HANK SEARLS
DIE WEISSE BESTIE ROMAN
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HANK SEARLS
DIE WEISSE BESTIE ROMAN
scanned by anybody corrected by moongirl Trotz einiger mysteriöser Todesfälle ahnt noch niemand etwas von der Gefahr, daß eine Panik von nie für möglich gehaltenen Ausmaßen droht. Erst als ein Taucher vor Augenzeugen von der weißen Bestie zerrissen wird, greifen Angst und Schrecken um sich. Aber zu diesem Zeitpunkt ist bereits eine Jugendregatta gestartet. Die Kinder der Stadt sind draußen auf dem Meer, hinter einer Nebelwand nicht auszumachen, in ihren kleinen Segelbooten hilflos dem grauenhaften Mörder ausgeliefert. Und der Hai hat Hunger, nicht zu stillenden Hunger. Denn der weiße Hai ist ein trächtiges Weibchen ... ISBN 3-453-01138-4 Titel der amerikanischen Originalausgabe JAWS 2 WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Richard Ellis (Das Buch der Haie) Deutsche Übersetzung von Helmut Kossodo Umschlagfoto: Bantam Books, Inc. Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Presse-Druck Augsburg
»Nach den bisherigen Forschungsarbeiten sind die weiblichen Tiere aller Haiarten größer als die männlichen .. .«
Inhalt Inhalt ............................................................................................ 3 ERSTER TEIL............................................................................. 4 Erstes Kapitel.......................................................................... 4 Zweites Kapitel......................................................................15 Drittes Kapitel........................................................................24 Viertes Kapitel.......................................................................34 Fünftes Kapitel......................................................................43 Sechstes Kapitel...................................................................52 Siebentes Kapitel..................................................................59 Achtes Kapitel.......................................................................69 ZWEITER TEIL .........................................................................76 Erstes Kapitel........................................................................76 Zweites Kapitel......................................................................85 Drittes Kapitel........................................................................95 Viertes Kapitel.....................................................................109 Fünftes Kapitel....................................................................119 Sechstes Kapitel.................................................................132 Siebentes Kapitel................................................................139 Achtes Kapitel.....................................................................160 Neuntes Kapitel ..................................................................172 Zehntes Kapitel...................................................................183 Elftes Kapitel.......................................................................198 Zwölftes Kapitel ..................................................................217 Dreizehntes Kapitel ............................................................228 DRITTER TEIL........................................................................239 Erstes Kapitel......................................................................239 Zweites Kapitel....................................................................252 Drittes Kapitel......................................................................258 Viertes Kapitel.....................................................................272 Fünftes Kapitel....................................................................285 Sechstes Kapitel.................................................................292 Siebentes Kapitel................................................................309 EPILOG ...................................................................................311
ERSTER TEIL Erstes Kapitel Eine flache, blutrote Sonne ging vor ihnen auf. Das weiße Hatteras-Schnellboot Miss Carriage brauste um den Montauk Point. Es kam vom Long Island Sound und strebte in die offene See hinaus. Die beiden Taucher mit ihrer halbangelegten Ausrüstung blickten von der Kommandobrücke. Der größere von ihnen war Frauenarzt im Astoria General Hospital in Long Island. Er schaltete eben die Schiffslichter aus. Der kleinere war ein New Yorker Anwalt, der für Union Carbide arbeitete. Die beiden verband nicht viel außer ihrem sportlichen Interesse am Tauchen und dem Schiff, das ihr gemeinsamer Besitz war. Aber auch diese Interessen nahmen mit dem Alter ab. Sie trafen sich kaum je, außer an den Wochenenden des Sommers. Schon vor Jahren war der Arzt ein für allemal zu dem Schluß gekommen, sein kleinerer Partner sei gewiß ein jüdischer Sozialistenfreund, und hatte sich damit abgefunden. Der Anwalt seinerseits vermutete, es mit einem sturen Reaktionär zu tun zu haben, scherte sich aber ebensowenig darum. Ob sie nun Freunde waren oder nicht - jeder von ihnen hatte etwa 30000 Dollar in das Boot investiert und wußte, daß er einen verläßlichen Partner hatte. Außerdem waren beide überzeugt, jeweils der andere sei der bessere Taucher. Jedes Jahr sah der Arzt den ersten Frühlingsausfahrten, bei denen sie nach Kammuscheln tauchten, fast mit Grauen entgegen. Die Ausrüstung fühlte sich zu Anfang immer recht ungewohnt an, das Wasser war kalt und trübe - und gerade hier an der Küste von Amity Township ging ein Gespenst um. Das Ungeheuer war tot. Der Arzt hatte die Geschichten der Long Island Press fast vergessen, und der New Yorker Anwalt dachte nur noch höchst selten an die Bilder der Times. Aber in beider Unterbewußtsein spukte immer noch eine dumpfe Angst. -4 -
Den Arzt überlief ein plötzlicher Kälteschauer. Er blickte auf den Tiefenmesser. Sie suchten eine ihnen bekannte Felsengruppe auf dem Meeresgrund, doch die Nadel auf dem Meßinstrument rührte sich so wenig wie bei einem hoffnungslosen Fall auf der Intensivstation. Hier mußte das Meer also völlig verschlammt und veralgt sein. Er stieg leicht zitternd die Leiter von der Kommandobrücke hinab, griff nach seiner Neopren-Taucherweste und legte sie sich an. Er hatte wieder einmal zugenommen. Er zitterte noch immer, nachdem er in seine Ausrüstung geschlüpft war, und kehrte wieder in die Kabine zurück, da er seine Fußflossen noch nicht angelegt hatte. Als er zum Chromstahlherd hinter der Bar ging, stieß er gegen einen herumstehenden Barhocker und warf ihn um. Er fluchte leise vor sich hin und stellte ihn wieder auf. Dann trat er hinter die Bar und holte zwei Tassen vom Gestell. Sich selbst goß er einen doppelten Old Grandad Bourbon Whisky ein, seinem Partner einen einfachen, dann füllte er die Tassen mit heißem Kaffee vom Herd auf. Er wollte sich schon davonmachen, als ihm einfiel, daß er unmöglich mit zwei Tassen die Leiter zur Kommandobrücke hinaufklettern konnte, also setzte er sich einfach hier unten hin und begann zu trinken. Die Stöße der Grundsee brachten das Boot zum Schlingern, was ihm Übelkeit verursachte. Wahrscheinlich waren sie der Küste zu nahe. Er nahm ein Fernglas und schaute einen Augenblick aus der Steuerbordluke. Die grauen Sommerhäuser von Nappeagues, Amagansett, East Hampton und Sagaponack lagen verträumt etwa eine halbe Meile vor ihm. Ihre Bewohner wachten wahrscheinlich gerade jetzt vom Lärm des starken Chrysler-Doppelmotors auf. Ein Kind rannte, von einem großen, zottigen Hund gefolgt, den Strand entlang. Auf merkwürdige Weise empfand der Arzt die Gegenwart der Sommerhäuser als tröstlich und beschloß, seinem Partner nicht zu sagen, er solle das Schiff weiter von der Küste fortsteuern. Plötzlich verringerte sich das Dröhnen der Motoren und wurde zu einem ruhigen Brummen. Offensichtlich hatte der Tiefenmesser endlich die richtige Stelle angezeigt. -5 -
Der Arzt erhob sich von seinem Hilfssteuersitz. Er zögerte zuerst, leerte dann aber auch noch die Tasse, die er für seinen Partner eingegossen hatte. Darauf ging er nach vorn und schwang einen Danforth-Anker aus Chromstahl, ließ ihn sinken und stellte fest, daß das Meer hier etwa 30 Fuß tief war. Während sein Gefährte langsam rückwendete, ließ er die Kette und das Ankertau hinunter. Schließlich verknotete er das Tau und gab dem Anwalt ein Zeichen, daß alles bereit war. Er schlängelte sich auf dem engen Deck nach achtern durch und blickte auf die Küste. All diese nebeneinanderliegenden Ferienorte der Dünen von Long Island glichen einander zwar wie ein Ei dem anderen, aber trotzdem war er nahezu sicher, daß sie vor Amity geankert hatten. Die Große Weiße schwamm zwanzig Fuß unter der Wasseroberfläche in südlicher Richtung. Block Island lag zu ihrer Rechten. Sie machte eine Linksbiegung und schwamm direkt auf Montauk Point zu. Sie war schwanger und fühlte die Last ihrer Brut im Leib, und sie war von Hunger überwältigt. In der letzten Nacht war sie vor der Küste von Nantucket auf eine Schar Dorsche gestoßen, hatte sich dort genähert, war aber danach stundenlang in südwestlicher Richtung an der Küste von Rhode Island entlanggeschwommen. Sie war bis nach Newport Bay vorgedrungen, hatte dort aber nichts gefunden, eine Weile wie ein weißes Wasserflugzeug an der Küste gelegen und war dann wieder in südlicher Richtung weitergeschwommen. Mit ihrer 1,80 in hohen Schwanzflosse stieß sie sich machtvoll voran. Vor ihr bildete sich eine unsichtbare Zone der Angst, und was da lebte, floh in alle Richtungen, vom Meeresgrund bis hinauf zur Oberfläche. Eine ganze Meile vor ihr hatte sich alles Lebendige verzogen. Seehunde, Schildkröten, Wale, Tintenfische - sie alle flohen. Denn alle diese Tiere hatten Antennen elektromagnetische, Gehör-, Vibrations-, psychische Antennen -, die den riesigen Feind ankündigten. Und sowie er vorbei war, belebte sich alles wieder in seinem Sog.
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Hätte der Mensch über solche Antennen verfügt, wäre ihm die Warnung wohl trotzdem nicht zu Bewußtsein gekommen, denn schon seit langem hat er seine Instinkte zugunsten der Intelligenz vernachlässigt. Allerdings war der Mensch auch nicht die gewöhnliche Beute der großen Weißen. Um den Nachteil auszugleichen, der ihr aus der Wachsamkeit ihrer möglichen Opfer erwuchs, war sie im allgemeinen rascher als jedes von ihr verfolgte Tier. Nahrung war für sie nahezu jede Kreatur von einigermaßen lohnender Größe, die im Meere schwamm, schwebte oder kroch. Aber jetzt war sie infolge ihrer Schwangerschaft schwerer als ihr vorübergehender Gefährte und alle anderen Kreaturen des Meeres, außer vielleicht einigen Walen und ihren eigenen harmlosen Verwandten, den Rauhhaien und Walhaien. Mit ihrer Länge von neun Metern und ihren fast zwei Tonnen Gewicht war sie größer und schwerer als jeder Killerwal. Jetzt, da sie kurz vor der Niederkunft stand, hatte ihr Leib gewaltige Ausmaße angenommen. In ihrem linken Uterus trug sie drei Junge und im rechten fünf, davon drei weibliche und zwei männliche. Das kleinste war etwa einen Meter lang und wog nur zweiundzwanzig Pfund. Es war aber trotzdem schon ein mit allen Lebensfunktionen ausgerüstetes Wesen. Es hatte im Leibe seiner Mutter beinahe zwei Jahre verbracht, hatte Tausende von unbefruchteten Eiern gefressen sowie dreißig schwächere Brüder und Schwestern, die die Stärkeren untereinander aufgeteilt hatten, um zu überleben. Dieses kleinste war keineswegs schon aller Gefahren enthoben, denn besonders seine Schwestern, die an Größe stets den männlichen Tieren überlegen sind, stellten eine beständige Bedrohung dar. Sollte es der Mutter aber gelingen, in den nächsten Wochen genügend Jagdbeute heranzuschaffen, würde ihre Eierproduktion die Embryos zufriedenstellen, und der kleinste würde überleben. Dann würde er als eines der unbestreitbar mächtigsten und aggressivsten Raubtiere des Meeres auf die Welt kommen. Schon jetzt fürchtete er kein Tier, das nicht von seiner Art war. -7 -
Der Anwalt verlangsamte das Tempo, und der Arzt fiel fast über ihn. Der Anwalt wies mit dem Arm nach links, und der Arzt blickte sich um. Er sah einen Schatten, dessen Grün dunkler war als das des Wassers, in dem sie schwammen. Es war nicht die Felsengruppe, auf die sie im letzten Jahr beim Tauchen gestoßen waren. Es war eine klotzige, geradlinige Form, die nur ein Werk von Menschenhand sein konnte. Der Anwalt bewegte sich aufgeregt auf sie zu, und der Arzt folgte ihm. Das Heck eines gestrandeten Fischerbootes, das größer und schwerer als das ihre war, ragte aus dem Schlamm empor. Die grünen Lichtstrahlen flimmerten auf den mit Entenmuscheln bedeckten Querbalken. Es war ein sehr solides, altes Schiff. Aus dem Zustand der geborstenen Planken war leicht zu ersehen, daß es schon seit einiger Zeit auf dem Meeresboden ruhte. Der Arzt entdeckte ein schweres Kabeltau, das im Sande lag. Es führte bis unter den halb im Schlamm vergrabenen Rumpf. Er ergriff das Tau, zog sich daran entlang, versuchte es anzuheben, konnte es aber nicht bewegen. So schwamm er um das Heck herum, um zu sehen, wo es auf der anderen Seite hinführte. Der Anwalt paddelte neben ihm und bemühte sich, seine Auftriebskraft zu regulieren. Der Arzt fand das andere Ende des Seils. Eine an ihm befestigte riesige Schake, ein Eisentank von 250 Litern, schlug unentwegt gegen die Hulk. Er war zerbeult und rostig, aber aus den Spuren der gelben Ölfarbe ersah man, daß er einst als Floß gedient haben mußte. Nun schlug die Strömung ihn mit einem klangvollen Dröhnen gegen den Rumpf. Es war gespenstisch. Im Nu hatte sich die Wirkung des Old Grandad Bourbon aus den Blutgefäßen des Arztes verflüchtigt. Er spürte eine plötzliche Kälte. Der Anwalt war inzwischen nach achtern geschwommen. Er zerrte an dem auf dem Heck wuchernden Seegras. Dann griff er plötzlich nach seinem Muschelmesser und löste etwa ein halbes Dutzend Entenmuscheln, und eine Schlammwolke stieg auf. Als das Wasser sich wieder einigermaßen geklärt hatte, -8 -
konnte der Arzt die blassen, orangefarbenen Buchstaben lesen. Das Schiff hieß Orca und kam aus dem Hafen von Narragansatt. Irgendwie erinnerte ihn das dunkel an etwas. Er blickte fragend zu seinem Partner hin. Hinter der Gesichtsmaske des Anwalts sah er dessen vergrößerte, nachdenklich zwinkernde Augen. Dann schlug sich der Anwalt plötzlich mit der Hand auf die Faust; es war ihm eingefallen. Er stieß ein erregtes Grunzen aus, das war das verabredete Signal für außerordentliche Ereignisse. Er wies zuerst winkend auf die orangefarbenen Buchstaben, dann nahm er beide Hände, krümmte die Finger so, daß sie wie Zähne wirkten, und ahmte mit einer Bewegung beider Hände das Zuschnappen eines riesigen Rachens nach. Dann zeigte er noch einmal auf den Namen des zerborstenen Hecks. Der Arzt hatte ihn verstanden. Er dachte an die schon fast vergessene einstige Sensationsmeldung, die er vor langer Zeit in der Long Island Press gelesen hatte, und in der von einem Haifischjäger, dem Polizeichef einer Hafenstadt und irgendeinem ozeanographischen Experten oder Forscher die Rede gewesen war. Er wurde sich darüber klar, daß es ihm hier durchaus nicht gefiel. Und schließlich waren sie auf Kammuscheln aus und nicht auf Wracks, und außerdem hatten andere Taucher vor ihnen gewiß schon alles mitgenommen, was einen Andenkenswert hatte. Er stellte sogar fest, daß ihn jetzt nicht einmal mehr die Kammuscheln interessierten. Seine Atmung ließ erneut zu wünschen übrig, er schnaufte und keuchte, das Herzpochen fing wieder an, und er fühlte alle Anzeichen eines zu niedrigen Druckes in seiner Sauerstoff-Flasche. Er wies mit dem Daumen nach oben, aber sein Gefährte schüttelte den Kopf, pochte auf seine Kamera und zog ihn zum Heck, wo er sich für ein Bild aufstellen sollte. Er dirigierte ihn direkt unter die Wölbung der Heckplanken. Dann bewegte sich der Anwalt zurück und hielt die Kamera an seine Gesichtsmaske. -9 -
Der Arzt zeigte gehorsam auf die Buchstaben auf dem Querholz und lächelte verkrampft in sein Mundstück. Sein Partner, der aufrecht auf dem Meeresgrund stand, schien eine Ewigkeit zu brauchen. Plötzlich verspürte der Arzt das Bedürfnis zu urinieren. Das unerklärliche Angstgefühl, das ihn den ganzen Morgen geplagt hatte, war ihm auf die Blase geschlagen, und er verspürte einen unerträglichen Druck. Als er schließlich nicht länger warten konnte, machte er einfach in die Hose. Er empfand die Wärme des an seinem Bein hinunterlaufenden Urins als wohltuend, aber sie genügte nicht, um auch das Frösteln in seinem Magen zu vertreiben. Er hörte den dumpfen Anprall des Eisentanks gegen die Hulk und spürte ihn durch seine Handschuhe hindurch, während er sich an der Planke hielt. Er hörte auch seinen eigenen keuchenden Atem und den seines Gefährten. Das stroboskopische Licht blitzte auf und ließ eine Sekunde lang alles ringsum in einem weißen Glanz erscheinen. Und dann hörte er plötzlich, wie sich ihm von hinten ein donnerndes Geräusch näherte, das wie ein fahrender Untergrundbahnzug klang. Sein Partner tänzelte auf dem Grundsand und versuchte, sich in der Strömung aufrecht zu halten, drehte an seiner Kamera und hielt plötzlich inne. Er starrte auf etwas, das von oben kam und sich hinter dem Arzt befand. Dann fiel ihm das Mundstück aus dem Gesicht. Der Arzt war verblüfft, begann sich umzudrehen, duckte sich aber instinktiv hinter das Heck und klammerte sich an eine abgesplitterte Planke. Er blickte wie gebannt auf seinen Gefährten. Eine große Luftblase stieg aus seines Partners Mund auf. Der Anwalt warf einen Arm hoch, um sich zu schützen. Dabei stieß er an seine Kamera, und das stroboskopische Licht blitzte noch einmal auf, und der Arzt fühlte sich wie nackt im grellen Widerschein. Dann war es dunkel. Das grüne Licht an der Oberfläche erlosch. Eine riesige Masse schoß wie ein gleitendes Jetflugzeug nur wenige Zentimeter über dem Kopf des Arztes -1 0 -
vorbei und überschattete das tanzende Sonnenlicht. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Am Ende der Masse zeichnete sich eine gewaltige Schwanzflosse ab. Sie schlug nur einmal zur Seite, riß ihn fast von der Planke los und ließ eine Wolke von Schlamm aufwirbeln, hinter der sein Partner verschwand. Dann war es still. Der Eisentank schlug wieder dröhnend an den Schiffsrumpf. Der Arzt hielt sich immer noch an seiner Planke fest und starrte in den sich wieder senkenden Schlamm. Er hörte nur noch seinen eigenen gequälten Atem. Sein Keuchen war jetzt so laut, daß es ihn erschreckte, und inmitten der aufsteigenden Luftblasen starrte er immer wieder auf die Stelle, wo sein Partner gestanden hatte. Er war außerstande, seinen Atem zu beruhigen, und hing wie gelähmt am Heck. Eine der Tauchflossen seines Gefährten schoß in der Strömung an ihm vorbei. Er hätte nach ihr greifen und sie berühren können. Aber er machte keine Bewegung. Nur die Angst brachte ihn schließlich dazu, seinen Unterschlupf zu verlassen. Die Furcht, hier mit seiner leeren Sauerstoffflasche zu ersticken, war größer als die des Entdecktwerdens. Er bewegte sich vorsichtig einige Meter vom Heck fort und wartete. Nichts geschah. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und stieß sich empor. Er war sorgfältig bedacht, nicht schneller als die Luftblasen aufzutauchen, trat sich dementsprechend langsam hoch und war bemüht, nicht in Panik zu geraten - denn damit hätte er sich, wem es auch immer war, verraten -, erinnerte sich, daß es von größter Wichtigkeit war, regelmäßig zu atmen, wenn er der Oberfläche näher kam, so daß die Luft in seinen Lungen sie nicht zum Zerbersten brachte - obwohl das laute Keuchen seines Atems ihn nur noch mehr erschreckte. Er erinnerte sich auch, daß er jetzt, da er wieder im goldenen Sonnenlicht schwamm, sein Mundstück ausspucken und durch den Schnorchel atmen mußte. Er erinnerte sich, seinen Gewichtsgürtel zu lösen, um unbehindert zu schwimmen. Und er erinnerte sich auch, daß es ratsam sei, beim Schwimmen -1 1 -
seine Flossen behutsam zu bewegen, um sich nicht durch lautes Planschen zu verraten. Er hob den Kopf aus dem Wasser. Die Hatteras lag kaum 30 Meter vor ihm. Die Angst verflüchtigte sich. Der Gedanke, daß von den beiden er überlebt hatte, überfiel ihn wie ein Freudenschauer, und er fühlte ein geradezu sexuelles Lustempfinden in sich aufsteigen. Er ließ sich mit äußerster Behutsamkeit zum Boot gleiten und schwamm fast lautlos. Nur einmal hielt er inne und blickte hinunter. Er sah nur die smaragdgrünen Lichtschatten in den Tiefen. Er blickte wieder auf. Einen Kilometer vom Schiff entfernt lagen die schlafenden Häuser in den Dünen. Eine winzige Gestalt rannte am Strand entlang. Es schien ihm eine Ewigkeit her, seit er sie von der Kabinenluke aus gesehen hatte, aber es war immer noch dasselbe Kind, das da lief. Plötzlich zuckte er zusammen. Er fühlte einen neuen panischen Schrecken, der ihm aus dem tiefsten Innern kam. Er beschleunigte das Schlagen seiner Flossen. Sie klatschten laut auf das Wasser auf, aber er beachtete es nicht, denn er hatte kaum noch zehn Meter zu schwimmen. Das schleppende Vorwärtsgleiten war ihm unerträglich geworden. Als er nur noch sechs Meter vom Boot entfernt war, machte er einen Sprint, klatschte und wirbelte rücksichtslos und keuchte laut und schnaufend. Plötzlich - er hatte nur noch drei Meter vor sich - verspürte er einen Schlag und etwas wie einen scharfen und harten Griff, der ihn am Oberschenkel etwa acht Zentimeter über dem Knie packte. Es war überraschend, aber überhaupt nicht schmerzhaft. Sein erster Gedanke war, daß sein Partner irgendwie überlebt hatte, unter ihm aufgetaucht war und ihm nun an den Schenkel gegriffen hatte. Er tauchte mit seiner Maske in das Wasser und blickte hinunter. Verblüfft sah er, wie ein halbes menschliches, in Neopren gehülltes Bein in die Tiefe sackte. Er stellte fest, daß es nur ganz wenig aus der Schenkelschlagader blutete, obgleich es in -1 2 -
der Höhe des oberen Schenkelknochens abgetrennt war. Allerdings bildete sich irgendwo anders ein starker Blutschwall im Wasser. Wer auch immer diese Amputation vorgenommen hatte, hatte ganze Arbeit geleistet, denn die Haut um den Einschnitt herum war so sauber, als sei sie mit einem Skalpell durchschnitten worden. Eine plötzliche Müdigkeit bemächtigte sich seiner. Er ließ sich auf dem Wasser treiben und blickte auf das in der Tiefe wirbelnde Bein. Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas Großes sich unter seinem Körper bewegte, aber es war seiner Sicht entzogen, und er fühlte sich seltsam benommen und von lähmender Gleichgültigkeit. Das Bein schlug noch einmal auf, als ob es auf etwas gestoßen wäre, und verschwand. Er fühlte sich schwach auf der linken Seite. Er fragte sich, ob er eine Herzattacke oder vielleicht sogar einen Schlaganfall erlitt. Vielleicht war er zu alt für den Tauchsport. Vielleicht sollte er lieber seinen Anteil am Boot verkaufen. Er begann mit schwachen Bewegungen weiterzuschwimmen. Jetzt hörte er wieder das schwache Dröhnen des Untergrundbahnzuges. Es machte ihm nichts mehr aus. Er bewegte sich kaum noch. Er war zu müde, um gegen seine Schläfrigkeit anzukämpfen, obgleich das Boot nur drei Schwimmstöße entfernt war. Er wollte nur noch ein wenig vor sich hin dösen wie ein Seehund in der Sonne und dann später die wenigen Meter weiterschwimmen. Da wurde er in die Höhe gehoben. Er fühlte, wie seine Rippen, Lungen, Milz, Nieren, Magen und Gedärme fest zusammengedrückt wurden, wie wenn er in eine riesige hydraulische Presse geraten wäre. Er fühlte überhaupt keinen Schmerz. Allerdings erlebte die Stadt eine Wiedergeburt, wofür bei Polly keine Aussichten bestanden. Er fuhr die fast menschenleere Hauptstraße bis zur Küstenstraße hinunter. Noch vor zwei Jahren hätten hier auf beiden Straßenseiten viele Wagen gestanden, auch wenn es erst Anfang Juni war. Aber heute sah man kaum ein halbes -1 3 -
Dutzend Wagen an den Parkuhren, und es war Samstag. Die Parkuhren hatte man im letzten Jahr extra versiegelt und außer Betrieb gesetzt, weil die Stadtverwaltung sich wahrscheinlich einbildete, sie würde damit mehr Touristen anlocken und mit der Abschaffung der Parkgebühr dem Geschäftsleben der Stadt zu frischer Blüte verhelfen. Als er in die Stadtmitte gelangte, erfreute ihn der Anblick des neuen Gebäudes, das man dort errichtete. Die Chase Manhattan hatte die Amity Bank and Trust aufgekauft, und die Fassade dieser weiteren Zweigstelle, die immerhin noch sehr im Stil von Cape Cod gehalten war, wurde in Weiß angestrichen. Aber die Hauptattraktion war ein ganz neuer Drive-in-Schalter, an dem auch am Samstag in Überstunden gearbeitet wurde, weshalb die Lkws der Baufirma auf dem Parkplatz der Bank standen. Er stellte seinen Wagen in der roten Zone vor Marthas Geschäft für Frauenbekleidung ab. Marthas Ehegatte Roger kroch gerade im Schaufenster herum und bekleidete die Puppen. Er erblickte Brody, grinste und tätschelte dabei den Popo einer Puppe. Drei Türen weiter südlich stand ein neues Neonschild mit den Worten >Amity Eisenwaren< an die Wand des Gebäudes gelehnt und wartete darauf, von Albert Morris an seinen rechtmäßigen Platz gehängt zu werden. Brody trat in die schattige Kühle der Starbuckschen Apotheke. Selbst bei Starbucks schien wieder Leben in den Betrieb gekommen zu sein. Nate war während der >Krise<, wie man es in Amity nannte, an den Rand des Bankrotts geraten. Er hatte seinen eigenen Neffen, der im Hinterraum Fotos entwickelte, entlassen, dem kleinen Laufjungen und dem Mädchen an der Sodabar gekündigt, hatte selbst zwischendurch Filme entwickelt, die Hauslieferungen eingestellt und seine knochige Ehehälfte Lena, ebenso mürrisch und schweigsam wie er, hinter die Sodabar gestellt.
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Zweites Kapitel Martin Brody, der Polizeichef von Amity, saß an seinem Schreibtisch und schaute auf die Uhr an der Wand. Sie tickte der Mittagsstunde zu, ächzte einen Moment und tickte dann weiter. Das Licht auf seinem Tischtelefon begann zu blinken. Er warf Polly Pendergast, die in der Zentrale saß, einen Blick zu. Schließlich war sie ja dazu da, die Anrufe um die Mittagszeit entgegenzunehmen, verdammt noch mal. Sie war zu alt und zu unbeweglich, um irgend etwas im Kopf zu behalten, und außerdem war sie gegen jeden Rausschmiß gefeit. Er starrte sie an und weigerte sich einfach, nach dem Hörer zu greifen. »Wer ist es?« fragte er schließlich. »Nate Starbuck«, verkündete sie. »Ein Parksünder.« »Scheiße«, stieß er hervor. Sie haßte Kraftausdrücke und kniff die Lippen zusammen. Sollte sie nur. Sie zog eine Schublade auf und nahm ihre Lunchtasche heraus. Was sie als ihren Mittagshappen bezeichnete, bestand zunächst aus einem Sandwich mit Rahmkäse und Gelee. Sein Magen drehte sich um. Sie aß stets an ihrem Schreibtisch, brachte ihm auch immer einen Sandwich mit und hoffte, daß er nicht fortgehen müsse und ihr beim Essen Gesellschaft leisten könne. Um sie zu ärgern, ignorierte er absichtlich das Telefon. »Sagen Sie ihm, ich würde auf dem Heimweg zum Essen bei ihm hereinschauen«, sagte er. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß er seit über einem Jahr keinen Parksünder in der Stadt gehabt hatte. »Parkvergehen? Die Geschäfte scheinen besser zu gehen.« Er nahm seinen Hut und seine Strafzettelformulare und ging zur Tür. Sie blickte ihn hingebungsvoll an. Er griff nach dem Sandwich in ihrer Hand, wandte sich ab und tat so, als wolle er ihn verschlingen. Sie schrie auf, und er gab ihn ihr zurück. Er tätschelte ihr die welke Wange und schritt aus dem Rathaus in den hellen Frühlingssonnenschein.
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Er glitt hinter das Steuer des Polizeiwagens I, schaltete das Funkgerät ein, überlegte es sich dann aber besser und schaltete es wieder aus. Es war einmal wieder typisch Polly, ihn ausgerechnet jetzt, wo er auf dem Heimweg war, mit einer Lappalie aufzuhalten. Sie war genauso vertrottelt wie die Stadt, der sie diente. Aber nun hatte er, wie Brody bemerkte, wenigstens ein neues Mädchen engagiert. Es war Jackie Angelo, die fünfzehnjährige Tochter eines seiner Streifenpolizisten. Nach Lena war sie gewiß eine wohltuende Abwechslung. Ihm schien es sogar, daß sie immer mehr wie eine junge Gina Lollobrigida aussah. Sie hatte himmelblaue, norditalienische Augen und honigfarbenes Haar. Sie lächelte nur selten, aber wenn sie es tat, tanzten ihre Augen, rümpfte sich ihr Naschen, und dann hielt sie sich die Hand vor den Mund, um ihre Zahnklammern zu verbergen, die bei ihr ganz besonders auffielen. Sie zwinkerte Brody zu, als er eintrat, blickte resigniert zur Decke und wies zum Ladentisch. Starbuck war der hagere Sproß einer Familie aus Bedford, die im Handel mit Walfischtran ihr Vermögen erworben hatte. Er stand am Rezeptschalter und tippte gerade ein Flaschenetikett. Die Schreibmaschine war eine Woodstock, und Brody war sicher, daß sie als Museumsstück mehr wert war als Nates ganzer Laden. Starbuck sah fantastisch aus mit seinem weißen Kittel und seinem grünen Zelluloidmützenschirm. Wie die Illustration aus einem alten Buch. Und dem immerhin leichten Auftrieb seiner Geschäfte zum Trotz machte er immer noch die gleiche saure Miene wie früher. »Guten Morgen, Nathaniel«, murmelte Brody. Starbuck blickte nicht auf. Er benetzte das Etikett mit einem Schwamm und klebte es behutsam auf eine Flasche. Dann stellte er die Phiole auf den Ladentisch. »Ihre Frau hat gestern angerufen. Ihre Schilddrüsenpillen.« »Was ist nun mit diesem geparkten Wagen?« Starbuck wies mit dem Daumen zur Seite und spuckte: »Casino del Mar.« Er sprach das Wort mit Ekel aus und betonte die erste Silbe, um damit seinem Abscheu vor ausländischen Namen noch besonderen Ausdruck zu geben. -1 6 -
»Direkt neben meinem Lieferwagen. Ich sah, wie Peterson ihn dort parkte. Er ist in der Bank.« Er starrte Brody an. »Ausgerechnet an einem Samstag.« »Glauben Sie, er will sie ausrauben?« »Sollte mich nicht wundern. Aber eine Waffe hat er sicher nicht. Für mich ist die Bank jedenfalls am Samstag nicht offen.« »Vielleicht schulden Sie ihnen nicht genug Geld.« Starbucks Blick wurde hart. »Schuldet denen nicht jeder was? Außer denen«, so fügte er bedeutsam hinzu, »die ihren Besitz verkauft haben?« »Hätte ich vielleicht nicht verkaufen sollen?« brummte Brody. Starbuck zuckte die Schultern. »War immerhin ein gutes Geschäft. Ich wollte, ich hätte Grundbesitz am Strand.« »Die lausigen paar Quadratmeter, Nate? Fast alle haben doch verkauft. Herrgott noch mal, wieviel, glauben Sie denn, habe ich dafür bekommen?« »Nein«, stimmte Brody ihm zu. »Aber nun hören Sie mal. Peterson konnte seinen Wagen doch nicht bei der Bank abstellen. Da stehen doch die ganzen Laster. Und Ihr Parkplatz ist leer, also was kann es Ihnen schon ausmachen?« Starbuck preßte die Lippen zusammen. »Verordnung der Stadtbehörde, stimmt's? Nur für Kunden der Apotheke. So heißt es doch ausdrücklich, stimmt's?« Er zuckte die Schultern. »Na ja, vielleicht haben Sie Angst, ihm einen Strafzettel zu verpassen. Daran hatte ich noch nicht gedacht.« Brody machte auf den Hacken kehrt und ging durch die Seitentür hinaus. Petersons Wagen mit dem New-JerseyNummernschild und dem in feinen Goldbuchstaben diskret an den Türen aufgemalten >Casino del Mar< stand neben Starbucks Lieferwagen. Er blickte auf die Wand des Gebäudes. Es half alles nichts. Da stand ganz groß und deutlich in neugemalten Lettern: >NUR FÜR KUNDEN DER APOTHEKE. Bei Zuwiderhandeln wird der Wagen abgeschleppt.< Und darunter stand sogar noch die Nummer der betreffenden behördlichen Verordnung. Es war Starbucks Beitrag zur -1 7 -
Verschönerung des Stadtbildes, und dabei würde es wohl auch bleiben. Er war gerade dabei, den Strafzettel auszuschreiben, als er Peterson ankommen sah. Er war ein sportlich gebauter Mann. Peterson grinste. »Mein Gott, ist Amity schon so pleite?« »Schau, Pete, geh doch rein und kauf dem alten Trottel irgendwas ab. Ein Stückchen Kaugummi oder irgendwas.« Peterson dankte ihm und ging in den Laden. Brody steckte sein Strafzettelbuch in die Tasche und ging zum Polizeiwagen I zurück. Er ließ den Blick noch einmal die Straße hinunterwandern. Es sah wirklich schon ganz gut aus. Der Mann, den er in die Apotheke geschickt hatte, war dabei, die Stadt zu retten, und nur Idioten wie Starbuck schienen es immer noch nicht zu wissen. Er hatte Ellens Pillen vergessen, aber der Tag war zu schön für eine zweite Begegnung mit Starbuck. Er stieg in den Wagen und fuhr zum Mittagessen nach Hause. »Sean«, seufzte Ellen, »willst du nun endlich deine Bohnensuppe aufessen?« Brody nippte an seinem Bier, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete seinen Jüngsten, der ihm gegenüber hinter seinem Teller saß. Er rührte mit seinem Löffel in der Suppe herum und hatte die noch verbleibenden Bohnen an beiden Seiten wie Fußballmannschaften aufgebaut. Brody lachte, aber Ellen fand es gar nicht komisch. »Ich warte, daß er aufgegessen hat, damit ich seinen Teller waschen kann.« »Ach laß ihn doch, Ellen«, sagte Brody. Jetzt hatte sie genug und nahm dem protestierenden Sean den Teller weg. »Vergiß bitte Mike nicht«, erinnerte sie Brody. Er hatte es nicht vergessen und nur bis nach dem Mittagessen verschoben. Mike hatte seine Mutter beschwatzt, in das Komitee für die diesjährige Juniorregatta im Amity-Bootsclub einzutreten, und sie hatte sich abgeschuftet, damit alles am -1 8 -
nächsten Sonntag klappen würde. Er hatte seinen jüngeren Bruder in sein Team aufgenommen, und der Kleine war ganz aufgeregt. Und dann hatte Mike scheinbar alles aufgegeben. Das Boot war in einem entsetzlichen Zustand, das Steuer mußte repariert werden, es hatte einen Riß im Segel, und außerdem war er seit letztem Sommer nicht mehr bis zum Leuchtturm des Northcape ausgefahren. Brody erhob sich schwerfällig, und Sean stand ebenfalls auf. Brody lockerte sich den Gürtel, und Sean tat es ihm nach. Dann bückte sich Brody, um seinem Sohn ins Gesicht zu sehen. »Heh, wie war's, wollen wir heute surfen gehen? Wir könnten auch heute abend ein bißchen vor dem Casino schwimmen, was?« Sean grinste. Ihm fehlte ein Zahn. Selbst die Lücke sah wunderschön aus. »Ist nicht nötig«, sagte der Kleine mit gespieltem Trotz. Dann gab er plötzlich Brody einen Kuß und lief zur Küchentür hinaus. Das wenigstens hätten wir erledigt, sagte sich Brody und ging mit schweren Schritten die Stufen hinauf. Ellen Brody griff nach dem Gummihandschuh, um das Geschirr abzuwaschen. Dann erinnerte sie sich, daß er am Zeigefinger ein Loch hatte, und warf ihn angewidert fort. Sie goß das Abwaschmittel in das Spülbecken und ließ heißes Wasser aus dem undichten Hahn nachlaufen, wobei sie ihre Bluse bespritzte. Sie fluchte, bemühte sich jedoch, die Ruhe zu bewahren, so daß sie Sean nicht fortscheuchte, denn sie wußte, daß er im Waschzimmer an der Werkbank war und die Ruderpinne von seines Bruders Boot neu anstrich. Das gehörte zu seinen Pflichten im Hinblick auf die bevorstehende Regatta. Falls er sie jetzt das Geschirr spülen hörte, würde er sich sicher zum Strand fortschleichen, wenn sie ihn zum Abtrocknen benötigte. Sie tauchte ihre Hände in das heiße Wasser und fluchte noch einmal. Brody hätte ihr heute ein neues Paar Gummihandschuhe aus der Stadt mitbringen sollen. Er
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kümmerte sich einen Dreck darum, ob sie sich hier Waschfrauenhände holte. Eigentlich würde sie nicht einmal die Handschuhe brauchen, wenn sie den Geschirrspülautomaten repariert hätte, anstatt den ganzen Sonntag lang mit Mike und Sean an dem blöden Boot zu schuften, und jetzt war der Sommer da, und sie war wieder einmal ihren Mann für drei Monate los, weil er in der verdammten Stadt bleiben mußte. Das machte allerdings nicht mehr viel aus, denn sie war ihn ja schon an ihre Söhne losgeworden. Sie rief Sean. Keine Antwort. Aber das Quietschen der Tür verriet ihr, daß er sie gehört hatte. »Schokoladenkekse?« rief sie heuchlerisch. Sie hatte zwar keine, aber im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Und außerdem war er in dieser Woche mit dem Geschirrabtrocknen an der Reihe. Sean trat nichtsahnend ein. Er lächelte. Auf seiner Nase war ein weißer Ölfarbenfleck. Sie wischte ihn fort und reichte ihm mit entschlossener Geste das Geschirrtuch. »Na, wie geht's dem Boot?« Er blickte auf das Geschirrtuch, als ob er noch nie eins gesehen hätte. »Es gibt Schokoladenkekse?« »Du hast sie doch gestern abend alle aufgegessen. Oder?« »Aber du hast doch eben gesagt ...« »Ich habe nur laut gedacht. Ich wußte nicht, daß jemand draußen war, denn niemand hat mir geantwortet.« Sie reichte ihm einen Teller. »Laß ihn ja nicht fallen«, warnte sie ihn. »Und ich meine es ernst.« Er zog einen Flunsch. »Mike hat gesagt, ich solle die Ruderpinne fertig streichen, sonst kann ich nicht bei der Regatta mitmachen.« »Nach dem Abtrocknen.« »Ach, Mama ... Daddy!« -2 0 -
»Er ist oben und redet mit Mike.« So, jetzt trockne mal das Geschirr ab, du kleiner Goldfasan, fügte sie zu sich selbst hinzu, oder ich dreh dir den Hals um. Er begann langsam abzutrocknen. »Ich werde nie mit dem Boot fertig, und er wird mich nicht in sein Team lassen!« »Sean«, sagte sie ernsthaft. »Jetzt hör mir mal gut zu und vergiß nicht, was ich dir sage.« Er sah zu ihr auf. Er hatte seine Unterlippe vorgeschoben, seine Augen blickten sie feindselig an, und er war wieder einmal das typische verwöhnte Gör. Sein Vater hätte ihn so kaum wiedererkannt. »Ja?« »Wenn du mir heute und für den Rest der Woche nicht hilfst, gibt es keine Juniorregatta.« »Wieso?« »Weil ihr dann keinen Präsidenten in eurem Komitee habt! Und ohne Präsidenten keine Regatta. Wie gefällt dir das?« »Ach, Mama!« »Ich meine es ernst.« Er wischte einen weiteren Teller ab, und dann lächelte er. »Er würde dir gar nicht erlauben, auszusteigen.« »Daddy? Was bildest du dir ein? Er würde es mir nicht erlauben? Willst du es darauf ankommen lassen?« Sean blickte sie mit seinen porzellanblauen Augen an. Nein, auf einen Streit wollte er es nicht ankommen lassen. »Nein.« »Na schön«, sagte sie. Sie kochte innerlich vor Wut und beendete die Geschirrwäsche. Er würde es ihr nicht erlauben, auszusteigen? Was bildeten die sich eigentlich ein? War sie etwa eine Sklavin? Der Ärger war nur, daß sie wahrscheinlich recht hatten. Brody stand vor Mikes Pult am Fenster des Schlafzimmers. Er blätterte in einer Sporttaucherzeitschrift und gab seinem wütenden, auf dem Bett liegenden Sohn Zeit, sich abzukühlen. Er hatte ihm zum Kauf des Bootes verholfen, aber damit hatte er es augenscheinlich noch nicht geschafft ... -2 1 -
Das Tauchermagazin hatte auf einem meterhohen Stapel ähnlicher Zeitschriften gelegen. Brody war gerade auf ein zweiseitiges Inserat der U.S.-Taucher gestoßen. Es war ein prächtiger Vierfarbendruck. Ein sehr männlich aussehender Taucher mit Schnurrbart und seewasserglänzender neuester Ausrüstung, und neben ihm blickte ihm ein Fotomodell in einem hauchdünnen Gummianzug lüstern in die Augen. Die Schweinehunde, sagte er sich. Die verdammten geldgierigen Schweinehunde ... »Was willst du nun machen? Sie verbrennen?« quengelte Mike mit dem Blick zur Decke. »Ist ja schließlich keine Pornozeitschrift!« Brody betrachtete seinen Sohn. Mike sah müde aus. Er hatte heute nichts zu Mittag gegessen, und gestern auch nicht. Diesen Hungerstreik hatte ein vorgedrucktes Formular vom Aqua-Sporttaucher-Zentrum ausgelöst, das sein Freund Andy ihm gegeben hatte. Andys Vater hatte unterschrieben, und Andy besuchte wahrscheinlich bereits den neuen Tiefseetaucherkurs. Aber ehe Brody Mikes Formular unterschrieb, müßte es in der Hölle schneien. Er deutete auf den Zeitschriftenstapel. »Nein, Mike. Pornographie wäre mir fast lieber.« »Meinst du? Na schön, das kann ich mir leicht verschaffen.« Seine Stimme klang kehlig. »Am Zeitschriftenstand bei Starbuck. Jackie macht sie nicht einmal auf, weil sie so scharf sind. Na schön. Ich hatte mir das Geld für den Kurs gespart, aber wenn du willst, kann ich mir ja dafür Pornohefte kaufen.« »Nun höre mal, Mike ...« Sein Sohn rollte sich herum und schaute ihn an. »Und siehst du, Daddy, während Andy und Chip und Larry und all die anderen in diesem Kaff zum Taucherkurs gehen, kann ich ja hier oben liegen und mir Playgirls angucken ...« »Halt den Mund!« bellte Brody ihn an. »Wenn du unbedingt schwimmen willst, dann geh ins städtische Schwimmbad. Dein kleiner Bruder hat mehr Verstand als du. Er ist am Strand geblieben. Aber du bist ins Meer geschwommen!« -2 2 -
»Ins Meer geschwommen!« rief Mike. »Wenn schon! Ich kann schwimmen wie ein Fisch. Und ich lebe auf einer Insel. Und da soll ich nicht einmal im Meer schwimmen dürfen ...« »Du kannst ja segeln.« »Und das war auch mal wieder der reinste Regierungsbeschluß. Ich habe genug von dem blöden Laser ...« »Du bist der beste Segler unserer Stadt.« »Aber ich möchte nun mal der beste Tiefseetaucher sein, verstehst du das denn nicht? Es ist doch schließlich mein Leben.« »Nimm dich in acht, Junge!« Brodys Stimme klang ärgerlich. Er trat vom Pult weg und griff nach dem Stuhl. Sein Sohn starrte ihn entsetzt an. Brody trat auf ihn zu und holte zu einem Schlag aus. Mike zuckte zusammen. Mein Gott, wollte er ihn verprügeln? Brody griff ihm an die Stirn. Sie war heiß, und vielleicht hatte er einen Fieberanfall. »Glaubst du etwa, ich sei krank?« quengelte Mike. »Ja, mir ist kotzübel. Kotzübel von deinen Ideen. Kotzübel von Spitz.« »Wer ist Spitz?« »Mark Spitz.« Mike weinte jetzt. »Der große olympische Schwimmeister. >Heh, Spitz, komm an den Strand, aber geh nicht ins Wasser ...< - >Spitz, gib mir Schwimmunterricht ...< >Spitz, Mann, nimm dein Badetuch weg, denn die Flut ist da.<« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Dieser verdammte Spitz bin ich.« »Mike!« sagte Brody hilflos. »Wenn ich bloß in Omaha wäre«, flennte sein Sohn. »Wir leben aber nicht in Omaha.« »Daddy?« Brody strich seinem Sohn das Haar von den Augen. »Ja?« »Der Hai ist doch tot.« Brody nickte. »Ja, der Hai ist tot.«
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Er überredete Mike, sich unten einen Sandwich zu holen. Dann setzte er sich und blätterte in der Zeitschrift, bis er bemerkte, daß er gar nicht hinsah. Er nahm das Formular, faltete es zusammen, steckte es in seine Jackentasche und verließ das Haus.
Drittes Kapitel Das dicke kleine Mädchen grub ein Loch in den Sand, durch das es nach China zu gelangen hoffte. Neben ihm lag der athletisch gebaute Mann, den es Daddy nannte - aber sie war sicher, daß er nicht wirklich ihr Vater war, denn wie hätte sie sonst so dick und dumm sein können -, und er schien hinter den ihr so verhaßten dunklen Brillengläsern zu schlafen. Aber er schlief nicht, denn plötzlich fragte er: »Hast du Onkel Brian kürzlich gesehen?« Sie schaute ihm ins Gesicht. Er hatte sich ihr ein wenig zugewandt, aber hinter den dunklen Gläsern war es unmöglich, zu erkennen, ob er sie auch ansah. Ihre Mammi hatte ihr gesagt, sie solle derartige Fragen nicht beantworten, aber wenn sie sich nun daran hielt, könnte er böse werden und sie frühzeitig zurückbringen. »Nein«, log sie. »Schau mal, Daddy, da ist eine Ameise in das Loch gefallen.« Es gab zwar keine Ameise, aber irgend etwas mußte sie ja sagen, und sie sollte auf keinen Fall ihrem Daddy etwas von Onkel Brian oder Onkel Jerry oder Flip oder irgend jemand anderem erzählen. Ihr Vater drehte sich auf die Seite und schaute in das Loch. »Eine Ameise?« Sie errötete. »Sie war jedenfalls da. Daddy? Sie war ganz bestimmt da.« Er brummte und legte sich wieder auf den Rücken. »Na, was habt ihr denn so in letzter Zeit getrieben, du und Mammi? Immer noch derselbe Babysitter?« -2 4 -
Das war eine Falle. Sie nickte. Jetzt hatte sie keine Lust mehr, weiter ihr Loch zu graben. Sie schaute einer Schar von fünf Pelikanen zu, die nahe am Strand nach Fischen tauchten. »Schaust du dir oft das Fernsehen an?« fragte er. Er war ein männliches Fotomodell und hatte viel außerhalb zu tun, und sie schaute sich immer das Fernsehen an, wenn sie abends allein mit dem Babysitter war. Eine weitere Falle also. »Daddy, guck doch mal, die Pelikane!« Er murmelte, er habe schon Pelikane gesehen, und sie seien in dieser nördlichen Gegend ziemlich selten, kämen aber immer wieder nach Amity, und die Stadt sei berühmt dafür. Sie wartete auf die nächste Frage. Sie beobachtete den Führer der Vogelschar, der wie ein Sturzbomber - das kannte sie vom Fernsehen - in das Wasser stieß, so daß es hoch aufspritzte. »Bringt sie dich auch zum Zahnarzt, wie ich es ihr gesagt habe?« »Ja.« Sie befühlte ihre Zähne. Eine ausgemachte Lüge. Jetzt konzentrierte sie sich auf den Pelikan, der noch nicht wieder aus den Tiefen aufgetaucht war. Wenn sie ihn nur für die Tauchvögel interessieren könnte, dann würde er vielleicht endlich die Fragerei bleiben lassen. »Daddy! Die werden ja alle Fische aufessen!« »Jeder muß halt leben. Sind deine Zähne in Ordnung?« Jetzt war es geschehen. Woher sollte sie wissen, ob ihre Zähne in Ordnung waren, wenn ihre Mutter mit ihrer eigenen Hilfe vergessen hatte, sie zum Zahnarzt zu bringen? Und das Geld dafür war bestimmt schon lange ausgegeben. »Daddy, der Pelikan ist nicht wieder aufgetaucht!« »Vielleicht hat ein Fisch zur Abwechslung einmal ihn gefressen. Sind deine Zähne in Ordnung, Kleines?« »Ja.« Jetzt war sie wirklich um den Pelikan besorgt. »Wie lange können sie es unter Wasser aushalten?« »Da bin ich überfragt. Ziemlich lange, nehme ich an.« Er schaute auf seine Uhr, und sie hielt den Atem an. Noch nicht, bitte noch nicht, es war ja erst kurz nach Mittag ... -2 5 -
Er rollte sich auf den Bauch. Sie atmete auf. Das war es also. Zeit, um sich auf den Bauch zu legen. Er mußte ja aufpassen, daß er ebenmäßig bräunte, und es war schon, wie wenn man einen Frühstückstoast in den Toaster legt; er konnte ja einen Werbespot für Jantzen-Badekleidung bekommen, denn schön genug war er ja dafür. Der Pelikan mußte irgendwo anders aufgetaucht sein, wo sie nicht hingeschaut hatte. Sie zählte die Vögel, die über der Brandung flogen und tauchten und wieder emporkamen. Es waren aber nur noch vier. Jetzt verschwand ein weiterer unter der Oberfläche. Dieses Mal stand sie auf, um besser ins Wasser sehen zu können. Auch dieser kam nicht wieder zum Vorschein. »Daddy? Daddy?« Er schlief oder tat wenigstens so. Er hätte ihr sowieso nicht geglaubt. Sie erzählte ihm ja immer allerlei Märchen. Wütend stieß sie Sand in ihr Loch nach China. Wenn es eine Ameise gegeben hätte, so wäre sie jetzt gewiß tot. Brody parkte seinen Wagen vor der Amity Aqua Sports, Inc., die sich in einem riesigen grünen Gebäude, einen halben Block vom städtischen Dock entfernt, zwischen der Konservenfabrik Amity Sea Food und den Billardsälen bei Roy Schwartz etabliert hatte. Vor langen Zeiten hatten hier nur Bretterbuden gestanden, danach war es ein Lagerhaus für Fischnetze, Hummertöpfe und Schiffszubehör für die Schiffe der Handelsfischerei gewesen, die einmal die einzige Industrie der Stadt war. Tom Andrews hatte den ganzen Winter lang dort herumgesägt und gehämmert, das Gebäude ganz allein instand gesetzt, womit er sich den Ärger des örtlichen Baugewerbes zuzog. Jetzt schimmerte das Haus unter seiner dunkelgrünen Farbschicht. Hinter den neuen, großen Glasscheiben standen Ausrüstungsgegenstände aller Art, Taucherflaschen, Wasserski, Surfbretter, Neuheiten in Amity, von denen sich Andrews besonderen Erfolg versprach. -2 6 -
Brody war ihm nur einmal begegnet. Er stammte aus Kalifornien und leistete einen bescheidenen Ausgleich zu der üblichen Ost-West-Völkerwanderung. Er hatte um die Erlaubnis nachgesucht, an der Water Street eine Einbruchsalarmsirene anbringen zu dürfen. Brody hatte darüber gelächelt, denn seit zehn Jahren war in der Stadt nie eingebrochen worden. Und außerdem hätte jeder Dieb es sich wohl zweimal überlegt, bevor er bei diesem hünenhaften, bärtigen Ladenbesitzer einbrach, der direkt über seinem Geschäft wohnte. Jetzt allerdings, als er all die für Halbwüchsige so verführerischen Ausrüstungen sah, sagte er sich, daß Andrews vielleicht doch recht gehabt hatte. Brody trat in das Gebäude ein. Es roch immer noch nach Ölfarbe. Er blieb stehen und bewunderte die Auslage. An einer Wand stand ein imponierendes Mercury-Außenbordmotorboot. Daneben glänzte ein grellrotes, stattliches Wasserskiboot, das man wahrscheinlich durch die großen Lagerschuppentüren der hinteren Hausfront hereingebracht hatte. Taucheranzüge hingen an Metallgestellen, und auf den Tischen lagen Tauchermesser, Unterwasseruhren, Pfeilgeschosse und Kammuscheleisen. Es gab auch eine beträchtliche Auswahl an Chromklappen, Ketten und kleinen Ankern für Motorboote. Welche auch Andrews Pläne waren, sie drückten jedenfalls einen unerschütterlichen Glauben an die Zukunft Amitys aus. Brody fand ihn immer sympathischer. Andrews hatte gerade einem fröhlichen jungen Paar eine Wasserskiflagge verkauft. Brody erkannte die beiden. Sie gehörten zu den ständigen Sommergästen. Als sie gegangen waren, streckte Andrews ihm seine Riesenpranke entgegen. »Hallo«, grinste er. Seine Augen zwinkerten zwischen den Fettkissen hervor, aber selbst sein Fett sah irgendwie muskelstark aus. Brody schätzte ihn auf dreihundert Pfund, einschließlich des Bartes, und war sicher, daß er das Wasserskiboot selbst in seinen Armen in den Laden gebracht hatte. Wenn er das nächstemal einen Notruf erhalten sollte, weil irgendein besoffener Seemann in einer Kneipe Krach schlug, dann wäre es eine gute Idee, Andrews hinzuschicken. -2 7 -
»Was kann ich für Sie tun, Chef?« fragte der Riese. »Ach, Tom, lassen Sie den >Chef<. Sonst fühle ich mich wie irgend so einer von der Küstenwache. Bei mir gibt es nur mich und drei weitere Pflastertreter. Sagen Sie einfach Martin oder Brody. Einverstanden?« »Einverstanden. Was gibt's?« Brody zeigte ihm Mikes Formular. Die Wirkung war verblüffend. Andrews kam hinter dem Ladentisch hervor und bewegte sich wie ein Athlet. Er legte Brody den Arm um die Schultern und drückte ihn. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Fabelhaft! Einfach fabelhaft! Wie hat er das geschafft?« »Mike?« Brody sah ihn verblüfft an. »Ich wußte gar nicht, daß Sie ihn kennen. Nun hören Sie mal, ich habe das verdammte Ding ja noch nicht unterschrieben. Ich wollte mich nur einmal mit Ihnen unterhalten.« Jetzt sah Andrews schon ein bißchen weniger begeistert aus. Er ging hinter seinen Ladentisch zurück, setzte sich an die Werkbank und begann, den Druckmesser eines Tauchgeräts auseinanderzuschrauben. »Na schön. Der Juniorkurs dauert vier Wochen. Wenn die Jungen bestanden haben, bekommen sie eine allen Anforderungen entsprechende Taucherkarte. Ohne sie wird ihnen kein Tauchergeschäft die Flaschen füllen, und deshalb bedeutet sie ihnen etwas, sie ist wie ein Führerschein.« Er erzählte Brody, daß der Unterricht an zwei Stunden am Samstag und zwei Stunden am Sonntag stattfand. Er bestand aus Prüfung der Schwimmkapazität, Tauchen mit Schnorchel, Umgang mit Tiefseetaucherausrüstungen, Atemübungen und Auftauchübungen für den Notfall. »Und das findet im städtischen Schwimmbad statt?« fragte Brody. Der Mund war ihm trocken. »Bis dahin alles.« »Bis dahin«, wiederholte Brody. »Dann folgt ein schriftliches theoretisches Examen.« Andrews wies auf einen Stapel Textbücher auf seiner Werkbank. -2 8 -
»Maximale Aufenthaltszeit auf dem Meerboden, Druckverminderungskurven, die Wirkung des Stickstoffs in der Blutzirkulation, Tiefenrausch und so weiter. Bei hundert Prozent kommt man durch.« Brody fühlte neue Hoffnung. Mike rühmte sich zwar, wie ein Fisch zu schwimmen, aber er würde sich nie lange genug konzentrieren können, um die technische Prüfung zu bestehen. Also könnte man unterschreiben. Jedenfalls wäre er diese Sorge los. Er griff nach dem Kugelschreiber. Andrews fuhr fort: »Dann gibt es noch eine letzte Prüfung. Für die erste Klasse findet sie morgen statt. Im Wasser.« »Im Wasser?« »Ja, im Ozean.« Seine Hand begann zu zittern. Einfach zu blöde, was war eigentlich mit ihm los? Dieser Mann war doch völlig kompetent. Aber er konnte nun doch nicht unterschreiben, und er legte den Kugelschreiber beiseite. »Wieviel kostet das?« Andrews lächelte. »Für Mike überhaupt nichts.« »Also Tom, nun hören Sie mal!« Als Polizeichef war es ihm unbehaglich, eine solche Gefälligkeit anzunehmen, obgleich man mit sechshundert Dollar im Monat weiß Gott jeden Cent brauchte. »Das können Sie nicht tun.« Der Riese schraubte den Tiefenmesser wieder zusammen. Der Schraubenzieher schien in seinen Pranken zu verschwinden. »Ich habe es eigentlich schon getan.« »Was?« Andrews blies in das Mundstück und warf den Tiefenmesser in eine Schachtel, auf der >Geprüft< stand. Dann zog er eine Aktenschublade heraus. Er entnahm ihr einen Ordner und schlug ihn bei einem Prüfungsbericht auf. Er schob ihn Brody über den Ladentisch zu. Mikes Name stand oben in Druckbuchstaben, viel sauberer als in allen Schulheften, die er je nach Hause gebracht hatte. Brody las ein paar der Fragen: >Wenn ein Ballon auf Meereshöhe 30 -2 9 -
cm3 ausfüllt, wieviel cm3 füllt er auf einer Höhe von 1,80 aus?< >Welches ist der Prozentgehalt des Stickstoffes in der Luft?< Andrews hatte oben auf das Blatt >100%< hingekritzelt. Und das stammte von einem Jungen, der nicht einmal die erste Algebraprüfung bestanden hatte? Er fühlte Ärger in sich aufsteigen. »Wozu braucht er noch meine Unterschrift? Er scheint es ja ohne mich bisher recht gut geschafft zu haben.« Andrews sah ihn an und sprach leise: »Ich habe den Kurs vor einem Monat begonnen. Es waren zwölf Jungen. Sie hatten die unterschriebenen Formulare in der Hand, und sie alle tollten erfreut herum. Und ein Junge saß im Badeanzug an der anderen Ecke des Schwimmbeckens - Gott, war das eine Kälte. Keinen Taucheranzug. Aber er hörte zu. Tat so, als ginge es ihn nichts an. Nach dem Kurs stand er herum und kratzte sich das Eis aus den Ohren. Er hat mir erzählt, daß Sie eine fixe Idee haben, und er sagte mir auch warum. Er darf nicht im Meer schwimmen, er darf keine Taucherkarte bekommen, aber vielleicht könnte er wenigstens am Schwimmbecken zuhören? Er hat genug Geld gespart, und er hat es mir auch angeboten, falls ich es wollte ...« Andrews zuckte die Schultern. »Da hab ich mir gesagt, was soll's, was zum Teufel, wenn ich nichts dafür verlange, bin ich ja wahrscheinlich auch nicht verantwortlich, und vielleicht kann er Sie doch noch überreden, bevor die Übung im Meer stattfindet, und dann hat er mich mit seinen großen blauen Augen so bittend angeschaut ...« »Also gut«, sagte Brody plötzlich. »Also gut!« Er war wütend, aber nicht auf Andrews oder auf Mike, sondern auf sich selbst, weil er seinen Sohn in diese Situation gebracht hatte. Es war ja Unsinn. Den ganzen Sommer lang waren die Leute an der Küste von Amity getaucht, und sogar auch im Winter. Es gab so viele Tiefseefischer mit ihren Unterwasserpfeilen, daß sich die Berufsfischer bereits beklagt hatten. So behauptete
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man, daß sie schon alle Kammuscheln vom Meeresgrund geholt hatten. Und jedes Jahr kamen noch mehr Taucher her. Die Leute schwammen, segelten, liefen Wasserski und surften, und niemand hatte auch nur einen Kratzer abbekommen. Der Hai von Amity war tot. Nach statistischer Berechnung würde es nie mehr einen anderen geben. Jedenfalls nicht, solange er und wahrscheinlich auch Mike lebten. Er dankte Andrews, kaufte Mike einen Taucheranzug und Sean ein Klappmesser, damit der auch etwas hatte. Dann nahm er sich wieder das Formular vor und griff nach dem Kugelschreiber. Dieses Mal zitterte ihm die Hand nicht mehr. Brody saß den ganzen Nachmittag unruhig und schwitzend hinter seinem Schreibtisch. Der Taucheranzug auf dem Rücksitz des Polizeiwagens I trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Es war kaum gerecht, Mike bis zum Abend leiden zu lassen, aber er hatte ja keine Ahnung, wo er war. Und ein Samstagnachmittag war nicht die beste Zeit für einen Polizeichef, sein Büro zu verlassen. So bemühte er sich, es bis um fünf Uhr auszuhalten, und ging seiner normalen Routinearbeit nach. Len Hendricks hatte Minnie Eldridges siamesische Katze aufgetrieben, die seit drei Tagen verschwunden war. Sie befand sich in einem leeren Postsack auf den Stufen des Hintereingangs des Hauptpostamtes. Roscoe Turners Tochter Lily war von einem Radler angefahren worden, der verbotenerweise auf dem Bürgersteig vor Marthas Damenbekleidungsgeschäft herumgerast war, und Dick Angelo hatte den Dünenbuggy benützen müssen, um sie zum städtischen Krankenhaus zu bringen, denn der Krankenwagen war bei Nortons Tankstelle zum Ölwechsel und Abschmieren gewesen. Lilys rechte Wade war verletzt, und sie hatte den ganzen Vordersitz mit Blut besudelt. Den Radfahrer hatte man noch nicht aufgespürt, den sie, obwohl sie ihn zu kennen schien, nicht anzeigen wollte. Wahrscheinlich ein Schulkamerad. Man würde es ja herausfinden, wenn er sein Fahrrad zur Reparatur brachte.
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Brody ging schließlich doch schon fünf Minuten vor fünf fort. Er war unterwegs nach Hause, als er Sean erblickte, der die Water Street entlang heimwärts eilte. Er hielt an und öffnete die Tür. Der kleine Junge sprang herein. »Fische! Ich muß nach Hause und mir die Angel holen. Der ganze Hafen ist voller Dorsche. Ganz große sogar!« Brody schaute die Water Street hinunter. Es stimmte. Auf dem städtischen Dock sah man eine große Menschenmenge. Viele von ihnen hatten schon die Angeln zur Hand, und andere standen vor Hymans Sportfischereigeschäft und versuchten, sich Angeln zu mieten. »Daddy! Fahren wir doch auch hin.« Sean zappelte auf dem Sitz. »Leg dir den Sitzgürtel an.« Sean stöhnte und ließ das Schloß zuschnappen. »Stell die Sirene ein.« »Keine Sirene. Und zuerst mußt du zu Abend essen.« »Aber Mike hatte auch kein Mittagessen!« Das war schon richtig. »Wir werden sehen.« Er fuhr los. Im Rückspiegel blickte er auf das Dock zurück. Seltsam. Er hatte noch nie gehört, daß ein Dorsch sich in den Hafen von Amity verirrt hatte. Er hatte beabsichtigt, Mike eine lange Predigt über das Problem der Kommunikation zwischen Vater und Sohn zu halten und ihm unnötige Geheimniskrämerei vorzuwerfen. Aber Mike hatte schließlich gegen kein Familiengesetz verstoßen, als er ins städtische Schwimmbad gegangen war. Und nun saß er vor dem Fernseher und machte ein so trauriges Gesicht, daß Brody nicht mehr warten konnte. Ellen, die mit großer Erleichterung erfuhr, daß das Verbot, im Meer zu baden, aufgehoben war, wickelte den Taucheranzug in der Küche in Geschenkpapier. Sean war zum Dock aufgebrochen und schleppte sich mit einer Angelrute ab, die dreimal länger als er selber war. Er hatte sich einen alten Forellenkorb um die Schulter gehängt, und unter dem Gürtel trug er einen Sack für seine Beute. Als Köder hatte -3 2 -
er eine Büchse Sardinen mitgenommen. Sein neues Messer war an einem Lederband befestigt und hing ihm um den Hals. Und Brodys alter Anglerhut saß ihm so tief im Gesicht, daß er kaum sehen konnte. Brody goß sich seinen abendlichen Whisky ein und trat ins Wohnzimmer. Ellen folgte ihm mit dem Geschirr. Mike wandte sich ihnen zu. »Was gibt's?« »Es gibt nichts. Wir geben«, grinste Ellen. »Du hast halt heute Geburtstag«, erklärte Brody. Sein Herz pochte. »Wir haben es dir nie gesagt, aber du wurdest zweimal geboren, genau wie unser Präsident.« Mike nahm die Schachtel entgegen und öffnete sie. Noch vor einem Jahr hätte er das Papier mit der Gier eines Jagdhundes vor einem Fuchsbau aufgerissen. Aber jetzt knotete er behutsam das Band auf und faltete das Geschenkpapier auseinander. Dann starrte er verblüfft auf das Etikett. »Aqua Sport«, stammelte er. »Aqua Sport? Stimmt das, Daddy?« Er nahm den Deckel von der Schachtel. Da lag der zusammengefaltete Taucheranzug. Er berührte ihn leicht mit den Fingerspitzen. Und plötzlich fiel er seinem Vater in die Arme und preßte ihm das Gesicht an den Stoppelbart. Brody war an die Küsse des kleinen Sean gewöhnt, aber die Wange seines Ältesten hatte er seit zehn Jahren nicht mehr gespürt. Schließlich befreite sich Mike verlegen aus der Umarmung. »Er ist für morgen«, sagte Brody leise. »Du hast es unterschrieben!« flüsterte Mike. »Ich danke dir. Ich danke dir vielmals.« »Probier ihn doch einmal an«, sagte Brody. Der Gedanke, seinen Sohn im Taucheranzug auf dem Meeresgrund zu sehen, schnürte ihm die Kehle zusammen, und er befreite sich davon mit einem Schluck Whisky. »Laß mal sehen, wie du darin aussiehst.« Mike küßte seine Mutter und schlüpfte in den Anzug.
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Er war fünfzehn Jahre alt, und der Flaum auf seinen Wangen begann dichter zu wachsen. Bald würde er ein richtiger Mann sein, fand sein Vater. Aber er setzte sich trotzdem wie ein kleiner Junge in seinem Taucheranzug zu Tisch, als das Abendessen aufgetragen wurde. Und als Brody an jenem Abend schlafen ging, warf er einen Blick durch die offene Tür und sah, wie Mike sich in seiner Ausrüstung im Spiegel betrachtete. Allerdings hatten seine Augen einen seltsam gequälten Glanz. Vielleicht war das aber doch nur eine optische Täuschung.
Viertes Kapitel Es war sieben Uhr morgens, als der junge Ingenieur sein hellgelbes Wasserskiboot von der städtischen Hafenmole abstieß, an Bord kletterte und seiner Frau das Steuer abnahm. Er zog den Choke heraus, lenkte nach links, um einem großen Kabinenschiff auszuweichen, das gerade von der Küstenwache angeschleppt wurde. Er sah auch das unbemannte rote Polizeiboot von Amity, und dann trat er aufs Gas. Der Bug sprang hoch, und das Heck schäumte, und im Nu waren sie frei und schössen in die offene See hinaus. Erst danach machte er einen tiefen Atemzug. Es war wohltuend, dem Gestank von Fisch, Dieselöl und Kreosot zu entkommen und die kühle Seeluft einzuatmen. »Hast du die Skier nachgeprüft?« fragte er seine braungebrannte, langbeinige Frau. »Alles nachgeprüft, Herr Kapitän«, seufzte sie. »Das Schleppseil ist in Ordnung, wir haben Schwimmwesten an Bord, eine Signalflagge, eine Sirene, Scheinwerfer und sogar eine Leuchtpistole -« »Nun hör mal«, schrie er ihr über den Motorenlärm zu. »Das sind keine Mätzchen. Wenn der Motor aussetzt oder irgendwas passiert, wirst du froh sein, daß alles da ist.« »Notapotheke«, fuhr sie in singendem Ton fort, »Paddel, Stoßfänger, drei Schinkenbrote, eine Sechserpackung Bier, -3 4 -
zwei Dosen Diätkekse, Stoff für vier Joints, zwei Extrazündkerzen, ein Reserve-Benzinkanister - mein Gott, hast du den übrigens aufgefüllt?« Er nickte. Beruflich war er zweiter technischer Leiter für Qualitätskontrolle beim Grumman-Flugzeugwerk. Er vergaß nie etwas. Sie rieb sich Sonnenmilch auf die Stirn. »Was habe ich ausgelassen, Herr Kapitän?« »Das Radio. Die Funkverbindung mit der Küstenwache.« Sie griff unter das Vordeck, zog das Mikrofon heraus und sprach: »Hallo, Küstenwache Funkstation Shinnecock? Hier spricht Overtime. Bitte melden. Ende.« Shinnecock Bay funkte sofort leicht krächzend zurück: »Empfang laut und klar. Guten Morgen, Overtime. Shinnecock meldet sich ab.« Jetzt war er beruhigt und ließ das Boot über das flache Wasser der frühen Dämmerung brausen. Vor dem Morgenwind konnten sie gut ein bis zwei Stunden Wasserski gemacht haben, darauf wollten sie in einer kleinen Bucht jenseits von Amity Neck ankern, ein Bier trinken und dann wieder aufbrechen. Er begann, in leichten Kurven zu fahren, und ließ eine schäumende Spur in seinem Sog zurück. Er besaß das beste Boot der Welt, die beste Frau, und nun hatte er zwei Wochen Ferien. Es gefiel ihm in Amity. Wieder einmal hatten sie einen Winter hinter sich gebracht. Es war doch schön, am Leben zu sein. »Wenn es der Fisch war, warum bin ich dann nicht auch krank?« wollte Sean wissen. Brody blickte auf seinen älteren Sohn, der auf der kunstledernen Couch im Solarium lag. Nicht ein einziger Luftzug wehte in die Tüllgardinen eines offenen Fensters, und er konnte die Glocke von St. Xavier vom andern Ufer der AmityBucht hören. Dieses Läuten erweckte in ihm stets ein kleines Schuldgefühl, das irgendwie zum Sonntag gehörte. -3 5 -
»Ja, es war der Fisch, allerdings«, stöhnte Mike. »Es war eure gottverdammte kleine Elritze -« »Mike«, warnte Brody und erhob die Stimme. »Halt schon den Mund!« Mike versuchte aufzustehen, aber ein neuer Krampf schüttelte ihn, und er legte sich zitternd wieder hin. »Warum mußten wir ausgerechnet dieses elende Ding angeln? Und warum mußte sie es auch noch kochen? Und noch dazu zum Frühstück! Ist das nicht die Höhe? Als ob es nicht genug zu essen gäbe. Jetzt sind wir alle vergiftet.« »Es war ein ganz normaler Fisch. Und er hat mich überhaupt nicht vergiftet, und Daddy und Mama auch nicht!« Sean stapfte hocherhobenen Hauptes davon. Nun erschien Ellen, die jeder Krisensituation gewachsen war, mit einem Fieberthermometer. Sie steckte es Mike in den Mund und fühlte seinen Puls. Er murmelte irgend etwas und warf dabei seinem Vater flehentliche Blicke zu. »Der Puls ist achtzig«, sagte Ellen. »Das ist zu hoch für ihn. Er möchte wissen, wie spät es ist.« Brody schaute auf seine Uhr. »Zwanzig nach neun. Verdammt noch mal!« Er hätte schon vor zwanzig Minuten auf dem Revier sein sollen. Der Sonntag versprach einmal wieder recht ereignisreich zu werden, und außerdem herrschte eine Bullenhitze. »Neun Uhr zwanzig?« Mike sprang wie elektrisiert hoch. Das Thermometer fiel ihm von den Lippen. »Ich muß Punkt zehn an der Hafenmole sein! Fix und fertig angezogen!« Brody stieß ihn sanft auf die Couch zurück und gab ihm wieder das Thermometer. »Du gehst nirgendwohin, mein kleiner Tiefseeforscher, und vor allem nicht zur Hafenmole. Du hast ja jetzt schon Krämpfe.« Mike machte eine tragische Miene, aber er ließ das Thermometer im Mund und blieb zitternd liegen. Das Telefon klingelte. Es war Len Hendricks, der am Sonntag Polly an der Telefonzentrale vertrat. »Hallo, Chef?« -3 6 -
»Brody«, seufzte Brody. »Oder Martin. Oder Marty. Oder meinetwegen auch Kumpel ... ganz wie du willst.« »Tut mir leid, Chef. Wir haben da ein Problem.« »Um neun Uhr zwanzig an einem Sonntag?« »Das ist es gerade. Die Fähre von neun Uhr dreißig sollte in zehn Minuten hier eintreffen.« »Das will ich meinen, Len.« »Aber da liegt eine Riesenjacht im Hafen und blockiert den Anlegeplatz.« Er verspürte einen Stich in der Schläfe. »Sag ihnen, sie sollen sie wegschaffen, Len«, knurrte er. »Sag ihnen, sie sollen das gottverdammte Ding aus dem Weg schaffen.« »Wem soll ich das sagen?« »Dem Besitzer natürlich. Dem Kapitän. Der Mannschaft!« »Da liegt gerade unser Problem, Chef. Da ist niemand.« Ein tiefes Rattern dröhnte über den Sund. Er schaute aus dem Fenster. Die Fähre von Amity Neck tuckerte vollbeladen mit Menschen und Wagen auf ihn zu. Zum erstenmal, seit er sich erinnern konnte, war sie pünktlich. »Len?« »Ja?« »Möchtest du gerne Chef sein?« »Was?« Lens Stimme klang fast hoffnungsvoll. »Machen Sie einen Witz?« Brody hängte auf. Während der Katastrophe hatten alle auf seine Entlassung gedrungen, als er den Strand schließen wollte. Er hatte sich gewehrt und aus Hartnäckigkeit oder Stolz oder - wie er es lieber formulierte - aus Sorge um die Sicherheit der Badegäste seinen Willen durchgesetzt. Selbst Ellen hatte gewollt, daß er kündigte, und sie hatte inzwischen ihre Meinung nicht geändert. »Na, was hat Len dazu gesagt?« fragte Ellen. »Will er nun Chef werden?« »Ich glaube, er will«, murmelte Brody. Hendricks war dümmer, als er geglaubt hatte.
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Der junge Ingenieur wartete, bis seine Frau ihm das verabredete Zeichen gab, versicherte sich, daß die Warnflagge gut sichtbar am Heck flatterte, zog den Choke, blickte noch einmal zurück, um zu sehen, ob die Skier in der richtigen Distanz waren. Dann schaute er nach vorn und trat auf das Gaspedal. Sie erhob sich anmutig in seinem Sog und schwebte wie eine Meerjungfrau über die Wellen. Sie wirkte fast vollkommen, aber sie war noch nicht so entspannt wie am Ende des letzten Sommers, denn heute war ihre erste Ausfahrt in diesem Jahr. Immerhin war sie gut, sogar ausgezeichnet. Morgen konnte sie es wiederholen, und falls sie jemanden fanden, der für sie das Boot steuern konnte, würden sie in ein paar Tagen gemeinsam die Wasserski-Freuden genießen. Das Wasser war immer noch ganz still, und kein Luftzug ließ die geringsten Wellen aufkommen. Sie schwang sich von Seite zu Seite und zeigte in all ihren Bewegungen das gewohnte Übermaß an Selbstvertrauen. Um sie ein wenig zu necken, machte er eine scharfe Wendung, drosselte den Motor, verlangsamte ihr Tempo und ließ sie dann wieder aufschießen, als er in einer anderen Richtung weiterraste. Dieses Mal hatte sie es geschafft, war zwar wild im Bogen herumgefahren, aber beim nächsten Mal gelang es ihm, sie zum Sturz zu bringen. Sie versank in einem Sprühregen. Er wendete nach Steuerbord, wurde langsamer und warf ihr das Seil zu. Sie ergriff es, und im Nu hatte er sie wieder aufrecht, und sie nickte ihm zu, als er plötzlich zusammenzuckte. Etwa hundert Meter hinter ihr tauchte eine riesige, träge Flosse auf. Sie sah sie nicht, und als er, vor Schrecken erstarrt, in seinem Boot stand, sah er, wie diese Flosse scheinbar ganz lässig ihrer Spur folgte. Sein erster Gedanke war, daß es ein Killerwal sein könnte. Oder ein Schwertwal. Doch greifen die Menschen an? Vielleicht war es ein Hai? Aber nein, dazu war die Flosse viel zu groß. Und dann erinnerte er sich plötzlich an den Hai von Amity. Aber das konnte nicht sein, denn dieser Hai war doch tot ... -3 8 -
»Dee!« schrie er aus Leibeskräften. Sie lächelte ihm über das Wasser zu und nahm eine Hand vom Holzgriff, um ihm zuzuwinken. Jetzt kam die Flosse auf sie zu und schlingerte durch den Schaum des Sogs. Sie war einfach gigantisch. Er bremste, tat es aber viel zu schnell, denn Dee begann das Gleichgewicht zu verlieren. Sie lächelte nicht mehr und schüttelte ärgerlich den Kopf. Ihr Gewicht war zu weit nach vorn gelagert, und einen Augenblick lang fürchtete er, sie würde kopfüber in die Tiefe gehen, aber da hatte sie sich wieder im Griff, und wenn er ihr jetzt half und gleichzeitig bremste und das Seil lockerte, könnte sie nach hinten fallen. So entschloß er sich, sie vorerst im Wasser zu lassen und zu beten, daß sie nicht stürzte, denn wenn sie einmal wieder aufrecht stand, konnte er es in seinem Boot mit dem schnellsten Fisch aufnehmen ... Sie duckte sich, sie war halb gebückt, dann kickte sie, die Flosse war schneller da, als er geschätzt hatte, aber Gott sei Dank nicht schnell genug, denn sie blieb plötzlich zurück; die rasche Beschleunigung des Tempos hatte sie wahrscheinlich verwirrt. Und nun stand Dee auf dem Ski und hielt sich aufrecht ... »Lehn dich zurück!« schrie er ihr zu, aber natürlich übertönte das Dröhnen des Motors seine Stimme, und sie hörte nichts. »Hock dich!« Sie tat es, winkte ihm zu und gab ihm ein Zeichen, daß alles in Ordnung war. Er stand aufrecht im Boot und hielt nach der Flosse Ausschau. Das Ding mußte untergetaucht sein, ja, das war es, er hatte es abgeschreckt. Jetzt brauchte er nur noch an den Strand zu kommen, denn kein Fisch dieser Größe würde sich ins seichte Wasser begeben. Und sie war durchaus in der Lage, mit ihrem Wasserski im Sand zu landen, wenn er ihr ein Zeichen gab. Sie mußten nur nahe genug an die Küste kommen. Er suchte den Strand nach einem sicheren Landeplatz ab. Dort, wo man das Kasino baute, waren Menschen, und plötzlich -3 9 -
verspürte er das heftige Bedürfnis, an einem Ort mit vielen Menschen zu sein, aber andererseits war da ein viel sanfter abfallender Strand vor einem alten, verwitterten Ferienhaus etwas außerhalb der Stadt ... So begann er in einer leichten Wendung auf dieses Haus zuzusteuern, ohne seine Frau aus dem Blickfeld zu lassen. Sie winkte ihm wieder zu und schoß übermütig von Seite zu Seite. Er gab ihr ein Zeichen, sie solle keine Mätzchen machen und sich einfach nur auf dem Ski halten; schließlich verlangsamte er das Tempo, bis sie von selbst damit aufhören mußte, und da sah er schon wieder die Flosse, die sich ihnen rasch von hinten näherte. Die Hände waren ihm so feucht, daß er kaum noch den Gasgriff halten konnte. Aber er zog ihn noch einmal nach vorn, das Boot schoß voran, und die Flosse verschwand. Seine Frau begann aufs neue, ihre Bogen zu machen, von Backbord zu Steuerbord, mit zurückliegendem Kopf, und ihr goldenes Haar flatterte in der Sonne, und sie schoß immer kühnere Bogen. »Dee«, krächzte er. »Dee, bitte nicht, nein!« Dann erinnerte er sich an das Funkgerät. Er griff nach ihm, aber sowie er die Hand vom Steuer nahm, begann das Boot zu schlingern. Seine Gedanken überschlugen sich. Vielleicht konnte er sie einfach aus dem Wasser ziehen, wenn er eine scharfe Kehrtwendung machte, auf sie zuraste und sie an Bord riß ... Aber er traute sich nicht. Es war ihm zu gefährlich. Denn was das Tier auch immer war, ob Schwertwal oder Hai, solange es schnell genug schwamm, um seinem Boot folgen zu können, mußte es ihn schlagen, wenn er zurückfuhr. Er blickte nach achtern. Sie machte es jetzt recht gut, und vielleicht war sie inzwischen zu müde für ihre Mätzchen. Ach, wenn sie nur so weitermachte, bis er sie in Sicherheit gebracht hatte. Ja, Dee, das ist es, mein Schatz. Keine Fisimatenten mehr. Nur noch gleiten. Ja? Er raste in die Richtung des Hauses am Strand. Vielleicht noch zwei Meilen, vielleicht noch weniger. Es war ja nicht mehr weit. -4 0 -
Plötzlich zuckte er zusammen. Die Flosse war jetzt zwischen ihm und dem Strand aufgetaucht. Das war ihm unbegreiflich. Er schaffte doch leicht seine zwanzig Knoten. Konnte das verdammte Ding etwa dreißig schaffen? Konnte es voraussehen, wo er hin wollte? »Verdammte Scheiße«, stöhnte er. Er kurvte zurück in die offene See hinaus. Die Flosse verschwand. Er war schließlich Ingenieur. Es mußte einen Weg geben. Und plötzlich hatte er es. Er würde stoppen, das Seil ziehen, sie vor der Gefahr warnen, sie, wenn nötig, noch näher heranziehen, das Seil einbringen, und sie, sowie sie nahe genug war, an Bord holen. Aber jetzt noch nicht. Die Flosse tauchte wieder auf. Sie war noch in einiger Distanz hinter ihr, und er mußte warten, bis sie wieder verschwand, bevor er stoppen konnte ... Er riß am Gashebel, und plötzlich brach er ihm in der Hand ab. »Nein!« schrie er jammernd. Jetzt gab es kein Verlangsamen mehr. Und auch kein Stoppen. Und auch kein An-Bord-Holen. Er drehte wieder um in die Richtung des Hauses am Strand. »Laß das!« brüllte er. Sie war gar nicht müde und hatte wahrscheinlich nur in ihrer vorsichtigen, behutsamen Art nachgedacht. Offensichtlich versuchte sie etwas. Und aus ihrer Körperhaltung entnahm er, was es war. Er hatte gelernt, sich umzuwenden und rückwärts zu gleiten. Er hatte drei Sommer dazu gebraucht, und ihr war es bisher noch nie gelungen. Vielleicht waren ihre Arme zu schwach, oder ihr Rücken. Sie hatte es im letzten Jahr noch einmal versucht, denn sie war stets neidisch, wenn er etwas tun konnte, was ihr nicht gelang, und jetzt versuchte sie es wieder. »Nein, Dee, nein!« brüllte er. Sie schien ihn zu hören, drehte den Kopf und wäre fast gestürzt. Er hielt den Mund. Die Flosse war wieder in ihrem Sog. Sie war etwa hundert Meter oder ein wenig weiter hinter ihr. Aber sie holte auf, verdammt noch mal, sie holte auf. -4 1 -
Seine Frau schwankte ein wenig, machte die Bewegung und drehte sich um. Mein Gott, sie hatte es geschafft! Sie ließ sich rückwärts gleiten, aber wie würde sie es schaffen, sich noch einmal zu drehen? Die Flosse kam näher. Plötzlich versteifte sich der Körper seiner Frau. Sie hatte sie gesehen. Irgendwie gelang es ihr, sich zu wenden, ohne zu fallen. Ihr Gesicht war vor Schreck verzerrt. Sie schrie und kam ins Wanken ... Nimm dich zusammen, Dee, nimm dich zusammen ... Der Strand ist nicht mehr weit ... Als ob sie ihn gehört hätte, schien sie jetzt ruhiger zu sein. Sie ließ sich behutsam aus dem Sog treiben und folgte im ruhigen Wasser. Die Flosse verschwand. Er warf einen Blick auf den Strand. Nur noch eine halbe Meile. Auf der Treppe des verwitterten Ferienhauses sah er einen weißen Fleck, ein Mensch, jemand, der sich um sie kümmern könnte, wenn sie auf den Strand aufschlug, und wenn sie ohnmächtig würde ... Und in seinem Boot war er sicher, denn kein Fisch konnte es mit der Overtime aufnehmen ... Aber als er zurückblickte, wußte er, daß sie das Rennen verloren hatten. Die Flosse näherte sich ihnen immer rascher. In Sekundenschnelle war sie fast auf ihrer Höhe. Er griff instinktiv nach der Leuchtpistole, schob eine Patrone ein und feuerte sie in die Luft ab. Die blaßorange Leuchtkugel schoß in einem weiten Bogen empor, aber sie war gegen den klaren, blauen Sonnenhimmel kaum zu erkennen. Er brauchte Hilfe, schnelle Hilfe, und vor allem medizinische Hilfe, falls sie nach der ersten Attacke überleben sollte. Warum hatte er nur das Funkgerät nicht so hingelegt, daß er es vom Steuer aus leicht erreichen konnte? »Dee!« Ein wahrer Höllenrachen tauchte drei Meter hinter ihr aus dem Wasser auf, und ein entsetzlicher, weißgefleckter Schlund öffnete sich, zerrte sie zur Seite, ergriff sie, schüttelte sie einmal, schleuderte sie in die Luft, und ließ sie noch einmal als
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einen Haufen von Fleisch und Blut und goldblondem Haar niedersinken. Und dann war sie fort. Er zog an der Zündungsschnur. Der Motor stoppte sofort, und er wurde nach vorn geschleudert. Er lud noch einmal die Leuchtpistole und schoß sie ab. »So kommt doch schon, ihr Scheißkerle!« schrie er. Der Rachen erhob sich wieder und stieß auf das Boot zu. Er kroch zurück, lud noch einmal die Leuchtpistole und schoß wieder. Es war eine entsetzliche Sekunde. Er hatte nämlich in den Benzintank geschossen. Eine kleine, blasse, orangefarbene Leuchtkugel war sein letztes Lebenszeichen. Eine halbe Meile davon entfernt saß Minnie Eldridge, die pensionierte Postbeamtin von Amity, auf ihrem Schaukelstuhl. Sie ließ ihre siamesische Katze von ihrem Schoß springen und legte die Sunday Times zur Seite. Dann nahm sie ihre Brille ab und blickte zur See. Hinter den weißen Brechern stieg ein schmutzige Rauchwolke auf. Sie humpelte ins Haus, um zu telefonieren.
Fünftes Kapitel Brody und seinem Streifenpolizisten Dick Angelo war es schließlich gelungen, die Hatteras 42 mit Seilen vom Landungssteg aus nahe genug heranzubringen, um die Fähre durchzulassen. »Die Küstenwache hat sie einfach hier liegenlassen«, erklärte Yak-Yak Hyman vom Angelladen. Die Invasion der Dorsche von gestern abend hatte ihn geradezu in Hochstimmung gebracht. Er hatte sogar >Guten Morgen< gesagt. »Einfach liegenlassen?« fragte Brody. Er fühlte wieder einen Stich in der Schläfe. Yak-Yak sah ihn nur an. »Stimmt ja«, sagte Brody. »Das hast du mir ja schon einmal gesagt. Tut mir leid, Yak-Yak.« »War niemand an Bord?« fragte er. Yak-Yak sah ihn stumm an.
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»Stimmt ja, Yak-Yak. Das war eine dumme Frage.« »Haben die von der Küstenwache gesagt, wann sie zurückkommen?« Yak-Yak schüttelte den Kopf. Er tat es nur ein wenig, und man mußte schon gut hinsehen, um es zu bemerken. Jetzt ging Brody zu Starbucks Apotheke und rief Shinnecock Bay an. Der dortige diensthabende Offizier wurde erst gegen Abend zurückerwartet. Man hatte die Jacht gestern oberhalb der versunkenen Orca verankert gefunden. Sie mußte dort die ganze Nacht unbeleuchtet gelegen haben, denn ein Hummerfischer hätte sie fast gerammt. Sie war eine Bedrohung für die Schifffahrt, besonders weil es am Nachmittag gewöhnlich neblig wurde. Sie hatten heute früh eine ganze Stunde gewartet, um zu sehen, ob irgendwelche Taucher unterwegs waren. Dann hatten sie sogar nachgeforscht, ob die Taucher nicht vielleicht, nachdem sie hochgekommen waren, von der Strömung ins offene Meer hinausgetrieben worden waren. Sie hatten Bojen ausgeworfen und die Jacht abgeschleppt, als sie noch einen Notruf bekamen. Vor der Küste von Hampton war ein Segelboot gekentert. Deshalb hatten sie die Jacht im erstbesten Hafen gelassen und waren gleich weitergefahren. Eben gerade hatten sie sich mit der Frau eines der Jachtbesitzer in Verbindung gesetzt. Es sei ein Arzt aus Astoria, und er wurde gestern abend zurückerwartet. Sie war unterwegs, und man würde später eine Suchaktion einleiten und alles tun, was möglich war, aber Brody sei nun einmal der zuständige Polizeichef für diese Sache. Man habe mehrere Male versucht, ihn zu erreichen, aber sein Telefon sei immer besetzt gewesen. Es wäre am besten, wenn er ein paar Taucher ausschickte und sich inzwischen um die Papierarbeit kümmerte. Das sei es so ungefähr. »Warten Sie mal«, rief Brody ins Telefon. »Die Orca liegt etwa eine Viertelmeile draußen. Erstens ist das nicht mehr mein Bereich, und zweitens habe ich hier keine Taucher.« »Hören Sie mal, eben ist noch ein Anruf gekommen. Irgend so ein Schnellboot ist explodiert oder so was ähnliches. Außerdem -4 4 -
ist es Sonntag, und wir haben nur einen Kutter. Sieht so aus, als ob uns einige Blödiane den ganzen Tag Ärger machen werden. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, setzen Sie sich doch mit Ihrem Distriktkommandanten in Verbindung. Okay?« Jetzt hatte Brody richtige Kopfschmerzen. Er verließ den Laden und trat ins Sonnenlicht. Vor dem Dock lag die leuchtend schimmernde Jacht. Auf dem Heck las er in Plastikbuchstaben Miss Carriage, Sag Harbour. Ihm sagten solche Schiffe ohnehin nichts, sie widerten ihn sogar an, aber er fand diesen geschmacklosen Namen für eine so teure Jacht besonders unangebracht. (* Miss Carriage = Miß Wagen, aber miscarriage heißt Fehlgeburt.) Und wenn das Ding aus Sag Harbour kam, warum hatte die Küstenwache es dann nicht dorthin geschleppt? Er stieg an Bord. Zweifellos waren Taucher dagewesen. Auf dem Bug stand eine Reihe von Sauerstoffflaschen. Er fragte sich, wozu man ausgerechnet zum Wrack der Orca tauchen ging. Vier Jahre hatte man schon alles, was daran nicht nietund nagelfest war, als Andenken heraufgeholt. Wonach suchten die jetzt noch? Nach Blut vielleicht? Er klomm die Leiter herauf. Da war nichts, was man nicht ohnehin erwartet hätte. Eine Sonnenbrille lag auf der Kompaßhaube, und ein Pullover hing über dem Steuer. Er ging hinunter in die Kabine. Spannteppiche, eine Stereoanlage und ein zusätzliches Steuer. Wozu? Für Regenwetter? Eine Flasche Old Grandad und zwei Kaffeetassen standen auf der Bar. Ein Fernglas lag auf einem Lacktisch neben dem Steuer. Er trat hinter die Bar zur Kochnische und faßte die Kaffeekanne an. Sie war kalt. Er nahm eine der Tassen. Sie enthielt Kaffeereste. Er roch daran. Bourbon. Die andere roch noch stärker danach. Nun ja, soweit er informiert war, gab es kein Gesetz gegen Tauchen bei Trunkenheit. Es war nur lebensgefährlich. Er blickte aus dem Fenster zum Dock herauf. Eine Reihe von Halbwüchsigen begab sich schwitzend auf Andrews Aqua -4 5 -
Queen, die dort ankerte: Andy Nicholas, Chip Lennart, Larry Vaughan jr., der Sohn des Bürgermeisters. Der bärtige Riese führte die Truppe an. Dann zuckte Brody zusammen. Als letzter zottelte Mike ihnen nach, und er sah sehr blaß aus. Er wurde noch bleicher, als er seinen Vater erblickte. »Ich hab' kein Fieber mehr«, erklärte er rasch. »Mama hat mir erlaubt ...« Brody ignorierte ihn und ging zu Andrews an Bord der Aqua Queen. »Tom, wieviel ist Ihnen Ihre Zeit wert?« Die Stadtkasse war zwar ziemlich leer, aber Brody konnte das später mit dem Kommunalrat ausmachen. Er erklärte die ganze Situation, die Sache mit dem Whisky und alles andere. »Schnaps«, stöhnte Andrews. »Verdammt noch mal! Das passiert immer wieder. Ich verlange nichts, Brody. Fahren wir gleich los.« »Heh«, quengelte Larry. »Wir wollten doch ...« Andrews hob die Hand. Sie war so groß wie Larrys Kopf. Larry hielt den Mund. »Nächsten Samstag, Leute«, brummte Andrews. »Um die gleiche Zeit. Bringt die Flaschen in den Laden zurück, ja?« Alle klagten, einschließlich Mike, aber irgendwie war plötzlich die Farbe in seine Wangen zurückgekehrt. Er nahm seinen Vater beiseite. »Daddy, mir war wirklich wieder gut.« Danach hatte er zwar bisher nicht ausgesehen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Brody folgte Andrews, und Dick Angelo warf ihnen das Tau zu. Der Dicke wachte auf und glaubte sich in einem Irrenhaus. Er hatte das Sommerhaus für hundert Dollar die Woche gemietet, es war Sonntag, der Hund bellte, und sein Sohn lief schreiend am Strand herum. Ach wie schön ist das Leben an der See ... Er schwang sich mit beiden Füßen aus dem quietschenden Bett und rieb sich den Kopf. Sein Haar fühlte sich wie Stroh an. In seinem Mund hatte er noch den Geschmack von Whisky, schalem Bier, Pommes frites und dem scheußlichen Essen, das die Alte ihm am Samstagabend zubereitet hatte. Knackwurst und Sauerkraut. -4 6 -
Er sehnte sich nach seiner Wohnung in Queens und dem beruhigenden Lärm des Busses von der Main Street. »Ruhe!« brüllte er. Seine Frau rollte sich im Bett herum wie ein toter Wal in der Brandung. Ja, das hatte ihm übrigens gerade noch gefehlt. Ein toter Wal. Mit wabbelndem, über die Pyjamahosen hängendem Bauch rannte er durch die Küchentür hinaus, über den rauhen Sand zum Strand hinunter. Es war wieder einmal ein Seehund. Er hielt sich im seichten Wasser und ließ sich von den Wellen den Schwanz überspülen. King, der struppige Schäferhund, bellte ihn aus einer Distanz von fünf Metern an. Als er die nahende Verstärkung erblickte, wagte er sich einige Zentimeter weiter vor. Der Seehund blickte ihn aus seinen sanften braunen Augen an. »Hau ab, du Mistvieh. Ruhe, King!« Er stieß seinen Sohn roh beiseite. »Und du - halt den Mund! Es ist Sonntag!« Er sah sich den Seehund an. Der sanfte Blick brachte ihn in Wut. Er gab ihm einen Tritt in die Seite, und seine nackten Zehen schmerzten ihn. Der Seehund schüttelte nur den Kopf und bespritzte ihn mit Wasser. Da sah er ein Stück Treibholz in der Größe eines Baseballschlägers. Er nahm es auf und ging auf das Tier zu. Der Seehund stieß einen Seufzer aus, wich zurück und wendete sich. Er schwamm in das seichte Wasser, drehte sich noch einmal vorwurfsvoll um und verschwand in der Brandung. Er atmete schwer. Das war sicher das Herz. Bald konnte die Alte seine Versicherung bei der Polizeiliga einkassieren. »Das nächstemal nimm den Hund an die Leine«, sagte er leise zu seinem Sohn. »Und dann kannst du mich aufwecken. Aber ohne Lärm.« »Was wirst du jetzt tun?« »Ich werde das verdammte Mistvieh abknallen!« -4 7 -
Er humpelte über den Sand zum Haus zurück. Seit Jahren war er verurteilt, in jedem Sommer zwei Wochen in Amity zu verbringen. In all den langweiligen Sommern hatte er noch nie einen Seehund am Strand gesehen. Gestern waren zwei erschienen, und heute war dieser auch schon wieder der zweite. Brody versuchte, nicht auf das Funkgerät auf Andrews Boot zu achten, und konzentrierte sich auf die Luftblasen, denen er zu folgen versuchte. Er hatte sich auf den Steuersitz gestellt, um sie besser zu sehen, und er betätigte den Gashebel mit dem Fuß. Er mußte äußerst vorsichtig sein und verdammt auf die Blasen aufpassen, denn wenn er nur ein wenig zu schnell fuhr, waren sie im Sog verloren, und wenn er dann wenden mußte, konnte er leicht alles verderben und den Mann da unten im Wasser aus dem Blick verlieren. Die ganze Angelegenheit war ihm verhaßt. Er fragte sich, wie man sich wohl fühlte, wenn man da unten im Schlamm herumstapfte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie sich auch der tapferste Mann in eine so feindselige Umgebung zu begeben vermochte. Wenn er jemals schwamm, brachte er es nicht einmal fertig, in den Abgrund zu blicken. So stand er da, lenkte das Boot den Blasen nach, fühlte sich wie ein Idiot und zitterte wie ein Fisch an der Angel. Einen Augenblick lang reckte er erschrocken den Hals und glaubte fast, er habe die Spur verloren, aber dann sah er wieder eine größere Luftblase, der eine Kette von kleineren folgte. Er wendete ein wenig nach links und verlangsamte das Tempo. Sie waren vom Hafen Amity aufgebrochen und hatten die Boje gesucht, die die Küstenwache hinterlassen hatte. Angeblich war sie sehr nahe am Wrack der Orca; diese Stelle kannte er leider nur allzugut, und so waren sie ziemlich rasch vom AmityLeuchtturm aus in südsüdöstlicher Richtung gefahren. Dann hatte Andrews ihm, sehr zu seinem Bedauern, das Steuer überlassen und sich seine Ausrüstung angelegt.
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Er hatte eine Sauerstoffflasche in die Rückenpackung gesteckt, den oberen Teil etwas aufgeschraubt und eine helle Chromstahlschraube draufgesetzt. Das war, wie er Brody erklärte, sein Regulator, ein lebenswichtiger Bestandteil jeder Taucherausrüstung. Dann hatte er das ganze lästige Zeug, das allem Anschein nach fast eine Tonne wiegen mußte, über seinen Kopf gestülpt, sich die Rückenpackung und die Schulterriemen angelegt, die Schulterriemen noch einmal angezogen, und dann war er sich mit den Händen am Körper entlanggefahren, um alles einer letzten Prüfung zu unterziehen. Brody sah, daß er zwei Messer trug, an jeder Wade eins, und außerdem etwas, das wie eine aufblasbare Schwimmweste aussah. Ein schwerer Bleigürtel lag ihm um den riesigen Bauch. Brody hatte die Boje gefunden. Sie war orangefarben und mit den schwarzen Buchstaben USCG (United States Coast Guard) gekennzeichnet. Es gefiel ihm hier ganz und gar nicht, und das hatte auch seinen guten Grund, aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Er hatte den Gashebel zurückgedreht, und das Dröhnen des Motors war leise geworden. »Folgen Sie einfach meinen Luftblasen«, hatte Andrews ihm befohlen. »Ich werde beim Wrack beginnen, dann nach Norden, dann nach Osten, dann nach Westen zurück und schließlich nach Süden schwimmen. Danach schwimm' ich etwas weiter hinaus und wiederhole das Ganze noch einmal. Verstanden?« Er hatte es verstanden. Er hatte den riesigen Mann beobachtet, wie er seine Flossen und Handschuhe anlegte, in seine Maske spuckte, die Luftzufuhr andrehte und an seinem Mundstück saugte. Dann hatte Andrews ins Wasser geschaut und sich rückwärts hineinplumpsen lassen. Die Flossen warfen einen in der Sonne glitzernden Sprühregen auf, und dann war er verschwunden. Brody dachte an Mike, der bald in derselben Ausrüstung hinab zum Meeresgrund tauchen würde, und die Kehle wurde ihm trocken. Aber jetzt war es zu spät, um daran noch etwas zu ändern. -4 9 -
Er war nur froh, daß es noch eine ganze Woche bis zum nächsten Samstag war ... Er war in Gedanken versunken, und plötzlich hatte er die Spur verloren. Er rannte zur Seite des Bootes und suchte verzweifelt nach den Blasen auf der Wasseroberfläche. Himmel, Herrgott, was hatte er da getan? Er schaltete den toten Gang ein, ließ das Steuer los und klomm zum Vorderdeck. Eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche, und jetzt konnte er die Blasen nicht mehr von den Kräuselwellen unterscheiden. Er schaute auf die Uhr. Es war lächerlich, aber er hatte ganz vergessen, Andrews zu fragen, wie lange er da unten zu bleiben beabsichtigte. Fünfzehn Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde? Er hatte keine Ahnung. Er wußte nicht einmal genau, um welche Zeit Andrews getaucht war, konnte also auch gar nicht wissen, wie lange er schon unten war. Aber, wo zum Teufel steckte er? Andrews hatte das Funkgerät an gelassen, und er hatte von Zeit zu Zeit Geräusche gehört, die ihn in seinen Gedanken unterbrachen. Aber jetzt hörte Brody auf einmal ganz laut und klar die Küstenwache von Shinnecock, die mit einem ihrer Kutter sprach. »Geben Sie bitte Ihre Position an.« »Eine halbe Meile vor dem Südstrand von Amity, Peilung eins drei sieben vom Leuchtturm von Amity. Keine sichtbaren Trümmer.« Es klang sehr nahe. Er versuchte, sich auf das Wasser zu konzentrieren, aber was war nun wieder eine halbe Meile vor dem Strand von Amity geschehen? »Sie berichtete, die Explosion habe gerade hinter der Brandung stattgefunden. Ich schlage vor, Sie nähern sich der Küste ...« »Roger. Ende der Meldung.« Mein Gott, die Explosion hatte sich in Amity ereignet? Er blickte auf die Küste. Einen Kutter der Küstenwache konnte er vor dem Südstrand von Amity ausmachen, und der Hubschrauber der Küstenwache ratterte die Küste entlang. -5 0 -
Wo zum Teufel steckte nur Andrews? Er hörte ein Geräusch hinter sich und fiel fast aus dem Boot. Dann wirbelte er herum und griff nach seiner Pistole. Der Riese stand auf der hinteren Taucherplattform und blickte auf ihn hinab. Er hielt in der Hand eine kleine schwarze Kamera mit einem sehr großen stroboskopischen Blitzlichtgerät. »Tut mir leid«, sagte Andrews. »Hab' ich Sie erschreckt?« Brody nahm ihm die Kamera ab. Seine Hand zitterte. »Ja.« »Da unten ist es auch irgendwie nicht geheuer.« Er nahm die Maske ab und schüttelte sie. »Komisch ...« »Die Kamera habe ich gleich gefunden. Sie lag etwa zehn Meter vom Heck der Orca entfernt.« »Sonst nichts?« Er hörte selbst, wie hohl seine Stimme klang. Andrews schüttelte den Kopf. »Die sind weg, erledigt. Alkohol, Stickstoffbetäubung, Tiefenrausch. Sie sind vielleicht zu lange da unten geblieben. Vielleicht hat es der eine mit der Angst zu tun bekommen, und der andere wollte ihm helfen. Dann wollte der eine dem anderen von seinem Sauerstoff geben, hat dabei eine Flosse verloren, und die Strömung hat sie weggespült. Ich weiß wirklich nicht ...« Brody fühlte sich seekrank. Er wollte nur noch nach Hause kommen. »Lohnt sich eine weitere Suchaktion noch?« fragte er Andrews. »Ich meine, brauchen wir noch mehr Taucher?« Andrews zuckte die Schultern. »Wenn die da unten auf dem Grund sind, leben sie schon lange nicht mehr.« Er wies mit der Hand zur See. »Und wenn sie da hinausgetrieben wurden, sind sie auch tot. Da ist die Wassertemperatur fünfzehn Grad. Hypothermia. Acht Stunden sind das Äußerste, mit Tauchanzug oder ohne.« Sie setzten sich durch den Funk mit der Küstenwache von Shinnecock in Verbindung. Brody berichtete von ihrem Tauchergebnis. »Vielen Dank, Chef«, antwortete Shinnecock. »Wir haben noch ein weiteres Problem für Sie ...« Nun erzählten sie ihm, ein Idiot -5 1 -
habe sich in seinem Boot vor der Südküste von Amity Beach in die Luft gesprengt. Vielleicht hatte er jemanden mit Wasserski hinter sich hergezogen. Vielleicht aber auch nicht. Die Berichte gingen da auseinander. Ob Brody der Sache einmal nachgehen könne? »O Gott«, seufzte Brody. »Geht in Ordnung.« Er hängte das Mikrofon auf und sah auf seine Uhr. Es war kurz vor elf. Seine Kopfschmerzen waren ihm bis in den Nacken gedrungen. Sie brausten an der Heulboje von Amity vorbei und zum Hafendock zurück. Andrews, der sich in allem auszukennen schien, hatte die Kamera untersucht und verkündet, daß zwei Aufnahmen gemacht worden seien. Er nahm sorgfältig den Film heraus. Brody brachte ihn zu Starbucks Apotheke zum Entwickeln. Schließlich war er kein Detektiv. Die Küstenwache hatte kein Recht, ihm die Sache mit der Jacht an den Hals zu hängen. Aber vielleicht würde der Film sie auf irgendeine Spur bringen. Vielleicht enthielt er einen Hinweis auf das, was da unten geschehen war. Aber wen interessierte das noch?
Sechstes Kapitel Er parkte den Buggy der Polizei hinter Minnies Haus. Das Casino del Mar hatten einen Zaun zwischen Minnies Grundstück und dem Dreißig-Meter-Küstenstreifen gezogen, der ihm einst gehört und den er vor fast zwei Jahren an die Besitzer des Casinos verkauft hatte. Er überquerte den über den Hinterhof führenden Steinpfad und ging auf die Küchentür zu. Rechts und links blühten gerade prächtige Rosensträucher, die sie in Kästen gepflanzt und in den Sand vergraben hatte. Hinter ihrem Haus sah er, daß der Hubschrauber der Küstenwache immer noch wie wild über der Brandung hin und her tuckerte. -5 2 -
Er wußte zwar, daß es zwecklos war, klopfte dennoch hämmernd an die Tür, und als ihm niemand öffnete, trat er ein. Ihre Küche war sauber und blitzblank wie immer. Allein bei ihrem Anblick lief ihm das Wasser im Munde zusammen, und außerdem kamen ihm aus dem Backofen verlockende Düfte entgegen. »Minnie!« rief er ohne viel Hoffnung. Keine Antwort. Er trat in das mit allerlei Muscheln und gepreßten Blumen vollgestopfte Wohnzimmer. Sie saß aufrecht in ihrem Stuhl am Fenster und schien die Geschäftigkeit in der Luft als eine willkommene Abwechslung zu genießen. Die braune siamesische Katze zwinkerte ihn verächtlich an, sprang Minnie vom Schoß und stelzte hochnäsig ins Schlafzimmer. Minnie hatte sein Eintreten noch nicht bemerkt. »Minnie!« rief er noch einmal. Sie wandte sich vom Fenster ab, setzte ihre Brille auf, befestigte ihr Hörgerät und sah ihn verschmitzt an. Dann blickte sie auf die in der Ecke tickende Kuckucksuhr, die zwischen einem Farbbild der Titanic und einem eingerahmten Dankschreiben von Postminister Farley >für zwanzig Jahre treuer Dienste< hing. Der Brief war vom Jahr 1942 datiert. »Gott sei Dank ist niemand ertrunken, obgleich man ja nie wissen kann. Vielleicht wollte man mich auch vergewaltigen?« »Minnie«, sagte Brody. »Wollen Sie mir etwa einreden, Sie hätten uns wegen eines herumstreunenden Lustmolches angerufen?« »Das hätte ich nur getan, wenn er versucht hätte, wegzulaufen«, sagte sie hämisch. »Aber bevor Sie jetzt versuchen, Ihre Rolle als Fernsehkommissar zu spielen, gehen Sie doch mal bitte hinaus zum Schrank und sehen Sie oben in der rechten Ecke nach, wo die Keksdose steht und ...« »Das geht nicht, Minnie. Hier ist im Augenblick verdammt viel los.« »In Amity? Daß ich nicht lache. Das ist doch Bockschmutz.« -5 3 -
»Bockmist«, verbesserte Marty sie geduldig. »>Bockmist< klingt besser, Minnie.« »Es kommt aufs gleiche hinaus.« Sie setzte sich aufrecht. »Und was möchten Sie jetzt von mir wissen? Oder wollen Sie bloß Süßholz raspeln?« »Raspeln.« Er nahm sein Meldebuch aus der Tasche. »Len hat Ihren Anruf um zehn Uhr fünfunddreißig notiert. Haben Sie da die Explosion gehört?« Das hatte sie. Und es stimmte mit der Aussage des sonntäglichen Wachmannes auf dem Bauplatz des Casinos überein, der zwar nichts gesehen, aber um die gleiche Zeit einen Knall gehört hatte, als er gerade in seinem Verschlag Kaffee kochte. Er hatte es für den Knall eines Überschallflugzeuges vom Militärflugplatz von Quonset gehalten und sich nicht einmal die Mühe gemacht, auf die Düne zu klettern und aufs Meer zu schauen. Jamie Culver, der Austräger der Times, hatte kurz vorher ein Schnellboot gesehen, das Wasserski zog. Daisy Wicker hatte es auch gesehen, aber ohne Wasserski. Minnie hatte den Motorenlärm gehört, als sie auf die Veranda ging, um die Zeitung zu lesen. Sie hatte das Boot auch gesehen, bevor sie die Brille aufgesetzt hatte, aber es war zu weit entfernt gewesen, und sie hatte nicht erkennen können, ob jemand im Schlepptau war. Dann aber, als sie wieder auf ihrem Schaukelstuhl saß, ihr Hörgerät eingeschaltet und die Brille aufgesetzt hatte, war von dem Boot nichts mehr zu sehen gewesen. Die Explosion mußte gewaltig gewesen sein, wenn sie den Knall hatte hören können. Brody klappte sein Buch zu, aß einen der angebotenen Kekse, nahm noch einen für die Fahrt und schließlich noch eine Tüte voll für Ellen und die Jungens mit. Er kletterte in seinen Buggy, schaltete den Vierradantrieb ein und fuhr um ihr Haus. Er fand einen Kugeleinschlag am Strand, der in den harten Sand gedrungen war. -5 4 -
Es schien ihm, daß die Flut leicht nach Westen strömte, und er fuhr den Strand in westlicher Richtung entlang, verlangsamte das Tempo und hielt nach angeschwemmten Bootsteilen Ausschau. Der Gedanke allein bereitete ihm Übelkeit. Er hatte es immer gehaßt, nach schwimmenden Gegenständen auszuschauen selbst vor der Katastrophe. Aber die Katastrophe war ja schon längst vorüber. Was immer er jetzt auch fand, konnte gar nicht so schlimm sein wie damals. Es war dem dicken Mann nicht gelungen, wieder einzuschlafen. Er lag wach und nervös auf seiner unbequemen Matratze und lauschte den Sägelauten seiner schnarchenden Frau. Im nächsten Jahr - das versprach er sich -, im nächsten Jahr war es Schluß mit Amity. Er haßte selbst den Namen der Stadt. Was bedeutete dieser Name überhaupt? Vielleicht so etwas wie Amnestie? Wie die Amnestie, die Carter den verdammten Langhaarigen gewährt hatte? Und jetzt war er hier und verbrachte seine wohlverdienten Ferien in einer Stadt, die nach sowas benannt war. Amity ... Da wäre er schon viel lieber im Duschraum des Polizeireviers gewesen, wo er seine Lügengeschichten erzählte. Er gab seiner Frau einen derben Stoß. »Verdammt noch mal, willst du vielleicht den ganzen Tag verschlafen? Ich hab' mal wieder einen Scheißhunger.« Sie blickte ihn vorwurfsvoll mit ihren Kuhaugen an. »Hmm?« »Verdammt noch mal. Es ist schon fast Mittag, und die Seehunde machen den Jungen und den Hund verrückt, und du liegst hier und pennst ...« »Seehunde?« fragte sie. »Ja, Seehunde! Nächstes Jahr gehe ich mit dem Kommissar auf die Jagd. So wahr mir Gott helfe! Du kannst mit dem Jungen den Sommer in Coney Island verbringen.« -5 5 -
Die Kuhaugen füllten sich mit Tränen, und da lag sie wieder in jener passiven Pose, die ihn immer von neuem sexuell erregte. Na schön, ich werd' dir die Tränen schon wieder austreiben. Aber bevor er auch nur angefangen hatte, bellte der Hund abermals am Strand. Die Schlafzimmertür quietschte, und er griff nach der Pistole auf dem Nachttisch. Sein kleiner Sohn schlich sich auf Zehenspitzen herein. Er rollte sich aus dem Bett, schlug dem Jungen ins Gesicht und schleuderte ihn zu Boden. »Kannst du nicht anklopfen, du Lausejunge?« Das Kind blickte zu ihm auf. »Du hast doch gesagt, ich soll still sein. Da ist jetzt noch ein Seehund da.« Der Dicke schlug mit dem Kopf gegen die Decke und torkelte auf den Schrank zu. »Wo ist mein Gewehr?« Er stampfte durch das unordentliche Wohnzimmer, schob fünf Ladungen Schnellfeuermunition in sein Savage-Gewehr, knöpfte sich die Pyjamajacke zu, packte den Jungen am Arm und schleifte ihn zur Tür hinaus. Seine Frau schrie ihnen nach. Wahrscheinlich glaubte sie, er würde den Jungen umbringen. Er hatte ihr auch nichts erklärt. Vielleicht würde die Angst ihr endlich Beine machen. Brody stoppte den Buggy und blinzelte in die Brandung. Da schaukelte irgend etwas im Wellenschaum, und es war gelb und sah ganz wie der Teil eines Fiberglasbootes aus. Er parkte den Buggy in gebührendem Abstand von der Flut, stieg aus und streifte sich Schuhe und Socken ab. Dann rollte er sich die Hosen hoch, schnallte die Pistole ab und legte sie auf den Beifahrersitz. In den letzten fünf Minuten hatte er einiges gefunden. Einen Schaumlöscher, ein Kissen und ein verbogenes Stück schwarzgerußter Holzplanke. Er ging an den Rand des Wassers. Ein mächtiges Dröhnen näherte sich. Der Hubschrauber der Küstenwache, kaum höher als sein Kopf, schoß über einen Brecher, peitschte einen kleinen Taifun auf und bespritzte seine Hosen mit Salzwasser. -5 6 -
Er hielt sich einen Augenblick auf der Wellenhöhe. Der Pilot wies mit der Hand durch die Gegend, zuckte bedauernd die Schultern, grüßte zum Abschied mit der Hand am Helm und schoß über den Strand davon, wobei er diesmal Brody mit Sand überschüttete. Er hatte genügend Zeit in der Infanterie verbracht, um die Verachtung des Adlers für die Landratte kennenzulernen, aber er hatte sich nie daran gewöhnen können. Er fluchte, bis er sich ein wenig besser fühlte, und dann stapfte er in die Brandung. Das Wasser war eiskalt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie irgend jemand extra nach Amity kommen konnte, um darin zu tauchen, zu schwimmen oder selbst auf der Oberfläche Wasserski zu laufen. Die Leute mußten wirklich den Verstand verloren haben. Er las eine Fiberglasscherbe aus dem Sand auf. Der Grundsand hatte bereits den glänzenden Lack zerkratzt. Er trat aufs trockene Land zurück. Eine vorbeifliegende Möwe krächzte ihm höhnisch zu. So stand er einen Augenblick und wartete, daß ihm die Füße trockneten, bevor er sich wieder die Socken anzog. Peng ... peng, peng ... Drei Schüsse klangen laut und nahe von hinter den westlichen Dünen zu ihm. Er sprang barfuß in den Buggy, schoß voran, während die Räder im Sand wühlten, und raste dem Sund zu. Er fuhr über die nächste Düne, trat auf die Bremse, rutschte zur Seite und landete fast auf einem dicken Mann und einem kleinen Jungen, die er mit Sand überschüttete. Der Mann kniete auf einer kleinen Anhöhe und hielt das Gewehr schußbereit. Der Junge stand hinter ihm und hielt sich die Ohren zu. Ein riesiger, zottiger Hund stand daneben. Am Strand hörte er nahe am Wasser ein kleines, klagendes Bellen, und er sah ein beigefarbenes Pelzknäuel. Der Mann drehte sich halb herum und schwang sein Gewehr mit. Die Augen waren blutunterlaufen. Ein Betrunkener? Brody -5 7 -
hatte sich im Wagen aufgestellt, den Zeigefinger gekrümmt, aber die Pistole hatte er auf dem Sitz neben sich liegen gelassen. »Lassen Sie das Gewehr fallen!« befahl er. Der Mann ließ das Gewehr nicht fallen, sondern schob es sich unter den Arm. »Tag«, sagte er und streckte die Hand aus. »Charlie Jepps ist mein Name. Polizeiwachtmeister beim vierten Revier in Flushing.« Brody bückte sich hinunter, griff nach dem Gewehr und warf es auf den Hintersitz. Dann wies er mit dem Daumen auf den Beifahrersitz, erinnerte sich, daß sein Revolver noch da lag, und streckte die Finger danach aus. Den Mann schien das zu amüsieren. »Sind Sie von der County Police oder von der Stadtpolizei in Amity?« »Setzen Sie sich hierher!« befahl Brody. »Sie sind verhaftet.« »Verhaftet? Was soll das heißen?« »Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, zunächst einmal.« Er sprang aus dem Buggy, rannte zum Wasser und legte sich den Revolvergürtel an. Ein Seehundbaby lag trocken im Sand und starrte ihn verwundert an. Aus dem Schwanzende tropfte Blut aus einer Wunde. Er hustete wieder, und die großen, feuchten Augen glänzten schmerzvoll. Ein Häufchen Angst mit großen Kulleraugen, fern von der schützenden Mama ... Er nahm es in seine Arme. Es war schwerer, als er erwartet hatte, es roch stark nach Fisch, und sein Blut rann ihm über die Khakihosen. Er trug es schwankend zum Buggy und legte es neben die Schiffstrümmer auf den Hintersitz. Der Mann war noch nicht eingestiegen. Brody zog seine Pistole. »Rein mit Ihnen«, brüllte er. »Steigen Sie sofort ein!« »Meinen Sie nicht, Sie sollten lieber zuerst mal Ihren Chef anrufen?« schlug der Dicke vor. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Brody einen Menschen mit einer geladenen Waffe bedroht. Nichts passierte. Er steckte sie wieder ein. -5 8 -
Der Junge heulte, der Hund bellte, und auf der Veranda des grauen Hauses erschien eine schlampige Frau, die ebenfalls zu schreien begann. Der Dicke stieg ein. Er stank nach Whisky und Bier. Alles in allem war es, wie Brody später zugab, ein äußerst unpolizeiliches Vorgehen, aber wenigstens hatte er den Halunken auf frischer Tat ertappt.
Siebentes Kapitel Brodys Schädel brummte, und er fühlte sich, als ob er sich eben mit einem von Seans Comic-strips-Helden herumgebalgt hätte. Er versuchte, sich in dem Chaos, das sein Büro befallen hatte, zurechtzufinden, während der Dicke in seinem Pyjama auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch saß und ihn aus glasigen Augen anstarrte. Dieser Wachtmeister - falls es wirklich ein Wachtmeister war - schien jeden Augenblick röter zu werden. Vielleicht trifft ihn der Schlag, und uns bleibt der Ärger am Sonntag erspart. Du wirst dich schon beruhigen, versprach ihm Brody schweigend. Man hatte die einzige Gefängniszelle der Stadt in den letzten Jahren in eine Rumpelkammer verwandelt, wo stapelweise alte Schulhefte herumlagen, und Henry Kimble war gerade dabei, sie auszuräumen. Du wirst dich heute abend schon abkühlen, du Scheißkerl ... Brody ging zum Anmeldetisch, wo Hendricks in einem abgegriffenen Exemplar der Bundesstatuten für Wild- und Naturschutz herumblätterte. Hendricks zeigte auf einen Paragraphen. »Wenn der einmal eingebuchtet ist, kann ihn nicht einmal Norton mit einer Kaution rausholen. Nicht, solange kein Bundesstaatsanwalt herkommt.« »Gut.« Willy Norton war der Friedensrichter, aber man mußte ihn zuerst einmal finden. Brody wandte sich an Dick Angelo. »Nun beeil dich schon, Dick. Worauf wartest du noch?« Dick Angelo fand die Fingerabdruckskarten, wo Polly sie gewöhnlich aufbewahrte. Jetzt setzte er sich unter das Bild des -5 9 -
Bürgermeisters Larry Vaughan und las sich die Gebrauchsanweisung durch. Herrgott, mußte er sie ausgerechnet hier lernen, in Gegenwart des Angeklagten? Und wie kam es überhaupt, daß er nicht einmal wußte, wie man jemandem Fingerabdrücke abnahm? Er sollte doch angeblich ein Bulle sein! »Himmel, Herrgott, Dick, ich werde sie ihm schon abnehmen. Oder geh mal rüber und schau, ob Polly zu Hause ist. Und sage Henry, er soll sich eine Krawatte umbinden. Ich will ihn hier als Gerichtsdiener haben, wenn es zu einem Verhör kommt. Und wo zum Teufel steckt Norton?« rief er Hendricks zu. »Er war dabei, das Baumhaus seines kleinen Sohnes neu anzustreichen. Er muß sich nur noch waschen.« Das Telefon auf dem Anmeldetisch klingelte, und Hendricks meldete sich. »Polizei von Amity.« »Polizei?« schnaufte der Dicke. »Hören Sie mal, Brody ...« »Für Sie bin ich der Chef«, raunzte Brody. Er setzte sich und nahm einen Haftbefehl aus der Schreibtischschublade. Er steckte ihn in seine Schreibmaschine. »Das Vieh hat meinen Hund angegriffen«, sagte der Dicke. »Wo ist Ihr ständiger Wohnsitz, Wachtmeister?« Der Dicke nannte eine Adresse in Flushing. Dann fuhr er eintönig und quengelnd fort: »Ich wollte es ja nur abschrecken. Ich bin schließlich Eliteschütze. Sie können bei der Polizei in Flushing nachfragen. Wenn ich es wirklich hätte töten wollen, hätte ich ihm in den Kopf geschossen.« »Zu schade, daß es Ihnen nicht gelungen ist, danebenzuschießen. Hiesige Adresse? Ach ja, ich weiß schon. Das Smith-sche Haus.« »Sie können mich nicht wegen eines strafbaren Vergehens festhalten! Sie haben ja gar nicht gesehen, ob ich auf das Tier schoß!« Dann fügte er hinzu, die Kommission der Staatspolizei werde ja bald davon hören, spätestens morgen um neun, und dann könne Brody froh sein, wenn er noch eine Stelle als Zoowärter -6 0 -
in Bronx bekäme, wo er dann die verdammten Seehunde füttern könne. »Sind Sie überhaupt gegen ungesetzlichen Freiheitsentzug versichert?« Brody lächelte ihn an. »Brauch ich nicht. Die Anklage steht nämlich unter Bundesgesetz, mein Freund. Gesetz zum Schütze der Meeressäuger vom Jahre 1972. Ein Jahr und zwanzig Riesen. Der kleine Bursche da ist nämlich ein Hafenseehund und keine Blechbüchse. Sie haben gegen das Bundesgesetz verstoßen!« Das beeindruckte den Dicken überhaupt nicht. Er redete in seiner kalten, eintönigen Art: Sein Junge benutzte diesen Strand, sogar Babys spielten auf diesem Strand, ob man vielleicht einen Hüter des Gesetzes in dieser liederlichen Weise einbuchten wolle, weil er versucht habe, die Öffentlichkeit zu schützen? Seehunde hätten schließlich Zähne, nicht wahr? »Keine sehr langen, und jedenfalls nicht dieser«, sagte Brody. »Der Tierarzt sagt, er sei etwa drei Wochen alt.« Er fühlte, wie die Wut in ihm aufstieg. Seine rechte Schläfe schmerzte entsetzlich, und der Rücken verkrampfte sich. Er zwang sich zu ruhigem Atmen. Hendricks versuchte, vom Meldetisch aus, Brodys Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Chef?« sagte er. »Miranda? Miranda!« Ach du liebe Zeit. Er hatte ganz vergessen, ihm seine Rechte vorzulesen. Er tat es schnell und las den Text von einer Karte in seiner Brieftasche ab. Dann mußte Hendricks alles fein säuberlich abtippen, denn sie konnten Pollys Formulare nicht finden. Er hoffte nur, daß er nie wieder jemanden an einem Sonntag verhaften mußte. Polly war mehr wert als der gesamte Rest seiner Polizeistreitkräfte. Hendricks legte die getippten Bogen auf Brodys Schreibtisch. »Dr. Lean hat angerufen. Dem Seehund geht's einigermaßen, aber jetzt kläffen sämtliche Hunde der Stadt die Wand an. Er sagt, wir müssen ihn unbedingt abholen.« Er hob den Finger, um um Ruhe zu bitten.
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Die Tierklinik von Amity lag einen Häuserblock entfernt, und von dort ertönte etwas, was wie der Hundechor aus Onkel Toms Hütte in Stereoverstärkung klang. Der Seehund war allerdings das einzige Beweisstück für die Gerichtsverhandlung, aber offensichtlich konnte man ihn nicht dort lassen. Er rief Ellen an und bat sie, ihn abzuholen und in der Garage mit viel Wasser unterzubringen. »Da hören Sie's ja selbst, den Lärm auf der Straße da unten«, bemerkte der Dicke ganz vernünftig. »Wie wollen Sie da überhaupt schlafen? Was hätte ich eigentlich tun sollen? Meinen Hund erschießen? Es war schon der dritte Seehund heute früh.« »Der dritte Seehund?« »Heute war's der dritte. Gestern waren's zwei.« Verlogener Bursche. Es gab überhaupt keine Seehunde in Amity Beach. Sie hielten sich immer draußen auf und bellten und lachten zum Vergnügen der Sommergäste. Dieser hier war offensichtlich ein verirrtes Kleintier, das seine Mutter verloren hatte und vielleicht von einer Welle weggeschwemmt worden war ... Oder hatte man es draußen angeschossen, und es war erst dann von der Brandung angeschwemmt worden? Es lief ihm kalt über den Rücken, und er fühlte einen unerklärlichen Verdacht in sich aufkommen. Er wandte sich wieder dem Haftbefehl in seiner Schreibmaschine zu. Die Hände zitterten ihm. Es könnte alles zusammenpassen ... »Haben Sie auch auf die anderen geschossen?« fragte er bemüht uninteressiert. »Gestern?« »Nein.« »Wie sind Sie die dann losgeworden?« Der Wachtmeister grinste blöd. »Ich hab' ihnen meine Dienstmarke gezeigt.« »Das ist aber komisch, daß Sie gestern nicht geschossen haben. Wer so gerne auf Seehunde schießt, sollte eigentlich jede Chance wahrnehmen. Er sollte sie eigentlich schon im -6 2 -
Wasser erschießen. Wozu sie noch an Land lassen, damit sie die Bevölkerung erschrecken und die Kinder auffressen?« Die kleinen grünen Augen sprühten Haß, aber der Dicke antwortete nicht. Brody war so zittrig, daß er unten auf dem Blatt seinen eigenen Namen falsch schrieb und noch einmal ausradieren mußte. Er rückte von der Schreibmaschine weg. »Vielleicht war's eine kleine Schießübung von der Veranda aus gestern abend?« Seine Stimme wurde lauter. »Sie sind doch Scharfschütze, das haben Sie mir ja gesagt, und Scharfschützen pflegen zu treffen, Mann. Die verfehlen ihr Ziel nicht. Wie steht's mit Ihren Augen?« Keine Antwort. Brodys Puls hämmerte. Er fuhr fort: »Sind sie gut genug, um einen Seehund von einem Taucher mit Kapuze zu unterscheiden? Sind sie dazu gut genug, Dicker?« Die grünen Augen weiteten sich. »Auf Taucher soll ich geschossen haben?« »Ich weiß es nicht.« Er stand zitternd auf. »Die werden wir schon noch finden, verlassen Sie sich darauf. Die finden wir noch, du Scheißkerl, du mit deinem Savage-Gewehr und deiner Schnellschußmunition. Am Strand stehen und in die Gegend ballern, das könnte dir so passen. Und wenn wir sie einmal gefunden haben, dann wirst du so lange hinter Gittern sitzen, daß dich keiner mehr sieht!« Er setzte sich. Es war ihm speiübel, sein Kopf schmerzte, und er fragte sich, ob er sich nicht doch auch an Seans Fisch vergiftet hatte. Der Wachtmeister zeigte auf das Telefon: »Ich möchte bitte telefonieren.« Brody zuckte die Schultern. »Bitte sehr.« Der Wachtmeister rief seine Frau an. »Setz dich mit dem Kommissar in Verbindung. Sag ihm, er soll mir den besten Anwalt im Staate New York besorgen.« Er hielt inne, lächelte kalt und schüttelte den Kopf. »Wer das bezahlen soll? Mach dir -6 3 -
keine Sorge. Hier sitzt einer, der die Kosten übernehmen wird.« Seine kleinen Augen funkelten Brody an. »Er scheint es nur noch nicht zu wissen.« Der Wachtmeister hängte auf. Hendricks blickte sich nervös im Zimmer um. Er sah aus, als habe er Angst. Dann kam Henry Kimble hereingeschlurft. Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte er die zu seiner Uniform passende Krawatte angelegt. Er verkündete, daß die Gefängniszelle ausgefegt sei und daß Richter Norton im Gerichtszimmer warte. Brody nickte dem Dicken zu. »Schließen Sie ihn ein«, befahl er Kimble, »und dann werden wir weitersehen.« Jetzt hätte er gerne Zeit für einen Drink gehabt. Der Seehund wog fast zweihundert Pfund. Es war ein Weibchen, und es streckte seinen Hals aus dem Wasser und suchte den Strand. Schon fast eine Stunde war sie hier herumgeschwommen, obgleich ein dunkler Instinkt ihr sagte, sie sollte anderswo sein. Sie beobachtete den zottigen Hund, der in der Nähe des Wassers schnüffelte. Ihre Augenlider zitterten, aber hier hinter der Brandung war sie in Sicherheit. Wenigstens vom Lande aus drohte ihr keine Gefahr ... Hie und da stieß sie einen kleinen Klagelaut aus, und einmal bellte sie fragend. Dunkel spürte sie, daß ihr Kleines nicht in der See verschwunden war. Es mußte sich an ihrer Angst angesteckt haben und sich auf den Strand gerobbt haben, während sie hinter den Brechern an der Küste entlanggeschwommen war und sich mit ihm in der Brandung zu verbergen suchte, um dem Ungeheuer in der See und den Gefahren an Land zu entkommen. Und während sie einen sicheren Platz suchte, hatte sie angenommen, daß das Jungtier noch bei ihr sei. Erst als sie den aufwirbelnden Grundsand erreicht hatte, wußte sie, daß sie es irgendwo in der Dunkelheit verloren hatte. Sie war nicht sofort zurückgeschwommen. Dazu war die in der See lauernde Gefahr zu groß. Sie hatte sich ins Brandungswasser
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treiben lassen, einmal rufend nach ihm gebellt und sich eine Weile ausgeruht. Sie war ein Seehund der gemäßigten Zone, und im Gegensatz zu den Pelzseehunden des hohen Nordens kannte sie keine Brutstätte. Sie hatte sich im letzten Jahr in der See gepaart, und vor drei Wochen hatte sie ihr Kleines fernab von der Küste zur Welt gebracht. Sie hatte es fern von den anderen Seehunden genährt und aufgezogen, war mit ihm in sicherer Distanz von der Küste herumgeschwommen, hatte es das Tauchen und die Jagd nach Krabben und Hummern auf dem Meeresgrund gelehrt und ihm beigebracht, kleine Steine zu verschlingen, die bei der Verdauung halfen. Wenn es müde war, hatte sie es in ihren Flossen gewiegt, und sie hatte selbst weniger Nahrung als gewöhnlich aufgenommen, denn sie konnte 45 Minuten lang unter Wasser schwimmen und das Kleine nur 15. Ein Weibchen einer anderen Robbenart, wie der Pelzseehunde, der Seelöwen oder der See-Elefanten, hätte sich nicht länger um das Kleine gekümmert, weil es sich der Gefahr bewußt geworden wäre und weil es immer noch die Hoffnung hätte, in ein paar Wochen bei einer der Brutstätten des Nordens ein verwaistes Kleintier zu finden, das es bemuttern konnte. Aber sie hatte noch nie eine Brutstätte gesehen. Für sie war ihr Junges das einzige Kleintier im ganzen Meer, und außerdem hatte sie Wochen nur mit ihm verbracht. Als sie es nicht in der Brandung fand, wich sie seewärts zurück, obgleich sie wußte, daß ihr dort schwere Gefahren drohten. Die Zeichen des schnellen weißen Todes in den tieferen Gewässern waren immer noch da. Aber sie hatte sie nicht beachtet und war in raschen Stößen weiter an der Küste entlanggeschwommen. Als sie schließlich an diesen Ort gelangte, wußte sie, daß ihr Junges hier an Land gekrochen war. Der Hund scharrte jetzt im Sand. Sie stieß sich mit den Flossen etwa drei Meter von der Küste fort.
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Sie konnte nicht gut sehen, was sonst noch auf dem Strand war, denn die Sonne blendete sie. Sie konnte ihr Kleines auch nicht riechen. Sie horchte in der Hoffnung, seinen Schrei zu vernehmen, aber sie hörte nichts. Dann kam ihr wieder die von der See drohende Gefahr zu Bewußtsein. Sie ließ sich vier Meter näher auf den Sand treiben. Der Hund erblickte sie und begann zu bellen. Sie wartete zögernd, daß die Sonne unterging. Das Vorverhör, das im Büro des Bürgermeisters - es diente auch als Gerichtssaal - stattfand, war vorüber. Willy Norton, der Friedensrichter, hatte sich in den bequemen und gepolsterten Schreibtischsessel des Bürgermeisters gesetzt und die Füße auf die Tischplatte gelegt. »Brody, ich sage es Ihnen«, erklärte er und sah ihn mit seinen sorgenvollen braunen Augen an, »wahrscheinlich wird er morgen wieder auf freiem Fuß sein, aber dafür müssen Sie geradestehen.« Vom Flur gegenüber knarrte eine Eisentür. Henry Kimble hatte gerade die Zelle geschlossen. Brody hätte eigentlich bei diesem Geräusch Freude empfinden sollen, aber er hatte ein unbehagliches Gefühl im Magen und war sich plötzlich seiner Sache gar nicht mehr so sicher. Vielleicht hatte er doch zu schnell gehandelt? Schließlich ging es nur um einen Seehund, und warum sollte man sich deshalb gleich so aufregen? Und was die Taucher betraf, so konnte er sich ja auch geirrt haben. Bei zwei Besoffenen auf dem Meeresgrund mußte man sich auf alles gefaßt machen ... »Wir müssen dafür geradestehen«, erinnerte ihn Brody. »Ich glaube kaum, daß man einem Friedensrichter etwas anhaben kann«, brummte Norton. Er fuhr den Schulbus, leitete die Pfadfindergruppe, war Mitglied der Handelskammer und Vorsitzender des Elternrats bei der Schule. Dieser Tankstellenwart war dabei, eine schnelle Karriere zu machen. Brody hoffte, ihn nicht verärgert zu haben. Norton wiederholte: »Kann man das, Brody? Einen Friedensrichter belangen?«
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»Niemand redet hier von belangen«, sagte Brody und erhob sich. »Verdammt noch mal, er hat gegen das Waffengesetz der Stadt und gegen einen Bundeserlaß verstoßen! Wie soll er Sie da belangen?« Er wünschte, er wäre sich selbst so sicher gewesen, wie seine Worte klangen. Er vergewisserte sich noch einmal, daß die Haftpapiere wenigstens für diese Nacht in Ordnung waren. Falls sein erster Häftling seit drei Jahren bis morgen nicht wieder freikam, dann mußte Brody sich auf allerlei Budgetschwierigkeiten gefaßt machen. Sie mußten den Kerl ja auch mit einem Abendessen versorgen, das hatte er ganz vergessen, und Polly hatte den Schlüssel zur Schublade, in der das Kleingeld lag. Er gab Angelo drei Dollar und beauftragte ihn, im neueröffneten Colonel-Sanders-Imbißrestaurant an der Küstenstraße nach Nantucket etwas zu essen zu holen. »Hoffentlich erstickt er daran.« Das Gewehr schloß er als Beweisstück in den Schrank, und dann ging er an die Zellentür, um einen letzten stummen Blick auf den Verhafteten zu werfen, der auf seiner Pritsche saß und ihn ununterbrochen anfluchte. Willy Norton hatte ganz recht. Wahrscheinlich würde man ihn morgen herauslassen, wenn sein Anwalt kam. Wie konnte man ihm sonst noch sein Wochenende verderben? Plötzlich erinnerte er sich, daß er ganz vergessen hatte, die Redaktion des Amity Leader von der Verhaftung in Kenntnis zu setzen. Er schaute auf die Uhr. Harry Meadows, dessen Freßgier nur noch von seinem Arbeitseifer übertroffen wurde, saß sicher noch im Redaktionszimmer und bereitete die morgige Ausgabe vor. Er rief bei der Zeitung an. Er sprach absichtlich so laut, daß Jepps hören konnte, wie seine Missetaten an die Öffentlichkeit gelangten, und er gab Harry die erste Polizeiaktion des Sommers bekannt. »Nur auf einen Seehund hat er geschossen?« Meadows Stimme klang enttäuscht.
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»Es war aber ein Seehundbaby«, ermahnte ihn Brody. »Hören Sie mal, Harry, am letzten Montag haben Sie eine halbe Seite einer rührseligen Anklage gewidmet, weil die Leute Babymuscheln suchen gehen.« »Aber am Montag gab es sonst überhaupt nichts zu melden. Heute haben wir dagegen schon zwei ertrunkene Taucher, ein explodiertes Schnellboot und einen Artikel von drei Kolumnen über das Juniorrennen in der Regatta von der nächsten Woche, und den müssen wir bringen, denn sonst wird Ihre Frau kein Wort mehr mit mir reden ...« »Nehmen wir mal an«, schlug Brody vor, »die Taucher und das Schnellboot wurden von dem gleichen verrückten Hallodri abgeknallt?« Das interessierte Meadows. Er schwieg eine Weile, und schließlich fragte er: »Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte?« Brody hörte, wie Jepps sich erhob und an die Zellentür ging. »Nun ja«, sagte Brody, »einen ziemlich begründeten Verdacht haben wir schon.« »Kann ich Sie zitieren?« Brody trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Wenn er sich nur besser in den Gesetzen auskannte! War das Verleumdung? »Sagen wir mal, die Sache wird untersucht.« »Das genügt mir«, sagte Meadows und hängte auf. Brody blickte süß lächelnd auf Jepps, der ihn mit tierischem Haß anstarrte. Mein Gott, dachte er sich, wenn ich jemals durch Flushing komme, werden sie mich ohne Warnung erschießen. Dann fuhr er nach Hause. Der kleine Seehund war in der Garage. Er hieß jetzt Sammy. Der Verband war ihm abgerutscht. Sean betätigte sich bereits als Mutter, Vater, Spielgefährte und Erzieher. Er hatte eine Schüssel Büchsensardinen, einen Teller Hackfleisch und einen Topf Milch vor seinem Schützling aufgestellt. Er hielt den Seehund, der etwa vierzig Pfund wiegen mußte, auf seinem Schoß. -6 8 -
»Daddy, er weint ständig. Schau dir mal seine Augen an!« Auch Seans Augen waren feucht. Der Junge hatte recht. Die großen braunen Augen waren tränennaß. »Ich werde mit Doktor Lean darüber reden«, versprach Brody. »Oder mit irgend jemandem, der sich darauf versteht.« »Und er will auch nichts essen!« »Er hat einen schweren Tag hinter sich.« »Und er schüttelt sich auch immer den Verband ab.« »Die Natur weiß sich am besten zu helfen.« Brody rümpfte die Nase. »Was zum Teufel ist das?« Sean erhob sich puterrot: »Es war nicht seine Schuld! Er hat es noch nicht gelernt.« »Und an dir klebt es von oben bis unten, Freundchen«, murmelte Brody. »Lauter Seehundschiete.« Er fand einen sauberen Fleck auf der Nase seines Sohnes und gab ihm einen Kuß. »Leg deine Kleider vor die Küchentür, schleich dich an deiner Mutter vorbei und nimm ein Bad. Ich werde ihr kein Wort sagen.« Sean rannte davon. Brody füllte einen Eimer mit Wasser und begann, die Garage auszuwaschen. Sammy hüpfte zu ihm, blickte ihn aus seinen großen feuchten, braunen Augen treuherzig an, schüttelte sich dann wie ein Hund und bespritzte ihn mit seinen Exkrementen. Brody hoffte, der Dicke würde >lebenslänglich< bekommen.
Achtes Kapitel Nate Starbuck saß auf einem Schemel im Dunkelzimmer seiner Apotheke und schwenkte behutsam den Behälter, in dem der Film schwamm. Er haßte diese Arbeit. Er hätte es sogar vorgezogen, oben mit seiner Frau das langweilige Fernsehprogramm anzuschauen. Sein knöcheriger Hintern schmerzte auf dem harten Schemel, der Rücken tat ihm vom
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ewigen Stehen hinter dem Ladentisch weh, und der Geruch des Entwicklers hatte ihm schon von Kindheit an Übelkeit bereitet. Aber wenn er es hier machte, anstatt den Film an das Laboratorium in New York zu schicken, verdiente er einen zusätzlichen Dollar, und sein Vater hatte es vor ihm getan, und wahrscheinlich auch sein Großvater, falls es in den neunziger Jahren überhaupt schon Filme gab. Die Sommergäste bezahlten sogar den Doppelpreis für Schnellentwicklung, weil sie nicht wußten, daß es aufs gleiche hinauskam. Schließlich zählte jeder Cent, wenn man bedachte, daß die Hälfte des Einkommens von den Bankzinsen aufgefressen wurde, und wenn die Geschäfte so schlecht gingen, daß man ständig vor der Pleite stand ... Er grübelte vor sich hin. Wenn das Spielgesetz durchkam, wenn Amity zu einer neuen Atlantic City wurde und das Casino scharenweise Gäste anlockte, wenn der Grundbesitz in der Stadt wirklich wieder den Wert haben würde, wie es Vaughan und die anderen Stadtbonzen und Fachleute versprochen hatten, dann würde er dieses Mal bestimmt verkaufen und nach Miami ziehen. Verdammt noch mal, das würde er, und Minnies Geritol und Ellen Brodys Kropfpillen und das Parafon forte, drei Tabletten täglich, für Willy Nortons Rückenschmerzen sollten zum Teufel gehen. Und wenn dann noch ein Feriengast mit einer Rolle Ektachromfilm kam, dann würde er ihm sagen, er solle ihn Gott weiß wo entwickeln lassen. Wenn er nur vor der Katastrophe verkauft hätte, als die Chancen noch gut waren! Ellen Brody öffnete die Tür zwischen Küche und dem kleinen Waschzimmer, das Brody vor vier Jahren auf der hinteren Veranda angebaut hatte. Der Trockenautomat, in dem Seans und Brodys Kleider lagen, summte geschäftig. Sie glaubte immer noch, den modrigen und fischigen Geruch von Sammys Exkrementen zu verspüren, aber sie war sich nicht ganz sicher. Sie schaltete den Automaten ab und nahm Seans zerrissene und ausgebleichte Blue jeans heraus. Sie hielt sie sich vor die Nase. Dann hörte sie ihren Mann an der Tür. -7 0 -
»Ist es weg?« fragte er. Sie zuckte die Schultern. »Wie man's nimmt. Nach RussischLeder haben sie ja noch nie gerochen.« »Es tut Sean wirklich leid«, sagte er entschuldigend. »Es war nicht seine Schuld.« »Auch Sammy tut es leid.« »Seine Schuld war es auch nicht.« »Dann tut es mir leid«, sagte Brody. »Ach, wirklich?« »Nun, schau mal, Ellen, der Seehund ist doch ein Beweisstück.« »Dann hätte ihn die Stadtverwaltung versorgen können.« »Wo denn?« »Im Turnsaal der Sekundärschule, im städtischen Schwimmbad oder in Harry Vaughans Badewanne«, brauste sie auf. »Das ist mir ganz egal. Mein Haus ist schließlich kein Zoo!« Das war wirklich nicht sehr nett von ihr, denn sie mochte den kleinen Seehund, sie mochte ihn wirklich, er war schön und so rührend mit seinen großen braunen Augen, daß es einem das Herz brach, und eigentlich war sie sehr froh darüber, daß Sean ihn so schnell liebgewonnen hatte und daß der Seehund Brody als seine Mutter betrachtete. Aber vielleicht war das falsch. Der Seehund hielt es genau wie Mike und Sean und jeder und alles, was mit Brody in Berührung kam. Sie alle liebten Brody, und sie blieb allein draußen in der Kälte. »Ich werde Dr. Lean bitten, ihn hier wegzuholen«, versprach Brody. »Ach, laß nur. Sean hängt so an dem Tier.« Jetzt tat es ihr leid. Sie blickte ihn um Verzeihung bittend an. Er lächelte gütig. Warum mußte er nur immer in jeder Beziehung so verdammt christlich sein? »Du brauchst ja auch schließlich nicht die Wäsche zu waschen und zu spülen und dann das Ganze noch einmal von neuem anzufangen, um den Gestank herauszukriegen.« -7 1 -
»Das nächstemal werde ich es tun.« Nein, das wird er bestimmt nicht. Irgendein Problem in der Stadt wird sich einstellen, oder die Jungen werden ihn für etwas Wichtigeres benötigen, wie: ein Boot anzustreichen oder einen Taucheranzug zu kaufen oder Mama zu überreden, die Jungpfadfindergruppe zu bewirten. »Schon gut, Brody«, sagte sie zärtlich. »Weißt du, vielleicht ist es wirklich meine Schilddrüse. Ich scheine immer nervöser zu werden.« Er half ihr, die Kleider aus dem Trockenautomaten zu nehmen. Seine Uniformhosen waren schön sauber, aber sein Hemd hatte ein paar häßliche Flecken abbekommen, und sie beschlossen, daß er es nur noch für die Gartenarbeit oder ähnliche Dinge benutzen sollte. Sie ließen die Kleider auf dem Bügelbrett und stiegen Hand in Hand die Treppe hinauf. Sie wußte, was ihr bevorstand, und hatte dabei ein wohliges Vorgefühl, das ihr bis ins Innerste drang. Wenigstens war das wieder in Ordnung, aber es war nicht immer so gewesen. Als er gerade aus dem Hemd schlüpfte, schnippte er mit den Fingern. »Ach, ich hätte fast vergessen, Sean bat mich, dich zu fragen ...« Ein Warnsignal ertönte. »Was?« »Es ist wegen der Brownies ...«* (* Mädchengruppe der Pfadfinder.) »Halt dich da heraus«, warnte sie. »Die Brownies bekommen ein Kanu für die Regatta, und damit hat es sich!« »Nun hör mal, bei dem kleinen Moscotti habe ich damals nachgegeben ...« Er blickte verlegen drein. »Und aus gutem Grunde.« Johnny Moscotti war der isolierte kleine Sohn eines Gangsters aus Queens, der seine Sommerferien in Amity verbrachte. Brody, der die Sünden der Väter auf die Söhne übertrug, hatte es für unklug gehalten, ihn in Seans Wölflingsgruppe zuzulassen. Zur Begründung hatte er angeführt, die Moscottis seien ja nur Sommergäste, und die Gruppe sei für die ständig ansässigen Kinder bestimmt. Noch -7 2 -
heute machte es sie wütend, wenn sie nur daran dachte. »Von wegen verfassungswidrig!« »Aber die Sache mit der Regatta ist etwas ganz anderes. Sean meint ...« »Die Brownies werden an der Regatta teilnehmen«, wiederholte sie. »Und zwar in einem Kanu!« »Aber Sean meint ...« »Sean ist ein gerissenes, berechnendes, chauvinistisches männliches Schweinchen.« Die Ungerechtigkeit der Sache trieb ihre Stimme eine Oktave hinauf. »Die Wölflinge bekommen alles, gehen zu Baseballspielen und lassen sich in Quonset Point festlich bewirten, und die Brownies sitzen zu Hause und helfen Mama. Ich habe selber einmal dazugehört, und ich habe endgültig die Nase voll davon, und wenn die Wölflinge mitmachen, machen die Brownies auch mit!« »Und wenn nicht«, bemerkte Brody grimmig, »dann startet auch Den Three nicht?« »Genau«, sagte sie. Er zog sich schweigend aus und stieg ins Bett. Sie wandte ihm den Rücken zu und tat, als schliefe sie schon. Heute abend war es also nichts damit. Nathaniel Starbucks Frau klopfte an die Tür des Dunkelzimmers. Sie hatte dreißig Jahre dazu gebraucht, stellte er fest, aber wenigstens das hatte sie inzwischen gelernt. »So komm schon rein«, rief er. »Das Licht ist an.« Sie trat ein. »Nate? Die Fischfrikadellen sind gekocht.« Fischfrikadellen, verdammt noch mal! Wenn er nur gestern abend seine Angel zu Hause gelassen hätte. Jetzt konnte er für den Rest seines Lebens Fischfrikadellen essen. »Okay«, brummte er. »Ich muß nur noch die Filme aufhängen.« Er nahm die Filmrolle aus der Lösung, rollte sie auseinander und hängte sie an eine Filmklammer. »Ist das der, den Brody gebracht hat?« fragte Lena. »Was ist drauf?«
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Er blickte auf den Umschlag, aus dem er die Rolle herausgenommen hatte. Ja, es war Brodys Film, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Er sah sich selten die Filme an, außer wenn er wußte, daß sie von einem jener flotten Sommerpärchen stammten, die alles, aber auch wirklich alles fotografierten. Der Film hingegen, der nun an der Klammer baumelte, enthielt, wenn man Brody glauben konnte, die letzte Aufnahme, die ein nun toter Taucher unter Wasser gemacht hatte. Er war neugierig geworden, faßte den Streifen unten an, zog ihn so herüber, daß das Licht ihn beleuchtete, und schüttelte dann den Kopf. »Nichts. Überhaupt kein Bild.« »Warte mal! Da, wo du die Finger hältst!« Er blickte hinunter. Sie hatte recht. Die ersten beiden Bilder waren belichtet. Er drehte den Film um und hielt ihn an den Rändern, um ihn nicht zu beflecken. Er sah sich genau die Negative an. Plötzlich rückte er sich die Brille zurecht. Die erste Aufnahme zeigte einen Tiefseetaucher unter Wasser, der vor dem Heck der versunkenen Orca stand. Er schien seinen Kameraden anzublinzeln. Nate hörte das Wasser aus dem Hahn tropfen. Von oben ertönte das fade Geschnatter einer Fernsehsendung. Und außerdem knurrte ihm der Magen. »Lena«, befahl er rauh, »holst du mir das Vergrößerungsglas? Es liegt bei den Abzügen.« Sie reichte es ihm. Er schaute sich das Bild noch einmal an, aber er wußte es bereits, er hatte es gesehen, er wollte nur ganz sicher sein, es war unglaublich, aber er mußte absolut sicher sein. »Nate«, rief seine Frau. »Was ist es?« Das Bild war schlecht und von einem unmöglichen Winkel aus aufgenommen. Es war unterbelichtet, aber nicht zu sehr, und es hatte den Anschein, als habe sich die Kamera während der Aufnahme bewegt. Die Buchstaben auf dem Heck der Orca
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waren rot, hätten aber gelb sein sollen, und die Zähne des Ungeheuers waren grau, anstatt weiß zu sein. »Nate?« Er saß regungslos auf seinem Schemel. Das Ding war also noch da und noch immer vor der Küste von Amity. Sie hatten es nicht getötet, und Brody hatte gelogen. Die Katastrophe war wieder da, und sie war eigentlich nie vorüber gewesen. Er hatte das Gefühl, daß ihm übel wurde. Er stammte aus einer Seemannsfamilie von Waljägern. Ein winziges Atoll im Stillen Ozean war nach seinem Urgroßvater benannt worden und trug den Namen jetzt noch. Seine Vorfahren kannten die größten Geschöpfe der Weltmeere besser als irgend jemand. Er hatte die See im Blut. Wenn Brody nur geahnt hätte, was auf dem Film war, hätte er ihn sicher gleich wieder ins Meer geworfen. Denn Brody hatte wahrscheinlich gelogen, als er behauptete, sie hätten das Tier getötet, aber in bezug auf die Größe hatte er die Wahrheit gesagt. Es war das größte, gewaltigste Untier von einem gottverdammten weißen Hai, das je ein Mensch gesehen hatte. Er hob den Filmstreifen an, so daß Lena ihn sehen konnte. Sie saß eine ganze Weile und starrte auf das Bild. Dann blickte sie ihn an. Beide waren erschrocken und angsterfüllt. »Oh, mein Gott«, stöhnte sie. »Was sollen wir nur tun?« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Verkaufen werden wir«, sagte er resigniert. »Das Maul halten und verkaufen. Was sonst?«
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ZWEITER TEIL Erstes Kapitel Die Große Weiße war in der letzten Nacht zwischen Amity und Fire Island hin und her gekreuzt. Sie hielt eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 10 Knoten. Vor Sagaponack hatte sie einen jungen männlichen Seehund erwischt, und vor Great South Beach war sie auf einen Schwärm von Seebarschen gestoßen. Vor Fire Island hatte sie wieder nach Nordosten gewendet. Und dabei war ihr ein Riesentintenfisch in den Weg gekommen, der sich aber, sowie er ihre Nähe fühlte, auf dem Meeresgrund in ein zerklüftetes Riff sinken ließ, dann jedoch zu rasch wieder fortschwamm und schließlich doch noch von der Großen Weißen getötet und verschlungen wurde. In der Höhe von Southampton hatte sie einen Rauhhai aufgespürt, ihn aber wieder verloren, da ihre momentane Leibesfülle das Tempo verlangsamte. Während der Nacht hatte sie etwa 300 Pfund lebendes Protein zu sich genommen, aber als sie in der Morgendämmerung wieder vor Amity angekommen war, litt sie unter einem wahren Heißhunger. Vor zwei Tagen hatte sie eine Schar Dorsche in den Hafen von Amity getrieben, jetzt begegnete sie einer weiteren und trieb sie in die Amity Sound. Sie war dabei, ihre Beute stückweise zu verschlingen, als das rhythmische Tschak ... Tschak ... Tschak der Fähre von Amity Neck ihre Antennen störte und die Schar Fische in alle Richtungen vertrieb. Da war sie so hungrig, daß sie sich beinahe auf den seltsamen eckigen Schatten über ihr gestürzt hätte, aber im letzten Moment schreckte sie doch davor zurück. Sie wurde von niemandem an Bord gesehen, obgleich Willywau, der Hund des Kapitäns, vom vorderen Wagendeck aus ganz aufgeregt zu bellen begann. Sie suchte den Grund ab, und ihre Antennen horchten im Schlamm nach versteckten Meerbarben und Flundern. Sie wühlte einen alten Gummistiefel aus dem Schlamm auf und schüttelte ihn. Ein Zahn der letzten oberen Reihe saß etwas -7 6 -
schief und verursachte bei ihr ein automatisches und zwingendes Bedürfnis, Dinge zu verschlingen. Obgleich ihr Computerverstand den Stiefel sofort als nicht proteinhaltig erkannte und sie veranlaßte, ihn wieder fallen zu lassen, gab ihr der schiefgestellte Zahn ein, herumzuwirbeln und ihn von neuem zu finden. Sie verschlang ihn dann auch in einer aufsteigenden Schlammwolke. In ihrem rechten Uterus wandte sich der Kleinste ihrer Brut gegen seine größte Schwester und hielt sie kämpfend von sich ab. Brody parkte den Buggy oberhalb der Hochwassermarke und in der Nähe der Stelle, an der er das Seehundbaby Sammy gefunden hatte. Die schlampige Frau des dicken Polizisten saß auf der Veranda des Smithschen Hauses, starrte ihn eine Weile an und verschwand dann mit ihrem Sohn, den sie hinter sich herzog, im Innern des Hauses. Brody half Tom Andrews beim Anlegen der Taucherausrüstung. Der bärtige Riese hatte sich schließlich bereit erklärt, für die Suchaktion nach dem explodierten Schnellboot etwas Geld anzunehmen. Er legte die Flossen an, und dann stapfte er mit Riesenschritten in das Wasser, denn er mußte achtgeben, daß die Flossen ihn nicht im Sand zum Straucheln brachten. Er sah ganz wie der lustige grüne Riese auf der Reklame aus, nur war er schwarz. Als er das Wasser erreicht hatte, wandte er sich noch einmal um und schritt dann rückwärts in die Brandung. Dann wirbelte er herum, schoß in einen Brecher hinein und hinterließ dabei kaum eine Wellenspur. Das Ganze sah wie der Stapellauf eines atomaren Unterseebootes in Groton auf der anderen Seite des Sounds aus. Brody nahm sein Mikrofon hervor. »Wagen Nr. 3. Polly, ich bin am Strand beim Smithschen Haus.« »Roger, Martin«, sagte Polly. »Ellen hat angerufen. Sie braucht Kondensmilch für Sammy, und bittet Sie, welche mitzubringen.« »Zehn-vier.« Er schrieb es auf seinen Notizblock. Sammy hatte das von Sean gebrachte Frühstück prompt erbrochen und seine Arbeit von gestern abend in der Garage wieder zunichte -7 7 -
gemacht. Was dieses arme Geschöpf brauchte, war die Pflege seiner Mutter, und die Mutter schwamm wahrscheinlich draußen irgendwo herum und suchte nach ihm. Er beschloß, die Wunde als Beweisstück zu fotografieren, so daß man Sammy wieder freilassen konnte, sobald er gesund genug zum Schwimmen war. Allerdings würde es Sean das Herz brechen. Phil Hooples Taxi holperte die Strandstraße entlang und hielt vor dem Haus. Jepps kehrte in sein gemietetes Sommerheim zurück. Ein verrunzelter Gerichtsbeamter aus Flushing war am Morgen angekommen, hatte Jepps mit gelben Zähnen lächelnd Mitgefühl und Sympathie und Brody Feindseligkeit bezeugt, bei der Stadtbehörde eine Kaution von fünfhundert Dollar hinterlegt und überall seine Visitenkarten verteilt. Nun stieg Jepps aus dem Taxi, sah ihn im Buggy sitzen, setzte eine steinerne Miene auf und schritt nachdenklich ins Haus. Brody wartete eine halbe Stunde lang auf Andrews. Einmal stellte er sich sogar aufrecht auf den Sitz des Buggys, um zu sehen, ob er irgendwo die Luftblasen erblickte, aber das Wasser war hier in der unmittelbaren Nähe der Brandung zu bewegt dafür. Er schaute immer wieder auf die Uhr und wurde von unangenehmen Vorahnungen befallen, als der zottige Hund plötzlich über die Dünen gefegt kam und ihn anbellte. Jepps folgte ihm, und sein Wanst quoll aus einer so winzigen Badehose, daß Brody schon einen Augenblick lang dachte, er könne ihn jetzt auch noch für nacktes Baden verhaften. Er kam auf den Buggy zu. Brody tat, als hantiere er mit dem Funkgerät. »Brody?« »Ja?« Der dicke Bulle lächelte, aber seine Augen waren so kalt wie immer. »Sehen Sie mal, Brody«, begann er. »Ich bin hier auf Ferien. Ich komme jedes Jahr hierher. Diese Stadt braucht allen Fremdenverkehr, den sie nur kriegen kann ...« »Aber keine Leute, die am Strand herumballern.« »Das war ein Fehler von mir, Brody! Das versuche ich ja Ihnen zu erklären.« Brody gab ihm zu verstehen, daß er keine Erklärung brauchte und daß gerade jetzt jemand den Meeresgrund absuchte, um herauszufinden, was für Fehler er vielleicht sonst noch gemacht -7 8 -
habe. Sie blickten auf die See hinaus. Andrews tauchte aus der Brandung auf wie ein prähistorisches Ungeheuer. Der Hund bellte noch lauter. Der Dicke schüttelte den Kopf. »Suchen Sie immer noch nach den Tauchern da?« »Wir würden gerne feststellen, ob sie Löcher in den Köpfen haben«, sagte Brody. Andrews hielt einen Gegenstand in seiner Hand, der wie der Überrest eines explodierten Benzintanks aussah. Er war rot. Andrews stapfte an Land, zog sich die Flossen ab und legte den roten Benzintank auf die Kühlerhaube des Buggys. »Keine Spur von den Tauchern. Ich habe den Motor gefunden, konnte ihn aber nicht heben. Und dann habe ich das hier entdeckt.« Brody sah sich den Benzintank gründlich an. Er war kein Sprengstoffexperte, hatte nie Ballistik studiert, aber dieser rote Benzintank war schon ein recht merkwürdiger Fund. Die eine Seite war völlig herausgesprengt, und in der anderen war ein Loch, das sehr gut vom Projektil einer Schußwaffe stammen konnte. Er blickte Jepps an. Der Dicke starrte auf den Tank. Seine Augen waren weit aufgerissen, und ein kleiner Muskel zuckte ihm an der Wange. Dann drehte er sich zu Brody um. »Na schön, Chef! Ich weiß nicht, was für eine Polizei Sie hier haben, und ich weiß auch nicht, was sonst noch in diesem Kaff vorgeht, aber ich weiß sehr gut, daß mir hier jemand was anhängen will.« Er tippte mit dem Finger auf den Tank. »Machen Sie mit dem Zauber nur so weiter, und bald haben wir Ihren Arsch in der Klemme!« Er machte kehrt und ging zum Haus. »Was zum Teufel war denn das nun wieder?« brummte Andrews. Brody nahm den Tank in die Hand. Er roch noch schwach nach Benzin. Dann steckte Brody einen Finger durch das Loch. »Wahrscheinlich hat er sich fürs Wochenende einen angesoffen«, meinte er. »Hat auf unserm Strand herumgeballert. Na ja, er hat mehr Enten geschossen, als er -7 9 -
sich vorstellt.« Er warf den Tank mit ärgerlicher Geste auf den Rücksitz des Buggys. Seine Stimme zitterte leicht. »Und ich glaube, er hat es inzwischen auch schon begriffen.« Er ließ den Motor an, und sie fuhren am Strand entlang in die Stadt zurück. Die Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt. Was sollte er jetzt nur tun? Nate Starbuck warf einen Blick aus dem Fenster des Rezeptschalters. Seine Frau Lena staubte das Kosmetikregal ab. Sie war schon seit fünfzehn Minuten dabei und machte ein ausdrucksloses, leeres und blödes Gesicht. Sie vergeudete ihre Zeit, es gab andere und wichtigere Dinge zu tun, und ihre Gedankenverlorenheit gab ihm ein unangenehmes Gefühl. Er wandte sich wieder seinem Inventar zu. Er zählte nämlich die Pillenflaschen. Irgendwie hatte er dabei den Faden verloren, weil sie da herumspukte wie eine Mondsüchtige, und, verdammt noch mal, jetzt mußte er wieder von vorne anfangen. Aber plötzlich ließ er dann doch alles stehen und liegen. Es war besser, wenn sie jetzt gleich miteinander ins Reine kämen. »Lena!« Sie sprang auf, als ob er sie in den Hintern gezwickt hätte. Das hatte er früher immer getan, vor Millionen von Jahren, nur so zum Vergnügen, und sie hatte dann die Erschreckte gespielt, gekichert und so getan, als wollte sie ihm eine Ohrfeige geben. Himmel, Herrgott, was für Narren waren sie damals gewesen. Sie wären es eigentlich immer noch, wenn er es nur zuließe. »Ja?« »Komm mal her!« Er führte sie in das Dunkelzimmer zurück und schaltete das rote Licht >Nicht stören< ein, so daß Jackie nicht hereinkommen und sie unterbrechen konnte. Er hätte nur zu gern Jackie einmal hier hereingelockt, aber wahrscheinlich hätte sie es gleich ihrem Daddy erzählt, und dann hätte er die ganze Polizei von Amity auf dem Hals. »Lena, was ist eigentlich mit dir los? Vergiß, daß du das Bild je gesehen hast. Verstanden?«
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»Aber ich hab's doch gesehen. Und du auch.« Zum erstenmal seit Jahren sah sie ihm voll ins Gesicht. »Es könnte noch jemand anders erwischen!« »Ich hoffe, es wird Brody erwischen.« »Nate!« »Nur geht er nie in die Nähe des Wassers«, fuhr er boshaft fort. »Hast du das nicht bemerkt? Weder er noch seine beiden Söhne.« »Das hat er doch nie getan. Auch vorher nicht.« Er ignorierte sie. »Er hat jedenfalls sein Geld gerettet. Er mußte hier den Helden spielen. Und hat er nicht auch sein verdammtes Grundstück verkauft? Na?« Er ging auf und ab und ballte dabei die Fäuste. Er hatte ihr das alles schon gestern abend erklärt, aber es wollte ihr einfach nicht in den dämlichen Schädel. Es war eine Verschwörung der Eingeweihten gegen ihn und die übrigen Außenstehenden. Bürgermeister Larry Vaughan mußte es die ganze Zeit gewußt haben, auch Willy Norton, der große Friedensrichter, und auch die Herren von der Stadtverwaltung. Sie wußten genau, daß der Weiße Hai noch lebte, hatten alles vertuscht und verschwiegen und hatten Peterson und sein Syndikat bei der Casinoangelegenheit schön übers Ohr gehauen. Warum sollte er da nicht auch sein Schäfchen ins trockene bringen? Er mußte sein Grundstück verkaufen, bevor es zu spät war. »Aber ich möchte nicht verkaufen«, protestierte Lena. »Es ist doch unser Heim.« »Das ist mir ganz egal. Wir verkaufen. Für so viel wie möglich und so rasch wie möglich, und dann ziehen wir möglichst weit von Amity fort. Hoffentlich frißt der Hai das ganze gottverdammte Kaff auf!« »Aber während der Katastrophenzeit haben wir doch nie einen Käufer gefunden.« »Während der Katastrophenzeit? Die ist noch gar nicht vorbei! Und die wird auch nie vorübergehen!«
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Es hatte gar keinen Zweck, es ihr noch weiter groß zu erklären. Sie hatte keine Ahnung von Haifischen oder der See. Sein Urgroßvater, der neunundachtzig Jahre alt wurde, war mit ihm eines Tages die Water Street entlanggehumpelt, als er noch ein kleiner Junge war. Sie hatten auf einer Kiste am Hafen gesessen - es war noch der alte Hafen -, er hatte sich seine Pfeife gestopft und ihm wieder einmal seine Geschichten aus der Zeit des Walfangs erzählt, und Nate hatte ihm zugehört. Er kannte die Geschichten schon von Kindheit an auswendig, und sie waren ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Ein Großer Weißer hatte einmal eines der Fischerboote des alten Seebären im Jahre 1897 vor der Küste von Sydney in Australien beinahe zum Kentern gebracht und die Mannschaft mit Haut und Haaren verschlungen. Derselbe Hai hatte 1899 ein treibendes Wrack eine halbe Meile entfernt davon angegriffen - der Große Weiße lebte in diesen Gewässern. Im Jahre 1896 schon hatte ein Weißer das Wasser mit dem Blut eines Pottwals, den sie gefangen hatten, rot gefärbt, und im Jahre 1898 hatte der gleiche Hai, in dem immer noch der Schaft des Messers des Urgroßvaters steckte, noch einmal angegriffen - und wieder am gleichen Ort. Die Haie wachten eifersüchtig über ihr Jagdgebiet. Und sie zogen nicht fort. Als der liebe Gott den Großen Weißen schuf, war er müde. Denn er hatte vergessen, ihm das Gefühl der Angst zu geben. Wenn nun so ein Hai einen passenden Jagdgrund fand, warum sollte er dann fortziehen? »Und wenn wir nun keinen Käufer finden?« flüsterte sie. »Wenn niemand unser Haus und Grundstück will?« Als er sie endlich beruhigt hatte, gab er ihr einen Klaps auf den Bauch - der fühlte sich wie die Stoßstange seines alten DodgeLieferwagens an - und öffnete eine unbelichtete Filmrolle. Er kam sich komisch vor, wie er das Ding unter dem hellen Licht aufrollte, nachdem er in all den Jahren immer so vorsichtig damit umgegangen war, und es schien ihm eine sündhafte Verschwendung. -8 2 -
Er brachte es aber doch über sich. Schließlich kostete ihn so ein Film nur einen halben Dollar dreißig, Grossistenpreis. Und wo es jetzt um seinen ganzen Laden ging, spielten ein Dollar dreißig weiß Gott keine Rolle mehr. Er entwickelte den leeren Film und hängte ihn zum Trocknen auf. Brody fand eine Bresche in den Dünen von South Amity Beach, schaltete seinen Buggy in den Vierrädergang und wollte auf die Dünen fahren. Andrews stützte sich auf seine Sauerstoffflasche, als sie durch den Sand der Beach Road entgegenschaukelten. Plötzlich legte Andrews Brody die Hand auf den Arm. »Warten Sie ...« Brody stoppte und folgte seinem Blick. Unten am Strand hatte eine Gruppe schlaksiger Teenager ihre Badetücher auf dem Strand ausgebreitet. Die meisten von ihnen trugen Taucheranzüge, und sie waren wahrscheinlich Jungen aus Andrews Taucherschule. Andrews schaute zu ihnen hinüber. »Ich wollte nur sicher sein, daß niemand da unten zufällig einen Benzintank entdeckt, der die Sache mit dem Einschußloch entkräftet. So, jetzt können wir weiterfahren.« »Einen Augenblick ...«, sagte Brody. Seine Augen waren auf den am nächsten stehenden Jungen gerichtet. Er holte sein Fernglas aus der Ablage unter dem Armaturenbrett hervor. Dann stellte er es ein. Es war Mike. Er trug seinen Taucheranzug. Weiter unten am Strand sprang Larry Vaughan jr., der Sohn des Bürgermeisters, gerade von seinem Badetuch auf, rannte zum Wasser und stürzte einem Brecher entgegen. Der Wellenschaum glitzerte silbern in der Mittagssonne. Mike stand ebenfalls am Wasser, ließ die Brandung auf sich zukommen, duckte sich, bis ihm das seichte Wasser über die Hüften lief. Larry winkte ihm von hinter der Brandung zu. Er winkte zurück, machte ein paar Schritte weiter zum Wasser hin -8 3 -
und gähnte gelassen. Plötzlich griff er sich an die Wade und humpelte vom Wasser fort. Der Riese sah Brody unsicher an. »Hat er manchmal ... Krämpfe?« »Es ist nichts Ernstes«, sagte Brody mürrisch. Er brauchte sich bei niemandem und für nichts Mikes wegen zu entschuldigen. Oder, da Mike es offensichtlich nicht getan hatte, ihm zu erzählen, was der arme kleine Kerl einmal durchgemacht hatte. Brody stand dem Apotheker hinter dem Ladentisch gegenüber. »Was soll das heißen, Sie haben ihn versaut?« Nate sah ihn aus seinen blassen, blauen Augen an. »Nun ja, genaugenommen war ich es nicht.« Er nickte zu seiner Frau hin, die gerade die Lippenstifte in einer Vitrine hinter dem Ladentisch zählte. »Sie hat die Tür zum Dunkelzimmer aufgemacht.« »Und auf dem Film ist überhaupt nichts mehr zu sehen?« Brody konnte es nicht glauben. Starbuck zog eine Schublade heraus und entnahm einem gelben Umschlag mit der Aufschrift >EILIG: AMITY POLIZEI< eine Filmrolle. Er hielt sie aufgerollt gegen das Licht. Es war nichts darauf zu sehen. »Verdammt«, stieß Brody hervor. »Da war wahrscheinlich auch vorher nichts drauf. Wie ich höre, waren die beiden doch besoffen.« »Und jetzt werden wir es also nie wissen, Nate?« Starbuck schüttelte den Kopf. Brody fühlte sein Blut aufwallen. Heute früh hatte er die Witwe des toten Anwalts vernommen. Sie war eine trauergebeugte Frau mit großen, schwarzen Augen. Er hatte ihr versprochen, den Film zu schicken, wenn ihr Bruder kam, um das Boot abholen zu lassen. »Verdammt noch mal, Nate, es ist die letzte Aufnahme, die der Kerl je gemacht hat! Was soll ich nun seiner Frau sagen?«
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Starbuck zuckte die Schultern. Er schien einen innerlichen Kampf auszufechten. Er furchte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf den Ladentisch. Und plötzlich, als habe er gerade ein schweres Problem bewältigt, griff er zum Ständer hinter sich und nahm eine gelbe Filmpackung heraus. »Sagen Sie ihr, wir entschädigen sie mit einem neuen Film.« Brody blickte ihm in die blauen Yankeeaugen. Sie waren so undurchdringlich wie das Meer. »Ich werde ihr sagen, daß es Ihnen leid tut, Nate. Ihren Film können Sie sich sonstwohin stecken!« Als er draußen war, stellte er fest, daß er schon wieder einmal Ellens Schilddrüsenpillen vergessen hatte. Aber, Teufel noch mal, er hatte nicht die Absicht, in den Laden zurückzugehen.
Zweites Kapitel Um die Mittagszeit schwamm die Seehundmutter wieder am Strand von Amity entlang, hielt sich in der Nähe der Brandung und wagte sich bis zum Sund vor. Sie hatte den größten Teil der Nacht an dem Ort verbracht, wo sie ihr Kleines verloren hatte. Schließlich war sie trotz des Hundegeruchs auf den Strand gehüpft. Dort hatte sie das starke Gefühl, daß das Kleine sich ganz in der Nähe aufgehalten hatte. Sie schnüffelte im trockenen Sand, und als sie Blutspuren roch, geriet sie in große Erregung. Aber sie sah ihr Kind nirgends, und schließlich war sie ins Wasser zurückgekehrt. Eine Stunde lang ließ sie sich unentschlossen von der Küste weg treiben. Sie sah das seltsame zweischwänzige Menschengeschöpf ins Wasser gehen und untertauchen, hörte sein rauhes und fremdartiges Keuchen eine halbe Stunde lang, als es im Schlamm des Meeresgrundes herumsuchte wie ein Hai, der nach Flundern ausschaut. Sie hatte keine Furcht vor dem Taucher, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß er sie Ruhe lassen würde.
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Als er wieder fort war, schwamm sie den Strand entlang, bis sie wieder die Brandung von Amity erreicht hatte. Sie klomm auf einen Felsen, denn dort war sie vor dem Schrecken, der immer noch draußen im offenen Meer lauerte, sicher. Sie lag unter dem weißangestrichenen Leuchtturm von Amity. Ein männlicher Seehund sonnte sich in ihrer Nähe, aber sie achtete nicht auf ihn, und auch er ignorierte sie. So lag sie unter der Mittagssonne und fühlte sich immer noch beklemmend einsam, als eine innere Stimme sie wieder ins Wasser zurückrief. Sie durchschwamm die Hafeneinfahrt und wandte sich dem Sund zu. In diesem begrenzten und ungewohnten Gebiet fühlte sie sich eingeengt. Sie zog im allgemeinen die offene See vor. Aber sie hatte das Gefühl, daß ihr Kleines irgendwo in der Nähe war, und verhielt etwa hundert Meter vor einem weißen Holzhaus, ließ sich treiben, streckte den Hals empor und tröstete sich bei dem Gefühl seiner Nähe. Sie konnte es weder sehen noch riechen oder hören, aber irgendwie spürte sie, daß es sich nicht weit von hier aufhielt. Und so blieb sie. Brody nippte an seinem Mittagsbier und sah seinen Söhnen beim Essen zu: Sie verschlangen einige Sandwiches. Sean hatte die Lokalzeitung vor sich ausgebreitet, brütete über einem Artikel und schob das Blatt seinem Vater zu. »Bitte, Daddy, lies es mir vor«, bat er. »Da steht was über Sammy drin.« Brody schüttelte den Kopf. »Nein, lies du es mir vor.« Sean war das Lesen verhaßt. Merkwürdig, da doch sein Vater das halbe Leben mit seinen Büchern verbrachte, und seine Mutter auch. Sean murrte, aber dann begann er leiernd wie vor einer Schulklasse: >Amity: Ein hier in den Ferien weilender Polizeiwachtmeister wurde gestern verhaftet, da er angeblich ein Seehundbaby am Strand von Amity angeschossen und verletzt hatte. Er wurde dem Polizeibericht zufolge eines ... Versehens?< -8 6 -
»Vergehens«, unterbrach ihn Mike. Er hatte ihm über die Schulter geschaut, riß ihm die Zeitung weg, glättete sie auf dem Tisch und las selbst weiter: >Er wurde dem Polizeibericht zufolge eines Vergehens gegen das Gesetz zum Schütze der Meeressäuger und gegen den städtischen Erlaß, der den Gebrauch von Feuerwaffen innerhalb der Stadtgrenzen untersagt, bezichtigt.< Er räusperte sich wichtigtuerisch. >Der Angeklagte wurde von der Polizei in Flushing als Wachtmeister Charles Jepps, 54 Jahre alt, identifiziert. Er ist ein Sommergast und wohnt zur Zeit in dem von ihm gemieteten Smithschen Sandschloß, 118 West Beach Road. Wie Polizeichef Martin Brody mitteilte, wird der Angeklagte nach einem Vorverhör bei Friedensrichter William Norton an das zuständige Country-Gericht überwiesen werden. Nach Brodys Aussage ist das Opfer ein drei Wochen alter Seehund. Brody erklärte ferner, er wolle eine weitere Untersuchung einleiten, um festzustellen, ob eine Verbindung zwischen den Schießereien des Angeklagten zu den beiden vermißten Tauchern und einem vor Amity Beach explodierten Schnellboot besteht. (Siehe auch Seite 1)< »Junge, Junge«, seufzte Ellen. »Da hast du dir wieder mal den Hals ganz schön in die Schlinge gelegt, was?« Sie hatte recht. Harry Meadows hatte zwar seinen Amity Leader durch alle möglichen >angeblich<, >laut Aussage< und >wie Brody erklärte< geschützt, Brody selbst aber hatte sich in gefährliche Wasser vorgewagt. Er trank sein Bier aus. »Na schön, ich hatte halt eine Stinkwut. Aber schwitzen werde ich deshalb nicht«, sagte er und versuchte, Zuversicht auszustrahlen. »Den Seehund hat er schließlich tatsächlich angeschossen.« »Und du hast ihn ins Gefängnis gesteckt, nicht wahr?« fiel ihm Sean ins Wort. »Nicht wahr, Daddy?« »Er will es ganz genau wissen«, seufzte Mike. »Er muß ja Sammy auf dem laufenden halten.«
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Brody nickte. »Ich habe ihn ins Gefängnis gesteckt, Sean. Aber er ist schon wieder draußen. Gegen Kaution.« Sean riß die Augen auf. »Das ist aber ungerecht! Nur für eine Nacht?« »Du kannst Sammy sagen, ich werde mir alle Mühe geben, ihn wieder einzulochen.« Sean rannte zur Garage. Brody betrachtete seinen älteren Sohn. Mike kaute lustlos an seinem Brot. Er war gereizt, leicht auffahrend, und er hatte immer noch den gleichen gequälten Blick wie vor Tagen. Brody beschloß, ihn sich einmal vorzunehmen, denn er glaubte, den Grund zu kennen. Vor zwei Jahren, als die Katastrophe ausbrach, waren Mike und Sean die reinsten Wasserfrösche gewesen. Die Angriffe des Hais auf die ersten wenigen Opfer hatten auf keinen der beiden die leiseste Wirkung gehabt. Alles, was er tun konnte, war, sie vom Meer fernzuhalten. Sie durften nur noch an der schlammigen Küste vor ihrem Haus im Sund schwimmen. Als die falsche Panik ihren Höhepunkt erreicht hatte - und wochenlang hatte es täglich am Strand Alarm gegeben -, war Mike im Flutwasser etwas weiter hinausgeschwommen, während Sean in der Nähe im Sand spielte. Der weiße Hai hatte sich im gleichen Augenblick unter die Eisenbahnbrücke in den Sund vorgewagt und hatte sich auf einen Mann gestürzt, der auf einem Gummifloß in der Sonne lag. Das hatte sich, kaum fünfzehn Meter entfernt, vor Mikes Augen abgespielt. Der Angriff war schon für Brodys Begriffe entsetzlich gewesen, wie all die anderen auch, wenn man sich nur die scheußlichen Einzelheiten vorstellte. Aber auf Mike hatte er eine katastrophale Wirkung gehabt. Man hatte ihn im Schockzustand aus dem Wasser holen müssen, und er hatte zwar keinen Kratzer am Körper, dafür aber eine tiefe, klaffende Wunde in der Seele. Seitdem hatten sie nie mehr davon gesprochen. Nach dem Mittagessen nahm Brody Mike auf die Sonnenveranda, und sie setzten sich auf die Treppenstufen und schauten über das Wasser auf das schwach blinkende -8 8 -
Tageslicht des Leuchtturms von Cape North am anderen Ufer des Amity Sound. Mikes Segelboot lag gestrandet und verloren auf seinem Untergestell am Ufer. »Wirst du am Sonntag die Regatta gewinnen?« fragte Brody. Mike zuckte die Schultern. »Wenn ich mitmache.« »Was soll das heißen?« »Wenn Jackie mitfahren darf.« »Halt mal. Sollte Sean nicht mitfahren?« »Naja, er hat ja die Ruderpinne angestrichen. Da werd' ich ihn wohl schon mitnehmen müssen. Wenn ich überhaupt fahre ...« »Du kannst es doch nicht einfach aufgeben! Du hast es ihm versprochen!« »Na schön, dann fahr' ich eben. Was soll's? Ist ja keine große Sache.« Brody sah ihn an. »Mike, hast du irgendein Problem?« fragte er vorsichtig. »Ein Problem?« Mikes Stimme klang abweisend. Er wollte seinem Vater nicht in die Augen sehen, neigte sich vor und schaute auf Brodys Armbanduhr. »Wie spät ist es? Jackie ...« »Laß Jackie mal aus dem Spiel. Ich finde, wir sollten uns lieber über das Schwimmen am Strand unterhalten.« Mike reagierte nervös. »Ach, ich dachte, das hätten wir geklärt.« »Naja, sozusagen schon.« Wenn Brody ihm jetzt sagte, daß er ihn heute morgen gesehen hatte, wie er mit einem angeblichen Krampf vom Wasser weghumpelte, wäre er beleidigt, und dann bekam man kein Wort mehr aus ihm heraus. »Hast du es getan?« Mike zuckte die Schultern. »Hab' heute früh nur meinen Taucheranzug ausprobiert.« »Hält er dich warm?« Mike verdrehte die Augen. »Fantastisch.«
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»War es schön, wieder mal im Ozean zu schwimmen?« Brodys Stimme zögerte. Das war das reinste Minenfeld, und er wußte wirklich nicht, was er sagen sollte. »Ganz toll! Ja!« Brody tappte sich weiter vor. »Keine ... Empfindungen?« Nur nicht zuviel auf einmal ... »Keine ... Sorgen?« Es war, wie wenn man versuchte, Minnies siamesische Katze vom Dach zu locken, ohne sie zu erschrecken und zu einem Zwölfmetersprung zu treiben. »Überhaupt nicht!« Mike blickte ihn wütend an. »Hör mal, dir ist das Wasser verhaßt! Aber du bist trotzdem mit Quint herausgefahren! Ich aber liebe das Wasser! Und du glaubst, ich mache mir Sorgen? Jetzt, wo er tot ist?« Von der Garage her kam ein schrilles Bellen und danach ein Schrei Seans. Sie liefen schnell über die Wiese. Die Garage stank immer noch entsetzlich nach Seehund und Sardinen. Sean kämpfte mit Sammy, der durch die Tür entschlüpfen wollte. Sean sah wie der Torhüter einer Fußballmannschaft zehn Sekunden vor dem Penalty aus. Der Junge und der Seehund schrien hysterisch. Brody hockte sich vor dem Seehund auf den Boden, der seinen Kopf schüttelte und ihn aus dem Weg zu stoßen versuchte. Endlich gelang es den dreien, ihn wieder in die Garage zurückzubringen. Der Verband war ihm wieder einmal von der Wunde gerutscht. Wenn man ihn jetzt nicht bald soweit hatte, daß er schwimmen konnte, blieb nur noch die Möglichkeit, ihn im Woods Hole Institute oder im Zoo von Bronx unterzubringen. »Am Vormittag schien er noch ganz zufrieden«, erklärte Sean. Der Seehund bellte kläglich, und seine Augen waren voller Tränen. Man konnte ihn unmöglich noch viel länger hierbehalten. Und wenn er fort war, war es ebenso unmöglich, Sean zu trösten. »Wir haben nur gespielt, und dann hat er versucht wegzulaufen.«
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Brody führte Sean heraus und schloß die Tür. »Laß ihn ein bißchen in Ruhe.« Er blickte bedauernd auf seine Uhr. Im Winter waren seine Söhne in der Schule, aber im Sommer hatte er nie genug Zeit für sie. Er hatte eine Verabredung im gerichtsmedizinischen Laboratorium von Suffolk County in Bay Shore, und er wurde in einer halben Stunde erwartet. Er wandte sich an Mike. »Und was hast du heute nachmittag vor?« Mike zuckte die Schultern. »Ich treffe mich mit Jackie. Sie hat heute frei. Vielleicht gehe ich mit ihr schwimmen.« Plötzlich erschien ihm sein Sohn größer, gelenkiger und weiser. Und Jackie war gewiß eine reife Frucht. Und trotz ihrer Zahnklammern war sie eine Schönheit. Er hatte den Eindruck, daß man Mike in nächster Zeit weniger im Wasser und auf dem Strand als in den Dünen finden würde. »Behalt nur deine Taucherhosen an«, sagte er und fuhr ihm über das Haar. »Verstanden?« Mike wurde rot. »Nun hör schon auf, Daddy!« Brody stieg in den Wagen Nummer eins und fuhr in Richtung von Bay Shore davon. Er hoffte insgeheim, daß Jackie Mike vom Wasser fernhalten würde. Aber das war ein dummer Gedanke. Die Katastrophe war ja vorüber. Der Hai und sein eigener Vater hatten dem Jungen eine wahre Phobie angehängt. Da blieb dem Armen keine Chance. Eine elende Geschichte, Teufel noch mal ...! Larry Vaughan, der Bürgermeister von Amity und Präsident der Grundstücksfirma Vaughan und Penrose, wünschte nicht, daß man in seinem Rathausbüro über Grundstücksgeschäfte sprach. Eventuelle Kunden wurden an sein Firmenbüro auf der Scotch Road, das er in einer Holzbude eingerichtet hatte, verwiesen. Er befürchtete nämlich, daß die Stadtväter ihm die Bürounkosten und das Gehalt seiner Sekretärin Daisy Wicker, die er angeblich zur Erfüllung seiner bürgermeisterlichen Pflichten benötigte, verweigern würden, falls er das offizielle Büro für seine persönlichen Geschäfte benutzte. -9 1 -
Aber Starbuck war es gelungen, Daisy zu überrumpeln, und nun stand er vor ihm und starrte ihn über den großen Schreibtisch hinweg an. Vaughan blickte ihm argwöhnisch entgegen. Der Apotheker bot der Stadt zwar einige Profitchancen, doch gab es mit ihm immer Ärger, und er war eine ausgesprochene Nervensäge. »Die Apotheke wollen Sie verkaufen?« Vaughan wiederholte es ungläubig. Ihn interessierte der wahre Grund, der den Apotheker zum Verkauf bewog, und er war keinesfalls gewillt, einen angegebenen Grund als wahr hinzunehmen - besonders, wenn es um Geschäfte ging. »Tja«, sagte Starbuck. »Das habe ich vor.« »Mein lieber Nathaniel«, sagte Vaughan langsam. »Natürlich bestürzt mich das, aber ich werde sehen, was ich tun kann. Ihr Preis scheint mir ziemlich hoch, aber vielleicht so etwa in einem Monat, falls das Spielgesetz durchkommt ...« »Ich rede nicht von etwa in einem Monat. Ich will jetzt verkaufen.« Vaughan vernahm das Alarmsignal. Die Zukunft sah im Augenblick zwar recht rosig aus, Vaughan wußte zwar, daß Vaughan und Penrose und die Stadtverwaltung von Amity eine Periode noch nie dagewesenen Wachstums und Wohlstands voraussahen - das hatte er im Rotary verkündet -, aber seit der Katastrophe war er vorsichtiger geworden. Der Fremdenverkehr ist immer eine unsichere Angelegenheit. Und im Stadtgebiet von Amity war Vertrauen in die Zukunft erste Vorbedingung für einen Wertzuwachs von Grund und Boden. Da war es zumindest befremdend, zu wissen, daß ein Geschäftsmann der Stadt, der die Krise der Katastrophe überstanden hatte, jetzt auf einmal aussteigen wollte, wo man das Spielgesetz und den entsprechenden Boom erwartete. Vaughan klopfte mit dem Bleistift auf den Schreibtisch. »Nathaniel, wir wollen jetzt nicht über den Preis reden. Ich bin einfach bestürzt über Ihren plötzlichen Wunsch, wenn ich bedenke, seit wann ein Starbuck in dieser Stadt schon Pillen drehte -« das war nun weiß Gott nicht der richtige Ausdruck, -9 2 -
der alte Trottel hatte schließlich auch seinen Stolz -, »ich meine, sich um die hiesige Apotheke bekümmerte. Wie lange ist es her? Drei Generationen, nicht wahr? Da müssen Sie verstehen, daß es ein Schlag für uns ist ...« »Gesundheitsgründe«, sagte Starbuck. »Gesundheitsgründe?« »Lena.« Er zuckte mit keiner Wimper. »Sie hat Krebs.« Vaughan schauderte. Vor fast vierzig Jahren hatten seine Eltern, die den Sommer über bei einem Grundstücksmakler in East Hampton arbeiteten, Lena als sein Kindermädchen angestellt. Sie war damals ein junges Mädchen mit stark vorstehenden Zähnen gewesen, und sie war stets lieb und freundlich und hatte ihm das Kartenspielen beigebracht. »Um Gottes willen«, rief er. »Doch nicht Lena!« »Sie muß nach New York ins Memorial-Krankenhaus. Das wird mich sechzig, vielleicht auch hundert Dollar pro Tag kosten, und Gott weiß, für wie lange, ganz abgesehen von den Kosten für die Medikamente und unserer Versicherung, in der sowas gar nicht vorgesehen ist.« Vaughan trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Starbucks Grundstück war eines der bestgelegenen der Innenstadt, direkt an der Hauptstraße. Wenn das Casino einmal fertig war und das Gesetz durchkam, war jeder Quadratmeter südlich der Scotch Road ein klotziges Vermögen wert. Starbuck hatte versucht, das Grundstück während der Katastrophenzeit zu verkaufen, und jetzt war es schwer mit Hypotheken belastet. Eine davon hatte Vaughan selbst über die Bank vermittelt. Möglicherweise hatte Starbuck keine Ahnung vom zukünftigen Wert seines Besitzes. Er wollte 50000 Dollar haben. Vaughan war sicher, es für 75000 verkaufen zu können. Oder sollte er es nicht lieber selbst behalten und abwarten? »Sagen Sie Lena, es täte mir furchtbar leid. Ich werde die Apotheke für einen Wert von 50 veranschlagen. Ich werde mich in New York erkundigen, ob es Interessenten gibt. Jedenfalls werde ich sehen, was sich machen läßt.« -9 3 -
Starbuck grinste. »Tun Sie das, Larry.« Dieses sonst so seltene dünne Lächeln überraschte Vaughan. »Ich bin sicher, daß wir es verkaufen können«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ist auch höchste Zeit«, sagte Starbuck. Er erhob sich, setzte sich den Hut auf und ging. Was zum Teufel sollte das nun wieder heißen? Vielleicht hatte Lenas Krankheit ihm einen Schock versetzt. Ein seltsamer Kerl. Vaughan beschloß, ihn eine Woche zappeln zu lassen, ihm dann 35000 zu bieten - weil es schließlich um Lena ging - und das Grundstück für sich selbst zu kaufen. Das rote Licht an seinem Telefon blinkte auf. Der Anruf kam aus Albany, der Hauptstadt des Staates New York. Clyde Bronson, der für Amity zuständige leitende Beamte der Justizbehörde, hatte gerade eben den staatlichen Polizeikommissar empfangen, bei dem wiederum ein Rechtsanwalt vorgesprochen hatte, der einen Polizeiwachtmeister aus Flushing namens Jepps in einer Angelegenheit vertrat, die mit unerlaubtem Umgang mit Waffen und einem Verstoß gegen das Tierschutzgesetz zu tun hatte. Clyde erklärte, die staatliche Polizeikommission sei ohnehin gegen das Spielgesetz, und sie verfügten über ausgiebige Akten mit allen Einzelheiten bezüglich der Beziehungen, die die Staatsbeamten zu den Stadtbehörden unterhielten, und sie seien bestimmt auch über ihn informiert. Falls Vaughan sich nun einbildete, er könne diesen Leuten an den Karren fahren und dann noch erwarten, daß Amity eine Spielzulassung bekäme, dann sei er schief gewickelt. »Haben Sie das auch richtig mitgekriegt, Larry?« Er hörte den hohen Beamten durch den Hörer schnaufen. Vaughan bestätigte ihm, er habe es mitbekommen. Er legte den Hörer auf und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Jetzt schnaufte auch er, als ob er sich angesteckt hätte. Er stapfte über den Flur zum Büro der Polizei von Amity. Brodys -9 4 -
Schreibtisch war leer. Polly las gerade Angst vorm Fliegen. Er starrte sie mürrisch an. »Wo steckt er?« fragte er. »Im gerichtsmedizinischen Laboratorium in Suffolk. Larry, Sie sind ja in Schweiß gebadet. Fehlt Ihnen was?« »Die einzige für mich wäre, Ihren Chef an die frische Luft zu setzen.« »Das können Sie nicht«, sagte sie geziert. »Wir sind Beamte.« »Ich schmeiß ihn raus, sowie er zurückkommt«, bellte er. Er trat aus dem Rathaus und ging auf einen Drink in den >Wilden Bären<.
Drittes Kapitel Brody parkte den Wagen Nummer eins neben einer Polizeiambulanz in der reservierten Zone, nahm das SavageGewehr, die Tüte mit der Munition und den zerbeulten Benzintank des Schnellbootes heraus und schritt auf das große graue Gebäude zu, wo er noch im vorigen Jahr an einem wissenschaftlichen Polizeiseminar teilgenommen hatte. Er kam sich blöde vor, wie er mit der Waffe und den anderen Beweisstücken über den Platz ging, und es war ihm, als spiele er Sherlock Holmes in einer Wohltätigkeitsveranstaltung der Sekundärschule. Als er durch die Glastür trat, schaute ihn der junge Wachtmeister am Empfangsschalter an und hielt die Hände hoch. »Nicht schießen, Brody, Sie können das ganze Gebäude mitnehmen.« Dann schob er ihm das Besucherbuch zu, in das er sich eintragen mußte, rief einen anderen Polizisten an den Schalter und begleitete ihn im Fahrstuhl nach oben. Brody versuchte, sich an den Namen des jungen Mannes zu erinnern, denn er kannte ihn als Referenten für verwaltungstechnische Fragen bei der County-Polizei vom Seminar her. Jetzt hatte er es: Wachtmeister Pappas. -9 5 -
Sie gingen durch die von hektischer Betriebsamkeit erfüllten Korridore. Polizeipersonal aller Art hastete an ihnen vorüber. Uniformierte, als Zivilisten verkleidete und Zivilbeamte, die alle sehr tüchtig und beschäftigt aussahen. Aus den Zimmern, an denen sie vorbeikamen, hörten sie das Piepsen und Stimmengewirr der Funkgeräte. Telefone klingelten, Signale blinkten - die Emsigkeit war sehr eindrucksvoll. »Das reinste Affentheater«, brummte der Wachtmeister. »Brauchen Sie nicht zufällig einen Mann in Amity?« »Sie könnten dort Chef werden«, sagte Brody, »und mit meinem Gehalt verhungern.« »Denken Sie mal dran«, sagte der Wachtmeister. Er führte Brody durch eine Doppeltür in das gerichtsmedizinische Laboratorium. Brody erinnerte sich, es bei einem Rundgang vor drei Jahren besucht zu haben. Der Wachtmeister trug das Gewehr, die Munition und den Benzintank in die Liste ein und schaute zu, als der zuständige Beamte sie mit Etiketten versah, und dann gingen sie durch das mit allen möglichen Dingen vollgestopfte Laboratorium an der Fotokopiermaschine vorbei zu einer Tür, auf der >Ballistisches Laboratorium< stand. An einer Wand hing eine Riesensammlung von Waffen. Da gab es alles, von den winzigen Damenhandtaschenpistolen bis zu den Maschinengewehren, an die sich Brody noch aus seiner Militärzeit erinnerte. Und über der Sammlung war ein Schild: >VERGLEICHENDE BALLISTISCHE TESTABTEILUNG<. An einer anderen Wand hing eine Sammlung nicht minder gefährlicher Hieb-, Stich- und Prügelwaffen sowie einiger verbotener Schießwaffen, die zur Ausrüstung der Raufbolde und kleinen Gangster gehören. Stemmeisen, Totschläger, Schlagringe, abgesägte Flinten und eine Maschinenpistole. Auf dieser waren ein Kruzifix und ein Hakenkreuz eingraviert. Über dieser zweiten Sammlung hing ein Schild, auf dem in goldener gotischer Schrift stand: >Das Recht auf Waffenbesitz darf dem Volke nicht verwehrt werden.<
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Eine hübsche junge Schwarze mit einem prächtigen Wollschopf im Afrolook saß vor einem Mikroskop und untersuchte Gewehrgeschosse. Sie schwang sich auf ihrem Drehschemel herum, als sie sie kommen hörte. »Brody«, sagte der junge Wachtmeister. »Darf ich Ihnen den Stolz der Suffolk-County-Polizei vorstellen. Leutnant Swede Johansson. Leutnant, das ist Polizeichef Brody aus Amity.« Sie suchte sich an irgend etwas zu erinnern. »Warten Sie mal ... Amity ... Amity ...« »Das kommende Las Vegas der Ostküste«, sagte Brody. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es nicht ...« »Das letzte Jagdrevier des Großen Weißen Hais«, gestand Brody. Er haßte es, und es geschah ihm immer wieder. Die häßliche Geschichte der Katastrophe hing immer noch wie eine dunkle Wolke über der Stadt und schien sich den New Yorkern auf ewig eingeprägt zu haben. Wie eine Stammeslegende. Leutnant Johansson schnippte mit den Fingern. »Ganz recht. Das ist es.« Sie sah ihn interessiert an. »Und Sie dienten als Haiköder?« »Ich war dabei«, gab Brody zu. Die junge Frau hatte kleine, weiße Zähne, hellbraune Augen und eine hübsche Stupsnase. Sie schauderte. »Da mußten Sie nicht recht bei Verstand gewesen sein!« »In meinem Element war ich jedenfalls nicht«, sagte Brody und reichte ihr das Gewehr. »Wie jetzt zum Beispiel auch.« »Das ist einmal eine wohltuende Abwechslung«, sagte sie und sah sich das Gewehr an. »Sie sind der erste Polizist, der mir nicht erzählt, er verstehe mehr von Ballistik als ich.« »Was er wissen möchte«, sagte der Wachtmeister, indem er den Benzintank, die Munition und das Gewehr auf ihren Tisch legte, »ist folgendes: Kann dieses Loch durch den Einschuß einer dieser Kugeln aus diesem Gewehr entstanden sein? Er braucht einen ausgiebigen Test und Bericht. Und einen Kostenvoranschlag für die benötigte Zeit und sonstige Angaben.« -9 7 -
Das war Brody peinlich. Theoretisch mußte Amity der SuffolkCounty-Polizei benötigte Dienstleistungen bezahlen, und so etwas geschah vielleicht einmal in zehn Jahren. Der Haken war nur, daß es keinen dafür vorgesehenen Posten im Budget gab. Deshalb mußte er sich notgedrungen an die Stadtväter wenden, die wahrscheinlich nicht verstehen würden, warum er den ballistischen Test nicht selbst ausgeführt hatte. Er fuhr sich über die Lippen. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht dieses Mal ... als eine Gefälligkeit unter Kollegen ...« Leutnant Johansson lächelte. Sie hatte ein herrliches Lächeln. »Geht in Ordnung. Aber zuerst wollen wir etwas zu Mittag essen«, schlug sie vor. »Aus der Kantine? Ein Menü zu 1,35 Dollar mit Apfelkuchen à la mode zum Nachtisch?« »Gern.« »Würden Sie es uns bitte holen?« Es gefiel dem jungen Wachtmeister nicht, aber er enthielt sich jedes Kommentars. Brody erklärte den Benzintank, das Gewehr, den verwundeten Seehund und seinen Verdacht. Der Wachtmeister hob den Finger. »Heh, davon hab' ich heute in der Zeitung gelesen. Der Kerl ist ein Polizist aus Flushing.« »Darf er deshalb auf Seehunde schießen? Und vielleicht auch auf Menschen?« fragte Swede. Sie fuhr mit dem Finger durch das Loch im Tank. »Das ist aber ein sehr großes Einschußloch«, sagte sie zweifelnd. »Es sieht mir eher nach einer Magnum aus. Oder einer Fünfundvierziger. Haben Sie Handfeuerwaffen bei ihm gefunden?« Brody schüttelte den Kopf. Jepps hatte sein Gewehr im Pyjama abgefeuert, und Brody hatte nie daran gedacht, einen Hausdurchsuchungsbefehl auszuschreiben und im Hause zu suchen. Jetzt war es dazu bestimmt zu spät. Etwas verlegen sagte er, er glaube, daß das Schnellboot und auch die Taucher zu weit draußen gewesen seien, um sich noch in Reichweite eines Pistolenschusses zu befinden.
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»Da haben Sie wahrscheinlich recht.« Sie untersuchte die Munition des Savage-Gewehrs. »Ein Rollschuß oder vielleicht ein Prellschuß.«. Sie zuckte die Achsel und nahm unter ihrem Mikroskop zwei Kugeln hervor, die sie untersucht hatte, als Brody hereingekommen war. Das Geschoß war intakt, aber jemand hatte es vorne kreuzweise eingeritzt und daraus eine Dumdum-Kugel gemacht. Sie wies nickend auf die beiden Dinger hin. »Diese da haben faustgroße Löcher gemacht. Sie wurden auf den Kofferraum eines Streifenwagens der Polizei von Patchoque abgefeuert.« »Versuchen die Leute dort Polizisten totzuschießen?« »Nicht nur totzuschießen - in Atomkerne zu zerlegen«, brummte der Wachtmeister. Brody fühlte sich schlecht. Das Übel der Großstadt New York war auf Long Island übergesprungen. Wie lange noch, bis es sich nach Amity ausgebreitet hatte! Weit davon entfernt war es ja nicht mehr ... »Warum nur?« fragte er. »Warum tut man so etwas?« »Man hat es jedenfalls getan«, sagte der Wachtmeister schneidend. »Und jetzt fragen Sie sich wohl, warum wir überhaupt noch etwas unternehmen, wenn es um einen unserer Kollegen geht, nicht wahr?« »Vielleicht fragen Sie sich das«, sagte Swede. »Für mich ist er vorläufig ein Verdächtiger wie jeder andere.« Sie beugte sich über das Mikroskop. »Gegen Mittwoch habe ich den Vorbericht fertig, Brody. Rufen Sie mich an.« »Ich danke Ihnen, Leutnant«, sagte Brody. »Wir haben hier sieben Leutnants«, sagte sie. »Verlangen Sie einfach Swede. Ich bin wahrscheinlich die einzige schwarze Swede im Hause.« Er spürte ihre Blicke auf sich, als er dem flotten jungen Wachtmeister durch die Tür folgte. Er hätte fast einen der Tische im Laboratorium umgerannt, denn ihm war so übel, daß er sich den Bauch halten mußte.
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Um sechzehn Uhr stampfte der Zerstörer Leon M. Cooper, DD 634 südwestwärts von Block Island mit Kurs auf 225 Grad durch das Meer. Der junge Leutnant, der auf dem Steuerbordflügel der Kommandobrücke Wache hatte, wurde sehr zu seiner Zufriedenheit abgelöst. Er übergab die Wache und salutierte. Der ihn Ablösende jedoch war Leutnant der Marineinfanterie und hielt es nicht für nötig, den Gruß zu erwidern. Schlampig, sagte sich der junge Leutnant. Der Offizier kam aus der Reserve, war für den Vietnamkrieg eingezogen und sollte hier zwanzig Tage verbringen. Sie waren alle vom selben Kaliber. Er reichte dem Quartiermeister seine leere Kaffeetasse und sagte: »Falls der Alte mich braucht, ich bin im CIC.« Der Quartiermeister, gleichfalls ein ehemaliger Vietnamkämpfer, nickte kurz. Der junge Leutnant wurde rot. »Zu Befehl« wäre angemessener gewesen. Selbst »Jawohl, Herr Leutnant« wäre nett gewesen. Der junge Mann hatte 1973 auf der Marineakademie in Annapolis seinen Lehrgang abgeschlossen. Es ärgerte ihn, daß die Dinge auf diesem Schiff höchst selten so verliefen, wie man es ihn gelehrt hatte. Wenn er jetzt zum Beispiel den Quartiermeister zur Verantwortung zöge, würde der zuständige Offizier den Mann wahrscheinlich nur in Schutz nehmen. Sie rauchten ja auch alle Pot zusammen, wenn sie an Land waren - dessen war er sicher -, und sie spritzten sich Gott weiß welches Zeug ein, wenn sie von ihrem Krieg prahlten. Er selbst war Offizier der Sammelstelle für Kampfinformation, und wenigstens hatte er hier seinen eigenen Laden. Den beschloß er jetzt zu besuchen, um zu sehen, ob seine Leute sich auf die Übung von heute abend vorbereitet hatten, bei der es darum ging, das amerikanische Unterseeboot Grouper auszumachen, das sich irgendwo nicht allzu weit von hier auf hoher See versteckte. Bevor er den kühlen, dunklen Raum, in dem sein Büro lag, betrat, warf er einen Blick nach Steuerbord. Es war jetzt dunstig, und man konnte für später Nebel erwarten. Er konnte -1 0 0 -
verschwo mmen die Küste von Montauk erkennen. Einen Augenblick lang gab er sich einem seiner Lieblingsträume hin. Er hatte es sich schon oft in allen Einzelheiten ausgemalt: Ein Flugzeugträger erschien plötzlich im Nebel und war mit der Cooper direkt auf Kollisionskurs. Niemand bemerkte es. Der Deckoffizier sah es nicht, weil er auf der Backbordseite der Kommandobrücke stand und eine Zigarette rauchte, seine Leute von der Aufklärungsabteilung sahen es nicht, weil sie beim Kaffee saßen, und der Quartiermeister nicht, weil er irgendwo herumlungerte. Dann würde er auf die Kommandobrücke eilen, dem Steuermann das Steuerrad entreißen, es rasch herumschwingen und das Schiff in letzter Sekunde und um Zentimeterbreite retten, während der Kapitän ihm mit tränennassen Augen zu seiner Heldentat gratulierte. Oder vielleicht würde er auch plötzlich einen sowjetischen Torpedo entdecken, der aus der Tiefe auf sie zuschoß ... Er war einfach zu spät geboren, sogar für den Vietnamkrieg. Eine Weile lang beobachtete er den Hubschrauber, ihren Partner in diesem Jagdmanöver, der seine Schallsonde etwa hundert Meter backbord von ihnen ins Meer tauchte. Eigentlich war es noch viel zu früh, um die Grouper auszumachen, aber vielleicht testete er nur die Sonde. Übrigens auch eine gute Idee. Er trat ein. Zuerst mußte er seine Augen an das Dunkel gewöhnen. Er stellte sich hinter den Mann am Radarschirm, um zu sehen, ob der seine Sache richtig machte. Man sah Montauk auf dem Schirm; er zeigte darauf und fragte den Mann, was es sei. »Block Island, Sir«, murmelte der Techniker. Das wurde zunächst einmal richtiggestellt, und zwar rasch, und das brachte die anderen auf Trab. Der Mann am Sonar stellte sein Gerät ein, obgleich es noch eine Stunde dauern würde, bis er das U-Boot hören konnte. Alle stellten ihre Geräte ein und gingen eifrig ihren Beschäftigungen nach. »Sir?« rief der Mann am Sonar. -1 0 1 -
»Ja, Sonar?« sagte der junge Offizier und trat hinter ihn. »U-Boot Kontakt, zwo-zwo-null. Entfernung sechs Meilen. Ende.« Sein Herz hüpfte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Für die Grouper war es noch mindestens drei Stunden zu früh. Und von einem anderen U-Boot in diesen Gewässern war ihm nichts bekannt. Jedenfalls von keinem amerikanischen ... Er nahm dem Sonarmann die Hörer ab. Er hörte den Schlag ihres Heckpropellers, und das war ein so lautes Unterseegeräusch, daß es manchmal angeblich Haie anlockte. Im Kontrapunkt dazu hörte er deutlich das gewohnte Ping ihrer Übertragungsanlage. Ping ... und dann das im leiseren Echo, Ping. Ping ... ping. Ping ... ping. Er drehte den Übertrager um fünf Grad und richtete ihn auf das lauteste Echo. Ping ... ping. Ping ... ping ... Es kam tatsächlich näher. Und schnell. Viel zu schnell für einen Fischschwarm. Zu schnell für alles Vorstellbare, außer vielleicht einem U-Boot der Keschnoff-Klasse, das ihnen nachspionierte. Oder das Schlimmeres vorhatte ... »Sind das Dorsche, Sir?« fragte der Mann am Sonar. »Zu groß für eine Schar von Dorschen«, sagte er. Er nahm den Kopfhörer ab und griff nach dem Telefon zur Kommandobrücke. »Beobachtungsposten ruft Kommandobrücke.« Niemand antwortete. Kein Wunder. Nach dem schweren Putenbraten. Der Sonarmann hatte sich wieder die Hörer angelegt. »Für die Grouper ist es zu früh. Ich denke doch, es sind Dorsche.« »Dafür ist es viel zu schnell. Beobachtungsposten ruft Kommandobrücke!« »Es ist zu groß, um überhaupt etwas Denkbares zu sein.« Plötzlich schnippte der Mann mit den Fingern. »Ich hab's! Ein Wal! Flossenwal! Ich habe dasselbe Echo in der Ausbildung gehört. Es ist dumpfer als bei einem Schiff oder einem U-Boot.« »Ein Wal?« Der junge Leutnant stand unentschlossen mit dem Telefonhörer in der Hand. -1 0 2 -
»Ein Wal«, wiederholte der Sonarmann mit Überzeugung. »Er entfernt sich übrigens.« »Kommandobrücke ruft Beobachtungsposten«, tönte es schließlich aus dem Lautsprecher. »Haben Sie gerufen?« Der junge Leutnant zögerte. Er legte sich noch einmal den Kopfhörer an und lauschte. Das Kontaktgeräusch verlagerte sich in Richtung Küste. Es konnte nur ein Wal sein. Er war ja auf jeden Fall durch die Aussage seines Sonartechnikers gedeckt. Er war schließlich ein Offizier und kein Sonarexperte. »Es war nichts«, sagte er der Kommandobrücke. »Alles in Ordnung.« Als er seinen Posten verließ und sich zum Abendessen waschen ging, sah er den Hubschrauber zur Küste fliegen. Der Hunger hatte sie an diesem Morgen wieder einmal in den Amity Sound getrieben. Sie hatte ihr Bestes getan und alles, was sich bewegte, verschlungen. Vor Amity Neck hatte sie etwa einhundert Pfund Makrelen verzehrt. Sie schwamm am Brandungswasser entlang und wendete sich seewärts. Sie fand nichts, so sehr sie auch horchte und roch, und dann, als die Sonne sich dem Westen zuneigte und das Licht unter der Fünffadentiefe schwach wurde, vernahm sie weit weg das Rattern eines tieffliegenden Hubschraubers, und dahinter ein viel weniger erregendes und schwaches Geräusch ... Ping ... Sie schwamm blind auf das Rattergeräusch zu. Dieser Klang belebte wie jede rhythmische Vibration im Wasser ihre Magensäfte. Mit jedem Schwanzschlag wuchs ihr Heißhunger an. Ihr Nahrungsbedürfnis wurde mit jedem Meter, den sie zurücklegte, unerträglicher. Jetzt vernahm sie eine weitere rollende Vibration. Es waren die Schiffsschrauben. Dieses Geräusch kannte sie, denn sie hörte es täglich in den Fahrgewässern längs der Küste. Sie folgte dem Rattern. Das Ping verschwand allmählich. Es interessierte sie auch nicht. Die Schiffsschrauben bohrten sich nach Süden vor. Auch -1 0 3 -
das interessierte sie nicht. Sie folgte dem Hubschrauber, der küstenwärts flog. Larry Vaughan jr., der Sohn des Bürgermeisters, stoppte sein Moped an der Beach Road, als sie die an einen Zaun geketteten Fahrräder erblickten. Andy Nicholas, Amitys dicker Junge, ließ sich vom Rücksitz gleiten. Er rieb sich den Hintern. Sein Badeanzug war ihm in den Popo gerutscht, und von der Unmenge Staub, die er geschluckt hatte, fürchtete er einen Asthmaanfall zu bekommen. »Mann, laß mich nach vorne bei der Heimfahrt. Setz du dich mal hinten hin.« Larry schaltete den Motor ab. »Du würdest nur die Lenkstange verbiegen, Schweinsbacke.« Er sah auf die Fahrräder. »Das da ist seins. Aber wer ist das Mädchen?« Andy zuckte die Schultern und rieb sich immer noch den Hintern. »Bei dir holt man sich Hämorrhoiden!« Larry ignorierte ihn. Er suchte nach dem Namen unter der Lenkstange des Fahrrads, das dem Mädchen gehörte. »Mary Detner? Sue Jacobs? Die Aushilfskellnerin Wieheißtsienoch aus dem Gasthaus?« »Riech doch am Sattel«, schlug Andy vor. »Leck mich«, sagte Larry. Er schaute sich das Fahrrad an. »Heh! Jackie Angelo? Ich wette, es ist diese kleine Hexe mit den Silberzähnen.« »Glaubst du?« fragte Andy mit einigem Interesse. »Der alte Angelo wird einen Schlaganfall kriegen«, meinte Larry, »wenn er das je erfährt. Er wird ihn glatt mit der Kanone, die er mit sich rumschleppt, über den Haufen knallen.« »Und ihn dann vom Polizeiboot, das seinem Alten gehört, ins Meer werfen«, fügte Andy hinzu. Dann wurden seine Augen traurig. »Nein, sie würde sich von ihm nie anfassen lassen.« Larry tippte mit seinem Fuß an Mikes Rad. »Was treiben die denn sonst da unten?« »Ach, die schwimmen ja bloß«, sagte Andy. »Er will sich nur vor ihr großtun in seinem neuen Taucheranzug.« -1 0 4 -
Larry schüttelte den Kopf. »Nicht unser Spitz. Das da draußen ist das Meer und nicht das städtische Schwimmbad.« Er stieg über den Holzzaun, kletterte den sandigen Hang hinauf und begann den Strand von der Höhe der Düne aus abzusuchen. Andy Nicholas folgte ihm, machte aber dabei zuviel Lärm. Larry wandte sich nach ihm um und befahl ihm, leiser zu sein. Der dicke Junge krabbelte nun auf allen vieren, obgleich er jetzt wieder Angst hatte, der Dünenstaub würde einen Asthmaanfall auslösen. Endlich hatte er seinen Gefährten auf der Höhe eingeholt. Die beiden blickten aufmerksam auf das Wasser, den Strand und die unter ihnen liegenden Dünen. Kleine Sommernebelschwaden stiegen am südöstlichen Horizont auf. Andy fühlte, wie Larry ihm in die Seite stieß. Seine sommersprossige Stirn legte sich in Falten, und er neigte den Kopf zur Seite. Jetzt hörte Andy auch ein leises Flüstern, das aus der Mulde hinter den nächsten Dünen zu ihnen drang. Er erkannte Mikes Stimme und ein kehliges Kichern, das nur von Jackie stammen konnte. Sein Blut begann zu kochen, aber er fühlte auch gleichzeitig, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Mike wog zwar dreißig Pfund weniger als er, aber er war behende, rasch und kräftig. »Hauen wir ab«, flüsterte er. Larry sah ihn ungläubig an. »Mann, bist du behämmert?« Larry begann den Hang hinunterzugleiten und robbte dabei mit den Ellbogen voran wie der Teilnehmer an einem Kommandounternehmen aus einem Fernsehfilm. Andy zögerte. Aber dann begann auch er, wie von einer unwiderstehlichen Kraft angezogen, sich den Hang hinunterzuschlängeln, wobei der harte Sand ihm in den Badeanzug drang und der Staub wieder einmal seine Brust bedrohte. Er atmete schwer. Am Fuße des Hanges legte er eine kleine Pause ein. Über ihm kroch Larry die Düne hoch, hinter der sich das Pärchen versteckte. Dabei bekam Andy Sand in die Augen. Aber jetzt konnte nichts mehr auf der Welt ihn von seinem Vorhaben abbringen. -1 0 5 -
Mike Brody verlagerte sein Gewicht auf Jackies Badetuch. Er starrte in das Engelsgesicht, das jetzt so in seiner Nähe war. Die herrlichen Augen öffneten sich. Zwei himmlische Grübchen erschienen an den Winkeln des begehrenswertesten Mundes, den es auf der ganzen Welt gab. Zögernd streckte er einen Finger aus und streifte ihr eine schimmernde Haarlocke vom feinstgeformten Ohr. Er begann sie am Ohrläppchen zu kitzeln. Konnte man damit eine Frau erregen? Er suchte in seinem Gedächtnis nach etwas, das er vor Zeiten einmal gelesen hatte, fand es aber nicht. Sie war so hübsch, so schön, er hatte nur einen Wunsch: hier bei ihr zu sein und auf ewig ihre Schönheit zu genießen. Sie erschauerte, seufzte und lächelte endlich über das ganze Gesicht. Er liebte sogar ihre Zahnklammern. »Mike?« »Hmm?« »Mike, das ... kitzelt ein bißchen.« Sie streckte ihre Hand aus und spielte nun mit seinem Ohrläppchen. Es kitzelte wirklich, jedenfalls war es ein ähnliches Gefühl aber, Jesses, eigentlich war es mehr als das, Kitzeln war da nicht das richtige Wort, denn es war etwas Prickelndes, das ihn wie mit kleinen Pfeilen durchdrang und ihn Wohlgefühl und Sehnsucht empfinden ließ. Wenn sie so weitermachte, würde er es nicht aushalten können, und doch wollte er nicht, daß sie aufhörte. Er konnte es auch nicht ertragen, wenn sie aufhörte, und nun streichelte sie ihm den Nacken und die Schultern, und er wünschte, er hätte im letzten Winter mehr Muskeltraining gemacht. Immerhin hatte er trotzdem recht gute, breite Schultern, Gott sei Dank, und nun glitt ihre Hand unter seinen Taucheranzug, und sie massierte ihm die Rückenmuskeln. »Tut das gut?« flüsterte sie. »Ich liebe dich«, platzte er heraus. Sie nahm die Hand fort und setzte sich auf. Warum in Gottes Namen mußte er ausgerechnet das sagen? Jetzt hatte er es wahrscheinlich ein für allemal verdorben ... Aber er liebte sie, das war gewiß, er liebte sie mehr als seine Mutter und sogar mehr als seinen Vater und bestimmt, zum Kuckuck, mehr als seinen Bruder Sean.
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Sie blickte über das Meer. »Bald wird der Nebel aufsteigen«, sagte sie leise. »Wir könnten uns auf dem Heimweg verlaufen.« »Jackie«, stammelte er, »du willst doch jetzt nicht etwa nach Hause gehen?« Sie lächelte auf ihn hinab. Sie war drei Monate und vier Tage jünger als er, aber heute sah sie fünf Jahre älter aus. Sie beugte sich über ihn, berührte seine Brust, ließ ihre Hand unter den Taucheranzug auf seine Haut gleiten und flüsterte: »Ich möchte nie mehr nach Hause gehen.« Er schloß sie in seine Arme. Chef Martin Brody wischte sich die Stirn. Im Büro der Grundstücksfirma Vaughan und Penrose herrschte unerträgliche Hitze, obgleich man die Tür zur Straße offengelassen hatte. Ein Lastwagen rumpelte vorbei und fuhr zum Bauplatz an der Küste. Brody nahm die Brille ab, wischte die Gläser sauber und blickte Vaughan etwas benommen über den Schreibtisch hin an. »Die Klage fallenlassen?« wiederholte er ungläubig. »Was meinen Sie damit? Fallenlassen?« Vaughan erhob sich mit gerötetem Gesicht und ging auf die Landkarte des County zu, die an der Wand seiner kleinen Bretterbude hing. Auf ihr waren Geschäftsbezirke, Wohnbezirke und die geschützten Strandflächen eingezeichnet. Er betrachtete sie eine Weile, um Kraft zu schöpfen. Dann tippte er auf den Bauplatz des Casinos und drehte sich zu Brody um. »Lassen Sie die Anklage fallen, oder wir verlieren das Casino. So einfach ist es.« »Was hat Jepps mit dem Casino zu tun?« »Er hat mit der staatlichen Polizeikommission zu tun ...« »Das behauptet er«, warf Brody ein. »Allerdings. Jemand von der staatlichen Polizeikommission hat sich an Clyde Bronson gewandt, Bronson hat sich an mich gewandt, und jetzt wende ich mich an Sie.« Bronson war nicht nur der Abgeordnete, der Amity und etwa zwanzig weitere kleine Küstenstädte im Staatsparlament -1 0 7 -
vertrat, er war überdies derjenige, der das Spielgesetz durchbringen sollte. »Verdammt noch mal«, brummte Brody. »Politik«, bemerkte Vaughan resigniert. »Aber dieser Kerl steht unter Mordverdacht!« »Er ist Ihr Fall«, sagte Vaughan kalt. »Mich geht es nichts an. Vergessen Sie das nicht.« »Es geht aber auch Sie an und jeden anderen ebenso«, erwiderte Brody. »Zwei Taucher ertrinken! Ein Wasserskiboot explodiert! Im Benzintank finden wir ein Einschußloch! Und das alles in Schußweite von einem Kerl, der am Strand mit scharfer Munition herumballert! Ist das vielleicht kein berechtigter Verdacht?« »Ohne Leiche können Sie ihm nichts beweisen.« »Die werden wir schon finden«, versprach Brody, »und wenn wir den ganzen Atlantik auslaufen lassen müssen!« »Lassen Sie die Sache fallen«, seufzte Vaughan. »Lassen Sie sie einfach fallen, und damit hat es sich.« Brody fühlte die Wut in sich aufsteigen. Seine Schläfe begann ihn wieder zu schmerzen. Er setzte sich in seinen Stuhl zurück und bemühte sich, die Muskeln seiner Beine, der Schenkel, des Bauches, der Schultern und des Nackens zu entspannen - er hatte darüber in der Zeitschrift Psychologie heute gelesen und es schon einige Male ausprobiert. Aber dieses Mal funktionierte es nicht. Dann sagte er mit einiger Bitterkeit: »Erinnert Sie das nicht an etwas, Larry?« »Was?« Der Bürgermeister verspürte ein Unbehagen. »Der Beginn der Katastrophe? Als das Mädchen umkam? Und als ich versucht hatte, den Strand zu schließen? Und als kein Mensch in dieser gottverdammten Stadt noch mit mir etwas zu tun haben wollte, nicht einmal Ellen oder Mike oder Sean? Und als dann der kleine Kintner umkam und es sich schließlich herausstellte, daß ich recht hatte?«
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Vaughan ging an seinen Schreibtisch zurück, ließ sich schwer in seinen Sessel fallen und richtete den Zeigefinger auf Brody: »Da ist aber ein Unterschied.« »So?« »Der Hai hatte keinen einzigen Freund in Albany. Brody, ich sage Ihnen, lassen Sie die Sache fallen!« Brody blickte dem Bürgermeister in die Augen. Sie waren rot umrandet, was entweder von Schlaflosigkeit oder übermäßigem Alkoholgenuß zeugen konnte. Aber sie hielten seinem Blick stand. Der Schmerz in seiner Schläfe flammte auf. Er schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. »Auf keinen Fall. Nie im Leben!« Er trat aus der Holzhütte auf die sonnige Straße. Bald würde der Nebel aufsteigen, er spürte es bereits. Das Nebelhorn am Ende des Strandes mußte es auch gespürt haben, denn es ließ sich plötzlich laut und deutlich vernehmen. Für Brody war dieser Klang ein Wehr- und Protestruf, den Amity seit je dem Ozean entgegengeschleudert hatte - dem Ozean, der schon so oft mit seinen Springfluten und Winterstürmen die Stadt hatte überwältigen wollen. Er liebte Amity. Wenn er von hier weg müßte, war er verloren, denn wo sollte er sonst hin? Aber, verdammt noch mal, nachgeben würde er nicht.
Viertes Kapitel Andy Nicholas wurde es immer unbehaglicher, als er neben Larry Vaughan jr. hinter einem Busch in den Dünen lag. Der Staub von dem Busch drang ihm in die Kehle und schmerzte in seiner Brust. Er konnte kaum mehr atmen. Er wußte, daß er besser daran täte, die Flucht zu ergreifen, bevor er zu keuchen anfing, aber er brachte es nicht über sich. Jetzt hatte sie Mikes Taucheranzug bis auf den Bauch heruntergezogen, und Andy konnte buchstäblich ihren zarten, warmen Körper und die Berührung ihrer Finger auf seiner Haut verspüren, als ob er es sei, der mit ihr da unten lag. -1 0 9 -
»Jesses«, hörte er Larry flüstern, »nun mach schon, Spitz.« »Hält's Maul«, warnte Andy. Wenn Mike sie jetzt hörte, war er der Leidtragende und nicht Larry, der seine hundert Meter in zehn Sekunden schaffte. Larry konnte schnell wegrennen, und Andy würde im Sand steckenbleiben. Er bewegte sich ein klein wenig zurück und ließ dabei etwas lockeren Sand auf das Paar da unten rieseln. Gott sei Dank hatten sie es nicht bemerkt. Andy nahm seinen Mut zusammen und wagte noch einen Blick. Aber jetzt begann sein Atem bereits in kurzen, würgenden Stößen zu keuchen. Er mußte unbedingt rückwärts die Düne hinunterrobben und weglaufen. Jetzt oder nie. Aber noch einen letzten Blick wollte er riskieren. Er fühlte, wie Larry ihn am Arm ergriff und ihm entsetzt zuflüsterte: »Ruhe, verdammt noch mal! Sei still!« Andy schüttelte hilflos den Kopf. Jetzt kam das Keuchen krampfartig, und er konnte nicht atmen. Eine rote, ihm wohlbekannte Flut durchschwemmte ihn, und es war schlimmer als seit Jahren, es klang wie ein leckes Heizungsrohr, wie ein verdammter Dampfkessel, wie eine alte Lokomotive ... Das Bild unter ihm wurde plötzlich regungslos. Jackie blickte auf. Mike war im Nu auf den Beinen. Einen Augenblick lang war es wie eine Zeitlupenrückblende bei einem Fußballspiel im Fernsehen. Dann ging es plötzlich los. Mike kletterte den Hang der Mulde empor, Larry war auf den Beinen, und Jackie schrie wütend. Andy rollte sich im Staub und versuchte krampfhaft aufzustehen. Mike erreichte den Gipfel, packte Larry und zog ihn den Hang hinunter, wo Jackie lag, zerrte ihn an den Füßen. Andy bekam einen Tritt in die Magengrube. Mit seinem Asthmaanfall und dem Tritt in den Bauch glaubte er einen Augenblick, sterben zu müssen. Er mußte die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, sah er Jackie neben sich knien und ihm auf die Wangen klopfen, aber es war keine freundliche Geste. -1 1 0 -
»Alles okay, Andy?« Er konnte gerade noch nicken. Sie erhob sich und schaute wütend auf ihn hinab. »Ihr erbärmlichen Lauselümmel«, sagte sie, und dann blickte sie zum Meer. Er kam mühsam auf die Beine und folgte ihrem Blick. Vor einer aufsteigenden Nebelschwade ließ ein Hubschrauber etwas an einem Seil in das Wasser hängen. Dann blickte er auf den Strand. Falls Spitz wirklich Angst vor dem Ozean hatte, wie Larry es stets behauptete, so war er sie jetzt plötzlich losgeworden. Larry schwamm mit schweren Stößen in die See hinaus, er war schon fünfzig Meter hinter der Brandung, schwamm schnell und spritzte wild um sich. Aber dreißig Meter hinter ihm folgte der Rächer und holte rasch auf. »Er wird ihn umbringen«, sagte Jackie tief betrübt, »und dann werden sie ihn in die Zwangserziehungsanstalt schicken. Er wird diesen dämlichen Lauselümmel wahrhaftig ertränken!« Da hatte sie vermutlich recht. Andy sagte sich, er müßte eigentlich auch da draußen sein, um seinen Freund zu retten. Aber dann würde Mike ihn wahrscheinlich ebenfalls umbringen, wenn er mit Larry fertig war. So beschloß er, lieber nach Hause zu gehen. Er schämte sich zu Tode. Die Große Weiße schwamm ziellos im Kreise herum. Das rhythmische Stampfen des Hubschraubers hatte sie erregt und ihren Computer gestört. Gewöhnlich konnte sie mit großer Genauigkeit auf jeden vibrierenden Körper zuschießen, wenn es zum Beispiel ein schlingernder Fisch oder ein um sich spritzender Seehund war. Und auch an den tiefsten Stellen des Meeres und bei größter Dunkelheit war es ihr leicht, einen verletzten Hai zu orten. Die Vibration, der sie aber nun folgte, schien überall und nirgends zu sein. Es gelang ihr nicht, die Quelle auszumachen, andererseits war es ihr nicht möglich, dem Anreiz des Geräusches zu widerstehen. Einmal war sie emporgeschossen -1 1 1 -
und hatte einen Riesentintenfisch erwischt, der ebenfalls von dem Hubschraubergeräusch irregeführt worden war, aber meist fand sie nichts an der Oberfläche und ließ sich enttäuscht wieder in die Tiefe gleiten, um in einer Acht wieder hochzujagen. Sie blieb aber immer, so nahe es ging, bei der Quelle des Geräusches, obgleich dieses sich der Küste und dem seichten Wasser zu bewegte und ihr Hunger ihr eingab, eher seewärts zu schwimmen. Der Pilot des Marinehubschraubers blickte auf die Nebelschwaden, die vom Meer aufstiegen, und dann zur Küste auf die kaum noch erkennbaren Ferienhäuser in den Dünen. Er hatte Befehl, den Raum zwischen den für das U-Boot Grouper zu seichten Gewässern und der Zone, die von dem Zerstörer Leon M. Cooper abgesucht wurde, zu überwachen. Er sah auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. 17.00 Uhr, und der Nebel stieg auf. Die Grouper hatte voraussichtlich die Gewässer vor New London bereits verlassen, war getaucht und befand sich auf der Fahrt zur Manöverzone. Falls sie sich nicht beeilte, konnte er seinen Befehl nicht ausführen und mußte nach Quonset zurückfliegen, ehe er in den Nebel geriet. Eigentlich wäre es sogar eine gute Idee, das schon jetzt zu tun. Dann hatte er genügend Zeit, sich umzuziehen und in den Club zu gehen. Er warf seinem jungen Sonarmann einen flüchtigen Blick zu. »Es wird neblig«, meinte er. »Es sieht mir noch nicht so schlimm aus, Sir«, sagte der Sonarmann. Der Pilot lehnte sich zurück. Der Junge hatte sich so eifrig und von dem Patrouilleflug so angetan gezeigt, daß er ihm schon frühzeitig erlaubt hatte, seine Schallkugel hinunterzulassen, um die Apparatur zu testen. Es war weiß Gott schwer genug, die Leute heutzutage an ihrer Arbeit zu interessieren, und da war es nicht ratsam, diesen kleinen Streber zu entmutigen. Aber der Pilot fand die ganze Operation bereits recht langweilig. Der junge Mann wurde ihm geradezu lästig. -1 1 2 -
»Wie steht es bei Ihnen?« fragte er den Jungen. »Makrelen, Seebarsche und das Übliche. Ich höre sogar die Garnelen«, sagte der Sonarmann. »Ich höre alles, nur nicht die Grouper. Ich möchte es noch einmal etwas näher der Küste probieren.« Der Pilot nickte, schob den Knüppel nach vorn und wendete langsam. Der Sonarmann berührte seinen Arm. »Sir? Hier ist etwas.« Er ließ den Apparat auf der Stelle schweben. »Ich habe einen Schrei gehört«, sagte der Junge und rückte an seinem Kopfhörer, »Es klingt wie zwei Leute, die im Wasser schreien. Jedenfalls schreit da jemand.« Sie schauten auf das Wasser unter sich. Plötzlich erblickte der Pilot Köpfe im Wasser. Da es fast unmöglich war, die Hände vom Steuerknüppel zu lassen, reichte er dem jungen Mann das Fernglas und zeigte auf die Schwimmer. »Sehen Sie die beiden da? Zwei Jungen in der Nähe der Küste?« »Jawohl, Sir. Heh, einer scheint zu ertrinken, oder sie schlagen sich, oder sie treiben sonst irgendwas!« »Ziehen Sie die Kugel rauf«, befahl der Pilot. Er hörte das Rollen der Winde, sah das grüne Kontrollicht aufleuchten und bewegte sich auf die beiden Schwimmenden zu. Falls sie wirklich am Ertrinken waren, würde er ihnen eine Schwimmweste hinunterwerfen und die Küstenwache von Shinnecock rufen, aber vorläufig hatte es keinen Sinn, womöglich blinden Alarm zu schlagen. Sie war in einer Tiefe von fünf Faden in nordöstlicher Richtung geschwommen und hatte schlammiges, mit Plankton durchsetztes Gewässer durchquert. Sie war immer noch von dem mysteriösen Rattern über sich fasziniert und verspürte überdies einen unerträglichen Heißhunger. Sie hätte selbst ein Boot, eine Flasche oder eine Hummerboje angegriffen, wenn sie derartiges angetroffen hätte.
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Aber es war nichts in ihrer Nähe, und so ließ sie sich ziellos treiben. Plötzlich hörte sie unter dem Rattern ein Planschen an der Oberfläche, das ihre Sinnesorgane elektrisierte, und dann schrille Schreie, die ihr überhaupt nichts bedeuteten. Es war fast, als ob zwei große Fische miteinander kämpften oder zwei Seehunde an der Oberfläche sich paarten. Das sagte ihr etwas. Im Nu wendete sie, streckte ihren schwangeren Bauch nach oben und schwamm zurück. Das geheimnisvolle Rattern wurde von diesem neuen, erregenden Signal übertönt. Ihr Riesenschwa nz begann schneller zu schlagen. Wenn sie in Eile war, schaffte sie gut ihre zwanzig Knoten. Der wutentbrannte Mike Brody ließ Larry Vaughan zwar wieder auftauchen, hielt ihn aber weiter fest im Griff. »Mike!« schrie Larry. »Du Idiot. Bist du total übergeschnappt?« Mike blickte wassertretend auf das verweinte, sommersprossige Gesicht. Ein Faden Schleim hing Larry aus der Nase, und seine Augen waren glasig. Mike sah, daß er wirklich Angst hatte und um sein Leben zu betteln schien. Dem mußte er nachgeben. Seine Wut verflog. Er hätte ihn tatsächlich beinahe ertränkt. Es war höchste Zeit aufzuhören. Mike war todmüde und konnte kaum noch weiterschwimmen. Aber bei Gott, er hatte ihnen gezeigt, daß auch der Ozean kein Zufluchtsort war, wenn man von Mike verfolgt wurde. Er stieß Larry unsanft von sich und drehte sich auf den Rücken. »Perverses Schwein«, spuckte er. »Erbärmliches, perverses Schwein!« Die beiden ließen sich japsend auf dem Wasser zur Brandung hin treiben. Mike blickte sich um und sah, wie der Marinehubschrauber rasch von den Nebelschwaden her auf sie zuflog. Dann wendete er und ließ eine schwarze Kugel ins Wasser herab. Mike wußte, daß sie auf der Suche nach einem U-Boot aus New London waren.
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Ein gewaltiges Hochgefühl stieg in ihm auf. Auch er könnte eines Tages dieser Hubschrauberpilot sein, wenn er es wollte, oder einer der Männer des Unterseebootes, nach dem man suchte, oder ein Marineinfanterist der Armee. Weder der Ozean noch irgend etwas sonst konnte ihm jetzt noch Angst machen. Und Jackie wußte es, und jetzt konnte er sie jederzeit haben. Der Pilot gähnte. Der Sonarmann hatte das Fernglas hingelegt und sagte: »Die sind nicht in Gefahr, Sir. Nur zwei Jungen, die sich herumbalgen.« Und der Pilot hatte ihnen zugewinkt und dann den Hubschrauber wieder gewendet. »Was meinen Sie? Wollen wir für heute Schluß machen?« schlug er dem jungen Mann vor. »Wie Sie meinen, Sir«, sagte dieser, aber er sah enttäuscht aus. Kein Wunder! Der Junge hatte vielleicht noch nie Kontakt mit einem U-Boot aufgenommen, und die Grouper sollte jeden Augenblick aufkreuzen. »Na schön, junger Mann.« Der Pilot gab nach. »Lassen Sie Ihre Kugel noch ein bißchen baumeln.« Der Sonarmann grinste, ließ die Kugel noch einmal hinunter und legte sich die Kopfhörer an. Der Pilot gähnte. Laß den Jungen nur noch ein dutzendmal mehr auf Patrouille fliegen, und er wird wie all die anderen geradezu betteln, nach Hause zu dürfen. Er lehnte sich zurück und hörte dem singenden Geräusch der Sonarwinde zu. Sie schwamm nicht weit hinter dem ratternden Geräusch her, aber sie schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Was sie jetzt beschäftigte, befand sich an der Oberfläche. Da war etwas ziemlich in der Nähe, das jedoch nur wenig Vibration ausstrahlte. Instinktiv folgte sie dem weiterliegenden, gesundlebendig klingenden Platschgeräusch. Sie nahm es mit ihrem primitiven Hörsystem, das aus seitlich liegenden Ampullen bestand, und ihren anderen Gefühlsantennen auf.
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Ihr kleinstes männliches Embryo zuckte unruhig in ihrem rechten Uterus. Falls die Mutter nicht in wenigen Stunden neue Nahrung aufnahm, würden sich seine kräftigeren Schwestern auf ihn stürzen, und irgendwie wußte er es und brachte seinen Körper innerhalb des vollgepackten Organs in eine Position, die ihm eine bessere Verteidigung ermöglichte. Und als ob die Mutter sich der Gefahr für ihn bewußt wäre, erhöhte sie ihre Geschwindigkeit. Jetzt vernahm sie das Planschen sehr deutlich. Sie begann, sich aus der Sechsfadentiefe in einem leicht geschwungenen Bogen ihrem Ziel an der Oberfläche zu nähern. Vor ihr, und unter dem alles übertönenden Geratter, registrierte sie ein plötzliches Aufklatschen. Im dämmerigen Licht erblickte sie eine schwarze, kugelrund geformte Masse, die vor ihr in die Tiefe sank. Sie rollte sich herum, klappte ihr Maul auf und ergriff das Ding mit ihren reinweiß blitzenden, scharfen Zähnen. Einen Augenblick lang spürt sie einen heftigen Widerstand von oben, als hinge es in riesigen Händen. Dann hatte sie es endlich frei, zerdrückte es, zermalmte es zwischen ihren Kiefern und spuckte es dann in einer Wolke von Zähnen, Draht und Metallstücken wieder aus. Sie blieb eine kurze Weile regungslos. Das Planschgeräusch an der Oberfläche war verschwunden, und selbst das Rattern entfernte sich immer mehr. Sie schwamm unentschlossen hinter der Brandung umher, fand aber nichts. Dann wandte sie sich wieder seewärts auf der Suche nach Jagdbeute. Der Sonarmann zitterte noch immer, und auch der Pilot fand, daß ihm die Hände am Knüppel nervös zuckten. Er ließ seinen Ärger an dem jungen Mann aus. »Wie tief haben Sie dieses verdammte Ding eigentlich hinuntergelassen?« Der Junge schüttelte hilflos den Kopf. »Drei bis vier Meter, Sir! Ihr Höhenmesser zeigte fünfzehn an und die Seilwinde -1 1 6 -
achtzehn ... Es konnten also höchstens drei Meter unter Wasser sein, Sir.« Der Pilot lenkte die Maschine in die Höhe. Er hatte nur noch einen Wunsch: hoch genug zu kommen, um mit Hilfe seiner Flügelpropeller im Gleitflug an Land gelangen zu können, falls die unglaubliche Belastung, der soeben sein Hubschrauber ausgesetzt war, sich als eine Katastrophe erweisen sollte. Bei achtzehn Meter Höhe waren sie geliefert, falls die Kabine barst oder ein Propellerflügel ins Flattern geriet. In seinen fünfundzwanzig Jahren und 8000 Flugstunden hatte er noch nie ein so heftiges Reißen am Seil verspürt wie das, das sie eben mit knapper Not überlebt hatten. Während er weiter in die Höhe aufstieg, lauschte er gespannt auf auffällige Geräusche, die einen Schaden am Motor oder den Propellern verraten könnten. Die Maschine hatte wahrhaftig einen tollen Schock abbekommen. Später in Quonset würde man das Ausmaß des Schadens feststellen können. Aber vielleicht wäre es ratsamer, direkt auf dem Strand zu landen, sicher wäre das in diesem Falle das beste. Aber nein, soweit schien ja alles in Ordnung zu sein, und er konnte getrost nach Quonset fliegen ... Die Happy Hour Bar wäre ihm jetzt willkommen. Wenn er nur wenigstens eine Taschenflasche Whisky mitgenommen hätte! »Sie haben das Ding auf dem Boden schleifen lassen«, sagte der Pilot. »Nein, Sir«, protestierte der Sonarmann. »Die Kugel war nie weniger als acht Meter vom Grund entfernt.« »Was zum Teufel war es denn dann? Hat die Grouper Sie am Ball gezerrt?« Der junge Mann sah verunsichert aus. »Nein«, sagte er zögernd. »Es war nicht die Grouper. Und auch nicht der Grund. Wenn die Kugel den Grund streift, hört man es deutlich. Das hier war etwas anderes. Ich hörte so eine Art von Rauschen, ich weiß nicht. Glauben Sie, wir haben vielleicht einen großen Rochen oder einen Riesentintenfisch oder so etwas ähnliches aufgeschreckt?« -1 1 7 -
»Nein«, brummte der Pilot. »Sie haben das Ding einfach zu tief gehängt. Wir sind auf ein Riff oder ein Wrack oder einen verdammten Felsen gestoßen.« Er flog immer höher, bis er auf 600 Meter Höhe war und mit den Wolken flirtete. Er prüfte den Öldruck, den Tachometer und die Zylinderkopftemperatur nach. Alles schien in Ordnung, aber irgendwie war er nicht zufrieden. »Verdammt noch mal. Junge, wissen Sie überhaupt, was so eine Kugel kostet?« »12000 Dollar«, sagte der Junge. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Abgesehen von allem übrigen Schaden, den wir uns eingebrockt haben«, brummte der Pilot. Er hörte plötzlich ein schrilles, rhythmisches Quietschen von den Flugpropellern her. Das gefiel ihm gar nicht. Er suchte das nebelbedeckte Wasser nach der Leon M. Cooper ab. Es wäre immerhin beruhigend, in ihrer Nähe zu sein, falls es noch schlimmer werden sollte. Aber er sah nur die Nebelbänke. Er drehte leicht nach links in Richtung Quonset. Dann drückte er auf den Knopf seines Funkmikrofons, um die Cooper zu rufen, ihr sein Problem zu erklären und dann den Rückflug anzutreten. Bevor er ein Wort hervorgebracht hatte, begann der Knüppel in seiner Hand zu zittern. Der Steuerknüppel stieß so heftig hin und her, daß ihm die Handflächen schmerzten. Er hätte vielleicht doch lieber auf dem Strand landen sollen. »Pan! Kennwort Pan!« Pan war eine Stufe unter Mayday, dem letzten Notsignal. »Marinehubschrauber Eins-Vier-Sieben-Acht ruft Leon M. Cooper. Wir treiben ab. Sind auf dem Rückflug nach ...« Und plötzlich fühlte er es kommen ... Als junger Soldat in Korea hatte er verwundete Marineinfanteristen von den Hügeln über Pjöngjang unter Feindbeschuß weggeholt. Vor zehn Jahren hatte er Marinepiloten im Golf von Tongking aufgelesen. Und nach all diesen Gefahren sollte das hier das Ende sein? Hier, vor einem blöden kleinen Badeort, an dessen Namen er sich nie erinnern konnte? -1 1 8 -
Er drückte nochmals auf den Knopf. »Mayday! Mayday, Mayday. Marinehubschrauber Eins-Vier-Sieben-Acht, Mayday!« Er schob den Gashebel zurück. Das Zittern wurde noch schlimmer. Jetzt hatte es auch der junge Mann gemerkt und blickte ihn entsetzt und erschreckt an. »Mayday, Mayday«, rief der Pilot. Er stellte mit Zufriedenheit fest, daß seine Stimme ruhig und gefaßt klang. »Ich befinde mich fünf Meilen südlich von ...« Plötzlich kam es ihm wieder in den Sinn. Es war dieser Ort mit der Haifischkatastrophe »Amity. Amity, Long Island. Ich verliere einen Propellerflügel. Ich fange an zu sinken. Ich beginne mit der Autorotation ...« Der Propellerflügel löste sich mit einem Klang, wie wenn eine Gitarrensaite zerspringt. Er sah ihn noch im metallischen Sonnenlicht, wie er in einem weiten Bogen auf die silberne See hinabschwebte. Der Hubschrauber schüttelte sich wie verrückt, drehte sich, und seine Welt stand kopf. Er sah die Nebelbänke durch den Fiberglasdom unter seinen Füßen. Er hörte den Jungen schreien. Er sah das Bild eines vietnamesischen Mädchens in einem Kleid mit hohem Kragen und bis zu den Hüften aufgeschlitztem Rock vor sich. Er selbst hatte es alles gesehen, erlebt und getan. Der Junge hatte überhaupt kaum erst gelebt. »In der Nähe einer Stadt namens Amity«, brachte er noch hervor, und dann konnte er nur noch warten.
Fünftes Kapitel Brody saß in einem wackligen Metallsessel auf der Vorderveranda seines Hauses und beobachtete seinen Sohn, der auf seinem Fahrrad die Bayberry Lane herauffuhr. Er trat sehr, sehr langsam und schien erschöpft zu sein. Als er näher kam, das Fahrrad abstellte und auf den Eingang zuging, schien er Brody wie ein neuer Mensch. Trotz seiner scheinbaren Müdigkeit hielt er sich aufrecht, blickte
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entschlossen vor sich hin, und der Anflug eines Lächelns spielte auf seinen Lippen. »Hast du einen guten Tag gehabt?« fragte Brody. »Ich bin mit Jackie schwimmen gegangen«, grinste er zurück. Brody blickte seinem Sohn in die Augen. »Schwimmen gegangen?« Mike wurde rot. »Ich bitte dich, Daddy, sie ist ein anständiges Mädchen.« »Das weiß ich. Schließlich kenne ich sie, seit sie zur Welt gekommen ist. Was regst du dich so auf?« »Du regst dich ja auf. Ich nicht. Bloß weil ich mit einem Mädchen schwimmen gehe? Hätte ich mich vielleicht mit ihr irgendwo in die Büsche verdrücken sollen?« »Du hast es also nicht geschafft«, entschied Brody. »Ich hab's ja nicht einmal versucht. Wir sind nur geschwommen. Das ist alles.« Aber etwas war geschehen. Es war, wie wenn Mike ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Einen Augenblick lang blickten sie einander tief in die Augen, Es war ein Kontakt von Mann zu Mann. Der Augenblick ging vorüber. Das Nebelhorn von Amity ließ sich laut vernehmen. Dahinter hörte Brody das Tuten von kleineren Sirenen. Mike sah erstaunt aus. »Es klingt, als ob die Flotte eingetroffen ist, Daddy.« Mike hatte es offensichtlich noch nicht gehört. Brody erzählte es ihm. »Ein Hubschrauber ist im Nebel abgestürzt. Dick Angelo ist gerade hinausgefahren. Und alle Rettungsmannschaften aus Quonset auch.« Mike schaute bedrückt drein. »Ein Marinehubschrauber?« Brody nickte. Er sah auf seine Uhr. Hoffentlich fanden sie etwas, und zwar schnell, denn in einer halben Stunde würde es dunkel sein. Der Gedanke, daß Dick zwischen Kriegsschiffen in Nacht und Nebel herumgeisterte, gefiel ihm gar nicht.
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Mike lauschte gedankenverloren, während die Nebelhörner ertönten. »Ich frage mich ...« »Was?« Er schüttelte den Kopf. »Da war so ein Hubschrauber, als Larry und ich im Meer schwammen. Wir haben uns etwas außerhalb der Brandung ein bißchen herumgebalgt ...« Das freute Brody. Wenn Mike über die Brandung hinausgeschwommen war, hatte er seine Angst überwunden. Wenn er es jetzt nur nicht übertreibt und versucht, nach Nova Scotia zu schwimmen ... »Der Pilot ist gerade auf uns zugeflogen«, sagte Mike. Seine Stimme zitterte seltsam: »Ich konnte ihn durch seine Windschutzscheibe ganz deutlich sehen.« »Da draußen fliegen ständig Hubschrauber herum«, bemerkte Brody. »Das war wahrscheinlich ein anderer.« Mike hörte ihm nicht zu. »Vielleicht hat er geglaubt, wir seien in Gefahr, verstehst du? Glaubte, wir seien am Ertrinken oder dergleichen, und dann kam er auf uns zu, um zu sehen, was los war?« Brody zuckte die Schultern. »Mag sein.« »Und dann hat er gewinkt. Er winkte, Daddy. Glaubst du, er ist umgekommen?« Brody war überzeugt davon, nach dem, was man ihm von der letzten Funkmeldung des Mannes erzählt hatte, aber es hatte keinen Sinn, den Jungen zu verstören. Er zog ihn an sich heran und drückte ihm die Schulter. Er sagte ihm, es sei gar nicht sicher, daß es sich um denselben Mann handelte, und daß sie außerdem mit Schwimmwesten und Gummiflossen ausgerüstet seien. »Sie werden ihn schon finden.« Mike hörte ihm kaum zu. »Er winkte, und dann hat er diese Kugel heruntergelassen, die sie immer benutzen, um U-Boote ausfindig zu machen ...« Er schnitt eine Grimasse und dachte nach. »Als wir dann an Land schwammen, hab' ich mich noch einmal umgedreht, und da flog er in die Höhe. Komisch ...« »Was ist komisch?« »Diese Kugel, mit der sie horchen. Lassen sie die im Wasser, wenn sie auffliegen?« -1 2 1 -
Brody schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« »Aber dieser da hat es getan. Ich sah genau das Kabel, an dem sie vorher hing. Und das hing einfach locker herunter, mit nichts dran. Verstehst du das?« Das war schon recht seltsam, aber vielleicht ließen sie tatsächlich die Kugeln in der Tiefe und holten sie später zurück. Oder vielleicht hatte sie sich nur vom Seil gelöst und war untergegangen. Oder vielleicht hatte Mike sich auch geirrt. Jedenfalls würde er in Quonset Point anrufen und sich erkundigen. Sie gingen ins Haus zum Abendessen. Sean begann zu beten, man solle Sammy zum Maskottchen der Wölflinge ernennen, und als Brody sich weigerte, ihm zu versprechen, daß er ihn für immer im Haus behalten würde, stürmte er weinend und entrüstet aus dem Zimmer. Darauf mußte Brody eine Strafpredigt seiner Frau über sich ergehen lassen, weil er ihm erlaubte, vom Tisch aufzustehen, ohne zu Ende gegessen zu haben. Als endlich alles wieder ruhig war, kehrten seine Kopfschmerzen zurück, und er vergaß Mikes Hubschrauber und die vermißte Kugel. Ellen Brody war wieder einmal wie gewöhnlich die einzige Wölflingsmutter, die bei der Scharversammlung erschienen war. Sie zwängte sich auf ihren Platz in Miß Fairleighs Klassenzimmer der Primarschule. Die Pulte waren viel zu klein für Erwachsene, und Willy Norton, Friedensrichter, Vorsitzender des Elternrats, Mitglied des Rotary-Clubs und im Augenblick präsidierender Chef der Wölflingstruppe, hatte den einzigen benutzbaren Stuhl hinter Miß Fairleighs Pult mit Beschlag belegt. Der Raum roch nach Bleistiftanspitzern, Kreidestaub und schwitzenden Wölflingen. In dieser Atmosphäre fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen. Sie war wieder die kleine Ellen Shepherd von der Oak-Tree-Privatschule in Pelham. Sie meldete sich mit erhobener Hand wie eine Achtjährige, um die Aufmerksamkeit
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auf sich zu lenken. »Mr. Norton? Willy? Was ist nun mit der Regatta?« Der Vorsitzende nahm widerwillig von ihr Notiz. Norton hatte das alles schon einmal durchgemacht und verspürte keine sonderliche Lust, auf die Diskussion zurückzukommen. Hinter sich hörte sie, wie Sean ihr warnend zuflüsterte: »Ma ... mmy!« Sie ignorierte es. »Ja, Ellen?« sagte Norton müde. »Es handelt sich um Martha Lindens Brownies«, begann sie rasch und hoffte, alles in einen Satz zu bekommen. Hinter ihr ertönte ein griechischer Chor von Seufzern, Klagelauten und Buhrufen. Willy Norton erhob die Hand. »Das genügt, Leute. Ruhe jetzt! Ellen, wir haben erst letzte Woche darüber abgestimmt.« »Die Abstimmung war verfassungswidrig«, sagte Ellen heftig. »Die Brownies waren gar nicht anwesend. Haben Sie je vom 18. Zusatzartikel der Verfassung gehört?« »Nur drei Kanus«, sagte Willy Norton mit übertriebener Geduld. »Drei für die Brownies und drei für die Wölflinge. Stimmt's? Und ich glaube, dann haben wir beschlossen, den Brownies die drei Kanus zu leihen, damit sie vor oder nach der Wölflingsregatta ihr Rennen machen, oder sonst irgendwann. Gleiches Recht für alle, so war's doch?« Aufgeblasener Fatzke. Ein Schwamm für die Schiefertafel lag in ihrer Reichweite, und einen Augenblick lang hätte sie ihn gern dem Kerl da oben in das nichtssagende Gesicht geschleudert. Dann würde man ihr endlich Aufmerksamkeit schenken, selbst wenn das hinter ihr eine Rebellion auslöste, womit bestimmt zu rechnen wäre. Aber sie hielt sich zurück. »Die Brownies wollen aber mit den Jungen wetteifern! Für den Pokal!« »Dann sollen sie sich ihr eigenes Kanu anschaffen«, piepste jemand. »Ganz richtig«, stimmte Sean ihm zu und stieß seiner Mutter in den Rücken. »Sollen sie sich doch ihr eigenes anschaffen.« -1 2 3 -
Sie drehte sich brüsk um, warf ihm einen strafenden Blick zu, der ihn zeitweilig zum Schweigen brachte. Die Zeit war gekommen, um den Samthandschuh der Vernunftargumente abzulegen. Sie wandte sich wieder an Norton. »Da wäre nur noch ein Problem, Willy. Ich bin die Schatzmeisterin des United Fund. Und der leistet seinen Beitrag für die Pfadfinder, die Wasserratten, die Bienen, die Wölflinge und die Brownies. Stimmt's?« »Ich denke schon.« »Und als Verantwortliche für den Fonds kann ich anständigerweise das Geld für den Würstchenstand der Regatta nicht freigeben, falls die Brownies vom Kanurennen ausgeschlossen werden. Dann gibt's halt keine Hamburger, kein Coca Cola und auch keine Schokoladenkekse«, fügte sie für Seans Ohren brutal hinzu. Damit hatte sie endlich den kleinen Mistspatzen eins auf den Schnabel gegeben, denn alle saßen still und entsetzt da. Willy Norton war zwar nur ein Tankstellenwart und Automechaniker, aber er hatte politisches Geschick. Ellen wußte, daß er bereits ein Auge auf Larry Vaughans Bürgermeistersessel geworfen hatte. Und als Politiker wußte er, wann er geschlagen war, und auch, wie er die Aufmerksamkeit seiner Leute ablenken konnte. »Okay, Leute«, sagte er und schaute auf die Uhr über der Schiefertafel. »Eine halbe Stunde Basketball. Schar Eins gegen Schar Zwei, und der Sieger spielt gegen Drei. Die beiden Besten kriegen am Sonntag Kanus. Die anderen dürfen Bravo rufen. Einverstanden?« Alles rannte lärmend zur Tür, und die beiden waren allein. Die Wanduhr tickte laut und erinnerte sie wieder an ihre Kindheit. Norton las sich die Berichte auf seinem Pult durch. »Tut mir leid, Willy«, sagte sie. »Ich weiß, es war dumm von mir, so viel davon herzumachen.« »Nein, nein«, wehrte er ab. »Schließlich haben Sie ja gewonnen.« Er schien besorgt. »Mit Ihrem Mann dagegen ist es schon etwas anderes.« -1 2 4 -
Sie fragte ihn, was er damit sagen wollte. »Jepps.« Er lehnte sich zurück und sah sie forschend an. »Die Sache mit Jepps fängt allmählich an, heikel zu werden.« »Heikel?« flammte sie auf. »Hören Sie mal, dieser Idiot hat doch zumindest nachweislich auf ein hilfloses Seehundbaby geschossen. Und vielleicht hat er auch diese Taucher umgebracht und ein Boot in die Luft gesprengt ...« »>Vielleicht< ist nicht genug.« »Sie haben doch Jepps selbst einsperren lassen. Sie sind der Friedensrichter und nicht Brody. Sie haben ihn ins Gefängnis gesteckt!« »Ich wünschte, ich hätte die Sache vorher besprochen.« »Mit wem besprochen?« »Mit Albany.« »Was hat Albany mit den Schießereien am Strand von Amity zu tun?« »Fragen Sie Brody«, seufzte Willy Norton. »Es scheint, daß die Stadt mit allem, was sie vorhat, immer auf den Widerstand des Polizeichefs stößt.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie heftig. »Ein Hai fängt an, die Badegäste aufzufressen, und er schließt den Strand, bis er ihn töten kann. Ein Irrer ballert am Strand in die Gegend, und er steckt ihn ins Gefängnis! Ist das der Widerstand, auf den die Stadt stößt?« Sie starrte ihn an, aber er sah nicht weg. Seine Augen blickten traurig. Sie schluckte und war den Tränen nahe. »Hoffen Sie lieber, daß er noch lange da ist, um der Stadt solchen Widerstand zu bieten.« »Das macht mir eben Angst.« Willy Norton schüttelte den Kopf. »Natürlich hatte er recht, den Strand zu schließen. Jeder weiß das. Wahrscheinlich hat er auch recht, wenn er Jepps unter Anklage bringen will. Aber wenn er das tut, gibt's bei uns kein Spielcasino, und dann haben sie uns am Arsch. Brodys Arsch und meiner auch.« -1 2 5 -
»Und wer sollte das wollen?« Er lächelte traurig. »Die Leute vom Casino.« »Peterson ist Brodys Freund.« »Peterson ist ein Strohmann.« »Nein!« Sie starrte ihn verwirrt an. »Es gehört ihm doch.« Norton wollte ihr etwas sagen, aber er schien Angst zu haben. Schließlich sagte er: »Sie werden es ja sowieso von Brody hören. Da kann ich es Ihnen gleich sagen.« Er senkte die Stimme. »Hinter Peterson«, flüsterte er, »stehen einige der besten New Yorker Familien.« »Na schön«, sagte sie erleichtert. »Tuciano«, sagte er mit Ekel in der Stimme. »Di Leone und Moscotti, der Vater unseres kleinen Freundes ...« »Moscotti!« stammelte sie. Im Amity erzählte man sich, daß Shuffles Moscotti der bösartigste und skrupelloseste Gangster von Long Island sei, obgleich jeder seinen kleinen Jungen gern hatte. »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Peterson.« Sie starrte ihn noch immer an, als die Truppe zurückkehrte. Nachdem nun endlich die Preise verteilt waren und jeder sein Gelübde abgelegt hatte, führte sie ihre kleine Schar zum Kombi. Sie setzte sich hinter das Steuer und tastete im Dunkeln das Armaturenbrett nach dem Zündschlüsselloch ab, und plötzlich stellte sie sich vor, wie sie samt ihrer Schar in einer hellen Flamme in den Himmel schoß. Fast wünschte sie, daß der kleine Moscotti zu ihrer Schar gehörte, und sei es auch nur zu ihrem eigenen Schutz. Zähneknirschend ließ sie den Motor an. Die Maschine lief ganz ruhig. Sie setzte ihre Schar bei den Eltern ab. Brody stand auf, nahm Pete Petersons leeres Glas mit in die Küche und goß ihm und sich noch einen Scotch ein. Ellen und Sean sollten jeden Augenblick zurück sein. Mike war noch beim Abtrocknen des Abendessengeschirrs und konnte vor Müdigkeit -1 2 6 -
kaum auf den Füßen stehen. Was auch immer er im Wasser mit seinen Kameraden getrieben hatte oder mit Jackie, es hatte ihn völlig fertiggemacht. Brody sagte ihm, er solle das Geschirr stehenlassen und ins Bett gehen. Dann kehrte er mit den beiden Gläsern ins Wohnzimmer zurück. Peterson hatte auf dem Sofa Platz genommen. »Pete«, sagte er bedachtsam. »Es tut mir leid. Ich mag dich gern, und ich bin auch froh, daß wir bald das Casino haben werden. Das bedeutet viel für unsere Stadt. Als ich dir vor Starbucks Laden den Strafzettel für falsches Parken erließ, war das durchaus vertretbar. Aber dir zuliebe die Anklage gegen diesen Scheißkerl fallenzulassen ... das ist schon etwas ganz anderes.« Peterson schlug die Beine übereinander. Er war klein und muskulös, er trug einen Cordanzug und ein Hemd mit offenem Kragen. Brody hatte ihn wirklich gern, obgleich er eigentlich immer ein wenig zu gut erzogen, zu freundlich und zu sehr wie auf der Bühne wirkte. Dafür war er offener, als reiche Leute es gewöhnlich sind. Peterson nippte an seinem Glas. »Johnnie Walker Black Label?« Brody war geschmeichelt. Er hatte die Flasche für neun Dollar gekauft, und sie wurde nur zu besonderen Gelegenheiten geöffnet. »Es ist zwar nur Red Label«, gab er zu, »aber du bist ein Kenner.« »Black Label, Red Label, ich habe die beiden nie unterscheiden können.« Peterson rührte das Ei in seinem Glas und lehnte sich nach vorn. Sein Gesicht war gespannt, und seine grauen Augen blickten ernst. »Brody, ich bin unterfinanziert.« »Sind wir das nicht alle?« »Du kannst dir wenigstens jederzeit ein Darlehen beschaffen.« »Das ist Ansichtssache«, brummte Brody. Dann war plötzlich der Groschen gefallen. »Willst du damit sagen, du könntest es nicht?« -1 2 7 -
»Nicht bei einer Bank.« Peterson schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Sicherheiten mehr. Das Land, das ich von dir und von den anderen hier in der Stadt gekauft habe, der Bau in seinem jetzigen Zustand und ein paar AT&T-Aktien - damit hat es sich. Das ist mein ganzer Besitz.« Brody war entsetzt. Sein Hoffnungstraum, daß Amity wie ein Phönix aus der Asche neu erstehen würde, verflog. »Du willst doch nicht etwa die Bauarbeiten unterbrechen?« Nein, diesbezüglich hatte er Abmachungen getroffen. Aber falls das Spielgesetz nicht durchkam, war es aus mit seiner Unterstützung. »Und wie es scheint, kommt das Spielgesetz nicht durch, wenn du deine Anklage nicht fallenläßt.« Brody sah ihn forschend an. Der Mann war aus New Jersey gekommen, er war ein ruhiger, angenehmer Mitbürger, er hatte kein Strafregister und stand im allerbesten Ruf. Brody mußte es wissen, denn er hatte damals in Trenton und bei der Staatspolizei von New Jersey im Auftrage des Stadtrats Erkundigungen eingezogen. Drei Tage hatte er dazu gebraucht, und während der Zeit war er sich wie der Detektiv Dick Tracy vorgekommen. Larry Vaughan hatte behauptet, er habe auch von der staatlichen Baubehörde die allerbesten Auskünfte über Peterson bekommen. Falls das Spielgesetz durchkam, würde es in Amity nur einen Ort mit einer Spiellizenz geben, nämlich das Casino, und niemand in der Stadt hatte auch nur das geringste Interesse, es einem Betrüger oder einem miesen kleinen Geschäftemacher zu überlassen. Erst aufgrund der eingezogenen Erkundigungen hatte der Stadtrat die Bauerlaubnis erteilt. »Pete, ich kann die Anklage einfach nicht fallenlassen. Es geht nicht, und ich kann es nicht.« »Willy Norton ist bereit, das Verfahren einzustellen«, sagte Peterson. »Willy hat ausschließlich anhand des vorliegenden Beweismaterials gehandelt und seinen Teil getan«, erklärte -1 2 8 -
Brody. »Die Anklage geht immer noch von der Stadt Amity aus, und in diesem Fall bin ich Amity.« Peterson sah verlegen aus. Offensichtlich war ihm seine Rolle peinlich. »Du bist ein guter Mann, Brody.« Brody errötete. »Nun ja, man hat mir schon einmal an den Kragen gewollt, als ich den Strand schließen ließ. Es hat einen kleinen Jungen das Leben gekostet.« »Das habe ich gehört«, sagte Peterson leise. »Deshalb will ich dir ein paar Tatsachen erzählen.« Er stand auf und ging zum Fenster. Brody folgte ihm. Sie blickten über den Sund von Amity. Der Nebel war dichter geworden, und man hörte noch immer die Nebelhörner der Marine. Brody dachte an die Leute im Hubschrauber, und sie taten ihm leid, selbst wenn sie den Sturz überlebt haben sollten. Vom Wasser her erklang ein wohlbekanntes Rattern. Es war die Fähre nach Amity Neck auf ihrer letzten heutigen Fahrt. Man erzählte sich, daß Kapitän Lowell, der seit dreißig Jahren die Fähre betreute, bei jedem Wetter seinen Weg fand, auch wenn er nicht einmal sein eigenes Buglicht mehr sehen konnte, was manchmal wegen des Nebels passierte, oder weil er zu betrunken war. »Ich habe ein paar Partner aufgenommen«, sagte Peterson. Brody erstarrte. »Was für Partner?« Es fiel Peterson offenbar nicht leicht, es auszusprechen. »Ich habe dir doch eben gesagt, daß ich keine Sicherheiten habe. Was für Partner glaubst du, kämen da in Frage?« Brodys Herz pochte. »Wucherer?« Peterson nickte. »Von wo?« »Newark, New York, Queens. Ich brauchte eine Dreiviertelmillion!« »Und wer sind sie?«
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»Balls Tuciano, Tony Di Leone.« Brody hatte noch nie von ihnen gehört. »Und Shuffles Moscotti«, fügte Peterson rasch hinzu. »Moscotti?« stöhnte Brody. »Ach du liebe Zeit!« Shuffles war der einzige Gangster, den Brody je in Fleisch und Blut vor sich gesehen hatte. Er war ein riesengroßer, wortkarger Capo mit einem breiten Lächeln, abstehenden Ohren und einem blitzenden Goldzahn. Er hatte seit Jahren ein Sommerhaus auf Vista Knoll gemietet, es war ein riesiger, ziemlich verwahrloster Kasten, der einst dem alten Arzt der Stadt gehört hatte. Als Clyde Bronson in einer Komiteesitzung in Albany das Spielgesetz vorgeschlagen hatte, wäre es Moscotti beinahe gelungen, durch Vaughan den Amity Inn, das große Hotel und Restaurant von Amity, zu kaufen. Brody hatte damals so lange gezetert, bis Vaughan schließlich klein beigab und die Sache fallenließ. Außer diesem einen Versuch und der Tatsache, daß Moscottis kleiner Sohn der örtlichen Pfadfindergruppe angehörte, hatte der Mann sich nicht weiter in die Angelegenheiten von Amity eingemischt. Und daß es dabei bleiben sollte, war unbedingt ratsam. Noch nie seit der Katastrophe war Amity so bedroht. Würde Larry Vaughan überrascht sein? Oder wußte er es schon lange? War die ganze Sache vielleicht ein abgekartetes Spiel? »Warum sagst du mir das jetzt?« Peterson sah ihm in die Augen. »Weil ich dich gern hab'. Und weil ich Ellen gern hab'. Und Willy Norton ist mein Freund. Auch er hat Kinder. Die einzige Sicherheit, die ich Moscotti und seinen Kumpanen zu bieten habe, ist in Albany. Falls das Spielgesetz nicht durchkommt ... Verdammt noch mal, Brody, gib den Fall Jepps auf! Laß die Hände weg!« »Was willst du damit sagen?« Brody ballte die Fäuste. »Soll das bedeuten, daß wir in der Tinte sitzen, falls ich es nicht tue?« Peterson hatte Mumm. Er stand seinen Mann und ließ sich nichts anmerken. »Ich weiß nicht. Es hängt nicht von mir ab.«
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Brody fragte sich, ob er mit seiner Überlegenheit an Größe und Gewicht diesen Peterson durch die Glastür schleudern könnte. Er hörte, wie Ellen den Kombi vor der Garage parkte, hörte Sammys fröhliches Gebell, hörte Sean zu ihm in die Garage laufen, hörte von oben den harten Rock aus Mikes Transistor. »Raus«, gebot er Peterson. »Raus aus meinem Haus!« Brody öffnete die Glastür, packte Peterson am Arm und stieß ihn hinaus. Draußen wandte sich Peterson noch einmal besorgt um. »Brody, ich bitte dich. Laß es fallen.« »Raus!« Er ging ins Wohnzimmer zurück, wo Ellen ihm gespannt von der Küchentür entgegenblickte. »Wo ist er hingegangen?« Sie hatte Petersons Wagen vor dem Haus gesehen. »Raus. Durch die Hintertür. Ellen, ich muß dir etwas sagen.« »Die Mafia? Das hat Norton mir schon erzählt. Mein Gott, Brody, was soll nur aus uns werden?« »Meinst du die Stadt? Das weiß ich nicht.« »Zum Teufel mit der Stadt! Uns meine ich! Uns. Du bist Polizeichef!« Sie hatte wirklich Angst. »Du mußt deine Demission einreichen. Und zwar morgen!« Sie setzte sich auf das Sofa und hielt sich die Hände vors Gesicht. Er setzte sich neben sie. Unbeholfen legte er seinen Arm um ihre Schultern und versuchte, sie zu küssen. Seine Brille fiel dabei zu Boden. »Ellen, bitte weine nicht.« »Mit der Sache kannst du nicht fertig werden! Du hast weder das nötige Training noch die Mannschaft noch die ...« »Nerven?« fragte er leise. »Die Nerven hast du schon. Dir fehlen einfach die Erfahrung und der Instinkt für einen solchen Kampf.« »Und der Mumm«, sagte er. »Das habe ich nicht gemeint.« Er fühlte sich elend. Sie hatte ganz recht. »Ich bin zwar kein Ironside, aber ...« »Ich will keinen Ironside! Ich will dich, und zwar lebendig!« -1 3 1 -
»Nun hör mal, Moscotti lebt hier schon seit Jahren. Du hast seinen Jungen in die Pfadfindertruppe gebracht. Ich schreibe ihn jedes Jahr etwa dreimal wegen zu schnellen Fahrens auf, und nie ist irgend etwas passiert. Es ist mir auch nichts passiert, als ich ihm sein Geschäft mit dem Hotel vermasselt habe ...« »Das war damals auch gar nicht nötig! Er wußte ganz genau, daß er sich irgendwie einschleichen konnte. Aber jetzt stehst du ihm wirklich im Weg!« Sie wischte sich die Augen. »Wegen eines verdammten Seehundes!« »Und eines schießfreudigen Bullen, der noch weiß wen hätte umbringen können, und der wahrscheinlich die beiden Taucher und ein nettes junges Paar, das den Sommer in Amity verleben wollte, umgebracht hat. Und der soll ungeschoren nach Hause fahren? Kommt nicht in Frage!« »Hätte umbringen können«, wiederholte sie. »Brody, vergiß es nicht. Hätte umbringen können!« »Das werden wir ja am Donnerstag herausbekommen.« Sie stand auf und ging in die Küche. Er hörte, wie sie sich einen Drink eingoß. Sie trank schnell und sah ihn von der Tür aus an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist vielleicht kein Ironside, aber du bist ein verdammt starrköpfiger Kerl! Stimmt's?« »Im Augenblick ja. Wenn ich glaube, daß ich recht habe.« »Verflixt noch mal, ich hoffe nur, daß du dieses Mal nicht recht hast!« Sie rannte die Treppe hinauf. Er ging in die Küche und holte sich die ganze Flasche. Es verging lange Zeit, bis er ihr folgte.
Sechstes Kapitel Als die Nacht hereinbrach und es in den Tiefen des Meeres tintenschwarz wurde, hatte sie die suchenden Kriegsschiffe gefunden. Sie kannte keine Furcht und verfügte in ihrem Gehirn über keinerlei Angstmechanismus, und ihr Instinkt gab ihr ein, sich in der Nähe der Aktivität an der Oberfläche aufzuhalten. Vom -1 3 2 -
menschlichen Standpunkt aus hätte man versucht sein können, ihre Haltung als neugierig zu bezeichnen, aber das war sie nicht, denn sie wußte nur auf ihre Art, daß die Begriffe Aktivität und Nahrung zusammengehörten. Sie befand sich in einer Tiefe von fünf Faden unter dem dunklen Dröhnen der umherkreuzenden Zerstörer und dem höher klingenden Heulen der Patrouillenboote. Alle Augenblicke drang dazu noch der dumpfe Klang eines Nebelhorns bis in ihre Tiefen. Sie nahm diese unterschiedlichen Geräusche gar nicht wahr, und sie ignorierte auch die quirlenden Schiffsschrauben über ihr, aber vielleicht trug das Nebelhorn zu ihrer aufsteigenden Wut bei. Ihr schmales, längliches Gehirn war kaum mehr als die Verlängerung ihres zentralen Nervensystems. Sie hatte weder die Fähigkeit, sich an etwas zu erinnern, noch die einer Voraussicht oder gar der Furcht, und ihre Reaktionen waren direkt, ungehemmt, von maximaler Wirkungskraft und tödlich. Wie immer, wenn sie hungrig war, registrierte sie alle auf sie eindringenden Signale - die vibratorischen, hörbaren und elektrischen -, bis eines, das Protein verhieß, ihre Reaktion auslöste. Ihre flachen schwarzen Augen waren in den dunklen Tiefen äußerst lichtempfindlich, aber jetzt war pechschwarze Nacht um sie herum, und ihr Augensystem war ausgeschaltet. Allerdings gehörten sie zu den weniger wichtigen Gefühlsorganen, und sie ließ sich nur hie und da bei Tageslicht, wenn eine Beute in der Nähe war, von ihnen leiten. Ihre anderen Gefühlsorgane dienten ihr in der Nacht ebenso gut wie bei hellem Tageslicht, und sie waren bei ihrem aufsteigenden Hunger nun aufs äußerste gespannt. Um den Kopf herum hatte sie kleine, mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Gefäße, die sogenannten Lorenziniampullen, die mit Hilfe elektromagnetischer Energie die geringste sich in Reichweite befindende Beute ausmachen konnten. Durch den aufsteigenden Hunger waren sie nun wie ein Radargerät auf den höchsten Empfindlichkeitsgrad geschaltet und registrierten -1 3 3 -
alle Frequenzen, die sie durchschwamm, sei es der Stahlrumpf eines Schiffes über ihr, sei es die wechselnde Polarität einer Salzwasserströmung. Auch ihr äußerst feines Gehör nahm infolge des Hungers das leiseste Geräusch wahr. Ihre Ohren waren zwar nur kleine Kanäle, die sich aber in einer Entwicklung von Jahrtausenden zu den vielleicht wirksamsten Hörorganen der Welt überhaupt entwickelt hatten. Jedes Ohr bestand aus drei Kammern, und in jeder Kammer befand sich ein an ein System von haardünnen Nerven angeschlossener Kalkstein. Im Bereich der niedrigen Frequenzen war ihr Gehör feiner als die raffinierten Sonare der großen, über ihr kreuzenden Schiffe. Sie war in der Lage, die allerschwächsten Geräusche aufzunehmen, Geräusche von einer so niedrigen Frequenz, daß ein Mensch oder selbst eine Schildkröte sie nicht hätte hören können. Das ermöglichte das System feiner, mit einer wässerigen Lösung gefüllter Kanäle, die von ihrem Kopf bis zum Schwanzende an den Seiten ihres Körpers entlangliefen. Mit diesen hauchdünnen Kanälen spürte sie sofort die allergeringste Druckveränderung an ihren Flanken und konnte auch einen kleinen, sich langsam bewegenden Gegenstand auf eine Distanz von 300 Metern ausmachen. Aber von allen ihren Wahrnehmungsorganen war der Geruchssinn doch der allerfeinste und am besten ausgerüstete. Siebzig Prozent ihres Computergehirns waren auf Geruchswahrnehmungen eingestellt. Es war ein höchst selektives System. Der Geruch menschlichen Urins sagte ihm gar nichts, aber es registrierte auf die Sekunde die geringste Spur von Fischtran. Den Geruch menschlicher Exkremente nahm es nicht wahr, aber es roch einen verletzten kleinen Finger auf fünfhundert Meter. Ihre Haut war zudem von Tausenden winziger Partikel übersät, die ihr als äußere Wahrnehmungsorgane die Strömungsrichtungen aller Bewegungen im Wasser zu erfassen erlaubten. -1 3 4 -
Nahm sie z. B. irgendwo einen leisen Blutgeruch auf, so analysierte ihr Gehirn augenblicklich die Geschwindigkeit und die Strömungsrichtung, in der sich die Beute befand, was ihr ermöglichte, sich sofort darauf zu stürzen. Nun war sie schon eine halbe Stunde mit einer Geschwindigkeit von drei Knoten in der Fünffadentiefe herumgeschwommen und hatte ihre Achterbogen gezogen. Plötzlich verspürte sie der Länge nach einen leichten Schauder. Sie wendete, schwamm in einem weiten Bogen der Oberfläche zu und beschleunigte ihr Tempo mit den Schlägen ihres mächtigen Schwanzes. Über sich, hinter sich und unter sich vernahm sie die lauten Stöße eines Nebelhorns, das sich nun ganz in ihrer Nähe befinden mußte. Aber sie folgte ihrer Eingebung, ließ sich nicht um ein Grad aus ihrer Richtung bringen und entfernte sich rasch von dem Lärm hinter ihr. Der junge Sonarmann des Hubschraubers verlor rasch an Kräften. Als er die ersten, noch sehr leisen Geräusche einer Suchaktion vernommen hatte, war er nicht sparsam genug mit seiner Stimme umgegangen, so daß er jetzt keinen Laut mehr hervorbringen konnte, selbst wenn ihm noch die Kraft zum Schreien geblieben wäre. An den Absturz konnte er sich nur vage erinnern; eine Reihe von kaleidoskopartigen Bildern, sich im Kreise drehende Wolkenbänke, ein wirbelnder Ozean, ein außer Kontrolle geratener Motor und dazu seine Schreie. Was mit dem grauhaarigen Piloten geschehen war, wußte er nicht. Er erinnerte sich noch vage daran, daß er die ins Wasser hinabhängende Kugel verloren hatte, an das mühevolle Aufsteigen danach und an einen dem Meer zu schwebenden Propellerflügel. Irgendwie war er aus dem Rumpf des Hubschraubers gelangt, der nun irgendwo im Nebel verborgen war. Sein rechter Arm war verletzt. Er hatte noch automatisch seine Schwimmweste aufgeblasen. Dann war die Hoffnung gekommen, als von überall die Nebelhörner ertönten - und ihr war die Verzweiflung gefolgt, als sie sich wieder entfernten. -1 3 5 -
Als es dunkel wurde, hatte er das Licht an seiner Schwimmweste eingeschaltet, und er trug auch noch die Signalpfeife bei sich. Sein Arm sah zwar schlimm aus und blutete, aber er war unempfindlich geworden, und das war wenigstens eine Erleichterung. Er hatte irgendwo über dem Nebel das Rattern eines Hubschraubers vernommen. Er hatte in den schwarzsamtenen Himmel geschaut, aber nicht die Lichter des Hubschraubers gesehen, nur immer wieder das Rattern gehört. Dieser Gedanke behagte ihm durchaus nicht. Er erinnerte sich, in einem Handbuch über Rettungsmaßnahmen der Marine gelesen zu haben, daß das Hubschraubergeräusch mit seiner niedrigen Frequenz Haifische anzog. Man machte es sich deshalb zur Regel, Hubschrauber von Schiffsunglücken fernzuhalten, falls einzelne Menschen im Wasser schwammen. Er erinnerte sich auch an die Gerüchte über einen Hai an der Küste von Long Island, die er vernommen hatte, als er noch in der Ausbildung war. Sollte das irgendwo hier in der Nähe gewesen sein? Er zitterte. Er fühlte sich verwundbar und den Gefahren aus der Tiefe ausgesetzt. Und als schließlich das Hubschraubergeräusch sich entfernte, fühlte er sich eher erleichtert als verlassen. Und jetzt hörte er plötzlich ein Nebelhorn, das ganz in seiner Nähe sein mußte - viel näher jedenfalls als die anderen zuvor. Er griff nach seiner Alarmpfeife und blies mit aller ihm verbliebenen Kraft hinein. Der junge Leutnant stand auf dem Steuerbordflügel der Leon M. Cooper und starrte in die neblige Nacht. Er hoffte, daß der Kapitän ihn hier gesehen hatte, denn er hatte eigentlich keinen Wachdienst und war der einzige unter den jüngeren Offizieren, der während der Suchaktion aufs Oberdeck gekommen war, während all die anderen unten saßen und gemütlich Karten spielten. Er hatte fast augenblicklich seinen Entschluß bedauert, als die kalte Nachtluft durch seine dünne Sommerkhakiuniform drang, -1 3 6 -
aber er wollte sicher sein, daß man ihn hier oben bemerkte, und deshalb blieb er. Das etwa sechs Meter über ihm befindliche Nebelhorn hatte gerade wieder einmal sein markerschütterndes Tuten ertönen lassen, und der junge Offizier dachte an die Gefahr einer Kollision mit der Pritchett, der Kane oder der Karl O. Bergheer oder irgendeinem anderen Zerstörer, die hier herumkreuzten. Ihn schauderte. Ein entsetzlicher Gedanke kam ihm. Falls nun wirklich etwas passierte, falls z. B. die Pritchett plötzlich aus dem Nebel auftauchte und sie rammte, würde ihn da nicht die Verantwortung treffen, selbst wenn er keinen Wachdienst hatte? Das wäre allerdings genauestens zu überlegen, und er suchte in seinem Gedächtnis nach einer ähnlichen Situation, die man ihm während des Unterrichts auf der Akademie erklärt hatte. Aber er fand nichts, was dem vorliegenden Fall entsprach, und wollte bereits die Kommandobrücke verlassen, als er den schwachen Laut einer Polizeipfeife vernahm. Er raste zur Steuerbordkabine und hätte beinahe den Offizier, der am Radarschirm stand, umgerannt. Der Kapitän saß pfeiferauchend und kaffeetrinkend auf seinem Thron im roten Licht des Nachthauses und starrte in den Nebel hinaus. Der junge Leutnant berichtete, daß er eine Trillerpfeife gehört habe, und der Kapitän befahl, augenblicklich die Motoren zu stoppen. Dann kehrten sie gemeinsam auf den Steuerbordflügel der Kommandobrücke zurück und lauschten. Dieses Mal hörten sie es beide. Es klang sehr schwach und schien von der Steuerbordseite zu kommen. »Scheinwerfer an!« rief der Kapitän der Signalbrücke zu. »Scheinwerfer auf Steuerbord. Alles absuchen!« Das Licht wurde augenblicklich eingeschaltet, aber man sah nichts als den blendenden, dichten Nebel. »Scheinwerfer aus!« schrie der Kapitän. Es gab also keine Möglichkeit, etwas in diesem Nebel optisch auszumachen. Da blieb nichts anderes übrig, als dazubleiben und weiter zu lauschen. Aber sie hörten nichts mehr. -1 3 7 -
Der junge Sonarmann im Wasser hatte irgendwo weitab das Stoppen der Maschinen gehört. Er hatte das Gefühl, daß da hinten, hinter dem Nebel, Hilfe und Rettung waren. Und es konnte gar nicht sehr weit sein. Er pfiff noch einmal, pfiff aus Leibeskräften und brachte sogar einen Schrei hervor. Die plötzliche Hoffnung belebte ihn, und das Adrenalin befreite ihn zeitweilig von seiner Müdigkeit. Er hatte sich bisher in seiner Schwimmweste auf dem Rücken treiben lassen, um seine Kräfte zu sparen. Nun strampelte er mit den Füßen im Wasser und schwamm in Richtung des Geräusches. In einer Entfernung von einigen hundert Metern sah er ein weißes Licht aufflimmern. Er hob die Hand zum Winken und verspürte einen stechenden Schmerz im rechten Ellenbogen, wo irgend etwas ihm beim Sturz aus dem Hubschrauber das Fleisch vom Knochen gerissen hatte. Er fühlte, daß die Wunde bereits stärker blutete, und er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Während seiner Ausbildung hatte er im Erste-Hilfe-Kurs gelernt, daß die erste Schockwirkung den Pulsschlag verlangsamte, und über den war er jetzt hinaus. Er legte sich wieder auf den Rücken und hielt sich den Oberarm, um dem Blutsturz Einhalt zu gebieten. Gott sei Dank waren sie so nahe. Lange konnte er es hier nicht mehr aushalten. Er sah seine Mutter vor sich, wie sie vor Jahren eine Kerze für seinen Vater angezündet hatte. Gott sei Dank brauchte sie so etwas nicht noch einmal durchzumachen ... Und dann packte ihn plötzlich das entsetzliche Bewußtsein, daß er von allen Seiten und besonders aus der Tiefe großen Gefahren ausgesetzt war. Das Meer um ihn herum war zu einem feindseligen und bösartigen Element geworden. Er blickte sich wild verzweifelt um. Dann legte er sich zurück. Jetzt war nicht der Augenblick, noch durchzudrehen. Nur die Ruhe bewahren. In einigen Minuten würde er ja in Sicherheit auf dem Schiff sein. Eine ungeheure Kraft riß ihn aus dem Wasser und schleuderte ihn mit zappelnden Armen und Beinen in die Höhe. -1 3 8 -
Es war ihm, als sähe er sich selbst von irgendwo weit oben, wie er in den Schatten des Meeres stürzte. Der Gedanke an einen Hai kam ihm nie zu Bewußtsein. Für ihn war es die Hand Gottes, die ihn für irgendeine Sünde bestrafte. Dann wurde er zerquetscht und zerrissen und wußte nichts mehr. Der junge Leutnant zog die dunkelgrünen Vorhänge beiseite und trat in den Offizierssalon. Das Bridgespiel war unterbrochen worden, als der Kapitän zur Suchaktion gerufen und als sich alles zu den Rettungsbooten begeben hatte. Sie waren jetzt immer noch draußen und suchten im Nebel nach der Person, deren Pfeifsignal den Kapitän alarmiert hatte. Die Karten lagen noch auf dem Tisch, und das störte den Ordnungssinn des jungen Leutnants, der sie auflas und geordnet in den Schrank legte. Er hatte seine Pflicht getan, als er den Pfiff gehört hatte, und er hatte nicht die Absicht, oben auf der Kommandobrücke zu bleiben, wo er nur noch riskierte, etwas falsch zu machen. Er ging in seine Kabine, zog sich aus und kletterte in die obere Koje. Der blöde Hubschrauberpilot hatte mit seinem Absturz die ganze Übung vermasselt, und unter diesen Umständen war es noch am besten, einfach schlafen zu gehen.
Siebentes Kapitel Bürgermeister Larry Vaughan erhob sich rasch aus dem Sessel hinter seinem Schreibtisch, durchschritt das Zimmer und schloß die Tür zu seinem Bürovorzimmer, wo seine Sekretärin Daisy Wicker auf einem Holzrahmen Makramee knüpfte. Er starrte Brody aus seinen hervorquellenden, rotunterlaufenen Augen an. »Himmel, Herrgott, Brody, Ihnen macht's weiß Gott nichts aus, was Sie sagen oder wer Sie hört, was?« Brody schüttelte den Kopf. »Ich dachte, daß es sowieso schon alle wüßten.«
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»Was wollen Sie damit sagen?« Vaughans Gesicht war puterrot. Brody zuckte die Achseln. »Ich nehme an, ich bin immer der letzte, der es erfährt, wenn hier in der Stadt schiefe Sachen gemacht werden.« »Es ist doch keine schiefe Sache, wenn man sich Geld leiht. Außerdem hatte ich selbst ja keine Ahnung, Brody. Ich bin entsetzt und überrascht ...« »Reden Sie keinen Stuß, Larry. Wenn ich damals nicht so laut geschrien hätte, hätten Sie vor zwei Jahren das Hotel an Moscotti verkauft.« »Na schön, aber von dieser Sache hier habe ich jedenfalls nichts gewußt.« Erzähl mir keinen Bockmist, dachte sich Brody. Wer weiß, wie viele Stadträte es die ganze Zeit schon gewußt hatten? Tony Catsoulis wahrscheinlich und vielleicht auch Albert Morris. Und Ned Thatcher? Rafe Lopez? Vielleicht. Aber beweisen konnte er es nicht. Auf alle Fälle jedoch war Vaughan gewiß seit langem im Bilde. Um die Richtigkeit seiner Theorie zu testen, sagte Brody: »Ich möchte, daß Sie Petersons Baugenehmigung zurückziehen.« Vaughan schnaufte. »Sie sind ja nicht bei Trost! Ich habe schließlich eine Frau und Kinder.« »Darum geht es ja eben. Wenn diese Kerle hier einmal Fuß fassen, werden sie selbst den Kirchenchor bei hellem Tageslicht mit Heroin verseuchen!« Vaughan blickte ihn neugierig an. »Und was wird der Herr Polizeichef tun, wenn es zu all dem kommt?« Wahrscheinlich in der Sekundärschule Englischunterricht geben, dachte Brody, oder auf der Bank arbeiten. »Ziehen Sie die Baugenehmigung zurück«, wiederholte Brody, »oder ich werde mich an die Stadträte wenden.« »Die hiesigen Stadträte«, sagte Vaughan langsam, »werden die Sache nicht einfach wegschwimmen lassen, weil ein kleiner -1 4 0 -
öffentlicher Beamter der Meinung ist, er könne mit einem miesen kleinen Gangster nicht fertig werden!« »Ich kann es jedenfalls nicht«, sagte Brody gereizt. »Dann werden wir uns vielleicht nach jemandem umschauen müssen, der es kann.« Brody verspürte plötzlich große Lust, sich seine Dienstmarke abzureißen, seinen Revolver loszugürten und dem Bürgermeister auf den Schreibtisch zu knallen. Wenigstens würde sich Ellen sehr darüber freuen, bis er zum Stadtgelächter wurde ... »Gewiß«, sagte er. »Sie können ja Jepps anstellen ... nachdem ich ihn von der Angel gelassen habe.« »Und das sollten Sie - nach dem, was Sie mir erzählt haben lieber sehr bald tun.« »Was soll das heißen?« »Sie stehen im Wege. Moscotti könnte versuchen, Sie aus dem Wege zu schaffen. Und zwar auf die harte Tour.« Noch eine Drohung. Er würde sich wahrscheinlich daran gewöhnen müssen. »Das könnte er allerdings, Larry. Schaffen wir also das Casino aus der Stadt, ja?« »Damit die Stadt wieder am Arsch ist?« Len Hendricks klopfte an und trat ein. Er grüßte Brody mit militärischem Schliff. Ein Marinehubschrauber war ganz in der Nähe mitten in der Stadt gelandet. War das nicht irgendwie illegal oder verboten? Oder machte man bei staatlichen Flugzeugen eine Ausnahme? Brody folgte ihm hinaus, um die Sache zu untersuchen. Wenigstens hatte er dieses Mal noch nicht seine Dienstmarke zurückgegeben. Brody schob sich durch die Menge, die sich um einen blaugrauen Hubschrauber mitten auf der Wiese angesammelt hatte. Er sah sich einem Marinepiloten mit lockigem Haar gegenüber. Zwei goldene Eichenblätter leuchteten auf dem Kragen seines Khakihemdes. -1 4 1 -
Der letzte Hubschrauber, den Brody aus der Nähe gesehen hatte, war jener gewesen, der ihm am Sonntag am Strand begegnet war und ihm Sand ins Gesicht geweht hatte, und dieser hier hatte nun ein halbes Dutzend Reihen von Azaleen zerstört, die Minnie Eldridge im Frühjahr 1958 gepflanzt hatte. Brody schüttelte den Kopf. »Hören Sie, Herr Major, oder was Sie sonst sein mögen ...« Der Pilot streckte ihm die Hand entgegen. Er hatte unschuldsvolle braune Augen und ein freundliches Lächeln. »Kapitänleutnant Chip Chaffey, Hubschrauberüberwachungsdienst, Quonset.« Brody ignorierte die ausgestreckte Hand, nickte kühl und fragte ihn, warum er glaube, hier mitten auf einem Blumenbeet in der Stadt landen zu dürfen. »Es handelt sich um eine offizielle Angelegenheit, die die hiesige Polizei betrifft, und ...« »Würden Sie im Central Park landen, wenn Sie jemanden von der New Yorker Polizei sprechen wollten?« »Nein, Sir.« Nachdem diese Autoritätsfrage den herumstehenden Einwohnern gegenüber einmal klargestellt war, beschloß Brody, ihn nicht zu verhaften. Der Kapitänleutnant erbat die Hilfe einer Strandpolizeistreife, um nach den Leichen der beiden gestern vermißt gemeldeten Männer der Hubschraubermannschaft zu suchen. Brody machte ihm klar, daß der Herr Kapitänleutnant bereits fünfzig Prozent der gesamten Polizeitruppe in der Gestalt seiner selbst und des Wachtmeisters Hendricks vor sich habe, und dann fragte er ihn, ob es nicht einfacher gewesen wäre, sein Anliegen per Telefon vorzubringen, anstatt das einzige Blumenbeet, das die Stadt Amity zierte, zu zerstören? »Es tut mir leid, Sir«, sagte der Pilot und entwaffnete ihn so noch mehr. Der letzte Mensch mit goldenen Eichenblättern, der zu ihm gesprochen hatte, war nicht höflich gewesen, hatte ihn
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nicht Sir, sondern einen blöden Trottel genannt, weil er sein Gewehr auf dem Exerzierplatz hatte fallen lassen. Der Pilot fuhr fort: »Ich hätte gern jemand ausfindig gemacht, der den Hubschrauber vor dem Unfall am Strand gesehen haben könnte.« »Mein Sohn«, meldete Brody. Er schickte Len Hendricks mit dem Kapitänleutnant zu sich nach Hause und fuhr in seinem Buggy an den Strand, um nach Hubschrauberopfern, Taucheropfern, Explosionsopfern oder weiß der Teufel was für anderen Opfern noch Ausschau zu halten. Dieser Sommer könnte sich als noch schlimmer erweisen als der des Katastrophenjahres. Ellen Brody schenkte Len Hendricks und dem Hubschrauberpiloten im Wohnzimmer Kaffee ein. Sie blickte zu ihrem ältesten Sohn hin, aber er wandte sich ab. Seltsam, sehr, sehr seltsam. Sie hatte äußerst empfindliche Gefühlsantennen für ihre beiden Söhne, aber für Mike noch mehr als für Sean, weil sie ihn länger kannte. Und nun war sie sicher, daß Mike irgend etwas vor dem freundlichen Mann mit den goldenen Flügeln verbarg. »Nein, Mike«, sagte der Pilot. »Ich glaube nicht, daß sie euch extra nachgeflogen wären, wenn es nur eine kleine Balgerei war. Sie müssen schon gefürchtet haben, daß einer von euch am Ertrinken war ...« »Das muß man sich erst einmal vorstellen«, meinte Ellen. »Die Jungens sind mit Flossen geboren und sind geschwommen, bevor sie gehen konnten.« Der Pilot blickte sie an. Sie schien ihm sichtlich zu gefallen, und sie hatte es bereits in dem Augenblick bemerkt, als er mit Len Hendricks an der Tür erschienen war. Sie war daran gewöhnt, aber es war immer wieder nett, zu wissen, daß jemand sie mit solchen Augen ansah. Als sie noch jung war, waren die Marineoffiziere sogar vom Marinehafen von Brooklyn bis in ihr Heim in Pelham -1 4 3 -
geschwärmt, und die Piloten waren immer die Kühnsten unter ihnen gewesen. Dieser hier hatte ein warmes und zärtliches Lächeln für sie. Und natürlich hatte er nicht die leiseste Ahnung, daß Mike aus irgendeinem Grund etwas vor ihm verbarg. Sie fragte sich nur, warum. »Dann waren also du und dieser Larry die einzigen, die ihn gesehen haben?« sagte der Kapitänleutnant. Mike wurde rot. »Ach, da war auch noch Andy Nicholas ...« Der Pilot schrieb sich den Namen auf. »Und Jackie?« fragte ihn Ellen. »Was ist mit Jackie? Sie hat doch schließlich auch Augen im Kopf?« »Jackie. Das hatte ich ganz vergessen.« Vergessen! Mach mir doch nichts vor. »Jackie?« fragte der Pilot. »Jackie Angelo«, stammelte Mike. »Ihr Vater ist Bulle.« »Ein Polizist«, verbesserte Ellen automatisch. Sie sah Mike neugierig an. Hatte er Angst vor Dick Angelo? Hatte Jackie vielleicht keine Erlaubnis, schwimmen zu gehen? Oder was hatten die beiden da draußen sonst noch getrieben? Die dreiunddreißigjährige Ellen hatte plötzlich den Eindruck, ihren fünfzehnjährigen Sohn nicht mehr zu verstehen. Aber der Pilot schien zufrieden mit dieser Auskunft. »Okay. Wir werden sie nicht behelligen.« Er klappte sein Notizbuch zu. »Mike, weißt du, wo das Wrack der Orca liegt?« »Und ob er das weiß!« seufzte Ellen. »Mein Vater war an Bord, als sie unterging«, sagte Mike ziemlich stolz. Der Kapitänleutnant hatte eine Theorie. Er kannte den Piloten aus dem Vietnamkrieg und war oft mit ihm geflogen. Er war ein guter Pilot. Der Sonarmann dagegen war unerfahren. Falls dieser nun gepatzt hatte und seine Kugel zu tief schleppen ließ, hätte sie sich im Oberbau der Orca verfangen können. Und es
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mußte die Orca sein, denn sie war das einzige Wrack, das auf den Seekarten verzeichnet war. Wenn man nun die Kugel ausfindig machte und herausfand, wo sie sich auf dem Meeresgrund verfangen hatte, könnte man damit eines Tages das Leben eines anderen Hubschrauberpiloten retten. Mikes Gesicht strahlte auf. Er erzählte dem Piloten von seiner Taucherschule. Vielleicht würde ihr Lehrer Andrews sie das Wrack absuchen lassen. Ellens Herz setzte aus. Bisher hatte sie sich nur vorgestellt, wie ihr Sohn unter der Anleitung eines fähigen Trainers auf dem gefahrlosen sandigen Meeresgrund herumkroch, aber der Gedanke, daß er auf dem Wrack des Schiffes herumkletterte, wo sein Vater fast sein Leben gelassen hatte, war entschieden etwas anderes. Der Pilot schüttelte den Kopf. Mikes Vorschlag schien ihn sehr zu belustigen, aber er sagte, sie würden ein UDT - was immer das bedeuten sollte - aus Quonset einsetzen. Ellen begleitete ihn zur Tür. Als sie ihn fragte, ob das Hubschrauberteam seiner Meinung nach noch am Leben sein könnte, sagte er kurz: »Nein. Jetzt nicht mehr. Sie waren zu lange im Wasser, auch wenn wir sie noch finden würden.« So war also der freundliche Gruß, mit dem er Mike zugewinkt hatte, seine letzte Verbindung zur Welt der Lebenden gewesen. Selbst Ellen empfand ein seltsames Gefühl bei diesem Gedanken, und Mike mußte es bestimmt noch stärker empfunden haben. Vielleicht war es das, was ihn quälte. Als Len mit dem Piloten abgefahren war, erschien Mike an einem Apfel kauend auf der Vorderveranda. »Was ist ein UDT?« fragte sie ihn. »Unterwasser-Demolierungsteam«, erklärte er herablassend. Sie fragte ihn, ob er sich wegen des Hubschraubers Sorgen mache. »Du weißt doch, daß es nicht deine Schuld war.«
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Er kaute nachdenklich. »Immerhin, falls der Mann zu uns rübergeflogen ist, um zu sehen, ob wir Hilfe brauchten, und dabei das Ding in die Orca hat hängen lassen, dann ist es irgendwie doch meine Schuld, nicht wahr?« Typisch für die frühere katholische Erziehung. Suche nach Schuld und Beichte. »Das ist dumm. Und du weißt es.« »Allerdings, siehst du, muß es doch danach ausgesehen haben ... Na schön, wir haben uns eben nicht nur einfach so rumgebalgt ...« Er starrte die Bayberry Lane hinunter. »Donnerwetter!« Sie folgte seinem Blick. Ein niedriger, gelber, spiegelblank blitzender, tödlich aussehender Sportwagen fuhr unter den Bäumen die Straße entlang. Er hielt vor ihrer Tür. »Ferrari 246«, verkündete Mike. »Diese Kiste ist gut ihre 20000 Dollar wert!« Aus dem Fenster des Beisitzes ragte hoch und lang eine der Familie Brody nur allzu wohlbekannte Angelrute heraus. Der jüngste Sohn stieg aus und zog seine Angelrute nach. Während sie noch auf den Wagen starrten, öffnete sich die Tür des Fahrers, und ein breitschultriger, massiv gebauter Mann stieg aus. Zuerst hatte sie ihn noch nicht erkannt, obgleich Brody ihn ihr eines Abends im Restaurant der Abelard Arms gezeigt hatte. Aber jetzt trug er Bermudashorts und ein Sporthemd und keinen Anzug, und deshalb brauchte sie einen Augenblick, um den Mann zu erkennen, der mit seinem seltsam schleppenden Gang, dem er seinen Spitznamen Shuffles verdankte, auf das Haus zukam. Sean ignorierte seine Mutter, warf seine Angelrute auf die Wiese und ging direkt zur Garage zu Sammy. Mike trat heraus, um sich den Wagen besser anzusehen. Der Mann stand vor dem Haus. »Mrs. Brody? Ellen?« Sie versteifte sich. »Ja?« Ihre Stimme zitterte. Das Unglaubliche der Situation begann erst langsam in ihr aufzudämmern. -1 4 6 -
Der Mann lächelte, entblößte seine gelblichen Zähne, unter denen ein goldener Eckzahn aufblitzte. Der Kopf war für den Körper zu groß, und die Ohren waren zu groß für den Kopf, und sein graues Haar war wie eine Löwenmähne. Es war Moscotti. Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie nahm sie automatisch. Seine Hand fühlte sich weich und naß an, aber der Griff war fest wie eine zuschnappende Falle. Sie wollte ihre Hand zurückziehen und starrte ihm dabei in seine kalten schwarzen Augen wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert wird. »Ist der Chef zu Haus?« fragte er. »Nein. Ja. Er muß jeden Augenblick zurück sein.« »So, so. Na ja. Ich und Sean, wir haben eine schöne Spazierfahrt gemacht. Haben uns über die Wölflinge unterhalten und über die Regatta. Sie wissen ja - so über Stadtangelegenheiten.« Er grinste. Es gelang ihr, ihre Hand zu befreien, und sie fühlte sich schmutzig. Er beobachtete sie mit hämischem Vergnügen. »Na schön, Mrs. Brody. Kommen Sie nicht ins Schwitzen. Ich wollte nur eben Ihrem Mann etwas sagen - ihm einen kleinen Rat geben.« Sie brachte kein Wort hervor. Sie hatte Angst, daß sie wie ein erschreckter Sperling piepsen würde, wenn er so zu ihr weiterredete. »Als ich angehalten hab', ist der kleine Sean gleich eingestiegen. Sie sollten Ihren Kindern sagen, daß so was gefährlich sein kann.« Sean wußte das genau, und er hätte es auch nie getan, wenn ihn der Wagen nicht so beeindruckt hätte, und bei Gott, wenn sie erst einmal mit ihm fertig war, würde so etwas nie wieder vorkommen. »Sie tun es auch nicht«, gelang es ihr zu sagen. »Ich hab' es ihnen ausdrücklich verboten.« »Das ist nett«, sagte er lächelnd. »Da hält er mich wenigstens nicht für einen Fremden.« Er drehte sich um, ging zu Mike an den Wagen, klopfte ihm väterlich auf die Schulter und ließ sich -1 4 7 -
hinter das Steuer gleiten. Dann machte er die Tür zu, streckte sein bulliges Gesicht aus dem Fenster und sagte mit lauter Stimme: »Man kann eben nie wissen, wer sie sonst eines Tages mitnimmt.« Dann startete er den Wagen. Der Motor hatte ein dumpf dröhnendes Geräusch und klang wie eine weitab heruntergehende Lawine, die sie einst mit ihrem Vater in den österreichischen Alpen gehört hatte. Er beschleunigte das Tempo und fuhr mit sechzig Stundenkilometern um die Ecke. Jetzt konnte sie nicht mehr an sich halten. »Sean!« schrie sie. Er erschien mit einem Eimer in der Hand an der Garagentür und sah verärgert aus. Er wußte Bescheid. Er wurde bleich, als er ihr Gesicht sah, und stieß ein fragendes Piepsen hervor. »Komm hierher!« rief sie. »Auf der Stelle!« Er kam zögernd über den Rasen. »Ich ...« Sie trat ihm vor der Veranda entgegen. »Hab' ich dir nicht gesagt, daß du mir nie, nie, nie ...« »Ich hatte es vergessen«, rief er weinerlich. »Und außerdem hast du ja Johnny Moscotti bei den Wölflingen aufgenommen ...« Sie schlug ihn hart, so wie es sonst nur die Mütter im Armenviertel von Neapel tun. Er war noch nie in seinem Leben ins Gesicht geschlagen worden und starrte sie stumm und entsetzt an. Da schrie er plötzlich: »Das werde ich Daddy sagen!« Dann wirbelte er herum und rannte hinter das Haus und zum Schlammufer des Amity Sound. »Sean!« rief sie ihm mit schwacher Stimme nach. »Liebling, komm zurück!« Er war fort. Sammy hustete in der Garage. Das stampfende Rattern der Fähre von Amity Neck kam näher. Mike trat von der Straße auf die Veranda und blickte sie besorgt an, als ob sie den Verstand verloren hätte.
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Sie stürzte die Treppe hinauf ins Badezimmer. Sie konnte kaum ihr eigenes Gesicht im Spiegel erkennen. Dann begann sie, sich Moscottis Berührung von der Hand waschen. Yak-Yak Hyman prüfte den Bestand an lebenden Ködern in seinem Laden und beschloß, die Gläser wieder aufzufüllen, für den Fall, daß die Dorsche wiederkämen. Er ging zur Hafenmole, wo die Köderkästen im Wasser an den Pfählen befestigt waren. Er stand oberhalb der Polizeibarkasse und schaute Dick Angelo zu, der sich gerade am Motor zu schaffen machte. Angelo blickte auf. »Tag, Yak-Yak. Ich glaube, ich hab' es endlich gefunden.« Yak-Yak überlegte sich, ob er nicken sollte, entschied sich jedoch dagegen. Denn das könnte dazu führen, daß Angelo in seinen Laden käme, um sich nach der Motorreparatur bei ihm die Zeit zu vertreiben, und dann würde er ihn wahrscheinlich auch noch um ein Bier bitten oder um einen der Krebse, die Yak-Yak sich auf illegale Art im Hafen gefischt hatte, was Angelo schon seit langem vermutete. Zum Teufel mit Angelo. Zum Teufel mit allen Bullen. Zum Teufel mit Rockland, Maine, wo ihn die Gewerkschaft vor Jahren einmal dazu ausersehen hatte, dem Senator Muskie eine Willkommensrede zu halten, die er stammelnd begonnen und dann völlig vergessen hatte - die Blamage war furchtbar gewesen -, mit puterrotem Gesicht hatte er vom Rednerpult abtreten müssen. Zum Teufel mit den Krabbenfischern von Penobscot Bay, deren Gelächter ihn aus der Stadt vertrieben hatte. Vor allem aber zum Teufel mit Amity, wo alle mit diesem scheußlichen New Yorker Akzent sprachen, den er nicht ausstehen konnte, und wo keiner nach all den Jahren sein klares Ostküsten-Amerikanisch mehr verstand. Er starrte auf seine Köderkästen. Es planschte energisch in ihnen, weil die silberglänzenden Meerbarben aus irgendeinem Grunde ganz aufgeregt herumzuhüpfen begannen. Wahrscheinlich war ein Bonito oder ein großer Seebarsch im Hafen. -1 4 9 -
Er kletterte mühsam über das Gitter und stieg die Holzstufen hinab, die er vor vier Jahren an die großen Pfeiler genagelt hatte. Auf halbem Wege hielt er inne und starrte ins Wasser. Der fein säuberlich an den Kiemen abgetrennte Kopf eines Dorsches schwamm auf der öligen Wasseroberfläche und wurde von der Flut an den Köderkasten geworfen. Er lehnte sich hinüber und schnappte ihn mit seinem Ködernetz. Er war ganz frisch, wenigstens zu frisch für sein Vorhaben. Er stieg wieder hinauf, ging bis ans Ende des Hafendocks und blickte sich argwöhnisch um. Schließlich fand er die gelbe Nylonschnur, die er schlauerweise in einer Spalte eines Pfeilers versteckt hatte. Mit ihr zog er vom Grund eine von Schlamm tropfende Krebsfalle herauf. Sie war leer, aber der Köder war bereits so verfault, daß nicht einmal ein Krebs aus Amity ihn anrühren würde. Dann betrachtete er den Fischkopf in seinem Netz. Er war zwar noch so frisch, daß er ihn selbst hätte essen können, aber bald würde er den nötigen Fäulnisgrad erreicht haben. Er warf ihn in das Krebsnetz und ließ es wieder auf den Grund hinunter. Wahrscheinlich hatten ein paar Fischer diesen Kopf mit einem scharfen Messer abgetrennt und wollten ihn als Köder oder vielleicht auch zum Kochen verwenden. Und dann war er ihnen wohl ausgerutscht. Des einen Verlust ist immer eines anderen Gewinn. So ist es nun einmal im Ozean. Er schaute über den Hafen. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß sich im ganzen Umkreis kein einziges Lebewesen mehr im Wasser befand. Heute abend würde niemand zum Angeln kommen, nicht einmal Sean Brody, der seit der großen Dorschinvasion jeden Tag pünktlich wie die Uhr erschienen war. Es hatte also keinen Sinn, den Ködervorrat im Laden aufzufrischen. Dick Angelo stieg mit seinem Werkzeugkasten aus dem Boot. Yak-Yak sah ihm nach, wie er in den Polizeijeep stieg und über die Planken davonrumpelte. Die Gefahr eines möglichen Gesprächs hatte sich vorläufig verzogen. -1 5 0 -
Jetzt kam der Nebel wieder herein. Nicht der brutale und handfeste Nebel der Küste von Penobscot, sondern der zarte New Yorker Nebel, der wahrscheinlich voller Mikroben war. Am liebsten hätte er seinen Laden zugemacht, aber wohin sollte er sonst gehen? Es gab nur noch die lärmende Bar mit ihrem ständigen Geschwätz im >Wilden Bären<. Er trat in seine Bude und zog eine Schublade voller durcheinander liegender Angelhaken heraus. Ganz hinten lag eine Flasche Jamaica-Rum. Dann nahm er sich eine Nummer des >Playboy<-Magazins vor, das jemand bei den Docks hatte liegenlassen. Er blätterte die Seiten durch und schüttelte den Kopf beim Anblick all der nackten Mädchen. Unglaublich, was die Leute sich heutzutage alles kauften. Er begann an der Flasche zu nippen. Brody parkte den Buggy vor seinem Haus, zwängte sich müde hinter dem Steuer hervor und erblickte seinen jüngsten Sohn, der wie ein Häufchen Unglück auf den Stufen der Vorderveranda hockte. Gott sei Dank hatte er keine Leichen am Strand gefunden. Der Hubschrauberpilot und sein Sonarmann mußten entweder untergegangen oder auf die See hinausgeschwemmt worden sein. Sean, der ihm normalerweise entgegengelaufen wäre, um ihm die neuesten Nachrichten des Tages zu erzählen, sah ihn nur bedrückt an. »Na, wo fehlt's denn heute, Junge?« fragte ihn Brody. Sean wies mit dem Kopf zur Tür. »Frag die da drinnen doch mal! Dad? Darf sie einen einfach verhauen?« Seine Stimme zitterte. Brody lächelte. »Ich denke, das darf sie schon. Was hast du denn angestellt?« »Ich meine, darf sie einem ins Gesicht schlagen?« Brody versteifte sich. Sean hatte ihn bisher nie angelogen. »Nimm dich in acht, Söhnchen ...«
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Sean hob die Augen, und sie blickten hoffnungslos drein. Dann sprang er plötzlich auf und rannte zur Garage. Brody trat erwartungsvoll ins Haus. Drinnen war die Atmosphäre aufs äußerste gespannt. Mike versuchte, sich dem allem durch Lärmentwicklung zu entziehen. Er lag vor dem Fernseher, der auf volle Lautstärke eingestellt war, und neben ihm plärrte sein Transistorradio. Er blätterte in einer seiner Taucherzeitschriften. »Wo ist deine Mutter?« fragte Brody durch den Lärm. Mike wies mit dem Daumen nach oben. Brody nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinaufeilte. Sie saß am Schlafzimmerfenster und schaute auf den Amity Sound hinaus. »Was geht hier eigentlich vor?« fragte er. Sie drehte sich um. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Hat er es dir gesagt?« Er legte ihr den Arm um die Schulter. »Na, komm schon. Du hast ihm doch schon öfter mal einen Klaps gegeben.« »Hat er gesagt, ich hätte ihm einen Klaps gegeben?« »Nein. Eine Ohrfeige. Aber ich habe es ihm nicht geglaubt.« »Aber ich habe ihm ins Gesicht geschlagen. Wie ein verdammtes Fischweib!« Er konnte es nicht glauben. »Was hat er denn nur angestellt?« Sie sagte es ihm. Brody hatte das Gefühl, daß ihm die Beine schwach wurden. »Eine Drohung? Glaubst du das wirklich?« stammelte er. Sie starrte ihn an. »Gestern abend hat Peterson dich gewarnt. Und heute hat der einzige Gangsterboß aus dieser Gegend Sean aufgelesen. Natürlich ist das eine Drohung!« Er blickte über den Amity Sound. Es war ein herrlicher Sonnenuntergang. Die Häuser von Cape Cod waren mit der Rückseite zum Wasser gebaut, denn sie stammten aus einer Zeit, als der Blick aufs Meer niemandem etwas bedeutete und man es vorzog, die Vorderansicht der Straße zuzuwenden. Der -1 5 2 -
Sand am Ufer glänzte golden, und hinter den Dünen stiegen die schwarzen Schatten auf. Das goldene Kreuz auf dem Kirchturm von St. Xaviers war der letzte Punkt der Stadt, den die untergehende Sonne beschien, und es bekam gerade seinen Gutenachtkuß. Donnerwetter, schließlich war die Kanone an seinem Gürtel nicht aus Holz, und das Abzeichen am Hemd war keine Spielmarke. Ein dahergelaufener billiger Gangster konnte ihm oder irgendwem in Amity keine Angst einjagen. »Ich will verdammt sein«, schnaufte er, »wenn ich so etwas hier zulasse!« Er stürmte aus dem Zimmer die Treppe hinunter. »Brody!« hörte er sie rufen. »Brody, komm zurück!« Er war schon im Wagen und auf dem Wege nach Vista Knoll, wo Moscotti seinen alten Prachtbau hatte, als er sich fragte, was er nun eigentlich zu tun beabsichtigte. Er fuhr weiter. Das konnte er immer noch entscheiden, wenn er diesem Halunken allein gegenüberstand. Lena Starbuck bemühte sich schon den ganzen Nachmittag lang, ihren Mut zusammenzunehmen. Sie hatte zufällig gehört, wie Mike Brody am Nachmittag Angela erzählt hatte, daß die Froschmänner der Marine das Wrack der Orca absuchen würden. Ihr Bruder war während des zweiten Weltkrieges als Matrose der Kriegsmarine an Lungenentzündung im Marinehafen von Boston gestorben. An ihn dachte sie, als sie nach zwei vergeblichen Versuchen schließlich Nathaniel von den Plänen der Marine, die Orca abzusuchen, erzählt hatte. Er hatte sie nur kurz angeschaut und dann achselzuckend und völlig ruhig gesagt: »Ist doch nicht dein Problem?« »Aber, Nate«, hatte sie dann eilig hinzugeflüstert. »Sie wollen morgen früh tauchen und wissen doch gar nicht, daß er immer noch da ist.« »Wenn sie's auf die schwere Tour rausfinden«, hatte er zurückgegrinst, »dann werden sie ihr Geschäft wahrscheinlich aufgeben müssen. Genau wie wir. Lena, ein Kunde ist da.« -1 5 3 -
Jetzt, wo es Abendessenszeit war und niemand mehr in den Laden kam, beschloß sie, einen letzten Versuch zu wagen. Nur einmal im Leben hatte sie bisher versucht, ihm mit irgend etwas zu drohen. Vor vielen Jahren hatte sie ihm jeden sexuellen Dienst verweigert, als er ihren Neffen entlassen wollte. Aber das hatte ihn nur in die Arme einer portugiesischen Hure getrieben, eines langhaarigen, dicken Geschöpfes, das offiziell als Kellnerin in Cys Imbißstube arbeitete. Lena wandte sich noch einmal an ihren Mann. »Nathaniel, wir müssen es jemandem sagen!« »Wem denn, verdammt noch mal?« »Brody.« »Brody«, lachte Starbuck bitter. »Brody weiß sehr gut, daß der Hai noch da ist. Oder zumindest, daß er noch lebt.« »Dann Larry Vaughan.« »Der weiß es wahrscheinlich auch.« »Dann Harry Meadows.« »Der wird es nicht drucken.« »Das wird er aber tun müssen, wenn du ihm sagst, daß du es sonst an die Long Island Press weitergibst, oder so was ähnliches. Und du mußt ihm auch den Film zeigen.« »Dazu ist es zu spät. Und außerdem habe ich den Film verbrannt.« Das war eine ausgestunkene Lüge. Nathaniel verbrannte nie etwas und warf nie etwas fort. Der Keller der Apotheke war voller Dinge, für die er eines Tages wieder irgendeine Verwendung zu finden hoffte. Der Film lag bestimmt in seinem Safe mit dem Morphium, dem Kokain und Seconal - dessen war sie sicher -, denn Starbuck fürchtete noch immer den Einbruch eines Drogensüchtigen und schloß alle Drogen, die einen Junkie reizen könnten, jeden Abend mit großer Vorsicht ein.
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»Du mußt es auf jeden Fall Larry Vaughan sagen«, wiederholte sie mit Beharrlichkeit. »Er ist der Bürgermeister, und falls etwas passiert, ist es dann nicht deine Schuld.« »Ich werde es Larry sagen, nachdem er unseren Laden verkauft hat«, sagte er grimmig. »Nun geh schon; du hast einen Kunden. Nimm ihm sein Geld ab, und überlasse mir den Hai.« Sie ging an die Kasse. Als sie zurückkam, hockte er in der hinteren Ladenecke. Er änderte die Zahlenkombination an seinem Safe. In den Hügeln hinter Amity Beach lagen einige Ferienhäuser, die Brody fast jeden Sommer mindestens drei- bis viermal zu schaffen machten. Einige dieser verwitterten Strandhäuser schienen geradezu alle Arten von Ärger und Spannungen heraufzubeschwören, ganz gleich wer sie mietete oder besaß. Andere wieder waren ihm nur dem Namen nach bekannt, und er hatte bisher nie Gelegenheit gehabt, sie zu besuchen. Moscottis Haus gehörte zu dieser friedlichen Kategorie. Seit dem Tode des ursprünglichen Besitzers, des damaligen einzigen Arztes der Stadt, Dr. Roger Ruskin, war Brody nicht mehr die lange, kurvenreiche Straße nach Vista Knoll hinaufgefahren. Vielleicht beschränkte Moscotti seine Gangstertätigkeit auf den Winter, wenn er in Queens war, denn hier in Amity wurde sein Haus mit der gleichen tugendhaften Sorgfalt geführt wie das des Pastors Wickham von der presbyterianischen Kirche. Er parkte vor dem stattlichen Gebäude im gut beleuchteten Vorhof. Moscottis neueste Errungenschaft, der Ferrari, stand in seinem Scheinwerferlicht. Brody fühlte fast Verständnis für seinen Sohn Sean, denn er wäre selbst sehr gern darin gefahren. Drinnen bellte ein Hund. Brody drückte auf die Klingel. Ein melodiöses Glockenspiel erklang. Die Tür wurde geöffnet. Ein zehnjähriger Junge mit Moscottis großem Mund, abstehenden Ohren, dafür aber mit sanften italienischen Augen blickte zu ihm auf. Brody hatte ihn bisher noch nie bemerkt, aber das mußte Johnny, Mitglied der Wölflingstruppe von Amity, sein. -1 5 5 -
Brody war überrascht. Er hätte erwartet, von der versammelten Mafia von Queens kampfbereit empfangen zu werden, und hier war nun dieser kleine Junge, der ihn anlächelte, und es war ein durchaus ehrliches und freundliches Lächeln. »Er sitzt vor dem Fernseher. Wollen Sie nicht hereinkommen?« Die Moscottis hatten Dr. Ruskins Mobiliar übernommen, und die Hauseinrichtung hatte sich kaum verändert. Ein paar alte Ledersessel und abgenutzte Rohrstühle standen herum. Eine schlampig aussehende Frau in einem teuren Hosenanzug hockte vor der Stereoanlage und suchte sich Schallplatten aus. Sie erhob sich etwas und kam Brody entgegen. »Polizeichef Brody! Nehmen Sie doch bitte Platz.« Brody schüttelte den Kopf und erklärte ihr, er sei nicht auf Besuch hier, sondern wünsche ihren Mann zu sprechen. Es war offensichtlich, daß Moscotti bei sich zu Hause nicht von seinen Geschäften sprach, denn sonst hätte sie bestimmt gewußt, warum er hier war. Moscotti öffnete die Tür des ehemaligen Konsultationszimmers. Er bat Brody herein. Der Gangster hatte dieses Zimmer in eine Art von persönlichem Aufenthaltsraum umgebaut. Bücher standen an den Wänden, ein riesiger Schreibtisch ragte aus einer Ecke, und vor dem Fernsehapparat stand ein protziger, weicher Sessel. Neben diesem Sessel stand ein kleinerer, auf dem ein etwas schwerfällig aussehender, pausbäckiger junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren saß. Er trug einen stattlichen Schnurrbart, und sein Gesicht war ziemlich rot. Er schien das Fernsehprogramm sehr zu genießen. Moscotti stellte das Gerät leiser. Der Riese schien es nicht einmal bemerkt zu haben. »Ein Trottel«, erklärte Moscotti. »Ein Neffe aus Palermo. Spricht nicht italienisch, spricht nicht englisch, versteht überhaupt nix, und niemand hat mir nix gesagt.« Er zuckte die Schultern. »Die Verwandtschaft. Was soll ich da machen?« »Lassen Sie Ihre schmierigen Finger von meinem Kind!« platzte Brody heraus. -1 5 6 -
Der Gangster riß die Augen auf. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, schwang sich in seinem Drehstuhl herum und wandte Brody den Rücken zu, während er sich aus dem Büchergestell hinter ihm eine Pfeife holte. Als er sich wieder umdrehte, lächelte er, und sein Goldzahn blitzte. Aber seine Augen waren hart wie Stahl. »Na so was. Ich dachte, Sie seien gekommen, um sich bei mir zu bedanken.« »Wofür? Daß er überhaupt nach Hause gekommen ist?« Moscotti sah ihn prüfend an. »Der arme kleine Kerl mit dieser entsetzlich langen Angelrute.« »Die kann er sehr gut alleine tragen.« »Ich wollte mich ja nur als freundlich erweisen.« »Seit wie lange verbringen Sie Ihren Sommer hier?« fragte Brody barsch. »Drei Jahre«, grinste Moscotti. Aber es war kein gemütliches Grinsen. »Drei lustige, fröhliche Jahre im sonnigen Amity.« »Und nach drei Jahren verspüren Sie plötzlich das Bedürfnis zu dieser freundlichen Geste, ausgerechnet am Abend, an dem Sie erfahren haben, daß Ihr Casino vielleicht kein Casino werden wird ...« »Mein Casino? Hören Sie mal, ich habe kein Casino.« Er schnaufte. »Glauben Sie vielleicht, die Herren in Albany würden es mir erlauben, ein Casino zu haben?« »Wie gesagt ... Ihr Casino wird vielleicht kein Casino, weil ich bei den Behörden Stunk mache, und ausgerechnet in dem Augenblick werden Sie freundlich? Quatsch mit Soße!« »Es ist doch komisch«, bemerkte Moscotti und blickte auf die Rauchwolke, die seiner Pfeife entströmte. »Das Casino sollte den Hai begraben und die Stadt retten. Hab' ich recht? Mir hat jeder gesagt, daß Amity ein Casino haben will.« »Gewiß. Solange das Geld der Chase Manhattan Bank dahintersteht. Aber nicht Ihr Geld.« »Ach du liebe Zeit!« Moscotti brach in Gelächter aus. Er zog seine Schublade heraus und warf ein paar Bündel Hundertdollarscheine auf den Tisch. Sie steckten in Papierbinden, und auf jeder dieser Binden stand Chase Manhattan Bank. »Ist das hier etwa nicht das Geld der Chase -1 5 7 -
Manhattan Bank? Sehen Sie mal, Brody, vielleicht haben Sie es noch nicht mitgekriegt. Die Chase Manhattan will Garantien, wie Aktienzertifikate, Hypotheken, einen teuren Wagen, kurz ... sie will etwas mit Hand und Fuß, und Peterson hat das alles nicht. Er hat nichts zu bieten. Und ich, ich habe Vertrauen in die Leute. Und außerdem ...« Er zuckte die Schultern. »Und außerdem ein bißchen Geld.« »Schmutziges Geld.« Moscotti gähnte. Er nahm ein Bündel Dollarscheine in die Hand und besah sie. »Ich sehe keinen Schmutz daran.« Er schob es über den Schreibtisch zu Brody hinüber. »Sehen Sie Schmutz daran? Nehmen Sie es mit nach Hause, und schauen' Sie sich's dort genau an.« »Sie Scheißkerl«, brummte Brody. »Nehmen Sie es sich gefälligst wieder nach Queens mit. Wir wollen es hier nicht.« »Wen meinen Sie mit >wir« »Amity.« »Amity? Wissen Sie denn überhaupt, was Amity ist?« Moscotti streckte sich und gähnte wieder. »Ein lahmarschiger Bürgermeister, der sich nicht entschließen kann, ob er ehrlich bleiben oder seine miesen kleinen Gaunergeschäfte machen soll. Ein halbes Dutzend sogenannter Stadträte, die ich nicht einmal in einem Beerdigungsinstitut beschäftigen würde. Zwanzig sogenannte Geschäftsleute, die kaum dazu taugen, auf einem Kinderfest Luftballons zu verkaufen. Und ein paar hundert armselige Schlucker, die genau wissen, daß sie in einem Monat wieder nach ihren Kammuscheln graben müssen, falls es mit dem Casino nichts wird.« Er ging zum Fernseher zurück und stellte auf höhere Lautstärke ein. »Und der Herr Polizeichef? Verdammt noch mal, Sie haben's ja nicht einmal fertiggebracht, den Strand zu schließen, als der Hai sich die Feriengäste schneller schnappte, als die Eisenbahn sie herbringen konnte.« Er lächelte. »Das ist Amity.« »Diese Stadt ist mit dem Hai fertig geworden«, erwiderte Brody grimmig. »Sie hat mehr Wirbelstürme überlebt, als Sie sich ausdenken können, sie ist mit den Blizzards von 88 und 77 fertig geworden, mit dem Börsenkrach und Benzinrationierung -1 5 8 -
im Kriege, und sie wird auch mit Ihnen fertig werden, Moscotti, und wenn wir auch dafür Ihr gottverdammtes Casino in die Luft sprengen müssen!« »Das ist aber nett von Ihnen«, murmelte Moscotti und sog an seiner Pfeife. »Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben? Sind Sie deshalb hierhergekommen?« »Nein, lassen Sie sich gefälligst nie mehr vor meinen Kindern blicken.« Brody lehnte sich über den Schreibtisch. »Haben Sie mich verstanden? Hab' ich mich klar ausgedrückt?« Die schwarzen Augen blickten ihn forschend an. »Hören Sie mal, Brody.« »Was?« »Sie nehmen doch im allgemeinen keine Kinder von Sommergästen in der Wölflingstruppe auf. Wer hat Johnny da hereingelassen?« »Das tut hier nichts zur Sache.« »War es Norton oder Ihre Frau? Es war doch wohl Ihre Frau, nicht wahr?« »Sie wollte nicht, daß ein Kind sich benachteiligt fühlt.« »Und was hatten Sie dazu zu sagen?« »Mir hat es nicht gefallen.« »Das hab' ich mir gedacht.« »Na schön. In dem Fall hatte ich mich eben geirrt.« Moscotti lächelte. »Es ist nicht recht, seine Rache an einem Kind auszulassen. Freut mich sehr, daß Sie das begriffen haben. Sie können von Glück reden. Ich würde sagen, da haben Sie ausgesprochenes Schwein.« Er stand auf, öffnete die Tür und wartete. »Übertreiben Sie's nur nicht. Sonst könnte es damit aus sein.« Brody hatte nicht übel Lust, dieses große Maul mit seinem Pistolenknauf zu Brei zu schlagen. Er drehte sich um, stapfte aus dem Haus und ließ seine Wut am Wagen aus, mit dem er in einer viel zu schnellen Fahrt mit quietschenden Reifen die kurvenreiche Straße von Vista Knoll hinunterraste. Bei -1 5 9 -
Spoonakers Creek hätte er beinahe einen armen Sommerspaziergänger in den Straßengraben gejagt. Es war fast ein Wunder, daß er, ohne sich selbst oder jemand anders umzubringen, nach Hause gelangte, und danach hatte er mit Ellen einen stundenlangen Krach, in dem es darum ging, ob er seine Demission einreichen sollte oder nicht.
Achtes Kapitel Brody saß Harry Meadows in Cys Imbißstube gegenüber und sah zu, wie der dicke Zeitungsmann seine morgendliche Zigarre in der halbvollen Kaffeetasse ertränkte. »Sie haben sich eingenistet, Harry«, sagte Brody. »Die Mafia ist hier, und wir beide müssen sie von hier wieder verjagen.« Brody war früh von zu Hause aufgebrochen, um ihn hier zu treffen, wo man wenigstens nicht dem Gestank des Redaktionsverschlages beim Amity Leader ausgesetzt war. Auch hier in Cys Imbißstube war die Luft nicht gerade gut, und es roch nach verbranntem Fett und kaltem Kaffee, aber Harrys Büro war einfach unerträglich. Und außerdem erinnerte es ihn an die angstvollen Stunden, die er während der Katastrophe dort verbracht hatte. Davon hatte er ein für allemal genug. »Über die Sache mit Moscotti habe ich bereits gehört«, rülpste Harry. »Was gibt es sonst noch Neues?« Er rückte auf seinem Stuhl, wobei der Tisch sich quietschend verschob und der Kaffee eines Gastes am Nebentisch überschwappte. »He, Brody, haben Sie schon mal die Bärentatzen hier probiert?« »Nein. Und Sie lassen auch lieber die Finger davon.« Brody blickte auf das gelbe Geschmier der drei Spiegeleier auf Harrys Teller, eine einsame Bratkartoffel, eine Schinkenrinde, Toastkrümel, Marmeladenflecken und Käsereste auf einem Stück Brötchenkruste. »Harry, Sie sind ein entsetzlicher Freßsack!« »Das hab' ich auch schon mal irgendwo gehört, Brody. Tja, wo war es nur noch?«
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»Ihre Frau hat es Ihnen gesagt. Und Ihr Arzt. Und alle Ihre Freunde und Anbeter.« »Und macht es Ihnen was aus?« »Sie bringen sich um mit dieser Fresserei.« Meadows fischte nach der Kartoffel. »Es gibt schlimmere Arten, umzukommen. Man kann im Kofferraum seines Wagens ersticken. Man kann aus einem Bürofenster stürzen. Man kann auch mit der Morgenzeitung in die Luft gehen.« »Hat Moscotti mit Ihnen gesprochen?« »Das braucht er nicht. Und er weiß es.« Meadows rief die Kellnerin und bestellte eine Bärentatze. Brody teilte Meadows nicht ohne Ironie mit, daß er sich des Mutes und der glänzenden Vergangenheit in der Berichterstattung des Leader voll bewußt sei, daß er Meadows Besorgnis für das Wohl der Öffentlichkeit bewundere, und daß er ihm immer noch dafür dankbar sei, während der Katastrophe den ersten Angriff des Haies nicht zu einer Sensationsmeldung gemacht zu haben. Falls aber der Leader dieses Mal nicht half und Vaughan auch nicht half, wer bliebe dann noch übrig? »Niemand. Heh, Mitz! Bringen Sie mir zwei.« Er lächelte Brody an. »Sie sollten mal eine von diesen probieren, aber Sie müssen viel Butter draufstreichen.« »Nein, danke. Harry?« »Hm?« »Bringen Sie es.« »Es ist keine Story. Peterson brauchte Geld. Und da mußte er sich an die Familien wenden. Nachrichtenmaterial ist das nicht.« Mitz kam an den Tisch, schüttelte ihr langes, schönes Haar und lächelte mit ihren lustigen portugiesischen Augen. Sie war die einzige aktive Prostituierte der Stadt, war den ganzen Weg von Providence über den Long Island Sound gekommen, und Amity war fast ein wenig stolz auf sie. Brody fand, daß sie ihr Handwerk wenigstens auf saubere Weise betrieb, denn es waren ihm nie irgendwelche Klagen gekommen. In ihrer Rolle -1 6 1 -
als Kellnerin war sie unauffällig und diskret, und was ihre Kundschaft anbetraf, so schien sie keinerlei Vorurteile zu haben, denn sie empfing ebenso gern den Bürgermeister Vaughan wie den ärmlichen und unscheinbaren Yak-Yak Hyman. Und außerdem war sie die beste Kellnerin in der Stadt. Sie servierte jetzt die Bärentatzen und stellte je einen Teller vor Brody und vor Meadows hin. »Guten Morgen, Brody«, sagte sie in ihrem gedehnten RhodeIsland-Tonfall. »Nun sagen Sie mal, wenn Sie mit dem Kerl essen und sich dabei sehen lassen, warum besuchen Sie mich dann nicht auch mal gelegentlich?« »Rufen Sie mich an, wenn bei Ihnen Ausverkauf ist.« Sie grinste und verschwand. Meadows blickte ihr kauend und schmatzend nach. Dann sagte er: »Sie verjagen ja auch Mitz nicht aus der Stadt. Warum dann Moscotti?« »Das ist eine blöde Frage, Harry.« »Meine Frage ist nicht blöde. Sie sind blöde. Jede Stadt dieser Größe hat ihren Gangster. Pornographische Zeitschriften waren hier schon immer erhältlich. Starbuck verkauft sie ganz unbehelligt. Und nach der Polizeistunde gibt es immer einen Ort, wo man noch hingehen kann, wie das Hinterzimmer im >Wilden Bären<. Da veranstalten Sie ja auch keine Razzia.« »Nein«, gestand Brody. »Wenn es nur vorne in der Bar auch immer so ruhig zugehen würde.« Meadows fuhr fort: »Und wenn die Stadt jetzt ein Spielcasino kriegt, wird hier auch Spielgeld zirkulieren, und das ist mit Bestimmtheit Mafiageld. Darauf können Sie sich verlassen. Und weder Sie noch ich, noch irgendwer kann etwas dagegen tun; das hätte die Stadt sich halt vorher überlegen müssen, bevor sie sich auf dieses Geschäft einließ.« »Ich habe es vorher nicht gewußt.« »Aber ich habe es gewußt. Und Vaughan auch, darauf können Sie Gift nehmen. Und Peterson hat es bestimmt gewußt. Nehmen Sie Las Vegas oder Atlantic City oder Nassau oder Amity - wo gespielt wird, herrscht die Mafia. Punkt.« -1 6 2 -
»Dann müssen wir dafür sorgen, daß das Spielgesetz nicht durchkommt.« »Dazu scheinen Sie bereits auf dem besten Wege zu sein, wenn Sie diesen Jepps noch lange weiter triezen. Wen kennt er eigentlich da oben in Albany?« Brody zuckte die Schultern. »Den staatlichen Polizeikommissar oder sonst irgendein hohes Tier.« »Und Ihnen macht es nichts aus, wenn eines Tages die Ziegen auf der Main Street und der Water Street grasen, solange Sie nur den Kerl hinter Gitter haben?« »Ich weiß nicht.« Meadows bemerkte, daß Brody seine Bärentatze nicht aß. Er nahm sie ihm vom Teller, um sie selbst zu essen. »Dieser Artikel über Jepps ...« »Ich habe ihn gelesen.« »Sie haben ihn ja praktisch selbst geschrieben. Vergessen Sie das nicht. Wie steht es eigentlich mit Ihrer bisherigen Untersuchung über den Mordfall? Was haben Sie an Beweisen und Verdachtsmotiven?« Brody sagte es ihm. Jedesmal, wenn er seine Verdachtsgründe erwähnte, klangen sie auch in seinen Ohren immer schwächer. Meadows schüttelte den Kopf und legte seine Gabel auf den Tisch. »Ist das alles?« Brody nickte. »Es genügt mir.« »Nein! Vielleicht hat es ausgereicht, daß Sie sich an das Ballistikzentrum gewendet haben. Aber es war auf keinen Fall genug, um in dieser Form in die Presse zu gehen. Haben Sie je schon mal etwas über Verleumdung gehört?« Brody nickte müde. »Habe ich, Harry. Na schön, machen Sie sich nur nicht die Finger schmutzig, Herr Zeitungsschreiber.« Er stand auf und ging zur Tür. Noch nie hatte er Meadows so ernsthaft dreinblicken sehen. Kapitänleutnant Chip Chaffey, Hubschrauberkommandant der Sicherheitsabteilung von Quonset Point, stand auf der winzigen Kommandobrücke des oberhalb des Orcu-Wracks ankernden -1 6 3 -
Marinerettungsschiffes. Er raffte all seinen Mut zusammen. Das Schaukeln und Rollen des Seegangs bereitete ihm Übelkeit. In den Jahren des Küstendienstes war er fast zu einer Landratte geworden. Seit dem Vietnamkrieg, als er zusammen mit dem jetzt toten Hubschrauberpiloten auf dem Flugzeugträger im Golf von Tongking gedient hatte, war er nie mehr auf See gewesen. Und ein Flugzeugträger war außerdem so riesig und schwer, daß man den Seegang kaum verspürte. Das war etwas ganz anders als dieses auf und ab hüpfende Spielzeugboot, von dem ständig Taucher absprangen oder in das sie zurückkletterten, wobei sie es fast zum Kentern brachten. Bei all dem drehte sich ihm derart der Magen um, daß er befürchtete, jeden Augenblick seinem hohen Offiziersrang Unehre anzutun. Der Führer der Tauchertruppe reichte ihm gerade eine Tasse heißen Kaffee, die er dankbar annahm. Der Taucher war ein großer, breitschultriger Kerl im Rang eines Fähnrichs. Er hätte einen ausgezeichneten Rugbyspieler abgegeben und sah ganz so aus, als könne er mindestens zehn Minuten ohne Sauerstoffflasche tauchen. Aber der Mann war von Anfang an mürrisch und skeptisch gewesen. »Herr Kapitänleutnant, Sie wissen doch hoffentlich, daß die ganze Operation reine Zeitvergeudung ist?« Chaffey stutzte. Eine reine Zeitvergeudung ... Was für eine Art von Offizier war das? Kam der aus Harvard oder Yale? »Wo kommen Sie her?« »Vom OCS. Und dann vom UDT in San Diego.« »Das meine ich nicht. Wo sind Sie her?« »Aus Georgetown.« Was für eine Muskelverschwendung. Hatten sie dort überhaupt eine Rugbymannschaft? Chaffey stellte seinen Kaffeebecher ab. »Na schön, Sie halten es für Zeitvergeudung. Und wie steht es mit den Leuten, die jetzt gerade da unten den Meeresgrund absuchen, und besonders mit Ihrem Freund Tümmler? Haben Sie denen auch schon erzählt, was für eine Zeitvergeudung es ist?«
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»Offen gesagt, ist das meinen Leuten völlig egal. Für sie ist es ein Anlaß zum Tauchen, und das brauchen sie. Im übrigen halten sie es auch für Zeitvergeudung. Denn auch sie wissen, daß die Kugel rollt, und sie kennen die Strömungen und Flutbewegungen ... Es sind jetzt bereits 24 Stunden vergangen.« »Und wie steht's mit dem Delphin?« »Nun, der war ja auch alles andere als scharf darauf, nicht wahr?« Das Team hatte um zehn Uhr vormittags den großen Tümmler, den Stolz der ganzen Einheit, tauchen lassen. Man hatte ihm den originellen Namen P-19 gegeben. Er stammte aus dem Pazifik und war darauf trainiert worden, verlorene Torpedos, versunkene U-Boote und Teile abgestürzter Flugzeuge aufzuspüren. Falls irgend jemand an Bord über all die geheimen Einsatzmöglichkeiten dieses Tieres im Kriegsfall Bescheid wußte, so war er nicht bereit, es einem gewöhnlichen Hubschrauberpiloten auf die Nase zu binden. Es stellte sich jedoch heraus, daß P-19 vom Augenblick an, als sie hier geankert hatten, äußerst zurückhaltend in seinen Reaktionen war. Er hatte zuerst um sich gespritzt, als man ihn aus seinem Wassertank geholt hatte, dann im großen Netz gezappelt, und als man ihn schließlich von der Reling ins Wasser gesetzt hatte, wollte er sich ganze fünf Minuten lang überhaupt nicht vom Boot fortbewegen. Darüber herrschte allgemeines Erstaunen. Der Trainer erklärte Chaffey, daß P-19 ein wahrhaft mustergültiger Tümmler sei, ein wahrer Tom Swift unter den Delphinen, ein verläßliches, treues, hilfreiches und gehorsames Tier. Einst hatte er einen Torpedosprengkopf in einer Vierzigfadentiefe vor der Küste von Norfolk und ein notgewassertes Kampfflugzeug vor Key West ausgemacht. In der letzten Woche war er die ganze Nacht lang dem U-Boot Grouper in einer Zwanzigfadentiefe und mit einer Geschwindigkeit von achtzehn Knoten gefolgt und war dabei alle fünfzehn Minuten auf die Sekunde genau aufgetaucht, um den Verfolgern den Standort des U-Bootes anzugeben. -1 6 5 -
Chaffey hatte in das Wasser auf das widerspenstige Tier geschaut. Der Tümmler rieb sich an der Seite des Marinerettungsschiffs, als sei es seine Mutter. »Vielleicht will er nur, daß man ihm die Pension erhöht.« Alle hatten höflich, wenn auch nur dünn gelächelt. Denn was hier vorging, war kein Spaß. Es ging um den Stolz der gesamten Marineeinheit. Irgend etwas hatte das Tier verschreckt oder ihm zumindest alle Lust an seiner Arbeit genommen, und es war höchste Zeit, daß man den Grund dazu herausfand. Sein Trainer, der in einem Schlauchboot mit Außenbordmotor herumfuhr, hatte ihn schließlich mit einem Ruder von der Flanke des Schiffes losbekommen. Dann war P-19 langsam zur Seite gerollt, hatte einmal die Schwanzflosse hochgestreckt und war verschwunden. Seitdem hatte ihn niemand wieder gesehen, obgleich er alle fünfzehn Minuten hätte auftauchen müssen. Nun fuhr der Trainer verzweifelt die Strecke vom Rettungsschiff zum Strand hin und her, hielt jeden Augenblick an und rief das Tier mit der besonderen Tümmlerpfeife. Eben sah Chaffey ihn gerade auf das Schiff zurasen. »Sir«, rief er dem Taucherführer zu. »Er hat sich bereits um zwanzig Minuten verspätet!« »Der ist weg«, brummte der Offizier. Dann rief er dem Trainer zu: »Geben Sie ihm noch fünf Minuten. Dann trommle ich meine Mannschaft an Bord, und wir fahren ab.« Er warf eine kleine Leuchtbombe ins Wasser, um seine Taucher zurückzurufen. »Verdammt noch mal!« seufzte er, während seine Männer an Bord zu klettern begannen. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was mich das noch an Papierarbeit kosten wird.« »Reißen diese Tiere oft aus?« fragte Chaffey. Der Offizier zuckte die Schultern. »Manchmal, notgedrungen. Meistens ist es der Sexualtrieb. Bei diesem hier allerdings nicht. Er ist entsprechend operiert worden.« »Da muß er Ihnen aber sehr dankbar sein.« -1 6 6 -
Der Offizier war jetzt wirklich aufgebracht. »Jedenfalls war er auch ohne Eier verdammt viel mehr wert als dieses Scheißei von Kugel, das er für uns suchen sollte!« Chaffey hatte nicht übel Lust, dem Mann zu erklären, daß dieses Scheißei von Kugel vielleicht der Schlüssel zu dem Tod eines Mannes war, der mehr Zeit unter Feindbeschuß verbracht hatte als dieser Marineleutnant in seinem ganzen Dienst. Und daß man mit diesem Schlüssel vielleicht anderen in Zukunft einen ähnlichen Unfall wie diesen ersparen konnte. Aber was nutzte das jetzt noch? Einen Dreck. Der Pilot war tot, und den würden sie nie mehr finden, und mit dieser Unterwassermannschaft war es ohnehin hoffnungslos, sich Klarheit über die Umstände des Unfalls zu verschaffen. Chaffey schüttete den Rest seines Kaffees über die Reling. Mit der Übelkeit, die er auf diesem schaukelnden und schlingernden Schiff empfand, stieg eine ohnmächtige Wut in ihm auf. Er starrte auf das bewegte Meer und dann auf die Küste von Amity Beach. Nein, er wollte verdammt sein, wenn er jetzt aufgab. Vielleicht konnte er bei der Marineverwaltung in Quonset erreichen, daß man eine Belohnung für den Finder der Kugel ausschrieb. Das würde wahrscheinlich Berufstaucher anlocken und eine Menge Amateure. Allerdings sank ihm das Herz in die Hose, wenn er an die damit verbundene Papierarbeit dachte, aber das war er schließlich seinem Freund schuldig. Alles in allem war es eine schöne Schweinerei. Der Tümmler war zehn Meilen in die See hinausgeschwommen, und nun spürte er, daß er den Hai endlich abgewimmelt hatte, und schwamm wieder landwärts zurück. Er überblickte flüchtig den vor ihm liegenden Meeresgrund, und er orientierte sich dank des Echos seiner hohen Stimme, um sich zwischen der Küstenlinie und dem Wrack der Orca zurechtzufinden. Und dann bemerkte er, wie das Schiff mit seinem Trainer, der auch sein Gott war, seinen Platz verließ.
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Er war in einem Bassin geboren, und alle seine Freunde waren Männer. Er liebte es, mit ihnen zu schwimmen und ihr verlorenes Spielzeug am Boden zu finden, und er liebte es auch, den durch den Ozean brausenden Riesenspielzeugen zu folgen, so wie die Männer es ihn gelehrt hatten. Er war ein empfindsames und leicht beeindruckbares Tier, und im Augenblick fühlte er sich etwas verwirrt. Er hatte den Hai wahrgenommen, als er noch auf dem Schiff war. Dann war er unter den gütigen Händen seines Trainers erzittert, hatte Vibrationen von Gefahr aufgenommen, die vielleicht durch den Rumpf des Schiffes oder von der Luft zu ihm gelangt waren. Er hatte keine wirkliche Angst vor Haien. Aber man hatte ihm beigebracht, die Taucher zu warnen, wenn ein Hai in der Gegend war. Und das hätte er gern schon auf dem Schiff getan, denn er hörte und sah deutlich, daß man alle Vorbereitungen zum Spiel traf, und daß seine Freunde bereits in ihrer putzigplumpen Art ins Wasser platschten. Er hatte keine Möglichkeit, sie zu warnen, bis er selbst im Wasser war, und nachdem er auf jede ihm bekannte Weise protestiert hatte, hatte er es schließlich zugelassen, ins Meer gesetzt zu werden. Wie immer fühlte sich das Wasser schön kühl auf seiner trockenen, sonnenverbrannten Haut an. Aber im Augenblick, als er noch in der Schlinge war, hatte er die Gegenwart des Hais wieder verspürt, und er wußte sogleich, daß dieser hier kein gewöhnlicher Hai, kein Tigerhai oder Mako war, sondern ein Geschöpf von so ungeheuren Ausmaßen, daß es in keine der erlernten Regeln paßte. Deshalb hatte er sich plötzlich geweigert, das Schiff zu verlassen. Im allgemeinen mieden ihn die Haie. Falls er einen gewöhnlichen Hai wahrgenommen hätte, der sich vielleicht noch einem Schwärm Delphinen mit Kleintieren in ihrer Mitte näherte, so hätte er ihn instinktiv, blitzschnell mit dem Maul auf die empfindlichste Stelle des Hais, die Bauchgegend, zielend, angegriffen. Ein erwachsener Delphin ist etwa 200 Pfund schwer, und wenn er sich mit einer Geschwindigkeit von 25 Knoten auf sein Ziel stürzt und sein -1 6 8 -
Maul dem Hai in die Lebergegend stößt, so kann er leicht einen Mako oder einen Tigerhai töten oder zumindest verjagen. Unser Tümmler war allerdings noch nie in einem Schwärm von Delphinen geschwommen, und seine Freunde hatten ihm auch nicht beigebracht, wie man Haie angreift. Sie hatten ihn nur gelehrt, den riesigen Stahlspielzeugen zu folgen und sie zu beschatten, und sie notfalls auch anzugreifen, falls sie nicht ihre programmgemäßen Piepstöne sendeten. Aber in seinem Gehirn hatten sich inzwischen all die gelernten Spiele mit den alten, angeborenen Instinkten verschmolzen. Als er noch unentschlossen an der Flanke des Schiffs schwamm, vernahm er plötzlich das Echo des Hais in aller Deutlichkeit. Und dieses Echo vermittelte seinem Gehirn ein so ungeheuerliches Bild, daß er einen Augenblick vor Schreck wie gelähmt war. Das Ungeheuer näherte sich sehr schnell. Und je näher es kam, desto deutlicher wurde ihm seine Erscheinung bewußt. Er erfuhr es durch Vibrationen, die nichts mit seinen optischen oder akustischen Wahrnehmungen zu tun hatten, die aber bis in seine Gene drangen. So wußte er, daß es ein weibliches Tier war und daß die hohe Geschwindigkeit, mit der es sich voranbewegte, von seinem verzweifelten Heißhunger ausgelöst wurde, und daß es bereit war, sich auf jedes bewegliche Lebewesen zu stürzen, wie auf ihn oder seine Freunde, falls diese tauchten, vielleicht sogar auch auf das Schiff. So hatte er sich eine Weile an den Rumpf des Schiffes gedrückt und Hilferufe geschnattert. Aber niemand hatte ihn verstanden. Sein Trainer hatte ihn mit einem Ruder vom Schiff gestoßen, und er wußte, daß er nun losschwimmen mußte. Als er dann aber das klatschende Plumps ... Plumps ... Plumps ... seiner ins Wasser springenden Freunde vernahm und sie in einer Flut von Luftblasen untertauchen sah, wußte er, daß er jetzt unbedingt handeln mußte. Er hatte noch einen letzten Blick auf seinen Trainer geworfen, der von seinem Gummiboot aus mit dem Ruder auf ihn stieß, hatte tief Atem geholt, sich aus der Schlinge gezogen und war in die Tiefe getaucht. Dann war er seewärts geschwommen. -1 6 9 -
Er nahm direkten Kurs auf die sich nähernde Große Weiße. Sie hatte sein Kommen registriert, und er war sich bewußt, zum Objekt all ihrer Wahrnehmungsorgane geworden zu sein; daß in ihrem Hirn kein Raum mehr für irgend etwas anderes war, und daß er ihre ungeteilte und nicht nachlassende Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, während er ihr entgegenschwamm. Sie prägte sich mit jedem Augenblick klarer auf der Außenrinde seines Großhirns ein, wo sich ein besonderer Hirnlappen befand, über den seine menschlichen Spielgefährten nicht verfügten. So kamen sie sich mit jedem Flossenschlag näher. Als er schließlich etwa dreißig Meter entfernt ihre Körperumrisse erblickte und sie auf sich zuschnellen sah, wußte er sofort, daß sie nicht wie ein normaler Hai zurückweichen und ihm ein Angriffsziel bieten würde. Dazu war sie entweder zu groß oder zu hungrig. Er hatte sein Echowahrnehmungsorgan abgeschaltet und benutzte nun, da sie nahe genug war, seine Augen. In Blitzesschnelle hatte sie sich auf ihn gestürzt. Ein enorm riesiges, mit Reihen von Zähnen gespicktes Maul, ein schuppiger Kopf und ein schwarzes, starrendes Auge. Unbedachterweise war er herumgewirbelt und fühlte nun, wie ihr mit tödlichen kleinen Zähnen übersäter Schwanz ihm in den Rücken schnitt. Er schwamm seewärts. Nun stieß er wahre Alarmschreie aus, rief nach anderen Delphinen, Menschen oder sonst irgendwelchen Wesen, die ihm zu Hilfe eilen könnten. Jede Lust, diesen Hai weiterhin anzugreifen, war ihm ein für allemal vergangen. Er hatte Angst, nach Luft aufzutauchen, obgleich er es nötig hätte. Er schoß mit höchstmöglicher Geschwindigkeit davon. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, und er hatte Angst, es herauszufinden. Er strengte all seine Kraft an, war fast taub und konnte auch keine Echovibrationen wahrnehmen, denn dazu hätte er sich umdrehen müssen, und sie hätte weiter aufgeholt. Er wußte nur eins, und das hatten ihm weder sein Gehör noch sein Echosystem vermittelt, sondern etwas, das viel tiefer lag,
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und das ihn mit seiner Verfolgerin im Netzwerk einer geheimnisvollen psychologischen Einheit verband: Sie war immer noch ganz ausschließlich und mit der Konzentration all ihrer Sinnesorgane auf ihn orientiert. Er hatte sich zehn Minuten lang seewärts gebohrt, lechzte nach ein bißchen Luft, fürchtete jedoch, an die Oberfläche zu schwimmen. Als er schließlich fünf Meilen vom Strand entfernt war, schoß er einmal auf und schaltete dabei automatisch sein Echoaufnahmegerät ein. Sie war eine ganze Minute hinter ihm. Er erweiterte seinen Vorsprung und begann, dem Ufer zuzuschwimmen. Dabei befürchtete er jedoch, daß seine Freunde ihn verlassen könnten, und er befürchtete auch, den weißen Tod in ihre Mitte zu locken. Als er jedoch nach einer Weile noch einmal aufhorchte, war sie bereits sechs Minuten zurück und schien noch weiter an Zeit zu verlieren. Jetzt begann er, sein Echoorgan wieder auszuschalten und die Küste mit seinen Ohren abzuhorchen. Er schwamm an dem Wrack des auf dem Meeresboden gestrandeten Fischerbootes vorbei. Sein Schiff war nicht mehr dort verankert. Sein Gott hatte ihn verlassen. Er schwamm verwirrt im Kreise herum. Er verfügte über einen ausgezeichneten Orientierungssinn, und er brauchte nicht zu befürchten, das Schiff nicht mehr erreichen zu können, aber im Augenblick bemühte er sich gar nicht darum, weil er enttäuscht war, daß seine Freunde ihn verlassen hatten, ohne ihn richtig spielen zu lassen. Dann nahm sein Echoorgan plötzlich einen Gegenstand auf dem Meeresboden auf und konzentrierte sich darauf. Etwa hundert Meter vom Wrack entfernt und in der Richtung der Küste lag ein zerbeultes rundes Spielzeug in einer Felsspalte. Das war also der Gegenstand, um den es in diesem Spiel ging. Im Nu hatte sein Gehirn vom Hai zur Metallkugel umgeschaltet. Er schoß noch einmal an die Oberfläche empor, sah das sich entfernende Schiff, nahm einen tiefen Atemzug und tauchte nach dem Spielzeug. Dieser Kugel wegen hatte man ihn also hierhergebracht. Er beschnupperte sie, konnte sie jedoch nicht bewegen. Wie sollte er nun seinem Trainer mitteilen, daß er die Kugel gefunden -1 7 1 -
hatte? Wie sollte er es anstellen, da das Schiff abgefahren war? Das war ein Gedanke, der ihn verwirrte. Er schwamm eine Weile unschlüssig herum und ließ sich von der Strömung treiben. Als erstes mußte er jetzt gleich das Schiff einholen ... Das letzte, was ihm noch zu Bewußtsein kam, war, daß er von hinten gepackt wurde. Er wand sich und versuchte, an die Oberfläche zu gelangen, und er erlebte einen kurzen Augenblick lang ein Gefühl, das fast einem Bedauern glich. Er wünschte, seine Freunde wüßten, daß er zurückgekehrt war.
Neuntes Kapitel Das Casino wuchs offenbar, ohne daß sich irgend jemand dabei besonders anstrengte. Ein einsamer Zimmermann schlug Nägel in einen Türpfosten. Ein halbes Dutzend Bauarbeiter stand um eine fahrbare Kantine herum. Sonst war niemand zu erblicken. Brody kletterte über einen im Sand liegenden Querbalken, stolperte über einen Haufen herumliegender Ziegelsteine und anderes Baumaterial und landete schließlich in der Dünenmulde, wo Tony Catsoulis, Stadtrat von Amity und Besitzer der Baufirma Amity Building Contractors Inc., sein Bauplatzbüro in einem Holzverschlag eingerichtet hatte. Hier war er wenigstens vor dem Seewind geschützt. Brody fand Tony drinnen vor. Er hatte seinen Schutzhelm auf den Hinterkopf gerückt, hatte den Telefonhörer ans Ohr gepreßt und lehnte seinen schwerfälligen, glockenförmigen Körper an einen baufälligen Stuhl, der so aussah, als habe man ihn erfolglos bei einem Löwendressurakt benutzt. Tony winkte ihm vage zu, als wollte er ihn bitten, Platz zu nehmen, aber es gab keinerlei Sitzgelegenheiten. Deshalb blieb Brody stehen. »Nun hör mal, Vern«, gähnte Tony ins Telefon. »Ich weiß ganz genau, daß ich Freitag gesagt habe. Der Scheck müßte heute mit der Post gekommen sein. Ich habe ihn am Montag abgeschickt. Hast du heute in der Post nachgeguckt? Aha ... ich sehe.« Er gähnte nochmals. »Also, schau morgen nochmal nach, ja? Du hast mein Wort darauf. Ehrenwort! Ich schwöre es -1 7 2 -
beim Grab meiner Mutter!« Er hängte auf. »Dieser geldgierige Halunke. Elektroinstallateur. Eines Tages werde ich ihm 220 Volt in den Arsch jagen. Mal sehen, wie er gedrahtet ist. So, und was kann ich für Recht und Ordnung tun, Chef?« »Eine ganze Menge.« Brody nahm einen tiefen Atemzug. Tony Catsoulis war seine letzte Chance. Er hatte sämtliche Stadträte aufgesucht. Er hatte den alten Ned Thatcher im Abelard Arms, der ihn kaum hören konnte, zu Rate gezogen, aber der alte Ned hatte anscheinend noch nie im Leben etwas von der Mafia gehört, kannte auch Moscotti nicht und kümmerte sich im übrigen einen Dreck um die ganze Angelegenheit, solange nur die Geschäfte wieder bessergingen. Er hatte auch Rafe Lopez, den Repräsentanten der winzig kleinen schwarzen Minderheit von Amity und stolzen Beweis der demokratischen Gesinnung des Stadtrates von Amity, besucht. Rafe scherte sich in keiner Weise darum, wessen Geld in das Casino gesteckt wurde, solange Peterson sein Versprechen hielt, Schwarze als Kellner und ihn selbst als Maitre d'hotel anzustellen. Albert Morris hatte ausweichend reagiert, als Brody den Namen Moscotti erwähnte, und er war zusammengezuckt, als Brody ihm beschrieb, welche Wirkung eine gut gelegte Brandbombe in seinem Eisenwarenladen haben würde, und Fred Potter hatte gleich rundweg erklärt, er wolle von der Sache nichts hören. Brodys vage Hoffnung, daß man die Baugenehmigung stoppen würde, erschien mit jeder Stunde hinfälliger und unsinniger. Tony war seine letzte Chance. »Wissen Sie eigentlich, wer Sie bezahlt?« fragte Brody. »Mich bezahlt niemand«, antwortete Catsoulis. »Peterson zahlt nicht, und ich bezahle weder meine Handwerker noch meine Lieferanten« - er wies auf das Telefon -, »und zum Schluß müssen wir alle diese verdammten Rechtsanwälte bezahlen. So geht es nun mal im Baugewerbe. Es ist immer dieselbe Leier.« Er seufzte. »Sie wissen gar nicht, was für ein Glück Sie haben. Sie werden von der Stadt bezahlt und brauchen sich keine Kopfschmerzen zu machen ...« -1 7 3 -
»Falls ich meinen Job behalte.« Das erregte Tonys Aufmerksamkeit. Er setzte sich auf. »Wer will Ihnen denn den Job nehmen?« brummte er. »Ellen will, daß ich's aufgebe.« Das war gewiß wahr, aber es widerstrebte ihm, ihr die Verantwortung zuzuschieben. Ehrlich gesagt, wußte er nicht, ob er für seine Familie oder vor Moscotti Angst hatte. Vielleicht traf beides zu. »Wenn Sie zurücktreten«, fiel Tony rasch ein, »werden wir Hendricks als Chef einsetzen, und ich stelle Sie an.« »Als Nachtwächter vielleicht?« »Oberpolier, Verwalter, Direktor - Sie können es sich aussuchen. Oder auch Partner, wenn Sie sich eine Bauunternehmergenehmigung beschaffen.« Er blickte Tony in die Augen. Das Angebot schien durchaus ehrlich zu sein. »Vielen Dank«, sagte er gerührt. »Aber es wird leider nicht gehen. Ich habe keine Erfahrung.« »Sie haben bis jetzt siebentausendzweihundert Dollar verdient. Ich biete Ihnen ein Anfangsgehalt von fünfzehn.« »Fünfzehn, was?« »Fünfzehntausend. Wollen Sie achtzehn? Das wäre mir auch recht.« Brody war sprachlos. Sein Herz begann zu pochen. Er sah bereits den neuen Geschirrspülautomaten, ein Fernsehgerät, das nicht flimmerte, und Mike in Yale ... oder wenigstens auf der Universität von New York. Er räusperte sich. »Warum?« Tony zuckte die Schultern. »Sie stehlen nicht.« »Und das ist Ihnen das Doppelte meines bisherigen Gehalts wert?« »Jeder weiß, daß Sie ehrlich sind. Das ist es mir wert.« Brody schüttelte den Kopf, um die verlockende Vision des Reichtums zu verscheuchen. Catsoulis schien es ernst zu meinen. Aber vielleicht machte er sich Illusionen, wenn er meinte, im Handumdrehen aus einem Kleinstadtpolizisten einen -1 7 4 -
Bauunternehmer machen zu können. Oder aber er war in bezug auf die Zukunft Amitys zu optimistisch. »Nehmen Sie mal an, man zieht Ihnen den Teppich unter den Füßen weg, was das Casino anbetrifft?« fragte Brody. »Würden Sie mich dann auch noch anstellen?« »Machen Sie sich keine Sorgen wegen Peterson«, brummte Catsoulis. »Der ist zahlungsfähig.« Brody fragte ihn, ob er sich dessen sicher sei. Hatte er denn noch nichts von Moscotti gehört? Catsoulis stapfte schwerfällig durch seinen Holzverschlag und ging zu einem kleinen Gasbrenner, auf dem ein Kaffeekessel dampfte. Er füllte zwei Tassen und fügte noch einen guten Schluck Bourbon hinzu. Bei der kalten Seeluft holte man sich sonst zu rasch eine Erkältung. Er reichte Brody eine Tasse. »Er genießt den Rückhalt der Familien - falls Sie verstehen, was ich meine.« Catsoulis strahlte. »Wußten Sie das schon?« Er erhob seine Tasse. »Auf Peterson.« Brody folgte seiner Geste nicht, aber Tony trank trotzdem. »Ach, Sie haben doch eben gefragt, ob ich wüßte, wer mich bezahlt. Warum?« Brody trank seinen Kaffee. Der Whisky hatte einen schalen Geschmack. Die Kehle war ihm trocken. Er hatte den ganzen Tag geredet - mit Meadows, mit Lopez und Morris und all den anderen. Er hatte all sein Pulver verschossen. »Ich weiß es nicht, Tony«, sagte er müde. »Es war nur so ein Gedanke von mir.« Brody saß mit Leutnant Swede Johansson in einem kleinen, stillen Restaurant in Bay Shore. Er hatte sie im ballistischen Laboratorium der Polizei aufgesucht, und als er die dicke Akte sah, die sie über das Savage-Gewehr, die Munition und den zerschossenen Benzintank zusammengestellt hatte, erschien es ihm angemessen, sie ins Restaurant und nicht in die Kantine des Polizeigebäudes einzuladen. Jetzt lag die Akte zwischen ihnen auf dem Tisch, während sie an ihren Martini-Cocktails nippten. Er fragte sich, was das -1 7 5 -
Mittagessen kosten und ob der Stadtrat ihm die Unkosten zurückvergüten würde. Aus dem Volumen der Akte zu schließen, würde es sich jedenfalls lohnen. Er bestellte einen Clubsandwich für sie und einen kalorienarmen Hamburger für sich selbst. Es war schon einige Jahre her, seit er zum letzten Mal eine Frau in ein Restaurant eingeladen hatte - Ellen natürlich ausgenommen. »Und bringen Sie uns noch zwei Martini«, fügte er der Bestellung hinzu. Sie lächelte, und ihre weißen Zähne glänzten. Er wünschte, es wäre heller, denn sie war wirklich ausnehmend hübsch. »Also, was hätten wir da?« Er hob die Akte hoch. Ihre bernsteinfarbenen Augen blitzten im Dunkel. »Trinken wir erst einmal, solange wir noch Freunde sind.« Er zuckte zusammen. »Ist es so schlimm?« Sie spielte mit ihrem Cocktailglas und nickte der Akte zu. »Ich habe eine vollständige ballistische Untersuchung vorgenommen.« Sie hatte in drei Tests mit dem SavageGewehr in einen gewöhnlichen Wassertank und dann zweimal in ein Duplikat des Benzintanks geschossen - gleiches Stahl, gleiche Dicke, gleiche Herstellung. Sie erklärte ihm, er könne den Unterschied im Bericht leicht nachprüfen. »Die Einschußlöcher im Duplikat wiesen einen um dreißig Prozent kleineren Durchmesser als den auf dem Beweisstück auf.« Er rieb sich die Schläfe. »Nehmen wir mal an, es handle sich nicht um ein Einschuß-, sondern um ein Ausschußloch bei dem Tank, den ich Ihnen gebracht habe. Wäre das nicht größer?« »Es ist aber kein Ausschuß-, sondern ein Einschußloch«, sagte sie schlicht. »Es tut mir leid, mein Freund, aber es stimmt einfach nicht überein.« »Eine abgeflachte Kugel?« fragte er fast flehend. Er dachte an die Einschüsse von der Schießerei auf den Streifenwagen, die sie ihm am Montag gezeigt hatte. »Oder vielleicht Dumdum?«
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Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich auch versucht. Ich habe zwei seiner Patronen abgeflacht und abgeschossen. Kein wesentlicher Unterschied. Es ist einfach nichts zu machen.« Brody stocherte wütend in der Olive seines frischen Cocktails. Irgend etwas mußte es doch gewesen sein. Aber was? »Der Tank weist aber eindeutig ein Einschußloch auf!« Sie zuckte die Schultern. »Ich habe es mit einer Fünfundvierziger versucht«, fuhr sie fort. »Dann mit einer 357 Magnum. Sogar mit einem Elefantenjagdgewehr, das wir einmal bei einem Verrückten in East Hampton beschlagnahmt haben. Mit dem Ding kann man ganz schöne Löcher schießen, Brody.« »Und wie war das Resultat?« Sie fragte ihn, ob er sonst noch irgendwelche Einzelheiten über die Wasserskiläufer wüßte. »Der Mann war Ingenieur bei Grumman. Seine Frau arbeitete dort als Sekretärin. Ein sehr hübsches Mädchen. Ich bin ihnen mehrere Male im Laufe der Jahre flüchtig in der Stadt begegnet. Ein nettes junges Paar. Das ist alles, was ich von ihnen weiß.« Sie wollte etwas über den Ruf dieser Leute wissen. Er zuckte die Schultern. »Bei Grumman sagt man, er sei äußerst tüchtig gewesen. Er hat sich vor allem mit Qualitätskontrolle befaßt. Von der Küstenwache hörte ich, daß er sich jeden Tag, wenn er sein Boot benutzte, mit Shinnecock Bay in Verbindung setzte, um sicher zu sein, daß sein Funkgerät funktionierte.« Er hielt inne. Irgendeine ganz verschwommene Erinnerung tauchte in ihm auf. Er versuchte, sie sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Was war es nur? Er wünschte, er hätte nicht den Martini getrunken. Ach ja, es hatte irgend etwas mit Fahnen zu tun ... Er schnippte mit den Fingern. »Wissen Sie, daß ich sie noch am Tag vorher gesehen habe? Sie kauften gerade eine Skiflagge im Wassersportzentrum.« »Warum?« -1 7 7 -
»Eine Schutzmaßnahme. Man soll angeblich so eine Flagge benutzen, wenn man jemanden im Schlepptau hat, damit niemand einem von hinten zu nahe kommt. In Amity benutzt sie kaum jemand.« »Aber dieser Mann tat es?« »Augenscheinlich.« Die Kellnerin brachte den Lunch. Swede war tief in Gedanken versunken. Sie runzelte ihre kaffeebraune Stirn, piekte mit einem Zahnstocher in ihrem Sandwich herum und aß nicht. »Haben Sie irgendwelche Leuchtkugeln gefunden?« fragte sie plötzlich. »Leuchtkugeln? Nein.« »Ein so vorsichtiger Mann hätte doch auch Leuchtkugeln in seinem Boot haben können, nicht wahr?« »Nun«, sagte er. »Wir haben jedenfalls keine gefunden.« Sie setzte sich zurück. Sie hatte immer noch nicht ihren Sandwich angerührt. »Brody, die spektographische Analyse deutet aber darauf hin. Was auch immer in diesen Benzintank einschlug, enthielt eine Menge Magnesium. Der Lack um die Einschußstelle war verbrannt. Das mag von der Explosion herrühren oder von einem Schuß auf ganz kurze Distanz. Jedenfalls aber war der Lack verbrannt. Und wir fanden eine Menge Magnesium.« Brody blickte auf seinen halbaufgegessenen Hamburger. Er hatte keine Lust, ihn zu Ende zu essen. »Na schön. Spuren? Spuren haben Sie vielleicht entdeckt, aber könnten die nicht ebensogut vom Savage-Gewehr stammen?« »Ich habe den Lauf getestet. Jede Rille, jede Unebenheit, jeden Kratzer. Von der Mündung bis zum Abzug. Ich habe auch die Kimme spektographiert. Auch das Schmierfett in der Kammer habe ich genauestens untersucht. Und das Magazin sogar auch. Auf dem ganzen Gewehr befindet sich nicht die geringste Spur von Magnesium.« »Verdammt«, sagte Brody enttäuscht.
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»Brody, der Einschuß kam von einer Leuchtpistole.« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Eine Very-Pistole der Marine, wahrscheinlich in einem U.S.-Army-Laden gekauft, Marke IV, Modell 2, Jahrgang 1942.« Er blickte sie forschend an. Sie war sich ihrer Sache ganz sicher. »Aber verdammt noch mal«, sagte er, »warum sollte der Mann ausgerechnet mit seiner Leuchtpistole in seinen eigenen Benzintank schießen?« Sie begann an ihrem Sandwich zu nagen und antwortete nicht. »Warum«, fuhr er fort, »sollte er sie geladen in der Nähe des Benzintanks herumliegen lassen?« »Normalerweise hätte er es wohl auch nicht getan«, sagte sie. »Aber eine Leuchtpistole ist nun einmal eine Feuerwaffe. Feuerwaffen und vorsichtige Leute passen gut zusammen. Außer wenn es darauf ankommt. Und das wäre?« Er war lange genug Polizist gewesen, um die Antwort zu kennen. »Das wäre in einem Notfall, wenn man sie braucht. Aber was für ein Notfall soll das gewesen sein? Er hat ja nicht einmal sein Funkgerät benutzt und Shinnecock gerufen.« Sie zuckte die Achseln. »Das hat nichts mehr mit Ballistik zu tun. Das ist eine reine Polizeiangelegenheit. Und dafür sind Sie der zuständige Mann.« »Tja.« »Sie sollten lieber noch einmal von vorne anfangen, mein Freund.« Er bezahlte die Rechnung, ging mit ihr ins ballistische Laboratorium zurück und holte sich seine jetzt nutzlosen Beweisstücke ab. Sie erinnerte ihn noch, daß sie die Nachspeise vergessen hatten. Sie wollten doch Apfelkuchen mit Vanilleeis essen. »Das nächste Mal«, sagte er leise. »Und da wir gerade von Vergessen reden ...» »Ja?« lächelte sie. -1 7 9 -
»Ich habe noch eine andere Anklage gegen diesen Kerl laufen. Und mit der komme ich durch. Die Mordanklage werde ich natürlich fallenlassen müssen. Allerdings werde ich trotzdem ganz schön blöd dastehen. Glauben Sie nicht, Sie könnten ...« »Sie haben das Original«, sagte sie grinsend. »Ich werde mich bemühen, daß die Kopie verlorengeht. Wir können es uns doch nicht leisten, den tadellosen Ruf des Polizeichefs von Amity in Zweifel ziehen zu lassen.« Er unterschrieb die Quittung für das Gewehr, die Munition und den Benzintank. Der junge Wachtmeister nahm sie am Schalter in Empfang. Er fragte ihn wieder, ob in Amity bald eine Stelle für ihn frei sein würde. »Es könnte bald eine frei werden, wenn diese Sache hier einmal an die große Glocke kommt.« »Was hat sie denn herausgefunden?« »Sie hat mit ihren Tests meine Mordanklage zunichte gemacht.« Während er auf dem Southern State Parkway nach Norden raste, kam er zu dem Schluß, daß die Wasserskiläufer wahrscheinlich mit einer Zigarette ein kleines Feuer entfacht hatten, in Panik geraten waren, die Leuchtpistole geladen hatten, um Hilfe zu rufen, und daß der Schuß in den Benzintank gegangen war, als sie gleichzeitig versuchten, aus dem Boot zu klettern. Und ihre Leichen? Waren sie explodiert? Oder verbrannt? Und was war mit den beiden Tauchern geschehen? Aber das ging ihn ja nichts mehr an. Das Gebiet, für das er verantwortlich war, reichte nur bis an den Strand von Amity Beach. Und was den Fall Jepps betraf, so hatte er Gott sei Dank ja noch den verletzten Seehund. Kapitänleutnant Chip Chaffey, Offizier der HubschrauberSicherheitsabteilung des Marinehafens von Quonset Point, trat in die Club-Bar des Offizierscasinos, schwang das Bein über seinen bevorzugten Barhocker und bestellte einen Wodka. -1 8 0 -
In der Brusttasche seiner abgetragenen grünen Fliegeruniform, mit der man ihm bestimmt den Zugang zum Club verwehrt hätte, falls der diensthabende Offizier anwesend gewesen wäre, steckte der Bericht über den Hubschrauberabsturz, den die Schreibordonnanz in seinem Büro eben fertig getippt hatte. Es war ein denkbar nichtssagender Bericht. Er wußte jetzt genauso wenig, warum sein alter Schiffskamerad umgekommen war, wie zuvor. Er wußte nicht einmal, ob das Pfeifsignal, das diese Grünschnäbel von Marineoffizieren von einem Zerstörer aus gehört hatten, als sie vor Amity kreuzten, von ihm oder seinem jungen Techniker gekommen war. Das waren jetzt akademische Fragen. Wer von den beiden es auch gewesen sein mochte, sie waren nun beide schon lange tot und zur See hinausgeschwemmt, und wahrscheinlich würde man ihre aufgedunsenen und vom Sand zerkratzten Leichen eines Tages auf irgendeinem Strand in Hampton finden. Er nippte an seinem Wodka mit Ginger Ale. Er war geschieden, und er gehörte wie sein alter Schiffskamerad jenem aussterbenden Soldatentyp an, der seiner Pflicht nachgeht, gern gelegentlich einen über den Durst trinkt und sich im übrigen nichts aus Beförderung oder einer glanzvollen Karriere in der Marine macht. Seine Zukunft schien sich endlos vor ihm auszudehnen. Zahllose Stunden, in denen er auf die U-BootSuche ging, kaum je mal eins fand, Stunden an der Bar der Offiziers-Clubs, die nicht minder lang waren, in denen man trank oder die einsamen Ehefrauen der Marineoffiziere tröstete. Aber die wurden jedes Jahr jünger. Und so würde es weitergehen, bis ihn eines Tages irgendein Motorschaden oder eine lockere Schraube - oder was sonst schuld am Ende seines Freundes war - in einem rasenden Wirbelsturz in den Tod beförderte. Der junge UDT-Offizier kam in ordnungsgemäßer Zivilkleidung herein. Eine langbeinige Blondine, die höchstwahrscheinlich in Vassar oder Bennington zur Schule gegangen war, begleitete ihn. Es mußte wohl seine Frau sein. Sie setzten sich an einen
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Tisch, mischten ihre Spielkarten und bereiteten sich auf das allabendliche Bingospiel vor. Der junge Offizier hatte ihn gesehen und wich seinem Blick aus. Er wünschte ihn bestimmt nicht an seinem Tisch, und Chip Chaffey fragte sich, ob es wegen des verlorengegangenen Delphins oder wegen der Blondine war, deren Aufmerksamkeit er für sich allein haben wollte. Zum Teufel mit den beiden. Er blickte sich in der Bar um. Zwei einsame Marineoffiziersfrauen hatten bereits die Nasen in ihre Karten gesteckt und saßen zusammen an einem Tisch. Ihre Ehemänner waren wahrscheinlich gerade auf See mit der Grouper oder auf irgendeiner anderen Blechdose. Zum Teufel mit diesen beiden ebenfalls. Die Frauen der Marineoffiziere schienen mit jedem Jahr ihren Männern treuer zu werden. Jetzt schaute er wieder zu dem jungen Offizier hinüber. Dieser gespreizte Laffe mit seiner lackierten Blondine. Übrigens war das ganze UDT eine blöde, wichtigtuerische Bande, und sie hatten die Suche viel zu früh aufgegeben. Ja, selbst der alberne Delphin war nichts weiter als ein aufgeblasenes Zirkustier. Hoffentlich hatte er sich für immer verdrückt. Er beschloß, morgen noch einmal nach Amity hinüberzufliegen. Die Frau des dortigen Polizeichefs hatte ihm ausnehmend gefallen, und vielleicht ergab sich die Gelegenheit, sie wiederzusehen. Er fragte sich, ob Brody je die Stadt verließ. Jedenfalls aber wollte er den Sohn des Polizeichefs oder dessen Tauchlehrer aufsuchen und sich bemühen, sie zu einer neuen Suchaktion nach der Sonarkugel zu überreden. Er konnte sich recht gut das entsetzte Gesicht des affektierten jungen Offiziers vorstellen, wenn er erfuhr, daß eine Gruppe halbwüchsiger Jungen die Kugel bei ihrem ersten Taucherausflug gefunden hatte. Immerhin - man konnte nie wissen. Das Bingospiel begann, es wurde ziemlich laut in der Bar, und er stürzte ärgerlich seinen Drink hinunter. Er faßte sich an die Brusttasche. Neben dem völlig nutzlosen Bericht hatte er noch -1 8 2 -
einen Brief vom Finanz- und Soldbüro. Er hatte gebeten, daß man eine Belohnung von 2000 Dollar für den Finder der Sonarkugel ausschreiben solle. Wie er es vorausgesehen hatte, war die Summe schließlich auf eintausend Dollar festgesetzt worden. Na schön, das sollte eigentlich auch genügen, um die jugendlichen Taucher von Amity anzuspornen. Er ging ins Offiziersquartier hinauf, um sich schlafen zu legen. Morgen konnte man ja weitersehen.
Zehntes Kapitel Brody erwachte um sieben Uhr, als die Fähre von Amity Neck am anderen Ufer des Sounds zur Abfahrt tutete. Wenn sie heute um diese frühe Zeit abfuhr, mußte es Samstag sein. Es war also Sommer und Samstagmorgen. Er lag noch eine ganze Weile regungslos im Bett und hatte das sichere und unangenehme Vorgefühl, daß dieser Tag ihm nichts Gutes bescheren würde. Immerhin gab es da einige Gewißheiten, die darauf hinwiesen. Zunächst einmal der Bericht vom ballistischen Laboratorium. Da war es vielleicht noch am ratsamsten, die ganze Angelegenheit im Sande verlaufen zu lassen. Die Mordanklage gegen Jepps war zwar nun ein für allemal begraben, aber es gab keinen Grund, Jepps oder seinen Rechtsanwalt wissen zu lassen, daß die erste polizeiliche Morduntersuchung in der Geschichte von Amity sich als ein Windei erwiesen hatte. Das Problem würde sich schon von selbst verflüchtigen, wenn niemand zu hartnäckig hinterhakte, und außerdem hatte er ja immer noch die Anklage wegen Vergehens gegen das Bundesgesetz und die städtische Polizeiverordnung. Er zögerte und schlüpfte schließlich unwillig aus dem Bett. Heute sollte Mike endlich in die Schar jener Muskelprotze eintreten, die man im Skin Diver Magazine bewundern konnte. Heute nachmittag begann eine neue Phase in Mikes Leben. Jetzt war er kein Kind mehr und trat in eine neue Welt ein, die
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Brody Angst machte. Nein, dieses Bild von Mike gefiel ihm überhaupt nicht. Es beunruhigte ihn sogar sehr. Das letzte Problem des heutigen Tages war Sammy, der Seehund. Die Wunde war jetzt ausgeheilt. Er und Ellen hatten beschlossen, ihn an diesem Wochenende in die Freiheit zu befördern. Zuerst wollten sie ihn im Meer aussetzen, um zu sehen, ob er fähig war, für sich selbst zu sorgen, und wenn nicht, ihn in den Zoo von Bronx, ins Woods Hole Institute oder an die staatliche Fisch- und Forstverwaltung zu schicken. Für Sean war das ein harter Schlag. Vielleicht würde wenigstens die Vorfreude auf die morgige Regatta den Kummer ein wenig abschwächen. Er blickte zu Ellen hinüber. Sie hatte sich zu einem Knäuel zusammengerollt. Eine kleine goldige Locke hing ihr über die Nase und erzitterte bei jedem Atemzug. Er schob sie mit dem Finger beiseite. Das Telefon klingelte. Verdammt noch mal! Wer konnte das schon wieder sein? Es sah ganz so aus, als ob heute eine Wiederholung des letzten Samstags stattfinden sollte, nur wahrscheinlich noch viel schlimmer. Er humpelte zum Schreibtisch am Fenster und nahm den Hörer ab. »Ja, hier ist Brody! Wer ist dort?« »Guten Morgen«, sagte Harry Meadows. Selbst für einen Zeitungsredakteur um sieben Uhr früh hörte es sich ziemlich besorgt an. »Könnten Sie möglichst rasch zu mir ins Büro kommen?« »Wissen Sie überhaupt, wie spät es ist?« fragte Brody mit ironischer Freundlichkeit. »Sieben Uhr acht«, sagte Meadows. »Wir sind in Schwierigkeiten.« Brody fragte sich, welche Schwierigkeiten er mit dem Direktor des Amity Leader gemein haben könnte. »Wen meinen Sie mit >wir« »Vor allem Sie.« »Ich?« fragte Brody. »Was ist denn eigentlich los?«
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»Hören Sie, Brody«, sagte Meadows mit müder Stimme. »Kommen Sie bitte geradewegs zu mir ins Büro, ja?« Gute Beziehungen zur Presse sind zwar für die Polizei wichtig, aber deshalb brauchte er sich noch lange nicht von Meadows herumkommandieren zu lassen. Er sagte es ihm unverblümt. »Ich bitte um Entschuldigung«, antwortete Meadows. »Aber andererseits steuern Sie einer bösen Krise in Ihrer Karriere entgegen. Und da werden Sie alle mögliche Hilfe brauchen, die Sie nur bekommen können.« Er riet Brody, sich darüber zuerst einmal im klaren zu sein, und bat ihn, in Anbetracht ihrer alten Freundschaft sich - sagen wir mal um acht Uhr - in seinem Büro einzufinden. »Wäre Ihnen das recht?« »Vielleicht.« Er hängte auf. Er blickte zu Ellen hinüber. Sie schlief immer noch, und die sich unter der Bettdecke abzeichnenden Rundungen erregten ihn. Er ging ins Bett zurück, faßte unter die Decke und ließ seine Finger auf ihrem Schenkel entlanggleiten. Sie schlug die Augen auf und lächelte. Jetzt klingelte der Wecker auf seinem Nachttisch. Und im Nebenzimmer erwachte Mikes Transistorgerät und plärrte die morgendliche Popmusik. Und draußen vor dem offenen Fenster hörte er Sean irgendwo am Strand, der irgendwen oder irgend etwas mit lauter Stimme anbrüllte. Brody gab es auf, streichelte noch Ellens Haar und ließ sich aus dem Bett gleiten. »Ich mache dir das Frühstück zurecht«, murmelte sie und schlief darauf gleich wieder ein. Er stellte den Wecker ab und lehnte sich aus dem Fenster. Sean warf Steine ins Wasser. »Heh, Knirps. Was treibst du da schon wieder?« Sean drehte sich schuldbewußt um, als hätte sein Vater ihn gerade beim In-der-Nase-Bohren erwischt. »Gar nichts. Ich ... schmeiße nur Steine ins Wasser.« Brody war leicht verwundert, kleidete sich an und ging hinunter, um etwas zu essen. Brody wartete auf das Kochen des Kaffeewassers und beobachtete seinen älteren Sohn, der sich nun auch in der -1 8 5 -
Küche zu schaffen machte. Zuerst hatte der Junge die Schachtel Corn-flakes vom Regal genommen, sich lange das Etikett angeschaut und sie dann wieder zurückgestellt. Dann hatte er sich ein Glas Milch eingegossen, die Hälfte davon getrunken und den Rest auf den Spültisch gestellt. Schließlich hatte er sich eine Kaffeetasse vom Regal geholt und sie auf den Tisch neben die Brodys gestellt, und das wunderte Brody, denn bisher hatte er Mike nie Kaffee trinken sehen. »Heute ist also der große Tag«, bemerkte Brody. Seine Hand zitterte leicht, als er sich den Kaffee aus der Kanne eingoß. »Stimmt's?« »Meinst du die Prüfung?« gähnte Mike zurück und tat so, als habe er es fast vergessen. »Ja ... ich denke schon. Um ein Uhr versammeln wir uns im Aqua Center für die letzten Anweisungen, und dann kann's losgehen.« Brody kam ein Gedanke. »Sag mal, hat Andrews auch Leuchtpistolen in seinem Laden zum Verkauf? Diese Signalpistolen, die man auf Fischerbooten und Jachten benutzt?« »Natürlich hat er die«, sagte Mike. »Heh, wie spät ist es jetzt eigentlich?« Er sagte es ihm. Mike schien enttäuscht zu sein, daß es noch so früh war. Er gähnte noch einmal, sah seinem Vater zu, wie er den Zucker in die beiden Tassen tat, und gähnte schon wieder. »Hat man eigentlich schon etwas von dieser Kugel des Marinehubschraubers gehört?« fragte er plötzlich. »Ich weiß es nicht.« »Dad, ich muß dir was sagen«, beichtete Mike. »Der Pilot hat uns damals angeflogen, um zu sehen, ob jemand am Ertrinken war. Es war nämlich Larry Vaughan. Daddy, ich habe Larry beinahe ertränkt!« »Aber warum denn?« »Weil er ein schleimiger Schubiack ist.« »Das liegt bei ihm in der Familie. Was hat er denn angestellt?« Mike biß die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. -1 8 6 -
»Das spielt ja keine Rolle. Aber eins steht fest: Wir waren in Schwierigkeiten - und er ist ertrunken. Es ist, wie wenn man um Hilfe ruft, und dann ertrinkt der Retter.« »Du hast dem Hubschrauberkommandanten alles Wesentliche erzählt. Mach dir also keine Sorgen und vergiß die Sache.« »Gut«, murmelte Mike. Er griff seinem Vater an den Arm, um nach der Uhrzeit zu sehen, »Also, ich muß jetzt gehen. Auf Wiedersehen.« Er schlug die Gittertür hinter sich zu. Brody spürte deutlich, daß der Tag für ihn bereits verdorben war. Er konnte nur noch hoffen, daß er ihn mit einem Mindestmaß an Schaden überstehen würde. Das Redaktionsbüro des Amity Leader erzitterte schon seit Jahren nicht mehr von dem Dröhnen der Rotationspressen im Keller. Die Maschinen standen still. Die Zeitung wurde jetzt in Port Washington, Great Neck oder irgendeinem anderen unfreundlichen Ort gedruckt, an dessen Namen Brody sich nicht erinnern konnte. Aber der Geruch der Druckerschwärze von der im Dornröschenschlaf liegenden Setzmaschine drang immer noch in das Büro des Redakteurs, dessen Fenster einen Blick auf die menschenleere Main Street gewährten. In Harry Meadows winzigem Verschlag stank es am schlimmsten, denn hier aß er oft die entsetzlich nach Knoblauch riechenden Salamisandwiches aus Cys Imbißstube, wenn er einen eiligen Termin hatte. Und dieser Knoblauchduft schien bis in die Holzwände, die herumliegenden Stapel alter Telefonbücher, Layouts und Belegexemplare auf dem Schreibtisch, den Fußboden und in die Regale eingedrungen zu sein. Meadows saß in einer Wolke von Zigarrenrauch. Als Brody eintrat, starrte er gerade aus dem Fenster. Der Mann sah wie ein mürrisches Nilpferd aus. Er wandte sich in seinem Drehstuhl um, der ein klagendes und quietschendes Geräusch von sich gab. »Was ist nun schon wieder los?« fragte Brody. »Ich muß um neun Uhr in meinem Büro sein.« -1 8 7 -
»Vielleicht werden Sie bald kein Büro mehr haben«, brummte Meadows, »es sei denn, Sie lassen sich etwas einfallen, um mich und den Leader aus der Klemme zu kriegen.« Brody war es müde, sich ständig derartige Drohungen anhören zu müssen. Er sagte es ihm unverblümt. »Zunächst einmal werden Sie außer Hendricks niemanden finden, der blöde genug ist, diese Stelle für ein Gehalt von 600 Dollar im Monat zu übernehmen, und der intelligent genug ist, ein Strafmandat auszuschreiben.« »Verlassen Sie sich nur nicht allzusehr darauf«, sagte Meadows. »Wenn hier erst einmal das Spielcasino eröffnet ist, wird jeder Bulle von der Sittenpolizei in Manhattan sich Arme und Beine ausreißen, um hier einen Posten zu ergattern, um sich eine kleine Scheibe von dem Kuchen abzuschneiden.« Falls Moscotti wirklich die Kontrolle über das Casino erworben hatte, stimmte das unbedingt. »Na schön, Harry«, sagte Brody. »Was haben Sie nun auf dem Herzen?« Meadows schob ihm einen Stapel Papiere über den Schreibtisch zu. Brody erkannte sofort, daß es Fotokopien des ballistischen Berichts waren. »Wann haben Sie diese Papiere erhalten?« fragte er. »Und wie sind Sie überhaupt da rangekommen? Dieser Bericht ist streng vertraulich! Warum waren Sie so scharf darauf?« »Es ist weiß Gott die allerletzte Sache, auf die ich scharf wäre. Sind Sie jemals der berühmten Heulsirene Halloran begegnet? Dem Rechtsanwalt?« Brody war ihm noch nie begegnet. »Das werden Sie aber. Wahrscheinlich schon heute. Er ist etwa einen Meter hoch, hat eine Stimme wie das Nebelhorn der Fähre von Amity und einen Mund wie ein Arschloch mit Zähnen.« Brody seufzte. »Ist es Jepps' Anwalt?« »Darauf können Sie sich verlassen. Nun hat er mir dieses da gebracht.« -1 8 8 -
Brody nahm den Bericht und blätterte darin. »Wie ist er da rangekommen?« »Die Suffolk County Police hat ihn ihm geschickt. Gestern, denke ich.« »Das glaube ich nicht«, murmelte Brody betroffen. Er fühlte sich wie jemand, dem man einen Stuhl angeboten und im letzten Augenblick unter ihm weggezogen hatte. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen?« Er rief in Bay Shore an, wo man ihm mitteilte, Swede Johansson habe heute ihren freien Tag. Nein, man könne ihm nicht ihre Privatnummer mitteilen, denn wie könnten sie sicher sein, daß er wirklich von der Polizei ist? Aber er könne seine Telefonnummer hinterlassen, und man würde versuchen, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, falls sie nicht über das Wochenende verreist sei. »Lassen Sie nur«, sagte Brody bitter. Jetzt machte es ja nichts mehr aus. Man hatte ihn ganz schön hereingelegt. Er hängte den Hörer auf. »Na schön. Sie haben also den Bericht. Wenn er auf niemanden geschossen hat, dann wußte er ja bereits, daß er aus dem Schneider war. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?« »Er hat also auf niemanden geschossen? Stimmt's?« »Nur auf den Seehund.« Meadows lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Vielen Dank ... Sie sind weiß Gott der starrköpfigste Bulle, der mir je ...« »Schon gut. Was ist nun los?« »Eine Verleumdungsklage.« Weit in der Ferne hörte Brody ein dumpfes Tuten, als die Fähre von Amity Neck die Landungsbrücke des Stadthafens verließ, um über den Sound zurückzufahren. Durch das Fenster drang der leicht verschwommene Rhythmus der Popmusik vom Plattenautomaten in Cys Imbißstube. Ein Auto hupte. »Scheiße!« Meadows lehnte sich zurück. »Ich werde mir keinen Anwalt nehmen. Aber von meinem Standpunkt aus und dem der -1 8 9 -
Zeitung, die - wie Sie wissen - mein einziger Besitz ist, bedeutet eine Verleumdungsklage den Bankrott.« »Es war doch keine Verleumdung, Harry. Das wissen Sie sehr gut. Sie haben nur meine Worte zitiert. Sie haben nur geschrieben, daß ich den Fall untersuche. Und das habe ich auch getan. Wo ist da die Verleumdung?« Meadows schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe ja nicht gesagt, daß ich den Prozeß verlieren würde! Ich sage nur, daß ich mir diesen Kampf nicht leisten kann.« Brody trat an das Fenster und schaute auf die Straße hinaus. Albert Morris fegte den Gehsteig vor seinem Eisenwarengeschäft. Das war eine Aufgabe, die er immer noch nicht seinem Sohn und Angestellten, der fast so alt wie Brody war, anvertrauen konnte. Yak-Yak Hyman kam gerade aus der Imbißstube und schlenderte dem Hafen zu. Dann sah Brody einigermaßen überrascht, wie Nate Starbuck, der normalerweise in seiner Apotheke hätte sein sollen, seinen Lieferwagen vor dem Rathaus parkte. Wollte er sich über die Höhe der Gewerbesteuer beklagen? Oder über die städtische Steuer? Nein, es war ja Samstag. Vielleicht wollte er wieder einmal einen Parksünder anzeigen. Brody sah auf seine Uhr. Es war Zeit, den Besuch hier zu beenden, noch einmal beim Aqua Center vorbeizuschauen und dann an seinen Schreibtisch im Rathaus zurückzukehren und gefaßt den weiteren Ereignissen dieses Sommersamstags entgegenzusehen. Er wandte sich wieder Meadows zu und fragte ihn, was er für ihn tun könne. Meadows zog einen Artikel aus seiner Schreibmaschine und schob ihn Brody zu: ANGEKLAGTER POLIZEIWACHTMEISTER VON JEDEM VERDACHT BEFREIT: Der Polizeichef von Amity, Martin Brody, erklärte heute, die Untersuchung im Falle der Mordanklage gegen den Polizeiwachtmeister aus Flushing, Charles Jepps, vierundfünfzig, wohnhaft im Smithschen Sandschloß, habe zu keinem Beweis oder Anhaltspunkt für irgendeinen Zusammenhang zwischen dem unachtsamen -1 9 0 -
Gebrauch von Feuerwaffen am Strand und dem Verschwinden der beiden Tiefseetaucher sowie des jungen Ehepaares im Motorboot während des letzten Wochenendes geführt. Die ballistischen Tests, die an Trümmerteilen des explodierten Wasserskibootes vorgenommen wurden, haben eindeutig bewiesen, daß die Explosion vom letzten Samstag an der Küste von Amity Beach von einer in den Benzintank abgefeuerten Leuchtpistole herrührte, die höchstwahrscheinlich von einem der Insassen des Bootes selbst abgeschossen wurde. >Die Untersuchungsergebnisse schließen eine mögliche Schuld des Polizeiwachtmeisters Jepps aus<, erklärte Brody. >Die Anklage wurde in allen Punkten fallengelassen.< »Habe ich das gesagt?« fragte Brody. »Sie werden es aber sagen, nicht wahr?« Meadows reichte ihm einen Kugelschreiber. »Unterschreiben Sie es einfach, ja?« Brody klopfte eine Weile mit dem Kugelschreiber auf den Tisch. »Unachtsamer Gebrauch von Feuerwaffen? Anklage in allen Punkten fallengelassen?« klagte er. »Nein!« Er strich das Wort >Unachtsam< aus, ebenso den ganzen letzten Paragraphen, und schrieb darüber: >Die Anklagepunkte betreffend die Verletzung des Bundesgesetzes zum Schütze der Meeressäuger und hinsichtlich des verbotenen Gebrauchs von Feuerwaffen werden aufrechterhalten.< Er unterschrieb und reichte Meadows den Artikel zurück. »Das hatte ich befürchtet«, sagte Meadows betrübt. »Wollen Sie es nicht doch bei dem ursprünglichen Text belassen?« »Sie sind doch jetzt aus dem Schneider. Worum sorgen Sie sich denn noch?« Meadows zuckte die Schultern. »Weil ich Sie gern habe. Es gefällt mir nicht, daß Sie wegen eines dämlichen Seehundes Ihre Karriere aufs Spiel setzen, und ich gestehe, daß mir das völlig unverständlich ist.« »Ich habe zwei Kinder zu Hause«, sagte Brody. »Und die würden es nicht begreifen, wenn ich anders handelte.« Er verließ Meadows und ging zum Aqua Center. -1 9 1 -
Bürgermeister Larry Vaughan sah zu dem hageren alten Kerl vor ihm auf. Er stöhnte innerlich. Starbuck hatte in den letzten drei Tagen dreimal angerufen, und außerdem wußte der Apotheker genau, daß Vaughan es haßte, sein Bürgermeisterbüro für Privatgeschäfte zu benutzen. Es machte ihn nervös, und es war auch unzulässig. Und wenn ihn jemand dabei überraschte, konnte er sich auf allerlei Unannehmlichkeiten gefaßt machen. Wahrscheinlich suchte ihn Starbuck absichtlich hier auf. »Verdammt noch mal, Nathaniel«, fuhr Vaughan ihn an. »Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich hier nicht gestört zu werden wünsche. Hier nicht. Hier wird nicht über Grundstücksgeschäfte verhandelt. Dieses Büro gehört der Stadtverwaltung. Merken Sie sich das.« »Ich bezahle schließlich meine städtische Steuer«, entgegnete Starbuck gleichgültig. »Haben Sie irgendwelche Kaufofferten für die Apotheke?« Es war höchste Zeit, daß man Starbuck Vernunft und Manieren beibrachte. Als Bürgermeister und als Grundstücksmakler. Vaughan begann, ihm an den Fingern herzuzählen, was er bisher unternommen hatte. Zuerst einmal habe er eine große Maklerfirma in New York angerufen, die sich besonders auf Feriengrundstücke an der See spezialisiert hatte, und dann eine andere, die sich vor allem mit der Vermittlung von Ladengeschäften für Apotheken, Drogerien und Ladenketten befaßte. In Wirklichkeit hatte er keins von beiden getan, aber das konnte Starbuck ihm nie nachweisen. »Beide Agenturen haben zunächst einmal die letzten Statistiken der hiesigen Handelskammer verlangt. Und Sie wissen ja selbst, wie schlecht die Geschäfte im letzten Sommer gelaufen sind.« Starbuck starrte ihn nur gelassen aus seinen kalten blauen Augen an. Vaughan fühlte sich ihm gegenüber unbehaglich. Er spielte schon mit dem Gedanken, ihm jetzt sein eigenes Angebot zu machen, und sei es nur, um den alten Graupel -1 9 2 -
endlich aus seinem Büro zu kriegen. Aber nein, es war immerhin noch besser, ihn ein wenig länger schwitzen zu lassen, und mit Lenas Krankheit würde er ihn bald in der richtigen Ecke haben ... »Ich weiß, daß es für Sie dringlich ist«, endete er. »Und ich habe all meine Fühler ausgestreckt. Wie geht es ihr, Nate?« Nate winkte ab. »Es wird immer schlimmer. Aber machen Sie sich darum keine Sorgen. Verkaufen Sie nur, Herr Bürgermeister ...« Seinem Tonfall nach stand der >Herr Bürgermeister in Anführungsstrichen, und hinter dem ausdruckslosen Gesicht verbarg sich eine Drohung. Es war an der Zeit, Starbuck endlich die Würmer aus der Nase zu ziehen und herauszubekommen, was hinter der ganzen Sache steckte. Plötzlich war Vaughan sicher, daß er es wußte. Der alte Gauner mußte auf irgendeine Weise etwas über Moscotti erfahren haben. Da er seinen Laden neben der Bank hatte, war es ihm vermutlich nicht entgangen, daß man Peterson den gewünschten Kredit abgeschlagen hatte, vielleicht auch hatte er Peterson mit Moscotti gesehen. Und dann war Starbuck, wie er es immer tat, den Dingen auf seine Art nachgegangen, hatte überhaupt nichts begriffen und den Einfluß des Gangsters auf das Spielcasino als eine Bedrohung des Geschäftslebens aufgefaßt, statt als das Gegenteil. Und wahrscheinlich glaubte er auch, die Sache sei ein Geheimnis, was ebenfalls nicht stimmte. Und wahrscheinlich bildete er sich ein, Vaughan habe Angst, daß die Sache ans Licht kommen könne, und fürchte vielleicht, bei den nächsten Wahlen zu verlieren. Absolut lächerlich. Die Bürger von Amity würden so lange für ihn stimmen, wie die Geschäfte im Sommer blühten. Und wenn erst einmal das Spielcasino richtig funktionierte, war er Bürgermeister, bis die Hölle einfror. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wann wird Lena nun ins Krankenhaus kommen? Sie geht doch ins Krankenhaus, nicht wahr?« fragte er hinterhältig. -1 9 3 -
»Das tut nichts zur Sache. Verkaufen Sie nur.« »Für wann ist sie denn im Memorial-Krankenhaus angemeldet?« »Sie ist nicht angemeldet. Helfen Sie mir, die Apotheke loszuwerden, oder Sie werden es noch bereuen.« Er hatte also recht gehabt. Starbuck bildete sich ein, ihn unter Druck setzen zu können. Vaughan entspannte sich und unterdrückte ein Grinsen. »Und warum sollte ich das, Nathaniel?« fragte er leichthin. Starbuck lächelte. Er ging zum Ledersofa, auf dem Vaughan sein Nachmittagsschläfchen zu halten pflegte, und setzte sich bequem hin. Er begann, sich feierlich seine Pfeife zu stopfen, sog an ihr und füllte bald den Raum mit einer nach Sir Walter Raleigh duftenden Tabakswolke. »Ich könnte zum Beispiel den Auftrag an eine andere Maklerfirma weitergeben.« »Das könnten Sie«, stimmte Vaughan ihm zu. »Aber wenn ich Ihr Grundstück nicht verkaufen kann, dann können es die anderen auch nicht, und das wissen Sie genau. Ich nehme also an, daß Ihnen noch etwas anderes vorschwebt. Habe ich recht?« Starbuck nickte. »Da könnten Sie schon recht haben. Ich könnte zum Beispiel auch, wie man so sagt, die Katze aus dem Sack lassen.« »Und was wäre das für eine Katze?« »Vielleicht gibt es hier in der Stadt noch ein paar Leute, die nicht so gut wie Sie und Brody und vielleicht noch ein paar andere über dieses sogenannte Wiederaufleben informiert sind, das man uns in Aussicht stellt. Und vielleicht möchten die es ganz gerne wissen. Vielleicht haben Leute wie Sie und Brody und all die anderen Eingeweihten ein Interesse daran, daß ich aus der Stadt bin, bevor die Bombe platzt, wie man so sagt. Verkaufen Sie meinen Laden, oder kaufen Sie ihn selber, und Sie haben mich aus der Stadt raus. Wie gefällt Ihnen das?« Der Gedanke, daß Starbuck die Stadt verlassen würde, war so verlockend, daß man es selbst, falls man es richtig anpackte, -1 9 4 -
durch eine öffentliche Subskription erreichen könnte, denn der Apotheker erfreute sich in der ganzen Stadt keiner besonderen Beliebtheit. Aber Vaughan war entschlossen, am Ball zu bleiben. Ein wenig Gehirnwäsche war hier offenbar notwendig. Und darin betrachtete sich Vaughan als ein wahrer Meister. »Nathaniel«, sagte er gedehnt. »Sie haben ganz recht. Es ist leider wahr. Ich meine, in bezug auf das, was uns hier erwartet.« Starbuck hob die Augenbrauen, paffte gleichgültig seine Pfeife und wartete. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie die Sache mit Moscotti herausgefunden haben«, fuhr Vaughan fort, »aber ...« »Moscotti? Den habe ich doch gar nicht erwähnt«, sagte Starbuck offensichtlich überrascht. Dann wurde sein Gesicht gleich wieder ausdruckslos. Vaughan war nun ebenfalls überrascht und sah ihn forschend an. Weiß Gott, dieser Starbuck war wirklich unberechenbar. »Natürlich haben wir alle Angst vor ihm«, gestand Vaughan. »Er wird zwar das Casino retten, aber«, log er weiter, »das wird den legalen Geschäften hier alles andere als nützlich sein. Sie werden es als erster zu spüren bekommen. Und das muß ich Ihnen schon lassen, Sie haben es vor allen ändern erkannt. Der Ärger ist nur, daß es sich allmählich herumspricht.« »Moscotti?« fragte Starbuck nachdenklich. »Moscotti meinen Sie also? Und der soll das Casino übernehmen?« Vaughan nickte. »Wenn es erst jeder weiß, kann es zu einer Panik zu kommen, und alle wollen verkaufen. Sie haben ganz recht.« Starbuck sagte nichts mehr dazu. Er schien fast das Interesse verloren zu haben. Ein seltsamer Kerl ... Vaughan fuhr fort. »Wußten Sie eigentlich, daß Lena sich um mich gekümmert hat, als ich noch ein Kind war?« Starbuck zuckte die Schultern. »Ich nehme an.«
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»Sie war immer sehr nett zu mir. Sie wissen ja, wie es ist ... Ein einsamer kleiner Junge in einem großen Haus, und die Eltern sind den halben Sommer lang nicht da ...« Starbuck rückte nervös auf dem Sofa hin und her. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Larry?« »Nun, ich möchte Ihnen helfen. Selbst wenn Lena gar nicht krank ist, weiß ich sehr gut, daß Sie verkaufen wollen. Ich bin mir im übrigen des Risikos voll bewußt, aber ich bin bereit, trotzdem auf die Zukunft Amitys zu wetten. Und ich kann Ihnen versichern, daß kein Außenstehender eine solche Wette eingehen würde, nach der Sache mit dem Hai und jetzt mit Moscotti ...« »Die Sache mit dem Hai«, nickte Starbuck. »Ganz richtig. Vergessen wir vor allem nicht die Sache mit dem Hai, Larry.« Na schön, wenn Starbuck sich einbildete, daß die alte Geschichte mit dem Hai immer noch nicht vergessen war, dann sollte er's nur. Vaughan lehnte sich zurück und schnitt ein nachdenkliches Gesicht. Dann stand er auf und ging einige Male im Zimmer auf und ab. Danach setzte er sich wieder und trommelte mit dem Bleistift auf die Tischplatte. Schließlich machte er sich einige Notizen und gab sich den Anschein, Zahlen zu addieren. Starbuck seufzte schwer. »Nun lassen Sie schon das Getue. Was bieten Sie?« Der raffgierige Filzkragen! Vaughan blickte auf, als habe ihn Starbucks Frage geschmerzt. »Fünfundzwanzig«, sagte er. »Dreißig ... Vielleicht könnte ich bis auf dreißig gehen ...« »Der Preis ist aber fünfzig«, sagte Starbuck trocken. »Und ich frage mich übrigens, ob Moscotti auch wirklich über alles im Bilde ist. Er verbringt doch immer noch den Sommer hier, nicht wahr?« »Was wollen Sie damit sagen? Ob er über alles im Bilde ist?« »Verbringt er noch seine Ferien hier? Ja oder nein?« »Nun hören Sie mal, Nate. Sie wollen doch nicht etwa ihm Ihr Grundstück verkaufen?«
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»Ich werde es verkaufen. Und wenn Sie es für mich nicht schaffen, dann werde ich's auf eigene Faust machen.« »Ich will ja nichts gesagt haben«, sagte Vaughan geheimnistuerisch. »Ihn im Casino zu haben, ist schon schlimm genug. Aber wenn man ihm dazu noch die Apotheke der Stadt in die Hände gibt - Donnerwetter, da wage ich mir die Folgen gar nicht auszudenken. Sie wissen ja, mit Drogen und solchen Sachen. Da braucht er ja nur einen schiefen Apotheker zu finden.« »Vielleicht brauche ich ihm meine Apotheke nicht zu verkaufen«, sagte Starbuck bedeutungsvoll. »Vielleicht kann ich ihm anstatt dessen etwas anderes verkaufen. Wohnt er noch immer in dem Haus von Ruskin?« Schon wieder hatte seine Stimme einen bedrohlichen Ton angenommen. Vaughan sagte: »Ja. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« Starbuck stieß ein trockenes Kichern hervor, schüttelte den Kopf und ging fort. Vaughan blickte ihm nach. Zum Teufel mit diesem Kerl und seinem Verfolgungswahn. Sollte er nur zu Moscotti gehen, und nachdem der ihn rausgeschmissen hat, könnte man ihm immer noch ein neues Angebot machen. Aber dann ein niedrigeres. Der Summer auf seinem Schreibtisch ertönte. »Mr. John Halloran, Rechtsanwalt«, verkündete Daisy Wicker. »Er vertritt Wachtmeister Jepps.« Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, sich durch sein Parterrefenster aus dem Staub zu machen. Dann stöhnte er und drückte auf den Knopf. »Bitten Sie ihn herein, Daisy. Und holen Sie Brody.« Jetzt saß er wie ein Drache in der Höhle und erwartete den Angriff des legendären Halloran, des unbesiegbaren Rechtsanwalts und Drachentöters. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als sich ihm die Chance bot, den Polizeichef der Stadt zu entlassen. Das war, als Brody zu Beginn der Katastrophe den Strand schließen wollte. Heute wünschte Vaughan, er hätte Brody damals gefeuert. -1 9 7 -
Elftes Kapitel Brody parkte den Polizeiwagen Nummer eins vor dem Aqua Center. Auf den Schaufenstern stand in Goldschrift gemalt: Ihr Ratgeber und Lieferant für Ihren Lieblingssport: Tiefseetauchen, Surfing, Segeln. Drinnen war niemand zu sehen. Er hoffte, daß der Sommer bald bessere Geschäfte ermöglichen würde. Er trat ein. Aus dem hinteren Raum schallten ihm Stimmen entgegen. Sie kamen aus einer offenen Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift >SAUERSTOFF< hing. Darunter stand: >Beachten Sie, daß Ihre Sauerstoffflasche vor dem Auffüllen auf absolute Sauberkeit kontrolliert ist.< Er trat ein. Tom Andrews stand über ein mit Wasser gefülltes 250-LiterFaß gebeugt, das sich neben einem pfeifenden Luftkompressor befand. Er hatte eine Taucherflasche, die an den Kompressor angeschlossen war, ins Wasser getaucht. Um ihn herum standen Mike, Andy Nicholas, Larry Vaughan jr. und ein halbes Dutzend anderer zukünftiger Tiefseetaucher im vollen Dreß. Sie alle schauten Brody etwas erschreckt an, da sie zweifellos fürchteten, er würde ihren Taucherausflug verhindern wollen. Brody fragte Andrews, ob er seit der Eröffnung seines Ladens irgendwelche Leuchtpistolen verkauft habe. Ja, das habe er. An wen? Da müsse er einmal in seinen Büchern nachsehen. Er holte ein Formular des Diner's Club hervor. »Am vorigen Samstag. An R. L. Heller, 1433 Myrtle, Lynbrook ...« »Das ist es«, sagte Brody. Dann erklärte er ihm, daß das Einschußloch im Benzintank, den er am Strand gefunden hatte, von einer Leuchtpistole stamme, und Andrews machte ein sichtlich enttäuschtes Gesicht. »Dann war es also nicht dieser Polizist aus Flushing?« Brody schüttelte den Kopf. »Jedenfalls hat er immer noch auf einen Seehund geschossen.« Andrews nickte gedankenvoll. »Aber ich habe da einiges gehört. Politisches Gerede ...«
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»Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?« fragte Brody neugierig. Andrews blickte sich in seinem Laden um. Außer den Kindern waren keine Kunden da. Dann zeigte er auf das kläglich schmale Häufchen von Bestellzetteln auf seinem Schreibtisch. »Das ist nun schon die zweite Sommerwoche«, brummte er. »Es würde mir weiß Gott nichts ausmachen, wenn man mir hier ein paar Spielautomaten aufstellte.« »Sie würden also die Anklage fallenlassen?« fragte Brody tonlos. Die Kehle war ihm trocken. »Einige meiner besten Freunde sind Seehunde«, grinste Andrews. »Hängen Sie den Scheißkerl meinetwegen an den Galgen.« Die Ladentürklingel ertönte. Ellen und der Offizier der Küstenwache von Quonset Point traten ein. Brody war überrascht und stellte sie Andrews vor. »Er ist mit Hooples Taxi gekommen«, erklärte Ellen rasch, »und da habe ich ihn mitgebracht.« Sie hatte es ein wenig zu rasch gesagt. Brody verspürte einen Stich von Eifersucht. Er fragte sich, ob sie sich wohl ebenso bereitwillig gezeigt hätte, den Hubschrauberkommandanten hierher zu fahren, wenn er zehn Jahre älter gewesen wäre und einen Spitzbauch gehabt hätte. Aber er unterdrückte dieses Gefühl auf der Stelle. Während der Katastrophe hatte er ein ähnliches Gefühl gehabt, und vielleicht hatte sie damals mit diesem jungen Haiexperten wirklich geflirtet, aber damals war er selbst zu sehr mit dem Hai beschäftigt gewesen, um sich darum zu bekümmern. Die Jungen betrachteten interessiert die Sauerstoffflaschen, Messer und sonstiges Zubehör in den Vitrinen. »Mr. Andrews«, begann Chaffey. »Wir haben eine Belohnung von tausend Dollar ausgesetzt, als Finderlohn für die verlorengegangene Kugel der Marine.« »Fabelhaft!« rief Mike. »Wir werden sie suchen. Wir sind dreizehn und ...« -1 9 9 -
Andrews sah ihn scharf an. »Falls du die Kugel suchen gehst und heute irgend etwas anstellst, das ich dir nicht ausdrücklich befohlen habe, dann bist du zum letztenmal getaucht. Dann werde ich nämlich deine hübsche Examenskarte zerreißen, und du wirst erst dann wieder eine neue bekommen, wenn du Vernunft angenommen hast. Die Marinetaucher haben nach der Kugel gesucht und sie nicht gefunden, und da wollt ihr Grünschnäbel es versuchen?« Mike wurde rot. Brody hatte das Gefühl, daß er seinen Sohn irgendwie schützen müßte. »Lassen Sie nur, Tom. Er hat Sie verstanden. Es geht ihm ja nicht um das Geld. Aber er war der letzte, der den Hubschrauber gesehen hat.« »Aber mir geht es um das Geld«, erklärte Andrews dem Kommandanten. »Ich werde mich in der nächsten Woche einmal danach umsehen.« Chaffey entschuldigte sich, die Angelegenheit in Gegenwart der Taucherklasse vorgebracht zu haben, und Ellen erbot sich, ihn zu seinem Hubschrauber zurückzufahren, mit dem er dieses Mal außerhalb der Stadt auf dem verlassenen Marineflugplatz zwischen Amity und Montauk Point gelandet war. »Nein, laß nur. Ich werde ihn mitnehmen«, sagte Brody, ebenfalls ein wenig zu rasch. Als er nun mit dem Kommandanten durch das Stadtzentrum von Amity fuhr, versuchte Brody, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Es war nämlich gar nicht die Eifersucht, die ihn veranlaßt hatte, den Mann auf den Flugplatz zu fahren, sondern nur der Wunsch, nicht in sein eigenes Büro zurückkehren zu müssen. Er hatte seit heute früh ein unangenehmes Gefühl im Magen, und er sagte sich, je länger er heute Jepps, Moscotti und dem gottverdammten Amity Leader fernblieb, um so besser. Nachdem die Weiße am Tag vorher den Tümmler angegriffen hatte, war sie ziellos in einem Dreieck von je zwanzig Meilen Länge zwischen Block Island, Fisher's Island und Montauk Point umhergeschwommen. -2 0 0 -
Sie suchte das Gewässer um die nordöstliche Öffnung des Long Island Sound ab, denn aus dem offenen Meer vor Amity hatte sie bereits alle faßbaren Lebewesen verjagt oder verschlungen. In ein bis zwei Tagen sollte sie ihre Jungen zur Welt bringen. Ihr Heißhunger, der sie automatisch verlassen würde, sowie sie niederkam - eine Vorsorge der Natur, um ihre Kleinen vor ihrer Gefräßigkeit zu schützen -, stieg noch ein letztes Mal in ihr auf. Innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie den Delphin, zwanzig Pfund Schnappfisch, einen hundertpfündigen Blauhai, einige Meerbarben und drei Taucherreiher verschlungen. An der Küste vor Quonochontang hatte sie einen Köder geschluckt, dann aber den Haken so rasch von der Leine gerissen, daß der Fischer annahm, er habe sich in einem großen Stück Treibholz verhakt, und nicht weiter über den Vorfall nachdachte. Der Haken war ihr in den Oberkiefer eingedrungen und irritierte sie. Als sie von Montauk Point aus noch einmal der Küste von Amity entgegenschwamm, hatte sich ein Schildfisch mit seinem Saugmaul an ihren Unterkiefer geheftet, hing dort wie ein lebendiger Spitzbart und brachte sie in eine entsetzliche Wut. Sie hatte mehrere Male vergeblich versucht, ihn an einem kantigen Unterwasserfelsen in der Nähe des Leuchtturms von Montauk Point abzustreifen. Es war ihr nicht gelungen, und nun hing der Schildfisch immer noch an ihr, war lebendig und störte sie, aber dann wurde ihr Hunger wieder stärker, und sie hatte ihn fast wieder vergessen. Sie umschwamm Montauk und bewegte sich nun in südöstlicher Richtung parallel zum Strand von Napeagues. Sie schnupperte die Strömungen von der Küste auf, suchte das um sie fließende Wasser mit ihren seitlichen Empfindungsorganen nach Vibrationen ab und orientierte sich ganz nach den Eingebungen ihres elektromagnetischen Spektrums. Als sie wieder vor Amity war, hatte sie zwei Stunden lang keine Nahrung mehr zu sich genommen.
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In ihrem Leib regten sich die Kleinen mit großer Unruhe, denn sie waren ungeduldig, voneinander und von ihrer Mutter loszukommen. Der Schildfisch saugte unaufhörlich. Ihr Heißhunger wurde unerträglich. Sie war aufs äußerste gereizt und bereit, sich auf das erste sich bewegende Wesen zu stürzen. Der große Halloran sprach zuerst mit verhältnismäßig leiser Stimme. Auf den ersten Blick sah er wie ein kahlköpfiger Zwerg aus, mit dicken Brillengläsern und einem verkrampften und verkniffenen Mund. Brody fragte sich während der ersten drei Minuten, die er in Bürgermeister Vaughans Büro mit dem Anwalt verbrachte, woher er seinen Spitznamen >die Heulsirene< hatte. Lange brauchte er es sich nicht zu fragen. Halloran blickte ihn lächelnd an. »So, Herr Polizeichef. Habe ich die Situation richtig geschildert? Daß Sie nämlich nicht gesehen haben, wie die Schüsse abgefeuert wurden? Und daß Sie sie nur über die Dünen hinweg gehört haben?« Brody wies ihn darauf hin, daß er innerhalb von Sekunden am Tatort erschienen sei, den Angeklagten in knieender Stellung und zu einem weiteren Schuß bereit gesehen habe, während sich sein kleiner Junge die Ohren zugehalten und der Hund sich hinter ihm verborgen hätte. »Es steht alles in meinem Bericht«, sagte Brody. Er hatte in den letzten zehn Jahren vielleicht ein halbes Dutzend mal vor Gericht als Zeuge ausgesagt. Damals war es um Unfälle mit Fahrerflucht, das Verprügeln einer Ehefrau, Marihuanarazzien und einigen beanstandeten Anzeigen wegen Trunkenheit am Steuer gegangen. Er hatte ein instinktives Mißtrauen gegen Rechtsanwälte, ob sie zur Staatsanwaltschaft oder zur Verteidigung gehörten, und deshalb war er auch bemüht, die Ruhe zu bewahren. »Aber es gibt da zwei Berichte«, murmelte Halloran mit noch leiserer Stimme. »Und der andere stammt von der SuffolkCounty-Polizeibehörde. Ein ballistischer Bericht, den Sie selbst -2 0 2 -
angefordert haben. Nun sagen Sie mir bitte: Haben Sie tatsächlich meinen Klienten auf einen Tiefseetaucher schießen sehen?« »Natürlich nicht.« Ein wenig lauter: »Und auf ein Wasserskimotorboot?« »Nein.« »Auf sonst noch jemanden?« Halloran schrie diese Frage hysterisch bellend. »Nun hören Sie mal, Mr. Halloran. Wir sind hier nicht vor Gericht. Wenn ich erst einmal als vereidigter Zeuge vorgeladen bin, können Sie diese Mätzchen anbringen, falls der Richter es zuläßt. Aber hier nicht!« Halloran ließ sich nicht einmal anmerken, daß er ihn gehört hatte, und fuhr fort: »Wenn Sie ihn also nicht auf irgend jemand haben schießen sehen, und wenn niemand ihn auf irgend jemanden hat schießen sehen«, brüllte er, »warum haben Sie dann den Amity Leader angerufen und ihm das hier erzählt?« Er zog die Ausgabe des Leader der letzten Woche aus seiner Aktentasche und hielt sie Brody vors Gesicht. »Ich habe nur mitgeteilt, daß ich den Fall untersuche«, sagte Brody und hatte alle Mühe, seine Ruhe zu bewahren. »Und das ist dann auch gedruckt worden.« »Sie haben der Zeitung diktiert, was sie schreiben soll.« Der kleine Mann schrie nun. Larry Vaughan bekam einen roten Kopf. Brody fuhr zusammen. Jeder Mensch in der Stadt und besonders die Leute auf der Straße hörten sicher jedes Wort durch die offenen Fenster. »Wollen Sie hören, was Sie tatsächlich gesagt haben? Mein Klient war ja Zeuge Ihres Telefongesprächs. Sie haben gesagt: >Ich habe einen ziemlich sicheren Verdacht, daß die Taucher und das Wasserskiboot von demselben verrückten Scheißkerl abgeknallt worden sind.< Wollen Sie das vielleicht leugnen?« Brody antwortete nicht. »Gut«, sagte Halloran so leise, daß man ihn kaum hörte. Dann grinste er wie eine ausgepreßte Zitrone. »Das ist üble Nachrede, und im Augenblick, da es -2 0 3 -
gedruckt wurde, war es Verleumdung. Jetzt ist nur noch die Frage, warum Sie das getan haben. Es muß doch irgendein Grund dazu vorliegen.« »Ihr Klient hat am Strand herumgeballert. Es gehört zu meinen Obliegenheiten, den Leuten klarzumachen, daß die Polizei derartiges nicht zuläßt.« »Nun hören Sie mal, Brody«, versuchte Vaughan einzuwenden. »Ich glaube, Sie sollten in dieser Sache vielleicht nicht zuweit gehen.« »Er ist aber schon zuweit gegangen«, brüllte Halloran. »Ihre ganze Stadt ist schon zuweit gegangen. Mein Klient ist fälschlich verhaftet worden. Er wurde ins Gefängnis gesteckt. Ihr Polizeichef hat versucht, ihn mit frei erfundenen ballistischen Indizienbeweisen zu belasten, und der >vertrauliche< Bericht, den er zurückbekam, hat Jepps eindeutig entlastet.« Die Stimme war zu ihrem vollen Volumen angeschwollen; sie tönte hoch und krächzend, wie wenn man mit einem Riesenfingernagel eine Schiefertafel kratzt. »Und warum hat Brody ihn verleumdet? Wissen Sie es?« Vaughan starrte Halloran blöd an. Er war wie hypnotisiert. Schließlich schüttelte er den Kopf. Halloran streckte einen knochigen Zeigefinger nach Brody aus. Um seiner Rede den gewünschten dramatischen Effekt zu verleihen, senkte er wieder die Stimme. »Das Glücksspiel soll der Stadt neue Einnahmequellen verschaffen. Oder sollte vielmehr, bis Ihr Mann hier alles verpatzt hat. Das wäre doch eine Goldmine für einen ehrgeizigen Polizeichef. Jepps hat hier jahrelang jeden Sommer verbracht. Im nächsten Jahr wird er bei der Polizei in Flushing seinen Abschied nehmen. Einen besseren Polizeichef als ihn können Sie sich hier gar nicht wünschen. Und Brody weiß das. Und da hat dieser kleine Provinzler halt Angst um seine Stellung gekriegt. Das ist der Grund!« Brody war sprachlos. Er staunte den zwergenhaften Anwalt an wie ein armer Tölpel, der einem Bauernfänger auf den Leim
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gegangen ist. »Wie war das bitte?« fragte er mit schwacher Stimme. Halloran blickte ihn triumphierend an. Automatisch trat Brody einen Schritt auf ihn zu. »Brody!« warnte Vaughan. »Nehmen Sie sich in acht!« Aber Brody lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Larry.« Er blickte Halloran verwundert an. »Larry? Ist dieser Kerl verrückt?« Vaughan schaute verlegen drein. Dann wandte er sich an Halloran. »Hören Sie, Mister Halloran, wenn wir Polizeichef Brody dazu bewegen könnten, die Anklage wegen Verletzung des Bundesgesetzes fallenzulassen ...« »Dazu ist es zu spät«, sagte Halloran. »Mit diesem Zeitungsartikel ist der Schaden nun mal da. Mein Klient hat sich sehr darüber geärgert, und ich zweifle sehr, ob ich ihn noch umstimmen kann.« »Versuchen wir es doch«, bettelte Vaughan. »Nicht wahr, Brody?« Brody schaute Vaughan an. Einen Augenblick lang hielten die Augen des Bürgermeisters seinem Blick stand, dann senkten sie sich. »Nein«, sagte Brody in aller Ruhe. Er drehte sich auf den Hacken um und verließ das Zimmer. Andy Nicholas hockte mit der halb heruntergelassenen Hose seines Taucheranzugs am Taucherflaschenständer im Heck der Aqua Queen. Er schnaufte, denn das Zeug war ihm zu eng und drückte ihn am Gesäß. Er sah in seinem Taucheranzug wie eine Wurst aus und wußte es. Wenn die Klasse sich zum Tauchen fertig machte, war er immer der letzte, denn es fiel ihm schwer, sein rosiges Schweinefleisch in die engsitzenden Neoprenhosen zu zwängen. Und wenn er das Oberteil anhatte, taten ihm stets seine fetten Arme weh. Jetzt hatte er ein Bein drinnen, und der andere Fuß klemmte im engen Gummihosenbein. Er blickte sich hilflos um. Larry -2 0 5 -
Vaughan war natürlich schon wieder einmal dabei, sich vor Tom Andrews aufzuspielen, als dieser den Anker am Bug herunterließ. Wahrscheinlich fragte er ihn, ob er als erster der Klasse tauchen dürfe, oder, was noch wahrscheinlicher war, bat er ihn, nicht mit Andy tauchen zu müssen. Sollte er nur, der blöde Affe. Larry behandelte ihn ohnehin immer von obenherab. Er sah zu Mike Brody herüber, der wie gewöhnlich bereits fix und fertig war, seine Sauerstoffflasche um die Schultern gehängt hatte und still auf dem Strombord saß und in das tiefe, grüne Wasser blickte. »Heh, Mike?« Mike watschelte auf seinen Flossen zu ihm hin. Gott sei Dank schien er ihm nicht mehr böse zu sein wegen dieser dummen Geschichte am Strand, als er und Larry Mike und Jackie nachspioniert hatten. Er ergriff Andys Hosensaum, rollte ihn zurück, zog den Fuß durch und glättete wieder das Hosenbein. Mike war mindestens drei Larry Vaughan wert. An jenem Tag am Strand hatte er Larry wirklich eine ganz schöne Angst eingejagt, und es war ein Wunder, daß er ihn nicht ertränkt hatte, und von jetzt ab würde ihn auch nie mehr jemand >Spitz< nennen; falls er jemals wieder in eine Schlägerei geraten sollte, würde Andy ihm bis zu den Grenzen seiner Kräfte beistehen. »Willst du heute mal mit mir tauchen?« bettelte Andy. »Meinetwegen, wenn du die Augen offenhältst und mir hilfst, das Ding da zu finden. Verstanden?« Dann fügte Mike flüsternd hinzu: »Ich meine die Kugel von dem Hubschrauber.« Andy hegte starke Zweifel, ob er fähig sein würde, seine Augen für irgend etwas anderes als den ihm am nächsten tauchenden Menschen offenzuhalten. Er beschloß, Mike alles Denken zu überlassen, und hoffte nur, mit ihm Schritt halten zu können. Andrews kam zur Steuerkabine zurück. »Aufgepaßt, Jungens. Stellt euch in Zweiergruppen auf. Und jetzt frage ich euch zum letztenmal: Was tun wir, wenn wir hinuntergehen?« »Atmen«, riefen alle im Chor. »Ein und aus!« »Und was tun wir, wenn wir heraufkommen?« »Ausatmen, aus, aus, aus!« -2 0 6 -
»Noch einmal, Jungens. Und lauter.« »Ausatmen, aus, aus, aus!« »Und wie schnell kommen wir hoch?« »So langsam wie unsere langsamste Luftblase!« Andrews streckte einen Daumen hoch und sah sich um. Bei Gott, dachte Andy, er ließ sie als erste tauchen, er wird Mike und ihn als erste gehen lassen ... »Brody und Nicholas. Rein ins Wasser!« Sie drehten sich gegenseitig die Luftzufuhr an und pusteten in ihre Regulatoren, um sie zu testen. Wenigstens gab es da unten keinen Staub, der einen Asthmaanfall auslösen konnte, tröstete sich Andy. Sie spuckten in ihre Masken, um sie klarzubekommen. Dann drehte sich Mike plötzlich um und ließ sich ins Wasser fallen. Andy schloß die Augen und folgte ihm mit pochendem Herzen und trockener Kehle. Er sprang und sank. Mein Gott, mit diesem Tank, dem Gewichtsgürtel, dem Tauchermesser und den Flossen mußte er mindestens zwei Tonnen wiegen. Er verspürte einen Anfall von Panik und hätte fast seinen Gürtel weggeworfen, aber dann kam er wieder an die Oberfläche. Die Welt vor seiner Tauchermaske war ein schmieriger Dschungel voller grüner Blasen. Er vernahm seinen stockenden Atem im Regulator. Wenn er nun hier plötzlich einen Anfall bekäme? Jetzt konnte er überhaupt nichts mehr sehen. Was war denn nun passiert? Dann erinnerte er sich. Er ließ Wasser in seine Maske, schleuderte es absichtlich herum, indem er den Kopf schüttelte, und stieß es dann durch das Nasenventil aus. Jetzt leuchtete wieder alles vor ihm. Mike Brody ließ sich herumwirbelnd in die smaragdgrüne Tiefe sinken und erschien dann klar in einer Wolke von tanzenden Luftblasen unter ihm. Mike hielt einen Augenblick inne, blickte hinauf und winkte. Andy folgte ihm. Die Seehundmutter hatte den größten Teil der letzten fünf Tage in den stillen Wassern des Amity Sound verbracht. Sie war -2 0 7 -
hilflos und verzweifelt längs der schlammigen Küste hin und her geschwommen, denn sie spürte, daß ihr Kleines irgendwo in der Nähe sein mußte. Wenn der Wind nach Südosten drehte, konnte sie es direkt riechen, und sie brauchte nur ihre Nase hoch genug aus dem Wasser zu strecken und den Kopf zurückzubeugen. Sie roch es ganz deutlich, aber stets war ein starker Menschengeruch dabei. Sie hatte sehr wenig Nahrung zu sich genommen. Im Sound war die Beute ohnehin rar, und das wußte sie, denn sie hatte schon früher einige Vorstöße in diese Gegend unternommen und kaum je etwas Eßbares gefunden. Hätte sie das Kleine bei sich gehabt, oder hätte sie sich mit ihrem Verlust abgefunden, so wäre sie jetzt schon lange oben im Norden, fern von dem weißen Tod, dessen Gegenwart sie jedesmal wahrnahm, wenn sie aus dem Sound ins offene Meer zu schwimmen begann. Trotz ihres Mutterinstinkts, der sie immer wieder an die Küste trieb, kam dann doch einmal der Augenblick, wo der Hunger sie überwältigte und sie zwang, sich auf die Beutesuche in die offene See hinauszuwagen. So war es ihr an diesem Morgen geschehen, als sie noch einmal kurz zum Abschied bellte und dann aufgebrochen war. Sie schwamm die Küste von Amity Sound entlang und bewegte sich dem aus der starken Brandung ragenden Leuchtturm zu. Sie fand nicht einen einzigen Dorsch, nicht einen einzigen Schellfisch. Das war seltsam und konnte bedeuten, daß die Große Weiße näher war, als sie vermutet hatte. Sie machte kehrt und schwamm in die Richtung des Cape North zurück, und als sie dort anlangte, war sie so nervös, daß sie sich etwas auf einem der Felsen am Fuße des Leuchtturms von Cape North ausruhen mußte. Dort blieb sie eine Weile. Aber sie hatte immer noch nichts gefressen, und schließlich trieb sie der Hunger wieder ins Wasser zurück. Dieses Mal schoß sie schnell wie ein Pfeil bis vor den Hafen von Amity, wo sie einst mit ihrem Kleinen auf einen Schwärm Makrelen gestoßen war. Aber heute vernahm man aus dem Hafen nur das Geräusch von Menschen, und es gab weit und breit keine Fische. Sie ließ sich einmal rasch -2 0 8 -
durch den Hafen gleiten und schwamm bis zu den Pfeilern einer ihr wohlbekannten Landungsbrücke. Dann verließ sie den Hafen wieder, um sich draußen umzusehen. Sie schwamm an der klagevoll klingenden Heulboje von Amity vorbei, die plärrend auf den Wellen schaukelte, und drehte in südöstlicher Richtung zum Strand hin ab. Sie gelangte in raschen Stößen an den Ort, wo sie ihr Kleines verloren hatte, aber jetzt waren alle ihre Sinne nur noch auf ein Ziel gerichtet: Nahrung. Sie war gerade untergetaucht und beabsichtigte, fünfzehn Minuten unter Wasser zu bleiben, als sie auf einen seewärts schießenden Schwärm von Makrelen stieß. Sie beschleunigte das Tempo ihrer in kurzen Stößen rudernden Flossen und schoß in das Dunkel des Makrelenschwarms wie ein Habicht, der sich auf eine Schar von Zugvögeln stürzt. Sie packte den größten Fisch, den sie im trüben Wasser ausmachen konnte, und erkannte plötzlich, daß der Schwärm einem gemeinsamen Entschluß folgend nach Norden abdrehte. Sie schwamm quer durch die fliehenden Fische und ergatterte noch zwei weitere Makrelen. Nun, da ihr Hunger gestillt war, begann sie wieder emporzutauchen. Plötzlich spürte sie, daß eine große Gefahr auf sie lauerte. Sie war zu weit vom Land abgekommen und schwamm wieder der Küste zu. Als sie sich wandte, streckte sie den Hals empor, um zu sehen, ob der weiße Tod sich ihr näherte. Sie sah nichts, aber ihr Instinkt trieb sie der Küste zu. Sie schoß an die Oberfläche, hinterließ eine Spur von Luftblasen, nahm einen tiefen Atemzug, wirbelte in einem kräftigen Sprung herum und tauchte wieder. Unter Wasser war sie schneller als an der Oberfläche. Als sie sich dieses Mal umblickte, war es da. Ein trüber, grauer Schatten kam auf sie zu und versuchte, sie einzuholen. Sie war sich in ihrem Innersten bewußt, daß die Flucht nichts mehr half, und daß es zu spät war, aber sie schoß mit aller Kraft voran. Irgendwo vor sich vernahm sie das seltsame raschelnde Geräusch menschlicher Taucher. -2 0 9 -
Da sie von ihnen nichts zu befürchten hatte, schnellte sie weiter dem Sound zu. Vielleicht fand sie sich den Menschen verwandter und suchte bei ihnen Trost, vielleicht aber auch beabsichtigte sie, die Aufmerksamkeit ihres Verfolgers auf eine andere Nahrungsquelle zu lenken. Andy Nicholas war in einem Taumel der Begeisterung. Er schwamm neben Mike Brody, folgte ihm in der Höhe seiner linken Hüfte und hatte keine Mühe, mit ihm Schritt zu halten. So schössen sie mit gleichmäßigen Flossenstößen über den Meeresboden, und auf einmal wußte er, daß er seine Welt gefunden hatte. Er hatte überhaupt keine Angst mehr. Hier gab es kein Asthma, keinen Staub, hier atmetete man reine Luft aus der auf dem Rücken befestigten Sauerstoffflasche. Sein Atem war regelmäßig und unbeschwert. Hier unten konnte ein dicker Junge genauso gut schwimmen wie ein magerer, und vielleicht war es für ihn sogar noch bequemer, da die äußere Schutzschicht ihm mehr Wärme spendete. Tom Andrews hatte ja auch eine gute Schutzschicht. Allerdings war es bei ihm eine andere Art von Fett, aber vielleicht würde auch Andys Fett mit der Zeit härter und kräftiger werden. Er ließ einen Moment die Augen von Mike und blickte sich um. Der Meeresboden vor der Küste von Long Island war durchaus nicht die Art von Landschaft, die man auf den Bildern des Skin Diver Magazine zu sehen bekam. Hier gab es keine Korallenriffs und exotisch aussehenden Fische. Fast überall sah man nur Schlamm, der Boden war flach wie ein Brett, und nur einige herumliegende Muschelgehäuse belebten die Eintönigkeit ein wenig. Plötzlich erblickte er etwas, was ihm einen Schauder durch den ganzen Körper jagte. Es war ein Stechrochen. Schnell näherte er sich dem voraneilenden Mike. Wenn Andy erst einmal so groß wie Andrews war, würde sein Mut wahrscheinlich auch gewachsen sein.
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Aber jetzt blieb er immer weiter hinter Mike zurück. Er wandte all seine Kraft auf, mußte aber bald feststellen, daß er kaum mithalten konnte. Verdammt noch mal, sie sollten doch zusammenbleiben. Schwimm langsamer, schwimm langsamer, protestierte er innerlich. Er hätte ihn von Anfang an gar nicht bitten sollen, ihn mitzunehmen. Und nun war es wieder das alte Lied: Andy, der Nachzügler, Andy, der schnaufend als letzter ankam, sei es auf Pfadfindertouren, beim Turnunterricht oder beim Radfahren. Verdammte Gemeinheit! Unversehens erblickte er zu seiner Linken einen länglichen, offensichtlich von Menschenhand hergestellten Gegenstand auf dem Meeresboden. Er wußte sofort, daß er die Hubschrauberkugel gefunden hatte. Aber wie sollte er es beweisen, wie konnte er einen Anspruch auf die tausend Dollar Belohnung geltend machen, wie konnte er derjenige sein, der sie gefunden hatte, wo es doch all den anderen nicht gelungen war? Wenn er es nur Mike zurufen könnte! Aber sie waren unter Wasser. Es gelang ihm sogar, in sein Mundstück zu rufen, um Mike auf sich aufmerksam zu machen. Aber Mike wollte offenbar immer weiter, war mit seinen eigenen Wünschen beschäftigt und kümmerte sich nicht um Andy. Mit der Kameradschaft war es also wieder einmal nichts. Andy schwamm auf den Gegenstand zu. Es war tatsächlich die Kugel des Hubschraubers; sie war schwarz, zerbeult und eingedrückt, und eine Menge Drähte sowie ein abgerissenes Kabelende hingen aus ihr heraus. Es konnte gar nichts anderes sein. Er konnte es einfach nicht glauben. Eintausend Dollar und dazu noch der Ruhm. In Amity würde man ihn als einen Helden verehren. Brody hatte sie nicht gefunden, und die Marine hatte sie auch nicht gefunden. Donnerwetter, verdammt noch mal! Aber jetzt stand er einigen Problemen gegenüber. Wie sollte er das Ding wiederfinden, nachdem er wieder aufgetaucht war? Irgendwie mußte er über dieser Kugel bleiben und von da aus auftauchen, um Andrews im Boot ein Zeichen zu geben. Aber -2 1 1 -
das würde bedeuten, daß er seinen Tauchpartner verlassen hatte, und dann würde er wahrscheinlich nie mehr seine Taucherkarte bekommen. Er schwamm noch einmal zur Kugel, um sie sich besser anzusehen. Er war gerade dabei, sie vorsichtig zu berühren, als er einen Schatten sah, der sich auf ihn zubewegte. Einen Augenblick lang glaubte er, es sei Mike, der zurückgekommen war, und bei dem Gedanken verspürte er ein Gefühl der Eifersucht. Schließlich hatte er doch die Kugel entdeckt, und nun würde Mike sich mit ihm den Ruhm und die Belohnung teilen. Aber dann machte es ihm nichts mehr aus. Durch dieses Erlebnis würden sie ja zu Freunden und Partnern fürs Leben werden. Jetzt nahm der Schatten Form an. Es war nicht Mike. Es war überhaupt kein Taucher. Er sah überrascht, daß es ein Seehund war, der auf ihn zuschoß. Er duckte sich automatisch. Greifen Seehunde Menschen an? Nein. Er hatte es im Skin Diver gelesen. Manchmal versuchten sie, den Tauchern aufgespießte Fische wegzuschnappen, aber sie waren sonst ganz harmlose Tiere. Der Seehund war jetzt ganz nah. Andy versuchte vergebens, ihn mit einer Handbewegung wegzuscheuchen. Er schoß in einer Entfernung von etwa einem Meter an ihm vorbei. Andy sah ein sanftes braunes Auge, das ihn anblickte, und er hatte das seltsame Gefühl, daß der Seehund Angst hatte. Vor ihm oder vor etwas anderem? Er spähte in den Schlamm. Und was er jetzt sah, jagte ihm einen derartigen Schrecken ein, versetzte seinem Nervensystem einen solchen Schock, daß er im Nu sein ganzes Training vergaß, all die Stunden, in denen man ihm beigebracht hatte, wie man seine Sauerstoffflasche auf dem Rücken trug; alles war verschwunden und vergessen, und nur noch ein einziger Instinkt beherrschte ihn - diesem feindseligen Dschungel so schnell wie möglich zu entkommen. Ein Hai von ungeheuren Ausmaßen steuerte durch den Schlamm auf ihn zu. Andy sah noch das riesige, völlig ausdruckslose schwarze Auge und eine gewaltige -2 1 2 -
Schwanzflosse, die mächtige Wolken von Schlamm aufpeitschte. Er kniff die Augen zu, nahm einen großen Atemzug, hielt die Luft an und schoß dem weit entfernten Licht der trüben Oberfläche zu. Sein Gewichtsgürtel behinderte seine Flucht. Er suchte nach dem Löseknopf, fand ihn und ließ ihn von den Hüften gleiten. Er zog die Schnur an seiner Schwimmweste, die sich sogleich mit Luft füllte und ihn schneller an die Oberfläche trieb. Seine Lungen dehnten sich, als wenn ihm das Asthma die Kehle verschnürt hätte. Aber da war doch noch irgend etwas, das er jetzt tun müßte ... Was war es nur? Ausatmen! Das war es, aber konnte er überhaupt noch ausatmen? Und was sollte er tun, nachdem er einmal ausgeatmet hatte und noch nicht oben war? Bevor er die Oberfläche erreicht hatte, war er sicher, daß der Hai dem Seehund nachgejagt war und ihn gar nicht gesehen hatte, und daß die Verletzungen oder der Schock, den er sich zugezogen hatte - wer weiß, was es war -, ganz umsonst waren. Endlich war er oben angelangt, und erst dann atmete er aus. Aber da war es bereits zu spät. Er spürte einen Blutgeschmack im Mund. Dann wurde die Welt vor ihm verschwommen und dunkel. Seine aufgeblasene Schwimmweste rollte ihn auf den Rücken. Er muß wie ein totes Walfischbaby ausgesehen haben. Er hatte das Gefühl, daß sein Kopf größer und größer wurde, und dann begannen die Schmerzen. Aber bald machte ihm das alles nichts mehr aus. Mike Brody drehte sich um. Er traute seinen Augen nicht. Noch vor wenigen Minuten war Andy dicht neben ihm geschwommen - so dicht, daß er ihm fast am Bein hing. Und nun plötzlich war er spurlos verschwunden. Sein erster Gedanke war, daß er ihn unbedingt finden mußte, bevor sie wieder auftauchten, weil sie sonst beide ihre Taucherausweise verlieren würden. Andrews hatte ihnen eingeschärft, daß die beiden Tauchpartner immer -2 1 3 -
zusammenbleiben müßten - so als verbinde sie ein unsichtbares Gummiband. Bei guter Sicht konnte dieses Band sich auf drei bis fünf Meter ausdehnen, aber im Schlamm und im trüben Wasser sollte man sich nicht mehr als eineinhalb Meter voneinander entfernen. Und in wirklich schwierigen Situationen sollten sie in Berührungsreichweite bleiben. Er versuchte, den gleichen Weg zurückzuschwimmen, den er gekommen war. Falls Andrews sie beide getrennt auftauchen sah, war es aus mit ihnen. Aber er hatte jede Orientierung verloren. Und einen Armbandkompaß hatte er auch nicht. Und in dieser Einöde hier unten, wo es keine Orientierungspunkte gab, konnte man unmöglich wissen, wo Norden, Süden, Westen oder Osten waren und ob man landwärts oder seewärts schwamm. So schwamm er eine Weile unentschlossen dicht über dem Meeresboden, weil er Angst hatte, bei dieser Dummheit erwischt zu werden. Und es war ja eigentlich auch gar nicht seine Schuld: Es war natürlich wieder einmal der blöde Speckwanst gewesen, der nicht mitgehalten hatte. Er suchte etwa drei Minuten lang, und dann war er wirklich besorgt und ließ sich langsam an die Oberfläche gleiten - nicht schneller als seine langsamste Luftblase, und er vergaß auch nicht das Ausatmen, Ausatmen, Ausatmen. Das Wasser um ihn herum erschien ihm bald braun, bald Jadefarben, bald aquamarin. Goldene Sonnenstrahlen tanzten über ihm, und dann war er auf einmal wieder im vollen Tageslicht. Er blickte sich um. Die Aqua Queen lag kaum fünfzig Meter von ihm entfernt. Und er hatte sich eingebildet, sie seien eine Meile fortgewesen. Vielleicht waren sie im Kreis herumgeschwommen. Und dann erblickte er plötzlich etwa zehn Meter entfernt seinen Tauchpartner. »Andy, du Idiot«, rief er ihm nicht zu laut zu. »Wo hast du gesteckt, du ...?« Dann erstarrte er. Aus Andys Nase strömte Blut. Seine Augen waren geschlossen, und aus seinem Mund rann ein Gemisch von Blut und Speichel. Mike schwamm auf ihn zu und packte -2 1 4 -
ihn. Jetzt sah er, daß Andy auch aus dem linken Ohr blutete und daß er völlig das Bewußtsein verloren hatte. Er bäumte sich wie ein geköderter Mariin und rief schreiend nach Andrews. Er sah den Riesen sich über die Reling beugen, den Anker emporziehen und dann den Motor anlassen. Innerhalb einer Minute war Tom Andrews bei ihnen, kletterte die Taucherleiter hinunter und beugte sich vor. Er ergriff Andy, hob ihn wie eine aufgeblasene Gummipuppe und legte ihn in die Steuerkabine, während Mike an Bord kletterte. In wenigen Augenblicken brausten sie mit dröhnendem Motor der Küste zu, und Andrews setzte sich per Funk mit der Küstenwache in Verbindung und bat, daß man einen Hubschrauber schicke, um den Verletzten ins Krankenhaus des U-Boot-Stützpunktes von New London zu bringen. Mike hockte im Heck und machte sich Vorwürfe. Was auch immer mit Andy geschehen war, er hatte ihn bestimmt gebraucht, und Mike hatte ihm nicht geholfen. Andy würde wahrscheinlich sterben. Er wünschte, er hätte nie von diesem ganzen Taucherkurs gehört. Alles, was er in letzter Zeit anfaßte, schien schiefzugehen. Brody saß starr vor Angst an seinem Schreibtisch. Auf der Küstenwache von Shinnecock Bay hatte man ihm mitgeteilt, der Name des verunglückten Tauchers sei ihnen bekannt. Er hängte den Hörer auf, stürzte aus seinem Büro und raste die Main Street mit heulenden Sirenen zum Hafen hinunter. Dort hielt er mit quietschenden Reifen, die Fischer stoben erschreckt auseinander. Die Aqua Queen legte gerade an. In den Taucheranzügen sahen alle Jungen gleich aus. Andrews erhob sich aus dem Heck, schritt an den anderen Tauchern vorbei und trug den Verletzten in den Armen. Aber der Verletzte war dick. Brody fiel vor Erleichterung fast in Ohnmacht. Es war ein dicker Junge, der in seinem
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Taucheranzug wie eine eingeschnürte Wurst aussah. Es war Andy Nicholas und nicht Mike. Er räusperte sich. »Legen Sie ihn in meinen Wagen«, sagte er zu Andrews. »Der Hubschrauber wird im Stadtpark landen.« »Er ist in einem Krampfzustand«, brummte Andrews, als sie mit heulender Sirene die Main Street herauffuhren. Brody sah die angsterfüllten Augen des Riesen im Rückspiegel. »Er muß eine Luftblase ins Gehirn bekommen haben. Beeilen Sie sich doch bitte, Brody.« Brody fuhr im Achtzigkilometertempo durch den Samstagsverkehr, und wo es möglich war, trat er das Gaspedal durch. Endlich waren sie am Stadtpark angekommen. Der Hubschrauber kam gerade über die Häuser von Amity Knoll getuckert. Als Brody Andrews half, den dicken Jungen aus dem Wagen zu heben, öffnete Andy kurz die Augen und blickte ihn an. Brody streckte die Hand aus und strich ihm eine Locke aus dem Gesicht. »Schon gut, Andy. Schon gut, mein Junge ...« Der Junge schien etwas sagen zu wollen. Er öffnete den Mund, bewegte die Zunge, brachte aber nichts hervor. Brody beugte sich über ihn. »Ja, Andy? Was ist denn?« Andys Augen füllten sich mit Tränen. Er versuchte es noch einmal. Brody hörte nur ein schwaches Flüstern und dann ein merkwürdiges Krächzen, das ihm tief aus der Kehle kam. »Haah ...« Dann wurde plötzlich sein Körper steif, bäumte sich auf und verfiel in einen neuen Krampf. Brody konnte nichts weiter tun, als ihm den Kopf und die Schultern stützen. Als die Zuckungen vorüber waren, fiel Andy schlaff zusammen. Sie luden ihn in den Hubschrauber. Andrews setzte sich neben ihn. Drei Minuten später war der knatternde Blechvogel über den Hügeln verschwunden.
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Brody fuhr zum Hafen zurück. Mike war gerade dabei, die Sauerstoffflaschen aus der Aqua Queen zu laden. Als er seinen Vater erblickte, kam er an Land. »Was ist nun eigentlich passiert, Mike?« fragte Brody. Mike machte eine Bewegung, als ob er ihm in die Arme laufen wollte, dann aber wurde er sich dessen bewußt, daß die anderen Jungen ihm zuschauten. »Ich war mit ihm«, stammelte er. »Dad, ich war sein Tauchpartner, sein Kamerad!« »Was ist passiert?« »Ich hab' ihn aus den Augen verloren. Wie soll ich wissen, was passiert ist?« »Ich muß aber seine Familie benachrichtigen.« »Sag ihnen doch einfach, ihr Sohn habe dem Schwimmbadhelden Spitz nicht nachkommen können. So wird's ja sowieso überall bald heißen.« »Nimm dich zusammen, Mike. Ja?« »Du kannst das gleiche auch in deinen verdammten Polizeibericht schreiben.« »Mike!« Sein Sohn kämpfte mit den Tränen und wandte sich ab. Dann bückte er sich, lud sich einen Wasserstofftank auf die Schultern und ging die Hafenstraße hinunter.
Zwölftes Kapitel Nate Starbuck parkte seinen Lieferwagen hinter Moscottis Ferrari auf der Einfahrt des großen Hauses. Für ihn war dieses verwitterte alte Gebäude immer noch Dr. Ruskins Haus. Vor vielen Jahren, als der alte Arzt hier noch seine Praxis hatte, war Starbuck oft mit seinem Lieferwagen die staubige Landstraße hinaufgefahren. Aber jetzt waren die Straßen der Hügel von Amity asphaltiert, und bald würden sie wohl zusätzlich auch noch mit Gold gepflastert sein. Ja, deshalb war er ja gerade jetzt hergekommen. Auch er wollte etwas davon abhaben. Aber als -2 1 7 -
er auf das große Haus schaute, für dessen Bau der alte Ruskin gute zehntausend Dollar bezahlt haben mußte und das jetzt vielleicht schon zehnmal soviel wert war, fühlte er sich unsicher. Gewöhnlich erwartete man doch vor dem Haus eines Gangsters eine Menge Killer und Leibwächter und bissige Dobermannpinscher. So hatte er es jedenfalls vom Fernsehen in Erinnerung. Als sich aber nichts dergleichen zeigte, bekam er richtige Angst. Moscotti hatte doch bestimmt ein gutes Dutzend dieser - wie nannte man sie nur noch - Kontrakte? - laufen. Die offenbare Furchtlosigkeit dieses Gangsters war schon sehr beeindruckend. Wenn er nun aber Starbuck gar nichts für seine Information bezahlte und ihn statt dessen einfach umlegen, >kaltmachen<, ließ? Nein, das war lächerlich. In Amity konnte so etwas nicht passieren. Starbuck holte tief Atem und drückte auf die Türklingel. Einen Augenblick später öffnete ihm ein kleiner Junge die Tür. Hinter ihm stand ein breitschultriger junger Mann mit einem beachtlichen Schnurrbart. Er hatte ein freundliches Lächeln und sah gar nicht wie einer der Gangster im Fernsehen aus. »Ich möchte Moscotti sprechen«, sagte Starbuck. »Shuffles Moscotti.« Au, verdammt, warum hatte er das bloß gesagt? Vielleicht liebte es Moscotti nicht, bei seinem Spitznamen genannt zu werden? Starbuck verbesserte sich sogleich. »Mister Moscotti«, sagte er. Offenbar hätte er sich darüber nicht zu sorgen brauchen. Der junge Mann zeigte auf seine Ohren und seinen Mund und schüttelte den Kopf. Starbuck hörte das Geräusch von Stimmen hinter der Tür, die zu Dr. Ruskins Operationszimmer führte. Mrs. Moscotti, an die er sich von ihren Besuchen in der Apotheke her erinnerte, trat aus der Küche. Sie wischte einen Teller ab.
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Sie lächelte, schüttelte aber ebenfalls den Kopf. »Nein. Moscotti, der ist nicht hier.« Er war aber da, oder jemand anders war da. »Ich habe ihm etwas mitzuteilen. Etwas, mit dem er sich eine Menge Geld ersparen kann. Vielleicht kann es ihm sogar auch eine Menge Geld einbringen.« »Er wird morgen in der Stadt sein. Ich kann ihn ja bitten, bei Ihnen vorbeizukommen.« Einen Augenblick lang stand er unentschlossen da. Der Taubstumme lächelte ihn immer noch an. Der kleine Junge ging ins Zimmer zurück und legte eine Platte auf das Stereogerät. »Sagen Sie's ihm. Es ist ganz in seinem Interesse«, sagte Starbuck und kam sich irgendwie blöd dabei vor. »Ich werde den ganzen Tag über im Laden sein. Es ist wichtig.« Die Tür schloß sich leise hinter ihm, als er ging. Er drehte sich noch einmal um und warf einen haßerfüllten Blick auf das Haus. Verdammtes Ausländerpack. Sein Großvater hätte diese Bande mit seinem Walfischmesser aus der Stadt verjagt. Er öffnete die Tür seines Kombi und stand einen Augenblick lang in Gedanken versunken. Den Laden wollte er jetzt nicht mehr verkaufen. Diesen Gedanken hatte er aufgegeben. Er war auch sicher, daß Vaughan glaubte, mit ihm sein Spielchen treiben zu können, und ihn absichtlich zappeln ließ. Wahrscheinlich wartete er, bis der nächste Schwimmer in der See verschwunden war, um sich dann die Apotheke für ein Butterbrot unter den Nagel zu reißen. Na schön. Daß die Bank ihm sein Darlehen nicht erhöhen wollte, damit hatte er sich bereits abgefunden. Aber Moscotti sollte ihm die Reise nach Florida bezahlen - und vielleicht einiges andere auch. Der Henker wußte, wieviel Moscotti in das Casino gesteckt hatte und wieviel es ihm wert war, noch rechtzeitig aussteigen zu können. Und wenn diese Scheißspaghettifresser sich einbildeten, sie könnten ihn wie einen Schuhputzer behandeln, dann sollten sie -2 1 9 -
auch dafür ruhig berappen. Er würde zehntausend Dollar für das Foto verlangen. Aber wenn er sich's wohl überlegte, wären sogar fünfzehntausend durchaus noch angemessen. Shuffles Moscotti lehnte sich in seinem Drehstuhl am Schreibtisch zurück und betrachtete das abgezehrte und saure Gesicht der Heulsirene Halloran und den fetten, glotzäugigen Schweinskopf des Bullen Jepps, dessen Kinnladen sich wütend hin- und herbewegten. Von dem Augenblick an, als es Moscotti gelungen war, einen Fuß in die Hintertür des Casinos zu bekommen, wußte er, daß es in Albany Stunk geben würde. Und er hatte dieses heutige Treffen bereits seit langem erwartet. In all den Jahren hatte er schon zu viele Bullen geschmiert, um zu erwarten, daß dieser hier bald nur nach seiner Pfeife tanzte, und er kannte sich auch genügend im Umgang mit Winkeladvokaten wie Halloran aus, um zu wissen, daß dieser hier sich die Gelegenheit, seinem Klienten zu einer kleinen Erpressung zu raten, nicht entgehen lassen würde. Er war sehr selbstzufrieden, drückte auf den elektronischen Knopf seines Tischfeuerzeuges, ließ die Flamme einige Male über den grob geschnittenen Tabak in seiner Pfeife gleiten, paffte eine riesige Rauchwolke aus und begann: »Nehmen wir mal an, ich hätte Peterson einiges Geld geliehen. Sagen wir mal, eine Summe X.« Er liebte diesen Satz besonders, denn dann kam er sich wie ein Wirtschaftsexperte der Chase Manhattan Bank oder gar der Regierung vor. »Also eine Summe X«, wiederholte er. »Und dann finde ich plötzlich heraus, daß ich keinerlei Garantien mehr habe, weil irgendein Provinzbulle in Albany Stunk macht und es mit dem Glücksspiel in Amity einstweilen aus ist.« »Welchen Provinzbullen meinen Sie?« brummte Jepps. »Ich hoffe, es ist der von Amity.« »Sie können es sich aussuchen, Wachtmeister«, lächelte Moscotti zurück. Er betrachtete zufrieden seine Tabakswolke. Er wußte genau, was jetzt kommen würde. -2 2 0 -
Die Tür öffnete sich, und sein Neffe trat ein. Er ging zum Fernsehapparat, als ob niemand sonst im Zimmer wäre. Moscotti strahlte ihn an. Dieser junge Mann lebte in einer Welt des Schweigens und der Unschuld, und Moscotti beneidete ihn fast um seine sorglose Naivität. Er hatte ihn liebgewonnen wie seinen eigenen Sohn. Er gab ihm ein Zeichen und wies auf eine Whiskyflasche, die auf dem Regal der Hausbar stand. Einen Augenblick später nippten sie alle drei an einem Bourbon on the rocks. Der Junge setzte sich vor den Fernseher und schaute sich den samstagabendlichen Film an. Den Ton hatte er abgestellt, aber er genoß es nicht minder als mit voller Lautstärke. Nur Halloran schien an der Anwesenheit des jungen Mannes Anstoß zu nehmen. »Bleibt der hier?« fragte er. »Haben Sie vor, mir irgend etwas zu erzählen, was niemand hören soll?« erkundigte sich Moscotti sarkastisch. »Aber Halloran, der ist doch ein harmloser Irrer«, sagte Jepps. »Sehen Sie das denn nicht?« »Nein«, sagte Moscotti leise. »Er ist einmalig. Verstehen Sie das?« Er blickte in Jepps' kleine grüne Augen. Verdammt noch mal, der Kerl sah weiß Gott wie ein Schwein aus, mit all den Speckfalten. Der Wachtmeister zuckte die Schultern, hielt aber Moscottis Blick stand. Ein Schwein, aber kein Feigling ... »So, jetzt sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben«, gähnte Moscotti. »Ich möchte nämlich bald schlafen gehen.« Halloran erklärte, daß sein Klient eine mögliche Verurteilung wegen Verletzung des Bundesgesetzes und eine Geldstrafe riskiere. Falls er nun über einen gewissen Betrag für die Verteidigung verfügen könne, von etwa zwanzigtausend Dollar, würde er die Geldstrafe und sogar Haft im Bundesgefängnis in Kauf nehmen und vorläufig keinen weiteren Staub aufwirbeln. »Bockmist«, grinste Moscotti. »Er kommt nicht ins Gefängnis. Einen Seehund hat er angeschossen? Dafür gibt es auch keine hohe Geldstrafe.« -2 2 1 -
Halloran blickte zur Seite. »Man kann nie wissen.« »Nun reden wir mal über Ihr Honorar, Halloran. Ich kann mir vorstellen, daß ihm das ein bißchen Sorge macht.« Der ganze Kuhhandel wurde ihm plötzlich langweilig. »Sie wollen also zwanzig Riesen, nicht wahr? Und das wäre für Sie der einzige Weg, meine Garantie zu schützen? Meine Summe X?« Halloran erhob die Stimme. »Ich muß mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß es bisher noch niemandem gelungen zu sein scheint, die Einstellung des Verfahrens zu erreichen, was die einzige Alternative wäre ...« »Das ist ja sehr interessant, daß Sie das jetzt erwähnen. Ich habe gerade darüber nachgedacht ...« »Worüber haben Sie nachgedacht?« fiel Jepps schwerfällig ein. »Wenn Brody der einzige ist, der auf Anklage besteht, dann gibt es einen billigeren Weg.« Halloran erhob sich plötzlich. »Darüber will ich nichts gehört haben. Und mein Klient auch nicht.« »Da seien Sie nur nicht zu sicher«, murmelte Jepps. Moscotti sog an seiner Pfeife. »Nun sagen Sie mir mal ehrlich, Dickerchen, was gefällt Ihnen besser? Zwanzig Riesen für Ihren Verteidiger oder daß Brody sich in Rauch auflöst?« Moscotti bemerkte, wie Jepps es sich rasch überlegte. »Eine gute Frage. Aber das wäre Ihr Problem und nicht meins.« Moscotti trank seinen Bourbon aus. Dann legte er seine Pfeife in den Aschenbecher und watschelte zur Tür seines Arbeitszimmers. »Sie finden doch selbst hinaus? Ich werde mich inzwischen ausgiebig mit dem >Problem< befassen.« »Wann werden wir es wissen?« fragte Halloran. »Morgen«, lächelte Moscotti. »Spätestens morgen.« Seine Frau begleitete die beiden an die Haustür, und er watschelte an seinen Schreibtisch zurück. Er hätte der beste Halbschwergewichtsmeister sein können, den es in den letzten zwanzig Jahren in Brooklyn gegeben hatte, wenn er so wie sein Neffe gebaut wäre. Aber die verdammten Beine ... -2 2 2 -
Er machte sich eine Skizze vom südlichen Ufer des Amity Beach, zeichnete das Smithsche Sandschloß ein und machte ein Kreuz auf eine Stelle des Strandes davor. Er ließ seinem Neffen ein Gummiband auf den Rücken schnalzen. Der Junge war im Nu an seinem Schreibtisch. Er gab ihm die Kartenskizze und die Schlüssel zum Ferrari. Er mimte einen Bierbauch und zeigte auf die Tür, durch die Jepps hinausgegangen war. Dann steckte er einen Daumennagel in seine Zähne und schoß ihn mit wütender und gewalttätiger Geste den fortgegangenen Besuchern nach. Es war die erste wirkliche Aufgabe, die Moscotti seinem Neffen anvertraute. Der Junge blickte ihn mit Tränen der Dankbarkeit an. Dann nahm er die Schlüssel, die Kartenskizze und die Waffe. Bevor er hinausging, trat er spontan auf Moscotti zu und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Dann war er fort. Vielleicht war es doch nicht die sicherste Lösung, überlegte Moscotti. Der Tod eines Polizeiwachtmeisters aus Flushing würde mehr Staub aufwirbeln als der des Polizeichefs von Amity. Aber Brodys Frau hatte sich für Johnny eingesetzt und dafür gesorgt, daß er in die Schar der Wölflinge aufgenommen wurde. Brody parkte den Polizeiwagen Nummer eins auf der halben Höhe seiner Einfahrt, schaltete den Motor ab und blieb einen Augenblick sitzen, um im abendlichen Zwielicht etwas Kraft zu schöpfen. Er hatte Phil und Linda Nicholas die Nachricht von Andys Unfall beigebracht, hatte Angelo beauftragt, sie über den Long Island Sound im Motorboot der Polizei nach New London zu bringen, um ihnen die stundenlange Autofahrt zu ersparen. Linda hatte die Nachricht tapferer als Phil, der Klempnermeister der Stadt, aufgenommen. Brody war sicher, daß er auch sein eigenes Haus heute abend in großem Aufruhr vorfinden würde, denn Mike quälte sich -2 2 3 -
bestimmt mit Schuldgefühlen, und Ellen mußte die Vorbereitungen für die Regatta von morgen treffen. Und außerdem stand ihm noch die unmögliche Aufgabe bevor, Sean mit dem Gedanken an die Verbannung Sammys zu versöhnen. Schließlich rutschte er von seinem Sitz, stieg aus und öffnete widerwillig die Nebentür des Hauses, wo die überstrapazierte und immer noch nach Seehundkot riechende Waschmaschine stand. In der Küche goß er sich einen doppelten Scotch ein und brachte ihn ins Wohnzimmer. Mike saß vor dem Fernseher, starrte teilnahmslos auf die Flimmerscheibe und schien in düstere Grübeleien versunken. »Hast du es ihnen gesagt?« stammelte er hoffnungslos. Brody nickte. »Sie haben es sehr vernünftig aufgenommen«, log er. »Sind Sie sauer auf mich?« Brody schüttelte den Kopf. Dann fragte Mike resigniert: »Und Tom Andrews?« »Niemand ist sauer auf dich. Nur du.« »Ich will morgen nicht auf die Regatta gehen.« »Aber Sean hofft sehr, daß du gehst. Und ich hoffe es auch. Also tu mir den Gefallen.« Mike nickte schließlich. »Dad, wird er sterben?« »Der ist bald wieder ganz in Ordnung.« Er wünschte, er fühlte sich so zuversichtlich, wie es klang. »Dad?« »Ja?« »Ich glaube, er hat die Kugel entdeckt.« »Warum?« Mike zuckte die Schultern. »Sonst wäre er bestimmt in meiner Nähe geblieben. Er klebte ja geradezu an mir. Da muß er schon irgend etwas Besonderes gesehen haben. Denn er ist ja nicht gerade mutig.« -2 2 4 -
Er mußte etwas gesehen haben ... Brody zuckte zusammen. Wenn es die Kugel war, konnte man noch von Glück reden. Aber vielleicht hatte er etwas anderes gesehen? Er sah seinem Sohn in die Augen. Dachte der Junge, dem damals die Katastrophe so übel mitgespielt hatte, überhaupt noch an Haie, wenn er im Ozean war? Wenn er ihn jetzt danach fragte, käme die ganze leidige Angelegenheit noch einmal zur Sprache: Sollte er im Ozean schwimmen? Sollte er tauchen? Da war es schon für Mike und ihn besser, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Und Andy mit Mike zu vergleichen, wenn es um das Taudien ging, war ebenso absurd, wie wenn man eine Tomate neben eine Gurke legte: Mit dem dicken Jungen mußte man sich jederzeit auf einen Unfall gefaßt machen. Mike war ein sportlicher Typ, und Andy war ein Clown. Brody nahm sein Glas und ging auf die Sonnenveranda, wo er das Summen und Rattern von Ellens Nähmaschine hören konnte. Sie sah auf sein Whiskyglas. »Hättest du nicht auf mich warten können?« fragte sie. »Es war ein schwerer Tag«, sagte er brummig. »Ein harter Tag«, erwiderte sie gereizt. »Das nächstemal, wenn jemand beim Auftauchen an der Druckverminderung erstickt«, fuhr er sie an, »dann geh du es mal der Familie sagen.« Sie entgegnete, daß auch sie einen schweren Tag gehabt habe, und sie sei hier keinesfalls unbesorgt herumgesessen. Sie habe nämlich gerade im Krankenhaus von New London angerufen, um sich nach Andys Zustand zu erkundigen. Brody brauche sie deshalb nicht wieder wegen der hohen Telefonrechnung anzubrüllen. Man habe ihr mitgeteilt, Andy sei gelähmt, bei Bewußtsein, könne aber nicht sprechen. Er habe eine Luftblase im Gehirn. »Dieser verflixte Hubschrauberkommandant«, brummte Brody. »Was hat der denn damit zu tun?« -2 2 5 -
Er erzählte ihr, daß Andy Mikes Meinung nach die Sonarkugel der Marine gefunden habe und daraufhin unvorsichtig und unbedacht aufgetaucht sei, um es zu melden. »Stell dir vor, der Junge glaubte, er habe da tausend Dollar auf dem Meeresgrund liegen sehen. Was kann man da erwarten?« »Du kannst doch schließlich nicht Chip Chaffey dafür verantwortlich machen«, protestierte sie, »wenn ein fünfzehnjähriger Junge in seiner Aufregung den Kopf verliert.« Sie hatte Chip gesagt ... Dann mußten sie aber schon dicke Freunde sein. Er erwiderte jedoch nichts darauf. Sie stand auf und ließ den hellorangefarbenen Fahnenwimpel in ihrer Nähmaschine. Dann begann sie, Brody die Kümmernisse des Tages aufzuzählen: Mike hatte Sean gesagt, er würde morgen nicht an der Regatta teilnehmen. Sean hatte daraufhin einen Wutanfall gekriegt und wollte die Farbe von der Pinne wieder abkratzen, der Seehund habe ständig geheult, und die verdammte Nähmaschine seiner Mutter, mit der sie versuchte, die Fahnenwimpel für morgen zu säumen, faßte den Stoff nicht richtig. »Und deshalb sehe ich nicht ein, warum ich nicht auch einen Drink haben kann. Ist denn nur noch so wenig in der Flasche drin?« Sie warf ihm einen strafenden Blick zu und ging zur Treppe. »So warte doch, Liebling. Ich gieße dir einen ein ...« »Erspare dir die Mühe«, sagte sie vom Geländer aus. »Und ach, bevor ich's vergesse, eine gewisse Swede Johansson - so nennt sie sich jedenfalls -, Ballistikexpertin im Laboratorium von Bay Shore, hat angerufen. Sie hat dir ihre Privatnummer hinterlassen. Du findest sie beim Telefon.« Aha. Das war es also. »Danke.« Sie drehte sich um und stapfte nach oben. Er ging ans Telefon und schaute auf den Notizzettel. Er fragte sich nur, wie Halloran an den Bericht gekommen war - wie er an das Mädchen gelangt war. Wahrscheinlich durch irgendeinen diplomatischen Schachzug, vielleicht aber auch durch ganz offene Bestechung? -2 2 6 -
Zum Teufel damit. Er war einfach nicht mehr wütend genug, um sich darüber aufzuregen. Er ging zur Garage. Sean war dabei, Sammy das Schönmachen und Betteln beizubringen. Aber der Seehund war teilnahmslos und niedergeschlagen und sah trauriger aus als am Tage, da er ihn gefunden hatte. »Er ist müde«, sagte Sean. »Aber jedenfalls fühlt er sich glücklich hier.« »Er hat jedoch die ganze Woche hindurch auszubrechen versucht«, erinnerte ihn Brody. »Das war vorher - nein, es gefällt ihm jetzt hier.« Irgend etwas war heute zwischen Sean und Sammy vorgegangen, und es hatte bestimmt mit dem Flutwasser da unten am Strand zu tun, aber er hatte noch keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen. »Sag mal, Junge, wozu hast du eigentlich heute früh Steine ins Wasser geworfen?« »Nur so.« »Aber warum?« Seans Gesicht wurde ausdruckslos. Er schob die Unterlippe vor. »Ich habe einfach nur Steine geworfen.« »Wirklich? Auf dein Pfadfinderwort?« Der Sache sollte man am besten jetzt gleich auf den Grund gehen. Sean nickte, aber er blickte zu Boden. »Das wollen wir mal feststellen«, fuhr Brody fort. Er hob zwei Finger zum Pfadfinderschwur. Sean konnte es nicht. Er schien dem Weinen nahe. »Du hast einen anderen Seehund gesehen?« murmelte Brody. »Seine Mutter vielleicht?« »Ich weiß es doch nicht«, erwiderte sein Sohn weinerlich. »Wie soll ich das wissen? Ein Seehund war es. Das ist alles.« »Und du hast ihn mit Steinen beworfen?« fragte Brody. »Nun hör mal, Junge. Das war aber nicht recht.«
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Und plötzlich lag ihm sein Sohn weinend in den Armen. Er streichelte ihm den Kopf. »Sean, morgen früh, bevor die Regatta beginnt, müssen wir ihn freilassen. Verstanden?« »Wenn die Mutter nun aber nicht mehr da ist?« »Sie wird ihn schon finden.« Sean trat zurück. Er schaute auf Sammy und dann auf seinen Vater. »Glaubst du es wirklich?« Brody nickte. »Das verspreche ich dir.« Sean sah plötzlich älter aus - wie ein kleiner Mike. »Okay.«
Dreizehntes Kapitel Wachtmeister Charly Jepps lag im Bett. Er hatte die glasigen Augen geöffnet und lauschte dem verhaßten Rauschen der Brandung am Strand. Sein Magen knurrte. Morgen ging es Gott sei Dank wieder nach Flushing zurück. Er hoffte, nie mehr nach Amity zurückkehren zu müssen. Wenn er nicht die Miete für diese elende Bruchbude im voraus bezahlt hätte, wären sie schon nach Hause gefahren, gleich nachdem er die Kaution hinterlegt hatte. Er rülpste. Bei Moscotti hatte er Bourbon getrunken, und nachdem Halloran ihn vor seinem Haus abgesetzt hatte, war er stundenlang allein am Küchentisch gesessen und hatte Bier getrunken. Seit Brody ihn verhaftet hatte, fiel es ihm an jedem Abend schwerer, das schmale Pfadfindergesicht des Polizeichefs zu vergessen und einzuschlafen. Und seine Frau hatte die Schlaflosigkeit nur noch verschlimmert. Sie schnarchte die ganze Nacht lang in unregelmäßigen Abständen. Er warf sich unruhig im Bett hin und her, wenn ihr Schnarchvolumen einen Höhepunkt erreicht hatte, und er war ebenso unruhig, wenn sie still war, weil er auf das neue Einsetzen ihres Schnarchens wartete.
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Es fing immer ganz plötzlich an und klang wie der Dieselmotor eines Lastwagens. Er wußte, daß sie aufhören würde, wenn er sie auf die Seite rollte, aber das war ebenso unergiebig wie der Kampf mit einer Wassermatratze, und er war zu müde, um es wieder einmal zu versuchen. Unten am Strand hörte er, wie sich ein Brecher formte, langsam anschwoll und dann mit einem Krachen endete, das ihn immer wieder an den Krieg erinnerte, wenn der Strand von Anzio beschossen wurde und er furchtbare Ängste ausgestanden hatte. Schon damals hatte er diese nächtlichen Geräusche gehaßt, und in Amity war es fast noch schlimmer geworden. Das ganze Smithsche Sandschloß erzitterte dabei bis in die Balken. Und dann würde der nächste Brecher kommen, und dann wieder der nächste, und immer so weiter ... Seine Frau schnaufte wie eine scheu gewordene Stute. Das Nebelhorn von Amity tutete. Und von weit her antwortete das von Cape North. Und jetzt begann auch noch dieser verdammte Köter, den Mond anzubellen. Himmel, Herrgott noch mal ... Er warf sich herum, versuchte zu schlafen, warf sich wieder herum und starrte in die Nacht. Er hatte bereits einen Kater, bevor er seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Das war Moscottis verdammter Bourbon. Er sollte lieber beim Bier bleiben. Aber wenigstens war Moscottis Plan höchst erfreulich. Er stellte sich bereits vor, wie Brodys Leiche in einem Benzinfaß versenkt wurde oder irgendwo auf dem Grunde eines Teiches im Suffolk County faulte, und das verschaffte ihm einiges Wohlgefühl. Endlich war er daran, trotz der Kakophonie der Brandung, der Nebelhornsignale und des Schnarchens seiner Frau in Schlaf zu verfallen, als der draußen angekettete Hund laut anzuschlagen begann. Schon wieder ein Seehund? Oder ein Einbrecher? Er griff nach seiner Achtunddreißiger auf dem Nachttisch, nahm die Taschenlampe, die daneben lag, und stapfte über das morsche Holz der Veranda. Er war immer noch halb betrunken und stieß sich das Schienbein an einem zerbrochenen -2 2 9 -
Liegestuhl, den der Junge auf den Treppenstufen hatte liegen lassen. Er ließ die Taschenlampe fluchend fallen und griff sich an das Bein. Dann tastete er wieder nach ihr auf den morschen Brettern. Hinter ihm knarrte der Boden der Veranda. Und plötzlich wußte er, daß es mit ihm aus war. Nach dreißig Jahren hatte er es zum erstenmal an Wachsamkeit fehlen lassen. Gewohnheitsgemäß duckte er sich sofort in Kampfstellung mit vorgehaltener Pistole. Aber es war zu spät. Der große Durchmesser des Kanonenlaufs, den ihm jemand hinter das linke Ohr hielt, sagte ihm sofort, daß es eine Zwölfspurige war und daß er sich bereits auf dem Weg ins Jenseits befand. Ein langer, kräftiger Arm legte sich um ihn und nahm ihm mit sanfter Geste seinen Revolver ab. Dann schob ihn eine Riesenpranke die Stufen hinunter, und der Kanonenlauf berührte ihn immer noch an derselben Stelle. Ein Riese? Das konnte nur der blödsinnige Neffe Moscottis sein! Er konnte nichts sehen, aber es mußte der Verrückte sein. Nein. Der wahre Verrückte war er ja selbst ... Er wurde von der Veranda gestoßen und stolperte auf den Sand. Fast wäre er gefallen. Aber sein Angreifer hatte ihn gepackt und hielt ihn auf den Beinen. Er roch das Aqua Velva und das Mundwasser. »Hören Sie mal«, begann er vergeblich. »Hören Sie mal, Sie Italiano ...« Er stolperte aufs neue und fiel auf einen mit niedrigem Buschwerk bewachsenen Hügel, der zwischen der Veranda und dem Strand lag. Er stürzte auf die Knie. Der Mann gab ihm einen Schlag mit dem Pistolenknauf, und es gelang ihm, sich wieder aufzurichten. »Heh«, rief er erstickt. Die Zunge war ihm schwer. »Lassen Sie doch den Quatsch«, grunzte er kläglich. »Verstanden?«
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Er erhielt einen Schlag auf den Rücken, der ihn bis in den Nacken schmerzte. Er torkelte dem Wasser zu. Allmählich kam er wieder zu klarem Verstand. Er erinnerte sich an eine Schießerei an der Ecke der Northern und der Roosevelt vor vielen Jahren, als er noch Verkehrspolizist war. Ein junger Schwarzer, verladen bis in die Knochen, war bei einem Hold-up in einem Schnapsladen in die Falle gegangen. Der Knilch hatte darauf einen jungen Angestellten, der ebenso schwarz wie er und noch größer war, als Geisel festgehalten. Jepps hatte hinter dem Streifenwagen in Deckung gehockt und zugesehen, wie der Mann mit seiner Geisel auf einen Untergrundbahneingang zuging. Jeder, einschließlich des Opfers, wußte genau, was nun geschehen würde. Jepps hatte mit dem Gedanken gespielt, die Geisel abzuschreiben und es mit einem auf den Kopf gezielten Schuß zu versuchen, und er wußte auch, daß es möglich war, wollte aber nicht so blöd sein, seine Dienstmarke für einen solche Versuch zu riskieren. Damals hatte er sich gefragt, warum der Ladenangestellte, der sich doch verloren wußte, nicht versucht hatte, alles aufs Spiel zu setzen, herumzuwirbeln und wenigstens zu versuchen, um sein Leben und seine Freiheit zu laufen. Jetzt wußte er, warum. Man gibt nie freiwillig eine Sekunde seiner eigenen Lebenszeit auf ... Jetzt stapften sie durch harten, nassen Sand, und immer noch stieß ihn die Kanonenmündung vorwärts. Die schattenhafte Gestalt hinter ihm drängte ihn unerbittlich dem Wasser zu. Jepps' Pyjama wurde von dem rückfließenden Brandungswasser naß. Sie wateten weiter ins Wasser hinein. Er klagte nicht mehr und folgte gehorsam den stummen Anweisungen seines entschlossenen Mörders. Warum tat er das nur? Warum kämpfte er nicht? Er ging aus dem Leben wie ein Jude in die Gaskammer, wie ein Lamm zum Opferaltar, wie ein Schwein zum Schlachthaus. -2 3 1 -
Die Glieder schmerzten ihn. Alles bewegte sich langsam. Er spürte das Wasser, das ihm immer höher stieg. Er hörte das Planschen des Riesen hinter sich. Jetzt war die Zeit gekommen. Jetzt ... Er war bis zum Bauch im Wasser, kämpfte in der Strömung um sein Gleichgewicht und war immer noch außerstande, sich umzudrehen und seinem Mörder ins Gesicht zu sehen. Vor ihm formte sich gerade ein großer Brecher im Mondlicht. Der Irre war also offensichtlich nicht taub und wartete nur auf das Krachen der Brandung, das seinen Schuß übertönen würde. Die Welle wuchs und stieg und stieg ... Endlich schlug der Brecher mit dem Donnern einer Haubitze nieder. Sein Gehirn nahm das Geräusch zugleich mit dem orangerot feuernden Knall auf, der ihn in die Ewigkeit beförderte. Der junge Riese sah zu, wie der kopflose Körper im strömenden Wasser der Flut versank. Er warf die Pistole des Wachtmeisters, so weit es ging, in die See und schleuderte ihr seine eigene Waffe nach. Dann drehte er sich um und watete an Land. Als er auf dem trockenen Strand war, bekreuzigte er sich. Er hatte die Zeichen richtig verstanden, war der Landkarte gefolgt, hatte keinen einzigen Fehler gemacht und genau das getan, was sein Onkel ihm aufgetragen hatte. Einen Augenblick lang fiel er auf die Knie und dankte Gott. Er kletterte über die Dünen des Strandes und warf noch einen Blick auf das Haus. Kein Licht. Die Brandung hatte die erwartete Wirkung erzielt, und niemand ringsumher hatte den Schuß vernommen. Er wußte zwar nicht, warum es so war, aber jedenfalls hatte es gewirkt. Er zog sich seine klatschnassen Hosen aus, damit sie nicht das Sitzpolster in seines Onkels Wagen befleckten, stieg in den Ferrari und fuhr vorsichtig in kurzen Hosen nach Hause.
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Die Große Weiße kreuzte in nördlicher Richtung, glitt in einer regelmäßigen Sechsfadentiefe durch pechschwarze Gewässer, und ihre leidenschaftliche Freßgier verebbte und schwoll abwechselnd an. Die Jungtiere in ihrem Leib schössen immer unruhiger und gewaltsamer umher, um endlich in die Freiheit zu gelangen. In Augenblicken, da sie besonders aktiv waren, nahm ihr Appetit ab, so wie es ja auch bei der Geburt sein würde, damit die Kleinen vor ihr geschützt waren. Und als nun ihr kleinstes männliches Jungtier im Vorraum ihres rechten Uterus, sich selbst schützend, mit aller Kraft gegen seine Schwester sich zur Wehr setzte, verminderte sie auch die Geschwindigkeit der harten Schläge ihres Schwanzes. Sie schwamm dann ziellos herum und verspürte überhaupt keinen Hunger. Aber sowie sich die Aufregung wieder legte und die Embryos ihre Differenzen beigelegt hatten, meldete sich ihr Heißhunger unverzüglich und ließ sie ihr Tempo beschleunigen. Vor der Küste von Amity Beach, wo sie zuvor am gleichen Tag das große Seehundweibchen verschlungen hatte, roch sie plötzlich die Spuren von menschlichem Blut. Sie bäumte sich auf, wendete und schoß der Brandung zu, wo sich das dazugehörige Fleisch befinden mußte. Als sie es entdeckt hatte, teilte ihr irgendeine feine Gehirnzelle mit, daß dieses Fleisch zwar frisch, aber bereits tot war. Da hatte sie aber bereits hineingebissen, eine Hüfte vom Leib getrennt und den Bauch aufgerissen. Sie schleppte einen Augenblick lang den kopflosen Rumpf mit sich herum und schien unentschlossen, ob sie ihn gleich verschlingen sollte. Aber dann hatte sie der Hunger plötzlich verlassen. Heute abend hatte sie kein Interesse an totem Fleisch. Doch sie schwamm mit ihrer Beute noch eine Weile nordwärts. In zwanzig Minuten würde sie ja ohnehin wieder hungrig sein. Warum hatte sie diesen Widerwillen gegen Aas? Ihr Urahn, der Carcharodon Megalodon, war ein Ungeheuer von dreißig Meter Länge gewesen, hatte etwa fünfzehn Zentimeter lange Zähne gehabt, einen fast zwei Meter breiten Rachen und fünfzig -2 3 3 -
Tonnen gewogen. Er hatte in einer Welt gelebt, in der es stets genügend frische Nahrung gab, wann und wo er sie benötigte. Das war zwar schon fünfzig Millionen Jahre her, aber für sie hatten sich die Gewohnheiten kaum geändert. Obgleich sie nicht so groß war wie er, hatte sie sein Nervensystem geerbt. Ihr neuronisches Netzwerk war nicht dazu ausgebildet, sie auf kommenden Hunger vorzubereiten oder ihr beizubringen, Vorräte für die Zukunft aufzuspeisen. Deshalb schüttelte sie nach etwa einer Meile die Leiche wieder ab. Sie schwamm weiter. Brody war eine halbe Stunde lang barfuß im Mondlicht am Strand des Amity Sound entlanggegangen. Während der Katastrophe hatte er das öfter getan, denn hier fand er stets Entspannung von all dem Druck der täglichen Plagen besonders als er damals wegen seines Entschlusses, den Strand zu schließen, in der Stadt so unbeliebt geworden war. An der Spitze von Amity Point fand er einen kleinen Hügel, an den er sich noch gut erinnerte. Er setzte sich. Die Brandung schlug hoch. Er konnte sie vor Amity Beach hören. In drei Stunden würde die Flut da sein und im Licht des Vollmondes draußen auf der See toben, bis an die Mündung des Amity Sound vor vor der großen Flutlinie von Cape North dringen. Das Licht des Leuchtturms von Cape North konnte er fünf Meilen entfernt aufblinken sehen. Aber jetzt war das Wasser noch glatt und ruhig. Bisher hatte das Bedürfnis, sich auf diesen Hügel zu begeben, immer in irgendeinem Zusammenhang mit der Katastrophe gestanden. Er bemühte sich, das Problem in sein Bewußtsein dringen zu lassen. Den ganzen Nachmittag lang hatte er es versucht, aber es war ihm nicht gelungen. Jetzt sah er sich wieder, wie er über Andy Nicholas gebeugt stand, während die Flügel des Hubschraubers ungeduldig und knatternd zum Abflug mahnten. Was auch immer Andy damals gesagt hatte, es hatte nichts mit der verschwundenen Kugel der Marine zu tun, denn Brody erinnerte sich noch genau an den merkwürdigen Kehllaut. -2 3 4 -
»Haaa ...« Was konnte er nur damit gemeint haben? Haar? Haken? Hai? Lächerlich. Der Hai war doch tot. Falls ein anderer aufgetaucht war, hätte es sich bestimmt inzwischen herumgesprochen. Er ging wieder nach Hause. Als er an Mikes Segelboot vorbeikam, blieb er einen Augenblick stehen. Es leuchtete knochenweiß auf seinem Gerüst, das Mondlicht spielte mit seinem Schatten. Bei der Morgendämmerung würde es Nebel geben, und wenn die Sonne ihn nicht rechtzeitig auflöste, würde man die Regatta verschieben müssen. Das wäre besonders für Ellen eine schöne Überraschung, nachdem sie sich mit den Wimpeln an der Nähmaschine so abgerackert hatte. Er prüfte das Boot noch einmal nach. Niemand hatte sich um das Takelwerk gekümmert, und vorn auf dem Deck war immer noch eine Spalte, die von einer Kollision während der Winterregatta herrührte, aber offenbar war eine Reparatur nicht erforderlich. Und außerdem kannte sich Mike besser mit Booten aus als er. Er blickte zum Haus hinauf. Ellen hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen, bevor er gegangen war, und sie schmollte immer noch wegen des Anrufs der mysteriösen Swede. Er hätte ihren Ärger natürlich leicht zerstreuen und ihr die ganze Wahrheit sagen können: Gerade fünf Minuten hatte er mit Swede im ballistischen Laboratorium verbracht, und dann hatte er sie einmal zu Cocktails und Mittagessen eingeladen, weil sie ihm angeblich eine Gefälligkeit erweisen wollte. Aber jetzt hatte er nicht die geringste Lust, es ihr zu erklären. Sollte Ellen sich nur einbilden, was sie wollte; das konnte ihr nur guttun, denn in letzter Zeit war sie ihm manchmal direkt auf die Nerven gegangen. Mike hatte eben sein Licht ausgeschaltet. Was hatte Andy nur gemeint? Haa ... i? Brody war müde. Aber er hatte das Gefühl, jetzt noch nicht schlafen zu können. Er ging die Stufen zur Veranda hinauf, durch das Waschzimmer, wo er sich im Spültisch die Füße -2 3 5 -
wusch, um keinen Sand nach oben zu schleppen, und dann ging er hinauf. Im Mondlicht sah Ellen so schön wie eine Märchenprinzessin aus, aber auch ebenso unnahbar. Er ging leise an seinen Schreibtisch, knipste die kleine Lampe an und nahm ein Buch vom Stapel, der vor ihm lag. Da er sie nicht aufwecken wollte, ging er mit dem Buch wieder hinunter ins Eßzimmer, holte sich eine Dose Bier aus der Küche und setzte sich. Es war Das Buch der Haie von Ellis, und es war herrlich mit den Gemälden des Verfassers illustriert. Es hatte ihn ein Vermögen gekostet: ganze 17 Dollar 50, die er dafür während der Katastrophenzeit im Buchladen ausgegeben hatte. Und er hatte es dazu noch aus seiner eigenen Tasche bezahlt, denn der Stadtrat hatte sich geweigert, ihm die Unkosten zurückzuerstatten. Das Buch war so schön, daß er es behalten hatte, denn alles andere, das ihn an jene entsetzlichen Tage erinnerte, hatte er weggeworfen. Nun blätterte er darin und suchte nach dem Großen Weißen, den der Autor auch auf einem seiner Gemälde abgebildet hatte. Als er ihn schließlich fand - riesenhaft, erschreckend, einen Seelöwen bis in die Brandung verfolgend -, überlief ihn ein kalter Schauder. Zwischen den Seiten des betreffenden Kapitels lagen noch einige alte Zeitungsausschnitte, die zum größten Teil vom Amity Leader stammten, und in denen er einmal wegen seines Befehls, den Strand zu schließen, scharf angegriffen und dann, nachdem er den Hai getötet hatte, als der >Bürger des Jahres< gelobt wurde. Nun ja. Das war ja alles sehr schön ... Wenn es nun aber doch noch einen anderen solchen Hai gäbe? Irgendwo war da noch ein Ausschnitt aus der Sunday Times ...
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Er suchte danach, blätterte weiter in den Seiten des Buches und fand ihn schließlich. Es war ein vergilbtes kleines Stück Papier, das tief in die Falten der Buchseiten gerutscht war. IST DER GROSSE WEISSE HAI BODENSTÄNDIG? Woods Hole, Mass. 15. August. Dr. Harald Lamson, Ozeanologe und Leiter der statistischen Abteilung für Haie des ozeanographischen Institutes von Woods Hole, sprach heute im Rahmen eines Symposiums über Verhaltensforschung bei Haien und berichtete, die Ergebnisse der jüngsten Forschung hätten starke Zweifel an der Theorie der Gebietswanderung des Carcharodon Carcharias (des Großen Weißen Hais) aufkommen lassen. Nach langen Beobachtungen dieser Haigattung vor den Küsten des australischen Riffs, der Nordinsel von Neuseeland und der Catalina-Insel in Südkalifornien, so sagte Dr. Lamson, sei man zu anderen Schlüssen gelangt. Lamson berichtete, daß man zwar einzelne Tiere auf Entfernungen von bis zu tausend Meilen von ihrem Ursprungsgebiet angetroffen habe, daß die meisten aber sich in der Nähe der Riffs und Sandbänke aufhielten, wo sie gut und reichlich Nahrung finden. >Sie verlassen höchst selten das gewohnte Jagdgebiet und schützen es sogar vor anderen Raubfischen.< Er legte den Ausschnitt wieder ins Buch zurück. Der Hai war tot. Er selbst hatte ihn sterben sehen. Aber wenn er ihn nun nicht selbst gesehen hätte, wenn er seinem Tod nicht persönlich beigewohnt hätte, was würde er dann wohl glauben? Innerhalb von sieben Tagen waren zwei Taucher verschwunden, eine Person in einem Wasserskimotorboot war vermutlich in Panik geraten und hatte das Boot in die Luft gesprengt, irgend etwas hatte die an einem Kabel des Marinehubschraubers hängende Sonarkugel abgerissen und schwer beschädigt, die Zweimannbesatzung des Hubschraubers war in ihren Schwimmwesten spurlos verschwunden, im Hafen von Amity hatte zum erstenmal eine Invasion von Dorschen stattgefunden - suchten sie Schutz? -, -2 3 7 -
Seehunde waren trotz ihrer Furcht vor Menschen und Hunden an den Strand gekommen, ein treuer Delphin, der sein ganzes Leben unter menschlicher Obhut verbracht hatte, war verschwunden - verschreckt oder aufgefressen? -, und Andy Nicholas, der gerade seinen Tauchkurs absolviert hatte, schien plötzlich alles vergessen zu haben, als er allen Regeln zuwider und viel zu rasch an die Oberfläche aufgestiegen war. War das Schrecken oder Übermut gewesen? Hätte er den Hai nicht sterben sehen, so wäre er jetzt wohl überzeugt, daß er wieder da sei. Das Bier war ausgetrunken. Er nahm die leere Dose und zerquetschte sie wütend. Zum Teufel mit all den Befürchtungen und Grübeleien. Es gab keinen neuen Hai, oder man hätte doch schon längst wirkliche Beweise haben müssen. Er vernahm ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Ellen stand schläfrig und aufreizend in ihrem kurzen Nachthemd auf der Treppe und blickte herab. »Brody?« »Ja?« »Komm zu Bett. Es tut mir leid, daß ich mich so dumm benommen habe.« Er seufzte. »Ich habe mich auch nicht gerade sehr liebevoll aufgeführt.« »Was liest du da?« »Ach, nichts Besonderes.« Gott sei Dank ließ sie es dabei bewenden. »Brody«, sagte sie nun. »Es war doch dieses Mädchen, das angerufen hat. Sie ist bestimmt sehr hübsch, nicht wahr? Ich konnte es fast irgendwie an ihrer Stimme erkennen.« »Ja. Aber ich habe mit ihr nur zu Mittag gegessen. Das weißt du doch. Sie ist übrigens schwarz«, fügte er ohne besonderen Grund hinzu. »Oder eher hellbraun.« »Du Rassist«, sagte sie grinsend. »Treib mir nur keine Rassenschande.« -2 3 8 -
Er klappte das Buch über Haie und andere Alpträume behutsam zu. Es gab keine Haie hier. Der Hai war tot. »Jetzt war's mir gerade nach ein bißchen Rassenschande zumute.« Er nahm sie in seine Arme, trug sie nach oben und legte sie zärtlich auf das Bett. Danach schlief er wie ein Kind.
DRITTER TEIL Erstes Kapitel Brody fühlte sich widerwillig aus dem Schlaf gerissen, als Seans entrüstete Stimme von unten bis zu ihm drang. Er schaute auf die Uhr. Sieben Uhr fünfzehn. Ellen lag zusammengekuschelt neben ihm und lächelte in ihrem Schlaf. Das Sonnenlicht flimmerte durch eine Lücke der Fensterjalousien und warf einen Lichtflecken auf ihre Stupsnase. Er gab ihr einen Kuß, stand auf und blickte aus dem Fenster. Die nächtlichen Nebel hatten sich verflogen. Dem Wetter nach würde die Regatta stattfinden. Ellen wird froh sein, wenn sie es einmal hinter sich gebracht hat. Er hörte die Glocken von St. Xaviers, die ihn zur Messe riefen. Er dachte an Andy Nicholas, der da drüben jenseits des Amity Sound lag. Vielleicht war er gelähmt, vielleicht lag er im Sterben. Fast wäre er, einer Eingebung folgend, in die Kirche gefahren und hätte für Andy eine geweihte Kerze angezündet. Doch dann sagte er sich: »Quatsch. Dummer Aberglaube«, und ging die Treppe hinunter. Das Haifischbuch lag noch auf dem Tisch im Eßzimmer. Aber die schwarzen Gedanken des vorigen Abends waren verflogen. Der Hai war ja tot. Und diese Haie wanderten nicht. Den, der hier lebte, hatte er getötet - also waren sie in Sicherheit. Seine Söhne waren in der Küche. Er legte das Haifischbuch ins unterste Bücherregal unter einen Stapel von Zeitschriften. -2 3 9 -
Sean kam von der Küche herein und stellte sich ihm gegenüber. »Daddy, er will Jackie mitnehmen!« »Natürlich werde ich Jackie mitnehmen«, rief Mike aus der Küche. »Falls der Alte sie läßt. Wenn Sean sich um die Segelleine kümmern will, kann er auch mitkommen.« Seans Stimme zitterte: »Das Boot wiegt ja fast tausend Pfund! Wie wollen wir da gewinnen?« Brody erinnerte ihn, daß der Kapitän allein zu befehlen hatte. »Und vergiß nicht, daß wir heute Sammy freilassen.« Er ging mit dem Jungen in die Garage und versuchte, Sammy aufzuheben, aber er brachte ihn kaum vom Fleck. Das Tier mußte mindestens zwanzig Pfund zugenommen haben. Er fühlte einen reißenden Schmerz im Rücken. Dann erhob er sich fluchend. »Geh', hole mir Mike.« Sean schüttelte den Kopf und rief: »Sammy!« Der Seehund warf Brody einen zornigen Blick zu und hüpfte dem Jungen entgegen. Sean fischte eine Makrele aus dem Eimer, den sie gestern auf dem Fischmarkt von Amity aufgefüllt hatten. Der Seehund fing sie geschickt auf. Brody sah das Kassenregister vor sich: 80 Cents das Pfund. Sammy schluckte, streckte sich und schlug mit den Flossen auf den Boden. »Ich weiß, daß er niedlich ist«, sagte Brody. Es verschnürte ihm die Kehle. »Aber es hilft alles nichts, mein Junge. Gehen wir.« Sean sah ihn eine Weile bettelnd aus seinen porzellanblauen Augen an. Dann ergab er sich dem Schicksal. Sean nahm den Fischeimer und ging voran. Sammy hüpfte ihm hinterher. Das Felsufer hinunter, über den harten Sand und bis zum Wasser marschierten die beiden. Zu Brodys Überraschung hatte Sean recht gehabt. Der Seehund wollte nicht ins Wasser gehen. Er hörte Ellen, die vom Schlafzimmerfenster aus rief. -2 4 0 -
»Brody! Len Hendricks am Telefon. Er sagt, es sei dringlich!« Brody humpelte zum Haus zurück. »Laß ihn«, rief er Sean zu. »Er wird schon ganz allein ins Wasser gehen.« Seine Wut wuchs mit jedem Schritt. Der arme Sammy, der vor Kummer verzweifelte Sean, die stinkende Garage, seine entsetzlichen Rückenschmerzen, die sich krampfartig bis in das eine Bein verlagerten, so daß er hinken mußte - all das war einzig und allein Jepps' Schuld. Er nahm den Telefonhörer im unteren Geschoß. »Ja, Len?« »Ein Mann wird als vermißt gemeldet. Die Frau hat eben angerufen.« Herrgott noch mal! Konnte Len das nicht allein besorgen? »Wer ist es?« Schweigen. Dann sagte Len kleinlaut: »Charly Jepps.« »Ach du liebe Zeit«, stöhnte Brody. »Das hat mir gerade noch gefehlt.« Er ging zum Wagen Nummer eins und wü nschte, er wäre in die Kirche gegangen. Lena Starbuck saß am Walnußtisch ihres Eßzimmers, den sie vor zwanzig Jahren nach dem Tode ihrer Mutter geerbt hatte und der fast ihren einzigen Beitrag zum ehelichen Hausrat darstellte, und blickte auf ihren Mann, der ihr gegenüber sein Frühstück aß. Sie hörte, wie Jackie Angelo unten die Ladentür aufschloß, den Ladentisch abstaubte und Ordnung machte. Das arme Mädchen hatte sie gebeten, den Tag frei zu bekommen. Da konnte sie ihr nur Glück wünschen. »Nate«, sagte sie schüchtern. »Jetzt müssen wir es aber sagen.« Er kaute und schmatzte an der letzten Dorschfrikadelle auf dem Frühstücksteller. Er behauptete zwar immer, sie schmeckten scheußlich, so wie er alles, was sie kochte, scheußlich fand, aber er schlang sie gierig hinunter und ließ ihr im allgemeinen kaum Zeit, sie von der Pfanne zu nehmen. -2 4 1 -
»Jetzt müssen wir es aber sagen«, ahmte er sie höhnisch mit Falsettstimme nach. »Wir müssen es sagen ... Die ganze Woche hast du nichts anderes hervorgebracht. Wir brauchen niemandem nix zu sagen. Merk dir das.« »Und Andy Nicholas?« sagte sie entschlossen. »Das hätte doch der Hai sein können.« »Hätte sein können - oder auch nicht. Was ist denn schon passiert? Hat sich mit dem blöden Sauerstofftank die Lungen ausgeblasen. Das muß nicht unbedingt ein Hai gewesen sein. Außerdem ist der Junge viel zu dämlich und hat sicher was falsch gemacht. Erinnerst du dich noch, als er damals die Asthmapillen verschluckt hat?« »Aber da war er doch erst drei Jahre alt«, protestierte Lena. »Man hätte ihn überhaupt nicht tauchen lassen sollen, zunächst einmal. Was hat er schon auf dem Meeresgrund zu suchen? Hast du vielleicht schon mal Haie auf der Main Street herumlaufen sehen?« Sie räumte das Geschirr ab und stellte es in den Spültisch. Heute abend nach Ladenschluß würde sie abwaschen. »Jedenfalls müssen wir es jemandem sagen«, beharrte sie. »Das werde ich auch heute tun.« Sie zuckte zusammen, »Wem?« Er begann, mit dem Fingernagel in den Zähnen zu stochern, und seine Hand war voller Flecken vom Fotoentwickler. »Wir werden später darüber reden.« Er schaute auf seine Uhr. »Es ist Zeit, den Laden aufzumachen.« Sie hatte Jackie versprochen, ihn zu bitten, daß er ihr den Tag frei gab, und jetzt versuchte sie es - mit wenig Hoffnung auf Erfolg allerdings. »Jackie hat vorigen Sonntag gearbeitet. Sie hätte heute gern frei.« »Geht in Ordnung.« »Wie bitte?« Sie traute ihren Ohren nicht. Da hatte Jackie aber wirklich Glück.
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»Laß sie gehen. Moscotti wird heute kommen. Und ich muß ja auf meinen Ruf bedacht sein. Ist nicht nötig, daß ihr Vater davon erfährt, nicht wahr?« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Was? Moscotti willst du es sagen?« Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu, als könne nur eine Vollidiotin eine solche Frage stellen. »Wenn du auf der Straße einen Brillanten findest, wirst du ihn doch nicht etwa dem Zeitungsjungen verkaufen wollen, nicht wahr?« Er zog sich einen Speiserest aus seiner Gebißlücke, betrachtete ihn sich eine Weile und schnippte ihn fort. »Nein. Den verkaufst du am besten jemand, der Brillantringe trägt.« Sie gaffte ihn verständnislos an. War er völlig übergeschnappt? Dann schüttelte sie den Kopf und ging hinunter, um Jackie wegzuschicken, bevor er sich's anders überlegte. Brody saß im Smithschen Sandschloß auf einem ramponierten Rohrsofa und füllte eine Vermißtenanzeige aus. Die schlampigplumpe Frau hatte endlich zu flennen aufgehört, und der Junge spielte draußen mit einem Klappmesser und schnitzte seinen Namen in das faulige Holz der Smithschen Verandaumzäunung. Der Hund heulte auch nicht mehr. »Haben Sie in all seinen Anzügen nachgesehen?« fragte er. »Ja.« »Und Sie sind sicher, daß er seinen Revolver mitgenommen hat?« »Den hat er überall bei sich. Er geht nie ohne seine Kanone.« Sie hatte nicht ganz reizlose braune Kuhaugen, die allerdings vom Weinen gerötet waren, und sie hatte offensichtlich eine furchtbare Angst. Falls Jepps sich einfach nur vor dem Gerichtsverfahren hatte aus dem Staub machen und seine Kaution verfallen lassen wollen, dann hatte er es weiß Gott geschickt angestellt. Er mußte nämlich barfuß, im Pyjama und ohne Geld verschwunden sein. Sie hatte seine Brieftasche auf dem Nachttisch gefunden. Der Inhalt lag verstreut auf dem Sofa neben Brody: zwölf Dollar und siebenunddreißig Cents, Personalausweis der Polizei von Flushing, Dienstmarke, -2 4 3 -
Mitgliedskarten der Kriegsveteranen aus Übersee, der >Elks<, des Pistolenschützenvereins der Polizei, Visitenkarten dreier Stadträte, eine von Halloran, zwei Lotterielose und ein abgegriffenes Foto der Frau aus besseren Tagen. Kein Foto seines Sohnes, was vielleicht dessen fröhliches und unbesorgtes Spielen draußen erklärte, während alle ändern in Panik geraten waren ... »Wir werden eine Suchanzeige aufgeben«, versprach er. Sie hatte sich folgsam gezeigt und schien ihm anscheinend wegen der Verhaftung ihres Mannes nichts nachzutragen. Und jetzt sagte sie: »Würden Sie bitte beim Polizeidepartment in Flushing anrufen?« »Falls er in vierundzwanzig Stunden nicht auftaucht, gewiß.« »Zwölf? Zwölf Stunden?« Er nickte. »Geht in Ordnung.« Ihre Besorgnis um dieses Schwein von Jepps war geradezu rührend. »Mein Gott. Der Junge«, sagte sie plötzlich. »Was ist mit dem Jungen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Charly etwas zugestoßen sein sollte ... Könnte der Junge da nicht auch in Gefahr sein?« Was hatte sie da für einen Verdacht? Eine längst vergessene Verhaftung? Eine Brutalität, die Jepps sich einmal erlaubt hatte? Oder die Mafia? Oder Moscotti? Jepps stand der Spiellizenz in Amity im Weg. Himmel, Herrgott, sagte sich Brody plötzlich. Das trifft ja auch auf mich zu. Fast hätte er sein Notizbuch fallen lassen. »Kennt er Shuffles Moscotti?« fragte er unvermittelt. Sie blickte fort und sagte, sie wisse es nicht. Er bohrte nicht weiter. Wer weiß, wie viele Todfeinde Jepps sich in seinen dreißig Dienstjahren eingehandelt hatte. Moscotti hätte es bestimmt nicht gewagt. Das wäre zu auffällig gewesen ...
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Selbstmord? Das Herumfuchteln mit Schußwaffen war schließlich bei einem Bullen eine Art von Berufskrankheit. Aber es gab keine Leiche. Keinen Abschiedsbrief. Wäre er irgendwohin gegangen, um der schnöden Welt mit Hilfe seines Pistolenlaufs adieu zu sagen, dann hätte er bestimmt einen Brief hinterlassen und wahrscheinlich Brody die Schuld gegeben. Nein. Das kam alles nicht in Frage. Die vielen leeren Bierdosen wiesen eher darauf hin, daß er sich betrunken hatte. Ja, wahrscheinlich war er besoffen, hatte sich zum Schutz seine Kanone mitgenommen, war den Strand hinuntergegangen und schlief sich jetzt hinter irgendeiner Düne seinen Rausch aus. Hoffentlich friert er dort tüchtig, sagte sich Brody. Dann ging er. Als er an dem kleinen Jungen auf der Veranda vorbeikam, lächelte er ihm zu und fuhr ihm mit der Hand über den Schöpf. Der Kleine grinste ihn strahlend an. Der hat wenigstens nichts zu befürchten. Er sah eher aus, als hoffte er, seinen Vater nie mehr wiederzusehen. Brody stieg in den Buggy und fuhr im Schrittempo den Strand entlang. Er suchte jede Düne und jede Mulde nach dem Vermißten ab. Shuffles Moscotti schaute zufrieden seinem Sohn und seinem Neffen zu, als sie Johnnys Laser aus dem Anhänger des Ferrari luden. Sie trugen ihn gemeinsam zur Rampe des AmityBootsclubs hinunter und setzten ihn ins Wasser. An der Mole lag ein lustiges, kleines, mit bunten Wimpeln geschmücktes Motorboot. Auf einer der Flaggen las er: >REGATTAKOMITEE. ZIELLINIE<. Ein paar kleine Mädchen - das mußten die Brownies sein, über die sich Johnny beklagt hatte - paddelten in einem Kanu. Sie hatten eben ein Rennen gegen die Jungen verloren -Johnnys Wölflinge. Als die Jungen Johnny sahen, winkten sie ihm zu. Moscotti strahlte. In Queens hatte sein Sohn keine Freunde, soweit es ihm bekannt war. Aber in Amity war es etwas anderes, und das -2 4 5 -
machte ihm die Stadt nur noch sympathischer. Wenn erst einmal das Casino eröffnet wurde, war das Glücksspiel für alle eine gute Einnahmequelle, und dann konnte Amity wieder aufleben. Er jedenfalls hatte gestern abend seinen Teil dazu beigetragen. Er sah Ellen Brody draußen auf dem Pier. Sie trug die Uniform einer Wölflingsmutter. Bellissima! Tolle Hüften. Lange Beine. Die Art, wie sie sich bewegte, gefiel ihm ungemein. Das war mal etwas anderes als seine Alte, die nur ein einziges Kind hatte, dafür aber rund wie ein Faß Olivenöl war. Er ging zum Pier, wo Ellen sich gerade mit einer anderen Frau in Brownieuniform unterhielt. Sie warf ihm einen etwas erschreckten Blick zu. Ihr Gesicht wurde hart und ausdruckslos. Sie wendete sich ab. Eigentlich hätte er sich darüber ärgern sollen, aber er fand eher, daß es ihn amüsierte. Einen Augenblick lang spielte er sogar mit dem verrückten Gedanken, ihr zu sagen, daß er ihrem Mann das Leben gerettet oder ihm zumindest großen Ärger erspart hatte, als er gestern seinen Feind umbrachte. Er setzte ein breites Grinsen auf und sah sich die billigen Pokale an, die in einer Reihe auf einer verwitterten Bank vor dem Klubhaus in der Sonne glitzerten. Er nahm einen Fünfzigdollarschein aus seiner Brieftasche und steckte ihn in den größten Pokal. »Ein Bonus«, sagte er. »Vielleicht wird Johnny ihn gewinnen.« »Hier gibt es keine Geldpreise«, sagte Mrs. Brody ärgerlich. »Das ist ein Amateurrennen.« Sie nahm den Schein und reichte ihn ihm zurück. »Behalten Sie Ihr Geld.« »Dann nehmen Sie ihn als Spende für den Würstchenstand. Einverstanden?« Er ließ nicht locker. »Nun komm schon, Ellen. Sei doch nicht so«, sagte die andere Frau. Mrs. Brody wurde rot. »Na schön«, sagte sie schließlich. »Vielen Dank.«
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Er watschelte zum Hafen zurück. Amity war gut zu ihm, und er war gut zu Amity. Er stieg in seinen Wagen und wartete auf den Start. Sein Neffe ließ sich auf den Sitz neben ihm gleiten. Moscotti kniff ihm leutselig in den Arm. Dann wies er mit weiter Geste auf die im Sonnendunst liegende Stadt. Hier war es so schön wie in Palermo - aber außerdem lebte es sich hier besser. »Buono?« radebrechte er. Der junge Mann hatte ihn verstanden und nickte begeistert. Moscotti lehnte sich auf dem Sitz zurück und schloß die Augen. Ein netter Junge. Ein Sohn, auf den er stolz sein konnte. Herrliches Wetter. Herrliche Stadt. Nach einer Weile nickte er ein. Tom Andrews hatte die ganze Nacht im Krankenhaus bei Andy Nicholas gesessen. Man hatte den Jungen in einen Beatmungsapparat gelegt. Das hatte ihm eine andere Nacht in Erinnerung gerufen, als vor Jahren sein Tauchpartner in Port Hueneme, Kalifornien, entsetzlich schreiend in einem Tank erstickt war. Danach war er an die Ostküste gezogen, um zu vergessen. Jetzt stand Tom immer noch mit nacktem Oberkörper und Taucherhosen mit Andys Eltern im Röntgenlaboratorium und sah zu, wie man den Jungen auf seinem Bett in ein Zimmer rollte. Zum zweitenmal war ihm das nun passiert, und Tom schwor sich, daß es das letzte Mal sein würde. Der hochgewachsene, weißhaarige Neurochirurg war angeblich der beste in Connecticut. Er strahlte Vertrauen aus, als er an den Projektionsapparat trat. Durch einen Einschnitt in den Stirnlappen wollte er den Druck auf die linke Hemisphäre vermindern, der durch eine der beiden auf dem Film als dunkle Flecken erkennbaren Luftblasen verursacht war. Nur ein Haken war dabei: Es war eine äußerst riskante Operation. Er erklärte es in väterlichem Ton, sprach so, wie man mit Kindern redet und fiel nur gelegentlich in seinen medizinischen Jargon zurück. »Da hätten wir also dort oben diesen großen Störpunkt auf der linken Gehirnhälfte, der für die Lähmung des rechten Armes und Beines verantwortlich ist. Wir haben -2 4 7 -
ebenfalls bemerkt, daß seine Augen die Tendenz haben, nach links zu schweifen. Die Gesichtsmuskeln auf der rechten Seite scheinen beträchtlich geschwächt zu sein. Deshalb läuft ihm auch der Speichel aus dem Mund ...« »Sieht mir ganz wie ein gottverdammter Schlaganfall aus«, unterbrach Andys Vater. »Und der Junge ist ganze fünfzehn Jahre alt!« Andrews fühlte die angestaute Wut des Mannes aufsteigen. Wut auf ihn, auf den Arzt, auf die See und vielleicht auf die ganze Welt. Aber konnte man es ihm übelnehmen? »Da haben Sie leider nicht ganz unrecht«, sagte der Arzt. Er blickte zu Andrews, und Andrews spürte die gleiche Feindseligkeit. Aber schließlich hatte er doch den Jungen genauso gut trainiert wie all die anderen. Für das, was hier geschehen war, konnte man ihn doch nicht verantwortlich machen. »Positiv zu bewerten ist dagegen die Tatsache«, fuhr der Arzt fort, »daß die Blutzirkulation im äußeren Teil des Großhirns, also im Zentrum des motorischen Nervensystems, sich zu verbessern scheint. Das bedeutet, daß diese höher gelegene Luftblase sich resorbiert. Die Lähmung wird also wieder verschwinden. Nur der Druck der tiefer gelegenen Embolie hier -« er zeigte auf die Stelle - »behindert die Durchblutung des sogenannten Wernicke-Rindenfeldes - des Sprachzentrums -, und das beunruhigt mich. Hier müssen wir meiner Meinung nach etwas tun, um den Druck zu vermindern.« »Wird diese Operation ... gelingen?« fragte Linda Nicholas angsterfüllt. Sie hatte sich bisher gut gehalten, aber ihre Augen waren vor Schlafmangel aufgedunsen. »Es ist unsere beste Chance«, sagte der Arzt ganz offen. »Die Aphasie ist der lebende Tod.« »Wir sind nicht wohlhabend«, platzte Andys Vater heraus. »Das muß ich Ihnen von vornherein sagen ...« »Da kann ich Ihnen helfen«, fiel Andrews ein. »Ich schließe meinen Laden, aber ich habe noch einigen Vorrat an Waren, -2 4 8 -
Ausrüstungsgegenständen und ein Boot. Und wenn es sein muß, werde ich nach Kammuscheln tauchen.« Lindas Augen füllten sich mit Tränen, und bevor sie ihm danken konnte, hatte er das Zimmer verlassen. Er war selber einmal ein dicker kleiner Junge gewesen. Er wollte sich noch von Andy verabschieden und - falls es ihm möglich war - ihm Kraft und Mut spenden. Ellen Brody gesellte sich zu Willy Norton, dem Vorsitzenden des Regattakomitees, der gerade am Ende der Mole des Klubhafens stand und auf die dunstige See hinausblickte. Das Motorboot des Komitees war eben vom Leuchtturm am Cape North zurückgekehrt, wo man die Regattaboje eine Viertelmeile seewärts verankert hatte. Es war eine verhältnismäßig flache Stelle im Amity Sound. Ellen hatte noch die halbe Nacht hindurch an ihrer Nähmaschine gesessen, um die orangefarbenen Wimpel für die Bojen fertigzustellen, und nun spähte auch sie in die Ferne und wollte sehen, ob man die Flaggen von hier aus erkannte. Aber es war zu weit fort. Vielleicht sollte sie sich die Augen untersuchen lassen, denn selbst der Leuchtturm schien verschwommen und klein von hier aus, aber vielleicht konnten die scharfäugigeren Jungen in ihren Dingis und Lasern sie besser sehen. »Ich weiß nicht«, sagte Willy mit einigem Zweifel in der Stimme. Er drehte sich um und warf einen Blick auf die auf dem Kai, der Mole und an der Reling des Bootsklubs stehenden Zuschauer. Da sah er Yak-Yak Hyman, der am Erfrischungsstand an einem Hotdog kaute. »Yak-Yak«, rief er ihm zu. »Werden wir Nebel haben?« Yak-Yak schaute ihn verblüfft an. Was bildete sich Willy Norton eigentlich ein? War das eine Art, ihm über die Menge hinweg eine Frage zuzurufen? So konnte man mit ihm nicht umspringen. Er zuckte die Schultern, schüttelte angewidert den Kopf und schlenderte in seinen Angelladen am Stadthafen zurück. -2 4 9 -
»Wird es Nebel geben?« fragte Willy nun Harry Meadows. Der Zeitungsredakteur, der gelegentlich auch Sportreportagen verfaßte, setzte ein gütiges Lächeln auf. »Das weiß ich nicht. Ich lese nie die Zeitung.« »Ach, Willy«, platzte Ellen heraus. »Herrgott noch mal! Sie haben schließlich Ihr ganzes Leben in Amity verbracht! Können Sie das nicht selber entscheiden?« Willy blickte sie vorwurfsvoll an. Er wandte sich um und überprüfte noch einmal die startbereiten, an der Landungsbrücke schaukelnden Dingis, Laser, Jollen, Kutter, Ketsche und nicht kategorisierten Boote. Es waren vierzehn nein, fünfzehn Boote, die an der Regatta teilnehmen sollten. Auch Ellen beobachtete sie und befand im stillen, daß Larry Vaughan wahrscheinlich gewinnen würde. Er segelte allein und kannte sich wie ein alter Fachmann in allen Griffen aus. Mike allerdings auch, wenn er nur wollte. Larry saß mit dem Blick auf das Segel gerichtet in seinem Boot inmitten all der anderen. Er hatte seine Füße angeschnallt, hielt die Hand auf der Pinne und streckte seinen Körper angriffsbereit seitwärts hinaus. Er wirkte wie ein zu allem entschlossener Kampfflieger vor dem Start zum Gefecht, und er hatte Blut gerochen, als er Mike mit seinem Boot sah. Jetzt sah sie zu Mike. Seine armselige Happy Daze hätte Übergewicht mit Jackie und Sean und lag zu tief im Wasser. »Sean«, rief sie so unauffällig, wie es über dem herrschenden Lärm möglich war. »Frage Larry, ob er dich in seine Mannschaft aufnimmt. Sonst versinkt ihr mir noch.« »Frag doch die da.« Er wies auf Jackie. »Soll sie woanders mitfahren! Ich habe mir einen Platz auf diesem blöden Boot schließlich verdient!« Jackie lächelte ihr zu, und ihre silbernen Zahnklammern blitzten in der Sonne. Ellen empfand fast etwas wie Eifersucht. Wenn diese Zahnklammern einmal weg waren, hatte die Stadt in Jackie eine neue Schönheitskönigin. Das Mädchen erhob sich geschmeidig und hielt sich am Segelmast. Sie schätzte die Distanz bis zu den Stufen der -2 5 0 -
Landungsbrücke und schien bereit, sich zu opfern. »Lassen Sie nur, Mistreß Brody. Ich werde zuschauen.« Mike packte sie am Hosenboden. Aha, dachte sich Ellen. Es ist also nicht das erstemal. »Du bleibst schön hier«, sagte Mike. »Laß doch den kleinen Meckerer aussteigen, wenn er will.« Sean war sichtlich beleidigt und blickte sich wild um. Ellen hörte, wie er Johnny Moscotti fragte, ob er mit ihm segeln könne. Johnny nickte, brachte sein Boot an die Happy Daze. Sean sprang so ungestüm ein, daß er und Johnny fast kenterten. Dann machte er seinem Bruder noch schnell eine lange Nase, was Ellen natürlich nicht sehen sollte. Sie hatte sich abgewandt. »Ist es nun ja oder nein?« fragte sie Willy. Er nickte resigniert und schickte das Komiteeboot dreißig Meter hinaus, um die Startlinie festzusetzen. Dann nahm er das Megaphon, das er sich von Brody ausgeliehen hatte, und wies die verrückte kleine Armada dort unten an ihre Plätze. Ellen hoffte, daß sie sich nicht über den ganzen Amity Sound zerstreuten, denn dann würde man selbst mit aller Vorgabe nie zurechtkommen und nur große Verwirrung stiften. Am meisten jedoch hoffte sie, daß der Nebel heute fernbleiben würde. Alle Beteiligten hatten zwar immer mit der See und dem Sound gelebt, und keiner von ihnen - außer Johnny Moscotti würde sich verirren, aber die Fähre von Amity Neck konnte leicht zu einem Problem werden. Wenn nur der Kapitän Lowell heute nüchtern genug war und ein wenig aufpaßte! Das erste Warnsignal ertönte, dann nach einer Minute das zweite, dann nach dreißig Sekunden der Startschuß, die Flagge wurde gehißt, und dann fuhren sie los. Unglaublich, aber Mike hatte die Führung übernommen, doch Larry Vaughan folgte ihm mit verbissener Entschlossenheit. »Mir gefällt der Ballast auf Mikes Boot, Ellen«, sagte Harry Meadows und blinzelte ihnen nach. »Aber Larry wird ihn so schnell überholen, daß er glaubt, sein Boot stehe still. Wozu hat er sie eigentlich mitgenommen. Soll sie für ihn kochen oder was?« -2 5 1 -
»Eher >was<, nehme ich an«, sagte sie zart mitfühlend. »Larry hat seine Vorlieben, und Mike dafür die seinen.« »Und wie steht's mit Ihnen, Ellen?« fragte Harry mit einem Seitenblick. »In all den Jahren haben wir uns noch nie darüber unterhalten.« Sie klopfte ihm auf den Bauch. »Werden Sie erst einmal diesen Ballast da los, Harry. Man kann nie wissen.« Es war kaum zu fassen, aber Meadows Augen leuchteten auf. Der alte Bock! Immerhin konnte sich seine zukünftige Witwe freuen, denn sie war schon immer eine eifrige Verfechterin der >Diät der letzten Chance< und cholesterinarmer Nahrung gewesen. Vielleicht hatte sie ihm das Leben gerettet.
Zweites Kapitel Andy Nicholas lag in dem seltsam fremd aussehenden Krankenhauszimmer und starrte wie gebannt zu seinem Helden auf, als der bärtige Riese sich über ihn neigte. Andy wußte, daß Tom Andrews die ganze Nacht bei ihm gesessen und ihm die schmerzenden Glieder massiert hatte. Er erinnerte sich an das alles durch den Nebel eines merkwürdigen Halbschlafzustandes hindurch. Er konnte nur seine linke Hand bewegen. Die rechte Hälfte seines Gesichtes fühlte sich benommen und wie eingeschlafen an. Er hatte große Angst, daß der reißende Schmerz in seine Glieder zurückkehren würde. Hie und da war er fähig, ziemlich klar zu denken, erkannte die Mutter, den Vater und Tom auf den ersten Blick und wußte sogar, daß der große, weißhaarige Mann ein Arzt sein mußte, aber die Namen all dieser Menschen hatte er vergessen und auch die Worte, mit denen er sie anreden sollte. Und eine Krankenschwester hatte er auch bemerkt, die ihn sehr zu seinem nebelhaften Erstaunen - im Bett badete.
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Er konnte jedoch nicht sprechen. Das hatte er fast von Anfang an festgestellt, obgleich er sich nicht denken konnte, warum es so war. Wenn er etwas hörte, glaubte er es zu verstehen, aber dann war es verschwunden, bevor er sich einen Begriff daraus machen konnte. Es war ein ähnliches Gefühl wie damals, als Larry Vaughan das Päckchen Pot gefunden hatte und sie im Hinterhof des >Wilden Bären< ein paar Joints gepafft hatten. Jetzt hätten all die Leute ebensogut französisch sprechen können, und er hätte auch nicht mehr verstanden. Die Worte kamen ihm zwar bekannt vor, aber der Sinn war verlorengegangen. An sein Tauchen konnte er sich ganz klar erinnern. Er war Mike durch den grünen Schlamm gefolgt, und er sah noch Mikes Luftblasen vor sich. Sie hatten ihn an die Perlenkette Jackie Angelos erinnert, die er stets an ihr bewundert hatte, wenn sie hinter Starbucks Ladentisch stand. Die Blasen waren an die Oberfläche gestiegen, und dann hatte er diesen runden, zerbeulten Gegenstand auf dem Meeresboden erblickt. Das Ding hatte wie ein zertretener Fußball ausgesehen und war von zahlreichen Kratzern übersät - und diese Kratzer erinnerten ihn wiederum an das entsetzliche Ungeheuer, das er später gesehen hatte und beim besten Willen nicht benennen konnte ... Und dann dieses verschreckte, hundeähnliche Tier mit Flügelflossen - auch an seinen Namen konnte er sich nicht erinnern -, und dann ... Andrews blickte ihm jetzt ins Gesicht. Er schien traurig zu sein. Andy wollte ihm sagen, was er gesehen hatte. Er versuchte, sich zu erinnern, wie man all diese Dinge nannte - die Kugel, den Seehund, den Hai ... Aber wie hießen sie nur? Und wie hieß er selbst? Und der bärtige Riese? Und der Mann und die Frau, die eben noch an seinem Bett gestanden waren? Sie gehörten doch zu ihm! Er hatte sie mit den Augen angebettelt, noch ein wenig zu bleiben. Vielleicht waren sie
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deshalb fortgegangen. Er konnte ihnen nichts sagen, und sie glaubten, sie seien ihm gleichgültig ... Der bärtige Mann wischte Andy den Mund mit einem Papiertaschentuch ab. Er sah müde und sehr unglücklich aus. Er strich Andy mit seiner haarigen Tatze über die Stirn und sah ihn einen Augenblick forschend an. »Auf Wiedersehen, Andy. Und gute Besserung.« Andy blinzelte ihm in die Augen. Er wußte, daß er nun auch den Riesen enttäuscht hatte, so wie ihm alles im Leben stets mißlungen war. Er wollte ihm erklären, daß jeder - jeder unter diesen Umständen in Panik geraten wäre ... Jenes Ding war so groß wie ein Flugzeug gewesen und auch genauso schnell gekommen. Er versuchte, es mit den Augen zu sagen: der riesige, klaffende Rachen mit all den entsetzlich blinkenden Zähnen ... Er bemühte sich krampfhaft. »Zä ... Tsä ... Tää ...«, brachte er mühsam hervor. Andrews starrte, überlegte und grinste plötzlich. Er drückte aufgeregt auf die Klingel, die am Bett hing. Eine Schwester kam herein. Und Andy hörte verschwommen, wie Andrews sie bat, Tee zu bringen. Nein! Nein! Was immer auch das Wort bedeutete - es war nicht das, was er sagen wollte ... , Die Schwester schüttelte den Kopf. »Bedaure. Vor der Operation darf er nichts zu sich nehmen.« Dann fragte sie verdutzt: »Hat er darum gebeten?« »Ich glaube, ja.« »Wunderbar!« rief sie und verschwand. Andy versuchte es noch einmal. Wie ungerecht war das! Selbst Mike hätte doch alles vergessen, wenn er die Kugel gesehen hätte ... »Ku ... Ku ...«, stöhnte er. Andrews war im Nu wieder an seinem Bett. »Ku?«
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Andy hob zitternd die linke Hand, damit Andrews es sehen konnte. Er versuchte, ein Rund in die Luft zu zeichnen - ein Rund wie dieses Ding ... wie hieß es nur noch? Er hatte es wieder vergessen. »Kugel?« schrie der Riese. »Kugel, Andy?« Andy fühlte, wie sein Bewußtsein schwand. Er konnte nicht mehr denken, sich nicht mehr erinnern. Einen Augenblick lang hatte er keine Ahnung mehr, was der bärtige Mann gesagt hatte. Der Riese stand auf. »Ich werde nach dem Ding tauchen. Verdammt noch mal, ich werde sie für dich finden, Andy.« Andys Bewußtsein kehrte plötzlich wieder zurück. Tauchen? Nein! Da war doch die Gefahr ... Dieses große Ding mit den Zähnen ... Hai? Er hatte das Wort auf der Zungenspitze, quälte sich damit herum ... und verlor es wieder. Dann glitt er in den Schlaf. Tom Andrews blickte auf das runde, weiße Gesicht hinab. Er hatte zwar keine Ahnung, was die Operation kosten würde, aber tausend Dollar halfen bestimmt. Also los! Der Hubschrauberkommandant mit seinem großen Maul und seiner fixen Idee war schließlich schuld an Andys Unglück und seinem. Jetzt sollte er seine verdammte Kugel haben. Er würde sie ihm schon holen. Aber wenigstens konnte der Kerl ihn nach Hause fliegen, damit er dort sein Boot flottmachte. Er rief Chaffey beim Marinestützpunkt in Quonset Point an - per R-Gespräch. Dann ging er auf das Dach des Krankenhauses zum Hubschrauberlandeplatz und wartete. Ellen hatte eine halbe Stunde lang am Schreibtisch des >Kommodore< in der Hüte des Bootsklubs gesessen und Punkte zusammengezählt: Stechturnier, Schnitzeljagd und schließlich das große Kanurennen, das für die Sache der Frauenrechtlerinnen verlorenging, als die kleine Jeannie -2 5 5 -
Enzensperger ihr Paddel fallen ließ, um nach einem sich lösenden Lockenwickler zu greifen. Dann hatte sie die Quittungen für den Würstchenstand zusammengerechnet und drei ehrliche Teenager mit Moscottis fünfzig Dollar zum Delikatessenladen geschickt, um Hackfleisch für die Hamburger und die entsprechenden Brötchen einzukaufen. Als sie endlich fertig war, blickte sie aus dem Fenster und erschauerte ein wenig. Sie sah zwar immer noch die Segel, die sich dem Leuchtturm von Cape North zubewegten, erkannte sogar noch die orangefarbenen Wimpel, die sie am Tag zuvor zugeschnitten und auf der Nähmaschine zusammengebastelt hatte - aber hinter dem Kap zog über dem Ozean allmählich ein grauer Schleier auf, und das hieß - für sie wenigstens -, daß der Nebel bald in den Amity Sound vordringen würde. Sie nahm ihre Liste der bisherigen Preisgewinner, ging hinaus und machte sich auf die Suche nach Willy Norton. Sie fand ihn im Schatten des Erfrischungsstandes, als er gemütlich mit Bürgermeister Larry Vaughan ein Bier trank. Sie machte die beiden sofort auf den vom Meer heranziehenden Nebel aufmerksam. Willy trat an die Reling des Hafenpiers und blickte forschend auf die See hinaus. Er schien besorgt zu sein. Aber Larry Vaughan sagte lachend: »Ach, Ellen, was ist denn schon dabei? Im Amity Sound ist noch niemand verlorengegangen.« »Aber die Ebbe kommt«, erinnerte sie ihn. »Na schön«, gab er zu. »Das tut sie jeden Tag zweimal.« Sie fand, das sei wieder einmal typisch männliche Gleichgültigkeit, nagelte den Zettel mit den Gewinnern des Kanurennens an die Wand und nahm sich einen der von Moscotti spendierten Hamburger. Aber als sie in die Hütte des Bootsklubs zurückkehrte, war sie überrascht, Willy Norton am Telefon zu finden. Er hatte sich
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Seine Kapitänsmütze in den Nacken geschoben und rief die Wettervorhersage der Küstenwache von Shinnecock an. Er hängte den Hörer auf. »Tja ... es ist ziemlich unbestimmt.« Er trat an das Fenster. »Nach der Voraussage gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder es wird kühler, und dann haben wir Nebel. Oder aber die Sonne bleibt warm genug, und dann sind wir aus dem Schneider.« »Ich bin sehr beeindruckt«, sagte Ellen trocken. »Werden Sie die Regatta zurückrufen?« »Sie sind ja schon halb drüben. Wir müßten das Motorboot vom Komitee rüberschicken, aber ich weiß nicht, ob es genug Benzin im Tank hat. Die Kanone hören sie bestimmt nicht mehr, und außerdem haben wir nur noch eine Salve für den Sieger.« »Die brauchen Sie ja nicht mehr, wenn Sie die Regatta zurückrufen«, folgerte sie logisch. »Dann gibt's doch keinen Sieger.« Er nickte tiefsinnig. »Das ist allerdings wahr ...« »Also, wozu entschließen Sie sich?« Er sah auf seine Uhr. »Geben wir ihnen noch eine halbe Stunde«, verkündete er schließlich triumphierend. »Willy«, sagte Ellen. »Sie sollten für die Parlamentswahlen kandidieren.« Sie ging hinaus, um nach dem Wasserstand zu sehen. Es begann gerade zu ebben, und es gurgelte in kleinen Strudeln um die Pfeiler am Dock. Hoffentlich erinnerten sich Mike, der kleine Moscotti und Sean und all die anderen daran, wie gefährlich die Strömung bei Ebbe am Cape North und besonders an der Mündung des Amity Sound sein konnte. Aber es hatte ja keinen Sinn, sich jetzt wie eine verängstigte Gluckhenne aufzuführen. Man konnte immer noch die winzigen Segel auf dem halben Weg nach Cape North sehen. Es würde ihnen schon nichts passieren.
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Drittes Kapitel Brody hängte den Telefonhörer auf seinem Schreibtisch auf. Er hatte den Wachtmeister am Strand nirgends finden können, und das begann ihn jetzt immer mehr zu beunruhigen. Schließlich hatte er alle verfügbaren Kräfte - außer der Bundestruppe - auf der Suche nach Jepps eingesetzt. Er hatte den Startschuß der Segelregatta gehört und ärgerte sich blau, daß er verhindert war und nicht dabei sein konnte. Len Hendricks aber war hocherfreut. »Das löst doch unser Problem, Chef. Nicht wahr? Ich meine, falls er abgehauen ist. Justizflucht, Verbrechen auf Bundesebene. Da gibt's 'nen Steckbrief! Vielleicht hat er das Staatsgebiet verlassen.« »Vielleicht hat er aber auch ins Gras gebissen«, bemerkte Brody. »Oder wie ihr Kriegshelden es sonst nennt.« »Wäre sogar noch besser!« »Wäre es das wirklich, Len?« fragte Brody müde. »Wirklich?« Ein lautes Knattern tönte von draußen herein. Ein Schatten streifte am Fenster vorbei. Brody riß es auf und sah einen Marinehubschrauber im Stadtpark landen. Dieser Hurensohn! Er rannte zum Polizeiwagen Nummer eins, sprang hinein und fuhr die drei Straßenblocks herunter. Der Hubschrauber war bereits gelandet und hatte drei der fünf noch verbleibenden Azaleen zerstört. Bald war nichts mehr von Minnies Gärtnerkunst zu sehen. Der Motor wurde abgeschaltet, und aus der Kabine stieg Tom Andrews, immer noch im Taucherdreß, den er am Vortag angelegt hatte. Brody ging auf ihn zu. »Wie geht es Andy?« Andrews sagte es ihm. Es war nicht so schlimm, wie es hätte sein können, aber schlimm genug. Und Tom wollte nun so bald wie möglich wieder tauchen. Niemand konnte voraussehen, wie weit diese Sondenkugel mit der Strömung auf dem Meeresboden treiben konnte, und die Familie würde die tausend Dollar brauchen. Chaffey war inzwischen auch -2 5 8 -
ausgestiegen und entschuldigte sich, noch einmal mitten in der Stadt gelandet zu sein. Brody betrachtete die große Maschine. Sie war wirklich eindrucksvoll und hatte bereits eine Menge schaulustiger Touristen angezogen. Sogar die Zuschauer vom Dock des Bootsklubs kamen die Scotch Road herauf, um sie sich anzusehen. Nun ja, wenigstens war es für eine gute Sache geschehen. Der Kommandant blickte an ihm vorbei und machte ein erwartungsvolles Gesicht. Brody drehte sich um. Seine Frau bahnte sich einen Weg durch die Menge. Selbst in ihrer dummen Pfadfinderuniform sah sie blendend aus und bewegte sich mit großer Eleganz. »Ich dachte, du zählst die Segelboote«, sagte Brody kurz. Sie erzählte ihm, daß der Nebel gekommen war, daß man die Segel überhaupt nicht mehr sah, und daß das Motorboot des Komitees wieder einmal nicht starten konnte. Wäre es nicht möglich, Dick Angelo in der Polizeibarkasse hinauszuschicken? »Der ist aber in New London und wartet dort, bis er Andy Nicholas und seine Eltern zurückbringen kann.« Jetzt schien sie ernstlich besorgt, und er war es auch. Er schaute zur See. Vom Hafen von Amity aus war die Sicht noch klar, aber aus der Ferne hörte man bereits das Nebelhorn von Cape North. Es gab keinen Zweifel mehr. Bald würde es dick wie Erbsensuppe hereinkommen, und die Kinder in ihren Booten mußten zurückgerufen werden. Aber wie? Vielleicht die Küstenwache? Man könnte es versuchen, aber es war nicht sicher, daß sie kommen würden. Oder aber ... Er wandte sich an Chaffey. »Haben Sie eine Lautsprecheranlage?« Chaffey nickte. »Ich werde sie zurückrufen.« Dann fragte er Andrews. »Können Sie alleine tauchen?« »Ich werde seinen Luftblasen folgen«, sagte Brody. »Ich habe es schon einmal getan.« -2 5 9 -
Chaffey stieg in seine Maschine. Der Hubschrauber sprang mit einem Aufhusten an, räusperte sich und erwachte zu sprudelndem Leben. Wenige Sekunden später schwebte er bereits inmitten seines eigenen Wirbelwindes. Das war das Ende der schönen Azaleen, die Minnie gepflanzt hatte. Brody dachte daran, als er Andrews zur Aqua Queen fuhr. Er hielt noch einmal kurz vor seinem Büro, um sich zu erkundigen, wie es mit der Suche nach Jepps stand. Nichts. Die Vermißtenabteilung aus Flushing war unterwegs, und die County-Polizei wurde um vier Uhr erwartet. Mike Brody trimmte sein Segel und brachte das Boot fester in den Wind. Jackie bewegte ihre nackten Füße - es waren natürlich die herrlichsten Füße der Welt - unter dem Fußriemen, der die ganze Länge des inneren Rumpfrahmens entlanglief. Sie lehnte sich weit gegen den Wind hinaus und half ihm, das Boot in der aufsteigenden nassen Brise aufrecht zu halten. Sie bekam gerade einen Spritzer ins Gesicht und schüttelte ihr Haar. Ihr wohlgeformter, sonnengebräunter Körper - mit genau den richtigen Rundungen - streckte sich gekonnt nach außen. Mike stellte es bewundernd fest und fand überhaupt, daß sie für ein Mädchen recht kräftig war und sich in allen Bewegungen äußerst gut auskannte. Ihr gegen den Wind verlagertes Gewicht glich den durch die zusätzliche Belastung verursachten Geschwindigkeitsverlust aus. Und im übrigen stimmte er ganz mit seinem Vater überein, der stets zu sagen pflegte, es komme nicht darauf an, ob man gewinne oder verliere, solange man sein Spiel richtig spiele. Ein Spielchen anderer Art hatte Mike allerdings auch im Sinn, aber dazu war jetzt keine Gelegenheit, wenn er das Boot nicht zum Kentern bringen wollte. Wenigstens war er Sean losgeworden, der stets unruhig und unberechenbar war und viel zuviel im Boot herumkletterte. Sean war irgendwo in der Menge der hinter ihm segelnden Boote. -2 6 0 -
Und irgendwo da vorn mußte Larry Vaughan sein. Mike konnte ihn nicht sehen, da das Großsegel dazwischen war, und er senkte den Kopf unter den Großbaum. Da war Larry im dunstigen Sonnenlicht. Mike überschlug schnell die Distanz und fragte sich, ob sie gewinnen würden. Er hielt es für wahrscheinlich. Mit Jackie, die mit ihrem ganzen Körpergewicht das Boot aufrecht zu halten half, hatte er jedenfalls eine bessere Chance als Larry, die jenseits der Flutlinie bei Cape North geankerte Regattaboje zu umrunden. Larry, der nur sein eigenes Gewicht gegen den Wind stemmen konnte, würde vielleicht sogar in die Hochsee abtreiben und ganz außer Sicht geraten. Jackie drehte sich nach achtern. Sie strahlte grinsend und vergaß ihre Zahnklammern vor lauter Freude und Glück. »Mike, Schatz, ist es nicht toll?« »Ich wäre lieber wieder mit dir in den Dünen.« Ihre Augen wurden feucht. »Der arme Andy.« Eine Wolke verfinsterte die Sonne. »Wenn ich nur besser auf ihn aufgepaßt hätte ...« »Mike, bitte, mach' dir keine Vorwürfe! Warum quälst du dich mit diesen Gedanken?« »Ich bin halt ein Mascho ... Mascho ... du weißt schon, was ich meine.« »Ein Masochist«, sagte sie. Sie griff zu ihm hinüber und ließ ihre Hand an seinem nackten Bein herunterlaufen. Mein Gott - wie sie ihn folterte! Das Boot trieb windwärts ab, und er verlor fünfzehn Meter Vorsprung vor Vaughan. Zwei Meilen vor ihnen stieß das Nebelhorn von Cape North seinen Klagelaut aus. Nebel? Mußten sie umkehren? Nein. Jedenfalls nicht der berühmte >Spitz< von Amity Beach. Für sich und Jackie hatte er keine Befürchtungen, Nur für Sean, der mit dem kleinen Moscotti irgendwo da hinten herumkurvte. Die beiden konnten sich ja nicht einmal bei klarem Wetter in -2 6 1 -
einer Pfütze zurechtfinden, und was sie anstellen würden, wenn der Nebel kam, war ihm ein Rätsel. »Vom Cape North zieht es ganz schön herein«, sagte er leise zu Jackie. Es schien ihr nichts auszumachen. Shuffles Moscotti erwachte am Fahrersitz seines Ferrari. Ein tieffliegender Hubschrauber ratterte vorbei. Er war eingedöst und hatte den Start der Regatta verpaßt. Er schaute zu seinem Neffen. Der Junge saß mit halbgeschlossenen Augen ganz friedlich da und war die Ruhe selbst. Der brauchte kein Magengeschwür zu befürchten, keinen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt. Solche Leute lebten ewig. Die Regatta sollte zwei Stunden dauern. Moscotti beschloß, dem Apotheker einen Besuch zu machen, um zu hören, was der von ihm wollte. Er sah sich nach Brodys Streifenwagen um, fuhr die Straße hinunter, machte eine scharfe Kehrtwendung über den weißen Streifen und parkte direkt vor der Apotheke. Er gab seinem Neffen ein Zeichen, ihm zu folgen, und watschelte in den Laden. Yak-Yak Hyman trat aus der an der Hütte des Bootsklubs versammelten Menge und ging zum Stadthafen zurück. Er blickte angewidert auf die menschenleere Landungsbrücke. Sein Anglerladen lag verlassen da. Die Regatta hatte die wenigen Fischer, die vielleicht heute vormittag gekommen wären, wieder einmal vertrieben. Die verdammten Gören und ihre Eltern hatten ihm das Geschäft verpatzt. Gerade an einem Sonntag nahm er gewöhnlich mehr ein als in der ganzen Woche zusammengerechnet. Er sah Brody und diesen Kerl von einem Taucher - wie hieß er noch? - auf der Aqua Queen aus dem Hafen laufen. Dann ging er bis ans Ende des Piers und vergewisserte sich zuerst, daß Dick Angelo noch nicht vom anderen Ufer des Sounds zurückgekehrt war. Diesem Scheißbullen sah es nämlich ähnlich, ihm einen Strafzettel zu verpassen, wenn er die Krebsfalle fand. -2 6 2 -
Verstohlen zog er das Netz empor. Der Dorschkopf, den er als Köder hineingetan hatte, war inzwischen genügend verfault, aber keine Krebse hatten bisher irgendein Interesse gezeigt. Er ließ das Netz wieder hinunter und spuckte dabei ins Wasser. Das sollte angeblich Glück bringen. Plötzlich bemerkte er einen halb untergetauchten, aber festen Gegenstand, der gegen die Pfeiler der Landungsbrücke schlug. Er mochte sich etwa zehn bis fünfzehn Zentimeter unter der öligen Wasseroberfläche befinden. Zuerst dachte Yak-Yak, es sei vielleicht ein Ballen von Tüchern, den ein Frachter verloren hatte - oder eine jener großen, grünen Plastiktüten voller Abfälle, die die blöden Jachtbesitzer im Namen des Umweltschutzes benutzten - und sich damit einbildeten, ihre Pflicht getan zu haben, ohne sich um die Folgen zu kümmern. Auch wieder so ein Quatsch, der mehr Schaden als Nutzen brachte ... Aber es war kein Plastiksack. Die Farbe stimmte nicht, und das Ding war zu groß und fest. Jetzt war er neugierig und kletterte die Holzstufen an den Pfeilern hinab. Auf halbem Weg blieb er stehen und starrte ins Wasser. Unter der öligen Oberfläche sah er im schimmernden Sonnenlicht nur tanzende Farbtupfen, konnte jedoch den Gegenstand nicht erkennen. Er kletterte drei weitere Stufen hinunter, um ihn deutlicher zu sehen. Shuffles Moscotti lehnte sich über den Ladentisch der Apotheke. Starbucks mageres Pferdegesicht verzog sich zu einem schlauen Lächeln. »Nein, Mr. Moscotti. Mit Drogen hab' ich nix zu schaffen. Ich bin ein ehrlicher Apotheker und auf meinen guten Ruf bedacht.« Aha, sagte sich Moscotti. Das bedeutete nur, daß er immer noch nicht weiß, wie man seine Lieferscheine so fälscht, daß die Behörden nicht dahinterkommen. »Wozu bin ich also hier?« fragte Moscotti nicht gerade unfreundlich. In Queens wäre er auf der Stelle aus dem Laden gegangen. Aber hier wollte er mit den Leuten gut auskommen, -2 6 3 -
auch wenn es ihn einige Überwindung kostete. »Was ist das für ein Spiel? Soll ich dreimal raten?« Starbuck schien sich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben. »Wie ich höre, haben Sie einen Anteil am Casino.« Moscotti starrte ihn nur an. Der Apotheker fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und wie ich höre, ist es ein ganz schön dicker Anteil.« Keine Antwort. Moscotti betrachtete ihn argwöhnisch. Wie er es vorausgesehen hatte, wurde Starbucks Gesicht rot. Moscotti benutzte sein Schweigen als einen Knüppel und seinen Zorn als einen Dolch. Derartige Gewohnheiten gewöhnte man sich schwer ab, selbst in Amity. »Demnach ist alles, was dem Fremdenverkehr schadet, auch ein Schaden für Sie«, sagte der Apotheker. »Ich, Larry Vaughart und sogar Brody, dem ja auch Land gehört, und Catsoulis und Willy Norton mit seiner Tankstelle - und jetzt also auch Sie. Wir sitzen alle im selben Boot.« Das reicht mir, beschloß Moscotti, dem bald der Kragen platzte. »Sie haben meiner Frau ausgerichtet, Sie hätten mir etwas mitzuteilen. Was ist es?« Starbuck rieb sich die Hände auf den Tasten der ältesten Schreibmaschine, die Moscotti jemals gesehen hatte, und dann setzte er sich hinter seinen Ladentisch. »Ich biete Ihnen eine Chance, das Boot als erster zu verlassen. Denn es wird versinken. Die Kerle, die hier in der Stadt zu bestimmen haben - ich meine Vaughan und Brody und Catsoulis -, die reden nicht viel.« »Sehr nett von Ihnen, mir das zu sagen. Und nun wollen Sie es an ihrer Stelle tun. Stimmt's?« Starbuck blickte gequält drein. »Sozusagen schon. Erinnern Sie sich an die sogenannte Katastrophe?« »Da war was mit einem Hai. Und da wir von Haien reden, was war das eigentlich für ein Quatsch? Worauf wollen Sie hinaus?« »Nehmen wir mal an, er sei wieder da.« -2 6 4 -
Moscotti hoffte es geradezu. Warum nicht ein ganzer Schwärm von Haien? Das würde all den Angsthasen hier genügend Schiß einjagen und sie in ihre Löcher verscheuchen, wo sie hingehörten. »Wenn Ihr Hai nicht Würfel spielt, schere ich mich einen Dreck darum.« Dieser Starbuck fantasierte. Ein typischer Kleinstadtspinner. Das kam von diesen Vetterehen, wie es sie ja auch in den Bergdörfern bei Taormina gab. Starbuck war überrascht. »Hier gibt's doch auch ein Hotel. Die Leute wollen schwimmen, und die Kinder wollen im Wasser spielen. Aber damit ist's nix. Der Hai ist nämlich nie verschwunden!« »Er wurde getötet. Ich habe es gelesen.« »Das hat Brody erzählt. Denn er besaß ein Grundstück, das er an das Casino verkauft hat. Und jetzt gehört es Ihnen.« Das war es also. Moscotti überlegte. Was für eine Belohnung erwartete eigentlich dieser Idiot für ein Gerücht, dessen Wahrheitsgehalt höchst fragwürdig war? Starbuck fuhr fort: »Ich habe es sonst noch niemandem gesagt. Die Preise stehen im Augenblick noch hoch. Wenn ich das Harry Meadows vom Leader erzähle ...« Er wies mit seinem mageren Daumen nach unten. »Dann geht's rapide bergab mit den Grundstückspreisen.« »Ich glaube nicht an Ihren Hai. Warum sollte die Zeitung Ihnen das abnehmen?« Starbucks Mund bewegte sich nervös. Einen Augenblick lang sah er wie ein Heu kauendes Pferd aus. »Aber ich habe ein Foto«, sagte er schließlich. »Dann lassen Sie's mal sehen«, schlug Moscotti vor. Starbuck geriet ins Schwitzen. »Das kostet aber Geld.« Moscotti grinste. Er langte über den Ladentisch, nahm eine Flasche und schaute auf das Etikett. »Was ist das hier?« Starbuck sah ihn überrascht an. »Die Schilddrüsenpillen für Ellen Brody.« »Nehmen Sie die auch selbst ein?« -2 6 5 -
Starbuck schüttelte verständnislos den Kopf. »Wollen Sie's nicht mal versuchen?« Moscotti sah ihn scharf an. Starbuck hatte endlich begriffen. »Sagen wir mal, eine ganze Flasche auf einmal?« Der Apotheker trat schnell zurück. Moscotti drehte sich um, warf die Flasche durch den Laden und ließ sie auf dem Rücken seines hünenhaften Neffen landen. Im Nu war der junge Mann an seiner Seite und blickte ihn erwartungsvoll an. Moscotti fegte mit der Hand eine Reihe von Medizinflaschen vom Tisch. Sie zerbrachen mit lautem Geklirr. Der Junge gab dem darunterliegenden Regal einen kräftigen Fußtritt. Moscotti lächelte zufrieden. Starbuck japste wie von Schmerz gepeinigt. Moscotti nickte wieder seinem Neffen zu. Jetzt zertrümmerte der Junge die Vitrine mit dem Parfüm. Ein Duft wie von tausend Rosen erfüllte die Apotheke. Moscotti hob die Hand und wandte sich wieder Starbuck zu. »Reicht Ihnen das für das Foto?« Starbuck schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft »Lena? Lena!« Moscotti ging um den Ladentisch, griff nach der alten Schreibmaschine und schleuderte sie in den Glasschrank, der die verschreibungspflichtige Medizin enthielt. Das Glas und die Flaschen zersplitterten in tausend Scherben. Der Neffe lächelte beglückt, packte Starbuck an den Aufschlägen seiner weißen Jacke, hob ihn vom Boden und drückte ihn an die Wand. Dann ballte er seine andere Hand zur Faust und holte zum Schlag aus. »Zeigen Sie uns nun das Foto?« fragte Moscotti, zufrieden lächelnd. Mrs. Starbuck erschien in der Tür. Sie war eine hagere alte Schachtel und sah ziemlich erschreckt aus. »Das Foto«, ermahnte Moscotti den Apotheker. Starbucks Lippen schmerzten. »Nein!« Moscotti warf seinem Neffen einen Blick zu. Wie durch ein Wunder erschien plötzlich eine klobige Achtunddreißiger, die der Junge in einem Halfter unter dem linken Arm verborgen -2 6 6 -
hatte, in seiner Hand. Der Neffe hielt sie Starbuck vor die Rippen. »Der Safe«, ächzte Starbuck. »Wir müssen den Safe öffnen.« Yak-Yak Hyman beugte sich über das Wasser und machte noch einen Schritt auf der Treppe des Hafenpfeilers hinunter. Was auch immer da unten schwamm, trieb jetzt in die Strömung. Er hielt sich mit der einen Hand am Stufengeländer fest, streckte sein gummigestiefeltes Bein ins Wasser hinaus und zog das Ding herein. Es kam ganz an die Oberfläche. Fast wäre es ihm wieder weggeschwommen. Dann hörte er plötzlich einen Schrei und wurde sich im gleichen Augenblick bewußt, daß er selbst geschrien hatte. Denn da unten im Wasser trieb der kopflose Rumpf eines Mannes. Kleine Fleischfetzen hingen da, wo früher einmal der obere Hals und das Kinn gewesen waren. An der Stelle der Brust klaffte eine große weiße Öffnung. Das rechte Bein hing an einem Fleischfetzen, als sei es mit einem Gummiband am Rumpf befestigt, und von diesem Bein hingen Stücke einer gestreiften Pyjamahose. Er schrie immer noch, kletterte auf das Dock zurück und blickte sich wild um. Dick Angelo kam in seinem Motorboot gerade am Amity-Leuchtturm vorbei. Er war noch eine gute halbe Meile entfernt. Yak-Yak schrie ihm zu. Zu weit. Jetzt plapperte er unzusammenhängendes Zeug und rannte zu Starbucks Apotheke an der Ecke der Water und Main Street. Moscotti wartete, und Starbuck fummelte verzweifelt am Kombinationsschloß seines Safes herum. Entweder war der Apotheker zu nervös, um die Tür aufzubekommen, oder hatte vor Schreck die Kombination vergessen. Moscotti stieß ihn zur Seite. Er hatte einmal bei einem Schlosser gearbeitet. Und er hatte auch einmal den Safe eines Supermarkts geknackt, wobei er allerdings erwischt wurde und eine Gefängnisstrafe bekam. Seitdem hatte er keine Safes mehr geknackt und war auch nie mehr im Gefängnis gewesen. Aber er kannte sich aus. Dieser hier war ein alter Sentry mit nur dreifacher Sicherung, und den -2 6 7 -
konnte man in höchstens dreißig Sekunden aufkriegen. Das schaffte er dann auch. Moscotti trat höflich zurück und winkte Starbuck heran. Der Apotheker kroch auf Händen und Knien heran und griff hinein. Er zog einen langen Umschlag heraus. Ihm entnahm er eine Filmrolle. Moscotti nahm sie und hielt sie ans Licht. Es waren nur zwei Bilder am Ende der Rolle zu sehen. Er starrte, griff nach seiner Brille, die er fast nie trug, setzte sie auf und sah sich die Bilder genauer an. Sein Herz begann zu pochen. Er hatte zuvor nicht wirklich verstanden. Als kleiner Junge hatte er zwar schon Haie in den Gewässern vor Messina gesehen. Auch im Fernsehen. Er hatte sie gesehen, als er mit seinem Sohn die Ausstellung >Die Welt des Meeres< besuchte, hatte ihnen zugeschaut, wie sie sich um Fleischstücke balgten, die ihnen die Besucher zuwarfen. Aber diese Haie standen in überhaupt keinem Verhältnis zu dem Ungeheuer auf dem Film. »Jesus Maria ...«, stöhnte er. Über einem auf dem Meeresboden hockenden Tiefseetaucher ragte ein riesiger Schatten, der in einem ungeheuerlichen, mit grauweißen Zähnen bespickten Rachen endete. Dieser Rachen war mindestens so groß wie die Garagentür seines Hauses auf Vista Knoll. Und im schlammigen Hintergrund sah man die Umrisse seiner Schwanzflosse in der Größe seines Neffen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken herunter, fuhr ihm in den Magen, breitete sich in seine Arme und Beine aus und lahmte ihn. Er wankte zu einem Schemel hinter dem Ladentisch. Starbuck lag immer noch auf den Knien. Johnny war jetzt auf dem Meer, und dieser Hai konnte sich nach wie vor dort herumtreiben. »Wann war das?« keuchte Moscotti. Und dann gab er plötzlich Starbuck einen wohlgezielten und äußerst schmerzvollen Tritt in den Unterleib. Der große, hagere Mann preßte die Knie an die Brust und wimmerte wie ein verletzter Hund. »Wann war das? Wann wurde das aufgenommen? Wer hat das aufgenommen?« -2 6 8 -
»Taucher ... letzte Woche«, stöhnte Starbuck. Moscotti fühlte eine Wut in sich aufsteigen, die stärker war als jeder Zorn, den er jemals verspürt hatte. Und zu dieser Wut gesellte sich das Gefühl der Angst. Angst, wie er sie nie zuvor empfunden hatte, denn dieses Mal ging es nicht um ihn selbst, sondern um Johnny. Das Ungeheuer auf diesem Film könnte ein Boot wie das seines Sohnes zu Puder zermalmen, mit einem Schlag seiner Schwanzflosse seinen Sohn in zwei Stücke trennen, ihm den Kopf abschlagen, sein Fleisch zu Matsch und sein Gehirn zu Wasser quetschen. Die Taucher hatte man nie gefunden ... Ein Wasserskiboot war auch verschwunden ... Und gestern war die Sache mit dem kleinen Jungen beim Tauchen passiert ... Er blickte auf Starbuck nieder. Er sah ihn gar nicht mehr am Fußboden herumkriechen - er sah ihn vielmehr in einem verlassenen Steinbruch liegen, den er in der Nähe von Queens kannte, mit einem Draht gefesselt, auf eine ihm ebenfalls wohlbekannte Weise, vom Hals herunter an die Füße, mit nach hinten angezogenen Beinen, nach hinten gezogenem Kopf, so daß er erstickte, wenn er den Druck vermindern wollte, wä hrend sich die Beine im Schmerz verkrampften, und er so Stunde um Stunde liegen und leiden mußte ... Starbuck würde vielleicht sogar die Nacht überleben, während er und sein Neffe Grappa tranken und ihm zuschauten. Und falls Johnny irgend etwas geschehen würde, könnte er tagelang so liegen ... Und die Alte, die es bestimmt ja auch gewußt hatte, konnte dann zuschauen, wie ihr Mann starb, und sich dabei fragen, ob sie als nächste drankäme ... »Der Hai!« schrie jemand durch die Eingangstür. »Der gottverdammte Hai ist wieder da. Da draußen muß einer sein. Ganz bestimmt!« Moscotti drehte sich um. Es war dieser Kerl von dem Fischladen im Hafen. »Wo?«
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»Im Hafen schwimmt eine Leiche«, sagte der Mann aufgeregt. »Am städtischen Dock hab' ich sie gesehen! Ich habe ins Wasser geschaut ... und da schwamm sie direkt am städtischen Dock ... Sie müssen unbedingt anrufen! Brody ... Ich hab' sie doch mit eigenen Augen gesehen ... die Leiche ...« Könnte es Johnny sein? »Wer ist es?« »Weiß ich nicht«, plapperte der Mann fort. »Ist ja kaum noch was davon übrig.« Der Kerl zitterte am ganzen Leib und versuchte, am Telefon die Nummer der Polizei zu wählen. »Sehr schlimm. Kaum noch was übrig. Der Hai ... der Hai ist wieder da!« »Ist es eine Kinderleiche?« Der Mann fummelte immer noch am Telefon. »Der Kopf ist weg. Alles aufgefressen ...« Endlich bekam er Anschluß. »Brody? Len?« Plötzlich wurde Moscotti sehr ruhig. Nein, es konnte unmöglich Johnny sein. Das paßte schon der Zeit nach nicht. Verdammt noch mal, wahrscheinlich war es Jepps. Ausgezeichnet. Bestimmt war es Jepps. Ein Mann ohne Kopf! Wer sollte das sonst sein? Aber was nun? Der Hai war immer noch da draußen - und Johnny auch. Da draußen irgendwo ... Die Angst kehrte wieder zurück - kehrte zehnfach zurück, und mit ihr eine Wut, die ihn zu Eis erstarren ließ. Jetzt würde er die ganze Scheißbande killen, und den Zeugen auch, und dann alle in einer Grube in Queens verschwinden lassen, und Brody sollte mal sehen, wie er ihm da etwas beweisen konnte. Er hatte keine Kanone bei sich, sonst hätte er es selbst besorgt. Er wandte sich an den Apotheker. »Vor einer Woche?« murmelte er. »Vor einer Woche, haben Sie gesagt?« Starbuck antwortete nicht. Moscotti warf seinem Neffen einen Blick zu. Und dann steckte er langsam seinen Daumennagel hinter seine Zähne und ließ ihn nach vorn schnellen. »Nein!« schrie die Frau und sprang ihrem Mann zur Seite. Moscotti packte sie, und sein Griff wurde stahlhart. -2 7 0 -
Die Pistole knallte und knallte und knallte, und bei jedem Schuß hopste oder kroch die hagere Vogelscheuche am Boden weiter unter den Ladentisch, während Moscotti zusah. Innerlich betete er, daß sein Sohn außer Gefahr und der Hai in weiter Ferne sei. »Weg mit der Pistole!« schrie jemand von der Tür her. Moscotti wirbelte herum. Es war der italienische Bulle ... Angelo. Angelo hantierte nervös mit seiner eigenen Pistole und starrte dabei mit weit aufgerissenen Augen auf den zertrümmerten Laden. »Weg mit der Pistole, habe ich gesagt!« Er schrie, aber seine Stimme klang unsicher. Moscottis Neffe reagierte nicht, sondern feuerte weiter auf Starbuck. »Er kann Sie nicht hören!« schrie Moscotti und versuchte, zu dem Jungen zu gelangen. Angelos Pistole klang in dem kleinen Laden wie ein Artilleriegeschütz. Der Neffe sackte in die Knie, drehte den großen Kopf, sah seinen Onkel überrascht und verständnislos an und sank zu Boden. Ein großer, roter Fleck breitete sich über seinem sauberen weißen Hemd aus. Er hielt immer noch seinen Revolver in der Hand, blinzelte in die Richtung seines Angreifers und hob den Arm ... »Nein!« brüllte Moscotti. Er stürzte sich auf seinen Neffen. Hinter ihm ertönte abermals ein dumpfes Krachen. Der Neffe erhob sich noch einmal, drehte sich um die eigene Achse, taumelte langsam der Wand zu, schlug dagegen und glitt zu Boden, wo er nach einem kurzen Zucken reglos in einer riesigen Blutlache liegenblieb. Der Mann am Telefon hatte den Hörer aufgelegt und plapperte wirr und zusammenhanglos vor sich hin. Die alte Frau holte einmal tief Atem und begann dann entsetzlich zu schreien. Der Polizist an der Tür übergab sich. Moscotti griff seinem Neffen an den Kopf, schloß ihm die ins Leere starrenden Augen und weinte.
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Viertes Kapitel Brody lehnte sich über die Reling der Aqua Queen. Sie hatten dieses Mal die Kettenwinde benutzt und Andrews riesigen Sturmanker heruntergelassen, denn den anderen hatte er gestern geopfert, um möglichst rasch zu Andy zu gelangen. Und dieses Mal hatte Brody auch nicht vergessen, auf die Uhr zu schauen, als Andrews sich ins Wasser plumpsen ließ, und er hatte ihn auch gefragt, wie lange er es mit seinem Sauerstoff unter Wasser aushalten könnte. »Mit den Doppelflaschen auf dreißig Fuß etwa eine Stunde.« Fünfzehn Minuten waren bereits verstrichen. Die Wasseroberfläche kräuselte sich mit der aufsteigenden Brise, und eine bedrohlich scheinende Welle kam auf das Schiff zu, glitt unter ihm vorbei, bewegte sich in Richtung von Amity Beach weiter, wo sie sich in der Brandung brach. Brody schaute in das dunkelgrüne Wasser. Andy mochte Andrews zu sagen versucht haben, er habe die Kugel gesehen, aber was er Brody selbst gegenüber hervorgebracht hatte, klang bestimmt eher wie >Hai<. Als er mit Andrews darüber gesprochen hatte, hatte dieser nur die Schultern gezuckt. »Ich glaube, daß er die Kugel gesehen hat. Vielleicht hat er auch einen gewöhnlichen kleinen Hai gesehen. Die, sind hier schließlich keine Seltenheit.« Brody ging in die kleine Kajüte im Vorderschiff, fand eine Dose Bier und öffnete sie. Während er trank, ging er wieder nach oben. Der Blick zur Küste war klar, und Amity war ganz deutlich zu sehen. Dagegen war der Leuchtturm von Cape North nicht zu erkennen, und der Horizont auf der Meerseite war verschwunden. Das Horn von Amity ertönte. Er hörte auch das Plärren der Heulboje vom Hafen von Amity. Er erzitterte. Jetzt hörte er auch das Nebelhorn vom Cape North. -2 7 2 -
Ein verdammt schlechter Tag für eine Regatta. Er war nur froh, daß Chaffey sie alle zurückbrachte. Mike Brody übergab Jackie die Pinne, kroch nach vorn und lehnte sich an den Mast. Er blickte voraus. Er hatte vor Larry noch an Vorsprung gewonnen und war jetzt, was noch besser war, in die Windrichtung gelangt. Jackie bewährte sich sehr gut am Steuer. Er sah sie an. Sie hatte sich mit den Füßen gegen die Lee-Bordkante gestemmt, ihr schwarzes Haar flatterte im Wind, und sie sah ganz so aus, als sei sie das Modell für die Titelseite des Yachting Magazine. Himmel, Herrgott, was hatte er für ein Schwein. Allerdings wagte er sich kaum vorzustellen, was geschehen würde, wenn sie erst einmal ihre Zahnklammern ablegen konnte. Dann würde sie wahrscheinlich einen Filmstar wie Robert Redford heiraten und ihn keines Blickes mehr würdigen. Aber jetzt war sie jedenfalls noch sein Mädchen. Sie ließ sich vom Wind ein wenig zu sehr abtreiben. »Mehr nach rechts«, rief er ihr zu. Amity lag hinter ihnen im Nebel verborgen. Wenn sie erst einmal um die Boje waren, mußten sie bei untergehender Sonne die Heimfahrt antreten. Hubschrauberkommandant Chip Chaffey kreuzte in einer Höhe von etwa fünfzehn Metern über dem Nebel und versuchte, einen Blick auf das Meer zu werfen. Vor zwanzig Minuten hatte er drei Nachzügler entdeckt. Es waren kleine Dingis, die weit hinter der immer noch unsichtbaren Armada herzottelten. Er hatte durch seine Lautsprecheranlage angesagt, die Regatta sei abgebrochen, die Teilnehmer sollten sich schnellstens zurückbegeben. Bei der Durchsage hatte er wie immer fast den Eindruck gehabt, die Stimme Gottes zu sein, wenn er die erstaunten Gesichter himmelwärts blicken sah. Er hatte die Durchsage dreimal wiederholen müssen, bevor sie ihm zu verstehen gaben, daß sie ihn gehört hatten. Dann hatten
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sie resigniert gewinkt. Er blieb jedoch noch eine Weile in ihrer Nähe, um sicher zu sein, daß sie gehorchten. Sie hatten schließlich gehorcht. Wahrscheinlich waren sie jetzt schon auf halbem Wege zurück und würden nicht vom Nebel überrascht werden. Allerdings war es mit dem Kern der Flotte ein anderes Problem. All die Boote mußten irgendwo unter ihm sein, aber sie waren durch die weiße Nebeldecke seinem Blick verborgen. Hie und da erwischte er eine kleine Lücke in der dicken, weißen Schicht, aber dann sah er nur dunkle Flecken von Meer und kein einziges Segel. Er hatte schon seit einiger Zeit sein Radargerät eingestellt, da aber die Boote aus Holz oder Plastik waren, zeigte sich nichts auf dem Schirm. Er fluchte im stillen vor sich hin, denn plötzlich war er selbst in dichten Nebel geraten, und da gab es kein oben, unten, rechts oder links mehr. Er stellte automatisch auf Aufwärtsflug ein, kam aus der weißen, feuchten Masse heraus und befand sich nun viel höher, wo er die rosigen Stratuswolken im Lichte der untergehenden Sonne sah. Wenn er die jungen Leute in ihren Booten jetzt nicht bald fand, könnte sich diese Regatta noch viel verhängnisvoller erweisen, als man zuerst angenommen hatte. Er kannte die Gezeiten nicht genau, hoffte aber, daß es Flutund nicht Ebbezeit war. Tom Andrews bewegte sich in einer Fünffadentiefe am schlammigen Meeresboden entlang und blickte gerade auf seinen Armbandkompaß. Er schwamm in allen vier Richtungen und dann in den Diagonalen eines angenommenen Vierecks, mußte dabei jedoch die Strömung, die ihn seewärts zog, mit berücksichtigen. Nachdem er dreißig Flossenstöße gezählt hatte, wandte er sich nach Norden. In dieser Richtung schwamm er vierzig Stöße und wandte sich dann nach Südwest.
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Unter seinem Gewichtsgürtel hatte er einen Ballon und ein langes, leichtes Seil vorsichtig befestigt. Falls er die Kugel fand, die er ja allein nicht heben konnte, würde er ihren Standort durch eine Boje markieren, indem er den Ballon mit seinem Sauerstoff füllte und ihn an die Oberfläche schwimmen ließ. Dann würde er wieder auftauchen, sein Schiff ganz in der Nähe ankern und mit Brody gemeinsam die Kugel an Bord hieven. So schwamm er halb kriechend am Boden entlang, war fast am Ende seiner Südweststrecke angelangt, hatte alle Mühe, in dem aufwirbelnden Schlamm irgend etwas zu erkennen, als er plötzlich die schwarze Kugel vor sich sah. Sein Herz pochte. Jetzt war alles gut ... endlich. Das Glück hatte sich gewendet. Sogleich war er da und sah sich das Ding von nahe an. Sie war halb zerquetscht, und sie lag mit der abgeflachten Seite auf dem Schlammboden. Die von der Küste Amitys her kommende Ebbeströmung schien sie langsam zu bewegen. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie so plattgeschlagen hatte. Er beugte sich über sie und rieb mit dem Finger an der gelben Plakette mit der Inschrift >Eigentum der U.S.-Marine<. Dann fiel ihm etwas auf, und er beugte sich noch tiefer, um die Stahlstruktur ganz aus der Nähe betrachten zu können. Er sah lange Kratzer und Einschnitte, die wie von einer riesigen Harke herzurühren schienen. Seltsam. Er grübelte darüber nach, während er seine Ballonboje unter seinem Gürtel herauszog. Plötzlich lief es ihm kalt über den Rücken. Das war ein ungewöhnliches Gefühl für ihn. Gewöhnlich kannte er keine Furcht auf dem Meeresboden. Die Schmerzen plötzlich auftretenden Sauerstoffmangels, die gefährliche Euphorie der Stickstoffnarkose, die heimtückischen Angriffe des Muränenaals, die ihn einmal fast den Daumen gekostet hatten - das alles hatte er schon erlebt. Er war einmal vor Catalina in einer Zwanzigfadentiefe unter einem Schiffswrack im Mississippi eingeklemmt gewesen, hatte vor der Küste von Guam in einer Fünfzehnfadentiefe in die leblosen Augen eines abgestürzten japanischen Bomberpiloten -2 7 5 -
geschaut, hatte seinen letzten Segelpartner sich in einer der kalifornischen Küste zu langsam nähernden Jolle winden und untergehen sehen - dabei wohl Trauer oder Wut verspürt, aber keine Angst. Bis gestern, bis zum Unfall seines Schülers, war ihm dieses Leben stets als das einzig lebenswerte erschienen. Und bis heute, bis zu diesem Augenblick, hatte er in den Tiefen des Meeres nie irgendwelche Furcht empfunden. So konnte er sich auch jetzt dieses plötzlich gegenwärtige Gefühl nicht erklären, bemühte sich nur, so gut wie möglich seiner Herr zu werden und im übrigen sein Vorhaben auszuführen. Es war sicher nur ein vorübergehendes Unwohlsein, ein wirrer Gedanke, den er abschütteln konnte. Er knüpfte das Seil an den aus der Kugel ragenden Kabelstumpf und bemerkte dabei, daß das Kabel ganz so aussah, als sei es fein säuberlich mit einer Metallsäge abgetrennt worden. Seltsam ... Er setzte das Mundstück seines Regulators an und blies den Ballon halb voll. Auf dem Weg nach oben - wenn der Druck sich verminderte - würde er zu seinem vollen Volumen anschwellen. Wenn er ihn hier unten anfüllte, würde es ihm ergehen wie Andy, der beim Auftauchen seine Lungen gefüllt hatte - er würde zerbersten. Er ließ den Ballon los und blickte ihm nach, wie er vergnügt durch das grüne Wasser nach oben tänzelte und das Seil hinter sich herzog. Nun sah er sich die Kugel noch einmal an. Er suchte nach irgendwelchen Anzeichen, denen zufolge sie auf einen Felsen geschlagen sei oder sich im Wrack der Orca oder sonst eines versunkenen Schiffes eingeklemmt haben könnte. Aber er fand nichts dergleichen. Die Markierungen sahen eher aus, als rührten sie von Einbissen her - von Zähnen. Von Zähnen? Einen Augenblick lang kam ihm das Gespenst des Hais von Amity in den Sinn.
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Aber das war ja Quatsch! Kein Hai, den er je mit eigenen Augen, in Büchern oder im Film gesehen hatte, wäre fähig gewesen, die Sonarkugel des Marinehubschraubers so zu zerbeißen - geschweige sie vom Kabel loszureißen. Langsam begann er mit der Geschwindigkeit seiner Luftblasen aufzutauchen. Er ließ sich dabei in Richtung der Aqua Queen treiben, und als er an die Oberfläche stieß, war er etwa 100 in vom Schiff entfernt. Durch seine leicht verschmierte Maske sah er Brody, der biertrinkend an der Reling lehnte und zum Cape North hinschaute. Ein guter Mann, wenn er auch wasserscheu war. Wer weiß, ob er nach dieser Geschichte mit Andy Nicholas je wieder seinem Sohn das Tiefseetauchen erlauben würde, aber das war schließlich nur verständlich. Er schwamm auf das Boot zu und verspürte dabei immer noch jenes unbehagliche Gefühl, das ihn da unten so plötzlich bedrückt hatte. Haie hatten ihre bestimmten Gebiete. Falls der von Amity überlebt hatte, könnte er immer noch in der Gegend sein ... Aber das war ja Blödsinn. Wenn Brody ihn als tot gemeldet hatte, mußte er tot sein. »Brody«, rief er. Seine Stimme klang ihm höher als gewöhnlich und etwas zittrig. »Hier herüber!« Brody fuhr wie von der Tarantel gestochen auf und blickte steuerbord nach ihm aus. »Habe sie gefunden«, rief Andrews. »Rollen Sie die Ankerwinde ...« Brody machte plötzlich einen Sprung und streckte den Arm wie gebannt in Andrews Richtung aus. Andrews wirbelte im Wasser herum. Der Schrecken traf ihn wie ein Schlag. Hundert Meter von ihm entfernt, nicht weit von der Stelle, wo der Ballon bunt und lustig über den Wellen tanzte, ragte eine riesige Schwanzflosse aus dem Wasser und schlug langsam hin und her.
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Der Instinkt sagte ihm: schnellstens allen Ballast abwerfen und so rasch wie möglich zum Schiff schwimmen. Aber er hatte Makos und Blauhaie beobachtet, und obgleich dieser mindestens dreimal größer und schwerer war, konnte er es mit ihm nicht aufnehmen. Er hatte gelesen, wie rasend schnell ein Großer Weißer sein konnte. Nie würde er es bis zum Boot schaffen. Auf der Oberfläche war er in größter Gefahr, das Biest würde von unten her angreifen. Hier hatte er keine Chance. Aber unten konnte er in einer Schlammwolke herumwirbeln und sich wenigstens zu verbergen versuchen. Er stieß sich lautlos mit seinen Flossen voran, klappte sich zusammen und schoß dem Meeresboden zu. Er ließ kaum eine Wellenspur hinter sich. Brody machte sich wie wild an der Ankerwinde zu schaffen. Wäre das Boot nur 100 in näher an der Ballonboje gewesen, so hätte Andrews sich sicher an Bord retten können. In den ersten Sekunden war Brody kopflos auf dem Deck herumgerannt und hatte ins Wasser geschaut. Er war in einem Schockzustand. Wie in einem Alptraum sah er sich abermals auf der Orca, als der Hai angriffsbereit zum Stoß ansetzte. War es damals ein Traum gewesen, oder träumte er jetzt? Noch ein Hai? Er hatte versucht, Andrews Funkgerät einzustellen, um Hilfe herbeizurufen, hatte an allen möglichen Knöpfen herumgedreht, aber nur ein hohes und lautes Fadinggeräusch gehört. Es mußte ein anderes System als das des Streifenwagens sein. Aber jetzt war nicht die Zeit für lange Überlegungen. Und was konnte die Küstenwache schon tun? Der Hai war hier, Andrews war hier, und er war hier. Er mußte so nahe wie möglich beim Taucher bleiben. So ließ er das Funkgerät liegen, sprang zum Bug und hievte die mit Muscheln bedeckte Ankerkette mit der Winde hoch, ließ sie dann einfach in einem wirren Haufen auf der Back liegen, denn er hatte keine Zeit, sie wieder ordentlich am Bug aufzuwinden. -2 7 8 -
Die Riesenflosse war noch einmal kurz aufgetaucht, nachdem Andrews in die Tiefe verschwunden war, hatte sich dann aber gleich im aufwallenden Wasser von der Oberfläche verzogen. Der Hai von Amity war tot. Dieser mußte ein anderer Hai sein. Und er war viel größer. Viel größer ... Brody wurde sich bewußt, daß er aufschluchzte. Es war das Gefühl der Ohnmacht, die Anstrengung, die Wut und die Angst. Warum zum Teufel war Andrews getaucht? Das war ja reiner Selbstmord. An der Oberfläche war er doch wenigstens zur Hälfte in seinem eigenen Element. Was ging nur da unten vor? Jetzt hatte er mit letzter Kraft das Boot direkt über den Anker gezogen, und die Kette war ganz straff. Er hielt sie verzweifelt in den Händen, und bei jeder Welle zerrten ihm die Kettenringe die Fingern wund. Wie sollte er das verdammte Ding nur wieder hochkriegen? Andrews hätte es geschafft, aber er konnte es nicht. Der Anker mußte irgendwo da unten im Schlamm steckengeblieben sein, oder er hatte sich in einem Felsen verhakt. Kein normaler Mensch konnte ihn da herausbekommen. Mit aller Kraft der Verzweiflung gab er ihm noch einen letzten Ruck. Er hatte sich eine herannahende Welle zunutze gemacht und zog im Augenblick, als sich der Bug erhob. Ein entsetzlicher Schmerz schoß ihm durch den Rücken. Der Anker gab nach, Brody taumelte zurück, schlug dabei die Windschutzscheibe ein - aber er ließ nicht locker. Und plötzlich gelang es ihm, ihn leicht hochzuziehen. Er zog ihn bis an die Oberfläche. Aus dem Zinken tropfte dicker Schlamm. Er hievte ihn über das Strombord, ließ ihn auf die Kette fallen und hinkte nach achtern, um den Motor anzulassen. Er hatte keine Ahnung, wie das Ding funktionierte. Es gab nirgends einen Zündschlüssel. Nur eine Anzahl halbverrosteter Griffe, Knöpfe und Schalthebel. Er blickte hilflos in Richtung des Hafens. Aber man sah nur noch diesen roten Ballon auf dem
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Wasser, eine schwerer gehende See und die immer näher kommende weiße Nebelwand. Mein Gott! Die Regatta! Die Kinder in ihren Booten waren in Reichweite des Ungetüms, dessen Schwanzflosse er eben gesehen hatte! Nein! Das durfte nicht sein! Wenn der Hai von Amity damals die Orca zum Kentern brachte, was würde dieses Biest dann mit den winzigen Jollen und Dingis anstellen? Dann beruhigte er sich. Er sah auf seine Uhr. Chaffey hatte die Boote bestimmt schon lange gefunden und zurückgeschickt. Die Kinder waren um diese Zeit in Sicherheit an Land, hatten ihre Boote eingestellt, stopften sich mit Würstchen und Hamburgers voll und meckerten über die verpatzte Regatta. So war es. Was auch immer jetzt hier unten am Meeresgrund vorging, und wie entsetzlich es auch sein mochte - die Kinder wenigstens waren in Sicherheit. Die Gefahr war hier und nicht im Amity Sound. Falls Andrews noch am Leben war, hing für ihn jetzt alles davon ab, ob Brody nahe genug an der Ballonboje war, wenn er auftauchte. Das Boot war nun - da er den Anker gelichtet hatte - daran vorbeigetrieben, denn die Strömung drängte stark ins Meer hinaus. Er hätte zuerst den Motor in Gang setzen sollen und dann erst den Anker lichten. Wenn er ihn jetzt noch einmal herunterließ, könnte er ihn nie wieder hochbekommen. Er drückte blindlings auf einen Knopf des Armaturenbretts. Es war die Sirene. Er zog an einem Stöpsel. Es war die Lenzpumpe. Die Finger zitterten ihm, und sein Herz pochte wild. Er hockte sich nieder und sah sich alle Bordinstrumente noch einmal ganz genau an. Und dabei betete er Andrews zu: »Nur noch ein kleines bißchen Geduld. Ich finde es gleich, und dann komme ich!« Tom Andrews bewegte sich lautlos und behutsam am Meeresboden entlang, atmete mit aller möglichen Sparsamkeit, so daß das Geräusch seines Regulators den Fisch nicht anlockte. Schließlich fand er einen aus einem
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kammuschelbedeckten Felsen wachsenden Aalgrasbusch von etwa anderthalb Meter Höhe. Er griff in ihn hinein, ruhte ein wenig, atmete ganz leise und lehnte sich mit dem Körper gegen die Ebbeströmung. Falls es ihm gelang, seine Nerven zu beherrschen, konnte er noch vierzig Minuten unter Wasser bleiben, und falls der Hai ihn nicht hörte, roch, spürte oder ihn sonstwie mit einem seiner Wahrnehmungsorgane ausmachte, würde er hier warten, bis ihm die Luft ausging und dann lautlos an die Oberfläche gleiten. Vielleicht war dann der Hai fort. Einen Augenblick lang hielt er den Atem an und lauschte. Er hörte nichts. Hatte sich das Untier bereits verzogen? Das Ausmaß der Schwanzflosse, die er kurz vorher gesehen hatte, war tatsächlich verblüffend. Er dachte an all die Haigeschichten zurück, die er an den Lagerfeuern von Santa Cruz, Anacara und Todos Santos in Mexiko von den Tiefseeforschern gehört hatte, wenn man abends bei Wein und Abalone beisammensaß. Ein Ichthyologe der Cal Tech-Universität hatte gesagt: »Ein Großer Weißer hat eine Nase, die man sich nicht vorstellen kann.« Ein Meeresbiologe von Scripps: »Bei der ersten Begegnung verlor ich ein Bein und bei der zweiten einen Arm bis zur Schulter, und da soll mir noch jemand erzählen, die Viecher mögen kein Menschenfleisch.« »Wenn so einer Sie wirklich zum Abendessen verspeisen will, dann können Sie nicht einmal am Malibu Beach in der Brandung waten.« »Tragen Sie nie helle Kleidung ...« »Tragen Sie vor allem kein Weiß ...« »Haijäger ziehen Haie an ...« »Man muß ihnen entgegenschwimmen.« »Man muß von ihnen wegschwimmen.« »Man muß ihnen auf das Maul hauen.« »Man darf sie auf keinen Fall reizen.« -2 8 1 -
»Man soll nie bei Dämmerung tauchen ...« »Man sollte überhaupt nicht tauchen ...« »Wenn Sie ein Schiffsunglück haben, halten Sie sich um Gottes willen die Hubschrauber fern!« »Die Haie glauben dann, es seien springende Thunfische.« »Ach was. Haie denken nicht.« Er wartete und atmete ruhig. Er hatte noch für lange Zeit Luft. Brody hatte jeden Kippschalter betätigt, jeden Hebel gezogen, auf jeden Knopf gedrückt. Nichts war geschehen. Jetzt blickte er unter das Armaturenbrett. Da unten lag halb versteckt ein roter Knopf. Er drückte darauf. Der Anlasser heulte auf, brummte, sprang nicht an. Die Batterie war schwach. Er ließ den Knopf los. Herrgott, wenn, er den Motor nicht bald ankriegte, würde Andrews auftauchen, und die Aqua Queen wäre außer Sicht und auf halbem Weg nach England. »So spring schon an, du elendes Miststück von Motor ...« Er versuchte es wieder. Der Anlasser stockte und spuckte. Plötzlich dröhnte der Motor auf, starb aber gleich fast wieder ab. Er zog den Chokehebel durch. Endlich erwachte er voll zum Leben. Brody steuerte in weitem Bogen an die Stelle zurück, wo der bärtige Riese getaucht war. Tom Andrews hörte ein Geräusch und zuckte zusammen. Er hörte das weit entfernte, wohlbekannte Aufheulen des Anlassers dort oben, dann nichts, und dann plötzlich das Dröhnen des mächtigen Chryslermotors. Brody hatte den Motor in Gang gesetzt. Bereitete er sich vor, ihn an Bord zu holen, wenn er wieder auftauchte? Oder wollte er abhauen? War er in Panik geraten? Nein. Ausgeschlossen. Dafür war er ein zu verantwortungsvoller Mann.
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Aber er hatte Angst vor dem Meer. Er hatte Angst, seinen Sohn tauchen zu lassen ... Und dann erinnerte Andrews sich plötzlich an die Regatta. Beide Söhne Brodys waren dabei. Aber die Regatta hatte man ja zurückgepfiffen, verdammt noch mal! Seine Söhne waren in Sicherheit. Der Hai war hier und nicht dort! Wenn aber Brody die Nerven verlor und durchgedreht hatte? Wenn er glaubte, hier sei nichts mehr zu retten? Er horchte unter Anspannung all seiner Sinne, versuchte festzustellen, ob die Drehungen der Schiffsschraube sich beschleunigten oder schwächer wurden. Eher schwächer, nahm er an. Aber unter Wasser war das schwer zu sagen. Wo war das Boot? Er konnte es nicht riskieren, Brody abfahren zu lassen. Er ließ den Aalgrasbusch los und ließ sich lautlos wie eine Luftblase der Oberfläche zu gleiten. Als er etwa fünf Meter vom Sonnenlicht entfernt war, wußte er, daß er falsch geraten hatte. Brody war nicht abgefahren. Das Boot war sehr nahe und kam noch näher. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es nicht besser sei, noch einmal in die Tiefe zu tauchen und dem Hai noch eine halbe Stunde zu geben. Aber die Aqua Queen war so nahe. Es wäre Unsinn, es jetzt nicht zu versuchen. Er blickte auf. Die Welt wurde bereits heller um ihn. Es war ein guter Entschluß: nur noch etwa drei Meter, nicht mehr. Regungslos ließ er sich höher gleiten. Und dann sah er es. Es blockierte ihm den Auftrieb, glitt wie er lautlos, und der Schwanz bewegte sich irgendwo da unten im Schlamm lässig hin und her. Ein Schildfisch hing ihm am Unterkiefer. Die schwarzen, starren Augen des Hais schienen seine Gegenwart gar nicht wahrzunehmen. Einen kurzen Augenblick lang schöpfte er Hoffnung. Dann sah er, daß das Untier sich -2 8 3 -
langsam, aber bestimmt hin und her bewegte - wie wenn es zum Angriff ausholte. Ein erfahrener mexikanischer Taucher von der alten Schule hatte ihm einmal gesagt: »Hombre, wenn der sich windet, weil er dich sieht, bist du muerto! Dann ist es aus! Basta!« Das Schwingen der Flossen beschleunigte sich. Es war wie das Stampfen eines Elefanten, das In-den-Sand-Kratzen des Hufes eines Stiers, das Sichwiegen eines Rhinos vor dem Angriff. Das Biest holte zum Schlag aus - er fühlte es bis in die Knochen. Es gab kein Entkommen. Ausgeschlossen ... Er drehte sich mit einer raschen Bewegung um, zog sein Messer aus dem Halfter an der linken Wade. »Nun komm schon, du Miststück«, schrie er innerlich. Aber das Biest hielt immer noch Distanz, bewegte sich scheinbar gleichgültig von links nach rechts, hatte jedoch ein Auge starr auf ihn gerichtet. »Man muß ihnen entgegenschwimmen ...« Wer hatte ihm das gesagt? Ein Ichthyologe, ein Taucher, einer seiner Kameraden? Oder hatte er es irgendwo gelesen? Er wußte es nicht mehr, und es war ihm auch egal. Andrews griff an mit vorgestrecktem Messer. Er hielt es fest wie eine Lanze. Der Hai traf ihn, Kopf voran, drehte halb ab, wich ein wenig zurück. Das Messer blitzte und stieß kurz in die schwarze Fläche des starr blickenden Auges. Und dann wurde Andrews von riesigen Kiefern zermalmt, schoß in die Höhe - höher, höher, höher ins Sonnenlicht. Er sah noch das Boot, drei Meter vor sich, sah Brody mit vor Schrecken verzerrtem Gesicht und seine Pistole ziehend. Dann stürzte Andrews in die Tiefe - in ewige Nacht, und das Maul schloß sich abermals um ihn. Aber das wußte er nicht mehr.
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Fünftes Kapitel Brody stand zitternd an die Wand der Steuerkabine der Aqua Queen gelehnt, während das Schiff sinnlos durch die immer stärker werdende Brandung tuckerte, und bei jedem Wellenschlag taumelte er entweder gegen das Armaturenbrett oder die hintere Kajütenwand. Er stellte fest, daß er immer noch seine Pistole in der Hand hielt. Er hatte völlig nutzlos ein ganzes Magazin auf die tauchende Schwanzflosse abgefeuert. Er hatte sie sogar getroffen, aber sie hatte nicht einmal vibriert. Eine lange Weile steuerte er um die erbärmliche rote Ballonboje herum, suchte in den Wogen nach irgendeiner Spur, nach irgendeinem Anzeichen, das ihm Hoffnung geben könnte und das ihm beweisen würde, die ganze Sache sei nur ein Alptraum gewesen. Er hatte nichts gefunden, aber die rötliche Färbung des Wassers sagte ihm deutlich, daß er nicht geträumt hatte. Er versuchte noch einmal das Funkgerät. Er hörte immer noch das gleiche Knistern, aber dann vernahm er plötzlich wie aus weiter Ferne die Küstenwache von Shinnecock Bay, die offenbar mit einem ihrer Streifenboote in Verbindung war. »Der Marinehubschrauber schaut nach ihnen aus ... hat sich eben gemeldet ... ist jetzt gerade über der Nebelbank ... beim Cape North ... bisher hat er nur drei Segelboote heimgeschickt ... die andern sind im Nebel ... schwer zu finden ...« Brody lief es kalt über den Rücken. Chaffey hatte sie also noch nicht gefunden? Er kämpfte mit seiner Angst. Cape North war noch ziemlich weit entfernt. Seine erste Pflicht war es, das Erscheinen des Hais und den Tod Andrews zu melden, die Küstenwache an Ort und Stelle zu rufen und eine Suchaktion nach Andrews Leiche einzuleiten, bevor der Nebel es unmöglich machte. Er drückte auf den Knopf des Mikrofons und rief. Keine Antwort, nur immer wieder Bruchstücke von Sätzen und diese kalte, unpersönliche Stimme: »Der Pilot meldet ... Nebeldecke nur etwa zehn Meter ... versucht, die Boje zu finden ... Regattaboje ... Punkt, an dem sie alle vorbei müssen ...« -2 8 5 -
Brody hängte das Mikrofon auf und fluchte. Es war reiner Blödsinn, hier zu bleiben. Andrews war weg - für immer -, er hatte ja das Blut aus dem Maul des Fisches spritzen sehen, und auch die Spuren im Wasser. Sein Platz war jetzt am Cape North - falls er es überhaupt noch finden konnte -, seine Pflicht war es, die Lebenden zu retten und nicht die Toten. Er ergriff das Steuer, lenkte nach Nordwest und zog den Gashebel voll durch. Der Motor heulte auf, als das Schiff wie ein herrenloser Jagdhund von Welle zu Welle sprang. Mike Brody hatte vor zehn Minuten die Regattaboje vom Cape North aus den Augen verloren. Jetzt versuchte er, sich nach der im Dunst stehenden Sonne zu orientieren. Jackie stand an den Mast gelehnt, von wo man die beste Sicht hatte, zitterte vor Kälte und wahrscheinlich auch bereits ein wenig vor Angst. »Glaubst du, wir haben die Boje verfehlt?« »Wir segeln einfach zum Cape North«, sagte Mike und bemühte sich, sehr selbstsicher zu erscheinen. »Dort werden wir die Nacht am Ufer verbringen.« »Dann wirst du mich aber heiraten müssen.« Sie blickte wieder suchend aufs Meer hinaus. Mike betrachtete die zarten Rundungen ihrer Hüften und ihrer Taille. Es wäre tatsächlich keine schlechte Idee, die Nacht am Cape North zu verbringen. Wie alt mußte man eigentlich für so etwas sein? Irgendwo über den Wolken ratterte ein Hubschrauber vorbei. Irgendwie klang ihm das Motorengeräusch wie tröstliche Musik. Sie hatten sich vielleicht verirrt, aber sie waren wenigstens nicht allein auf der Welt. Die Große Weiße stieß in nördlicher Richtung vor. Jetzt hatte sie ein Ziel. In einigen Stunden würde sie niederkommen. Ihr Heißhunger meldete sich in immer längeren Abständen. Von dem Taucher hatte sie nichts gefressen, ihn nur am Meeresboden entlanggeschleift und dann seine zerfetzte Leiche mit der Ebbeströmung seewärts treiben lassen. Sie durchschwamm einen Schwärm von Dorschen. Sie spürten instinktiv, daß sie jetzt keinen Hunger hatte, und wichen von -2 8 6 -
ihrem Kurs nach Osten nicht ab. Die Jungen in ihrem Uterus bewegten sich lebhafter mit jeder Minute. Dieses ständige Rumoren in ihrem Leib war es, das zeitweilig ihren Heißhunger tötete. Sie jagte zwar jetzt noch, aber nicht nach Freßbeute, sondern nach einem friedlichen Ort, wo sie niederkommen konnte. Waren die Kleinen einmal geboren, so hatten sie nichts zu fürchten außer ihren Artgenossen. Sogar sie war sich in ihrem kleinen Computergehirn vage bewußt, daß andere Haie ihrer Art die Kleinen töten könnten. Daher mußte sie sie vor jeder Drohung und vor jeder Gefahr schützen, bis sie groß genug waren, sich selbst zu verteidigen. Auf dem Gebiet des Streifens vor der Küste, das sie sich in der letzten Woche zu eigen gemacht hatte, war sie nur gefährlich gewesen, wenn der Hunger sie plagte. Aber jetzt war sie ständig gefährlich. Sie schwamm eilig in einer Tiefe von fünf Faden und fühlte die Ebbeströmung ihr entgegenkommen. Sie hatte bereits den leichten Unterschied im Salzgehalt des Wassers wahrgenommen. Und das war nun ein neues Element, nach dem sie sich orientieren konnte, denn der Bestimmungsort, dem sie zustrebte, war der Amity Sound. Als sie sich etwas wandte, nahmen ihr Gehör, ihre Vibrationsampullen und die Querlinien ihres Körpers ein ständiges Crescendo an Informationen auf. Das seltsam stampfende Geräusch, dem sie schon vorher einmal gefolgt war, war irgendwo vor ihr. Vorher war sie ihm nachgeschwommen, weil der Hunger sie quälte. Jetzt aber empfand sie es als eine Bedrohung, als eine Gefahr für ihre Brut. Es befand sich nämlich gerade über der Stelle, die sie sich für ihre Niederkunft gewählt hatte. Mike Brody luvte die Brise an, um sein Tempo zu verlangsamen. Er versuchte jetzt, sich nach dem Klang des Nebelhorns von Cape North zu richten, aber es schien in einer -2 8 7 -
Art von Echo aus allen Richtungen auf ihn zuzukommen, wie auch das Rattern des Hubschraubers irgendwo da oben. Das Segel flatterte ziemlich laut, aber er glaubte einen Augenblick, einen Schrei gehört zu haben. Er spannte das Großsegel fest, damit das Nylon ihn nicht wieder erschreckte. Das Horn von Cape North tutete wieder. Als das Echo erstorben war, schrie er ins Wasser hinaus: »Ahoi! Ahoi! ...« »Brody?« hörte er leise zurückrufen. »Bist du das?« Es war Larry Vaughan, der irgendwo da vorne in der weißen Suppe sein mußte. Er steuerte zur Luvseite, lockerte das Segel und glitt unter einen Vorhang von Nebel. »Hast du die Boje gefunden?« rief er. »Ich hänge dran!« rief Larry. Es klang verängstigt, wo auch immer er sein mochte. Und plötzlich war er in Sicht, etwa dreißig Meter vor ihm. Sein Segel war eingezogen und lag in einem Haufen auf dem Deck. Er kniete am Bug, hatte sich mit dem Kopf nach unten gebeugt, und der orangefarbene Wimpel peitschte ihm mit dem stärker werdenden Wind ins Gesicht. Die Boje lag flach und wurde von der in die See hinaustreibenden Strömung geschleift. Das gesamte Wasser des Amity Sound schien durch die Sundöffnung bei Cape North in das Meer zu brausen. Mike wendete in den Wind und legte sich neben Larry. »Nein!« schrie Vaughan. »Du wirst mich noch losreißen.« »Halt das Maul und greif zu!« befahl Mike. Er ließ sein Segel herunter, rollte das Großsegel zusammen und warf Larry das Seil zu. Larry band einen Knoten um die Boje, fummelte dabei nervös aus Kälte oder Angst, legte es einmal um den eigenen Mast und warf den Rest Mike zurück. Danach sank der Sohn des Bürgermeisters erschöpft zurück. »Mann! Ist das vielleicht eine Strömung!«
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Mike Brody konnte nicht antworten. Er fürchtete, seine Stimme würde ihn vor Jackie verraten. Sie hatten es zwar bis hierher geschafft, und sie waren soweit in Sicherheit, aber was war mit Sean? Warum hatte er nur seinen kleinen Bruder gezwungen, mit Moscotti zu segeln? Diese beiden waren ja nicht einmal fähig, ein Spielzeugboot in einer Badewanne vor dem Kentern zu bewahren. Er kroch auf das Heck und saß traurig und entmutigt da. Seine Hand fiel auf die Pinne. Sie war zwar nicht besonders gut angestrichen - es sah sogar jämmerlich aus -, aber der Kleine hatte schließlich eine Woche daran gearbeitet. Und wofür? Damit er in ein anderes Boot gestoßen wurde. Er war den Tränen nahe. Jackie mußte seinen Gedanken gefolgt sein. »Es tut mir leid, daß ich mitgekommen bin, aber er wird es schon schaffen.« »Es ist doch nicht deine Schuld ...«, stammelte er. Er holte tief Atem, nahm alle Kraft zusammen und schrie in den Nebel hinaus. Larry und Jackie machten mit, und nach jedem Tuten des Nebelhorns von Cape North schrien sie vereint, um die noch herumirrenden Boote heranzurufen. Sean Brody saß kläglich über die Pinne von Johnny Moscottis Laser gebeugt. Er fror und hatte Angst. Johnny hatte schon vor einiger Zeit seine Rolle als Kapitän abgelegt, hockte verloren im Hohlraum des Bootsrumpfes, zitterte, fühlte sich seekrank und war den Tränen nahe. Ape Catsoulis, der schon über sechzehn war, segelte ihnen voran und kam von Zeit zu Zeit in Sicht, und nun hatte Sean sein ganzes Vertrauen in Apes Dingi gesetzt. Ape war zwar bei weitem nicht so seetüchtig wie sein Bruder, er war nicht einmal so gut wie Larry Vaughan, aber er war wenigstens jemand, dem man folgen konnte. Wenn Apes Dingi sich vorne im Nebel auflöste, schnürte sich Seans Kehle vor Schrecken zusammen. Wenn er wieder auftauchte, war es, als ob die Sonne erschien.
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Sean stand halb aufgerichtet und blickte angestrengt nach vorn. Ape war wieder einmal verschwunden und irgendwo da vorne verloren. Falls sie ihn nicht fanden, würden sie wie die leeren Blechdosen und die Eierkartons des Hafens ins offene Meer hinaustreiben, und er würde nie wieder Mike oder seine Mutter oder seinen Vater sehen. »Ape!« rief er mit piepsender Stimme. Moscotti warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Alleine hätt' ich's sicher geschafft.« Blöder Tropf. Dämliche Stadtgöre. Dem gegenüber würde er jetzt doch nicht zusammensacken und etwa noch weinen. »Hält's Maul! Heh, Ape!« Nichts. Nur das Klatschen des Wassers gegen den dünnen Bootsrand und irgendwo weit vorne das Rattern eines Hubschraubers über den Wolken. War der vielleicht auf der Suche nach ihnen? »Ape!« rief er nochmals. Konnte Ape nicht ein bißchen langsamer, nur ein kleines bißchen langsamer segeln, damit die anderen auch ihre Chance hätten? Ape antwortete nicht, segelte auch nicht langsamer, aber der Nebel lüftete sich ein wenig, und Sean sah den verschwommenen Schatten seines Segels gespenstisch aus dem Wasser ragen. An diesen Schatten heftete er sich mit grimmiger Entschlossenheit. Ellen Brody konnte die gespannte Atmosphäre in der Hütte des Bootsklubs nicht länger ertragen. Sie ließ Willy Norton am Telefon und schritt durch das lange Gras am Hafen, um ihren Kopf ein wenig freizubekommen. Sie ging zum Ufer des Amity Sound hinunter. Sie starrte auf das neblige Wasser hinaus. Um Mike war sie eigentlich nicht besorgt, dafür um so mehr um Sean. Es war jetzt volle Ebbe. Wie sollten Sean und Johnny Moscotti sich nur da draußen im Nebel ohne Orientierungsmöglichkeit zurechtfinden und nicht in die Strömung geraten! -2 9 0 -
Und wo zum Teufel steckte Brody? Die letzte halbe Stunde war die wahre Hölle gewesen. Len Hendricks, der in Brodys Abwesenheit hier als Polizeichef fungierte, war gerade im Augenblick seiner größten Bewährungschance wie ein stammelnder Idiot zum Bootsklub gerannt und hatte unzusammenhängendes Zeug geschwatzt. Nate Starbuck war tot. Lena hatte einen hysterischen Anfall. Der junge taubstumme Sizilianer lag neben Nates Leiche ebenfalls tot -, und die zerfetzten Überreste des Wachtmeisters aus Flushing befanden sich in Carl Santons >Gerichtslaboratorium< im Beerdigungsinstitut von Amity. Dick Angelo hatte sich gerade noch lange genug zusammenraffen können, um Moscotti zu verhaften und die Mordkommission von Suffolk County anzurufen; dann war er in finstere Niedergeschlagenheit versunken und wollte mit niemandem mehr sprechen. Und die ganze Zeit hatte ihr Len Hendricks wie eine Klette auf der Pelle gesessen und ununterbrochen auf sie eingeschwatzt : Wo steckte Brody? Warum war er überhaupt tauchen gegangen? Wann würde er wieder zurück sein? »Verdammt noch mal, Len«, war sie schließlich aufgeflammt. »Nehmen Sie jetzt sofort das Polizeiboot, und schauen Sie nach den Kindern da draußen!« »Mit Angelo? Der kann sich ja noch nicht mal an seinen eigenen Namen erinnern.« »Dann fahren Sie halt allein!« »Und wer kümmert sich um das hier?« Er wies mit dem Daumen zur Stadt. »Sie sind ja nicht bei Trost!« Das Komiteeboot war ausgefahren, hatte nichts erreicht und war mit einem kaputten Vergaser zurückgekommen. Chip Chaffey war vermutlich noch irgendwo da draußen und suchte. Die Küstenwache hatte versprochen zu kommen, sowie ihr Patrouillenboot von Block Island zurückgekehrt sei, denn dort habe es einen Schiffszusammenstoß gegeben, dessen
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Ursache man aufzuklären bemüht war. Deshalb konnten sie frühestens bei Einbruch der Dunkelheit hier sein. Aber wo zum Teufel steckte Brody? Jetzt war sie schon vor ihrem Haus angelangt. Sie blickte an den Holzwänden der beiden Etagen hoch. Und plötzlich erschien es ihr hier im Nebel schäbig, verwittert, öde und leer. Sie hörte ein leises Bellen und blickte zu Boden. Sammy sah sie mit seinen feuchten, vorwurfsvollen Augen an. Sie kraulte ihm den Kopf. »Schon gut. Du kannst bleiben«, sagte sie leise. »Wenigstens, bis er zurück ist.« Er schüttelte sich, bespritzte sie mit dem grauen Ebbesand, warf den Kopf verachtungsvoll zurück und hüpfte ins Wasser. Sie sah ihn wegschwimmen. Dann ging sie zum Bootsklub zurück.
Sechstes Kapitel Martin Brody haßte das Meer. Er hatte es sein ganzes Leben lang gehaßt und sich oft nach dem Grund gefragt. Vielleicht hatte ein Kindheitserlebnis ihm diese Angst und diesen Ekel beigebracht. Als er jetzt durch die grauen Gewässer in Richtung des düster klagenden Nebelhorns von Cape North fuhr, brauchte er sich diese Frage nicht mehr zu stellen. Jeder vernünftige Mensch hätte dieses Meer gehaßt. Es war eine kalte, graue Hölle, die von Dämonen aller Art bevölkert war, und in der der große Teufel ein schwarzes, blind dreinblickendes Auge hatte. Die Dämmerung war eingebrochen. Er fragte sich, ob er in diesem Nebel noch das anderthalb Millionen Watt starke Licht des Leuchtturms von Cape North erkennen würde, bevor er mit Andrews Boot auf irgendeinen verborgenen Felsen auflief.
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Er schaltete den Motor zurück und ließ ihn im Leergang laufen, und dann lauschte er auf den Wellengang über der Untiefe, wo die Ebbeströmung vom Cape North aus in die See hinausging. Er glaubte, die Brandung vor sich zu hören, aber er war sich nicht sicher. Und dann knatterte ständig dieser Hubschrauber da oben herum. Er versuchte noch einmal über den Funk zu rufen. »Marinehubschrauber, Marinehubschrauber, hier spricht Brody von der Aqua Queen. Können Sie mich hören?« Dieses Mal bekam er endlich eine Antwort. Sie kam von der Küstenwache. »Küstenwache ruft Hubschrauber auf Kanal sechzehn ... Wiederholen Sie die Durchsage.« Er versuchte es noch einmal, und dann noch einmal, und als er immer noch keine Antwort bekam, hängte er das Mikrofon auf. Er orientierte sich nach dem Nebelhorn von Cape North, das Steuerbord liegen mußte, und er begann, sich sehr vorsichtig in westlicher Richtung gegen den Strom zu wenden. Er hoffte nur, daß das Benzin ausreichen würde. Aber der Tank war innen eingebaut, und er sah nirgends einen Meßstab, und eine andere Methode, die Benzinmenge festzustellen, fiel ihm nicht ein. Die Segelboote waren, eins nach dem anderen, aus dem Nebel auf sie zugekommen. Mike Brody zählte die aneinandergetäuten Boote, die alle an der kleinen Boje zerrten, sich verzweifelt an ihr festhielten, um nicht mit der Strömung in die See hinausgetrieben zu werden. Es waren neun. Viel zu viel für den schwachen kleinen Pilzanker, an dem man die Regattaboje befestigt hatte. Man hatte ihn heute früh von Tony Catsoulis Komitee-Motorboot an dieser Stelle ausgeworfen. Das Ding mußte ja bei dieser Belastung ins Schleppen kommen. Vielleicht schleppte es schon jetzt, denn es war unmöglich, sich hier ohne jeden Anhaltspunkt zu orientieren. Und das konnte sehr gefährlich werden, denn wenn sie einmal aus dem Amity Sound hinausgetrieben waren und von der Ebbeströmung in die offene See gerissen wurden, wären sie bei diesem Nebel verloren. -2 9 3 -
Niemand in der ganzen verdammten Flotte hatte einen Anker an Bord, denn alle hatten ihre Boote so leicht wie möglich gemacht, um schneller vorwärtszukommen. Vierzehn Boote waren in der Regatta gestartet. Fünf fehlten also noch, und zu ihnen gehörte Sean. Wenn Sean und Johnny Moscotti nicht beim ersten Anzeichen des Nebels umgekehrt waren, dann befanden sie sich jetzt in großen Schwierigkeiten. Das Nebelhorn tutete, alle schrien zum x-tenmal, und der unsichtbare Hubschrauber knatterte wieder über ihnen. Er sollte lieber etwas weiter zurückfliegen und nach Sean Ausschau halten. Jetzt tauchte ein weiteres Dingi aus dem Nebel auf. Es war Ape Catsoulis. Mike hatte sofort die stämmige, halb aufrecht stehende Figur im Boot erkannt. Apes Gesicht drückte noch die angstvolle Spannung seiner Irrfahrt im Nebel aus. »Hast du Sean gesehen?« rief Mike. Er blickte über das Wasser und sah, wie Ape den Kopf schüttelte. »Nicht seit einer halben Stunde. Junge, Junge, bin ich aber froh, daß ich's endlich geschafft habe ...« Plötzlich richtete sich Ape auf und starrte in die Nebelwolke zurück, aus der er gekommen war. Einen Augenblick lang stand er reglos da. Und dann stieß er plötzlich einen Schreckensschrei aus. Mike war sofort auf den Beinen. Er hatte den Eindruck, eine riesige Flosse, eine schwere, graue Masse, ein aufgerissenes weißes Maul zu sehen, und im gleichen Moment drehte sich Apes Dingi im Kreise herum und schaukelte entsetzlich. Ape stolperte, fiel ins Wasser und schwamm. Und dann war er verschwunden, als wenn er von der Seeoberfläche in ein großes schwarzes Loch gefallen wäre. Dann bedeckte der Nebel die Stelle. Einen Augenblick lang war alles still. Nun ertönte wieder das Nebelhorn von Cape North. Als das Tuten vorüber war, hörte er hinter sich Schreie der Angst. -2 9 4 -
Und plötzlich lag ihm Jackie in den Armen. »Mike, Mike, Mike!« Er kämpfte mit der Panik, die ihn zu überwältigen drohte. Vor zwei Jahren war der Mann auf dem Schlauchboot im Amity Sound auch ganz in seiner Nähe gestorben. Er hatte geschrien, und dann war alles um ihn herum plötzlich schwarz geworden. Auch jetzt fühlte er sich einer solchen Ohnmacht nahe. Aber er durfte sich auf keinen Fall gehenlassen. Und irgendwie gelang es ihm, das Mädchen in seinen Armen und sich selbst zu beruhigen. Es wurde rasch dunkel. Als Brody es noch einmal mit dem Funkgerät versuchen wollte, konnte er kaum das Mikrofon unter dem Brett finden. Er erhielt immer noch keine Antwort, obgleich er in Abständen die Küstenwache mit dem Hubschrauberpiloten sprechen hörte. In den Tagen vor der Energiekrise hatten die Behörden stolz verkündet, daß der Leuchtturm von Cape North an einem Tag mehr Strom verbrauchte als die ganze Stadt von Amity in einer Woche. Jetzt drang das Scheinwerferlicht durch den Nebel bis zu ihm und erhellte den ganzen nördlichen Himmel. Mit jeder Drehung der riesigen Glasfenster schien es den Nebel stärker zu durchbrechen. Er schätzte, daß das Boot sich mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Knoten vorwärtsbewegte, doch es war bereits zu dunkel, um die Geschwindigkeit am Armaturenbrett abzulesen. Wahrscheinlich gab es dafür ein besonderes Licht, aber er hatte den Schalter noch nicht entdeckt. Jedenfalls schien der Nebel aufzusteigen. Er stellte den Gashebel nach vorn. Alle vier Sekunden streifte ihn das Scheinwerferlicht des Leuchtturms. Das Knattern des Hubschraubers über den Wolken wurde lauter. Er konnte ihn jedoch nicht sehen. Er flog über ihm vorüber und entfernte sich. Das Funkgerät, in dem es entsetzlich knisterte, erwachte plötzlich zu neuem Leben. Die Stimme des Mannes von der -2 9 5 -
Küstenwache klang aufgeregt: »Shinnecock Küstenwache ruft Marinehubschrauber 45312 ...« Brody wurde aufmerksam und stellte auf volles Volumen ein. »... eine Leiche ... im Wasser in der Nähe des Hafendocks von Amity entdeckt ... vermutlich von einem Hai angegriffen ...« Gott sei Dank! Sie wußten es also schon. Aber welche Leiche? Andrews? Nein. Das war zu weit von Amity Beach entfernt, und dazu war es noch zu früh ... »... müssen wir Sie auf die Gefahren von Hubschrauberrettungsaktionen in von Haien infizierten Gewässern hinweisen ... es hat sich erwiesen, daß die Propellervibrationen in solchen Fällen auf Haie anziehend wirken und sie geradezu an den Ort des Schiffsunglücks locken ... müssen wir Sie daher bitten, die Suchaktion aufzugeben und zu Ihrem Standort zurückzukehren ...« Brody lief es kalt über den Rücken. Es war ein wahrer Alptraum. »Die Haie an den Ort des Schiffsunglücks locken?« Was zum Teufel hatte das wieder zu bedeuten? Nun hau bloß ab, verziehe dich, bat er innerlich den Hubschrauber. Verziehe dich ... Einen langen Augenblick lang war er vor Angst in Schweiß gebadet. Überall, wo dieser Chaffey auftauchte, zog er eine Katastrophe nach sich. Heiliger Himmel, und wenn er ihm auch dieses Unglück hier eingebrockt hatte? Plötzlich hörte er, wie die Flügel des Hubschraubers sich immer schneller drehten. Das Ding stieg jetzt auf - Gott sei Dank -, also hatte Chaffey die Anweisung gehört und sich gefügt. Wenige Sekunden später hörte man nur noch das Motorengeräusch als ein fernes Summen, und dann war es endlich fort. Er stieß den Gashebel noch etwas vor. Die Aqua Queen stieg mit dem Bug empor, brach durch die Wellen, hatte endlich eine annehmbare Geschwindigkeit erreicht und fuhr dem sich lichtenden Nebel entgegen.
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Der Hubschrauber hatte es allem Anschein nach aufgegeben und sie hier dem Tode überlassen. Mike Brody starrte grimmig in die Nacht, drückte Jackies Hand und wartete. Auch er hatte bemerkt, daß der Nebel sich lichtete. Die ersten beiden Angriffe hatten den weiter draußen liegenden Booten gegolten. Mike hatte im Dunst verschwommen die riesige Schwanzflosse gesehen, die sich von rechts nach links bewegte und dann wieder verschwand, und er hatte alle Bootsinsassen im Umkreis mit lautem Rufen gewarnt. Jetzt kamen sie alle auf ihn zu und versuchten, in die Boote an der Boje zu klettern. Bob Burnside stolperte in Mikes Boot und schleuderte dabei Jackie zu Boden. Burnsides kleines Boot war nämlich das erste gewesen, das der Hai angegriffen hatte. Es schoß in einer Schaumwolke himmelwärts, stürzte mit dem Kiel nach oben ins Wasser zurück, wobei die Fangleine gerissen war, und dann trieb es rasch in die See hinaus. »Ach du lieber Gott«, stieß Burnside hervor. Mike sah sein Gesicht im plötzlich auftauchenden Scheinwerferlicht des Leuchtturms. Er hatte die Augen in wahnsinniger Angst weit aufgerissen, und über seinen dünnen blonden Schnurrbart den einzigen der Schulklasse - rann der Schweiß. Über der Aufregung hätten sie fast das Rufen vergessen. »Hallo!« brüllte Mike in die Nacht hinein. »Hallo, Sean!« Die anderen gaben keinen Laut von sich, außer einigen, die man inmitten des Wirrwarrs von Booten vor Angst stöhnen oder weinen hörte, und natürlich vernahm man auch Larry, der ständig fluchte. »Brody, die Boje treibt ab.« Mike ließ Jackies Hand los und kroch in Larrys Boot hinüber. Er schlängelte sich bis an die Back voran, wo Larry sich vornübergebeugt hielt und nach dem Seil griff. Unter ihrem Gewicht tauchte das Bugspriet ins Wasser, und sie wären beinah über Bord gegangen. Mike schmeckte das Salzwasser, die Kälte drang ihm bis in die Knochen, obgleich er sich für die Regatta seinen Taucheranzug -2 9 7 -
angezogen hatte. Er fühlte das Tau und spürte deutlich an den Erschütterungen, daß der kleine Pilzanker da unten wahrscheinlich in Wolken von Schlamm am Meeresboden entlangschleppte. »Wann ist wieder Stillwasser?« fragte er und blickte zu dem in einen Dunsthof gehüllten Vollmond hinauf. »In einer halben Stunde? Was meinst du?« »Da kommt es schon wieder«, schrie Jerry Norton. Der Sohn des Friedensrichters hockte regungslos vor Angst in seinem Dingi. »So beweg dich doch!« brüllte Mike ihm zu. »Komm herüber!« Aber Jerry hockte einfach da, und dann erschien der große Rachen, und der Riesenleib schoß im Mondlicht empor. Die unglaublichen Kiefern schlössen sich um das Heck des Dingis und quetschten Jerry in das zersplitternde Holz wie eine riesige Weinpresse. Mike sah das große, trübe schwarze Auge, aus dem auch Blut floß, und das völlig teilnahmslos in die Ferne blickte. Jerry und sein Dingi waren darunter verschwunden. Marcie Evans, in Bugeye Richards >Flying Dutchman<, begann zu schreien. Larry Vaughan jr. war aufgesprungen, klammerte sich an seinen Mast und starrte Mike im Mondlicht an. Sein Gesicht war verzerrt, und aus seinen weit geöffneten Augen sprühte Haß. »Dein Vater hat uns erzählt, er habe ihn getötet!« Mike glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Das ist doch nicht derselbe!« »Verdammter Lügner!« Mike sprang wütend zum Angriff auf. »Vaughan, jetzt gehst du über Bord.« »Versuch's doch mal, Spitz!« Larry hob einen Fuß und hielt sich am Mast fest. »Versuch's doch mal.« »Wir sind losgerissen!« schrie Tommy Carroll und zeigte auf das Licht von Cape North. »Wir treiben in die See ab!« »Du kommst später dran«, versprach Mike Larry. Er wollte gerade in sein eigenes Boot zurückspringen, um es von den anderen zu lösen, als er den schwarzen Schatten von der See -2 9 8 -
her wieder auftauchen sah. Er ergriff Jackie, zog sie in Larrys Boot, stellte sich schützend vor sie und wartete. Der Rachen schoß wieder empor, und er war so nahe, daß Mike ihm ein Ruder in das schwarze Auge hätte stoßen können. Der Hai stürzte sich auf Mikes Boot, zog es von den ändern fort und riß es in die Tiefe. Die Pinne war abgebrochen und schwamm im Mondlicht davon. Sie glänzte weiß auf den dunklen Wellen. Sean hatte sie noch gestern frisch gestrichen. Als sich die Schreie endlich gelegt hatten, hörte Mike bereits die Brandung auf den Klippen von Cape North. Die Strömung trieb sie mit aller Kraft hinaus, und nach dem Klang der Brandung zu urteilen, waren sie kaum noch eine Viertelmeile von der Mündung entfernt. Wenn sie so weiter hinausgesogen wurden, war es bald zu Ende mit ihnen - mit oder ohne Hai. Der Mond stand hoch im Osten, und Brody sah, wie die letzten Nebelwolkenfetzen vor ihm vorüberzogen. Er drosselte das Tempo und drehte küstenwärts in Richtung des Leuchtturms von Cape North ab. Soweit er sich erinnern konnte, mußte hier die Boje sein, die man für die Regatta jedes Jahr am gleichen Ort verankerte. Er konnte nicht begreifen, warum sie immer noch außer Sicht war. Er schaltete den Motor auf toten Gang und ließ sich eine Weile treiben. Die Ebbeströmung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Er trieb jetzt die Küste entlang und so rasch dem Cape North zu, als wenn er mit voller Motorkraft führe. Vielleicht war die Boje in die See abgetrieben, und die Jungen in ihren Booten hatten sie nicht gefunden und versucht, an der Felsküste Zuflucht zu finden. Er stellte den Vorwärtsgang ein, fuhr nah an die Küste heran und suchte die kleinen Sandbuchten hinter den Felsvorsprüngen ab. Er sah nichts, außer dem Schild unter dem Leuchtturm von Cape North: ACHTUNG KABEL ANKERN VERBOTEN. Er entfernte sich wieder von der Küste und wandte sich erneut der Strömung am Cape North zu. -2 9 9 -
Er war äußerst nervös. Wenn eine Welle über Bord spritzte und ihm die Wange näßte, schreckte er zurück, als wenn ihn etwas geschlagen hätte. Das große Licht über ihm, das seinen Strahl dreißig Meilen in die Runde schweifen ließ, überflutete ihn und blendete alles ringsum und verschwand dann wieder, um sich auf die Küste zu richten. In der guten alten Zeit hatte es noch einen Leuchtturmwärter gegeben, der ihm hätte sagen können, ob die Regattaboote hier unten vorbeigekommen seien. Aber jetzt war ja alles vollautomatisch. Er war den Felsen ein wenig zu nahe gekommen, er drehte ab, kämpfte sich durch die Strömung und fühlte sich hundsmiserabel bei dem reißenden Wellengang. Jetzt kam der Lichtstrahl wieder, fing ihn ein, entfernte sich und fiel auf der Steuerbordseite auf etwas, das er als eine weiße Masse zu erkennen glaubte. Er trat auf das Strombord hinaus und blickte über das Wasser. Eine Welle spritzte ihm ins Gesicht. Er schmeckte das Salz. Aber irgend etwas war doch da. Ganz bestimmt. Ein Floß vielleicht? Nein. Es waren Boote - viele Boote, die auf dem Ebbewasser schaukelten und der Seemündung am Cape North entgegentrieben. Er drückte den Gashebel, spürte, wie die Aqua Queen sich aufbäumte und durch die aufspritzenden Wellen ihnen entgegenschoß. Als er nur noch etwa hundert Meter entfernt war, hörte er die Schreie. Er hatte sie also gefunden, und alles schien noch gut abgelaufen zu sein. Erst als er sich bis auf fünfundzwanzig Meter genähert hatte, sah er, daß alle auf den drei dem offenen Meer entgegentreibenden Booten hockten. Das Licht von Cape North beleuchtete einen Augenblick lang wieder die Szene, und Brody sah entsetzt, wie das Ungeheuer gerade ein hellgrünes Dingi in die Tiefe riß. Brody schreckte zurück, als der schimmernde weiße Bauch im Scheinwerferlicht aufblitzte, und dann war der Hai wieder fort.
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Jetzt mußte er unbedingt zu den Kindern gelangen, aber dazu mußte er zuerst die Aqua Queen um all die leeren Boote herummanövrieren. Mike Brody schaltete schnell. Er hatte die Aqua Queen sofort erkannt, war erstaunt, seinen Vater und nicht Andrews am Steuer zu sehen, wußte jedoch, daß jetzt nicht die Zeit dazu war, sich irgendwelche Fragen zu stellen. Jedenfalls kannte er sich besser auf der See aus als sein Vater, und Brody schien das eingesehen zu haben. Brody warf ihm ein Schleppseil zu. Als das Tauende auf Mike zukam, neigte er sich weit hinaus und wäre fast ins Wasser gefallen. Das Seil glitt ihm schon aus der Hand, aber er griff noch einmal nach und hatte es schließlich gepackt. Er knotete es schnell an seinen Mast. Auf den Felsen vor ihnen tobte die Brandung immer lauter. »Den Anker!« brüllte er über das Wasser. Sein Vater schien ihn nicht verstanden zu haben. »Wirf deinen Anker, verdammt noch mal!« brüllte er wieder. Dieses Mal hatte Brody es begriffen. Er sprang zum Bug und ließ Andrews großen Sturmanker hinunter. Mike hörte das Rattern der Ankerkette, wie sie durch das Rohr des Klüslochs glitt. Er sah, wie Brody sich bemühte, sie auf dem vorderen Poller zu stoppen, es endlich schaffte, wieder nach achtern zurückkehrte und resigniert die Hand hob. Der Anker schleppte zuerst und hielt dann. Das wirre Durcheinander erstreckte sich fast hundert Meter weit: die straff angespannte Ankerkette, die Aqua Queen, dreißig Meter Schlepptau, die aneinandergeseilten Boote und hinter dem Ganzen die Felsen vom Cape North. Die Jungen begannen, am Schlepptau zu ziehen. Allmählich gelang es ihnen, sich bis in die Nähe des Hecks der Aqua Queen vorwärtszukämpfen, wo sie nun erschöpft in den Wellen schaukelten und dazu noch die Auspuffgase einatmen mußten. Als sie endlich nahe genug heran waren, kletterten sie rasch an Bord des Schiffes. Mike schwang sich als letzter über das -3 0 1 -
Heck. Sein Vater schrie ihm laut zu: »Binde die verdammten Boote los!« Damit würde der gesamte Bootsbestand des Segelklubs von Amity in die See abtreiben. Mike spürte keinerlei Bedauern darüber. Brody arbeitete sich durch die Menge der verstört herumstehenden Kinder. Das Scheinwerferlicht streifte vorbei und ließ die Falten seines Gesichts schwärzer und seine Haut weißer erscheinen. »Sean?« fragte er besorgt. »Mike, wo ist Sean?« Mike hätte am liebsten losgeheult. »Es hat Ape und Jerry erwischt. Aber nicht Sean.« »Wo ist er?« Mike nickte in die Richtung des Sound. »Da draußen irgendwo.« Brody bewegte sich rascher, als Mike ihn je gesehen hatte. Im Nu war er an der Back, packte die Ankerkette mit seinen blutigen Händen und zerrte sie gegen die Strömung. Mike folgte ihn nach vorn und half ihm. Larry Vaughan war am Steuer, zog den Gashebel und trieb das Schiff voran, um den Druck der Kette zu vermindern. Ein winziges weißes Segel tauchte im Mondlicht auf. Mike griff seinem Vater an den Arm und zeigte es ihm. »Sean?« brüllte Brody. »Sean!« Seans schwache Stimme tönte zurück. »Ich versuche es ja.« Als das Scheinwerferlicht wiederkam, erkannten sie Moscottis Laser etwa hundert Meter entfernt. Zwei kleine Gestalten hockten im Heck. Wäre die Ankerkette ein Seil gewesen, so hätten sie es durchschneiden und den beiden entgegenfahren können. Aber mit der Kette war es etwas anderes. Mike hatte sofort erkannt, daß sein Bruder keinerlei Möglichkeit hatte, über die Ebbeströmung hinweg zur Aqua Queen zu gelangen. -3 0 2 -
Brody, der immer noch an der Kette zerrte, wurde nun auch klar, daß der mit der Strömung treibende Laser bald außer Reichweite geraten würde. »Ein Seil, Dad!« schrie ihm Mike ins Ohr. »Ein Abschleppseil?« Brody, der befürchtete, den kleinen gewonnenen Vorsprung wieder zu verlieren, zerrte weiter an der Kette. »Ich weiß nicht, wo ... er muß es irgendwo verstaut haben ... Unter all den Klamotten ... Aber es hat sowieso keinen Zweck ... Die sind viel zu weit weg ...« Mike schüttelte den Kopf. Brody sah, wie er in die Steuerkabine kroch und dort Schwimmwesten, Kissen und Luftflaschen zur Seite schob. Brodys Hände glitten auf der schleimigen Kette aus. Es gelang ihm, in die Ringe zu greifen, und er zog mit aller Kraft. Was zum Teufel hatte da unten den Anker blockiert? Blockiert war er jedenfalls. Endlich gelang es ihm, die Kette am Poller zu befestigen. Er wirbelte herum und stürzte gerade in die Steuerkabine, als Mike mit weit ausladender Geste ein gelbes Nylonseil im hohen Bogen in die Mondnacht hinausschleuderte. Es schoß durch die Luft und fiel über den Bug des Lasers. Johnny Moscotti saß verdöst am Mast und ließ es wieder ins Wasser hinabgleiten. Alle schrien ihm zu, aber da war es schon zu spät. Mike sprang auf die Reling zu. Instinktiv packte Brody ihn am Bein, aber seine Hand glitt am glatten Gummi des Taucheranzugs aus, und sein Sohn war ihm entwischt. Mike war mit einem fast lautlosen Kopfsprung über Bord gegangen. Brody hörte, wie Jackie entsetzt und protestierend aufschrie. Sofort schnallte er sich seinen Revolvergürtel ab, war selbst auf der Reling und ließ sich mit einem Bauchsprung ins Wasser plumpsen. Er schwamm seinem Sohn nach und bewegte sich in einem schlechten Schwimmstil vorwärts, den zu verbessern er sich bisher nie recht Mühe gegeben hatte, da ihm das Schwimmen ohnehin zuwider war.
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Er stieß sich mit den Füßen die Schuhe ab und war überrascht, nichts zu fühlen. Er verspürte weder die Kälte des Wassers noch das Beißen des Salzes auf seinen blutigen Gelenken. Er schwamm einfach nur, und bei jedem Stoß wurden ihm die Kleider schwerer. Zehn Meter vor dem Laser stieß er blindlings mit seinem Sohn zusammen. Mike schwamm unschlüssig umher und suchte das gelbe Nylonseil, das hier irgendwo an der Oberfläche treiben mußte. »Du schwimmst mir sofort zum Schiff zurück!« keuchte Brody. »Auf der Stelle!« »Nein!« Ihre Blicke trafen sich. Es hatte keinen Zweck, er wird nicht nachgeben, stellte Brody fest. Plötzlich fühlte er etwas. Es war rauh und hart und schlingerte in der Strömung um ihn herum. Es war das Schleppseil. Er blickte vor sich hin. Nie würde er es rechtzeitig bis zum Laser schaffen. Er gab es Mike. »Na schön, versuch es.« Sein Sohn stürzte sich in eine Schaumwolke davon. Brody wandte sich um und kämpfte sich mit einiger Mühe wieder zur Aqua Queen zurück. Er hörte Jackie schreien und dann die anderen auch. Der angsterfüllte Ton ihrer Stimme konnte nur eins bedeuten: Die Kinder hatten den Hai wieder auftauchen sehen. So würde der Hai also Mike schließlich doch noch erwischengenauso wie damals jener andere, der einen Badenden unter Mikes Augen getötet hatte. Das Schicksal hatte den Augenblick einfach nur um vier Jahre verschoben, doch das Ende würde das gleiche sein. Aber einer von ihnen konnte den anderen vor dem Ungeheuer vielleicht noch retten. Er begann wild im Wasser um sich zu schlagen und betete, daß das Untier ihm seine Aufmerksamkeit zuwendete. Die Schreie von der Aqua Queen erschallten noch lauter. Das gab ihm das Gefühl, sein Ziel erreicht zu haben. Er hatte das
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Ungeheuer von seinen Söhnen fortgelockt. Jetzt schwamm er dem Schiff zu. Aber jetzt überfiel ihn plötzlich Angst, die seine Bewegungen zu lahmen drohte. Er fühlte es, und sein Instinkt sagte ihm, daß ihm sein Manöver nur zu gut gelungen war, daß jeden Augenblick der weiße Tod aus dem Nichts auf ihn zustoßen würde, und daß er sehr, sehr nahe sei. Er drehte und wendete sich verzweifelt, rollte sich wie ein Ball zusammen, und plötzlich verspürte er einen harten Schlag auf seiner Hüfte, fühlte sich herumwirbeln und aus dem Wasser in die Luft geschleudert werden, sah sich ganz in der Nähe der Aqua Queen wieder ins Wasser stürzen, verspürte die harte und rauhe Berührung mit dem Riesenmaul, erblickte ein glanzloses schwarzes Auge und hörte Larrys Stimme, die ihm direkt ins Ohr schallte. Dann blickte er auf. Ein halbes Dutzend schlanker Arme streckten sich vom Heck des Schiffes nach ihm aus. Er fühlte sich von ihnen emporgehoben, als das Ungeheuer wieder auftauchte. Noch einmal verspürte er die rauhe Berührung mit der Haut des Hais an den nackten Fußsohlen, und dann fiel er kopfüber an Bord. Er kämpfte sich wieder auf die Beine und blickte zurück. Mike hatte es geschafft. Er war auf dem Laser, hielt das Schleppseil und zog unter Anstrengung all seiner Kräfte das Boot der Aqua Queen entgegen. Aber schon sah er, wie die große schwarze Schwanzflosse sich auf das kleine Boot zubewegte. Brody griff nach dem Revolvergürtel, den er auf dem Deck gelassen hatte, zog seine Achtunddreißiger, lehnte sich über das Querholz des Hecks und ließ drei schnelle Schüsse in das Wasser vor dem Heck gehen, wobei er beinahe die Taucherleiter getroffen hätte. Die dreieckige schwarze Flosse, die von hier aus so hoch wie der Mast des Lasers in die Höhe ragte, peitschte wütend auf. Sie schien jedoch noch unentschlossen zu sein und zögerte. »Oh, mein Gott«, stöhnte Brody. »Schicke ihn doch bitte hierher!«
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Der weiße Leib schimmerte im Mondlicht, und der Hai kehrte um. »Achtung, aufgepaßt!« schrie er und lehnte sich nach vorn. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Und dann schlug es auf, irgendwo achtern, und es schlug mit einer so gewaltigen Wucht, daß etwa die Hälfte der Kinder auf der Back landete, während einige Planken barsten, was sicherlich ein schweres Leck verursachte und möglicherweise die Schiffsschraube verbogen hatte. Ein Mädchen in der Kabine weinte laut. Und irgend jemand rief: »Wir sinken!« Er wandte sich wieder der Ankerkette zu, zerrte und zerrte, mühte sich mit allerletzter Kraft und merkte kaum, daß er entsetzlich keuchte und daß seine blutenden Füße schmerzten. Im Licht des vorübergleitenden Scheinwerfers hoben sich die kleinen Blutlachen rot vom Holzdeck ab. Larry und drei andere Jungen kamen ihm zu Hilfe. Der Anker mußte sich unten in einem Felsen verhakt oder irgendwo verfangen haben. Es war ihnen, als versuchten sie den halben Meeresboden anzuheben. Aber der verdammte Anker rührte sich nicht. »Hau ruck!« stöhnte er. »Verdammt noch mal. Hau ruck!« Fast unmerklich gab er nach. Das war immerhin schon etwas, und jetzt bewegte er sich noch ein bißchen und dann noch ein bißchen. Der Hai schlug wieder zu. Dieses Mal hatten sie ihn nicht kommen sehen, sondern nur gespürt. Er mußte irgendwo aus der Tiefe aufgetaucht sein, hatte das Heck emporgeworfen, alle Bootsinsassen in die Back geschleudert und Brody beinahe über Bord gestoßen. Es war unglaublich ... Das war nicht mehr wie ein einzelnes Lebewesen ... eher wie eine Naturgewalt ... Brody erschien seine ganze Mühe plötzlich unnütz und vergeblich. Der Hai würde sie einfach hier an Ort und Stelle versinken lassen, so wie der andere es mit der Orca getan hatte, und er würde danach Mike und Sean und alle anderen -3 0 6 -
töten. Nichts konnte ihm etwas anhaben, und nichts konnte ihn umbringen. Dann kam ihm wie ein Alptraum der Gedanke, daß die Katastrophe - der Hai vor der Küste von Amity - immer noch anhielt, daß sich nichts geändert hätte, daß sie damals den Hai gar nicht wirklich getötet hatten. Als er damals das Ungeheuer in der Tiefe verschwinden sah, hatte er sich nur eingebildet, daß es tot sei - in Wirklichkeit war es unsterblich, unverletzlich und würde noch hier sein, wenn seine ganze Welt zugrunde gegangen war. »Da kommt es«, sagte Jackie hinter ihm. Ihre Stimme war ohne Hoffnung, aber kühl und sachlich. »Da kommt es schon wieder.« Dieses Mal stieß der Hai bei Steuerbord zu, und Brody hörte, wie Mike vom Heck aus rief: »Wasser schöpfen! Wasser schöpfen! Nehmt die Hände, Hüte, alles, was euch in die Finger kommt!« So hatte Mike also seinen Bruder und den kleinen Moscotti gerade noch rechtzeitig zurückgebracht, um mit all den anderen zu versinken. So war also auch das vergeblich gewesen. Während sie weiter zerrten, erschien endlich der Anker und glitzerte phosphoreszierend im Mondlicht, und er war in irgend etwas da unten verhakt. Das Licht von Cape North schweifte kurz vorbei. Brody blockierte die Kette im Poller, beugte sich über Bord, um zu sehen, was da am Anker hing. Es sah wie eine riesige Seeschlange aus, die sich in den Zinken des Ankers verhakt hatte. Es war schwarz, glänzend und so dick wie sein Oberschenkel. Wie es ihm und ein paar halbwüchsigen Jungen gelungen war, dieses Ding vom Meeresgrund heraufzuziehen, war ihm schleierhaft. Aber jetzt hatte er keine Zeit zu solchen Überlegungen. Der Hai hatte das Schiff wieder umschwommen, stieß jetzt auf den Bug zu und erhob sich aus den Tiefen des Meeres wie ein leuchtender Komet, schoß in einem Wirbel von phosphoreszierenden Meteoriten auf sie zu, wuchs und wuchs, riß den riesigen Rachen auf und zeigte die mörderisch -3 0 7 -
bleckenden Zähne. Brody erblickte das flache schwarze Auge und schreckte zurück. Jetzt wußte er, daß das Ungeheuer gesiegt hatte. Der erste Hai war gerächt. Er dachte nur noch an Ellen und wünschte sich, sie wüßte wenigstens, daß er bis zum Schluß mit verzweifelter Mühe gekämpft hatte. Er sah, wie der riesige weiße Leib wie ein Bogen in die Luft schoß, hatte die alptraumhafte Vision einer kleineren Nachbildung, die sich von der Brust des Monsters löste, schrie auf, als sich der Rachen über dem Bug öffnete und sich dann über der Kette, dem Anker und jener seltsamen Seeschlange schloß. Die Kiefer klappten krachend zu. Einen Augenblick herrschte Stille. Und dann erstrahlte der Bug plötzlich in einem blauen, unwirklich wirkenden Licht. Er nahm den Geruch von Ozon und durchgebrannter Isolierung wahr, aber daneben erfüllte noch ein anderer Geruch - es war etwas Scharfes und Beißendes, das er nicht ausmachen konnte - die Luft. Dann wußte er es. Die Zähne hatten sich in das Hochspannungskabel des Leuchtturms verbissen. Das Licht am Cape North verlöschte. Der riesige Fisch, der so groß wie die ganze Aqua Queen war, schien vor seinen Augen immer mehr anzuwachsen. Er schnappte plötzlich klappend auseinander, tanzte auf seinem Schwanz über das Wasser, strahlte ein bleiches, blaues Licht aus und schien so gewichtslos und graziös wie das Bild eines Traumes. Und dann sah er im Mondlicht, wie der Hai mit dem Bauch nach oben in die Tiefe sank. Er kroch in das Bootsinnere zurück, watete nach achtern und setzte sich in das zwanzig Zentimeter hoch stehende Wasser neben den weinenden kleinen Sean. Er drückte ihm die Schultern, und dann sah er Mikes himmelblaue Augen. Er griff den Jungen bei der Hand und hielt sich zurück, ihn nicht auch zu umarmen. -3 0 8 -
»Okay, Mike«, sagte er. »Du übernimmst das Steuer. Wir fahren nach Hause.«
Siebentes Kapitel Martin Brody saß hinter seinem Schreibtisch. Das Polizeibüro war voller Beamter der Mordkommission von Flushing und Suffolk County, und er war fest entschlossen, ihnen Moscotti zu überlassen. Er hatte in New London angerufen. Andy Nicholas war gut durch die Operation gekommen, und man hatte die Luftblase aus seinem Gehirn entfernt. Und nun wartete Brody, bis Swede Johansson ihren Bericht über Jepps fertiggeschrieben hatte, und dann begleitete er sie an ihren Wagen. »Ein sehr folgerichtiger Befund«, bemerkte er, als er die Tür öffnete. »Ich hoffe nur, daß Ihre Behauptung, die Entstellungen am Kopf stammten nicht vom Hai, keine bloße Vermutung ist.« »Ich vermute überhaupt nichts. Der Kopf weist einen Einschuß eines zwölfkalibrigen Gewehrs auf. Der Hai hat ihn erst danach gekriegt.« »Wie können Sie nur so verdammt sicher sein?« fragte Brody. Er war völlig erschöpft, alle Glieder schmerzten ihn, und er brauchte schleunigst einen Drink. »Weil ich Polizeileutnant bin«, sagte sie. »Und schlau außerdem, nicht wahr? Wie sollte sonst ein schwarzes Mädchen Polizeileutnant werden. Da muß man doch schon ein Köpfchen haben, nicht wahr?« Er blickte in ihre lebhaften braunen Augen. »Ja. Wie zum Beispiel, wenn man ballistische Berichte an die Politiker aushändigt? Wenn man sie dem Anwalt der Verteidigung übergibt, bevor der untersuchende Beamte sie zu sehen bekommt?« Sie senkte den Blick. »Glauben Sie wirklich, daß ich das getan habe?« »Ich weiß es, Swede.« -3 0 9 -
Sie stieg in den Wagen. »Sie sind ein toller Kerl, Brody. Wie ich höre, sind Sie auch ein Held.« »Das war mein Sohn.« »Sie waren immerhin auch nicht schlecht. Und jetzt sind Sie hier Polizeichef auf Lebenszeit, falls Sie es wünschen. Das kann ich Ihnen sagen. Und ich tue es hiermit.« Er schloß die Wagentür und öffnete sie dann wieder. »Was wollen Sie damit sagen?« Sie grinste. »Wir haben da unten einen Mann, der auf Ihren Posten scharf ist. Einen Mann namens Pappas. Wachtmeister Pappas. Das nächstemal, wenn Sie einen vertraulichen Bericht brauchen, bringen Sie die Beweisstücke zu mir. Direkt zu mir. Und halten Sie sich nicht am Empfangsschalter auf. Verstanden?« »Ich will verdammt sein«, stieß er hervor. Er ergriff ihre Hand. »Nichts für ungut.« Er blickte ihr nach, als sie die Main Street hinunterfuhr und in die County Road Nr. 5 einbog. Er fühlte sich plötzlich um fünf Jahre jünger. Sein müdes Blut belebte sich wieder. Verdammt noch mal, hatte er nicht zu Hause eine Frau, die mindestens ebenso sexy war? Er stieg in den Polizeiwagen Nummer eins. Im Haus war alles dunkel. Er fühlte sich ein wenig enttäuscht. Aber dann sah er Ellen auf der Veranda. Sie starrte auf das Wasser im Mondlicht hinaus. Er schenkte ihr und sich einen Drink ein und setzte sich zu ihr. »Andy wird bald wieder gesund sein«, berichtete er. »Hast du es Chip Chaffey gesagt?« Er zuckte zusammen. »Nein. Warum?« »Dann werde ich ihn morgen anrufen.« »Das werde ich besorgen«, sagte Brody gereizt. »Das hab' ich mir gedacht«, sagte sie kichernd. Sie rückte näher an ihn heran und nahm seine Hand. »Es ist nichts zwischen uns, Brody. Es ist einfach nur ...« -3 1 0 -
»Es ist einfach nur, weil dir in letzter Zeit niemand mehr schöne Augen gemacht hat. Stimmt's?« »Wie hast du das wissen können?« »Ich habe dich beobachtet.« »Das hab' ich bemerkt.« Er blickte sie an, bemühte sich, seinem Gesicht einen schmachtenden Ausdruck zu geben, Verlangen und Begierde hineinzulegen, und als sie davon genug hatte, preßte er wie ein Stummfilmheld aus einem Kitschdrama die Lippen zusammen und warf ihr durch die Luft einen Kuß zu. »So. Jetzt mache ich dir schöne Augen. Wie gefällt dir das?« »Brody, du bist ein Clown«, sagte sie. »Aber weißt du was? Es wirkt.« Sie gingen nach oben ins Schlafzimmer.
EPILOG Der kleine Seehund war stundenlang im Amity Sound herumgeirrt. Er suchte seine Mutter. Seit Tagen hatte er sie nicht mehr im Küstenwasser gehört oder ihre Nähe gespürt, doch als er ins tiefere Wasser geschwommen war, hatte sich bei ihm eine Erinnerung ausgelöst, die ihm Hoffnung gab. Aber jetzt hatte er sie wieder verloren. Er schoß durch die Brandung, überraschte einen Schwärm Dorsche, schnappte sich einen und verfehlte einen weiteren, bevor er wieder auftauchen mußte. Die Heulboje von Amity blökte. Einige Seehunde ließen sich auf ihr schaukeln, aber sie waren ausgewachsen, und er war zu klein, um sich neben sie aufzuhieven. So schwamm er gemächlich das Küstenwasser entlang und ließ sich vom Mondlicht bestrahlen. Er sehnte sich nach Gesellschaft. Plötzlich wurde er nervös. Er verspürte Ungewisse Warnsignale, ähnlich denen, die seine Mutter in Furcht versetzt
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hatten, und je weiter er schwamm, desto unbehaglicher wurde ihm. Er tauchte. Hier unten waren die Vibrationen noch stärker. Er schoß rasch wieder empor. Er schwamm erneut der Küste zu. Er wußte zwar nicht warum, aber er schwamm sehr schnell. Er beschleunigte den Schlag seiner Flossen und steuerte mit seinem Schwanz. Bald fand er das Schwimmen an der Oberfläche zu langsam und tauchte wieder. Er drehte den Kopf und schaute sich nach hinten um. Ein weißer Blitz, das vollkommene kleine Ebenbild des weißen Todes, vor dem seine Mutter geflohen war, ließ ihn in panischem Schrecken den Felsen zueilen. Er fühlte die Gefahr, die ihn einzuholen drohte, tauchte tiefer, schoß einen Haken und erblickte einen Rachen voller blitzender, scharfer weißer Zähne und ein paar ausdruckslose schwarze Augen von der Größe einer Kammuschel. Der Hai hätte ihn fast verfehlt, schlug ihm mit seinem schuppigen Schwanz an den weichen Bauch, riß ihm ein paar Pelzhaare aus und biß ihm ins Fleisch seiner rechten Flosse. Der kleine Seehund nahm all seine Kraft zusammen, fand in der Angst und der Gefahr frische Lebensenergie, schoß dem Felsen zu, sprang mit einem Satz aus dem Wasser und ließ sich auf den muschelübersäten Steinboden fallen. Eine ganze Weile lag er so keuchend auf dem Felsvorsprung. Da hörte er ein leises Bellen und kletterte etwas höher. Der Seehund war ein Weibchen, viel größer als seine Mutter und ziemlich alt. Sie war zwar nicht seine Mutter, aber er fühlte sich in ihrer Gegenwart geborgen. Nach einer Weile schlief er ein.
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