auch ist, können wir Sie nicht in unsere Zeit mitnehmen. So können Sie nicht länger die Time-Squad befehligen.« »Normalerweise«, wandte Corve Munther ein, »ist es Sache des Anklägers, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, nicht umgekehrt!« »Corve, in diesem Fall gelten andere Gesetze. Die Time-Squad ist die letzte Waffe in den Händen der Menschheit. Die Person, die diese Waffe führt, die die Time-Squad leitet und befehligt, muß über jeden 111
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Zweifel erhaben sein. Über jeden Zweifel, verstehst du? Kannst du weiter dein Leben für unsere Sache einsetzen, wenn du befürchten mußt, daß deine Befehle von einem Werkzeug des Gegners gegeben werden?« D. C. strich sich die Haare aus der Stirn. Sie brachte sogar ein Lächeln zuwege. »Ihr habt recht«, sagte sie, und ihre Stimme klang so ruhig und gelassen, als bespräche sie die Vorbereitungen für ein Picknick. »Wenn ich mit euch zurückkehren will, muß ich diese Probe bestehen. Joshua, wollen Sie die Maschine ausschalten?« Slocum zuckte zusammen, als habe ihn eine elektrische Entladung getroffen. »Chefin«, sagte er und stotterte, »das können Sie nicht von mir verlangen. Nicht von mir!« Ich hob die Hand. »Bevor wir etwas unternehmen«, sagte ich laut, »sollten wir uns den Rückzug freihalten. Ich schlage vor, daß wir die freie Zeitmaschine auf die Daten unserer Zentrale programmieren, damit wir jederzeit verschwinden können.« »Joshua, übernehmen Sie diese Aufgabe«, bestimmte Demeter ruhig. Sie sah dem bärtigen Mann nach, als er den Gang entlangschritt. »Ich habe euch übrigens noch nicht gezeigt, was ich gefunden habe«, platzte Corve plötzlich los. »Später!« wehrte ich ab. Ich sah, daß er eine kleine Flasche in der Hand hielt. Sehr langsam ging Demeter Carol Washington auf das Bedienungspult zu, von dem aus die Zeitmaschine gesteuert wurde. Ich hätte die Frau am liebsten zurückgehalten, aber ich begriff, daß sie in diesem Augen112
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blick das tun wollte, was sie von uns jederzeit erwartete – auch wenn sie alles daransetzte, uns diese Entscheidung zu ersparen. Sie war bereit, sich notfalls im Interesse der ganzen Menschheit zu opfern, obwohl sie aus unseren Reaktionen genau hatte ablesen können, daß keiner von uns, Joshua Slocum eingeschlossen, imstande gewesen wäre, die Maschine abzuschalten. »Hören Sie, Chefin«, meldete sich Corve.« Ich …« D. C. machte eine abwehrende Handbewegung. Dann griff sie zu dem Hebel, mit dem die Energiezufuhr zur Zeitmaschine unterbrochen werden konnte. Noch Tage später fiel es mir schwer, die Ereignisse der sich an D. Cs abwehrende Geste anschließenden Minuten zu rekonstruieren. Als erstes mußte D. C. mit einem Ruck den Hebel herumgerissen haben, dann hatte sie sich sehr schnell herumgedreht. Gleichzeitig mußte Corve Munther den Schritt gemacht haben, der ihn genau in D. Cs Reichweite brachte. Während der Körper auf der Zeitmaschine sich zu regen begann, erklang Corves Stimme. »Verflixt«, sagte er laut und deutlich, dazwischen erklang splitterndes Glas. Während ich erleichtert aufatmete, weil unsere D. C. nicht verschwand, richtete sich die D. C. auf der Platte der Zeitmaschine auf. In der kurzen Zeitspanne, die verstrich, während sich das Gesicht der falschen Demeter zu einem diabolischen Grinsen verzog, breitete sich in unserer Nähe ein bestialischer Gestank aus. Von diesem Augenblick an überschlugen sich die Ereignisse. 113
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Die falsche D. C. begann zu schreien. Sie schrie, wie ich zuvor nur ein einziges Mal ein Lebewesen hatte schreien hören – Valcarcel, als er in der Zentrale der Time-Squad starb. Ihr Körper zuckte, und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Entsetzens. Ich riß meine Waffe hoch und betätigte den Abzug. Ein Hagel von Narkonadeln schlug der falschen Demeter entgegen, und neben mir feuerten meine Gefährten wie rasend. Aber der Beschuß blieb ohne Wirkung, die Gestalt richtete sich weiter auf. »Absetzen!« gellte Demeters Stimme durch den Raum. »Zurück zur Zentrale!« Manöver wie dieses hatten wir Dutzende von Malen geübt. Es verstand sich von selbst, daß die Agenten, die der Gefahr am nächsten waren, die Deckungsaufgaben für die anderen übernahmen. Das traf im Augenblick auf mich, Corve, Maipo und Demeter zu. Mit einer blitzartigen Bewegung riß D. C. ihre Waffe aus dem Halfter. Ein erster Laserschuß zuckte zu der Gestalt hinüber, die sich auf der Platte der Zeitmaschine bewegte. Diese Gestalt hatte nichts Menschenähnliches mehr an sich. Ich sah, wie die Haut an vielen Stellen platzte, wie aus dem Leib Pseudoglieder hervorquollen, wie das Gesicht sich rasend schnell veränderte. Ein greifender Rachen entstand, mit mächtigen Reißzähnen, die uns entgegenbleckten. Ein Pseudoarm, mehrere Meter lang und mit einer krallenbesetzten Pranke am Ende, wischte durch die Luft. D. C. konnte sich gerade noch bücken. Der Schlag traf das Schaltpult der Zeitmaschine und zertrümmerte es vollständig. Das Monstrum schwoll immer mehr an. Es schrie, und es zerquetschte mit seinen Gliedern die Metallkon114
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struktion der Zeitmaschine. Was uns entgegenschrie und fauchte, war eine monströse Bestie mit übermenschlichen Kräften. Das Biest tobte und schlug um sich. Corve begann zu rennen. Er zerrte Demeter hinter sich her, die trotz der Flucht immer wieder mit ihrem Laser auf das Monstrum feuerte. »Lauft!« hörte ich Maipo schreien. »Das Biest zerfetzt die ganze Station!« Ich setzte mich in Bewegung. Maipo hatte recht. Die wütenden Vernichtungsschläge des entfesselten Monstrums schienen eine Kettenreaktion in Gang gebracht zu haben. Von den anderen Zeitmaschinen erklangen ähnlich tierische Schreie, und auf einem der Gänge sah ich ein zweites Monstrum auftauchen, das mit tierischer Wut auf alles einschlug, was sich ihm in den Weg stellte. Töten konnten wir die Bestien mit unseren Lasern nicht, das zeigte sich, nachdem die ehemalige D. C. von mehr als fünfzig Schüssen getroffen war und ihren Amoklauf dennoch fortsetzte. Entladungen zuckten zwischen den Maschinen hin und her, Glas splitterte. Im Hintergrund war ein Brand aufgeflammt und schickte Qualmwolken in die Luft. »Beeilt euch!« schrie Joshua, wenigstens glaubte ich, daß er es war. Die Stimme klang völlig verzerrt. »Der Boden beginnt zu glühen!« Im Laufen sah ich, wie kleine, feurige Entladungen durch das Leitungssystem im Boden zuckten, sich zusammenballten und das glasähnliche Material verdampfen ließen. »Wir brauchen noch fünf Minuten«, schrie Joshua. Maipo und ich deckten den Rückzug. D. C. hatte sich neben mir auf den Boden geworfen. Sie hatte für ihr Feu115
Die Abenteuer der Time-Squad V
er nur ein Ziel – das Monstrum, das einmal ihren Körper besessen hatte. D. C. knirschte mit den Zähnen und feuerte wie eine Besessene, Schuß auf Schuß löste sich aus ihrem Laser. Das Geschrei der Bestien steigerte sich zu einem infernalischen Kreischen, und aus dem Boden erklang ein immer lauter werdendes Grollen. »D. C., Sie sind an der Reihe!« schrie Joshua. D. C. winkte ab. »Ich gehe zuletzt«, gab sie zurück. Aus den Augenwinkeln sah ich Maipo, wie er die Transportplatte bestieg und verschwand. Jetzt waren nur noch Joshua, D. C. und ich übrig. Dann sah ich auf der Zeitmaschine einen eiförmigen, silbrig schimmernden Körper auftauchen. Ich packte D. C. an der Schulter. »Wir müssen verschwinden«, schrie ich in ihr Ohr. »Sonst erwischen uns die Bestien!« D. C. nickte und stand auf. Sie ging rückwärts auf die Zeitmaschine zu, noch immer schoß sie auf das erste Monstrum. Erst als sie die Zeitmaschine erreicht hatte, stellte sie ihr Feuer an. Rasch griff sie nach dem silbrigen Körper und drückte einen unscheinbaren Stift hinein. Dann holte sie aus und warf. Im flackernden Licht des Feuers, das bereits die Hälfte der Maschine erfaßt hatte, sah ich den Körper fliegen. Er landete irgendwo in der Nähe einer Zeitmaschine. D. C. stieß mich förmlich auf die Plattform. Ich spürte, wie mich das Zeitfeld erfaßte. »Sofort eine Ladung zur Zeit-Arche«, sagte D. C. ruhig. 116
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Seit unserer Ankunft in der Zentrale der Time-Squad waren noch keine zwei Sekunden vergangen. Noch brannte in meinen Lungen der Qualm des Feuers, ich schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Susan Gilmore, die als eine der ersten die rettende Gegenwart erreicht hatte, programmierte die Zeitmaschine sofort um. Sie brauchte nur die räumlichen Koordinaten ein wenig zu verändern, um die Reste der ZeitArche erreichen zu können. Eine halbe Minute später war eine Sprengladung unterwegs, die die Zeit-Arche zu unidentifizierbaren Fetzen zerreißen würde. »Kann mir ein Mensch erklären, was in den letzten zehn Minuten überhaupt vorgefallen ist?« fragte William Chadwick. »Ein Mensch kann das erklären«, sagte D. C. und strich sich die Haare aus der Stirn. Sie verzog etwas das Gesicht, als sie einige Stummel dort vorfand, wo früher einmal Locken gewesen waren. »Corve, was war in der kleinen Flasche, die Sie in der Hand hatten?« Corve grinste fröhlich. Seine Haare waren vom Ruß gefärbt. Überhaupt boten wir alle einen ausgesprochen wildromantischen Anblick. »Ich habe unterwegs eine Abteilung in der Station gefunden«, berichtete er stolz. »Dort wurden Rohstoffe zu der Flüssigkeit verarbeitet, die in der Flasche war.« »Und woraus bestand diese Flüssigkeit?« fragte ich. »Kennst du die Zusammensetzung?« Corve zuckte mit den Schultern. »Ein ätherisches Öl«, sagte er leichthin. »Hauptbestandteile wahrscheinlich Allyldisulfid und Allyltrisulfid.« Ich ballte die Hände zu Fäusten. 117
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»Sag es so, daß auch wir es verstehen!« brüllte ich wütend. »Sag einmal, riecht ihr eigentlich gar nichts?« gab Corve zurück. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß wir entsetzlich stanken. »Knoblauch!« stöhnte Susan Gilmore auf und fiel um. »Richtig«, strahlte Corve. »Allyldisulfid und Allyltrisulfid sind die Wirkstoffe, die dem Knoblauch seinen typischen Geruch verleihen.« D. C. machte ein nachdenkliches Gesicht. »Was, glauben Sie, ist für …« Sie zögerte etwas »… die Reaktion der falschen Frau verantwortlich? Das Abschalten der Zeitmaschine?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Die Zeitmaschine hat damit nichts zu tun. Ich glaube vielmehr, daß die Personen in den Zeitmaschinen Opfer eines für sie tödlichen Giftgases wurden. Der Knoblauch hat sie umgebracht, nichts anderes.« Maipo Rueda begann zu kichern. »Prachtvoll«, prustete er. »Wenn es wirklich zum Schlimmsten kommt, verziehen wir uns in den Balkan. Dort sind wir in Sicherheit.« Ich fand die Angelegenheit überhaupt nicht amüsant. Denn mir war gerade eingefallen, daß Knoblauch schon vor vielen Jahrhunderten als Hilfsmittel des einfachen Volkes bekannt war – als Abwehr gegen Vampire. Oder das, was die Menschen damals dafür gehalten hatten. Wir waren in die Zukunft vorgestoßen, um unsere Gegenwart retten zu können. Fürs erste schien uns das 118
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gelungen, die Station des Gegners existierte nicht mehr. Die kleine Atombombe, die D. C. geworfen hatte, hatte die Station zerfetzt. Dort, wo sie gestanden hatte, konnte es jetzt nur einen neuen, sehr tiefen Krater geben. Die Zukunft konnten wir einstweilen vergessen. Jetzt bestand unsere Aufgabe darin, die Vergangenheit zu retten – unsere Vergangenheit. ENDE
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