GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0119 ____ John Rankine • Die Weisman-Idee
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GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0119 ____ John Rankine • Die Weisman-Idee
Dieses Buch wird unter der Bedingung verkauft, daß es ohne Zustimmung des Verlages weder in Leihbibliotheken eingestellt noch gewerbsmäßig weiterverkauft, vermietet oder auf ähnliche Weise genutzt wird. Die vom Verlag gewählte Ausstattung darf weder durch einen festen Einband noch durch einen besonderen Umschlag noch in sonstiger Weise verändert werden.
JOHN RANKINE
Die Weisman-Idee THE WEISMAN EXPERIMENT
Utopisch-technischer Roman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Ungekürzte Ausgabe • Made in Germany © 1969 by Dobson Books Ltd. © 1970 der deutschen Übertragung by Wilhelm Goldmann Verlag, München. Aus dem Englischen von Tony Westermayr. Wissenschaftliche Beratung: Dr. Herbert W. Franke. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, Vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Scan by Brrazo 02/2012Umschlagentwurf von Eyke Volkmer. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: Presse-Druck- und VerlagsGmbH. Augsburg. Verlagsnummer WTB 0119 • Sch/pe
1 Gebieterische Pfeifsignale der TV-Wand veranlaßten Kanes, gereizt die Pausentaste seines Redigierpults zu drücken. Unterbrechung Nummer drei in ebenso vielen Minuten; das bedeutete, ein weiteres Mal den komplizierten Absatz abzuspielen, den er zu prüfen hatte. Aufgewärmter Unsinn, von einem Archivroboter blechern vorgetragen. Schon jetzt, in diesem Augenblick, erregte das Gewäsch Übelkeit in ihm, und es noch einmal anzuhören, war schierer Masochismus. Das Gesicht, das seine Aufmerksamkeit beanspruchte, bot keinen ästhetischen Ausgleich. Howard Reid hatte das starre, fleischige Gesicht eines Topmanagers, der seinen Posten schon lange bekleidete. Die Farbwiedergabe hob die blaßblaue Färbung seiner hervorquellenden Augäpfel und die vom Purpurrot des Wohllebens übergossenen dicken Hängebacken hervor. Es fiel schwer, hier überhaupt einen menschlichen Ausdruck festzustellen, aber ein Hinweis auf sein Wesen ergab sich aus der scharfen, kratzenden Stimme. »Sie brauchen lange, Operator. Was tun Sie in dem Büro?« Da der nackte, auf Funktion ausgerichtete Würfel, den Kanes sein Zuhause nannte, sich dem Blick in totaler Schlichtheit darbot, konnte das nur eine rhetorische Frage sein; er verzichtete deshalb auf eine Antwort und zeigte lediglich Aufmerksamkeit. Ein Streber. Bereit, hin und her zu springen. »Wie lange arbeiten Sie schon mit dem Datenspeicher?« Das war eine leichte Frage. Obwohl es ihm wie eine ganze Lebensspanne vorkam, wußte Kanes die Antwort. Auch ohne die Merkzeichen an der Zellenwand zu zählen, hatte er sie auf der Zunge. »Vier Jahre, einhundertdreiundsechzig Tage« – er blickte auf seine Zeitscheibe – »und zwei Stunden fünfzig, Kontrolleur.« 6
Reids Gesicht kletterte auf der Farbskala eine Stufe höher. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?« Prosper Kanes beugte sich vor und zeigte eine nachdenkliche Miene. Offensichtlich war es besser, nicht nein zu sagen. Aber hier war jede Antwort falsch. Sein direkter Kontakt mit der Hierarchie ging bis zu den Beamten auf Stufe zwei, und er hatte den Rang automatisch genannt. Wenn es jemand anderer war, konnte er nur mit angehaltenem Atem auf das Zerreißen des Schleiers warten. »Starren Sie mich nicht an wie ein Fisch. Ich bin Direktor Reid. Ich brauche ein paar Fakten, und zwar schnell. Vor etwa dreißig Jahren hat es eine Untersuchung gegeben, die schließlich im Sand verlief. Vor Ihrer Zeit, aber sicher nicht schwer zu finden.« Reid machte eine Pause, und Kanes dachte, daß das allerhand Arbeit werden würde, wenn er nicht mehr zu hören bekommen sollte. Seit er den Namen gehört hatte, war er sowieso vor Überraschung stumm. Ein kurzes, bühnenhaftes Warten, während der Direktor der ›Aktualitäten-GmbH.‹, der Monopolinhaberin für alles, was es im Block der westlichen Hemisphäre an Nachrichten gab, sich die ungewohnte Mühe bereitete, selbst etwas von einem Notizblock abzulesen. »Datum 2167. Ort: Glastonbury, Forschungszentrum. Sogenannte Weisman-Idee. Ich brauche alle Daten. Wer? Wie? Warum? Was? Bringen Sie das Band selbst her. Keine Tagebucheintragung. Verstanden?« Daß das noch zu der Plackerei des Vormittags kam, ärgerte Kanes. Er suchte nach einem wirkungsvollen Satz, der Einverständnis bekundete, mit dem Vorbehalt, daß nicht alle Intelligenz ein Gottesgeschenk für die höheren Ränge sei, als der Bildschirm erlosch und er die leere Wand anstarrte. Es heißt, daß man auf einer leeren Fläche alles sehen kann, was man will, aber er ließ die Gelegenheit ungenutzt und drückte die Daten auf der Tastatur ein. 7
Ein tiefes Verdauungssummen erfüllte seine enge Zelle. Licht zuckte intelligent über die zahllosen Facetten der sich über eine Breite von sechs Metern erstreckenden Glastafeln. Es dauerte sechzig Sekunden, dann schaltete es sich ab. Kanes bewahrte menschliche Würde, indem er langsamen Schrittes zum Auswurfschlitz ging, um das Mikroband in Empfang zu nehmen, das alles verraten würde. Er hatte sogar schon die Hand ausgestreckt, um die Spule an sich zu nehmen, als die Maschine ein zweites Mal in Aktion trat und ihm klar wurde, daß sie nichts gefunden hatte und nun geduldig erneut das Programm absolvierte, um sich zu vergewissern, daß sie die Frage richtig begriffen hatte. Nach Kanes’ Erinnerung hatte sie das bisher erst einmal tun müssen. Er blieb mit ausgestreckter Hand stehen und bedachte die statistische Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis. Als sich ein Papierstreifen herausschob und seine Finger streifte, zuckte er wie vor der Berührung einer Schlange zurück. Auf dem Streifen stand ›Negativ‹, und er starrte ihn volle zehn Sekunden lang ungläubig an. Reid anzurufen und ihm zu sagen, daß nichts gespeichert war, hieß ebensoviel, wie zu behaupten, daß er das Ganze erfunden, daß es nie stattgefunden hatte. Eines stand jedenfalls fest, er würde nicht erfreut sein. Kanes bereitete sich im stillen vor, während er darauf wartete, bis der Kopf des Direktors auf der Bildwand erschien. Er würde sagen: »Es wird Ihnen nicht gefallen, Direktor Reid, aber eine Weisman-Idee hat es nie gegeben. Irgend jemand hat Sie in die Irre geführt.« Tatsächlich waren aber Reids Umrisse noch undeutlich, als er schon schnarrte: »Kanes, wie? Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen es mir heraufbringen. Tun Sie das.« Dann schaltete er ab. Kanes blieb vor seinem Spiegelbild zurück und sah sich für Augenblicke als Fremden. Eine hochgewachsene, durch 8
die leichte Wölbung der glatten Wand noch ein wenig verlängerte Gestalt. Selbst diese Verzerrung vermochte die Wuchtigkeit der Schultern nicht zu verbergen. Längliches nordisches Gesicht, umrahmt von rötlichbraunen Haaren. Graue Augen, zur Zeit leer wie ein unbeschriftetes Band, während sein persönlicher Computer mit der unklaren Lage fertig zu werden versuchte. Er sah, wie das Spiegelbild die Daumen in den schmalen Gürtel der einfachen Metallstofftunika steckte, und die Bewegung wies ihn als Urheber der Illusion aus. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte die Erkenntnis auf, daß er als ein Meisterwerk biologischen Fortschritts eigentlich etwas anderes tun als Kindermädchen für ein paar tausend Kilogramm diverser Metallegierungen spielen sollte. Dann ging er zur Tür, ohne so recht zu wissen, was er in dieser Hinsicht unternehmen sollte. Auf dem Weg nach draußen fiel sein Blick auf die noch immer flackernde Anzeige seines Monitors. Während er zu Reid hinaufging, brauchte er sich wenigstens den Käse nicht anzuhören. Wie immer man es nehmen mochte, ein geringer Gewinn blieb zu verzeichnen. In dem langen, weißen Korridor wuchs das Gefühl des Ungewöhnlichen noch. Normalerweise war er von 1000 bis 1600 Uhr auf seiner Ruderbank angekettet, abgesehen von einem kurzen Aufenthalt im Refek C zur Mittagsstunde. Unterwegs zu sein, während das Gebäude leer zu sein schien, war schon an sich etwas Neues. Es verstärkte die zunehmende Erkenntnis seiner selbst als eine von Objekten umgebenen Person. Das einzig empfindende Wesen in einem mechanischen Bienenkorb. Von der Aufzugplattform in ein sechseckiges Vorzimmer ausgeschwenkt, blieb er eine Minute stehen und starrte die Milchglaswände an, während die Vorrichtung geduldig wartete, bis sich sein Gewicht entfernte. Es war das erstemal, daß er bis zur Höhe der Dachappar9
tements hinaufgelangt war, und es bedurfte Reids gereizter Stimme irgendwo über ihm, um ihn zum Gehen zu veranlassen. »Stehen Sie nicht herum, Mann. Bringen Sie es mir.« Er ging geradeaus weiter, und die Wand vor ihm löste sich zuvorkommend auf und ließ ihn in einen langen Raum treten. Ganz von Glas umgeben. Durchsichtig rechts, so daß die Stadt wie ein Panorama-Foto ausgebreitet war. Milchglas links, durch dessen Gefüge farbige Punkte schwammen, als bestünde es aus lebendem Gewebe. Reids Kontrollpult erstreckte sich am anderen Ende fast über die gesamte Breite, und Kanes mußte auf einem weichen, blauen Teppich entmutigende zwölf Meter zurücklegen. Von der Nähe gesehen war Howard Reid stämmig und muskulös. Ein nackter Arm ruhte auf der Schreibtischplatte, der andere, sein linker, vom Ellenbogen an mit einem schimmernden kybernetischen Ersatz ausgestattet, beschäftigte sich weiterhin mit den Schalthebeln und Tastaturen. Das war schon an sich eine Überraschung. Kanes hatte, da nur Kopf und Schultern zu sehen gewesen waren, das nicht erwartet. Aber seine persönlichen Berührungen mit der obersten Stufe waren bisher vereinzelt geblieben. Er wußte verstandesmäßig, daß diejenigen, die es sich leisten konnten, kybernetische Ersatzgliedmaßen als Statussymbole wählten. Seine erste Reaktion war, zu bedauern, daß der Mann nicht seinen Kopf umgetauscht hatte. Reid streckte den normalen Arm aus. »Los, los, Mann. Her damit.« »Ich muß Ihnen leider sagen, daß es keinerlei Informationen über eine Weisman-Idee gibt, Direktor.« Trotz der höflichen Verpackung surrte die Grundtatsache wie ein Querschläger im Raum herum. Sogar der Metallarm erstarrte mit abgeknicktem Handgelenk. »Wissen Sie, was Sie da sagen?« In Kanes regte sich Rebellion. Die Anpassung an seinen 10
Stand, schon nachlassend und der Nachhilfe bedürftig, wie sie alle fünf Jahre stattfand, war plötzlich weggewischt. Er merkte, daß er mit den Schenkeln den Schreibtisch berührte, und beugte sich vor, beide Hände auf die polierte Platte gestützt, den Kopf trotzig vorgereckt. »Ja, Direktor. Nach den Datenspeichern gibt es kein Material über Ihre Weisman-Idee. Wenn es da wäre, hätte ich es gefunden. Aber es ist nicht da. Sie müssen sich gründlich getäuscht haben.« Reids Gesicht wurde braunrot. Sein Mund öffnete sich zum Sprechen, aber die in die unheilschwangere Stille dringende Stimme war ein verdrießlicher Alt. Prosper Kanes war verwirrt. Eine verblüffende Sekunde lang glaubte er, mit Reid sei eine große Verwandlung geschehen. Als sich der verkniffene Mund jedoch schloß, fuhr die Stimme fort: »Nein, Vater, man muß die Wahrheit akzeptieren. Ich bin zufrieden. Es hat damals nichts gegeben, was wert gewesen wäre, aufgezeichnet zu werden. Vergessen wir, daß ich dich gefragt habe. Schick den Mann weg. Ich nehme dafür den Kreditschein.« Als sie sich von einer niedrigen, in der Ecke der undurchsichtigen Wand eingelassenen Bank erhob, erwies sie sich als junge, schwarzhaarige, pummelige Frau mit leuchtend braunen Augen und erstaunlich weißen Zähnen. Daß Kanes sie, als er sich nervös im Zimmer umsah, übersehen hatte, war leicht zu erklären. Ihr kurzes, schillerndes Gewand spielte bei jeder Biegung ihres beweglichen Rumpfes in allen Farben und tarnte sie damit vor der Wand mit ihrem Farbenspiel völlig. An zwei Fronten angegriffen, zeigte Reid, daß er nicht ohne Grund so hoch gelangt war. Zuerst beschäftigte er sich mit seiner Tochter. »Misch dich nicht ein, Meta. Du hast die Frage gestellt. Es muß eine Antwort geben. Nimm den Kreditschein und sieh zu, daß du damit auskommst. Bis zum Quartalstag gibt es keinen Penny mehr.« 11
Der Kyber-Arm betätigte sich am Schreibtisch und hielt ihr einen gelochten Metallstreifen hin, während Reid sich der zweiten Front zuwandte. »Nehmen Sie Ihre dreckigen Pfoten weg, Kanes, und machen Sie sich an die Arbeit«, zischte er. »Operator Klasse vier, wie? Sie fangen morgen am Fließband an, wenn Sie so weitermachen. Ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit. Fünf? Wozu brauchen Sie fünf? Sie haben drei Minuten, um mir das Material zu beschaffen. Raus. Raus.« Kanes’ Temperatur sank um einige Grad. Die Drohung war gefährlich genug. Reid konnte sie wahrmachen. Leben außerhalb des Komplexes. Harte, körperliche Arbeit in einer der Industriegenossenschaften. Das kurze, mühselige Leben der ungeplanten Klassen. Sterilisierung. Jahre der Ausbildung und Konditionierung stellten es als das Schlimmste vor, was einem Menschen passieren konnte. Alle inneren Antriebe drängten ihn, einen Rückzieher zu machen und zu kriechen. Wenn das Mädchen nicht dabeigewesen wäre, hätte er es vielleicht sogar getan. Aber ein ungeglättetes Überbleibsel des Syndroms männlicher Überlegenheit stärkte sein Rückgrat. »Das lasse ich mir von keinem fetten Saukerl mit Blecharm gefallen«, sagte er. »Ich versuche es noch einmal, weil das mein Beruf ist, aber ich rechne nicht damit, daß ich etwas finde. Sie können tun, was Sie wollen.« Reid schien einem Schlaganfall nahe zu sein und rang noch nach Worten, als Kanes die Tür erreichte. Von dort aus schoß er noch einen Pfeil ab: »Der Kunstarm fände eine bessere Verwendung, wenn man dem verwöhnten Gör den Hintern damit versohlen würde.« Im Aufzug wurde ihm die Ungeheuerlichkeit dessen, was er getan hatte, klar. Dafür gab es keine Entschuldigung. Man würde ihn hinauswerfen, selbst wenn er das Material fand. Er mußte den Verstand verloren haben. Vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit. Vielleicht konnte er das beim Arbeitsausschuß vorbringen? 12
Er verbrauchte mehr als die ihm zugestandenen drei Minuten, indem er durch die stille Leere von Refek C wanderte. Er probierte eine Wählscheibe an einem der Eßtische aus, um zum Ausgleich etwas zu essen, aber das blieb ihm versagt. Bis der Aufseher um zwölf Uhr mittags einschaltete, funktionierte nichts. Schließlich stand er vor seinem Büro. Er rechnete halb damit, es voll von Sicherheitswachen zu finden, die ihn fortschleppen würden. Statt dessen gab es nur eine Person, die sich das simple Vergnügen machte, alle möglichen Tasten zu drücken, um die Bänder in sämtliche Richtungen hervorquellen zu sehen. Meta Reid sagte: »Was haben Sie denn gegen mich? Sind Sie verbittert oder was?« Kanes wurde vorübergehend von einem subtilen, weiblichen Duft und der plötzlichen Erkenntnis überwältigt, daß ihr schillerndes Kleid halb durchsichtig war. Er sammelte sich tapfer und sagte streng: »Das wär’s. Sie haben es geschafft. Die Aktualitäten-GmbH. wird mit der Mütze in der Hand zum Zentralarchiv gehen und um Zuteilung von Datenspeicherzeit bitten müssen. Der alte Habicht Reid wird überschnappen.« »Das macht nichts. Kein großer Schaden.« »Richtig. Klingt aber schlecht bei jemandem, der eben abkassiert hat. Wo bleibt Ihre Dankbarkeit?« Wo sie die auch verwahren mochte, sie hätte sichtbar sein müssen, und es war keine Überraschung, daß davon nichts zu bemerken war. »Das ist er mir schuldig. Er hat mein Vermögen noch sechs Monate in den Klauen.« Es war für Kanes eine neuartige Vorstellung, daß Eigentum einer Person übertragen werden konnte. Er sah ein, daß die Dachwohnungskultur außerhalb seines Erfahrungsbereichs lag. Sogar gehobene Fachleute lebten auf Kommunenbasis. Komfortabel, am allgemeinen Maßstab gemessen, aber ohne absolute Kontrolle über mehr als persönliche Kleinigkeiten. 13
Er sah sie sich gründlich an. In der tristen Strenge seines Büros war sie klarer zu sehen als vorhin. Rundlich, aber hübsch, mit einem Gesicht, das nur aus glänzenden Augen und Zähnen zu bestehen schien. »Sind Sie verrückt?« »Das klingt schlecht aus Ihrem Mund. Sie sind mir sehr verpflichtet.« »So?« »Howard Reid wollte Sie schon degradieren lassen, aber ich habe es ihm ausgeredet. Statt dessen erteilt er Ihnen einen sehr interessanten Auftrag. Sie werden mir helfen.« Die Erleichterung war von Zweifeln getrübt. Meta Reid schlenderte umher, auf der Suche nach Zerstörbarem. Kanes fand, daß sie einen geschulten Dompteur brauchte. Vielleicht war das seine neue Aufgabe. Vielleicht war es in einer Industriegenossenschaft sicherer. Überdies gab es in seiner Psyche jenes ungeglättete Element, das sich, weigerte, Dankbarkeit für irgendeine Galligkeit von einem verwöhnten Sprößling der Oberstufe zu empfinden. Sie ließ sich in seinem Arbeitssessel nieder, rotierte ein paarmal in einem Gewirr von Papierstreifen und begann zu erläutern. »Ich versuche seit einem Jahr, ins Aktualitätengeschäft einzusteigen, aber mein Vater wollte mir nicht behilflich sein.« »Kann ich verstehen.« Das forderte einen grimmigen Blick heraus, aber sie fuhr mit ihrer Darlegung fort. »Ich war im Polytech-Archiv und hörte mir die örtlichen Nachrichtenzusammenfassungen über Glastonbury an. Ich bereitete eine historische Abhandlung über Ausgrabungen an dieser Stelle vor. Das Band handelte von Erdbauwerken. Auf einmal wurde diese Weisman-Sache erwähnt. Nur so viel, daß die Bundestruppen das Forschungszentrum in Glastonbury geschlossen hätten. Nicht viel. Hundert Worte vielleicht. Aber 14
ich fand es interessant und suchte mehr. Es gab aber überhaupt nichts.« »Es kann nicht wichtig gewesen sein.« »Es klang aber so, als wäre das Teil eines viel größeren Ganzen gewesen. Jemand hatte das Band neu verwendet. Als es archiviert wurde, ist es wohl nicht ganz überprüft worden.« »Kommt vor.« »Na ja, ich dachte, Nachforschungen könnten für die Aktualitäten-GmbH. ein brauchbares Thema ergeben.« »Erinnert sich Ihr Vater nicht daran?« »Er war Jahre auf dem Gamma-Satelliten. Er sagt, er erinnere sich an den Namen und irgendwelchen Ärger. Ich versuchte es im Zentralarchiv, aber der Archivar konnte nichts finden, und am nächsten Tag erhielt ich vom Administrator den Hinweis, die Finger davon zu lassen.« »Ganz einfach so?« »Tja, die übliche Amtssprache – mit dem Ergebnis, daß es sich um eine Verschlußsache handle.« »Na also. Wenn Sie weitermachen, riskieren Sie eine Statuskorrektur. Wäre gar nicht schlecht.« »Und jetzt treten Sie auf den Plan.« »Ich denke nicht daran.« »Sie haben nicht zugehört. Howard gibt Ihnen noch eine Chance. Sie können sich eine Woche freinehmen, um mir recherchieren zu helfen. Über nicht-amtliche Kanäle, versteht sich. Wenn wir es schaffen, bin ich akzeptiert.« »Und ich?« »Na, Ihnen geht es auch gut. Er wird Ihr ungehobeltes Benehmen übersehen.« »Und wenn wir es nicht schaffen?« »Hm, dann darf ich nicht in den Dienst eintreten.« »Und ich?« Sie stand auf und trat auf ihn zu. Ein Teil des Funkelns in ihren ungewöhnlichen Augen rührte von helleren Farbflecken 15
in der Iris her. Nicht dunkelbraun. Hellere, bernsteinfarbene Tönung. »Sie sind sehr egoistisch eingestellt. Sie denken nur an sich. Egal, wie es ausgeht, Sie können nur gewinnen. Wo fangen wir an?« Prosper Kanes war aus Gewohnheit ordentlich und pedantisch. Ausgeklügelte Regale füllten die beiden massiven Wände seiner Zelle, die ihm so viel Eigenleben gestatteten, wie ihm im Schlafblock Sektor K für männliche Bürger Stufe 4 mit Fachausbildung zustand. Da der Block in einem Außenring lag, hatte er das Glück, daß ihm die durchsichtige Wand einen Ausblick gab. Fünfzig Meter leerer Raum, endend mit der fensterlosen Rückwand des Planungs- und Konstruktionszentrums, die mit Halbreliefs von Arbeitern reich geschmückt war. Wenn er sich auf den Stuhl stellte und das Gesicht ans Glas preßte, konnte er die Straßenschlucht hinabsehen, bis zur Hälfte einer schimmernden, neonbestrahlten Figur an der Fassade des SektorHippodroms. Zur Verhütung morbiden Grübelns gab es keine Tür. Die weiße Milchglasscheibe an der Korridorseite endete in einem meterbreiten Spalt für Ein- und Austritt. Zwei Tage nach seiner ersten Begegnung mit Meta Reid stand er in der Öffnung, ein Geist, der sein eigenes Denken verfolgte. Irgendwo hatte er den Satz gehört: ›Selbsterkenntnis sorgt nicht automatisch für Glücksgefühl, aber sie fördert es.‹ Er hätte hinzufügen können, daß er das für Quatsch hielt. Achtundvierzig Stunden außerhalb der vertrauten Routine hatten ihn davon überzeugt, daß er sie nie Wiedersehen wollte. Andererseits gab es in der Stadt nichts sonst, was er hätte tun wollen. Allerdings würde ihm kaum die Wahl bleiben. Bei keinerlei Fortschritt stand ihm die Rückkehr zur Zwangsarbeit bevor. 16
Oder eine Gefängniszelle. Sein Zimmer machte einen merkwürdigen Eindruck, der einen anderen Gedankengang auslöste. Nichts war ganz so, wie er es zurückgelassen hatte. Jemand hatte jeden Gegenstand unmerklich verschoben. Man war sehr vorsichtig gewesen, aber es war eine sich steigernde Wirkung winziger Unterschiede, die insgesamt ausreichte, die Schwelle des Normalen zu überschreiten. Einem Impuls folgend, schob er eine Tafel in der Mitte der linken Wand zur Seite und legte die Wechselsprech- und TVKonsole frei, seine Nabelschnur zu Vater Staat. Die Pflicht verlangte, daß man von 2000 bis 2030 zusah und alle amtlichen Nachrichten und die täglichen Lokalanweisungen verfolgte, die Gesetzeskraft hatten. Als Spezialausgebildeten ging ihn das nicht viel an, aber er mußte trotzdem zuhören. Er wählte die Direktverbindung und drückte auf die Taste für den Hausmeister in seinem Kellerbüro. Stan Padstows kummervolles Gericht erfüllte den Miniaturbildschirm mit Düsternis. »Ja. Mr. Kanes. Was kann ich für Sie tun?« Die Worte ließen an einen Menschen denken, der sich auf die Zehenspitzen reckte, um gefällig zu sein, aber die Stimmfärbung verriet den Vorbehalt, daß es, was immer Nummer 137 wollen konnte, einen guten Grund dafür gab, es ihm nicht zu verschaffen. »Stan«, sagte Kanes. »Hat heute jemand nach mir gefragt?« Padstow ließ die Bildtaste an seinem Hörer los, und sein Pferdegesicht verschwand rasch vom Bildschirm. Vielleicht hatte er ihn weggelegt, um im Besuchsregister nachzusehen, vielleicht wollte er bei seiner Antwort auch nicht allzugenau betrachtet werden. »Nein, Mr. Kanes. Heute kein Besuch für Sie. Für niemanden in Höhe sieben.« Es mochte sein, daß Padstow nichts wußte, aber der Hinweis auf die gesamte Etage war ein unnötiges, überflüssiges 17
Detail. So, als erwarte er, daß die glatte Verneinung auf Unglauben stoßen könnte. »Na gut, Stan. Ich gehe nach dem Zapfenstreich noch einmal weg.« »Schon gut, Mr. Kanes, aber achten Sie auf die Zeit. Ich habe die Automatik auf 2359 gestellt und komme nachher für keinen ’raus. Wenn der Rolladen gefallen ist, müssen Sie sich bei der Sektor-Überwachung melden. Übrigens, Mr. Kanes, weil Sie schon da sind – Sie müssen mit der Frau sprechen, die gestern nach Ihnen gefragt hat.« Padstows Stimme verriet ein Äußerstes an resignierter Duldsamkeit. »Sagen Sie ihr, daß sie den Empfangsraum auf keinen Fall verlassen darf. Sie lief überall herum und steckte den Kopf in die Privatunterkünfte. Meine Telefonzentrale ist mit berechtigten Beschwerden überhäuft worden. Mr. Carter war in der Dusche, und sie hatte das Luftventil auf Kühlung gestellt. Er war erstarrt und hatte überall Eiszapfen hängen, bis er das beheben konnte. Das kann ihm sehr schaden.« »Ich sorge dafür, Stan. Keine Sorge, Sie wird vermutlich nicht mehr herkommen.« Das war mehr als wahrscheinlich. Kanes streckte sich auf seinem Rollbett aus und überdachte die Ereignisse des Tages. Sechs Besuche bei Gesellschäftsarchiven – Zugang durch Ausweisstreifen der Aktualitäten-GmbH. Das wachsende Gefühl, daß der Zweck ihres Besuches bekannt war, bevor sie ihn erklärten, und daß Schritte unternommen waren, die sicherstellten, daß es nichts zu finden gab. Am Ende des Nachmittags war Meta still geworden. Sie war alles andere als dumm. Das hatte man auch kaum annehmen können, bei einer genetischen Herkunft, die sie in der obersten gesellschaftlichen Gruppe ihren Platz finden ließ. Hinter den Clownerien wußte sie genau, was sie tat. Sie war in einem weißen Overall aus einem Stück erschienen, mit breitem Silbergürtel aus länglichen Platten. Die Initialen ›MTR‹ zierten in einem verschnörkelten schwarzen 18
Monogramm die linke Brusttasche – eine Reporterin alten Stils. Im Expreßlift zu den Tiefgewölben des MedizininstitutKomplexes, der letzten Adresse, sagte sie: »Sie wissen Bescheid, nicht wahr? Sie wissen, daß wir nichts finden werden.« »Sieht so aus. Was es auch gewesen sein mag, die Sicherheitsbehörde hat reinen Tisch gemacht. Es sei denn, wir finden eine Person, die beteiligt war. Aber selbst die könnte beseitigt sein, wenn sie es wirklich ernst meinen. Sie werden aufgeben müssen.« Zum erstenmal empfand er Mitleid mit ihr. Sie hatte wirklich Zeit für die Suche aufgewendet. Es hatte ihr viel bedeutet, von der Aktualitäten-GmbH. akzeptiert zu werden. »Sie werden sich an das Programm halten müssen, das der Selektionsausschuß für Sie bestimmt.« »Das ist schon geschehen.« »Und?« »Gesellschaftlich und häuslich‹, so lautet es. Wissen Sie, was das bedeutet?« »Sie bekommen einen Ehevertrag für zwanzig Jahre mit einem von Stufe Alpha und ziehen zwei Kinder mit traditionellen Methoden für Manager- oder Politikerstellungen auf. Das ist keine Strapaze.« Am Ende einer Schulungsperiode betrachtete Kanes ein solches Programm jedenfalls als etwas Positives, das außerhalb seiner unmittelbaren Aussichten war. Fünf Jahre würden vergehen, bis er selbst einen Platz auf der Warteliste für Eheverträge bekam. Dann würde er Dreißig sein. Mit vielleicht zwei- oder dreiunddreißig Jahren würde er eine Computerauswahl und eine Drei-Zimmer-Wohnung im Sektor für Verheiratete bekommen. Die Gesellschaft hatte am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erkannt, daß die explosive Energie des Geschlechtstriebs nicht länger für beliebige, persönliche Suche nach Befriedi19
gung vergeudet werden durfte. Mit der Verfeinerung der psychischen Kontrolltechniken waren die Schulungssitzungen ein integrierender Bestandteil jedes schulischen Lehrplans geworden, wie die Impfungen, die dem altmodischen Kranksein endgültig den Garaus gemacht hatten. Man hatte eine Methode finden müssen, mit einer frühreifen, drängenden Sexualität fertig zu werden, die nicht von geistiger Reife begleitet wurde. Dabei ergab sich, daß die seelische Steuerung über die ehemals normale Reifung hinaus für eine überbevölkerte Welt ihren Wert hatte. Die auf tiefe Schichten wirkende Suggestion, die für jede instinktive Neigung, eine Person des anderen Geschlechts als erotisches Objekt zu betrachten, das Gegengewicht bildete, war überaus erfolgreich. Wie schon Dr. Pilgrim Comfort, einer der Pioniere des Verfahrens, erklärt hatte, als er von seiner ersten Versuchsperson sprach: »Wenn er am Strand stünde und Aphrodite in ihrer Muschel an Land käme, würde er ihr offen in die Augen sehen, ihr die Hand schütteln und sagen: ›Willkommen auf dem Trockenen, Matrose!‹« Kanes bewegte unruhig die Schultern. Seine eigene, innere Haltung, nach vielen Jahren der Schulung, fand es schwer, diesen Kontakt mit Meta Reid rational zu erklären – mit Meta, die so weiblich war wie nur irgendein Kultsymbol in der fruchtbaren Vergangenheit des Menschen. Vor einer fortgesetzten Konfrontierung bewahrte ihn ein Summen seines TV-Geräts. Als er die Tafel zurückschob, sah er dort schon Stan Padstows Gesicht, gleichsam, als lebe er dort im dunklen Kasten. »Mr. Kanes.« »Was gibt’s?« »Jemand hat nach Ihnen gefragt, Mr. Kanes. Vielleicht die Personen, die Sie erwartet haben.« »Gut, Stan. Schicken Sie sie herauf.« »Sie sind schon oben. Sie gingen einfach durch. In Wirral City habe ich noch keinen davon gesehen. Sicherheitsbehör20
de, würde ich sagen. Sicher wegen der Frau. Die macht Ihnen nur Ärger, denken Sie an mich.« Kanes schob die Platte vor den Propheten und setzte sich an seinen kleinen Schreibtisch unter dem Bildschirm, Teil des Kombinations-Schrank-Kommode-Regal-Möbelstücks, Standardeinrichtung für den gesamten Block. Er würde, wie viele Verschwörer, bei der Durchsicht seiner verräterischen Korrespondenz ertappt werden. Er hatte noch nicht viel durchgesehen, als ein Schatten seinen Eingang verdunkelte. Sie hatten in der schmalen Öffnung kaum Platz, Schulter an Schulter zu stehen, vermittelten aber genau diesen Eindruck. Derjenige, der etwas weiter in den Raum getreten war, trug einen dunkelblauen Overall mit den drei Silberspangen eines Chefadministrators auf der linken Schulterklappe. Bundessicherheitsbehörde. Verraten durch das ›RWH‹ auf der rechten Klappe. Regierung der Westlichen Hemisphäre. Hinter ihm, halb verdeckt, der örtlich zuständige Mann. UnterAdministrator Danvers von der Sicherheitsbehörde Wirral City, Leiter der Sektor-Polizei. Danvers sprach über die blaue Schulter, als gelte es, ein Versuchsobjekt zu identifizieren. »Das ist Kanes, Chef-Administrator Lubin, ich bin überzeugt, daß er Sie nach Kräften unterstützen wird.« »Das wird er, wenn er weiß, was gut für ihn ist.« »Er hat einen makellosen Leumund.« »Hatte, Danvers, hatte.« Prosper Kanes hörte sich den Wortwechsel mit wachsender Verärgerung an. Respekt vor den Sicherheitsbehörden gehörte ebenfalls zu den eingetrichterten Verhaltensweisen, aber die Erfahrungen der vergangenen achtundvierzig Stunden hatten eine ganze Reihe seiner gewohnten Reaktionen geschwächt. Er stand langsam auf, und Lubin stellte trotz seiner Größe fest, daß er den Blick heben mußte, um ihm in die Augen zu sehen. Als geschultem Beobachter fiel ihm ferner auf, daß 21
sich die großen Hände des Mannes öffneten und schlossen. Das stimmte mit dem Bericht überein, wonach dieser Kanes einen Großteil seiner Freizeit in der Sektor-Sporthalle verbrachte. Als umsichtiger Mensch trat Lubin einen halben Schritt zurück und kam Danvers, der eintreten wollte, ins Gehege. »Nur herein, nur herein«, sagte Kanes. »Keine Förmlichkeiten. Was kann ich für Sie tun?« Die Wahl der Worte war höflich genug, aber vereint mit dem Grinsen über den Zusammenstoß schufen sie ihm keine Freunde. Lubin sagte gereizt: »Nehmen Sie sich in acht, Kanes. Ab sofort. Ich komme gleich zur Sache. Sie haben Erkundigungen über eine Angelegenheit eingezogen, die auf dem Index steht. Verschlußsache. In Ihrem Beruf müßten Sie wissen, was das bedeutet. Da Sie es aber nicht zu begreifen scheinen, erkläre ich es Ihnen. Alle auf den Index gesetzten Themen widersprechen nach amtlicher Beurteilung dem öffentlichen Wohl. Das heißt, falls Sie weitere Nachforschungen anstellen, daß Sie sich außerhalb des Gesetzes begeben. Außerhalb der Gesetzgebung des Bundes. Ist das klar?« »Darunter mögen detaillierte Angaben fallen. Allgemeine Hinweise in Privatarchiven sicher nicht.« »Sie widersprechen mir, Kanes. Das gefällt mir nicht. Ich fordere Sie auf, die Sache fallenzulassen. Gleichgültig, worum es sich bei der Weisman-Idee gehandelt haben mag, man hat es für zweckmäßig gehalten, die Akte zu schließen und auf den Index zu setzen. Höchste Geheimhaltungsstufe. Das genügt mir und genügt dem Gesetz. Ich warne Sie ausdrücklich – lassen Sie die Finger davon. Ist das klar genug?« Danvers, der um den guten Ruf seines Bezirks besorgt war, sagte: »Ich bin überzeugt davon, daß Kanes Ihre Mühe zu schätzen weiß, Chef-Administrator. Er war ein gutes Mitglied seiner Gemeinschaft. Makelloser Leumund seit fünf Jahren. Ich bin sicher, daß er sich an Ihre Warnung hält.« 22
»Und wenn ich es nicht tue?« fragte Kanes. »Ich scheine meine Zeit vergeudet zu haben«, erklärte Lubin. »Wenn Sie sich gegen eine solche Beschränkung auflehnen, handeln Sie sich unter Umständen die Höchststrafe ein. Statusverlust und Umorientierungslehrgang sind Ihnen sicher. Wegen dieser Aktion haben Sie schon ein halbes Jahr im Dienstalter verloren.« »Das ist klar genug.« Lubin wartete auf eine Fortsetzung. Dann begriff er, daß Kanes seine Schlußfolgerungen für sich zu behalten gedachte. Zehn Sekunden lang herrschte Stille. Der Bundes-Administrator drehte sich plötzlich auf dem Absatz um und bedeutete Danvers mit einer knappen Kopfbewegung, ihm zu folgen. Kanes sah ihnen nach und hatte genügend Zeit, die Ungerechtigkeit seines Schicksals zu bedenken. Wenn sie soviel wußten, mußte ihnen auch bekannt sein, wer die Nachforschungen ausgelöst hatte, und wie er in diese Geschichte hineingeraten war. Aber Meta Reid war unerwähnt geblieben. Sie stand außerhalb normaler Ermittlungen. Es bedurfte eines regionalen Sonderbefehls, um einen Bürger Stufe Alpha zu befragen. Außerdem würde Howard Reid trotz seiner Abneigung gegen das Unternehmen seiner Tochter eine Einmischung von außen nicht dulden. Vielleicht wußte er sogar davon und spielte beide Seiten gegeneinander aus. Dafür sprach aber wenig. Das hieße, einen Schmiedehammer zu benützen, um eine Nuß zu knacken. Sie hatte erklärt, daß sie noch ein halbes Jahr bis zur Erlangung des voll unabhängigen Status warten mußte. Er besaß rechtlich alle Möglichkeiten, ihr zu untersagen, was ihm nicht paßte. Nein. Das war nur ein Mythenkomplex aus alter Zeit. Ein Rätsel aufgebender Tyrann, der dem Bewerber eine unmögliche Aufgabe stellte, bevor er Belohnung beanspruchen durfte. Reid arrangierte Recherchen über ein Thema, das, wie er wußte, als Verschlußsache galt. Niemand konnte Schaden erleiden, außer einer überflüssigen Figur wie Kanes. 23
Ein Summen des TV-Geräts riß ihn aus seiner Grübelei. Er schob die Tafel zurück. Egal, was Stan Padstow wollte, er mußte sich vorsehen. Kanes hatte eine volle Portion Ärger weiterzugeben. »Was ist denn?« knurrte Kanes, bevor er begriff, daß das durchaus nicht der Hausmeister war. Meta Reid hatte ihr Gesicht mit einem unvermuteten Geschick für Komposition genau nach den goldenen Leitlinien des kleinen Bildschirms getönt; leuchtend schwarzes Haar, in einer Silberfiligranspirale hochaufgetürmt. Große Augen, mit schwarzem Stift umrandet, vor Begeisterung funkelnd. »Prosper. Ich habe eine Spur. Etwas Positives. Ich will sofort etwas unternehmen. In fünf Minuten hole ich Sie vor Ihrer Unterkunft ab. In Ordnung?« Es war durchaus nicht in Ordnung. Jeder länger dauernde Besuch zu dieser Stunde würde ihn über die Sperrstunde hinaus fernhalten, und er konnte es sich nicht leisten, sich beim Sektor-Sicherheitsbüro zu melden. Außerdem würde man jetzt schon seine Gespräche abhören. Überdies fesselte er sich selbst die Hände und lieferte sich Lubin mit kompletter Anklageschrift aus. Das Mädchen wurde ungeduldig. »Sie sind doch da, nicht? Schalten Sie sich zu.« Kanes sagte langsam: »Gut, Meta, ich komme. Halten Sie aber nicht hier. Eingang von Planung und Konstruktion auf der anderen Seite. Ende.« Vielleicht hatte man die Leitung doch noch nicht angezapft. Vielleicht. Aber Kanes hatte das Gefühl, daß er einen unwiderruflichen Schritt getan hatte. Er schaute sich in seinem Zimmer um, als sei er dort zum Eindringling geworden.
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2 Während er unter dem leeren Vordach des Planungszentrums wartete, kam sich Kanes überaus auffällig vor. 2200 war eine tote Zeit. Spät, um auszugehen. Früh, um heimzukommen. In der langen Schlucht, die sich links und rechts wie eine perspektivische Übung zu identischen Fluchtpunkten erstreckte, war keine Bewegung wahrzunehmen. Man hatte ein Bronzegitter herabgelassen und das Ausstellungsfoyer abgesperrt. Er verbrachte zwei Minuten damit, die Keramikkacheln an der Wand zu betrachten. Dreiundzwanzig Farbtöne, acht mögliche Muster, im Schnitt dreieckig. Sie waren auf ein Netz von Duraluminiumstäben aufmontiert. Sie konnten ungehindert rotieren und dem erfreuten Bewohner ihre Facetten abwechselnd vorführen. Vollständige Wärme-, Schall- und Funkisolierung. Meta Reid, die von links auf leisen Sohlen herankam, suchte sich die Stelle bedachtsam aus und stieß ihm den ausgestreckten Zeigefinger genau in die Mitte des Rückgrats. Die Reaktion erfolgte blitzartig und stand in keinem Verhältnis zu der schlichten Handlung. Wenn sein Gehirn unbeschäftigt gewesen wäre und den Reiz hätte verarbeiten können, hätte er vielleicht geschwankt. Aber der Instinkt, geschärft von einer fundamentalen Angst, daß er bedroht wurde, löste eine ganze Reihe von Relais aus. Ihr Handgelenk wurde nach vorn gerissen und über seinen Kopf gezogen. Eine Hand umfaßte ihr Genick. Die Schultern vor ihr kippten in einer Drehung nach unten, und sie startete zu einem gelenkten Flug. Auf halbem Wege entdeckte Kanes, daß die Logik der Tatsachen seiner vorschnellen Beurteilung widersprach. Zarte, glatte Seide in seiner Hand. Leichte, federnde Elastizität an seinem Rücken. Sandelholzduft. Ganz entschieden kein Gendarm. 25
Da er schon zu weit gegangen war, um den Schulterwurf noch ganz abzustoppen, korrigierte er ihn in dem Maße, daß sie nicht platt auf dem Boden landete, sondern aufrecht am Bronzegitter, von starken Händen an den Schultern festgehalten. Abgesehen von einem ersten Ausruf war sie vor Verblüffung verstummt. Nun funkelte sie ihn an, die Augen riesengroß, mit wogender Brust: »Wozu soll denn das gut sein?« »Ich habe Sie für jemand anderen gehalten.« »Wer könnte ich sonst sein als ich selbst?« Es war eine faire Frage, auf die es keine befriedigende kurze Antwort gab. Außerdem lenkten ihn Nebenumstände ab. Meta Reid hätte in ihrem blaßgoldenen Cheong-sam, geschlitzt bis zum Oberschenkel und passend wie eine zweite Haut, als erotisches Anschauungsmaterial für eine Umorientierungssitzung dienen können. Kanes’ Ich rasselte mit seinen Ketten und sprengte ein paar Glieder mehr. Selbsterhaltung, die Trumpfkarte im Spiel, bremste seinen Kopf bei der Abwärtsbewegung zu ihrem offenen Mund. Das war weder der Ort noch die Zeit. Je früher sie von der Straße wegkamen, desto besser. »Wo ist der Wagen?« fragte er rauh. Sie antwortete leise: »Gleich draußen.« »Also schnell.« Es war ihr eigenes Fahrzeug, das sie schon vorher benützt hatten. Ein kleines, zweisitziges Modell mit mittlerer Reichweite. Sonderanfertigung. Rot und schwarz, mit ihrem Monogramm auf der Klapptür. Jeder Hilfsschnüffler konnte es beschatten, ohne auch nur nach der Lupe greifen zu müssen. »Rauf. Keine Fahrerei. Ich will nicht gesehen werden.« Sie stellte auf den Sektor-Leitstrahl zur Freigabe ein und flog sechzehn Korridore hoch, zum Intercity-Ring-Ausgang. Es war fast völlig dunkel, eine riesige, blauschwarze Schale über dem Strahlenkranz von Wirral City. 26
»Ich muß um Ausflugerlaubnis bitten.« »Um diese Zeit? Bis zur Sperrstunde sind es nicht einmal mehr zwei Stunden.« Zum erstenmal zeigte sie beinahe Schüchternheit wegen ihrer privilegierten Stellung. »Keine Sorge. Ich habe eine unbeschränkte Lizenz.« »Gut. Aber beeilen Sie sich.« Meta schaltete auf City-Kontrolle und drehte das kleine TVGerät vom Passagiersitz weg. Wie auch immer sie zu Kanes stehen mochte, den Verkehrsüberwacher, dessen Gesicht auf dem Bildschirm erschien, behandelte sie mit kalter Verachtung. »Wie viele Passagiere?« fragte er schließlich. »Keinen. Ich bin allein.« Er hätte auf Augenschein bestehen können, war aber in einem Dilemma. Howard Reids Tochter herauszufordern, konnte ein gefährliches Unternehmen sein. Kanes fühlte mit ihm und bemerkte das winzige Zögern, bevor die Stimme fortfuhr: »In Ordnung. Welche Schneise?« »West drei.« »Frei für Sie. Ende.« Sie befanden sich über der alten Küstenstraße. In der Flußmündung funkelten ein paar Lichter. Rechts in weiter Ferne ein weißer Leuchtpfad der Hauptverbindungsschneise zur Regionalhauptstadt in Altcar. »Vielleicht können Sie mir sagen, wohin wir wollen?« »Das ist nicht genau bestimmbar.« »Fein.« Zwischen ihnen herrschte ein Unbehagen, das nur auf eine Weise beseitigt werden konnte, ein Schritt, den beide nicht zu tun verstanden. Meta begann hastig zu sprechen, und die Situation fand eine Art Gleichgewicht. »Als Sie heute nachmittag fort waren, besuchte ich Gilly Sandham.« »Gilmore Sandham? Der lebt noch?« Sandham war eine 27
legendäre Gestalt in der Aktualitäten-GmbH. Er war, nun schon seit langem im Ruhestand, Direktor gewesen, Jahre, bevor man Reid dazu ernannt hatte. Es sprach erneut für den Rang ihrer Stellung, daß sie Zugang zu einer solchen Gestalt hatte. »Er ist mein Pate. Er hat mich sehr gern.« »Das zeugt nicht für seinen Verstand. Er muß schon senil sein.« »Er wußte von Weisman, hat ihn einmal getroffen. Ein sehr eindrucksvoller Mann. Das war aber, bevor die Idee fehlschlug.« »Wie?« »Einzelheiten konnte er mir nicht sagen. Ich glaube auch nicht, daß er viel sagen wollte, selbst wenn er mehr gewußt hat. Er erklärte aber, daß nicht alle Angehörigen der Gruppe tot sind. Das glauben nur alle. Er vermutet jedoch, daß drei der Hauptbeteiligten überlebt haben. Er hat mir die Namen verraten.« »Aber sie werden inzwischen gestorben sein. Das ist über dreißig Jahre her.« »Nicht unbedingt. Sie waren damals um die Vierzig, sind also jetzt an die Achtzig.« Kanes hatte sich mit dem Sessel gedreht und starrte durch das Heckfenster. Es herrschte sehr wenig Verkehr. Ein Gefährt mit drei Strahlern in einer Reihe und einem Weitprojektor auf dem Dach bahnte sich einen Weg aus den Vororten. Eine Sekunde lang war es auf ihren Kurs ausgerichtet. Dann verschwand es. Oder doch nicht? Ein schwarzer Schatten querte das letzte Licht. Es hatte verdunkelt. Danvers oder Lubin, die Meta im Auge behielten? Aber ein Amtsfahrzeug brauchte sich nicht zu verstecken. »Erzählen Sie mir das später«, sagte er. »Können Sie Blindflug?« »Ja.« 28
»Dann Licht aus. Links abkippen. Aufs Meer hinunter.« Kanes löste den Sicherheitsgurt, zog sich in das Heck und hielt sich an zwei Dachgriffen fest. Es gab nichts zu sehen. Er spürte, wie der Wagen kippte und hinabstürzte. Dichte Wasserschwingen stiegen plötzlich hoch und verhüllten die Seitenfenster, Gischt übersprühte die Windschutzscheibe – sie waren auf bewegter See gelandet. Zweihundert Meter voraus erhob sich der dunkle Umriß einer Frachterbrücke über der Flußmündung. Kanes hatte einen Augenblick Zeit, sich zu überlegen, daß Meta von ihrem Vorhandensein gewußt und sich trotzdem auf ihre Geschicklichkeit verlassen haben mußte, sicher zu wassern. Sterne drehten sich um den Stander des Wagens, als die steigende Flut sie um ihre Achse wirbelte. Fast genau über ihnen querte ein dunkles Etwas in fallendem Bogen den Himmel. Wer es auch sein mochte, er hatte das Manöver nachvollzogen. Kein Wunder, ein großer Flugkörper würde sie im Sonarstrahl festhalten. Ob beleuchtet oder nicht, auf einem Sonarschirm mußten sie kristallklar erscheinen. Kanes sagte bitter: »Nutzlos. Sie haben uns.« »Das spielt keine Rolle. Wir verstoßen gegen kein Gesetz.« »Sie vielleicht nicht.« Kanes traf plötzlich eine Entscheidung. »Ich steige aus. Hänge mich unter die Kufen. Erzählen Sie ihnen irgend etwas. Die glauben Ihnen sogar, daß Sie ohne Ausrüstung zum Angeln wollen. Notfalls kann ich an Land schwimmen und das Westtor erreichen, bevor es geschlossen wird.« Meta kramte in einem Fach neben der Steuerkonsole. »Hier, nehmen Sie das.« Es war eine kleine Strahlerwaffe, und er hatte sie in der Hand, bevor er nachdenken konnte. »Wozu tragen Sie so etwas mit sich herum?« »Howard hat sie mir gegeben.« »Was soll ich damit anfangen?« »Die Straße außerhalb der Stadt ist einsam. Nach Einbruch der Dunkelheit gibt es viele Gewalttaten. Verfolgen Sie unse29
re Nachrichtensendungen nicht?« Weniger als hundert Meter entfernt zeigte sich eine weiße Bugwelle, als das andere Fahrzeug herankam. Der Dachscheinwerfer senkte seinen Lichtstrahl auf eine grelle Fläche fünfzig Meter voraus. Kanes stieg durch die hintere Luke aus und schob sich flach aus der stillen, warmen Kabine in die kalte See. Geräusche waren plötzlich wichtig. Wasser klatschte auf Metall. Drüben tutete ein Frachter zweimal. Sie war neben ihm, um die Tür zu schließen, und bevor er sich fallen ließ, waren ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. Ernst, bedächtig. Dann glitt er Hand über Hand an den Schwimmkufen entlang, um in der Mitte zwischen den Katamaran-Schwimmtanks aufzutauchen. Kanes spürte den Anprall, als der herankommende Wagen die vordere Stoßstange berührte. Klug. Meta hatte damit keine Gelegenheit, zu starten, solange sich ein Ponton vor ihr befand. Jetzt war es beinahe taghell. Kanes tauchte, und das Dach über ihm glich strahlendem Aluminium. Er tauchte unter dem fremden Fahrzeug auf, dessen Bauch im Widerschein des Lichts deutlich erkennbar war. Eines stand fest: Dies war keine normale Polizeistreife. Schmutzig-oliv, mit einer schwarzen Reihe griechischer Chiffren. Er tauchte langsam unter den anderen Schwimmer, um sich die Registriernummer anzusehen, und hörte eine fremde Stimme sagen: »Meta Reid. Aha. Was soll ich tun? Etwa den Hut ziehen? Wen haben Sie dabei?« »Sehen Sie selbst – niemanden.« »Werd nicht frech, Kleine. Wohin willst du?« »Was geht Sie das an?« Ein Schrei der Befragten, ebensosehr aus Überraschung wie aus Schmerz. »Jetzt hör mal gut zu. Du brauchst dich hier gar nicht aufzuspielen. Ich hab’ nur einen kleinen Anlaß nötig, um deinen Wagen zu versenken und dich ins Wasser zu kippen. Ich frage noch einmal. Wohin wolltest du?« 30
»Zur Küste.« »Warum?« Kanes war klar, daß das keine regulären Sicherheitsbeamten sein konnten, ob nun vom Bund oder anderswoher. Die Registriernummer brachte ihn nicht weiter, aber er prägte sie sich ein: ›HF/129/W/06‹. Dann fischte er den Strahler heraus. Ein langer Schnitt durch beide Schwimmer, und das Fahrzeug hörte auf zu schlingern, sank tiefer ins Wasser. Er stichelte eine Linie am Heck entlang, um vorzusorgen, und tauchte zwischen den beiden Fahrzeugen auf. Ein Mann im grünen Overall stand mit gespreizten Beinen auf der vorderen Stoßstange seines Fahrzeugs und hatte Meta halb aus ihrer Luke gezerrt, eine Hand in ihrem Haar. »Wen hast du gesucht?« zischte er. Kanes begriff, daß ihnen danach nichts anderes übrigbleiben würde, als sie zu beseitigen. Howard Reid hatte Einfluß genug, um jedem, der seinem Lämmchen zu nahe trat, das Leben sehr schwer zu machen. Jedenfalls kam es durch das jahrelange Herumgestoßenwerden plötzlich zu einem psychologischen Blitzeinschlag. Er schoß in die Höhe und packte die Fußknöchel des Mannes. Die Logik des Gleichgewichts zwang den Mann, loszulassen, um sich zu wehren. Meta fiel nach hinten. Er krallte nach einem Halt und fand eine Schwimmerverstrebung. Es nützte ihm nichts. Kanes war an seinem Rücken hochgeklettert und hatte einen Nackenhebel angelegt. Sie stürzten ins aufspritzende Wasser, während seine Finger erfolglos die würgende Klammer um seinen Hals zu sprengen versuchten. Seine Mannschaft hatte ihr eigenes Überschwemmungsproblem. Der Heckschütze drehte sich mit seinem Schalensitz und stellte die Füße in eine sich vom engen Heck her ausbreitende Pfütze. Er rief dem Piloten durchs Kehlkopfmikrophon zu: »Rand, wir haben ein Leck. Das Wasser dringt ein. Hol Jed lieber zurück.« 31
Der Pilot, der offenen Luke am nächsten, erhob die Stimme: »Jed, ich muß ’rauf. Ein Schwimmer ist defekt.« Als keine Antwort kam, schob sich ein vierter Mann, der genau in der Mitte gesessen hatte, einen kurzen Karabiner auf den Knien, zur Luke. »Jed ist beschäftigt. Er wird sich mit dem Weibsstück amüsieren. Heb ab. Schwebeflug in Höhe null.« Er kam gerade recht, um einen Meter vor sich einen Kopf auftauchen zu sehen, und starrte ihn ungläubig an. Trotz der klatschnassen Haare und der Färbung durch das tintendunkle Meer war Jeds Schädel nicht zu verwechseln. Meta war durch die Luke in ihre Kabine zurückgefallen. Ihr Fahrzeug hatte sich vom anderen gelöst, weil es durch die Strömung schneller als das vom Wasser überspülte Flugboot bewegt wurde. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, ihre Tiara zurechtzuschieben, und die kunstvolle Frisur sah aus wie ein zerzaustes Vogelnest. Das und die Tatsache, daß Jed der Meinung gewesen war, sein Verhör beschleunigen zu können, wenn er den Reißverschluß ihres Cheong-sams öffnete, lenkten die Augen des Mannes für zwei Sekunden ab. Als er nach einem Ziel zu suchen begann, war Kanes schon wieder untergetaucht. Es fiel nicht ins Gewicht. Er hatte eine deutlichere und interessantere Zielscheibe. Er richtete seine Waffe auf Metas Brust und sagte: »Na gut, Kleine. Sag deinem Freund, er soll ’rauskommen. Ich zähle bis drei, dann bist du dran.« Der Tonfall verriet, daß er es ernst meinte. Aber ihr war etwas anderes eingefallen. Da sie sich ihres Ranges durchaus bewußt war, begriff sie, daß niemand, der sie kannte, dergleichen tun würde, ohne sich aus guten Gründen sicher zu fühlen. Die einzige Garantie, die es geben konnte, war aber die, daß sie nicht mehr vorhanden sein würde, um sich zu beklagen. Früher oder später würde man sie also auf jeden Fall umbringen. Und Kanes. Als Unfalltod in der Flußmündung arrangiert. 32
Klar gedacht, aber nutzlos. Nach drei Sekunden sagte er gleichmütig: »Na schön, jetzt passiert’s.« Meta Reid erschien die ganze Szenerie gestochen scharf, umgeben von großen, weißen Lichtzungen. Ein weißer Kegel des Scheinwerfers. Das Olivgrün des anderen Fahrzeugs. Schwarzer Lauf, der ihr die Brust zerreißen würde. Sie war nicht so sehr verängstigt als verblüfft. Vielleicht hatte sich ein Aztekenopfer so gefühlt, bevor der Priester das Herz herausriß. Als die Starre sich in Bewegung auflöste, kam es ihr vor, als stürze sie nach vorn. Aber ihre Hände umkrallten noch die Luke. Kanes tauchte unter dem Schwimmer auf, den Strahler in der Hand, der den Mann halb zerteilt hatte. Für alle Fälle brannte er noch eine Linie quer durch den Rumpf des fremden Fahrzeugs. »Motor anlassen«, sagte er. »Weg hier.« »Ich kann Sie nicht hierlassen.« »Ich komme schon zurecht. Kommen Sie später zurück. Los.« Er war wieder verschwunden, und es gab nichts zu diskutieren. Der Pilot des Flugboots hatte seine Entscheidung getroffen, als sie sich vor die Steuerung setzte und auf Antrieb schaltete, wodurch ihr Fahrzeug in Bewegung gesetzt wurde. Er schaltete den Motor ein und versuchte einen Notstart. Wasser sprudelte milchweiß, und das Fahrzeug versuchte sich zu erheben. Der Motor heulte unter der Belastung auf. Er hätte es vielleicht gerade schaffen können, aber Kanes kletterte aufs Dach, und das gab den Ausschlag. Er ging den ganzen Rumpf entlang und feuerte mit der Strahlerwaffe, bis die Ladung verbraucht war. Dann blieb er mit gespreizten Beinen stehen und wartete, bis das Wasser seine Knöchel umspülte und er das Schwanken spürte, das ihm ankündigte, daß es Zeit war, sich in Sicherheit zu bringen. 33
Erst dann schaute er sich nach Meta um. Sie hatte einen Scheinwerfer eingeschaltet und stand in fünfzig Meter Entfernung auf Posten. Ihrer überhitzten Phantasie erschien es, als wandle er auf dem Wasser. Sie fuhr näher heran, um sich zu vergewissern. Unter der Oberfläche glomm blasser Lichtschein. Er erlosch. Er war verschwunden. Sie war plötzlich allein in der weiten Flußmündung, Wirral City nur ein ferner, leuchtender Lichtbogen. Sie schaltete den Motor wieder ab und spürte fast im selben Augenblick, wie das Fahrzeug kippte, als sich ein Gewicht auf den Steuerbordschwimmer legte. Es schien ihr, als sei die Chance, daß es sich um einen Freund handle, sehr gering. Sie hörte, wie sich ein Körper über das Dach zog, um die offene Backbordluke zu erreichen. Sie wandte sich um. Der zuerst auftauchende, verkehrt erscheinende Kopf brachte keine Beruhigung. Der Mund stand offen, um nach Luft zu schnappen. Die Augen funkelten rot vor Erschöpfung oder Blutdurst oder schlichter Gier. Kanes’ Stimme lieferte eine andere Dimension. Das Bild wurde erkennbar. Es war nicht der Mann, mit dem sie sich auf den Weg gemacht hatte, aber sie hatte relativ wenig zu befürchten. »Start.« Unter ihnen zog sich eine halb verfallene Straße in weitem Bogen nach Norden, durch eine Wildnis von rostenden Tanks und Kränen – was von einem großen Industriekomplex noch geblieben war. Das Klima verhinderte jede andere Verwendung. Meta hielt Kurs auf die Mitte der Halbinsel und folgte einem langen Buckel, der einem natürlichen Hügel glich. Drei Kilometer lang. Tausende und aber Tausende von Gummireifen. »Wohin fliegen wir?« fragte Kanes. »Ich weiß es nicht genau.« 34
»Heraus damit.« »Na ja, ich weiß ungefähr Bescheid. Die Chance ist aber nur gering. Ich habe mir eine alte Sendereihe der Aktualitäten-GmbH. angesehen – ›Die nördlichen Küsten‹. Vor etwa fünf Jahren lief eine Sendung, die sich mit der Küste bei Parkgate befaßte. Sie werden es nicht glauben, aber da hat es mal einen Hafen gegeben.« »Weiter.« »Der Reporter arbeitete sich rund um die Halbinsel zu einem großen Komplex von Kais und Trockendocks gegenüber der Küste der früheren Grafschaft Lancashire vor. Es gab eine ganze Barackenstadt voll Menschen. Er nahm einen alten Mann vor seiner Tür auf und fragte ihn, warum er hier wohne, statt in einem Alterszentrum. Der Mann war sehr alt, aber seine Stimme klang gebildet. Er hatte offenkundig zu den Leuten mit Fachausbildung gehört. Er sagte, als Psychiater halte er es für richtiger, so lange wie möglich für sich selbst zu sorgen, und er rechne noch mit vielen Jahren.« »Und?« »Der Reporter fragte ihn nach seinem Namen. Er zögerte ein bißchen und meinte dann, es spiele eigentlich keine Rolle mehr. Damit könne niemand mehr etwas anfangen, und wenn doch, dann störe ihn das längst nicht mehr. Er hieß Hedgrove. Doktor Charles Hedgrove.« »Und?« »Das war einer der Namen auf meiner Liste. Hedgrove gehörte zu Weismans Gruppe.« »Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Er könnte schon tot sein.« »Es lohnt sich, das nachzuprüfen.« Sie hatten alle Flugschneisen hinter sich gelassen, und Meta ging auf eine Höhe von fünfundzwanzig Metern hinunter. Vor ihnen erhob sich die Anhöhe der Stadt, die an der Spitze des Vorgebirges entstanden war. Zwischen dem Schutt glitzerte Wasser in breiten Streifen. Das Meer holte sich das tiefliegende Land zurück. 35
Meta hatte ein Transparentbild bereit, das sie über die Automatikkarte legte. Sie arbeitete mit knappen, sicheren Bewegungen und brachte das Fahrzeug zum Stehen, um sich zu orientieren. Ein Birkenwäldchen, die Säule eines Funkfeuers am Ende der alten Küstenstraße, und Wirral City selbst – eine ferne, leuchtende Kuppel. »Wer hat das vorbereitet?« »Das Geographenbüro der Aktualitäten-GmbH.« »Man weiß also, wohin Sie wollen.« »Nur der Nachtdienst. Zwei oder drei Personen.« Der Wagen stellte sich bereits auf den neuen Kurs ein. Sie drückte die Automatiktaste, und er folgte der Route. Die Zeitscheibe zeigte 2305. Für Kanes eine bedeutungslose statistische Angabe. Von Lubins Besuch trennte ihn ein Lebensalter. Er hatte sich vom Wärmeventilator trocknen lassen. Plötzlich fiel ihm die Strahlerpistole in seinem Overall ein. Als er sie herausgezogen hatte, sagte er: »Haben Sie eine Ersatzladung dafür?« Das rief die Erinnerung an den Vorfall zurück, und Meta fröstelte, obwohl in der Kabine tropische Hitze herrschte. »Sie sagten doch, Sie brauchen sie nicht.« »Man kann seine Meinung ändern.« »Eine Ladung ist noch da.« »Das müßte genügen.« Sie flogen stumm weiter, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Unter ihnen erstreckte sich eine lange, verfallene Mole durch Salzsümpfe mit Inseln aus Bauschutt. Das Fahrzeug verarbeitete automatisch die Informationen seines Sonarstrahls und war auf fünfzig Meter Höhe gegangen, um über alle Hindernisse hinwegzukommen. Kanes lud die Waffe. Der Overall war durch das Salz steif geworden, was seine Laune nicht besserte. »Wenn wir es nicht sofort finden, kehren wir um. Man wird bei der Sperrstunde auf mich achten.« 36
»Wir finden ein Zimmer für Sie. Sie können sich von dort aus melden.« »Nein.« Er bot keine Erklärung an. Die Verbindung zu den Reids war ihm plötzlich unbequem. Er wünschte keine Gefälligkeiten von dieser Seite. Sie wollte etwas sagen, als das Fahrzeug nach unten ging. Unmittelbar vor ihnen zeigte sich eine Ansammlung dunkler, einstöckiger Gebäude – Unterkunft in der Wildnis. »Das Wort führe ich.« Kanes war ausgestiegen, bevor das Fahrzeug richtig auf den Kufen stand. Meta folgte ihm, und sie gingen durch eine schmale Gasse zwischen kleinen Steinhäusern. Fischernetze hingen an Stangen. Umgekippte Boote lagen auf dem Strand. Durchdringender Fischgeruch. Der Damm erweiterte sich zu einer dreieckigen Fläche. Es gab eine Hauptstraße und drei sie kreuzende Wege. Eine primitive Stadt für fünf- oder sechshundert Familien. Sie gingen bis zum Ende der Straße, wo einzelne Häuser in langer Reihe auf einem breiten Kai standen. Rostige Poller hatte man durch ein dickes Kabel verbunden, um einen Zaun zu schaffen, der unvorsichtige Wanderer vor dem Absturz in leere Docks warnte. Kein Mensch war zu sehen. Kanes ging zur nächstbesten Hütte, wo noch Licht brannte, und hämmerte an eine Tür aus Blech. Die Stimmen im Inneren verstummten. Er klopfte noch einmal. Man hörte Schritte, als jemand an die geschlossene Tür trat. »Was wollen Sie?« Es war eine Männerstimme, voll Argwohn. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« »Wer sind Sie?« Kanes sagte sich, daß das eine der Schlüsselfragen der menschlichen Situation war. Wer war er? Gestern hatte er eine Antwort gewußt. Jetzt war er seiner Sache nicht mehr so sicher. Ein Mörder, zum einen. Aber eine solche Antwort 37
konnte man einem nervösen Bewohner in dunkler Nacht nicht geben. »Aus Wirral City. Ich suche jemanden.« »Polizei?« »Nein, nicht von der Polizei.« Eine Kette wurde ausgehängt. Die Tür öffnete sich zehn Zentimeter, und im Spalt erschien ein bärtiges Gesicht. »Was gibt es?« »Können Sie mir sagen, ob hier noch ein Mann namens Hedgrove wohnt? Ein sehr alter Mann.« »Er wohnt hier.« »In diesem Haus?« »Nein. Oben am Kai. Im letzten Haus. Was wollen Sie denn alle von ihm?« »Alle?« »Vorhin hat schon jemand nach ihm gefragt. Das ist zwei Stunden her.« »Danke.« Keine Antwort. Die Tür wurde zugeworfen, die Kette vorgelegt. Eine Frauenstimme fragte schrill: »Was hat er gewollt?« Kanes war schon auf dem Weg. Hedgroves Haus, das letzte am Kai, hatte die bisher interessanteste Form. Es stand direkt am Zaun. Sechseckig, Durchmesser zehn Meter, aus gelben Ziegelsteinen, mit einer Schwelle aus Stein am Eingang, Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnten sie sogar eine eingemeißelte Inschrift lesen: ›Hafenmeister‹. Vor Jahrhunderten hatte das Haus als Büro für die Hafenaufsicht gedient. Hinter den Fenstern brannte Licht, aus dem Kamin kräuselte sich Rauch. Kanes hämmerte mehrmals an eine Holztür. Man hörte nichts, aber durch das heftige Klopfen öffnete sich die Tür lautlos. Er sah eine kleine, dunkle Diele, von der aus eine andere 38
Tür in ein kleines, beleuchtetes Zimmer führte. Er öffnete sie und trat ein. Eine Petroleumlampe, poliertes Messing mit langem Glaszylinder, stand auf dem Sims über einem offenen Kamin. An der rechten Seite führte eine Tür zur anderen Hälfte des Sechsecks. Links war Brennholz in einer Nische gestapelt. Regale an den Wänden zwischen den Fenstern waren mit Büchern gefüllt, ein Anblick, den er außerhalb von historischen Filmstreifen nicht erwartet hatte. In der Mitte des Raums stand ein massiver Holztisch mit zwei Stühlen. »Wo kann er sein?« fragte Meta. Kanes ging zu der anderen Tür und lauschte. Dann öffnete er sie und trat ein. Der Raum hatte die gleiche Größe und Form wie das Wohnzimmer und diente als Schlafraum. Frisch und sauber, die Wände makellos weiß, ein Holzfeuer im Kamin. Es gab kein Versteck. Dr. Charles Hedgrove war nicht zu Hause. Aber er konnte noch nicht lange fort sein. Meta war in das andere Zimmer zurückgegangen und rief: »Prosper, er war hier, oder jedenfalls irgend jemand.« In der Ecke neben der Diele enthielt ein hoher, offener Schrank eine kompakte Einbauküche: PetroleumSchnellkocher in einem Halter, Spülbecken, Kleinregale mit Utensilien, Raum für Lebensmittel. Auf einem Ausziehbrett stand ein Teller mit einer dicken Scheibe Brot und einem Stück Käse. Eine braune Steinguttasse war halb voll schwarzen Kaffees. Meta Reid hob sie hoch. »Schauen Sie. Abendessen fertig. Wie lange dauert es, bis Kaffee kalt wird?« »Eine Viertelstunde, vielleicht.« »Das Brot ist weich und frisch. In einem so warmen Raum würde es schnell austrocknen.« Kanes brach ein Stück davon ab und probierte es. »Schmeckt gut.« 39
»Das ist Beweismaterial. Sie müssen es sachlich betrachten.« »Nehmen Sie sich auch ein Stück.« »Wir könnten frischen Kaffee machen.« »Tun Sie das.« Das führte beinahe zu offener Meuterei, aber Kanes bemerkte nichts davon. Ohne den Blick zu beachten, der ihm folgte, trat er an den Kaminsims, spürte die Wärme des Feuers an seinen Schenkeln, starrte in die Glut. Dies war eine traditionelle Feuerstelle. Lebendiges, berührbares Feuer in der Mitte. Grünliche Flammen vom Salz im Holz; dunkles Zinnoberrot; alle möglichen Orangeschattierungen. Er starrte gebannt hinein, als sei das ein Tor, durch das er in eine andere Dimension schlüpfen konnte. »Hier ist der Kaffee, Mylord.« Er überhörte die Spitze. Sie standen vor dem Feuer und tranken. Es war, als hätten sie einen Zustand erreicht, in dem Reden überflüssig war. Im Ort begann ein Hund zu bellen. Kanes leerte seine Tasse und sagte: »Er scheint nicht zurückzukommen. Wir haben noch Zeit, vor der Sperrstunde in Wirral zu sein. Wir können wiederkommen, weil wir jetzt wissen, wo er wohnt.« »Ich habe das Gefühl, daß er überhaupt nicht wiederkommt«, sagte Meta zögernd. »Warum?« »Es ist nur ein Gefühl. Das überstürzte Weggehen. Er wollte gar nicht fort. Die Leute vorhin müssen ihn gezwungen haben, sie zu begleiten.« »Weil sie ihn beseitigen wollten.« »Der Gedanke liegt nahe.« »Was sie aber jederzeit in den vergangenen fünf Jahren hätten tun können, statt es bis auf heute zu verschieben, wenn wir ihn sprechen wollen.« »Sieht so aus.« »So ist es. Ihr Vater sollte die Kontakte der Nachtschicht im Geographenbüro überprüfen, sobald wir zurück sind.« 40
Draußen war es heller geworden. Der Mond beleuchtete eine phantastische Szenerie. Dunkle Schluchten der Dockgruben, groteskes Spinnennetz umgestürzter Kräne und Gerüste. Meta ging am Haus vorbei zum Pier. Er erhob sich zwanzig Meter aus dem von Wasseradern durchzogenen Schlammboden, verwandelte das sichere Haus in eine Zuflucht, Zuflucht am Rand eines Abgrunds. Sie kehrte um, trat auf eine verrostete Eisenplatte und spürte, wie sie kippte. Kanes, der ungeduldig an der Haustür wartete, sah, wie sie sich umdrehte und hörte ihren verklingenden Schrei, als sie vom Erdboden verschluckt wurde. Er war beinahe im selben Augenblick am Rand des Schachts, als sie unten ankam. Die kippende Platte hatte sich eingeklemmt, und er zog sie weg. Schwarze Wände, schlammbedeckt. An der gegenüberliegenden Wand Kerben zum Hinabsteigen. Meta Reid war nach dem ersten Schrei verstummt. Flutwasser im Schacht hatte ihren Sturz gedämpft. Sie mühte sich an die Oberfläche und wirbelte stinkenden Schlamm auf. Die Angst war so überwältigend, daß es keinen Gradmesser mehr dafür gab. Sie war so entsetzt, daß sie weder schreien noch sprechen konnte. Sie hatte in den Mauerblöcken eine tiefe Aushöhlung gefunden und krallte sich mit den Fingern fest, Kopf und Schultern über dem Wasser. Ein Alptraum ihrer Kindheit war wahr geworden. In einem dunklen Tunnel so gefangen zu sitzen, war das Schlimmste, was sie sich hatte vorstellen können. Ihr Alptraum hatte jedoch stets unterstellt, daß sie allein sein würde. Die steigende Flut hatte ihr Gesellschaft gebracht. Langsam trieb ein Leidensgenosse, mit dem Gesicht nach unten, auf sie zu. Dieser unermeßliche Schrecken löste die Spannung. Sie schrie. Sie schrie immer noch, als Kanes auf Höhe des Wasser41
spiegels war. Nachdem er gesehen hatte, was gegen ihren Rücken stieß, konnte er sie verstehen. Aber die Zeit drängte, und er mußte vorankommen. Nachdem er kurz überlegt hatte, schob er sich auf die andere Seite des Schachts hinüber und packte ihr Haar. Das will jeder, dachte sie bitter. Er war nicht besser als der verstorbene Jed. Sie hatte auch genug davon, sich von ihm sagen zu lassen, was sie tun sollte. Diesmal begriff sie jedoch, daß ihren eigenen Interessen gedient war. »Hier herüber, Meta. Da ist eine Leiter. Los.« Als sie zwei Sprossen hinaufgestiegen war, kehrte er um und sah sich die Leiche an. Es war hell genug, um zu erkennen, daß es sich um einen sehr alten Mann handelte. Groß und hager. Mondlicht schimmerte schwach auf Metall am linken Handgelenk. Eine Identitätsmarke. Derjenige, der ihn hineingeworfen hatte, war davon überzeugt gewesen, daß man ihn nie finden würde. Kanes löste die Marke vom Handgelenk und kletterte hinauf. Meta zog sich bereits über den Rand der Öffnung. Er hörte ihren Ausruf, als sie aus seinem Blickfeld verschwand, und hielt ihn für eine Reaktion der Freude über die Rettung. Als er sich über den Rand schwang, verharrte er auf Händen und Knien, wie ein verwirrter Hund. Ein Kreis umgab die Öffnung. Zwölf Männer, in gleichem Abstand. Von seinem Platz aus wirkte Meta wie ein glatter, in Schlamm gehüllter Delphin, immer noch kniend. Außerhalb des Rings stand ein Mann und hielt den Karabiner auf Kanes’ Stirn gerichtet. »Stehen Sie auf«, sagte er. »Langsam und vorsichtig. Vergessen Sie nicht, daß Sie meinetwegen da unten ruhig verfaulen könnten. Hol einen Eimer Wasser, Harry. Begieß sie tüchtig. Sie stinken.«
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3 Prosper Kanes richtete sich erschöpft auf und ließ die Arme schlaff herabhängen. Die Wirklichkeit war nur eine Funktion der Instrumente, mit denen sie gemessen wurde, sagte er sich. Eine Hundepfeife existierte trotz der Tatsache, daß man ihren Ton als Mensch nicht hören konnte. Vielleicht war nur das Krisenhafte echt und die klösterliche Ruhe seines Büros eine Sinnestäuschung. Ein Gedanke, der genauere Betrachtung verdiente. Es sah aber danach aus, daß er keine Zeit dazu haben würde. Metas rituelle Haltung trieb ihn zum Handeln. »Lassen Sie das Mädchen in Ruhe. Sie hat nichts getan. Wenn Sie Hedgrove suchen, er liegt unten.« Der Sprecher gab einem der Statisten im Ring mit dem Karabinerlauf einen Wink. »Schau nach, Carl.« Kanes, aus Schnulzenserien mit den Gebräuchen des gewalttätigen Lebens vertraut, hob die Hände bis zu den Schultern, um seine Friedfertigkeit zu beweisen, und ging zu Meta. Er spürte, wie sich der Karabiner auf seinen Hinterkopf richtete, als strömten dort psychokinetische Kraftlinien zusammen. Als er nah genug herankam, um Einzelheiten unterscheiden zu können, sah er, daß der Mann, der Meta an den Haaren gepackt hatte, die graue Kombination eines Arbeiters der ungeplanten Klasse trug. Schwere Halbstiefel mit Schaumsohle, Ledergürtel. Nur ein Gegenstand, der nicht zur üblichen Ausrüstung gehörte – eine alte Projektilpistole in der freien Hand. Rundes Gesicht. Jung. Verlegen. »Ich sorge dafür, daß sie keine Dummheiten macht«, sagte Kanes. Gleichzeitig packte er die Hand in ihrem Haar mit einem Griff, der sie brechen würde, wenn sich die Finger nicht öffneten. 43
Meta stand auf. Er legte den Arm um ihre Schultern und drehte sie herum. Der Mann mit dem Karabiner sagte: »Sie haben da allerhand riskiert, Mister. Tun Sie’s nicht wieder.« Willkommene Ablenkung meldete sich aus dem Schacht. Carl war zurückgekommen. »Er hat recht, Oskar. Unten liegt ein alter Mann. Es könnte Doktor Hedgrove sein.« »Das dürfte es bestätigen.« Kanes hatte das Armband in der Hand und warf es Oskar hinüber. »Das Mädchen ist hineingestürzt. Ich stieg hinunter, um sie herauszuholen, und wir sahen die Leiche. Ich habe ihm das abgenommen.« »Er könnte recht haben«, meinte Carl. »Es hätte keinen Sinn, hinunterzusteigen, um den alten Mann hineinzuwerfen. Außerdem hatte ich den Eindruck, daß er schon länger als ein paar Minuten im Wasser liegt.« Kanes begriff plötzlich, daß die Diskussion die Männer in ein anderes Licht rückte. Sie bestätigte zum einen, daß sie keine Sicherheitsbeamten waren. Der Tonfall verriet, daß sie Hedgrove beschützt hätten, wenn Gelegenheit dazu gewesen wäre. Es schien sich eher um eine Gruppe Freiwilliger zu handeln, die sich und ihresgleichen zu schützen suchten, alarmiert vielleicht durch eine Meldung über die ersten Besucher. Das bestätigte sich, als der Anführer die Waffe sinken ließ. Seine Stimme klang noch nicht freundlich, hatte aber etwas an Schärfe verloren. »Wer sind Sie und was wollen Sie hier?« »Wir sind aus Wirral City. Wir gehen Informationen über eine Affäre nach, die offensichtlich geheimgehalten werden soll. Ich heiße Kanes und arbeite als Fachkraft bei der Aktualitäten-GmbH. Das ist Miss Reid.« »Miss Reid, wie? Freier Status?« »Ja. Man sieht es ihr eher an, wenn sie sauber ist.« Das stumme Wesen, blitzende Zähne in der Schlammpac44
kung, hatte genug. Es schüttelte den schützenden Arm ab und trat zur Seite. Auch Meta hatte begriffen, daß es sich hier um eine Rotte von Proles handelte. »Mein Vater ist Direktor der Aktualitäten-GmbH.«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zu meinem Fahrzeug zurückhelfen würden.« Oskar wirkte müde. Er sagte zu seinem Nebenmann: »Hal. Du holst Hedgrove zusammen mit Larry heraus. Bringt die Abdeckung in Ordnung. Wir stellen fest, wer ihn da hineingestoßen hat und legen ihn den Leuten vor die Tür. Das würde ihm recht sein. Ein Zeugnis für die Behauptung, daß Mord ans Tageslicht will.« Er hob das Armband auf und wog es auf der flachen Hand. »Na gut. Rein mit Ihnen. Wir wollen Sie mal bei Licht besehen.. Aber sehen Sie zu, daß der Dreck wegkommt.« Harry, der mit einem verrosteten Eimer in den Kreis zurückgekehrt war, kippte ihn über dem kleineren Ziel aus. Meta verwandelte sich von Schwarz in Blaßgold. Ein Triumph für die Chemiker, die den Stoff ihres Cheong-sams gefertigt hatten. Sie rang nach Atem, fand aber doch die Richtung und traf mit der Schuhspitze Harrys Schienbein. Kanes fing den Eimer auf und wusch sich. Im Haus kehrten die Dinge in den Normalzustand zurück. Meta stand böse funkelnd am Feuer. Vier Männer hielten draußen Wache. Oskar Kreegan, der Anführer der Gruppe, war Techniker gewesen und hatte vor zehn Jahren den Bürgerrang verloren. Dies war eine von mehreren Gruppen, die sich die Aufgabe teilten, inoffiziell für Ordnung zu sorgen. Aus dem Ort war die Nachricht gekommen, daß Hedgrove in Gefahr sei, und sie hatten sich mit ihren Bodenfahrzeugen sehr beeilt, um festzustellen, was hier vorging. Es gab aber auch Andeutungen, daß mehr dahintersteckte. Sie gehörten außerdem zu einer größeren Organisation mit weitergesteckten Zielen. 45
Er sagte bedächtig: »Wer Hedgrove auch immer umgebracht hat, es waren nicht die Leute, die Sie aufzuhalten versuchten. Warum sollten sie das tun, wenn sie wußten, daß er hier nicht mehr gefunden werden konnte? Ich habe den Eindruck, daß Sie da in ein Wespennest gestochen haben. Amtliche Opposition, gut, das ist verständlich. Ich weiß, daß diese Weisman-Idee in irgendeiner Weise revolutionär war, damit würde man sich in den höchsten Kreisen nicht abfinden. Aber noch mindestens zwei andere Unternehmen, würde ich sagen, sind Ihnen auf der Spur. Wen kümmert es noch? Werden Sie weitermachen?« »Ich mache weiter«, antwortete Kanes. »Ich habe nicht damit angefangen, aber jetzt bin ich neugierig. Es muß etwas von Bedeutung sein, wenn es solche Gegnerschaft einbringt. Aber was machen wir jetzt? Doktor Hedgrove auf die Spur zu kommen, war ein Zufall. Er wird sich kaum wieder bieten.« Er sah Meta Reid an. »Außerdem brauche ich wahrscheinlich Hilfe.« »Gut«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Sehen Sie mich nicht so an. So dumm bin ich nicht. Ich weiß, daß wir allein nicht weiterkommen. Übrigens bin ich Ihrer Meinung. Ich weiß, daß es bei mir als Nebensache angefangen hat, aber jetzt möchte ich wissen, was sie veranlassen kann, einen Mann wie Doktor Hedgrove zu töten. Einen harmlosen, alten Mann, der still in seinem Haus lebt. Ziehen Sie hinzu, wen Sie wollen. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß jetzt nicht der rechte Zeitpunkt ist. Wenn Sie den Tag nicht in der Zelle beenden wollen, müssen Sie in knapp vierzehn Minuten zurück sein.« »Also gut«, sagte Kreegan. »Sie werden mich nicht finden. Ich setze mich mit Ihnen in Verbindung, falls ich vorankomme. Wir bleiben noch eine Weile hier und sehen uns um.« Meta schwieg auf dem Weg zum Fahrzeug. Im Ort waren alle Lichter erloschen. Es war, als habe sich die grausige Nachricht verbreitet, und die Bewohner hielten es für ange46
bracht, nicht auf sich aufmerksam zu machen. Es herrschte aber eine Atmosphäre der Wachsamkeit. Sie stiegen erleichtert durch die Luke in. die warme, vertraute Kabine. Auch in der Luft blieb sie stumm, als sie auf höchste Geschwindigkeit einstellte und Zeit zu gewinnen versuchte, bevor sie die überwachten Flugschneisen erreichte. Kanes lehnte sich zurück und überließ ihr die Arbeit. Mit einer halben Minute Frist setzte sie ihn am Eingang seines Schlafblocks ab. »Beschäftigungslos brauchten Sie nie zu sein«, meinte er. »Sie wären eine erstklassige Pilotin. Bis bald.« Er war durch die Tür getreten, als die Zeitscheibe in der Halle zu summen begann, und er hörte das Schloß hinter sich zuschnappen. Er hatte es geschafft, trug aber das Bild ihres Gesichts mit sich, wie sie es ihm zugewandt hatte, schwach beleuchtet von den Lampen des Armaturenbretts. Riesengroße Augen, dunkel und glänzend. Das Haar glatt an den Kopf geklebt. Eine seltsame Frau. Wie man es auch betrachten mochte, sie war zum Bestandteil seines Denkens geworden. Kanes öffnete die Augen. Er wußte, daß ihn nicht der Weckruf des Lautsprechers aus dem Schlaf gerissen hatte. Das düstere Licht am Fenster ließ vermuten, daß es noch geraume Zeit vor 0800 sein mußte. Er tastete nach der Zeitscheibe auf dem Tisch neben seinem Bett, als eine vertraute Stimme fragte: »Suchen Sie das?« Chef-Administrator Lubin löste sich von der Trennwand und hielt Kanes Metas Mini-Strahlerwaffe am Lauf hin. Kanes hatte seine Zeitscheibe gefunden. Es war 0635. Das Zeitschloß am Eingang schaltete um 0630 ab. Lubin hatte keine Minute vergeudet. Er hätte am liebsten nach der dargebotenen Waffe gegriffen und ein Loch in den Chef-Administrator gebohrt. Vielleicht sollte er genau das versuchen, aber die Ladung war ohne Zweifel entfernt worden. Das wäre ein Schwerverbrechen 47
gewesen. Er beachtete den Strahler nicht und sah Enttäuschung über Lubins spöttisches Gesicht huschen. »Woher haben Sie das? Sie wissen ja wohl, daß Sie keine Erlaubnis zum Tragen von Waffen haben? Sie sind schon wieder in Schwierigkeiten, Kanes. Sie haben nicht auf meinen guten Rat gehört.« »Was wollen Sie von mir, Administrator? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zur Sache kommen könnten.« »Also gut, Kanes, werden wir konkret. Wo sind Sie gestern nacht von 2200 bis zur Sperrstunde gewesen?« »Nur so unterwegs. Spazieren durch die Stadt. Ich bin rechtzeitig zur Sperrstunde zurückgekommen.« »Die Reid hat Sie hier kurz vor 2400 abgesetzt. Sie war an der Küste gewesen, wo sich allerhand getan hat, das Grundlage für eine weitere schwere Beschuldigung sein könnte.« »Sie hat mich an der Peripherie getroffen und mitgenommen. Ich hatte mich verspätet.« »Was wissen Sie über Doktor Charles Hedgrove?« »Hedgrove? Gar nichts. Wer ist das?« »Das ist nicht sehr klug. Er gehörte zum Weisman-Team. Die Sache, mit der Sie sich befaßt haben. Er wohnte in einem Prole-Dorf an der Küste, wohin Miss Reid gestern nacht flog, während Sie spazierengingen. Er ist tot. Man hat ihn heute früh am Eingang des Trans-Union-Elektronik-Blocks gefunden.« »Er muß sehr bekannt gewesen sein, wenn man ihn erkannt hat.« »Nicht besonders. Kinderleicht. Das hat er getragen.« Lubin zog Beweisstück B aus der Brusttasche und warf es aufs Bett. Kanes hob es auf und betrachtete es bei Licht. Es war tatsächlich Hedgroves Armband. Es fühlte sich wächsern an, als habe man es in Stearin getaucht. Lubin beobachtete ihn scharf und sagte: »Man hat es fixiert, damit keine Fingerabdrücke verwischt werden können. Die Ihrigen, zum Beispiel.« 48
»Was ich getan habe, wissen Sie schon. Und trotz ihrer Geschäftigkeit traue ich Meta Reid nicht zu, daß sie einen alten Mann umbringt.« »Umbringt? Wer sagt, daß er umgebracht worden ist? Aber Sie haben völlig recht. Er war tot und steif, Schlamm in den Lungenflügeln. Offenbar scheint er dort vom Kai gefallen zu sein. Mag sein, daß jemand nachgeholfen hat. Aber davon wissen Sie natürlich nichts?« »Nein. Davon weiß ich nichts.« Kanes begriff, daß seine Rolle in dem Dialog nur darin bestand, Aufhänger für ein zu entwickelndes Thema zu liefern. »Die Sachen, die Sie gestern nacht getragen haben, Kanes, sind ziemlich mitgenommen. Mehr als einmal naß und trocken, würde ich sagen. Ihr Spaziergang hat Sie durch ungewöhnliche Gegenden geführt. Gegenden mit Schlamm, wie er bei Hedgrove gefunden wurde.« »Und?« »Spuren davon befinden sich auch in Miss Reids Fahrzeug. Reden wir offen, Kanes.« Lubin trat ans Fenster, und Kanes nützte die Gelegenheit, um aufzustehen. Er fühlte sich immer noch im Nachteil, zog einen Tagesanzug heraus und kleidete sich an. »Na gut«, fuhr Lubin fort. »Wir haben Zeit genug. Sie werden schließlich doch reden. Packen Sie einen kleinen Koffer, Kanes, Sie verlassen dieses Zuhause für einige Zeit. Wie lange, hängt davon ab, wie Sie mitarbeiten.« »Ich rufe den Sektor-Advokaten an und fordere ihn auf, sich die Anklageschrift genau anzusehen.« Er war noch einen halben Schritt vom TV-Gerät entfernt, die Hand nach der Taste ausgestreckt, als sich der Raum schlagartig mit Polizei füllte, so, als hätte Lubin an Aladins Wunderlampe gerieben. Bei genauer Zählung waren es eigentlich nur zwei Mann. Lubin hatte sie zweifellos an der offenen Tür warten lassen, aber in dem engen Raum schienen es beim ersten Eindruck 49
mehr zu sein. Kaltes Metall schnappte um sein ausgestrecktes Handgelenk, ein zweiter Bewacher stieß ihm einen Karabiner in die Brust. »Das wird nicht möglich sein«, meinte Lubin. »Ich nehme Sie unter Klausel G fest. In diesem Stadium dürfte es nicht im öffentlichen Interesse liegen, Sie mit jemandem sprechen zu lassen.« »Bei der Aktualitäten-GmbH. wird man wissen wollen, wo ich bin.« »Davon wäre ich nicht so überzeugt. Das sind Realisten. Außerdem vergeude ich hier nur meine Zeit. Kommen Sie, Kanes. Ihre weitere Nützlichkeit für die Aktualitäten-GmbH. oder sonst jemanden wird immer mehr zur Nebensache.« Zwei Türen weiter ging Lee Franks, stets Frühaufsteher, über den Korridor zum Duschraum. Sein verblüffter Blick erkannte die Bedeutung der Eskorte, und er huschte wie ein Kaninchen zu seinem Bau zurück. Kanes sagte: »Guten Morgen, Lee« zu dem verschwindenden breiten Rücken, und das Ausbleiben einer Antwort stellte klar, daß hier ein braver Bürger nichts wissen wollte. Lubin, der nie versäumte, sich wichtig zu machen, hielt die Kolonne auf, damit Kanes den Dialog hören konnte. Er beugte sich in den Raum und las den Namen von der Plakette ab. »Lee Franks. Das war Pech für Sie, Mr, Franks. Sie könnten einen falschen Eindruck gewonnen haben. Sie könnten, zum Beispiel, auf den Gedanken gekommen sein, daß wir jemanden, den Sie kennen, in Gewahrsam nehmen. Ich möchte nicht, daß Ihnen ein solcher Fehler unterläuft.« Franks’ großes Mondgesicht zeigte offenes Entsetzen darüber, daß ihn jemand für so dumm halten könnte. »Nein, nein, natürlich nicht, Chef-Administrator. Ich habe keine Ahnung, was Sie hier tun, und ich will es auch nicht wissen. Mit mir hat das nichts zu tun.« »Genau so ist es, Franks. Freut mich, daß Sie so intelligent sind. Sie sind nämlich der einzige, der schon auf ist. Wenn es 50
Rückfragen oder Meldungen an den Sektor-Advokaten geben sollte, wüßte ich sofort, wer üble Gerüchte ausstreut, nicht wahr?« »Ich werde nichts sagen.« »Halten Sie sich daran. Und wenn geredet wird, nichts von weiser Miene und Andeutungen, daß mehr dahinterstecke, als man ahne, und daß Sie allerhand erzählen könnten, wenn Sie nur wollten. Sie verstehen?« Kanes spürte einen Augenblick lang Bewunderung für Lubin. Das war angewandte Psychologie. Er mußte den eulenhaften Franks auf den ersten Blick richtig eingeschätzt haben. Es war qualvoll für Franks, auf Klatsch verzichten zu müssen, aber die Angst um seine eigene Haut mochte den Ausschlag geben. Stan Padstow war nicht in seiner Loge. Man hatte ihn entweder aufgefordert, sich zurückzuziehen, oder er hatte die Sicherheitsbeamten bemerkt und klug beschlossen, nichts Böses zu sehen. Vor einer Woche wäre das gewesen, als reiße man eine Seeanemone vom Haus eines Einsiedlerkrebses. Nach den separatistischen Taten der vergangenen Tage kam es Kanes völlig unpersönlich vor, als habe er keine besonderen Bindungen. Trotzdem dachte er darüber nach. Fünf Jahre in diesem Block. Er kannte jeden einzelnen Bewohner beim Namen. Dreihundert Bekannte, von denen ein halbes Dutzend als Freunde gelten konnte. Ein bequemer, anonymer Hintergrund. Nun gehörte er nicht mehr dazu, und niemand würde davon etwas wissen wollen. Franks drückte nur aus, was die anderen ebenso handhaben würden. Er selbst war genauso schuldig. Im vergangenen Jahr war es Geof Merton von Etage 6 gewesen. Beim Abendessen ganz normal dabei, beim Frühstück verschwunden. Nicht mehr gesehen, und ein deutlicher Wink über fünf Ecken, daß es ungesund sein könnte, sich darum zu bekümmern. 51
Ein feiner Kerl, Merton. In der Klasse ›Freunde‹. Was hatte er dagegen unternommen? Gar nichts. Es als Teil des Systems hingenommen, als Teil des Preises für Sicherheit und soziale Stabilität. Dankbar dafür, daß ihn sein Befähigungsnachweis in das oberste Drittel der Meritokratie einstufte, nicht bereit, seine Einstufung aufs Spiel zu setzen, indem er protestierte. Aber daran trug er nicht allein die Schuld. Die Schulung im Lauf der Jahre hatte diese Einstellung gefördert. Gehirnwäsche, bis man hinnahm, daß ›alles, was ist, richtig ist‹. Ein zu hoher Preis. Alles, was persönliche Beziehungen im Namen eines Gruppenwertsystems bekämpfte, mußte falsch sein. Wenn man es genau nahm, war die Loyalität zwischen Einzelpersonen das einzig Entscheidende. Lubin, der hinter ihm saß, sagte: »Sie sind sehr still, Kanes. Hoffentlich überlegen Sie sich, was ich gesagt habe. Sie stehen jetzt ganz allein. Kein Mensch wird einen Finger rühren, um Ihnen zu helfen.« »Und das finden Sie gut?« fragte Kanes. »Weder gut noch schlecht, Kanes. Es ist so. Wie lange ist es her, seit Sie eine SA eins hatten?« »Klingt großartig. Sauber, elegant. Wie ein Augentest oder sonst etwas Sinnvolles. Sprechen Sie es ruhig aus. Soziale Anpassung eins. Selbst das klingt nicht schlecht. Wer möchte etwas anderes als optimal angepaßt sein? Kommen Sie zum Kern. Genaue Messung aller Einstellungen. Beziehungen im Lebensraum. Gedanken über die Arbeit, die man zu leisten hat. Einstellung zur Staatsmaschinerie in jeder Abteilung. Und die Korrektursitzungen, die jeden Rückschritt zur normalen Kritikfähigkeit unterbinden.« »Normale Kritik? Was ist normale Kritik? Sie sind in schlechter Verfassung, Kanes, Sie haben das System auf den Kopf gestellt. Die ganze Kompanie ist außer Tritt, nur unser Charlie nicht. Ich kann das ja aus Ihrem Persönlichkeitsprofil herauslesen. Ende einer Periode, würde ich sagen. Sie sind 52
schlicht ein medizinischer Fall. Der psychiatrische Flügel wird Sie schnell wieder in Form bringen. Ob man Sie als geeignet für die Rückkehr in den Fachstatus betrachtet, ist eine andere Sache. Es wäre nützlich, wenn Sie uns klarmachen könnten, daß Sie selbst bestrebt sind, alles wieder ins Lot zu bringen.« »Was ins Lot zu bringen, verdammt noch mal? Ich habe noch nichts getan.« »Wenn Sie das nicht begreifen, kann ich Ihnen nicht helfen. Es sieht so aus, als sollten die Mediziner als erste Zugriff haben.« Das Polizeifahrzeug hatte den Sektor K verlassen und fegte in der für Notfälle vorgesehenen Flugschneise über das Stadtzentrum hinweg. Reinigungsgruppen hatten die Morgenarbeit beendet, und es war ein eindrucksvolles Bild in schimmerndem, vielfarbigem Mosaik. Ohne Menschen erkannte man das Gesamtbild: eine riesige, flache Schale mit Wappenschildern in den vier Quadranten. Die Wappen der alten Städte des Gebietes, die verrottet waren und ihre Identität an Wirral City weitergegeben hatten. Gelbe Garben, Füllhörner, Schiffe und himmelblaue, stilisierte Wellen. Springbrunnen, halbmondförmige Rasenflächen. Strenge, abgezirkelte Alleen, um die Wuchtigkeit der immensen, hochragenden Blocks an der Peripherie zu mindern. Das Herz einer Stadt. Atrophiert. Tot wie ein gebrochener Ast. Kanes war in seine Gedanken vertieft und bemerkte nur undeutlich, daß das Fahrzeug den zentral gelegenen Sicherheitsblock umflog. Drei Blocks weiter sanken sie herab. Der Parkraum trug eine kleine, bescheidene Plakette: ›Regierung der Westlichen Hemisphäre. Region Nordwest.‹ In all seinen Jahren in der Stadt hatte er sie noch nie bemerkt. Sie glitten eine grell beleuchtete Rampe hinunter und setzten auf einem weißgefliesten Kai auf. Für Wirral City hatte er aufgehört, ein Bürger zu sein. Hier galt nur das Wort der Zentralregierung. 53
Kanes hatte keine Zeitscheibe, und in der kleinen, grauen Zelle gab es keine Fenster. Das Licht stammte von den Wänden. Ein schwaches Glühen, das ihm das Ausmaß seines Reiches zeigte. Diesmal war es ein stabiles Bild, und es erlaubte seinem schmerzenden Gehirn, ein Bezugsnetz zu sehen, auf dem sich ein System erbauen ließ. Er konnte nicht sagen, wie lange er sich in einer ständig sich wandelnden Umgebung befunden hatte, die jeden Versuch zu klarem Denken unterband. Farbwechsel, Formwechsel – manchmal waren die Wände konvex gewesen, manchmal konkav. Einmal hatte er sich in einem schmalen, rechteckigen Raum befunden, die blutrot pulsierende Decke nur Zentimeter vom Gesicht entfernt. Eingelullt in ein falsches Gefühl der Sicherheit, schloß er die Augen. Brennender Schmerz schoß durch jeden Nerv, so daß er sich als glühendes Filigran feinster Drähte sehen konnte. Ein illuminierter Mensch. Nicht mehr lange, und er würde aufgeben müssen. Eigensinnig hatte er die Veränderungen bekämpft, die sein Gefühl, ein Wesen in einem rationalen Plan zu sein, zu zerstören versucht hatten. Man entferne jeden Bezugspunkt, und der Mensch beginnt einen Amoklauf zur Selbstzerstörung. Sie präparierten ihn für die nächste Sitzung mit Lubin. Nun, sie hatten gute Arbeit geleistet. Er sah die Decke auf sich herabkommen und biß tief in die Unterlippe, um einen Schrei zu unterdrücken. Als sie wieder an ihren Platz zurückkehrte, fragte er sich dumpf, was sie als nächstes probieren würden. Aber der Raum wurde in ein Rechteck mit geraden Wänden verwandelt, eine Veränderung, die er aus bekannten Kriterien akzeptieren konnte. Er war aber schon zu argwöhnisch, um sich noch bewegen zu wollen. Er lag immer noch flach auf dem Rücken, den Polystyrol-Bezug der Liege warm an der nackten Haut, als sich eine Blende öffnete und er in den weißgefliesten Korridor hinaussehen konnte, durch den er bereits zweimal gegangen war. 54
Vorsichtig hob Kanes den Kopf und sah einen Bewacher in blaugrauer Kombination durch die Öffnung treten. Trotz des Fehlens aller Bezugspunkte kam es ihm so vor, als könne diese Sitzung nicht sehr lange gedauert haben. Vielleicht gab es jetzt erneut den Anschluß von Elektroden für die Wirkungssteigerung der Nervenspritzen, die man als korrigierende Reizmittel gegeben hatte. Der Mann trug aber Kleidung über dem Arm und bückte sich, um am Fuß der Konturenliege Hebel zu betätigen. Kanes spürte, wie sich die Fesseln lösten und er aufstehen konnte. Kanes erkannte seine eigene Tunika aus Metallstoff und die weißen Leinenschuhe, die er vor einem Lebensalter angezogen hatte, als er von Lubin abgeholt worden war. Schon das Angekleidetsein war ein großer Gewinn an Selbstsicherheit. Vorher hatte er nackt durch den kalten Korridor gehen müssen, als schlichtes, zweibeiniges Tier, ohne Identität. Vor dem Verhörraum blieb er automatisch stehen und spürte einen Stoß im Rücken. »Weiter.« Es stand also etwas anderes auf dem Programm. Er wußte bereits undeutlich, daß er Lubin das meiste von dem, was er wissen wollte, erzählt hatte. Er konnte sich erinnern, seine eigene Stimme gehört zu haben, als seien seine Ohren ganz weit vom Mund entfernt, während er das Haus beschrieb, wo Hedgrove gelebt, und den Schacht schilderte, wo man seine Leiche gefunden hatte. Sie kamen zu einer Rampe. Fünf Meter hinauf. Links. Wieder fünf Meter. Noch einmal links ab. In einen Liftkäfig. Er hatte keine Erinnerung, diese Fahrt nach oben schon einmal gemacht zu haben. Eine volle Minute stumm, dann waren sie in Dachwohnungshöhe. Auf der Steuertafel stand: ›Regionalkommissar RWH‹. Teppiche unter seinen empfindlichen Sohlen. Er versuchte sich zu erinnern, ob er ihnen von dem Abfang-Flugboot er55
zählt hatte, das in der Flußmündung gesunken war. Nein. Bestimmt nicht. Kanes versuchte den Gedanken beiseite zu schieben. Es war ein privater Kern, um den herum er wieder aufbauen konnte. Er würde sich daran klammern, bis man ihn auseinandernahm. Jetzt befanden sie sich in einem großen, ovalen Raum mit einer gewölbten Wand von totaler Durchsichtigkeit mit Panorama-Ausblick auf die Stadt. Wärme von der Sonne. Vielleicht Nachmittag. Eine Zeitscheibe an der anderen Wand bestätigte es. 1415 Uhr. Zwei Männer an dem langen, grauen Konsolenschreibtisch. Lubin und ein grauhaariger, hagerer Mann, der die Konversation mit einem: ›Setzen Sie sich, Mr. Kanes‹ eröffnete. Neutral. So, als sei man mit ihm fertig. Eine Plakette am Konsolenschreibtisch verkündete: ›Richter K. Burslam. Regionalkommissar.‹ Seine Stimme war dünn und schrill, für das Durcheinander eines Verhörs nicht geeignet. »Chef-Administrator Lubin erklärt mir, daß Sie seinen Rat mißachtet haben. Vielleicht verstehen Sie besser, wenn die Weisung von mir kommt. Die Affäre, für die Sie sich interessieren, ist auf Regierungsebene unterdrückt worden. Nicht leichthin, Mr. Kanes, nicht leichthin. Aus dem zunächst von der Regierung unterstützten Forschungsvorhaben ergaben sich ernste Gefahren für das Gemeinschaftsgefüge. Es war so gefährlich, daß sämtliche Aufzeichnungen gelöscht worden sind. Der Zufall, der die Sache zu Ihrer Kenntnis gebracht hat, war statistisch nicht vorhersehbar. Es ist sehr bedauerlich. Sie müssen das Versprechen abgeben, daß Sie Ihre Nachforschungen nicht fortsetzen.« Sehr gewandt. Keinerlei Übereinstimmung mit der Behandlung, die Kanes bisher widerfahren war. Aber Burslam stand ja auch über den Dingen. Er konnte sich weltmännische Haltung leisten. Trotzdem wußte er, was im Keller vorgefallen war. Doppelter Moralkodex. Polirede. 56
»Angenommen, ich kann ein solches Versprechen nicht abgeben?« sagte Kanes. »Ich glaube, Sie werden es tun, Mr. Kanes. Sie werden es tun, wenn Sie die Sache genau betrachten. Sie haben außer der Befriedigung Ihrer Neugier nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren, einschließlich Ihres Lebens.« »Im Gesetz ist keine Todesstrafe vorgesehen.« »Halten wir uns nicht mit technischen Formalitäten auf, Mr. Kanes. Sie haben sich außerhalb des Schutzbereichs der Gesetze gestellt. Was kann es für Sie eine Rolle spielen, ob Ihre Beseitigung gesetzlich gedeckt ist oder nicht? Sie sind trotzdem tot.« Es entsprach der Wahrheit. Natürlich. Vielleicht würde er sich dazu bequemen müssen. Aber zunächst konnte er immer noch lavieren. Plötzlich fiel ihm ein, daß dies alles nicht nötig war, wenn nicht etwas Neues geschehen sein mußte. Lubin hätte weitermachen können, und er mußte gewußt haben, daß Kanes dem Zusammenbruch nahe war. »Ich werde es mir gründlich überlegen.« »Tun Sie das, Mr. Kanes. Tun Sie das. Ich hoffe, daß Ihre Überlegungen Sie zu einer vernünftigen Einstellung führen. Es wäre, zum Beispiel, nicht ratsam für Sie, zuviel von dem zu erzählen, was Sie in den vergangenen beiden Tagen gemacht haben.« Zwei Tage also. Es war ihm viel länger vorgekommen. Kanes hätte Burslam auch geglaubt, wenn er von einer Woche gesprochen hätte. Es blieb einige Zeit still. »Wollen Sie mit einem Wagen zurückgebracht werden oder gehen Sie lieber zu Fuß?« fragte Lubin schließlich. »Zurückgebracht?« »Ja, Sie können gehen.« »Sie glauben mir also?? Es war nichts dahinter?« »Das hat Administrator Lubin nicht gesagt«, erklärte Burslam. »Aber man hat sich für Sie eingesetzt. Auf sehr hoher 57
Ebene. Auf wirklich hoher Ebene. Bilden Sie sich aber nicht ein, daß das ein zweites Mal vorkommt. Hoffen wir, daß nichts sonst ans Licht kommt, das erneut Anlaß für eine Untersuchung sein könnte.« Kanes hatte den Gehweg für sich und wanderte langsam dahin. Er blieb stehen, um sich der Sonne zuzuwenden, wo der hohe, spinnwebartige Gehweg den Platz umrundete. Schatten von Flugwagen, auf der niedrigsten Schneise nur zehn Meter hoch, huschten über seine Hände auf dem Geländer. Geschäftige Menschen, die den Platz überquerten oder in Gruppen an den Springbrunnen standen. Er mußte völlig verblödet sein, sich außerhalb der Gemeinschaft zu stellen. Das System funktionierte. Dort unten trug niemand ein Protestplakat. Nahrung, Unterkunft, Sicherheit, das alles hatten sie. Vorausgesetzt, sie stellten keine peinlichen Fragen. Das war das Problem. Aber er hatte sich bis vor kurzem auch keine gestellt, und das war von außen ausgelöst worden. Ein schwarzhaariges Mädchen im gelben Kaftan ging unter ihm vorbei, und er erinnerte sich an Meta Reid. Sie mußte natürlich versucht haben, ihn zu erreichen, und hatte ihren Vater veranlaßt, vorzufühlen. Auf jeden Fall mußte er ihr sagen, daß Lubin wußte, wo sie gewesen war. Padstows verblüfftes Gesicht in der Hausmeisterloge bewies, daß man nicht mit seiner Rückkehr gerechnet hatte. »Sind Mitteilungen für mich da, Stan?« fragte Kanes. »Nein, Mr. Kanes. Nein, gar nichts. Äh. Da wäre noch etwas, Mr. Kanes.« »Ja?« »Tja, sehen Sie, man hat mir gesagt, daß Ihr Zimmer einige Zeit leer bleibt. Ich habe Ihre Sachen gepackt. Sie sind unten im Keller. Ich dachte, Sie lassen sie abholen.« »Ich bin wieder da. Schicken Sie sie ’rauf.« 58
»Gut, Mr. Kanes. Sofort.« Während Kanes darauf wartete, duschte er sich und öffnete danach sein TV-Gerät, um eine Außenleitung zu wählen. Metas Rufzahl stand noch immer auf dem Notizblock, der einzige Hinweis darauf, daß das Zimmer jemals ihm gehört hatte. Er beobachtete auf dem Bildschirm die Schritte, die der Roboter unternahm, um die Verbindung herzustellen, und freute sich plötzlich auf das Wiedersehen. Das Gesicht, das er dann vor sich sah, war jedoch streng, blaß und von blonden Haaren eingerahmt. »Wen möchten Sie sprechen?« »Miss Reid.« »Miss Reid ist nicht hier.« »Können Sie mir sagen, wann sie zurückkommt?« »Erst in einigen Wochen. Sie ist zu einer Tagung nach Villeneuve geflogen.« »Haben Sie ihre Rufzahl?« »Wer sind Sie?« »Kanes. Prosper Kanes. Sie hat mir vielleicht eine Nachricht hinterlassen.« »Nein, keine Nachricht, Mr. Kanes, und ich soll Sie bitten, nicht den Versuch zu unternehmen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.« »Hat sie das selbst gesagt?« »Ja.« So war das also. Der Alarm war überall gegeben worden. Taktischer Rückzug in fremde Länder. Kanes wählte erneut. Die Operation in der AktualitätenZentrale, ein rothaariges, hübsches Mädchen, das ihn gut kannte, verbannte ein berufsmäßiges Lächeln. Der Reklamecharme hörte bei Verbrechern auf. Niemand konnte sie ganz eingeweiht haben, aber die Flüsterpropaganda verbreitete dergleichen Dinge sehr schnell. »Linda, nett, Ihr Lächeln zu sehen«, sagte er. »Geben Sie mir Administrator Naseby.« 59
Nach einer Pause präsentierte sie ihm auf dem Bildschirm einen Werbespruch: ›Die Aktualitäten-GmbH. bringt Ihnen furchtlose Kommentare von allen Orten der Erde.‹ Nasebys rundes, glattes Gesicht zeigte kindliche Unschuld. »Ah, Kanes, gut, daß Sie sich melden. Ich habe die Mitteilung bekommen, daß Sie nicht zu uns zurückkehren. Sie haben hier doch nichts mehr abzuholen, nicht? Ihre Krediterklärung ist unterwegs, und selbstverständlich beziehen Sie zwei Drittel Ihres Gehalts weiter, bis Sie anderswo unterkommen. Ich nehme an, daß Sie der Arbeitsausschuß bald verständigen wird. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Hinter der freundlichen Maske sah man die Angst lauern. Wie würde die Reaktion ausfallen, wenn er aufgefordert würde, die Sache auszukämpfen? Den Kopf riskieren und erklären, daß er keine Fachkraft hergebe, die beruflich keinerlei Grund zur Beanstandung gegeben hatte? Laß gut sein. Dabei würde nichts herauskommen. Kanes sagte gleichmütig: »Nichts, Administrator. Außer zum Fenster hinausspringen. Aber bemühen Sie sich nicht.« Kanes schaltete ab und schloß das Gerät. Ein leises Zischen seiner Rohrpostanlage lieferte neuen Stoff zum Nachdenken. Zwei Mitteilungen; eine vom Arbeitsausschuß, die andere vom Medizentrum Sektor K. Man verlor keine Zeit, ihn wieder irgendwo einzureihen. Zuerst spielte er die Nachricht des Arbeitsausschusses ab. Eine männliche Stimme sagte: »Prosper Kanes. Fachkraft Stufe 4, Sie werden aufgefordert, am 19. August um 0900 Uhr zu einem Gespräch über Umschulung und Neueinsatz im Zimmer 219 E, Etage elf, zu erscheinen. Beglaubigt: Administrator Moston, 18. August 1435 Uhr.« Die zweite Nachricht wurde von einer weichen Frauenstimme vorgetragen und hörte sich wie eine Einladung zu einem psychedelischen Trip auf gemeinsamem Sofa an. »Prosper Kanes. Fachkraft Stufe 4. Bitte, kommen Sie am 60
19. August, 1100 Uhr, zur Klinik für Sozialtherapie, Doktor Agres Merryweather. Bringen Sie einen leichten Trainingsanzug und Schaumschuhe mit. Die erste Sitzung wird dreißig Minuten dauern.« Morgen war also ein arbeitsreicher Tag. Seine Verbindung zur Welt war noch nicht unterbrochen. Das TV-Gerät summte, und Stan Padstow sagte mißbilligend: »Mr. Kanes, hier ist ein Mann, der Sie sprechen möchte. Er will seinen Namen nicht nennen.« »Lassen Sie ihn ’rein, ich spreche mit ihm.« Es gab eine kurze Pause, als Padstow den Besucher in seine Loge treten ließ. Das Gesicht, das auf dem Bildschirm erschien, war ausdruckslos. Oskar Kreegan sagte: »Mr. Kanes, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
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4 Während Kanes auf seinen Besucher wartete, stellte er sich vor, daß Padstow auf eigene Faust Meldung machen würde. Es gab keinen Zweifel daran, daß Lubin aufs genaueste unterrichtet werden würde. Er holte Kreegan am Lift ab und führte ihn in den Duschraum. Beim Brausen des Wassers mußte das Abhörgerät schon sehr gut sein. »So wohnen also Fachkräfte«, sagte Kreegan. »Bekommen Sie denn kein Zimmer?« »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und verschwinden Sie schnell. Ich stehe auf der schwarzen Liste. In drei Minuten wird man auch Sie schnappen.« »So steht es? Nach der Geschichte mit Hedgrove?« »Ja.« »Na gut. Ich bin selbst hergekommen, um Ihre Reaktion einzuschätzen. Ich habe Hedgroves Haus durchsucht. Es war nicht viel zu finden, aber er stand immer noch in Verbindung mit einem Wissenschaftler namens Gilmore. Sind Sie interessiert?« »Ich nütze Ihnen nichts«, sagte Kanes bitter. »Jeder Schritt, den ich mir erlaube, führt mich in eine Zelle zurück, und zwar endgültig.« »Sie sind eingesperrt gewesen?« »Zwei Tage. Es kam mir länger vor.« »Überlegen Sie es sich. Sie können mich am Lebensmitteldepot im Bezirk Newton erreichen. Vielleicht können wir Ihnen helfen. Verlangen Sie eine Normalration.« »Aber ich habe doch keine Karte. Ich esse hier.« »Das weiß ich. Zeigen Sie Ihre Kreditscheibe vor. Abgemacht? Achten Sie darauf, daß Sie zu Linda kommen. Eine Rothaarige. Sie können sie nicht verfehlen. Sie steht von 1600 Uhr bis Schluß am Schalter.« 62
»Wenn ich mich dazu entschließe.« »Das ist allein Ihre Entscheidung. Ich verschwinde.« Kreegan wirkte in der schwarzen Kombination eines Wartungstechnikers massiv und hartgesotten. Das war nützlich. Damit konnte er in der ganzen Stadt erscheinen, ohne Aufsehen zu erregen. Kanes sah beinahe mit Bedauern seinen Rücken um die Ecke verschwinden. In seiner jetzigen Stimmung war der leere Schlafblock nicht die richtige Umgebung. Als seine beiden Koffer eintrafen, lautlos auf Padstows Karren herangerollt, ließ er sie am Boden stehen. Es kam ihm plötzlich sinnlos vor, in dieser sterilen Ecke sein Reich aufzubauen. Trotz der Jahre, die er hier verbracht hatte, fühlte er, daß er nicht mehr hergehörte. Eigentlich nirgendwohin. Lubin hatte es geschafft, ihm die Orientierung ganz zu nehmen. Oder nur einen Prozeß fortgesetzt, der schon seit geraumer Zeit ablief und beim Countdown angelangt war, als Reid um die Weisman-Information gebeten hatte? So oder so, eine Umkehr gab es nicht. Man konnte die biologische Uhr nicht zurückdrehen. Kanes war sich nicht bewußt, eine Entscheidung getroffen zu haben, aber er bemerkte plötzlich, daß er sein Zimmer verließ. Er bewegte die Schultern und spürte den glatten Metallstoff an der Haut. Wenn man es genau nahm, hatte er nur sich selbst. Ein Mann konnte aus seiner Umgebung keine Identität beziehen. Als er im Lift hinunterfuhr, kam es ihm vor, als seien die langen Korridore hinter ihm zerschmolzen und verschwunden. Körperlos. Alles, was er besaß, war sein Verstand, sein Bewußtsein. Ich fühle, also bin ich. Und selbst Sinneseindrücke ließen sich manipulieren. Eines versprach er sich: Er würde sich nicht einreden lassen, daß man die Voraussetzungen der existierenden Gesellschaftsform hinnehmen mußte. Weil sie vorhanden war, hieß doch noch nicht, daß sie vorhanden sein mußte. An der Loge streckte Padstow den Kopf heraus, eine ge63
wisse Ängstlichkeit im Blick. Kanes war überzeugt davon, daß sein Besucher gemeldet worden war. »Gehen Sie wieder weg, Mr. Kanes?« »Ja.« »Ich lösche Ihr Namensschild. Irgendeine Zeit?« »Nein. Keine Zeit.« Auf der großen Namenstafel erschien bei seinem Kästchen ein leeres, leuchtendes Viereck. Kommunikation, der Knotenpunkt aller Kultur. Sogar Negatives war ein Signal. Er würde zu Fuß gehen müssen. Wenn er an den Transportkiosken seine Kreditscheibe benützte, führte er Lubin auf seine Spur. Es gab etwas, was er vorher tun mußte. Das Zentralarchiv würde ihm Auskunft geben. Er ging mit schnellen Schritten zum Stadtzentrum und betrat das Archiv durch die Empfangshalle im Erdgeschoß. Zu dieser Tageszeit war sie, wie er erwartet hatte, voll von Studenten. Er wartete auf eine Zelle und konnte nach fünf Minuten eintreten, wo es noch schwach nach der kleinen Blondine mit einem Stapel von Magnetbändern roch. Sie eilte zu einer Akustikhaube, um sich an die Quelle allen Wissens anzuschließen. Er wählte die Transportregistrierung und gab eine Bitte um Identitätsfeststellung für HF/129/W/06 durch. Er mußte eine halbe Minute warten und stellte fest, daß ihn der Duft an Meta Reid erinnerte. Eine seltsame Frau. Woher konnte man je wissen, ob man den Kontakt zu einem anderen Menschen hergestellt hatte? Eine Roboterstimme sagte: »Fahrzeugidentifizierung. Registrierung der Schiffsserie für West-Metalle, AllzweckTender. Für Schutzbewaffnung zugelassen.« Trans-Union-Elektronik und West-Metalle. Beide daran interessiert, den Grabstein fest auf Weismans Brust zu belassen. Die letzten Überlebenden der übermächtigen Unternehmen, die durch das Machtvakuum der unsicheren Jahrzehnte zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Art Regierung aufrechter64
halten hatten. Immer noch stark genug, sich gegen die Bundesherrschaft zu wehren und beizubehalten, was auf eine Privatarmee hinauslief. Auch die Regierung der westlichen Hemisphäre wollte die Weisman-Idee begraben wissen. Ein Dreieck der Kräfte. Kanes schaute auf sein Handgelenk und entdeckte, daß er nicht einmal seine Zeitscheibe mitgenommen hatte. Ein großes Exemplar an der Wand orientierte ihn. 1430. Immer noch Zeit, bevor er handeln mußte, wenn er wirklich nach Newton ging. Unter der Uhr kreisten zwei riesige, glänzende Scheiben lautlos. Er beobachtete sie geraume Zeit. Mechanische Bewegung, wie die Zirkulation der Menschen in der Stadt. Aktion ohne Fortschritt. Er ging zur U-Bahn hinunter und kam im Museumskomplex wieder heraus. Eine Halle mit Ibo-Masken und Statuetten. Nickt einmal die sterile Umgebung konnte den grotesken Formen alle Energie nehmen. Glotzende Augäpfel, vorgeschobene Lippen, Narben. Der Putz eines nackten Volkes. Wild, ekstatisch. Einfache Träger für das männliche und weibliche Prinzip. Das Leben mochte für sie kurz und brutal sein, aber sie wußten, daß sie es lebten. Sie waren nicht vergraben wie Maulwürfe in einem Betonlabyrinth. Galerie um Galerie. Kanes war aufnahmebereit wie nie zuvor. Er lehnte lange Zeit in einer Besichtigungsnische und betrachtete die Nachbildung einer Grabstätte in Ur. Eine lange Rampe, gesäumt von Schilfmatten, und unten in der Grube die prunkhafte Begleitung, die ihrem Gottkönig froh ins Grabmal folgte. Höflinge, Tänzerinnen, Sklaven, Wachen; Hofdamen mit Ketten aus Gold, Lapislazuli und Karneol, gazellenzart; ein phantastischer Triumphwagen. Überall Gold. Kleine Tassen mit dem Narkotikum, das sie zu trinken pflegten, bevor die Erde sie von der Sonne trennte. Was für eine Haltung konnte sie veranlassen, damit einverstanden zu sein? Gehirnwäsche, damit geglaubt wurde, daß es so richtig 65
sei? Die Ibo-Phantasie war da ehrlicher. Eines schälte sich unübersehbar heraus: Man mußte außerhalb einer Gesellschaft stehen, um sie im richtigen Licht zu sehen. Ein Museum des dreißigsten Jahrhunderts würde Mühe haben, in der Jetztzeit etwas zu finden, was diesem Anblick entsprach. Eine Fachkraft, männlich, Junggeselle, Schlafblock Sektor K, zweiundzwanzigstes Jahrhundert, würde kaum zählen. Er hatte sich eine schlechte Zeit zum Geborenwerden ausgesucht. Aber das konnte jeder sagen. So weit es ihn betraf, kam es nur darauf an, was er mit seiner kurzen, bewußten Spanne anfing. Er war ein freier Mann. Irgendwo unter der Oberfläche seines Denkens hatte sich in einer tief unbewußten Schicht eine Entscheidung angebahnt. Voll ausgebildet wie Pallas Athene huschte sie am Zensor vorbei und tauchte ins Licht empor. Wie Athene war sie bis an die Zähne bewaffnet. Er würde zu Kreegan stoßen, Wirral City verlassen und auf jede nur mögliche Weise um das persönliche Überleben kämpfen. Als er die Empfangshalle wieder durchquerte, sah er überrascht, daß es schon 1600 Uhr war. Draußen wanderten viele Menschen durch den milden Sonnenschein. Er brauchte eine halbe Stunde, um sich durch die Hauptströme zu kämpfen, die die Menschenmassen zu den Schlafblöcken führten, dann hatte er die neue Stadt hinter sich. Die Gebäude hier waren kleiner. Man sah mehr vom Himmel. Zu Fuß sah man die Demarkationslinie deutlicher als sonst. Die Pflege und Wartung ließ hier zu wünschen übrig. Man verhinderte nur, daß die Häuser nicht auf die Straße stürzten. Newton war einförmig trist. Eine Reihe langer, rechteckiger, vierstöckiger Wohnblocks. Ziegel in verblaßtem Orange. Jeder Block mit einem gähnenden Bogengang, der zu einem Innenhof führte. Still. Nicht viele Kinder für so viele Wohnungen. Erklärbar. Die meisten, die gesetzlich ihren Bürgerstatus verloren, wurden sterilisiert. 66
Er fand das Lebensmitteldepot nach zwanzig Minuten, ein verkümmertes, zweistöckiges Gebäude aus blauen Kunststoffziegeln. Im Erdgeschoß keine Fenster, darüber nur kleine Sichtscheiben. In Zeiten von Unruhen konnte man den Bau als Bunker verwenden. Oder auch für den Fall, daß die erzürnten Proles von Newton auf den Gedanken kamen, Fleisch zu fordern. Es gab keine Schlange, aber ein ständiges Kommen und Gehen. Hauptsächlich Frauen. Die meisten trugen beim Verlassen des Gebäudes gleiche, gelbe Pakete. Ameisen auf dem Heimweg zum Haufen. Kreegan hatte recht. Linda war nicht zu übersehen. Größer als der Durchschnitt, mit einer Mähne flammenden, roten Haars, das die Fülle einer Allongeperücke hatte, stand sie am Ende einer langen Theke, die durch den ganzen Raum reichte. Kanes stellte sich an, schlurfte schrittweise voran und schaffte es schließlich. Er war sich der Tatsache bewußt, daß ihn seine Kleidung als Fremdling kennzeichnete. »Normalration.« »Karte?« Eine volle, tiefe Stimme. Sie hatte eine schöne weiße Haut mit Sommersprossen um die kurze, gerade Nase. Er reichte seine Kreditscheibe hinüber, und sie prüfte sie ohne Kommentar. Sie kramte im Ausschnitt ihrer Kombination und holte ein Papierröllchen heraus. Sie gab es ihm zusammen mit der Scheibe und hob ein Rationspaket auf die Theke. »Der Nächste.« Es ging alles sehr schnell und unauffällig, und Kanes war davon überzeugt, daß selbst die nächste Person in der Reihe nichts bemerkt haben konnte. Das Papier duftete noch nach der Haut der Trägerin. Ein menschlicher Kontakt. Auf seine Weise verblüffend. Eine Ibo-Note … Er ging hinaus, das Paket umklammernd. Selbst mit diesem Filter in der Nachrichtenverbindung hatte Kreegan viel riskiert. Es gab keine Garantie dafür, daß Kanes nicht Lubins 67
Kreatur geworden war. Nach einer Sitzung bei ihm konnte man niemandem trauen. Nicht, daß das Papier viel verraten hätte. Druckbuchstaben ›Block H Zimmer 69‹. Keine Unterschrift. Keine Erklärung. Es war nicht schwer zu finden. Fünf Minuten später stand er unter dem Eingangsbogen und spürte die Kühle von schwitzenden Wänden, als die Sonne verdeckt war. Eine schmale Treppe mit abgetretenen Stufen und Fäulnisgeruch führte empor. Zimmer 69 befand sich im obersten Stockwerk. Er zählte die Nummern ab und erreichte es am Ende eines Korridors. Die Tür stand halb offen. Er klopfte und drückte sie ganz auf. Sechs Meter im Quadrat; leer, bis auf einen Tisch und drei Stühle. Zwei kleine Fenster, die auf den Hof hinausgingen. Er warf sein Paket auf den Tisch und trat ans Fenster, um hinauszusehen. Eine Stimme hinter ihm sagte: »Stehenbleiben, keine Bewegung, Mister.« Sie waren zu zweit. Ein älterer Mann mit runzligem Gesicht, der andere mit einem Gesicht, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Jung. Konnte bei Kreegans Gruppe gewesen sein, aber das paßte nicht zu dem Bild, das sich sein Verstand zu machen versuchte. Der alte Mann hatte einen Karabiner mit abgesägtem Lauf, der bei dieser Entfernung nicht verfehlen konnte. Sein Partner trat zur Seite, aus dem Sichtfeld, bis er neben Kanes am Fenster auftauchte. »Zur Tür, Freund.« Erst als Kanes zwischen ihm und dem Karabiner stand, trat er heran und durchsuchte ihn geschickt nach Waffen. Kanes war beeindruckt. Natürlich würde Kreegan ihn überprüfen wollen. Man hatte beobachtet, wie er angekommen war, und sich vergewissert, daß ihn niemand beschattete. Das Zimmer war nicht zugeteilt und belastete niemanden. Der alte Mann sagte: »Gehen Sie hinaus und nach links, da 68
sehen Sie ein Lufttaxi mit rotem Stern. Es bringt Sie dorthin, wohin Sie wollen.« »Danke. Sie denken an alles.« »Wir geben uns Mühe, Mister.« Er ließ die Waffe sinken und trat zur Seite, um Kanes vorbeizulassen. Die Hochachtung vor der Organisation nahm zu, als Kanes die Straße erreichte. Er wandte sich nach links, und das Lufttaxi schwebte hinter ihm heran. Ein unauffälliger Flugwagen, mit einem abblätternden, beleuchteten Stern auf dem Dach. Die Luke öffnete sich, als das Taxi neben ihm herunterkam, und er stieg ein. Er sah für Sekundenbruchteile drei Männer. Einer von ihnen hatte zweifellos zu Kreegans Trupp an der Küste gehört. Dann traf warme, zerstäubte Flüssigkeit seine Stirn, und er spürte nichts von den Händen, die ihn hineinzogen und auf den Rücksitz legten. Als er die Augen öffnete, glaubte er zuerst, das Hämmern spiele sich in seinem Kopf ab. Dann, daß er wieder in Lubins Kasten war, der sich so erweitert hatte, daß das Dach sich über seinem Kopf in der Ferne verlor. Die Wände waren aus geripptem Aluminium und nur drei Meter hoch. Seine Nerven zuckten vor einem Warnschuß zurück, weil er die Augen wieder geschlossen hatte. Aber nichts geschah, und er stellte fest, daß er sich aufsetzen konnte. Er befand sich auf einem gefliesten Boden, ein rundes Lederkissen unter dem Kopf. Das Licht rührte von einem langen Streifen in der Ecke her. Es hob eine am Tisch sitzende Gestalt, deren Kopf über einen Stapel Papiere gebeugt war, im Relief hervor. Von hinten beleuchtet, bildete das flammende Haar einen schimmernden Strahlenkranz wie eine Ikone. »Warten Sie«, sagte Linda. »Ich rufe den Chef.« Sie drückte auf einen Knopf auf der Tischplatte und sah ihn bewundernd an. »Das Betäubungsmittel sollte Sie eigentlich noch eine Stunde länger schlafen lassen. Um 2300 sollte ich neben Ihnen sitzen und zur Begrüßung Händchen halten.« 69
»Dafür ist es nicht zu früh.« Kanes stand wackelig auf den Beinen. Er mochte sich rasch erholt haben, aber die Droge wirkte noch nach. Hilfsbereit stand sie neben ihm, bevor er begriffen hatte, daß sie sich bewegte, und zog seinen Arm um ihre Schultern, um ihn zum Tisch zu führen. Ein kräftiges, solides Mädchen. Weich und doch fest unter der grauen Kombination. Haar wie Seide an seiner Wange. »Möchten Sie Kaffee?« »Das wäre gut.« Der Raum hatte aufgehört, sich um ihn zu drehen, und er stützte den Kopf in die Hände. Es hatte nicht viel Sinn, ihr das zu sagen, aber er tat es doch: »Hören Sie. Das war nicht nötig. Ich halte nicht zu den Leuten vom Bund oder sonst jemand. Ich bin einfach ein Privatbürger.« Kreegans Stimme antwortete: »Das ist in Ordnung, Kanes. Ich glaube Ihnen. Aber was Sie nicht wissen, können Sie nicht verraten, nicht wahr? So einfach ist das.« »Wo sind wir?« »Zuerst wollen wir sehen, was Sie vorhaben. Wie wichtig ist es Ihnen, dieser Weisman-Sache nachzugehen?« »Es gibt nichts anderes für mich. Nein –« Kanes verstummte und schüttelte langsam den Kopf, um klar denken zu können. »Nein, das ist nicht richtig. Es gibt sonst nichts, was ich tun möchte. Ich habe nicht damit angefangen, aber ich möchte, bei Gott, Bescheid wissen. Ich will wissen, warum so viele Menschen bestrebt sind, das geheimzuhalten. Sie haben Hedgrove an den Eingang von Trans-Union-Elektronik gelegt. Sie müssen angenommen haben, daß das deren Tat war. Auf dem Weg zu seinem Haus sind wir von einem anderen Trupp aufgehalten worden. Ich weiß jetzt, daß er zu WestMetalle gehörte. Ich möchte herausbekommen, weshalb sie sich solche Sorgen machen.« »Davon haben Sie mir nichts erzählt. Was ist aus ihnen geworden?« »Sie wollten uns im Fluß verschwinden lassen. Es kam ge70
nau umgekehrt. Sobald die erste Leiche an Land gespült wird, wird mich Lubin wieder suchen.« »Und Meta Reid. Kein Wunder, daß ihr Vater sie weggeschickt hat. West-Metalle. Da besteht eine Verbindung mit der Trans-Union. Wir wissen seit geraumer Zeit davon. Haben Sie schon einmal von Kevin Gunter gehört?« »Nein.« »Er muß schon uralt sein. Er steckt hinter der ganzen Geschichte. Er muß über Weisman Bescheid wissen. Das war genau zu seiner Glanzzeit. Ein Neofaschist. Hat im Norden einen Privatbesitz von der Art einer Festung.« »Woher wissen Sie das alles?« »Das ist alles niedergelegt, Kanes. Kenne deinen Feind. Der Dritte Stand weiß sehr viel.« »Der Dritte Stand?« »Es gibt die Freien, dann Fachkräfte einschließlich der Techniker-Stufen – beide dem System verbunden, und schließlich die ungeplanten Klassen. Die Mehrheit, Kanes. Den Dritten Stand. Ein historisch angesehener Titel, falls Sie das nicht gewußt haben. Eine weltweite Organisation, einschließlich der östlichen Hemisphäre.« »Warum verraten Sie mir das?« »Ich sage Ihnen nichts, was man beim Bund nicht wüßte. Aber man verbreitet es nicht über die Aktualitäten-GmbH. Nicht, daß die Zuschauer herbeieilen würden. Sie sitzen zu fest auf ihren Plätzen.« »Das System ist stabil. Das erste, das je funktioniert hat. Die Einstufung erfolgt sehr genau. Quadratische Zapfen in quadratische Löcher.« »Über das System sprechen wir ein andermal. Im Augenblick möchte ich wissen, wo Sie stehen.« »Das ist einfach. Nirgends. Jemand hat mich einmal herausgeholt, ein zweitesmal passiert das nicht mehr. Sobald Lubin dazukommt, werde ich umgepolt.« »Können Sie das als Person akzeptieren?« 71
»Wenn Sie mich vor einem Jahr gefragt hätten, hätte ich vielleicht ja gesagt. Jetzt ist die Antwort: Nein.« Kreegan, der ihm am Tisch gegenübersaß, sah Kanes lange an. Er schien seine Entscheidung getroffen zu haben. »In Ordnung. In Wirral City würde man Sie binnen vierundzwanzig Stunden festnehmen. Sie können nicht zurück.« »Ich will auch nicht zurück.« »Dann können Sie weiter an der Weisman-Angelegenheit arbeiten. Vielleicht bringt uns das etwas. Dieser Gilmore wohnte in oder bei Byrsa. Sie können ihn als erstes besuchen und mit ihm sprechen.« »Das ist an der nordafrikanischen Küste.« »Richtig.« »Wie komme ich hin?« »Es gibt eine Geheimroute zum Kontinent. Ich nehme an, daß Sie während Ihrer Ausbildung Europäisch gelernt haben?« »Ich habe alle Kurse besucht. Das Material der Aktualitäten-GmbH wird in beiden Sprachen verbreitet, und in slawisch zu Propagandazwecken, aber ich war im englischen Dienst.« »Sie kommen durch.« »Wann mache ich mich auf den Weg?« »Heute nacht bleiben Sie hier. Linda kümmert sich um Sie. Morgen Genaueres. Ich verständige die nächste Gruppe, die Sie dann weiterreicht. In Ordnung?« Kreegan stand auf und streckte die Hand aus. Es war eine menschliche Geste der Solidarität, die Kanes selten verwendet hatte. Ein Kontakt, der ein Band festigte. Kanes fühlte eine plötzliche Zuneigung für diesen Mann. Zum erstenmal in seinem Leben war er Teil einer Welt, in der persönliche Loyalität zählte. »Warum machen Sie sich die Mühe, mir zu helfen?« »Ausgebildetes Personal ist dünn gesät. Wie Sie schon sagten, wird die Einstufung sehr präzise vorgenommen. Dem 72
Dritten Stand mangelt es an erstklassigen Hirnen. Wir müssen uns auf andere Qualitäten stützen. Sie könnten uns sehr nützlich sein. Ich möchte Sie aber warnen. Es steht auf Messers Schneide. Wenn es nur die kleinste Andeutung gibt, daß Sie uns verraten könnten, erreichen Sie das nächste TV-Gerät nicht. Sie müssen Ihren Weg gehen. Wir sehen uns morgen.« Linda hatte sich in einer Ecknische beschäftigt und schien sich darüber zu freuen, daß sie den Neuling betreuen durfte. Sie brachte eine große Platte Speisen, und Kanes wurde sich plötzlich bewußt, daß er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Das Essen war einfach, aber aus der Normalration stammte es nicht. Linda deutete seinen Blick richtig. »Wir versorgen uns selbst. Den Almosen trauen wir nicht. Zusätze. Unter anderem wird dadurch die Wirkung der Sterilisierungsspritze verstärkt. Beim Eiweiß. Im Öl ist ein Mittel, das Hochstimmung erzeugt. Weiß Gott, was sonst noch alles enthalten ist.« »Das schmeckt gut.« »Traditionell für die arbeitenden Massen. Früher konnte man sich ein eigenes Schwein halten. Schinken, Eier und Schwarzbrot. Von Kätnern in Küstennähe.« »Wie kamen Sie hierher?« »Ich war Technikerin.« »Und?« »Interessiert es Sie wirklich?« »Gewiß.« »Ich muß wohl sehr widerstandsfähig sein. Die Sexualumpolung wirkte nicht. Ich konnte das lange Warten auf einen Ehevertrag nicht aushalten. Es gab einen Mann. Wir trafen uns, sooft er wegkonnte. Dann wurde ich schwanger, und der Teufel war los. Nach einiger Zeit wurde ich im Depot angestellt.« Es war eine knappe Zusammenfassung, aber Kanes konnte sich die Einzelheiten vorstellen. »Es tut mir leid.« 73
»Das ist lange vorbei. Jetzt weiß ich, daß ich damals nur halb lebendig gewesen bin.« Daß sie jetzt ganz lebendig war, stand außer Zweifel. Kanes betrachtete sie mit neuem Respekt. Draußen war das Hämmern verstummt, und im Gebäude wurde es still. Er konnte sehen, daß dieser Raum zu einem großen Schuppen gehörte. Nach der Dachwölbung zu schließen, mußte er fünfzig Meter breit sein. Sie erriet seine Gedanken. »Ziemlich groß hier. Wir können die ganze Gruppe versammeln. Es gibt einen Schichtplan, wir gehören zur Rüstungsindustrie.« »Waffen?« »Fragen Sie Kreegan danach. Ich sage Ihnen nur, daß es ungefährlich ist. Beruhigen Sie sich. Schlafen Sie.« »Bleiben Sie hier?« »Stört es Sie?« Die Erfahrungen bedrängten Kanes, Außer in seinem normalen Umgang im Beruf und kürzlich mit Meta Reid hatte er nie Gelegenheit gehabt, sich eine Beziehung zu einer Frau zu verschaffen. »Warum hat man Sie zu meiner Betreuerin bestimmt?« »Paßt Ihnen das nicht?« »Wenn ich Sie nun verprügle und verschwinde?« »Ich hatte zufällig heute Nachtdienst. Es bestand keine Gelegenheit, das zu ändern. Vesuchen Sie es mal.« Kanes zögerte und zuckte die Achseln. Er schoß hoch und war mit zwei Schritten um den Tisch herum, die Hände zupackend ausgestreckt. So schnell er auch war, sie reagierte, als er noch einen Meter zurückzulegen hatte. Eine kleine Strahlerpistole tauchte in ihrer Hand auf. Er blieb wie angewurzelt stehen und kam sich ziemlich dumm vor. »Zufrieden?« »Sehr geschickt.« 74
Sie senkte die Waffe und steckte sie wieder in die Kombination. »Es gibt auch noch zwei Alarmknöpfe, mit denen ich Leute herbeirufen kann.« »Sie würden sich freuen.« »Sie machen sich. Komplimente am Ende eines anstrengenden Tages.« Sie hätte besser daran getan, die Zeit zu nutzen und einen Schritt zurückzutreten. Kanes legte die restliche Strecke in einem Sekundenbruchteil zurück und packte sie bei den Armen. Sie rangen Brust an Brust. Ihre Augen funkelten grimmig. Kanes wechselte den Griff, und sie konnte sich nicht mehr wehren, nur noch spucken. Sie nahm diese Beschränkung hin und spitzte schon die Lippen, als er seinen Mund auf den ihren preßte. Drei Sekunden lang erstarrte sie, dann spürte er ihr Nachgeben. Er lockerte vorsichtig seinen Griff und machte sich geschickt los. »Das beweist, wie vorsichtig Sie sein müssen«, sagte er. »Sie sind raffiniert –« Aber es klang weniger scharf, als er erwartet hatte. Sie trat an eine Wandkonsole und drückte auf eine Taste. Für einen Augenblick glaubte er, sie hole Verstärkung herbei, und er wußte, daß er von niemandem mehr Befehle hinnehmen konnte. Wer immer auch jetzt durch die Tür kommen mochte, er sollte sich vorsehen. Tatsächlich passierte etwas ganz anderes. Ein Teil der Täfelung glitt beiseite, und ein breites Klappbett kippte heraus, mit den Vorderfüßen einen halben Meter von ihm entfernt aufprallend. »Wie gesagt, Sie sollten ein bißchen schlafen.« Ein anderer Teil der Verschalung glitt beiseite. »Dort ist ein Badezimmer und ein Schrank mit Kleidung. So sind Sie zu auffällig. Ziehen Sie eine Kombination an.« Kanes stand fünf Minuten unter der heißen Dusche. Sein 75
Gehirn wurde leer und zufrieden. Es gab nur die Gegenwart. Seine Vergangenheit fiel von ihm ab. Es kam eine Zukunft, mit der er sich auseinandersetzen würde. Von jetzt an gedachte er mit den Erfahrungen der Reihe nach fertig zu werden, ohne Vor- und Nachher. Als er in den Aufenthaltsraum zurückkam, war es fast dunkel. Der Leuchtstreifen glomm nur noch rötlich. Linda war nicht gleich zu sehen. Ein sittsames Mädchen. Er sollte unbeachtet ins Bett schlüpfen dürfen. Seine Enttäuschung verflog, als er die Decke zurückschlug, um ins Bett zu steigen. Es gab kaum Licht, ihr Haar, fächerartig auf dem Kissen ausgebreitet, war kupfern geworden, die Haut leuchtete weiß. »Ich gebe Ihnen Ned Campbell mit, Kanes«, sagte Kreegan. »Nicht, weil ich Ihnen nicht traue, aber Sie brauchen vielleicht Hilfe. Es ist einfacher, wenn jemand Ihren Rücken deckt. Er war als Kurier schon in Dover und ist bekannt. Danach müssen Sie die Führung übernehmen.« Es war der jüngere der beiden Männer, die ihn am Treffpunkt in Empfang genommen hatten. Rotblonde Haare, Sommersprossen, breites Grinsen. »Habe ich Sie nicht schon einmal gesehen?« »Vielleicht denken Sie an meine Schwester.« »Lindas Bruder«, warf Kreegan ein. »Passen Sie auf ihn auf, sonst bekommen Sie es mit ihr zu tun.« »Wo ist sie jetzt?« »Zu ihrer Unterkunft zurückgekehrt.« »Sie ist sehr pflichtbewußt.« »Wenn Sie wüßten.« Kreegan sah ihn scharf an. Beinahe feindselig. »Irgendwelche Fragen?« »Nein, ich kenne mich aus. Wenn Lubin erfährt, daß ich untergetaucht bin, wird er auf die Suche gehen.« »Soll er. Die Leute vom Bund haben schon oft gesucht. Diese Organisation ist nur für Sie neu, Kanes.« 76
In der hangarähnlichen Werkhalle gab es wenig Licht, und Kanes konnte nicht erkennen, was hier hergestellt wurde. Es war aber hellichter Tag im Vergleich zu dem finsteren Loch, das sich auftat, als Kreegan und Campbell eine Werkbank auf Rollen aus dem Mauerwerk herausschoben. Ned schwang sich auf eine an der Rückwand befestigte Leiter und verschwand wie ein Präriehund in seinem Bau. Die Route war ihm offensichtlich sehr vertraut. Kanes folgte langsamer, zählte zwölf Sprossen und fand anschließend Stufen, die in rauhes Gestein gehauen waren. Ned trug eine Handlampe, die von einem Dynamo betrieben wurde. »Achten Sie auf Ihren Kopf«, mahnte er unnötigerweise. Zwanzig schmale, steile Stufen, auf die man nicht den ganzen Fuß setzen konnte. Die Wände braun und grau. Dann standen sie knöcheltief in feinem Sand, zwei Meter Raum über sich. Eine kreisrunde Kammer mit tief ausgemeißelten Nischen, verkleidet mit Brettern, eine grob gehauene Feuerstelle, halbkreisförmig, mit halbzerfallenem Rost. Zwei Ausgänge. »Hier«, sagte Campbell. »Da hinten ging es früher zum Fluß. Der Weg ist jetzt blockiert. Wir könnten ihn räumen. Wäre vielleicht ganz nützlich. Weiter vorne wird es eng für Sie, aber Sie müßten es gerade noch schaffen.« Eine halbe Stunde später hielt Kanes das für die Untertreibung aller Zeiten. Der Tunnel wand und krümmte sich wie ein vielfach verschlungener Darm. Seit einer Strecke von fünfzig Metern hatte er sich ständig verengt. Kanes zog sich jetzt in völliger Dunkelheit auf den Ellenbogen voran. Ned Campbell hatte keine Hand mehr frei, um den Dynamo zu drücken. Es war nach Lubins wandlungsfähiger Kammer eine ironische, freiwillig übernommene Übung. Aber hier war es kalt, und es roch nach Schimmel. Zweimal blieb er stecken und kam nur vorwärts, indem er sich mit den Zehen am Boden einstemmte und Zentimeter für 77
Zentimeter weiterkroch. Dann tauchte vorne ein Lichtschimmer auf, und er wußte, daß Ned das Rohr verlassen hatte. »Kommt so etwas noch einmal?« »Nein. Jetzt geht es glatt. Eines Tages arbeiten wir daran und öffnen es weiter.« Sie befanden sich wieder in einer der natürlichen Höhlen, die von den ersten Benutzern miteinander verbunden worden waren. An der Decke waren Buchstaben und Ziffern tief ins Gestein geritzt – ›D. J. V. 1610.‹ Eine Feststellung der Identität. Was hatte einen Menschen dazu bewogen, mühsam hinaufzuklettern und diese Inschrift zu hinter lassen? Das Ende kam unerwartet, als Kanes schon glaubte, daß sie in alle Ewigkeit so weiterkriechen würden. Ein silbergrau gestrichenes Stahlschott erstreckte sich quer durch den breiten Tunnel. Ned Campbell preßte beide Handflächen auf das Mittelstück und kippte es zur Seite. Schlagartig standen sie in grellem Licht. Nach zwanzig Metern schloß ein zweites Schott das Ende ab, und sie standen in einem langen Halbzylinder, der wie ein Schlafsaal eingerichtet war, ein Dutzend Betten an jeder Seite. In der Mitte erhob sich eine Metallwendeltreppe um eine Stange. »Durchgangslager. Hier wird alles durchgeschleust, was vom Nordwesten nach Süden will. Ich bin schon hiergewesen, als es voll belegt war. Man muß dann ziemlich lange warten. Am Tag können höchstens zwei Mann durchgeschleust werden. Manchmal nur zwei in der Woche. Ich rufe die Kontrollstation.« Er legte in der Stützsäule der Wendeltreppe ein MiniaturVideogerät frei. Kanes hörte: »Zwei im Durchlauf, Jane. Ja. Diesmal ganz durch. Ich auch, versteht sich. Ich weiß nicht, wie lange. Wir sehen uns auf dem Rückweg.« »Das war Jane.« »Habe ich mir gedacht.« 78
»Sie ist in Ordnung. Hat früher im selben Haus gewohnt.« »Was nun?« »Sie regelt das. Wir sind unter dem Rangierbahnhof für die Einschienengüterbahn. Mit einem Satz kommen wir nach Wellington City. Das ist ein Knotenpunkt. Wir können uns nach Osten durchschlagen.« Das Gerät summte, Ned lauschte und hob bestätigend den Daumen. Dann ging er zur Treppe. »Glück gehabt. Jetzt fährt gleich einer.« Es war der Beginn eines ständigen Wechsels von Licht und Dunkel. Von schneller Bewegung und Warten. Überall Ballen. In einem Winkel zwischen den Ballen in einem Güterwagen zusammengekauert. Schleichen durch schmale Gänge zwischen Ballen in den Verladeschuppen. Essen zu beliebiger Zeit. Möblierte Löcher in der Erde, die Zellen des Dritten Standes beherbergend. Kaum Menschen, denen man von Angesicht zu Angesicht begegnete. Anweisungen über TV. Schneller Lauf zu einem Rangiergleis, der vorbereitete Platz in einem Wagen, der durch ein Omega gezeichnet war. Nach drei Tagen hatten sie den Dieppe-Tunnel erreicht und mit einer Lieferung von Keramikfliesen durchfahren. Während der Zug mit dreihundert Kilometern in der Stunde durch undurchdringliche Dunkelheit brauste, gab sich Kanes, eingezwängt zwischen wackligen Stapeln, Mühe, nicht darüber nachzudenken, wie seine Überreste aussehen würden, wenn der Zug eine Notbremsung vornehmen mußte. Ned Campbell befand sich außerhalb des bekannten Gebiets, und die Vereinbarungen traf nun Kanes. Es gab keine Gesichter mehr. Hastige, sachliche Stimmen, die seine theoretische Kenntnis der polyglotten Mischsprache der Europäer auf eine schwere Probe stellten. Aber sie kamen voran, bei zunehmender Wärme, durchquerten die Camargue auf einem langen, hohen Viadukt, der schließlich zu einer Mole führte, wo der Zug zur Gänze im Bauch eines Frachtschiffes verschwand. 79
In der zweiten Nacht stiegen sie auf das riesige, leere Oberdeck. Regen fiel wie warmes Blut, und dann klarte der Himmel zu einem Rundgemälde von Sternen auf. Am Horizont bezeichnete ein blasser Schimmer die Kette der Küstenstädte Nordafrikas. Ein von Land kommender Wind trug warme Luft mit sich, mit einem Hauch von Moschus. Kanes begriff, daß die eigentlichen Probleme nun erst begannen. Gilmore zu finden, erschien plötzlich als völlig aussichtslos. Das Schiff stockte, sank tief von seinen Tragflügeln, und die Bugwelle verlief sich. Man konnte niemanden fragen, was hier vorging. »Stockung im Hafen«, sagte Kanes. »Man wartet auf einen Anlegeplatz. Die Kontrollstation holt das Schiff herein, sobald ein Platz frei ist.« Sie schliefen. Gegen alle Erwartung. Im Dunkel ihres Behälters, im Dunkel des Frachtraums, im Dunkel des Meeres. Kanes wurde durch Hitze und Licht, das in einem dicken Strahl den Frachtraum durchschnitt und auf der gewölbten Seite eines grauen Ballens auslief, geweckt. Der Zug fuhr auf einer hohen Schiene an der Seeseite entlang. Von dem kleinen Schlitz aus sah er saphirblaues Wasser. Licht, das zermalmend wirkte, greifbar. Der Eindruck, daß alle Gebäude und Gegenstände weiß waren. Er hörte Zikaden; sah Bougainvillea. Ein Berg mit Doppelgipfel und ein Hügel mit verfallenen gelben Mauern. Byrsa City war trotz der exotischen Umgebung eine normale Stadt. Sie hätte überall stehen können. Ein Reisender, der ständig unterwegs war, konnte auf einer der normalen Routen hereingeraten und, abgesehen von der Hitze, nicht wissen, daß er den Kontinent gewechselt hatte. Der Frachtbahnhof sah aus wie alle anderen, die er seit Wirral City kennengelernt hatte. Nur der Abfertiger, der sie 80
durch die Hallen führte, hei aus dem Rahmen. Dunkelhäutig, hakennasig, spärlich bekleidet. Draußen lag ein ekelerregender, erstickender Gestank in der Luft, der sie zum Stehen brachte. »Es ist schlimm, wenn der Wind aus dieser Richtung kommt. Es ist immer so gewesen. Schädlich ist es nicht.« Kanes hätte dazu eine erläuternde Bemerkung verlangen können, entschied sich aber für eine weitergefaßte Frage. »Wissen Sie, warum wir hier sind?« »Ja, ich glaube schon. Sie müssen einen Europäer finden, der hier lebt. Sie nennen unseren Leuten den Namen, und man wird Ihnen helfen. Zunächst wohnen Sie in der Altstadt.« Der Führer verließ den Schatten einer Frachthalle, und Kanes zuckte zusammen, wie von einem Schlag getroffen. Die Hitze umkrallte seine Kehle. Ned Campbells Gesicht wurde weiß, die Sommersprossen stachen wie Muttermale hervor. »Man muß jetzt die Straßen meiden. Später ist es nicht mehr so schlimm.« Eine Vorstellung, die ihnen unerreichbar blieb. Unfaßbar. Nach zwanzig Metern war Kanes’ Overall schweißnaß. Sie erreichten ein Labyrinth von engen Gassen. Nackte Mauern, hohe, schmale Fenster, leer wie eine Geisterstadt. Wenn dies eine List war, sie an einen Ort zu locken, wo man sie nicht vermissen würde, war sie sehr erfolgreich. Nach zehn Minuten wußte Kanes, daß nur ein Führer sie wieder herausholen konnte. »Hier herein.« Kanes wischte sich den Schweiß aus den Augen und folgte in einen engen Durchgang mit einem winzigen Himmelsausschnitt dreißig Meter über ihnen. Knöcheltief in undefinierbarem, organischem Abfall, der seinen Gestank noch dem anderen hinzufügte, als sie ihn aufrührten. Eine Treppe, um die man sich herumwinden mußte, eine messingbeschlagene Holztür, die sich knarrend öffnete. Das Ende der Reise war ein überfüllter Raum: schwarze 81
Holztische; Kupfer an weißen Wänden; zwei Betten, wie sie hier üblich waren. Ein Mädchen von Ebenholzfarbe stand auf. Sie beachtete die Fremden nicht, sondern wandte sich an den Führer und unterwarf ihn zwei Minuten lang einer Tirade. Der Führer sagte: »Sie heißt Sie willkommen.« Das brachte ihm wieder eine Ansprache ein, und er wandte sich zum Gehen. »Nisha spricht kaum Europäisch. Aber sie kümmert sich um Sie. Morgen komme ich wieder. Schreiben Sie mir auf, was Sie wollen. Mein Gedächtnis ist sehr schlecht.« Nisha folgte den Worten mit unschuldiger Konzentration und beugte sich vor, um besser zu hören. Gleichgültig, wie es um ihr Sprachkönnen bestellt war, sie verstand genug, um auf einem überladenen Tisch herumzukramen und eine Elfenbeintafel und einen grauen Griffel zu präsentieren. Dann stellte sie sich dazu, wahrend Kanes schrieb, und beobachtete ihn mit schmeichelhafter Aufmerksamkeit, so, als lege er dem Volk neue Gesetzestafeln vor. Es wäre schwer gewesen, sich auf eine längere Mitteilung zu konzentrieren, aber er schaffte es, indem er einen der metallenen Anhänger ihrer Halskette mit dem Griffel beiseite schob. ›Dr. Sam Gilmore, ehemals Mitarbeiter des Forschungsdirektors Dr. Weisman‹. Als das Geschäftliche erledigt war, atmete Nisha auf. Ihre erste Mitteilung erfolgte in freundlicher Pantomimik. Sie zeigte ein ermutigendes Lächeln und deutete mit einem Finger nach oben. Sie hatte den beweglichsten Rücken, dem Kanes je gefolgt war, und er hielt sich schon für einen Kenner. Sie gingen durch eine Reihe gleichartiger Räume. Düster, vollgestopft mit orientalischen Dingen. Mädchen jeder Hautschattierung von hellem Zimt an aufwärts reagierten interessiert, bis ein Wink von Nisha sie gleichmütig zu ihren Stickereien zurückkehren ließ. Steinstufen, verschlungene Eisenspiralen, schlichte Leitern brachten sie weiter, bis Nisha vor einer einfachen, weißgekalkten, praktisch unmöblierten Zelle 82
stehenblieb. Keine Fenster, aber an der Decke eine geöffnete Luke, durch die eine Lichtsäule hereinfiel. »Hier bleiben, denke ich.« »Danke. Sehr gut.« An der Tür ließ sie ihr Sprachtalent noch einmal spielen. »Wenn etwas wollen, hinunter essen.« »Das tun wir.« Als sie fort war, sagte Ned Campbell: »Was ist das hier?« »An sich ein Schlafblock.« Während der Reise hatte Kanes festgestellt, daß Ned Campbell nach Informationen dürstete. Ein guter Reisebegleiter, stets guter Laune, nie zu Klagen neigend, aber voll naheliegender Fragen. Das hatte Kanes in die Rolle einer Vaterfigur gedrängt. »Was ist da oben?« »Dachwohnungsbereich, würde ich sagen.« Kanes stieg an einer Stange mit Pflöcken hinauf und blieb stehen, als er den Kopf durch die Luke recken konnte. Sie waren von Byrsa City weiter entfernt, als er erwartet hatte. Links, keine zweihundert Meter entfernt, erhob sich der einsame Hügel mit seiner Zitadelle. Von der Nähe sah man, daß sie halb verfallen war. Eine uralte Ruine. Ihr Dach hatte eine niedrige Brüstung und war von nahestehenden Gebäuden nicht zu überblicken. Er kroch in die betäubende Sonne hinaus und schaute sich um. Unzählige flache Dächer. Auf manchen Sonnenzelte. Keine Bewegung. Vielleicht würden die Menschen später, wenn die erbarmungslose Hitze nachließ, heraufkommen, um Luft zu schöpfen. Eine Erinnerung regte sich. Byrsa lag in der Nähe des alten Karthago. Die Ruinen mochten so weit zurückreichen. Didos Zitadelle. Die phönizische Königin, die soviel Land bekommen hatte, wie eine Stierhaut fassen konnte. Der Name Byrsa bedeutete ›Stier‹. Nach der Legende hatte sie das Leder in schmälste Streifen geschnitten und den Hügel als Kern ihrer Kolonie abgegrenzt. 83
Eine seltsame, blutrünstige Zeit. Baal-Verehrung, mit Verbrennung der Erstgeborenen, damit der Gott milde gestimmt sei. Mondsymbole. »Was ist die alte Ruine da oben?« Kanes fühlte, daß er nicht davon berichten konnte. Aber das führte zu einer anderen Frage. Dies war sichtbarer Beweis für die Spuren, die der Mensch auf der Erde hinterlassen hatte. Er wollte sie aus erster Hand sehen. Ein Stück abbrechen und in der Hand halten – als Kriterium menschlicher Beständigkeit. »Wir haben genug Zeit. Gehen wir hinüber und sehen wir uns das an.« Ned Campbell hatte seit Jahren für den Untergrund gearbeitet und kannte sich aus. »Das wird ihnen nicht passen. Wir sollten in Deckung bleiben. Das könnte die Leute sonst in Schwierigkeiten bringen.« »Sie haben recht. Gut, wir fragen Nisha.« Ihre Rückkehr setzte einen Schlußpunkt. Sie balancierte vorsichtig ein rundes Messingtablett. Darauf standen eine Kaffeekanne auf einer Kohlenpfanne. Eier. Frisches Brot. Eine Pyramide aus kleinen, süßen rosigen Würfeln, die sie nicht kannten. Sie hörte Kanes zu, ohne etwas zu erwidern. Ihr Gesicht war ernst, in dem Bemühen, Worte zu finden, die einem Gast etwas abschlagen und doch höflich klingen sollten. »Ist schlechter Ort, denke ich«, meinte sie schließlich. »Nicht sicher? Oder wegen der Kinder?« »Sie wissen? Wie Sie wissen? Wir sehen oft Feuer von dort kommen.« Gut orientiert, auch in einem Raum ohne Fenster, wies sie mit einem runden, schimmernden Arm zu Didos Hügel. Das tat ihrer Figur keinerlei Abbruch, und die offenkundig günstige Aufnahme diente dazu, die Strenge ihres Gesichtsausdrucks zu mildern. Sie erläuterte: »Verbrecher, sie dort. 84
Verbrennen Leute, die nicht mögen. Geben sie in kleine Körper.« Eine Geste mit beiden Händen mochte ein kleines Mädchen anzeigen. Kanes, dessen Intuition große Anstrengungen machte, hielt es eher für eine Urne. »Nur dieser Tag, ein, zwei.« Ausdrucksvolles Herabsausen der Hände, zur Erklärung. Vor zwei Tagen also. »Es hat gegeben. Leicht verstecken.« Die Gesetze der westlichen Hemisphäre hatten den normalen Tod und die Beseitigung der Leiche zu einer komplizierten Angelegenheit mit genauester Registrierung für die Regierungscomputer gemacht. Am Rand der Städte mochten die außerhalb der Gesetze Stehenden Bedarf für ein Krematorium haben. »Wäre es gefährlich für Sie, wenn wir hingehen und uns das ansehen?« fragte Kanes. Widerstrebend erwiderte sie: »Am Nachmittag ist in Ordnung, denke ich. Viele hingehen, sehen. Aber wir müssen schnell.« »Wir?« »Sie nicht finden allein. Ich führen. Ich gehe. Ich wiederkommen.« Als er dort stand, spürte Kanes schuldbewußt, daß sein archäologischer Trieb die Mission unnötig gefährdet hatte. Es gab nicht viel zu sehen. Ein paar Gruppen mit Führern kletterten in den Ruinen herum. In einer der Breschen in der Umgebungsmauer wies ein Lehrer mit einem Trupp Schüler wiederholt auf den alten Hafen hinaus. Zweifellos berichtete er von den Punischen Kriegen. Romantisierend. Ohne vom Gestank, vom Tod zu erzählen. Nur pittoreske Galeonen, Ruder im Saphirwasser sehend. Räume ohne Dächer, einer frisch geschwärzt, Ölreste am Boden. Da Holz für die Verbrennung fehlte, hatte man die Leiche mit Kerosin übergossen. An den Wänden Reihe um Reihe von Urnen. 85
Nisha, die sich für den Ausflug eine blaue Kombination übergestreift hatte, sah ausgesprochen mitgenommen aus. »Viele, viele davon«, sagte sie. »Alles verbrannte Kinder.« Ihre Gesten deuteten an, daß das ganze Gelände auf einem Fundament ›kleiner Körper‹ ruhte. Kanes stieg in die Grube hinunter und stocherte mit einem flachen Stein in der Asche herum. Knochenteile – und dort, wo der Kopf gelegen hatte, eine geschwärzte Kette mit einem Halbmond-Anhänger. Er pickte sie heraus. Impulsiv hängte er sie um einen Tontopf, verwendete seinen Stein als Schaufel, schüttete Asche in die schmale Öffnung und trug beides mit hinauf. »Gehen wir.« »Wozu wollen Sie das?« fragte Ned Campbell. »Als Souvenir. Geschenk aus Karthago für einen Freund.« Auf dem Rückweg schwiegen sie. Kanes trug den Tonkrug im Arm, und sein Gehirn eilte die Jahre zurück zu einer Gesellschaft, die ein System dulden konnte, das seine eigenen Kinder opferte. Was für ein Ziel hatte sie? Sühneopfer? Das Wertvollste dem Gott geben. Vielleicht war das logisch und richtig, wenn man die Voraussetzung anerkannte. Und wenn man anerkannte, daß eine Meritokratie richtig war, hatte man das Recht, fünf Sechstel der Gesellschaft durch Gehirnwäsche zur Unterwerfung zu zwingen. Aber wer traf die große Entscheidung? Vielleicht niemand bewußt. Eine Angelegenheit der Gruppe. Etwas, das aus einem Gruppengeist stammte, der jedem Individuum feindlich gesonnen war. Für ihn ergab sich klar, daß nichts, was eine Gemeinschaft praktizierte, einfach als gegeben unterstellt werden durfte. Eine Sackgasse, aus der er keinen Ausweg fand. Aber im Haus herrschte reges Treiben, das ihn ablenkte. Viele Eingänge waren durch Vorhänge verhüllt. Stimmen, durchaus nicht weiblich, drangen heraus. Irgendwo in den Tiefen des Gebäudes ein durchdringender Trommelrhythmus, der die Harmonie des menschlichen Herzschlags nachahmte. 86
Nisha, wieder im Arbeitskostüm, eilte mit einem vollen Tablett herauf und verschwand wieder eilig. Die Nacht kam mit ihren großen Sternen und einem Mond, der theatralisch unglaubhaft wirkte. Kanes versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Er schlenderte auf dem Flachdach herum und entdeckte, daß er Meta Reid nicht aus seinen Gedanken vertreiben konnte. Ned Campbell, dessen Stimme aus der Luke heraufdrang, ein körperlose Kopf im Mondlicht, riß ihn in die Gegenwart zurück. »Ich muß Ihnen etwas zeigen. Sehen Sie sich das an.« Seine Stimme stieg einen Ton höher. »Was ist das?« »Die Kette, die Sie mit zurückgebracht haben. Eine Inschrift. Europäisch, denke ich.« Kanes brauchte eine halbe Minute, um das Lampenlicht ertragen zu können. Die Kette war immer noch verfärbt, aber Ned hatte sie geschrubbt, bis man die reine Metalloberfläche sah. Auf der Plakette konnte man Reste der eingravierten Inschrift erkennen. Die Form der Buchstaben ließ an Europäisch denken. Kanes drehte sie langsam im Licht, bis die Buchstaben Schatten und Vertiefung gewannen. Schon bevor sich die Inschrift herauskristallisierte, sagte ihm ein sechster Sinn, wie sie lauten würde. Sie füllte die Lücken im Bild aus, und er las es vor, als sei sie in großen Lettern geschrieben. »Doktor Samuel Gilmore.« »Das wär’s also«, sagte Ned Campbell. »Wir können keine Fragen stellen.« »Doch, eine.« »Welche?« »Wer? Wer hat das getan?« »Nicht die Leute vom Bund. Sie hätten ihn leicht verschwinden lassen können.« Der Lärm von unten erstarb, und Kanes begriff, daß er in 87
den vergangenen zehn Minuten ständig nachgelassen hatte. Es mußte bald Sperrstunde sein. Die Gesetze der westlichen Hemisphäre galten sogar hier. Es war so still, daß man Nishas Sandalen auf der Treppe hören konnte. Als sie auftauchte, folgte ihr ein großer, braunhäutiger Mann mit Hakennase und schütterem Bart. »Dies ist Achmed. Nicht gute Nachrichten für Sie, denke ich.« Achmed meldete sich selbst zu Wort. »Wir haben nicht viel Zeit. Morgen müssen Sie umkehren. Wir haben den Namen aufgespürt, den Sie suchen. Es ist richtig, daß er hier viele Jahre gelebt hat. Ein stiller Mann. Zurückgezogen. Vor drei Tagen besuchten ihn zwei fremde Europäer und ein Ortsansässiger, den wir kennen. Sie nahmen ihn mit, und man hat ihn nicht wiedergesehen. Offensichtlich war Ihr Auftrag bekannt. Sonst wäre der Zufall zu groß.« »Wer war der dritte Mann?« fragte Kanes. Er wußte, daß es einer von zweien sein mußte. »Ein Sicherheitsbeauftragter im Dienst von West-Metalle. Er hält es geheim, aber er steht auf unserer Liste gefährlicher Personen.« »Und die anderen?« »Wahrscheinlich vom selben Unternehmen. Ihr Flugwagen stammte nicht aus Byrsa. Auch nicht aus der Provinz. Die Nummer war HF/64/Z/06.« »Ebenfalls West-Metalle. Eine Registrierung im Norden. Sie haben völlig recht. Man weiß über unseren Auftrag Bescheid. Doktor Gilmore ist tot. Seine Leiche ist in der alten Zitadelle verbrannt worden.« »Dann müssen wir Sie schnell wegbringen. Machen Sie sich morgen früh bereit.« Die Stille des Hauses war plötzlich ein wichtiger Faktor. Nun konnte er jeden leisen Schritt, jede Bewegung hören, als Vorhänge zurückgezogen wurden und die Bewohner sich zur Ruhe begaben. 88
Es war nach wie vor unmöglich, Schlaf zu finden. Kanes bedachte immer noch die Unwägbarkeiten des menschlichen Daseins, als unten Lärm losbrach, Lärm von ganz anderer Art. Vorher hatte man spitze Schreie gehört, aber solche der Freude, der Lust, ob gespielt oder nicht. Diesmal verrieten sie Angst. Der Lärm steigerte sich, wallte herauf, Etage um Etage. Nisha sprang in den Raum, schloß die Tür und lehnte sich keuchend daran. »Razzia, denke ich. Nicht wie früher. Sie suchen Sie, denke ich.« Kanes schlüpfte schon in seine Kombination. »Es wird schlecht sein für Sie, wenn man uns hier findet. Können wir weg?« »Wir halten sie auf, solange geht. Alles durcheinander. Wie Sie sagen – zu viele Halunken – das Bordell nicht gut. Gibt nur einen Weg. Können Sie springen?« »Über die Dächer?« »Ja.« »Und Sie?« »Mir werden sie stellen Fragen. Gut. Ich sagen nichts. Viele Fragen schon oft.« Das lag nahe. Es war ein Beruf, in dem man häufig gestört wurde. Das Sektor-Sicherheitsamt würde ein Auge darauf haben. Andererseits mochten das nicht unbedingt die Vertreter des Gesetzes sein. Vielleicht waren es weitere Schergen Kevin Gunters. In Nishas Augen zeigte sich ein Ausdruck, der ihn überzeugte, daß sie nicht damit rechnete, diesmal wie sonst davonzukommen. »Sie kommen mit uns.« Die Antwort war eindeutig. Sie sprang auf ihn zu und legte ihre warmen, samtenen Arme um seinen Hals. Ein Mund wie eine geöffnete Anemone huschte über seine Wange. Dann eilte sie als erste die Sprossen zur Luke hinauf. Auf der obersten blieb sie stehen. 89
Einen Augenblick lang glaubte Kanes, sie werde zurückkommen, weil sie einen Posten entdeckt hatte, aber es war nur ihre Kette, die als Brustschutz gedient hatte. Sie beugte sich herab und sagte: »Jetzt sie mich nicht mehr sehen und hören.« Ned Campbell erhob verlegen Einspruch. »Wie wollen Sie mit ihr in Wirral City durchkommen? Sie gefährdet die Gruppe.« »Jede Gruppe, die Nisha nicht aufnehmen kann, ist es nicht wert, daß man ihr angehört. Jetzt Sie.« Im Stockwerk unter ihnen schwoll der Lärm an. Es klang, als rissen die Eindringlinge Wandbehänge herunter und zerschlügen die Möbel. Ein langgezogener Schrei verkündete, daß die Hinhaltetaktik erfolglos blieb. Kanes sah Ned Campbell die oberste Sprosse verlassen und riß die Leiter weg. Er zwängte sie gegen den Schrägbalken an der Tür und stieg darauf, um sie fest einzuklemmen. Dann reichte er seinen Tonkrug hinauf und sprang hoch. Nisha, die bis auf Augen und Zähne mit der Nacht verschmolz, bückte sich, um ihm heraufzuhelfen. Sie roch nach Sandelholz. »Wohin?« »Da, denke ich.« Unter ihren Füßen knallte es, als unten jemand mit einem Karabiner den Riegel herausschoß. Damit war für Kanes die Sache klar. Beauftragte der Bundesregierung hätten sich zuerst gemeldet. Die anderen kümmerten sich nicht darum, ob versehentlich einer der Gesuchten getroffen wurde. Das Dach, das drei Meter unter ihnen lag, zeigte sich als blasser Schimmer. Getrennt durch eine Lücke von einem Meter. Er hatte die Leiter etwas voreilig weggegeben. Durch Warten ließ sich die Entfernung jedoch um keinen Zentimeter verringern. Er stieg auf die Brüstung und sprang mit geschlossenen Beinen, beschrieb eine klassische Vorwärtsrolle und stand wieder auf den Beinen. Ned warf den Tonkrug herunter, und er stellte ihn beiseite. 90
Nisha, voller Zweifel, erschien als Silhouette vor dem Himmel, eine schwarze Bronzestatuette in angenehmer Symmetrie. Er streckte die Arme aus und fauchte: »Spring.« Mehr brauchte es nicht, und sie war unten, wurde aufgefangen und festgehalten. Selbst in dieser drängenden Lage eilte es ihr nicht, losgelassen zu werden. Ein greller Lichtstrahl tauchte hinter Campbell auf, kreiste und verharrte auf seinem Rücken. Kanes tobte. »Los. Spring, Mensch!« Ein Feuerstoß, und der Junge fiel. Es war vorbei, bevor sie etwas sagen konnten, und er war in die Gasse hinabgestürzt. Ein weiterer, qualvoller Schritt vorwärts in Kanes’ politischer Erziehung. Er trieb Nisha zur anderen Brüstung. Diesmal lag das nächste Dach kaum zwei Meter tiefer, obwohl die Lücke breiter war, und sie sprangen Hand in Hand. Kanes hielt den Tonkrug noch immer fest. Er war ihm zum Symbol geworden. Heilloser Zorn flammte in ihm auf. Er fühlte sich unzerstörbar. Er würde Gilmore genau dorthin bringen, wo die Verantwortung ruhte. Ihn auf einen Schreibtisch knallen und jemandem das Gesicht in die graue Asche stoßen. Jetzt ging es nicht mehr um den Dritten Stand, um die Freiheit oder irgend etwas Theoretisches. Er, Prosper Kanes, betrieb das als persönlichen Rachefeldzug. Nisha zerrte an seiner Hand, und sie rannten geduckt zur schützenden Wand, als Füße auf das erste Dach prallten, über das sie gekommen waren. Sie waren etwa auf gleicher Höhe mit dem nächsten Block, aber der Spalt hatte sich auf zwei Meter verbreitert, und er spürte, wie sie zurückzuckte. Kanes drückte ihr den Tonkrug in die Hand und warf sich nach vorn, so daß sein Körper eine Brücke zwischen den beiden Dächern bildete. Sie huschte hinüber, er ließ die Beine fallen und zog sich auf der anderen Seite hoch. So ging es die nächsten fünf Minuten. Sie führte sie herum, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite des Ausgangspunk91
tes waren. Dann schlugen sie die Richtung zum Hafen ein. Hinabsteigend, wo es möglich war, an Erhebungen entlangkriechend, bis der nächste Spalt überwunden werden konnte, vermieden sie es, vor dem Himmel als Silhouetten aufzutauchen. Kanes hatte das Bedürfnis, das Tempo zu verlangsamen, und als sie eine zehn Meter breite, unüberbrückbare Kluft erreichten, war er froh, das anstrengende Vorgehen aufgeben und die Lösung des Problems auf eine geistige Ebene verlegen zu können. An drei Seiten waren die Dächer höher als an der Stelle, wo sie standen. Umzukehren, mochte bedeuten, daß sie vor dem Himmel sichtbar wurden. Vielleicht hatte man sie sowieso schon gesehen und versuchte sie einzukreisen. Nisha stand wie angewurzelt und sah mit beispielhafter Geduld zu ihm auf. Zufrieden, Atem schöpfen und warten zu können, war sie ein lebendes Standbild des Schweigens. Ihr Vertrauen auf ihre Unsichtbarkeit schien wenig begründet. Sie lenkte den Denker ab. Beinahe geistesabwesend stellte er die Urne auf den Boden und legte die Hände auf ihre Hüften. Zwei kleine Schritte führten sie ganz heran, und Kanes bemerkte plötzlich, daß emotionelle Beiklänge sein Innerstes durcheinanderbrachten. Glatte Haut unter seinen Händen. Die Hüften begannen sich weich zu bewegen. Eine Sekunde lang herrschte elektrische Spannung, als träfen sich Kraftlinien aus geistigen Batterien in dem schrumpfenden Abstand ihrer Köpfe. Über ihre Schulter sah Kanes eine dunkle Hand über die weiße Brüstung über ihr greifen, und ihre Augen weiteten sich entsetzt, als er sie seitlich zu Boden warf. Kanes sprang zur Wand und duckte sich, als der Mann seinen Karabiner ansetzte. Zwei sich bewegende Umrisse zur Auswahl führten zu einem kurzen Zögern. Das genügte. Kanes hatte den Lauf gepackt und zurückgestoßen. Eine Drehung, Anreißen, und der Mann fiel auf ihn herab. 92
Gemeinsam stürzten sie auf Nisha. Der andere rutschte auf Händen und Knien auf die Waffe zu, als Kanes von seiner weichen Sturzmatte rollte. Sie war bewußtlos, und das fügte Raserei zur folgenden methodischen Vernichtung. Kanes hechtete nach dem Schatten, setzte einen Nackenhebel an und riß brutal am Kopf, in dem Bestreben, ihn einfach abzureißen. Die Dehnfestigkeit des menschlichen Gewebes verhinderte das, aber er hörte ein Knacken und hatte einen Toten in den Händen. Aus der Entfernung von einigen Dächern klang ein Ruf herüber. Unverständlich, aber fragend. Vielleicht wollte man wissen, ob der Suchende etwas gefunden hatte. Kanes öffnete die halbmilitärische Kombination des Toten. Erst als er den Karabiner an der Schulter hatte, sah er nach Nisha. Mit offenen Lippen und geschlossenen Augen schien sie zu schlafen. Der Herzschlag war regelmäßig, als er ihn fand. Dunkle Flecken am Steinboden vor ihren Füßen, wo Blut aus zerfetzter Haut drang. Es gab eine Dachluke, wie jene über seinem Zimmer. Er hob sie hoch und sah eine vertraute Leiter nach unten führen. In seinem neuen Anzug befand sich eine Taschenlampe. Er zog sie heraus und leuchtete hinein. Das Zimmer war durch einen Vorhang geteilt, und in dieser Hälfte lagen Schlafende auf drei Matratzen. Einer auf dem Rücken, eingefallene Wangen, offener Mund, geschwärzter Gaumen ohne Zähne. Kanes warf sich das Mädchen über die Schulter und hörte am linken Ohr ein leises Röcheln. Es verriet Leben und hob seine Stimmung. Eigensinnig griff er nach seiner Urne. Er betrachtete sie jetzt als Talisman. In einer verwirrenden Szene war sie ein Brennpunkt, der ihn seinem Ziel entgegen trieb. Er ließ Nisha am Boden liegen und stieg wieder hinauf, um den Toten zu holen. Dann schloß er die Luke und lehnte seine zweite Last an die Leiter. Unangenehm für die Bewohner, 93
aber sie konnten ihn ja wieder auf das Dach tragen, wenn sie ihn nicht haben wollten. Nisha auf den Armen, den Tonkrug auf ihrer Brust, zwängte er sich durch die Tür und stieg mühselig eine steile Wendeltreppe aus gelbem Stein hinab. Es war ein stilles Haus, aber auf undefinierbare Weise wachsam. Er erkannte plötzlich, daß sie wahrscheinlich überaus vernünftig handelten. Nisha erlangte das Bewußtsein zurück. »Wo sind wir? Was du sagst?« »Still. Wie fühlst du dich?« »Ich ersticke, denke ich. Großes Gewicht auf Bauch.« »Keine Sorge. Das ist nur ein alter Mann, der auch mit will.« Ihre Hände hatten die Urne gefunden. Sie unterdrückte tapfer einen Aufschrei. Dann machte sie sich frei, und er hatte Glück, als er das Gefäß noch auffangen konnte. Obwohl ihre Füße immer noch bluteten, kamen sie schneller voran, wenn er sie nicht mehr tragen mußte. Ganz unten befand sich eine große Halle, die einer Höhle glich. Dutzende von Schläfern durcheinander. Eine kleine, in einer Nische flackernde Lampe zeigte ihnen die Doppeltür. Bewegung innerhalb des Hauses schien niemanden zu stören. Zweifellos war man an ein gewisses Maß an Unruhe aus natürlichen Gründen gewöhnt. Als Nisha aber den Türriegel hochhob, trat eine Verwandlung ein. Groteske Schatten erhoben sich überall, als Männer sich aufrafften. Kanes riß fluchend den Balken zurück. Nisha hatte die Tür aufgerissen und war draußen mit der Dunkelheit verschmolzen. Er huschte hindurch und schloß sie, als blitzschnell hintereinander eine Reihe von Messern in das sich bewegende Holz zuckte. »Hierher.« Sie wußte, wo sie waren, und wollte von der Hauptstraße fort in das Labyrinth der Gassen. Er folgte ihr, als er den dunklen Umriß eines stehenden Flugwagens sah, keine fünfzig Meterentfernt. 94
Niemand war aus dem Haus gekommen. Man kannte die Gefahren, nach der Sperrstunde auf der Straße zu sein, zu genau. Kanes ging in die Mitte der Straße, damit man ihn gut sah. Er schätzte die Chancen eines Entkommens zu Fuß gering ein. »Bleib weg von mir. Hier, nimm das.« Nisha begriff schnell und verstand ihn sofort. Sie zahlte mit Schmerzen, bewegte sich aber lautlos als Schatten an der Wand, die Urne in Armlänge von sich entfernt haltend. Noch zehn Meter. Kanes glaubte, daß er ohne Anruf davonkommen werde. Zwei Schritte noch, und ein Dachscheinwerfer blinkte ihn kurz an, erlosch wieder. Er erreichte die Luke und klopfte mit dem Karabiner. Einer der Schläger, der sich am Sammelpunkt meldete. Er setzte alles auf die Vermutung, daß am Manöver mehr als ein Fahrzeug beteiligt war und sich nicht alle Mitglieder der Mannschaft untereinander genau kannten. Er wartete, während ihm Schauer über die Haut liefen, einen Schuß durch eine Scharte erwartend. Als sich die Luke öffnete, sah er staunend, daß der Pilot über den Sitz gerutscht und kaum zwanzig Zentimeter von ihm entfernt war. Ein großer Schädel. Kleine Augen, in Fett gebettet. Ein massiges, hängendes Kinn, mit Bartstoppeln übersät. Er knurrte auf europäisch: »Was machst du denn hier? Verschwinde. Wir sind die ganze Nacht hier. Ich hab’ was Besseres zu tun.« Kanes fand es typisch für einen in der Sänfte getragenen Krieger, die anderen vorzuschicken. Er freute sich darüber, einen kleinen Ausgleich schaffen zu können. Er stemmte die Knie an die Karosserie, griff hinein und packte den Mann am Specknacken. Die Hände des anderen hatten inzwischen nach einer Strahlerpistole gegriffen, aber um mindestens drei Sekunden zu spät. Sein Kopf war im Freien, und seine Kehle prallte auf die Lukenkante. 95
Kanes öffnete die Luke ganz. Der dicke Mann fiel heraus auf die Straße. Nisha tauchte aus den Schatten auf, mit anerkennend glänzenden Augen. Sie versuchte außerdem, möglichst auf einem Bein zu stehen. Kanes hob sie hoch und in das Flugboot. Das schien zur Gewohnheit zu werden, zu einer angenehmen noch dazu. Es war ein großes Flugboot. Acht Sitze im Passagierraum. Gilmore in seinem Tonkrug bekam einen für sich ganz allein, von einem Sicherheitsgurt behütet. Ein Flugkörper mit großer Reichweite, auf der Navigationstafel eine Leuchtkarte des Mittelmeers. Ein langer Ausschnitt, mit 7 Grad Ost als linke, 12 Grad Ost als rechte Begrenzung. Nach Norden bis zum 44. Breitengrad. Korsika und Sardinien genau angepeilt. Was hieß das? Trupps von West-Metalle, aus einem großen Gebiet für diesen Auftrag zusammengezogen. Vielleicht ein Gemeinschaftsunternehmen mit der Trans-Union. Nisha holte ihn in die Wirklichkeit der Gegenwart zurück. Nachdem sie ihn im Lauf des Abends in Aktion gesehen hatte, reagierte sie nicht brüsk, sondern mit sehr sanfter Stimme, die verriet, daß sie mit allem, was er tat, einverstanden war. »Wir sollen bald fahren, denke ich.« Kanes hatte sich mit der Steuerung rasch vertraut gemacht. Er zog die Maschine bis zum Höhenlimit hinauf, und sie starrten durch den durchsichtigen Boden auf ein phantastisches Labyrinth von Straßen und Gassen hinunter, mit schwarzer Kreide auf eine Mondlandschaft gemalt. Er drehte das Flugboot um hundertachtzig Grad. Byrsa City zeigte sich, immer noch strahlend hell, dann Didos Burg, auf dem alten Hügel zusammengeduckt. Als sie genau auf Nordkurs waren, schaltete er den Autopiloten ein, löste alle Funkfeuerverbindungen und drückte die Taste für ›Volle Kraft voraus‹. Das Flugboot schoß wie ein lautloser Pfeil über das dunkel schimmernde Meer dahin. Kanes war todmüde. Er verließ das Steuer und streckte sich wohlig auf dem gerippten Boden des 96
Passagierraums aus. Er merkte kaum, daß Nisha durch die Kabine humpelte und Spinde öffnete, bis sie ein Schaumkissen fand, das sie ihm unter den Kopf schieben konnte. Oder, daß sie ihn zur Seite rollte, um Sitzpolster zwischen ihn und den nackten Boden zu schieben. Als sie sich zu ihm legte und ein kompliziertes Gebilde von zusammengeknoteten Overalls über sie breitete, schob er automatisch einen Arm um ihre glatten Schultern und zog sie an sich. Es war eine instinktive Geste menschlicher Solidarität in der fremdartigen Metallhülle, die sie mit unmenschlicher Geschwindigkeit über den dunklen Schoß der Erde hinwegtrug. Was er sagte, war weniger verständlich. Körperliche Beruhigung genügte. Auch sie schlief und überhörte die Wiederholung, die lautete: »Wo bist du denn gewesen, Meta?«
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6 »Ich haben sehr Hunger«, sagte Nisha. »Auch kann ich nicht gut stehen, denke ich.« Es war das erste Anzeichen von Rebellion, und Kanes fand sie in jeder Hinsicht berechtigt. In die Wunden war Schmutz eingedrungen. Sie hatte ohne Klagen weitergemacht, obwohl sie sehr gelitten haben mußte. Jetzt saß sie mit gekreuzten Beinen in der Frachtzelle und betrachtete betroffen ihre Fußsohlen. Kanes überprüfte den auf der Autokarte wandernden Lichtpunkt und schätzte, daß sie noch eine halbe Stunde von der Küste entfernt waren. Ohne Neds Kontakte wußte er nicht, welchen Empfang man ihm in Spezzia City beraten würde, auf das sie zusteuerten. Konzentrische, haarfeine Linien, die vom Kontrollturm ausstrahlten, bezeichneten die Grenzen der Flugschneisen. Sobald man ihn ortete, mußte er antworten und einen Kurs angeben. Bis jetzt war er ohne Plan vorgegangen, aber die Freiheit ging zu Ende. Nisha erhob sich und hinkte auf ihn zu, befreite die Füße von ihrem Gewicht, indem sie die samtweichen Arme um seinen Hals schlang und sich schwer an seinen Rücken hängte. Das förderte klares Denken nicht gerade, veranlaßte ihn aber zum Handeln. Er zog das Flugboot herunter, setzte auf und schaltete auf Antrieb null. Eine exotische Dhau auf ruhiger See. Nisha legte sich auf den Boden und betrachtete die Unterwasserszene durch die Beobachtungsscheibe, die Füße in der Luft, als wolle sie sich ganz von ihnen trennen. Kanes sah sie von seinem Platz aus wie im kristallklaren Wasser schwebend. Bevor sie sprechen konnte, hatte er es selbst bemerkt. Sie befanden sich über einer riesigen Meeresfarm. Der Meeresgrund war von niedrigen Mauern durchzogen, damit der 98
wachsende Dünger nicht davontreiben konnte. In jedem Rechteck waren schnurgerade Reihen kleiner, grellgrüner Sträucher gepflanzt. Proteinvorräte für die europäischen Städte an der Mittelmeerküste. Nisha sagte: »Schau!«, als ein Taucher im schwarzen Anzug ihren Kurs kreuzte. Bebrillte Augen wandten sich nach oben, zum Schatten des Bootes, dann verschwand der Taucher. »Das wird zu einem Depotkomplex gehören«, meinte Kanes. »Kein Zweifel. Irgendwo in der Bucht. Vielleicht kann man dich dort behandeln.« »Nicht gefährlich?« »Eine Arbeitssiedlung. Wohl kaum Verbindung mit Unternehmen. Aber sicher ist man in diesem System nirgends.« Er fand die Niederlassung nach fünfzehn Minuten intensiven Suchens, wobei er die Antenne um hundertzehn Grad drehen mußte. Eine Stadt auf dem Meer, erbaut auf Dreibeinträgern. Es gab eine Hauptstraße, ein Einkaufszentrum, einen Landeplatz, Anlegeplätze für große Autofrachter, und ein langes, weißes, zweistöckiges Gebäude auf seinem eigenen Kai. Eine Schrift auf dem Dach identifizierte es, und Kanes stellte das Bild schärfer ein, um sie lesen zu können. ›Villeneuve Polytech Meeresforschungszentrum‹. Auch das ging in Ordnung. Die Aussicht, dort Meta zu treffen, war gering, aber falls das Unwahrscheinliche eintrat, mußte sie ihm einiges erklären. Er berechnete einen Kurs und wählte die höchste Geschwindigkeit auf dem Wasser. Das Flugboot erhob sich wie ein Tragflügelschiff auf den Kufen. Nach zwanzig Minuten schlängelte er sich zwischen vorgeschobenen Pumpstationen hindurch, die Meereslaboratorien bedienten, und ging auf eine Geschwindigkeit herunter, bei der man unter Wasser wieder klar sehen konnte. Ein patrouillierendes Unterseeboot beschattete sie und scherte dann aus. Die niedrige Drehkuppel blieb jedoch auf 99
sie gerichtet. Zweifellos würde ein Signal melden, daß sich ein fremdes Flugboot näherte. Taucher arbeiteten gleich schwarzen Kulis und bepflanzten leere Stellen. Das Depot zeigte sich als Silberlinie am Horizont. Plötzlich wurde das Flugboot auf ein künstliches Atoll gehoben. Kanes griff nach einem Karabiner, während über Direktkontakt eine Stimme durch die Wand dröhnte. Sie lagen auf einem ovalen Deck, von Greifarmen umfaßt; hinter ihnen zeigte sich eine Kuppel. »Was sagen?« Kanes bemühte sich noch, mitzukommen, als eine zweite Übertragung in Englisch die Lage klärte. »Ihr Boot hat hier keine Navigationserlaubnis. Ich hole Sie zur Klärung ein.« »In Ordnung«, sagte Kanes. »Ich brauche ärztliche Hilfe. Unfall eines Passagiers.« Nisha nickte bestätigend und deutete mit einem Finger auf ihre Brust. Die Stimme verlor etwas von ihrer aggressiven Schärfe, klang aber noch immer argwöhnisch. »Warum haben Sie sich nicht gemeldet?« Nisha, die dem Wortwechsel wie ein kluger Hund folgte, sah zu ihm auf, als wolle sie sagen: ›Ja, richtig, warum hast du dich nicht gemeldet?‹ »Das hätte mich auch nicht schneller hergebracht.« Sie befanden sich bereits auf einem Kurs, der sie zu einem Kai bringen würde, und der Lautsprecher verstummte. Drei Matrosen erschienen auf Deck, und das zusammengesetzte Fahrzeug näherte sich einem Ankerplatz. Es gab keine Möglichkeit, das Flugboot zu bewegen, bis die Greifarme zurückgezogen wurden. Kanes öffnete eine Luke, legte Nisha über die Schulter und trat auf den Kai. Als sie hinaustraten, griff sie nach hinten und brachte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht. »Nicht zappeln, sonst werfe ich dich ins Meer.« 100
»Du vergessen Krug.« Sie hielt ihn am Rand und stieß damit gegen seine Waden, als er weiterging. So oder so, Nisha und Gilmore addierten sich zu einem Problem. Auf dem Kai ergab sich ein zweites. Ein Mann in weißem Overall, mit den Schulterklappen eines Unter-Administrators, vertrat ihm den Weg. »Ist das die Person, die ärztliche Behandlung braucht?« Nisha drehte den Kopf und sprach unter Kanes’ Arm hervor. »Es sind Füße.« Sie bewegte sie. »Woher kommen Sie?« Mit dieser Frage hatte Kanes gerechnet, und er stützte sich auf den Ruf von West-Metalle, daß das Unternehmen seine Leute deckte. »Hören Sie, es handelt sich um einen vertraulichen Auftrag. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht auf Einzelheiten bestehen würden. Sobald das Mädchen behandelt worden ist, verschwinden wir wieder.« »Wir haben keine Meldung bekommen, daß Sie in der Gegend auftauchen würden.« »Damit hat man auch nicht gerechnet. Ich hätte vor zwei Stunden in Spezzia sein sollen. Sonderermittlungen. Kein großer Erfolg, und ich bin nicht gerade scharf darauf, mich zurückzumelden, kann ich Ihnen sagen. Aber so geht es eben manchmal …« »Sie wissen aber doch, daß Sie hier nicht ohne Erlaubnis herumfahren dürfen. Bringen Sie sie mit und lassen Sie sie behandeln. Im Forschungszentrum gibt es auch einen medizinischen Dienst. Kommen Sie.« Es war bedingte Anerkennung. Ohne sich umzudrehen, konnte er wahrnehmen, daß zwei Matrosen hinter ihm Tritt gefaßt hatten. Der nächste Eingang zum Polytech-Block führte sie in ein ovales Foyer. In der Mitte ein Pavillon mit erhöhter Plattform 101
an der Seeseite. Tische und Lehnstühle. Ein Mosaikboden mit Delphinen und Walen. Meerjungfrauen auf kantigen Felsen. Eine Gruppe von vielleicht zwanzig Leuten der oberen Gesellschaftsschichten in schwarzer Taucherausrüstung, die von einem schwarzhaarigen, dicken Mann mit Bart belehrt wurden. Er unterbrach seinen Vortrag mitten im Satz, und die Augen der Hörer folgten ihnen in völliger Stille. Nisha winkte freundlich mit dem Tonkrug. Derartige Gesten galten in dieser Subkultur sichtlich nichts. Niemand reagierte. Aber es entstand Bewegung. Ein brünettes Mädchen in der hinteren Reihe zögerte eine Sekunde ungläubig und zwängte sich dann nach vorne. Meta Reid huschte wie eine Tänzerin durch das Foyer und brachte die Prozession zum Stehen. »Prosper. Was machen Sie hier?« Und, weniger begeistert: »Und was haben Sie da?« Kanes ärgerte sich. Alles gut und schön, aber nachdem sie ihn ohne Erklärung hatte sitzenlassen, besaß sie nicht das Recht, so zu tun, als sei ihr Gewissen rein. Nisha, in idealer Lage, jede Muskelveränderung zu bemerken, erfühlte die Atmosphäre und entschied, daß ein Mädchen unter solchen Umständen besser auf den Beinen stand, selbst wenn es schmerzte. Sie schlängelte sich wie ein biegsamer, schwarzer Lachs frei und blieb stehen, eine Hand auf Kanes’ Arm, um sich zu stützen. Diese Tatsache entging Meta nicht. Kanes wurde vom Unter-Administrator davor bewahrt, etwas Unhöfliches oder überhaupt etwas zu sagen. »Kennen Sie diesen Mann?« »Gewiß. Er arbeitet für meinen Vater.« »Dann überlasse ich ihn Ihnen. Mr. –?« »Kanes.« »Nun gut, Mr. Kanes. Melden Sie sich bei der Depotkontrolle, bevor Sie starten.« Ein nachdenklicher Blick auf Nisha, der jede andere als bi102
zarre Erklärung zurückwies, und er marschierte zum Kai zurück. »Zeigen Sie mir, wo die medizinische Station ist«, sagte Kanes. »Falls Sie Ihre Freunde im Stich lassen können.« »Kann ich.« Es kam ganz ruhig, als verhalte er sich äußerst ungerecht. Nisha übergab ihr die Urne und schien darauf zu warten, daß sie wieder getragen wurde. Was aufzuklären war, hatte Zeit. Es hatte genau fünf Minuten Zeit, bis die Verletzte widerstrebend einer strengen Krankenschwester übergeben wurde, die von schwarzem Charme offenkundig unbeeindruckt blieb. »Keine Sorge, wir warten draußen auf dich«, sagte Kanes, und schon war er mit Meta in einem sterilen Vorraum allein. Meta sagte anklagend: »Was tun Sie hier? Sie sollten doch längst wieder an Ihrem Computer sitzen.« »Woher wissen Sie das?« »Lassen Sie nur.« »›Lassen Sie nur – lassen Sie nur‹ – heraus damit.« »Als wir erfuhren, daß Lubin Sie abgeholt hatte, versuchte Howard, Sie herauszuholen.« »War das seine eigene Idee?« »Was halten Sie von mir?« Der offene Blick versicherte ihm, daß sie ihn nicht absichtlich im Stich gelassen hatte. »Er hat sich Zeit gelassen. Das hätte mich das Leben kosten können.« »So etwas braucht Zeit. Er hat diverse Leute an ihre Verpflichtungen erinnern müssen. Sie sollten eigentlich dankbar sein.« »Oh, das bin ich durchaus. Wie sah Ihr Beitrag aus?« »Er nahm mir das Versprechen ab, die Weisman-Sache fallenzulassen und diesen Lehrgang zu besuchen.« »Ohne eine Adresse zu hinterlassen?« »Ehrlich, das war nicht meine Idee. Ich habe aber versprochen, Sie in Ruhe zu lassen. Sie scheinen sich recht gut durchzuboxen. Wer ist dieser schwarze Kobold?« 103
»Das ist eine lange Geschichte.« »Kann ich mir vorstellen. Eine lange, schäbige Geschichte.« »Sagt Ihnen der Name Gilmore etwas? Doktor Sam Gilmore?« »Ja. Das war einer der drei Namen auf meiner Liste. Haben Sie ihn gefunden?« Kanes gab ihr die Urne mit der brandgeschwärzten Kette. »Ich habe ihn gefunden. Hier ist er.« »Was ist er, ein Flaschengeist?« »Der Haken bei Ihnen ist, daß Sie nicht ernst sein können, Meta. West-Metalle hat ihn, vermutlich in Zusammenarbeit mit der Trans-Union, vor mir erwischt. Er ist verbrannt worden. Die Überreste sind in der Urne.« Meta stellte den Krug hastig auf den Boden und trat zurück. »Was ist los mit Ihnen, Prosper? Sie sind geschmacklos.« »Erinnern Sie sich an Hedgrove?« »Den ersten?« »Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß, aber er ist von West-Metalle umgebracht worden. Man hat seine Leiche vor ihre Tür gelegt. Den bringe ich auch dahin, wohin er gehört.« »In ein Gewölbe, zu den Toten.« »Wir haben alle unsere Arbeit, und Sam Gilmore ist noch nicht fertig. Ich brauche ein Transportmittel zurück nach Wirral City, wo ich Hilfe bekomme, um ihn an die richtige Adresse zu schaffen. Wissen Sie etwas von einem Bonzen namens Gunter, Kevin Gunter?« »Sie stellen viele Fragen.« »Los, los, heraus damit, wenn Sie es wissen.« »Sie haben sich verändert. Ich weiß nicht, ob ich Sie noch mag.« »Sie stellen es genau richtig an, mich zu Dingen zu zwingen, die Ihnen nicht behagen werden.« Kanes erkannte, daß er sich grundlos aufregte. Das Ver104
trauen, das zwischen ihnen bestanden zu haben schien, war eine Illusion. Er konnte nicht erwarten, daß sie aufsprang und nach seiner Pfeife tanzte, daß sie genauso dachte wie er. Sie überlegte kurz. »Warum wollen Sie das wissen?« »Dahin kommt die Urne. Er steckt hinter allem. Ich muß ihn aber erst finden und auch hingelangen.« »Was wird mit Ihnen geschehen?« »Das ist unwichtig.« »Ich könnte Ihnen helfen. Aber unter einer Bedingung.« »Und die wäre?« »Ich komme mit.« Nach einer langen Pause setzte sich ihr Stolz durch. »Na gut, wenn Sie das so schlimm finden, können Sie sich zum Teufel scheren. Nehmen Sie Ihre kuhäugige Bajadere mit, und viel Glück auf den Weg.« Sie war schon an der Tür, als er sie einholte und ihr den Weg versperrte. »Meta. Begreifen Sie denn nicht? Das ist nicht meine Privatsache. Ich muß das tun. Sie haben Hedgrove gesehen. Sam Gilmore war auch ein ›harmloser, alter Mann‹. Es stinkt zum Himmel, Meta. Jemand muß das aussprechen. Ganz laut. Ich kann jedenfalls nicht zurück. Ich stehe außerhalb des Systems. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis Lubin oder ein anderer mich einholt. Solange ich noch Zeit habe und mich selbst erkennen kann, muß ich das tun.« Metas Augen waren weit geöffnet und plötzlich reuevoll. Sie stand nah genug, daß ihr Duft die Erinnerungen weckte. Von Unbewußtem gelenkt, beugte er sich vor und küßte sie hart. Sie wich zurück, die Hände auf seinen Armen. »Das hätten Sie nicht tun müssen. Ich verstehe auch so. Sie haben sich wirklich verändert. Sie sind zu gewandt und berechnend geworden.« Aber sie sagte es unsicher und ohne Bösartigkeit. »Keine Berechnung. Ich freue mich über das Wiedersehen.« 105
»Das mag sein, wie es will. Es gibt hier jemanden, der uns helfen könnte. Einer der Männer im Lehrgang ist ein weitläufiger Verwandter Gunters. Entfernter Neffe oder so etwas. Er könnte mir Bescheid sagen. Er hat hier die Nase voll, um genau zu sein. Er besitzt ein eigenes Weitstrecken-Flugboot. Ich wette, daß ich ihn dazu überreden könnte, eine Reise zu machen.« »Wunderbar. Geben Sie sich Mühe. Wir haben nicht viel Zeit. Man wird nach dem Flugboot fahnden.« »Wo sind Sie inzwischen?« »Ich warte auf Nisha.« »Vielleicht sollte ich lieber auch warten.« »Sie machen sich an Ihre Aufgabe. Vielleicht finden Sie dann etwas zum Anziehen für sie, sie hat ungefähr Ihre Größe.« »Das haben Sie genau ermittelt. Sie reden viel, aber ab und zu haben Sie eine gute Idee. Hier, nehmen Sie meinen Kreditstreifen. Warten Sie im Speisesaal neben dem Foyer. Bestellen Sie, was Sie wollen, ich habe Kredit genug. Wir sehen uns in einer halben Stunde.« Als sie in Craig Ventners schnellem Flugboot saßen, während die Beschleunigung sie in steilgestellte Konturliegen preßte, mußte Kanes einräumen, daß Meta eine überlegene Rivalin war. Sogar die Sitzverteilung verriet ihren Sinn für Details. Nisha lag mürrisch in einem einfachen, grauen Kleid neben dem Piloten. Meta selbst, in einem irisierenden Kupfergewand, lag hinten bei Kanes. Ventner war sofort auf den Vorschlag eingegangen. Er war ein schlaksiger junger Mann, über zwei Meter groß wie ein Watussi. Sein Kybernetik-Bein besaß einen Sonderanschluß an die Steuerkonsole seines nach eigenen Wünschen gebauten Flugboots. Damit hatte er, wie er erläuterte, beide Hände für andere Dinge frei. Seine Verbindung mit dem GunterImperium, so locker sie sein mochte, lieferte ihm ein unab106
hängiges Einkommen und einen Status, der überall schnellste Abfertigung gewährleistete. Er meldete Kanes’ Abreise, was günstig war, weil es bei dem Mangel an Dokumenten sonst sicher Schwierigkeiten gegeben hätte. Ventner sang falsch vor sich hin und tätschelte Nishas angenehm gerundeten Schenkel. »Wie steht’s denn? Füße in Ordnung?« Er löste sein Kyber-Bein und legte es über sein normales Knie. Die schimmernde, biegsame Sohle senkte sich sanft auf ihr Zwerchfell und bewegte sich wie ein Massagegerät. Ihre Laune besserte sich. Sie kicherte und hob den Fuß weg. »Kitzelt.« »Ein sehr vielseitiges Ding. Sollten Sie sich auch zulegen. Ich habe es bekommen, als ein Hai mein Bein abtrennte. Das Beste, was mir je passiert ist.« Er ließ es vom Knie an steil aufwärts stehen, während sich der Fuß wie ein wissender Kopf umsah. »Wie ein zweites menschliches Wesen. Ich kann mich davon wecken lassen, wenn ich einschlafe. Wirf eine Dose ’rüber, Meta.« Meta griff in ein Dachfach und warf die nächstbeste Dose. Das verriet eine Vertrautheit mit der Umgebung, die Kanes störte, und er war nicht erbaut, als sie seinen Blick richtig auslegte und mit einem Achselzucken beantwortete. Der Greiffuß fing die fliegende Dose ab, riß den Verschluß ab und bot das Getränk Nisha dar. Sie nahm es dankbar entgegen, machte aber einen Vorbehalt. »Ist sehr schönes Bein. Aber ich traue ihm nicht, denke ich. Lieber auf anderer Seite behalten.« Kanes sagte sich, daß es im Leben Wichtigeres gab als ein Trickbein und führte das Gespräch auf eine praktischere Ebene. »Wie gut kennen Sie Gunter, Craig?« 107
»Eigentlich kaum. Ich war einmal auf seinem Besitz. Vor zehn Jahren, etwa. Er ist ein alter Knabe. Keine Haare, soviel ich mich erinnere. Komisch.« Man hätte meinen können, daß Ventner keinen Anlaß hatte, auf körperliche Defekte anderer hinzuweisen. Kanes fuhr fort: »Es heißt, daß eine dichte Sicherheitswand besteht. Wird man Sie durchlassen?« »Das weiß ich nicht. Der Versuch lohnt sich aber. Großartige Gegend. Hügel, Moore. Hydroenergie; Reservoire.« Kanes fand, daß die Lebenskraft ihre eigenen Interessen nicht genug wahrnahm. Wenn sie die Gesellschaft in eine neue, fortschrittliche Phase treiben wollte, warf sie ihrem schwachen Beauftragten allerhand Steine in den Weg. Als anerkanntes Mitglied des Dritten Standes saß er außerdem mit zwei Aristos fest, die er nicht einfach an einer Laterne aufknüpfen konnte. Wenn man sie einzeln nahm, waren die Menschen eben Menschen. Gruppen konnten ein Ziel sein. Eine Gruppe entwickelte Züge, die bei ihren einzelnen Mitgliedern nicht unbedingt auch auftreten mußten. Aber wie zerstörte man ein Gruppenethos, ohne Menschen zu vernichten? »Einen Penny für Ihre Gedanken«, sagte Meta leise. »So viel sind sie nicht wert.« Ventners Bein, nun wieder an der Konsole angeschlossen, reagierte automatisch auf Stadt-Kontrolltürme, als sie am Rand von Wohnzonen vorbeiflogen. Nevers City, Chartres, Caen. Dann beschrieb Ventner einen weiten Bogen und stellte sich auf den Nullmeridian für einen direkten Kurs nach Norden ein. Über den verwüsteten, zerfallenen Überresten Londons steuerte er erneut nach Westen, nach Ferriby City. Lange, nackte Bergketten in Yorkshire. Weidende Schafe. Szenerie für ein ländliches Idyll. Ilkley City ortete sie am Außenring und gab ein Warnsignal, als Ventner nach Nordnordwest abwich. Eine Roboterstimme sagte: »Achtung. Verbotene Flugzone, Ziel angeben.« 108
Ventner überließ das seinem Bein, und die Mikrocomputer lieferten Antworten in einer sinnlichen Frauenstimme. Die Roboterverbindung brach plötzlich ab, und eine Männerstimme meldete sich. »Administrator Hardcastle. Geschwindigkeit herabsetzen. Welche Registrierung?« »Nicht stur sein, Ventner«, mahne Kanes. »Wir können es uns nicht leisten, daß er ein Abfangboot schickt.« Craig Ventner zeigte eine neue Seite seiner Begabung. Mit scharfer Stimme ratterte er seine Daten herunter. Die antwortende Stimme war ganz Höflichkeit. Aber sie stellte trotzdem die Frage: »Haben Sie die Genehmigung, die Grenze von Gunters Besitz zu überfliegen?« »Sie sind sehr gründlich. Ich bin überzeugt, daß mein Onkel Ihre Sorgfalt zu würdigen weiß. Ich erzähle ihm, wie gut man sich um ihn kümmert.« Eine längere Pause. Kanes fand, daß der arme Mann überfordert war. Er rang sich schließlich zu einem Kompromiß durch. »Sie können weiterfliegen. Bleiben Sie in der Schneise. Vektor 17 D. Ich verständige das Empfangsgebiet, daß Sie unterwegs sind. Ich muß darauf hinweisen, daß man Ausweise verlangt, bevor Sie durchgelassen werden.« Aus der Nähe sah das bedrohlicher aus. »Was ist, Craig?« fragte Meta. »Wie gut stehst du mit deinem Verwandten?« »Keine Ahnung. Ich habe in der Familie sagen hören, daß er seltsam geworden ist.« »Fällt das in deiner Familie überhaupt auf?« Ventner antwortete nicht. Er betrachtete ungläubig eine Reihe quirliger Skalen an seiner Konsole. Seine Hände zuckten hin und her und trimmten. Sogar sein Bein schien nicht mehr zurechtzukommen. »Hier muß ein enorm starkes Feld sein«, sagte er. »Die Geräte reagieren selbständig.« 109
Sein Bildschirm leuchtete auf, ein Mann in Trans-UnionUniform starrte sie an. Rundes, teigiges Gesicht, Namenszug auf der Brust: ›J. J. Chadwick‹. »Sie brauchen nichts mehr zu tun. Wir steuern Sie. Sie werden auf dem Empfangsgelände gelandet. Verlassen Sie die Kabine nicht.« Ventner gab sich Mühe. Sie sahen die Sehnen an seinen Händen wie Stricke hervortreten. Es nützte nichts. Die Hebel und Schalter bewegten sich wie aus eigener Kraft und steuerten das Flugboot nach unten. Sie sanken zwischen zwei hohen, nackten Hügelflanken herab, ausgerichtet auf die Längsachse eines breiten, bewaldeten Tals. Unten glitzerte Wasser, umgeben von steilem, felsigem Moorland und am Ende versperrt von der gewaltigen Parabel eines Staudamms. »Produziert seine Energie selbst«, erklärte Ventner. »Genug, um eine Schutzkuppel über den ganzen Komplex zu legen.« Sie schwebten zu einer makellosen Landung vor einem langen zweistöckigen Block hinab, der schwalbenschwanzförmig in beide Seiten des Tals reichte. Nackte, graue Mauer am Boden; darüber abwechselnd Zweimeterstreifen aus Stein und durchsichtigen Ziegeln. Flaches Dach, alle fünfzig Meter Beobachtungstürme. Chadwick erschien wieder auf dem Bildschirm. »Der Pilot, der eine Bekanntschaft mit dem Vorsitzenden Gunter behauptet, soll die Kabine verlassen.« Zwei Türme drehten ihre Kuppeln, und Laserläufe wurden ausgefahren, die sich auf die Ausstiegsluke richteten. Unten, am Boden, verschwand lautlos ein zwei Meter breiter Block, gleich einem Fallgatter. »Sie haben einen sehr argwöhnischen Onkel«, meinte Kanes. Ventner, an die Attribute der Macht gewöhnt, zeigte sich wenig beeindruckt. 110
»Sie tun ihre Arbeit. Wie man hört, gibt es eine ganze Menge Leute, die sich gern mit ihm anlegen würden. Ich gehe hin und rede mit ihnen.« Draußen stand er auf dem Kyber-Bein und schwang die Arme. Ein Kreiselstabilisator hielt ihn aufrecht, und er stand mit einem Sprung an der Öffnung. Der Lauf einer Laserwaffe folgte ihm, die anderen blieben auf das Flugboot gerichtet. Sie sahen, wie er plötzlich normal weiterging und im Inneren verschwand. Es blieb still. Kanes begann zu überlegen. Er wußte nichts von dem Mann. Er mochte alles mögliche im Schilde führen. Das Ganze war zu einfach gewesen. Meta hatte vielleicht selbst Anweisungen für den Fall bekommen, daß er auftauchen sollte. Dafür sprach aber kaum etwas. Man hatte keinesfalls damit rechnen können, daß er im Meeresforschungszentrum erscheinen würde. Ventner erschien wieder am Eingang. Winkte, um sie heranzuholen. Gleichzeitig erschien Chadwick auf dem Bildschirm. »Verlassen Sie die Kabine und betreten Sie das Empfangsgebäude.« Kanes streckte eine Hand nach der Urne aus. »Was ist das?« fragte Chadwick sofort. »Ein archäologischer Fund. Geschenk für den Vorsitzenden.« »Ich muß Sie darauf hinweisen, daß Sie keine Waffen tragen dürfen. Sie werden überprüft.« Hinter dem Eingang gab es eine Verengung, die Gänsemarsch verlangte, und eine Schranke, die sich nur nach Namensnennung öffnete. Sie gingen hintereinander über eine Metallplatte von einem Quadratmeter Größe. Die linke Wand erglühte kurz, und eine Roboterstimme wiederholte den Namen. Am Ende des Korridors erschien Chadwick mit Namensschildern, die ihnen an die Brust geheftet wurden. Drei Ganzbilder. Links, rechts und von vorne, wobei sich 111
alle Metallgegenstände durch die Stoffe abzeichneten. Bis zu den Verbandklammern an Nishas Füßen. »Hierher.« Die Stimme klang unwirsch. Kanes hatte das Gefühl, in eine Falle gelaufen zu sein. Die Außentür hatte sich bereits geschlossen, und zwei Männer in Trans-Union-Uniformen waren lautlos aufgetaucht, um Schulter an Schulter den Weg zu versperren. Man ließ sich auf kein Risiko ein. Es war kein Rätsel mehr, daß Kevin Gunter so lange überlebt hatte. Sie standen in einem umglasten Anbau, der sich hinter dem Wachgebäude befand. Ein kurzer Halbzylinder, Durchmesser fünfzehn Meter, vorne offen. Vor ihnen ein Transportsystem, dem in Wirklichkeit zu begegnen Kanes nie erwartet hatte: ein schwarzes Ungetüm aus Metall, das zwischen den großen Rädern Dampf ausstieß. Eine polierte Plakette mit dem Namen ›Eiserner Herzog‹. Kolben, Radkränze und Stangen, Geruch nach heißem Öl. »Was ist das?« fragte Nisha ehrfürchtig. Eine gute Frage, die ein paar Sekunden unbeantwortet in der Luft hing, bis Ventner seinen Kopf durch ein ovales Fenster steckte und dem Ding einen Namen gab. »Die Nachbildung einer Dampfmaschine aus dem neunzehnten Jahrhundert. Aber kein Führer. Hitze aus einer Nuklearkapsel, alle Steuerelemente an einen Autopiloten angeschlossen. Ich kann mich nicht erinnern, das schon einmal gesehen zu haben. Und als Kind vergißt man so etwas nicht so leicht.« »Es ist neu, vier oder fünf Jahre alt«, sagte Chadwick. »Vorsitzender Gunter interessiert sich für Antiquitäten.« Hinter der Antriebsmaschine stand ein einzelner Waggon mit Aussichtsplattformen vorne und hinten, alles in verschnörkeltem Schmiedeeisen und mit verblaßtem rotem Plüsch ausgestattet. Zwei Bewacher folgten ihnen und nahmen auf dem Rücksitz Platz, die Karabiner auf den Knien. 112
Chadwick betätigte sich an einer Wandkonsole, und die Räder begannen sich zu drehen. Für Kanes ein bizarres Merkmal mehr. Der öffentliche Feind Nummer eins besaß eine menschliche Dimension. In den Intervallen zwischen Morden machte es ihm Spaß, mit der Eisenbahn zu spielen. Sie kletterten an der Talwand hinauf und folgten einer schimmernden, in den Hang eingebauten Metallstraße. Eine technische Meisterleistung, die Ventner mit Begeisterung erfüllte. Dann fuhren sie steil hinab, umrundeten einen dichten Wald, der den Talgrund zu beiden Seiten des Flusses ausfüllte, und vor ihnen lag Gunters Haus. Erneut eine Ungereimtheit. Klein, quadratisch, aus Yorkshire-Steinen. Direkt aus einem alten Roman, mit der Endstation des Zuges, die einem angebauten Wintergarten glich. »Soviel ich noch weiß, befindet sich der Hauptkomplex unter der Erde«, sagte Ventner. »Das ist nur der Einstieg, sozusagen. Wohlgemerkt, ich glaube, daß er ihn von Zeit zu Zeit verändert. Ich erinnere mich deutlich an ein weißes Gebäude mit einer Säulenhalle. Kolonialstil.« Der Zug hielt fünfzig Meter vor der Station. Die Kulisse begann sich um sie zu drehen, als eine unsichtbare Drehscheibe sie um hundertachtzig Grad bewegte. Dann fuhr der Zug rückwärts unter das gewölbte Glasdach. Nisha fröstelte. »Mir nicht gefallen. Wir sind Spielzeug einer fernen Hand. Und einige Hände sind nicht weit genug, denke ich.« Ventner nahm den Arm von ihren Schultern und starrte ihn an, als sei er selbständig wie sein Bein. Jedenfalls hatte sie einen Zweifel angerührt, der sich auch in Kanes regte. Das Spiel war immer riskant gewesen, und er hatte den Ausgang nicht klar überblicken können. Er hatte sich einer Organisation ausgeliefert, die schon zwei Männer getötet hatte. Die unsichere Verbindung mit Ventner garantierte keine Sicherheit. Wieviel Initiative er auch bei Antritt der Reise gehabt haben mochte, sie war längst vorbei. Jetzt 113
lag sie eindeutig bei dem verborgenen Manipulanten, der sie heranholte. Er trat auf die Plattform hinaus, als der Wagen Millimeter vor den Puffern hielt. Am Horizont war der Talrand mit Türmen bestückt. Ein Ringzaun. Alarm- und Verteidigungssystem. Aus dem Wald drang Heulen herüber. Nisha stand mit drei Schritten neben ihm, ohne auf ihre Füße zu achten. Sie hängte sich an seinen Arm. Ein Bewacher war ihnen gefolgt und brach seinen Schweigeschwur mit der Bemerkung: »Wölfe, Lady. Noch von der Zeit her, als wir hier eine Datscha hatten. Wolfrudel auf der Jagd nach Bauern. Sehr lustig damals. Im ganzen Tal Schnee. Viele erwischen sie jetzt nicht mehr. Sie wären ein gefundenes Fressen für sie.« Kanes sah ihn an. Der zweite Bewacher dachte mit. »Versuchen Sie es nicht. Sie schaffen keine zwanzig Meter«, sagte er. Er hatte den Karabiner schußbereit in der Hand und machte ein enttäuschtes Gesicht, als Kanes zu Meta hinüberrief: »Ende der Fahrt. Bringen Sie das Geschenk mit. Auf der Schulter, wie einen Wasserkrug. Wir sollten uns der Umgebung anpassen.« Im Inneren begriffen sie, was es mit den Wandlungen auf sich hatte. Es war eine leere Hülle. Eine Fassade. Die Oberfläche wurde dunkel, als sie sich näherten, und ein gewölbtes Segment stieg langsam empor und legte eine Liftplattform frei. »Los«, sagte der gesprächige Bewacher und trat zurück, die Waffe auf Kanes’ Kopf gerichtet. »Kommen Sie nicht mit?« »Nein, Freund. Das haben wir alles schon gesehen. Halten Sie sich an die Anweisungen.« Es ging tief hinunter. Kanes schätzte, daß sie hundert Meter tief gefallen sein mußten, bevor der Käfig zum Stillstand 114
kam. Da sie dem Eingang zugewandt waren, befanden sie sich im Nachteil, als sich der Ausgang hinter ihrem Rücken öffnete. Aber es war niemand da, der sagen konnte: »Hier herüber.« Sie spürten es nur. Nisha klammerte sich an Kanes’ Arm fest, und Meta ging voran. Es gab nur den einen Weg – einen Korridor aus Akustikfliesen, der ihre Schritte verschluckte. Eine Stimme ohne Ursprung sagte: »Wer ist Craig Ventner?« Die Stimme klang nicht lauter als ein Flüstern, als sei ein Gedanke so weit verstärkt worden, daß man ihn vernehmen konnte. »Die Stimme habe ich schon gehört«, sagte Ventner. »Das ist mein ehrwürdiger Onkel.« Die anderen waren stehengeblieben. Er ging weiter. Kanes ahnte voraus, was geschehen würde, und wollte ihrem einzigen Garanten für sicheres Geleit folgen, als die Trennwand herabfiel. Er rettete sich mit den Händen und fühlte, wie die glatte, weiße Wand wieder hinaufglitt, als sie kaum zur Ruhe gekommen war. Der Korridor war leer, Ventner verschwunden. Meta sagte: »Schaut.« Hinter ihnen versperrte eine andere Wand den Rückweg. Man hatte das Gefühl, der ganze Raum sei in Bewegung. Als es aufhörte, wurden sie gedreht, und eine Wand glitt zur Seite. Ihre rechteckige Kammer war das Vestibül für ein großes, möbliertes Zimmer mit, wie es schien, natürlichem Licht durch ein großes Wandfenster, das Ausblick auf das Tal von der Frontseite des obenstehenden Hauses gewährte. Auf einer Chaiselongue saß die älteste Frau, die Kanes je gesehen hatte, die nach seiner Meinung kaum noch einen Funken Leben in sich bergen konnte. Aber die Augen in einem großen, hageren Gesicht waren lebendig und intelligent. Die Stimme, die aus dieser zerbrechlichen Anordnung alter Gebeine drang, war unerwartet kräftig. 115
»Kommen Sie herein, nur herein. Ich habe seit langer Zeit keine neuen Gesichter mehr gesehen. Sie werden mich nicht kennen. Ich bin Doktor Aminta Hyde.« Meta zischte: »Prosper. Das war der dritte Name auf meiner Liste. Was tut sie hier?«
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7 Dr. Aminta Hyde sagte mit ihrer seltsamen Stimme: »Was macht das schöne kupfrige Mädchen mit dem Wasserkrug? Man kommt sich vor wie im Alten Testament. Kommen Sie näher, meine Liebe, und lassen Sie sich ansehen.« Mit der Empfindung, daß sie in einer Scharade mitspielte, trat Meta vor, und Kanes sah sie mit neuen Augen, als sei es zum erstenmal. Leise klirrender Knöchelschmuck; goldene Brustbänder; gemessener Schritt einer Priesterin. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Er rief durch Assoziation ein Bild des Ruinen-Krematoriums und des Inhalts ihrer Urne hervor. Meta kniete vor dem Sofa nieder, den Krug neben sich. »Doktor Hyde«, sagte Kanes. »Wir haben vielleicht wenig Zeit. Es war ein weiter Weg, Überlebende der WeismanGruppe aufzuspüren. Das ist wohl der letzte Ort, wo ich einen erwartet hätte.« »Reden Sie nicht um den Brei herum, junger Mann. Sehen Sie mich an. Was sehen Sie?« »Sie müssen sehr alt sein.« »Weichen Sie nicht aus. Ich bin unglaublich alt. Abstoßend alt. Zu alt, um noch am Leben sein zu dürfen. Mir kann nichts geschehen, was mich noch rühren würde, junger Mann. Begreifen Sie das? Kevin Gunter versteht es. Er läßt mich in Frieden. Es gibt nichts, was er mir antun könnte. Überhaupt nichts. Sobald man wahrhaft zum Sterben bereit ist, hat man eine sehr starke Position.« »Sie kennen die Gefahr?« »Für mich besteht keine Gefahr. Nicht mehr. Vor Jahren, ja. Aber jetzt nicht mehr. Gunter ist sogar noch älter als ich. Es gefällt ihm, mich hier leben zu lassen. Ich bin seine Kontrollgruppe. Das zeigt ihm, wie er selbst wäre, wenn er sich 117
nicht an seinen eigenen Weg gehalten hätte. Aber bei Ihnen könnte es anders sein. Ich muß Sie bitten, vorsichtig zu sein. Er ist immer noch eine gefährliche Person. Wenn man den Ausdruck ›Person‹ verwenden kann.« »Gefährlich ganz bestimmt. Zwei von den Leuten, die wir aufspürten, sind von seinen Agenten umgebracht worden, bevor wir mit ihnen sprechen konnten. Erinnern Sie sich an einen Doktor Hedgrove?« Kanes und Nisha waren nah herangetreten. Meta kniete immer noch, den Kopf zurückgelegt, und beobachtete die funkelnden Augen des Totenschädels. Aminta Hyde schien sie ins Herz geschlossen zu haben. Eine durchsichtige Hand mit Adern und Knochen gleich einem anatomischen Modell ruhte auf ihrer Schulter. »Helfen Sie mir auf, meine Liebe.« Meta hatte auf körperliche Häßlichkeit stets neurotisch reagiert, aber obwohl es ihr so vorkam, als hebe sie einen leichten Sack voll locker miteinander verbundener Knochen, schreckten ihre Nerven nicht zurück. Die Seele der alten Frau war so groß, daß ihre Persönlichkeit sogar diese überaus große Gebrechlichkeit in etwas Hinnehmbares verwandelte. »Charles Hedgrove. Ich kenne Charlie Hedgrove sehr gut. Zu verschlossen für mich. Immer in sich zurückgezogen. Keine gute Wahl für eine Gruppe. Aber er hatte Talent. Weisman hielt viel von ihm.« »Gunters Leute fanden ihn vergangene Woche vor uns. Er starb in einem Graben.« »Das wird ihm nicht recht gewesen sein.« »Wem schon?« Meta stützte sie immer noch und sah ein leichtes Zucken der Lippen, das als Lächeln gelten konnte. »Wahr. Sie begreifen schnell. Ich mag scharfsinnige Mädchen. Aber er war stets sehr korrekt und präzise. Er glaubte, wir würden im Land eine neue Macht darstellen, und rechnete damit, zu großer Autorität aufzusteigen. Er hat also bis jetzt gelebt und ist in einem Loch umgekommen? Wenn ich wei118
nen könnte, würde ich weinen, obwohl ich den Mann nie gemocht habe. Wer war der andere?« »Er hieß Gilmore. Doktor Sam Gilmore.« Meta spürte einen leichten Druck der zerbrechlichen Hände an ihrem Arm, als habe eine Katzenpfote in trockenes Laub gegriffen. »Sam Gilmore. Ja, ich kannte Sam. Wir arbeiteten an der Programmierung zusammen. Sam. Ich dachte, mich könnte nie mehr etwas bewegen. Sam war … Und Sam ist tot, sagen Sie? Ich konnte nie glauben, daß Sam tot sei. Ich glaubte stets, daß er irgendwo lebte. Sogar, daß ich ihn vielleicht wiedersehen würde. Nicht, daß er mich so sehen sollte. Nicht so.« »Er ist da«, sagte Nisha. »Wieder da. Ist Kismet, denke ich. Hier.« Sie hob den Tonkrug mit der Kette. Aminta Hyde war als Körper nur in Andeutungen anwesend, aber über die Schärfe ihres Geistes gab es keine Zweifel. Wenn das Alter ihre Reaktionen beeinträchtigt hatte, mußten sie in ihren besten Tagen unglaublich subtil gewesen sein. Sie begriff blitzartig. »Sie haben ihn also hergebracht, um ihn Gunter vor die Tür zu legen? Ihn mit seinem Verbrechen zu konfrontieren. Das wird ihm nicht gefallen. Alles, was Distanz hält, vermag er zu verarbeiten, aber mit unerfreulichen Tatsachen in nächster Nähe wird er nicht fertig. Deshalb bin ich hier sicher gewesen. Er kann sich nicht dazu überwinden, meine Hinrichtung zu befehlen. Aber Sie kennt er nicht. Sie müssen vorsichtig sein.« Kanes fragte sich nebenbei, auf welchem Gebiet seine Vorsicht von Belang sein konnte, und begriff dann, daß sie zum Teil deswegen sprach, um Zeit zu gewinnen und Gilmore in seiner Urne akzeptieren zu können. »Es muß irgendwo einen Sinn geben. Warum sollten gute Erinnerungen schmerzlich sein?« Sie hatte die Kette von der Urne genommen und drehte sie um ihre Knochenfinger. Die Stimme war nur ein Wispern. »An meiner Haut müssen Male 119
wie Stigmata sein, wo dieses Metall sie früher berührt hat.« Sie steckte die Hand in den Krug und ließ graues Pulver gleich Sand durch die Finger laufen. »Asche und verdorrte Knochen, wir beide.« »Es tut mir leid«, sagte Kanes leise. »Wir waren egoistisch, haben nur an uns gedacht.« »Nein. Es spielt keine Rolle. Ich bin froh, daß ich an Sam erinnert werde. Die Vergangenheit war wirklich. Manchmal halte ich sie für eine Phantasiewelt, die ich mir hier erträumt habe.« Ihre Stimme wurde kräftiger. »Es war ein großes Projekt. Es hätte Erfolg verdient. Wir konnten nichts dafür, daß es versagte.« »Können Sie uns davon erzählen?« fragte Meta Reid. »Was wissen Sie?« »Nur, daß im Forschungszentrum Glastonbury ein Experiment durchgeführt wurde, dessen Ergebnisse unterdrückt worden sind.« »Unterdrückt. Von Anfang an gab es Opposition durch Männer wie Gunter, Unternehmensführer. Es war die Zeit der Crowther-Regierung. Liberal. Ein neuer Anfang, ein neuer Blick auf das gesellschaftliche Chaos, in das uns Jahrtausende des Fortschritts geführt hatten. Weismans Labor hatte das Programm für die Industriestabilisierungscomputer entwickelt. Es paßte Menschenmaterial in ein System ein, das längst die evolutionäre Entwicklungsrate genau jener Säugetiere überholt hatte, denen es seinen Ursprung verdankte. Wir sind die einzige Gattung, die je eine für sich fremdartige Umwelt geschaffen hat.« Nisha verlor den Faden und trat ans Fenster. Kanes zog für Meta einen Stuhl heran und stützte sich auf die Rückenlehne. »Jemand kam auf die Idee, daß wir eine Gruppe von Fachleuten bilden sollten. Biologen, Mathematiker, Wirtschaftler, Verwaltungsexperten, Psychologen. Jedes Gebiet sollte von den besten Gehirnen behandelt werden. Sie sollten ihr Denken über Zeitprobleme koordinieren, einen Generalplan für das 120
nächste Jahrhundert entwickeln. Weisman geriet in Eifer und verfeinerte das Ganze. Er schlug eine echte Zusammenschaltung von Gehirnen unter Einfügung von Filtern vor, die persönliche Faktoren ausschalten sollten. Wissen Sie, wie viele Gehirnzellen der Durchschnittsmensch hat?« »Millionen, denke ich«, sagte Meta. »Milliarden. Zehn, um eine grobe Zahl zu nennen. Die Komplexität der möglichen gegenseitigen Verbindungen zwischen Zellen ist genau das, worum es beim Menschen geht. Wenn man diese Kapazität verdoppeln könnte, bekäme man einen Übermenschen. Weisman wollte fünfzig. Die führenden Gehirne auf allen Gebieten so zusammenschließen, daß vollständiges Verschmelzen und Wechselwirkung möglich wurde. Statt zehn Milliarden Zellen der Hirnrinde – fünfhundert Milliarden Zellen, die als einziges Bewußtsein funktionieren. Komplexität in logarithmischer Progression gesteigert. Der Übermensch. Jemand, der endlich die Stufengröße der Probleme erreichte, die sich eine aus den Fugen gegangene Gesellschaft selbst geschaffen hatte.« »Klingt vernünftig«, meinte Meta. »Es war vernünftig. Aber auch Unsinn.« »Wieso?« »Der Gedankengang war richtig, aber die Voraussetzung falsch. Ein solcher Geist würde, wenn man ihn schaffen konnte, die gestellten Fragen wirklich beantworten. Aber Gehirne auf einer weniger ehrgeizigen Stufe konnten die richtigen Fragen nicht stellen. Und wenn sie zufällig geeignete Fragen fanden, waren sie nicht dafür ausgerüstet, die Antworten zu verstehen.« »Dem kann ich folgen, glaube ich«, sagte Kanes langsam. »Da ist aber doch noch nichts, was gefährlich wäre. Nichts, was das Establishment aus den Angeln heben könnte.« Aminta Hyde betrachtete die Kette in ihrer Hand. »Sam war begeistert. Er betrachtete das als Offenbarung. Vor Jahrhunderten wäre er ein religiöser Mensch gewesen.« Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund öffnete sich plötz121
lich. Sie hätte eine Leiche sein können. Sie war ohne Ankündigung in Greisenschlaf verfallen. »Wenn sie Gunter richtig beurteilt, sind wir in seinem eigenen Haus am sichersten«, sagte Meta. »Möglich, aber darauf würde ich mich nicht verlassen. Wo hört seine Rücksicht auf? Im Tal oder einen Meter vor der Tür? Ich möchte wissen, wie er mit Ventner auskommt.« Die Frage hing noch in der Luft, als das Vestibül, das als offener Zugang in der Wand gegenüber dem Fenster verharrt hatte, einmal um seine unsichtbare Achse gedreht wurde und Ventner mit seinen Freunden vereinte. »Craig, alles in Ordnung?« fragte Meta mit einer Wärme, die Kanes auf die Nerven ging. »Du siehst erschöpft aus.« Ventners Gemütszustand war daran zu erkennen, daß er hereinkam, ohne einen neuen Trick seines Beins vorzuführen. Er wirkte verwirrt. »Nun, haben Sie mit ihm gesprochen?« erkundigte sich Kanes. »Ich glaube.« »Sie glauben? Was soll das heißen?« »Drängen Sie ihn nicht«, sagte Meta. »Sie sehen doch, daß er einen Schock davongetragen hat.« Ventner ging zu Nisha ans Fenster und legte zerstreut die Hand auf eine Stelle, wo die Natur in ihrer Weisheit großzügig gewesen war. Das schien ihm klaren Kopf zu verschaffen, als bestätige die Berührung die Welt der Sinne. Er tätschelte die Stelle zweimal und legte den Arm um ihre Hüften. Nisha, die der geistigen Anstrengung, dem Gespräch folgen zu wollen, entschieden müde war, betrachtete das als deutlichen Fortschritt und hörte auf zu schmollen. »Erzählen Sie von diesem Onkel«, sagte sie. »Ich bin in einen Raum in diesem Stockwerk gekommen, glaube ich. Beschwören könnte ich es aber nicht. Trübes Licht. Eine Menge roter Vorhänge, in der Mitte eine Art Glaskasten. Er sagte: ›Du bist also Craig Ventner-Carolyns Sohn?‹« 122
»Wer sagte das?« fragte Meta scharf. »Das ist es ja. Ich meine, daß es Gunter war, aber ich konnte nicht so gut sehen. Es sah aus, als liege er auf einem Operationstisch. Ringsum Apparaturen. Infusionsapparat, Pumpen, Zähler. Und Verstärker. Und noch etwas.« »Noch etwas?« »Soviel ich erkennen konnte, bestand eine Unterbrechung zwischen Kopf und Rumpf. Zwei getrennte Objekte. Ich weiß mit Sicherheit, daß vor Jahren bei ihm ein großes Mechanisierungsprogramm durchgeführt wurde.« »Eine logische Fortführung«, sagte Kanes. »Wenn man es sich so eingerichtet hat, daß alles, was man haben will, zu einem kommt, braucht man keine persönliche Beweglichkeit mehr. Sobald man das akzeptiert hat, kann man sich im großen Stil mechanisieren. Mit der Hydroenergie, die er sich geschaffen hat, und dieser tiefgelegenen Zufluchtsstätte hat er sich eine Art Unsterblichkeit gesichert.« »Wozu?« »Diese Frage kann man nicht stellen. Ihm muß das ausreichend erscheinen. Er kann mit seinem Park spielen, die Kulisse oben verändern. Mit der Aktualitäten-GmbH durch die ganze Welt streifen. Geld verdienen. Macht ausüben.« »Er kann nicht lieben.« Nisha war dem Gespräch gefolgt und sah aufmerksam vom einen zum anderen. »Das ist wahr.« Ventner drückte sie zärtlich. »Diese Sammlung elektronischer Apparate wüßte nicht, was sie mit einem Mädchen wie Sie anfangen sollte. Ich finde, wir sollten Sie hineinführen. Sie könnten um seinen Zauberkasten herumtanzen und feststellen, ob seine Zufuhrröhren Krämpfe bekommen.« »Du widerst mich an, Craig«, sagte Meta, die sich als Minderheit sah. »Dein Gehirn kennt keine Feinheiten, kein Wundern. Dieser Gunter hat sich vom hinfälligen Fleisch befreit und steht außerhalb der Reichweite deines winzigen Verstandes.« 123
»Und die Männer, die er umbringen ließ, wie ihr sagt?« »Das ist eine andere Frage«, warf Kanes ein. »Wenn er findet, daß die Weisman-Resultate gegen die gesellschaftliche Stabilität verstoßen, wird er sie aus reinem Selbsterhaltungstrieb unterdrückt haben wollen. Jeder lebende Organismus kennt nur ein Ziel: am Leben zu bleiben. Wohlgemerkt, das mit seiner Eisenbahnspielerei ist mir nicht klar. Vielleicht ist er im Grunde ein kleiner Junge.« »Wer kann sagen, wie sich eine Psyche entwickelt, wenn man sie von ihrem Körper trennt?« sagte Meta. »Es gibt dann keine darüberstehende menschliche Organisation mit einer bestimmten Zielrichtung. Geist und Körper zusammen formen eine bestimmte Persönlichkeit; sie begnügen sich mit einem Kompromiß. Befreie den Geist völlig, und die Elemente geraten ins Extrem. Craig würde beispielsweise das Tal mit mannbaren Mädchen füllen.« »Was würde mir das nützen, wenn ich aussähe wie Gunter?« »Ich bin sicher, daß dir etwas einfallen würde.« Aminta Hyde war plötzlich wieder bei der Gruppe, erfrischt durch ihren kurzen Schlaf. »Die Lust an der Macht hält länger an als die der Sexualität. Der Machttrieb ist auch ursprünglicher, obwohl man das meist nicht erkennt.« Es blieb keine Zeit, dieser Bemerkung nachzugehen. Die Eintrittskammer drehte sich erneut. Diesmal enthielt sie einen vierstöckigen Servierwagen voll Speisen: Er bestätigte nachdrücklich, daß es einen noch ursprünglicheren Trieb als die beiden anderen gab. Nisha entwand sich Ventners Arm und humpelte darauf zu. Kanes wurde dadurch auf einen anderen Gedanken gebracht. Gunter würde, bei seinen beschränkten Vergnügungen, genau verfolgen, was in seinem Haus vorging. Er würde alles mithören, was sie sagten. Vielleicht sogar Zusehen. Er holte sich Kaffee und etwas zu essen und ging das ganze Zimmer ab. 124
Zehn Meter lang. Fünf Meter hoch bis zu einer beleuchteten Decke. Drei Unterbrechungen an jeder Längswand, die zu anderen Räumen führen mochten. Ein Polstersofa, fünf Stühle, ein Regal mit Magnetbändern, ein Abspielgerät auf Rollen. Hinter der Decke mochte alles mögliche liegen. Akustische und visuelle Beobachtung war kinderleicht. Gunter wußte also bereits über sie Bescheid und störte sich nicht daran. Denn sie würden hierbleiben, wie Aminta. Sogar Ventner. Er konnte nicht zulassen, daß Ventner fortging und über seinen Zustand berichtete. Es mochte sein, daß niemand außerhalb des Hauses Bescheid wußte. Nicht einmal seine eigenen Leute. Man konnte Roboter einsetzen, um alle notwendigen Reparaturen zu erledigen. Sein Gehirn würde die ständige Herausforderung, sich am Leben zu erhalten, genießen. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer erschien ihm, daß er recht hatte. Das hieß, daß es vor allem darauf ankam, einen Fluchtweg zu finden. Überall von einem Mann beobachtet, der keinen Schlaf brauchte. Er prüfte, die Unterbrechungsstellen. Sie glitten auf Berührung zur Seite. Auf jeder Seite gab es ein Badezimmer und zwei gutausgestattete Schlafräume. Einer davon wies Anzeichen der Benützung auf. Drei für Besucher. Ein einfaches Rechenexempel bewies, daß man sich in die Zimmer teilen mußte. Seine Gedanken zuckten davor zurück. Bevor sie einen Ausbruchsversuch unternahmen, mußten sie mehr von Aminta Hyde erfahren. Meta hatte ihr den Servierwagen gebracht, und sie aß mit seniler Gier. Ein Teil seiner Gedanken beschäftigte sich weiterhin mit der Lage der Zimmer, auf der Suche nach einem Ausgang. Laut sagte er: »Sie sprachen von Weisman, Doktor Hyde. Was ging schief? Es klang doch sehr sinnvoll.« »Es waren fünfzig Personen. Weisman blieb außerhalb, aber die anderen Angehörigen des Forschungsteams schlossen sich an. Fünfzig Zellen in einem Fünfeck, in der Mitte die Steuerkonsole. Wir setzten Elektrodenhelme auf und tranken 125
ein Beruhigungsmittel, um die überschüssigen Nervensignale auszuschalten. Weisman sprach auf uns ein, mit sehr weicher, überzeugender Stimme.« Nisha und Ventner traten zu der Gruppe um den Servierwagen. Aminta Hyde sprach wie ein Medium in Trance. Sie war durch den Vorhang der Jahre zurückgeschlüpft und erlebte die Szene noch einmal. »Zuerst herrschte nur Verwirrung. Sam erklärte mir hinterher, er habe an mich gedacht und nicht vergessen können, daß ich – nun, er konnte etwas nicht loswerden und zeigte sich auf dem Bildschirm als blutroter Schatten. Auch andere. Der Himmel allein weiß, woran einige dachten. Dann erreichte Weisman die völlige Zusammenschaltung und führte die erste Frage ein. Auf der Empfangsseite war das seltsam. Wie ich mich entsinne, herrschte das Gefühl, daß die Frage begriffen war, ohne eigentlich zu wissen, worum es sich handelte. Weisman hatte vorher schon erklärt, daß es so kommen könne. Jedes Gehirn war zu einem funktionierenden Bestandteil einer größeren Organisation geworden, und nur der Gesamtverstand wußte, was vorging. Alle Beteiligten waren vorher auf ihre Denkweise geprüft worden. Die meisten von uns setzten alles in Worte um. Sätze schossen durch meinen Kopf. Alles, was ich je über Familienrechtsreform gehört oder gelesen hatte. Eine Spezialistenfrage, zu der von den juristischen und soziologischen Vertretern die besten Reaktionen kommen mußten, aber wir anderen prüften die Logik und lieferten Ergänzungsmaterial.« »Was kam dabei heraus?« fragte Meta. »Dabei nichts Verblüffendes. Es lag nahe, daß die Kontrollen notwendig waren. Die duldsame Gesellschaft hatte immer noch einen schlechten Ruf, seit dem Zusammenbruch um 1990. Tatsächlich zeigte sich eine Neigung zur Erhöhung der Altersgrenzen bei Ehekontrakten, die Abschaffung aller Ausnahmen, um die Auflösung zu erschweren.« 126
»War das auch Ihre Meinung?« »Es war keine Meinung irgendeiner Person. Da zeigte sich erstmals, daß der zusammengefaßte Verstand nicht eine Durchschnittslösung oder Mehrheitsantwort liefern, sondern eine eigene, selbständige Antwort vorlegen würde, wofür es in den einzelnen Gehirnen keine Hinweise gab.« »Diese Antwort muß aber den Organisatoren gefallen haben«, erklärte Kanes. »Nun, es gab auch bedeutsame Einzelheiten. Insgesamt stimmte man für Steuerung, aber es gab einen Plan für eine Beseitigung der zentralisierten Autorität. Bezirks- und Stadträte mit wirklicher Machtbefugnis. Verantwortung für örtliche Angelegenheiten auf gewählte Versammlungen übertragen. Wahlrecht für alle Bürger.« »Wie hing das mit der Frage zusammen?« »Eines lernten wir – in der Soziologie ist nichts einfach. Man kann nicht an irgendeinem Teilstück herumflicken, ohne in die Tiefe zu gehen. Ich hatte viele Jahre Zeit, darüber nachzudenken, und sehe, daß es richtig war. Psychologisch gesehen ist es notwendig. Wenn eine Gruppe die Beschränkung individueller Wünsche hinnehmen soll, muß man jeden einzelnen damit befassen. Eine Art Sublimierung eines Triebes zu einem anderen.« Craig Ventner wurde unruhig. Er sagte sich, daß Aminta Hyde beste Gelegenheit hatte, ihm die Ohren vollzuschwatzen, daß sie ein Jahrzehnt des Schweigens ausgleichen wollte. Er schob Nisha zum Fenster, als habe er genug gehört. Draußen am Wald begann es zu dunkeln. Ein langer Tag. Abgesehen von seinem Bein fühlte er sich bettreif. Aminta Hyde fuhr fort: »Wir hatten zwei Sitzungen am Tag. Weisman hatte schließlich ein – Manuskript von zwanzigtausend Wörtern. Ein Planungsdokument für politische und soziale Reformen. Jeder von uns hatte eine Kopie davon, und wir konnten nicht glauben, daß wir das hervorgebracht hatten. Eine Kopie ging an das Amt für Innere Angelegenheiten der 127
westlichen Hemisphäre, und am nächsten Tag erschien ein Kommissar mit seinem Stab und einer Abteilung von Sicherheitsbeamten.« »So war das also? Man hat den Laden dichtgemacht?« Metas Stimme klang enttäuscht. »Nicht sofort. Es fand noch eine Sitzung statt, und wir spürten den Unterschied sofort, als wir zusammengeschaltet wurden. Weisman nahm zum letztenmal Kontakt auf und führte ein Fragemagnetband ein. Dann versuchte er die Einstellung zu verfeinern. Ich konnte ihn von meinem Platz aus sehen. Zwischen seinen Händen und den Reglern waren gute zehn Zentimeter. Er konnte sich nicht bewegen. Er schrie etwas, das ich in meiner schalldichten Zelle nicht hören konnte. Ich sah, daß einer der Bewacher auf ihn losging, und er stand da, ein Bein erhoben, wie eine Marionette. Niemand konnte sich bewegen. In meinem Kopf ging etwas vor. Ich dachte tiefer als je zuvor. Ganz konzentriert, und doch wußte ich nicht, worum es ging.« Sie verstummte, und Kanes befürchtete schon, daß sie wieder durch Schlaf unterbrochen werden würde, aber sie war erregt durch ihre Erzählung. Sie durchlebte alles noch einmal und war in mancher Beziehung ebenso Zuhörerin wie sie alle, so, als lasse sich die Erklärung vielleicht in einer Tatsache finden, die ihr noch nicht aufgefallen war. »Es war wie in einem Wachsfigurenkabinett, in einer Kuriositätenschau im Stil des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Für uns im Netz bedeutete es jedoch Leben in neuer Intensität. Ich fühlte mich erhoben, in eine andere Dimension entrückt. So etwas fühlt man einmal im Leben, wenn man Glück hat. An der Schwelle einer Entdeckung, die den krummen Weg geradebiegt. Ein Durchbruch auf einem Arbeitsgebiet, dem man sich ganz gewidmet hat. Eine Art Erleuchtung durch Liebe. Sinne und Verstand weißglühend verschmolzen, einmalig. Wenn Sie es wissen wollen, ich dachte mit dem Rest indi128
viduellen Bewußtseins an Sam Gilmore, und ich spürte, daß er an mich dachte. Es wurde dunkel. Dann hell. Dann wieder dunkel. Es gab keine Bewegung. Nur diese Erhabenheit und Gemeinsamkeit. Dauernd und nicht dauernd. Zeit und nicht Zeit. Ein stilles Zentrum, in dem Unendlichkeit enthalten war.« Das Licht vom Pseudofenster war längst erloschen. Die Decke erglühte blaßviolett. Leichenlicht. Sie lauschten einer sprechenden Leiche. Meta schauderte, und Kanes legte den Arm um sie. Ventner und Nisha waren verschwunden. Im trüben Licht starrten die Augen der alten Frau ins Leere, während sie die Vergangenheit noch einmal durchlebte. Ihre Stimme klang brüchig und heiser, ungewohnt des vielen Redens. »Nicht weitersprechen«, sagte Kanes leise. »Ruhen Sie sich aus. Es ist gut. Keine Aufregung.« Aber sie war hypnotisiert davon. Sie sprach weiter, als habe sie ihn nicht hören können. Ein Schluchzen schüttelte ihren zarten Körper. »Dann war es fort. Ganz fort. Ein Satz wiederholte sich unablässig. – ›Was am knappsten ist, begrenzt Qualität und Quantität lebender Organismen; beim Menschen ist dieser Steuerfaktor die Liebe.‹ ich konnte eine der Elektroden an meinem Kopf spüren.« Eine Hand berührte die Stelle. »Ich war müde. Todmüde und einsamer, als ich mich je in meinem Leben gefühlt hatte. Ich wußte, daß ich ich war und daß ich nicht mehr leben wollte. Es hatte keinen Sinn mehr. Überhaupt keinen. Überall herrschte Lärm. Schreien. Hitze. Eine große Flammenzunge leckte von der Steuerkonsole empor. Kadmiumgelb und blutig. Mauerwerk stürzte ein. Es war mir gleichgültig. Ich wollte dort bleiben. Sam Gilmore zerrte mich heraus, und ich wehrte mich. Ich biß ihn in den Arm. Aber er war zu stark. Er zog mich heraus. Es war noch dunkel, und am Himmel standen mehr Sterne, als ich je gesehen hatte. Wir lagen auf dem Pflaster, klammerten uns aneinander und sahen 129
zu den Sternen hinauf.« Sie sah sie wieder, zu Gunters Trickdecke hinaufstarrend, als gebe es keine Barriere zwischen ihr und dem Nachthimmel über dem Tal. »Ich fühlte, daß alles gut sein würde, wenn ich weinen konnte, aber ich konnte nicht. Ich habe nie weinen können. Später wußten wir, daß wir zweiundsiebzig Stunden dort gewesen waren. Zweiundsiebzig Stunden, die hundert Leben wert waren. Die Regierung der westlichen Hemisphäre machte ein Ende. Man hatte die früheren Ergebnisse gelesen und wußte, daß man eingreifen mußte. Menschen wie Gunter konnten die Programme nicht hinnehmen. Dann mußten sie ihre Leute einsetzen. Das neue Gehirn kämpfte, um sich am Dasein zu erhalten, und ein bombardierungswütiges, militärisches Genie beschloß, das Gebäude zu zerstören.« »Was wurde aus den anderen?« fragte Meta. »Einige starben bei der Bombardierung. Viele wurden in ein staatliches Sanatorium gebracht. Körperlich fehlte ihnen nichts, aber sie starben trotzdem. Eine Art totaler Entmutigung. Man zeigte uns einige der späteren Niederschriften; aber wir konnten sie nicht verstehen. Welche Ironie! Wir wußten, daß es etwas Wunderbares und Wichtiges war, aber was wir gemeinsam hervorgebracht hatten, war für jeden einzelnen von uns zu fortgeschritten, als daß wir es hätten verstehen können. Jetzt bin ich die letzte, und ich weiß nicht, worum es ging.« »Gibt es keine Aufzeichnungen?« fragte Kanes enttäuscht, obwohl keine Aussicht darauf bestand, daß er mit einem solchen Dokument etwas hätte anfangen können. »Nur hier.« Sie wies auf ihren kahlen Kopf. »Nur hier, und bald nirgends.« Gleichzeitig kramte sie in ihrem Kleid und zog ein Medaillon an einer dünnen Platinkette heraus. Sie verdeckte das Manöver vor dem allessehenden Auge, löste es von der Kette und hatte es in der Hand, als sie den Arm nach Kanes ausstreckte, damit er ihr half, sich aufzusetzen. 130
Es war ein Akt des Vertrauens und der Resignation zugleich. Die violette Decke wurde hell, grell-weiß, wie in einem Operationsraum. Gunter hatte gesehen, daß das Spiel zu Ende war. Ohne Zweifel hatte er jedes Wort verfolgt. Als selbsternannter Wächter des Establishments hatte sich seine Ansicht bestätigt, daß keine weitere Bedrohung vorlag. Kanes empfand kalte, bittere Wut. Von ein paar hundert Kilogramm diverser Legierungen abserviert zu werden! Ohne eigentlich zu wissen, was er tun wollte, ergriff er Sam Gilmore in seiner Urne und hob ihn an die Decke. »Da, du Bastard mit deinen Elektronik-Innereien!« schrie er. »Nimm mir das ab. Ein Krug mit menschlichen Überresten. Wohin hättest du sie gern?« Zu seiner gewaltigen Überraschung kam Antwort. Sic wurde stereofonisch übertragen, so daß es schien, als stehe Gunter hinter ihm. Er fuhr herum. »Stellen Sie die Urne in die Eingangskammer, Kanes. Und regen Sie sich nicht auf. Sie können nichts tun. Gar nichts. Nie mehr.« Es war eine gemessene, bedächtige Stimme, die Vergnügen an der bloßen Technik der Mitteilung hatte. Lässige Allmacht, wie ein Gott, der seinen Namen wußte. Aber das schien kein großes Rätsel zu sein. Er konnte ihn von Ventner erfahren haben. Aminta Hyde sagte: »Mit mir hat er seit Jahren nicht direkt gesprochen. Tun Sie, was er sagt. Er kann seltsame Dinge mit diesem Raum anstellen, und ich ertrage nichts mehr.« Kanes stand an der Schwelle der Kammer, um den Krug hineinzustellen. Er hatte ihn für Gunter mitgebracht, es war sinnlos, ihm ihn nicht zu überlassen. »Warten Sie«, rief Meta scharf. »Was ist?« »Vorsicht. Er läßt vielleicht eine Trennwand herabfallen und schafft Sie fort.« 131
»Könnte sein.« Er holte den Servierwagen, machte Platz und stellte die Urne darauf. Hübsche Auswahl für die Roboterküche. Er gab dem Servierwagen einen Stoß, und dieser prallte an die gegenüberliegende Wand, so daß die Urne ins Wanken geriet. Eine Pause. Verstört tauchte Nisha auf, bekleidet mit einem karierten Dreieckshöschen. Die Kammer begann sich zu bewegen, und Kanes erkannte das mechanische Prinzip: wie eine Drehbühne, auf einer Achse hinter der Rückwand drehbar. Vier oder fünf Kammern, einzeln auftauchend, Innenwände, die sich verschieben ließen. Ohne zu überlegen, packte er einen Stuhl und stieß ihn in die enger werdende Lücke, als die Wand des nächsten Abteils herankam. In die Lücke mit dem Servierwagen zu stoßen, hätte keinen Gewinn gebracht. Aber in Bodenhöhe gab es eine Unterbrechung, als ein Schiebeflansch aufgehalten wurde. Kanes erblickte festen Boden in drei Meter Tiefe, mit einem Gewirr von Kabeln. Die Stuhlbeine gaben unter dem Druck nach und begannen abzubrechen, als er hinuntersprang. Meta Reid folgte ihm blitzschnell in die langsam sich schließende Lücke. Die Bodenplatte, vom Hindernis plötzlich befreit, schnellte zu, und sie landeten in völliger Dunkelheit. Niemand sonst hatte sich bewegt. Außer, daß Kanes und Meta wie durch Zauberei verschwunden waren, hatte sich an der Szene nichts verändert. Unten orientierte sich Kanes durch Tasten. Als Meta auf seinen Rücken gesprungen war, hatte er zuerst geglaubt, die Decke sei eingestürzt. Er half ihr auf die Beine und wußte schon, bevor sie sprach, wer es war. Und er freute sich. Schon, als er sich aufrichtete, erkannte er, daß sie voreilig gehandelt hatten. Wenn der Keller nur mit dem Raum darüber übereinstimmte, saß er aus eigener Schuld in einer Falle, aus der ihn Gunter nicht einmal mit seinen Robotern retten konnte. 132
Er prüfte in der Brusttasche seiner Kombination nach, ob Aminta Hydes Medaillon noch da war. Es gab keinen Zweifel, wohin es gelangen mußte, und jede Auseinandersetzung mit Gunter hatte zu warten, bis es unterwegs war. Der Dritte Stand ermangelte eines politischen Dokuments. Etwas Besseres als den Glastonbury-Kode konnte man ihm nicht bieten. »Wohin?« fragte Meta. Sie hielt sich an ihm fest, damit er nicht in der Dunkelheit verschwinden konnte. Er fuhr ihr mit der Hand zart über das Gesicht. »Warum sind Sie mir nachgesprungen?« »Das darf man ein Mädchen nicht fragen, wenn man es in einem Grabgewölbe in der Gewalt hat.« »Gut, ich spare mir das auf. Weiter, bevor Gunter etwas einfällt.« Links oder rechts? Das konnte nicht von Bedeutung sein. Rechts klang verheißungsvoller. In Brusthöhe gab es ein unterarmdickes Kabel, an dem er sich entlangtastete. Die andere Hand lag auf Metas Hüfte. Achtzehn Schritte weit, dann gerieten sie an eine Grundmauer. Er befühlte die Rohre und stellte fest, daß es ein rundes Einstiegloch gab. Wenig Platz. Kein Hinweis darauf, auf was er sich einließ. Wärmere Luft strömte ihm entgegen. Das bestätigte in einer Hinsicht, daß er gut gewählt hatte. Der Weg führte eindeutig zu einem Zentrum. Manche Rohre fühlten sich biegsam wie Kabel an. Kanes schob sie zur Seite und zwängte sich auf dem Rücken durch. Ein Rohr war ungemütlich heiß. Er schwang sich herunter, zwängte die Rohre auseinander, damit Meta hindurch konnte, und ging mit ihr weiter. Das wiederholte sich so oft, bis er mit dem Zählen nicht mehr nachkam. Er wußte, daß sie vom Haus schon weit entfernt sein mußten. Meta beklagte sich nicht, aber er merkte, daß sie völlig erschöpft war. Es war viel heißer geworden. Ihre Gesichter waren schweißüberströmt. Seine Hände glitten ab, als er durch die nächste Öffnung klettern wollte. 133
Kanes stürzte ungeschickt und lag am Boden, um sich zu erholen. So viel Anstrengung, so wenig Fortschritt. Wie weit konnten sie noch kommen? Sie hätten ebensogut an Ort und Stelle bleiben können. »Sind Sie da?« fragte Meta ängstlich. Begrabensein mit einem Freund war eine Sache, Begrabensein allein eine andere. Sie war halb durch die Öffnung gestiegen und vermißte seine helfenden Hände. Als Kanes zu sprechen begann, fragte sie sich ärgerlich, ob er noch richtig im Kopf war. »Still.« »Was denn?« »Hören Sie etwas?« »Nur mein Keuchen.« »Atem anhalten.« »Herzlichen Dank.« Im Stehen war es nicht so vernehmlich, und er legte sich wieder auf den Boden. Eher Vibrieren. Fernes Summen von Maschinen. »Hören Sie es jetzt?« Meta hatte sich weitergezwängt und konnte nicht mehr zurück. Sie schwang sich müde hinunter und fiel neben ihm auf die Knie, legte sich hin und bettete den Kopf auf seinen Rücken. Sie erschien Kanes sehr schutzbedürftig und kostbar. In einem anderen Zeitalter hätte seine Stärke genügt, Sicherheit für sie beide zu schaffen. Jetzt war er nicht fähig dazu, für irgend etwas zu garantieren. Das System beherrschte alles. Auch Menschen wie Gunter, die keine Menschen mehr waren, sondern technologische Fossilien. Es war eine bittere Erkenntnis. Diesmal war sie ihm instinktiv, freiwillig, ohne hintergründiges Motiv gefolgt. Eine Haarsträhne lag feucht auf seinem Nacken. Er konnte sie sich vorstellen, dunkel und glänzend. Ihr besonderer Duft wurde überlagert von einem primitiveren, wilden Geruch aus Wärme, Angst und Schweiß. Wenn man es genau nahm, waren sie Tiere. Gefangene Tiere. 134
Er rollte sich zur Seite, und seine Hände fanden ihre Schultern, drehten sie herum, schoben sie auf den rauhen Boden. »Du tust mir weh.« Sie sagte es ruhig, als sei sie seinem Gedankengang gefolgt und. wüßte, wohin er führte. Es gibt eine Zeit für alles unter der Sonne, dachte Kanes. Jetzt wäre es nicht Liebe, sondern Verzweiflung und Enttäuschung. Eine Zeit wird kommen, aber das ist sie nicht. Es ist zu wichtig. Es muß richtig sein. »Steh auf, Meta«, sagte er rauh. »Es wird Zeit, daß wir weitergehen.« Eine halbe Stunde später schauten sie durch eine letzte, kreisrunde Öffnung in das Endstück am Fuß des Wasserkraftwerks. Ein riesiges Maschinenhaus mit Kuppel; vier gewaltige Turbinengeneratoren; Ersatzturbinen in großer Anzahl. Ein Dutzend Androide standen herum, auf strategisch wichtige Punkte verteilt, wo sie mit geringstem Kraftaufwand eingreifen und alle Maßnahmen und Reparaturen durchführen konnten, die sich ein von Wand zu Wand reichender Kontrollcomputer einfallen lassen mochte. An der fernen Wand, unverwechselbar, ein Lift. Die Beleuchtung trübe, orangefarben. Besonders geeignet für die senso-motorischen Reaktionen der Roboter. Die Hälfte der eiförmigen Köpfe bestand aus schwachglühenden KristallFotozellen. Als sie hineinblickten, bemerkten sie, wie sich die glatten Masken umwandten. Eine nach der anderen drehte sich, bis es keinen Zweifel mehr gab. Sie waren der Mittelpunkt aller Facettenaugen. Gunter hatte alle Stationen alarmiert.
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8 Oskar Kreegan sagte: »Ich weiß, wie dir zumute ist, Linda. Aber ich bin überzeugt, daß Kanes ihn nicht im Stich gelassen hat. Wir wissen noch nicht genug. Ich stelle das schon fest, keine Sorge. Eines ist sicher, Ned ist erschossen worden, bevor er abstürzte. Ein Sicherheitstrupp von West-Metalle. Wir können nicht ausmachen, ob sie Kanes erwischt haben oder nicht. Eines der Mädchen ist verschwunden. Eine zuverlässige Person. Wenn es einen Fehler gegeben hat, dann nur durch Unerfahrenheit.« »Das nützt Ned nichts mehr. Niemand hat das Recht, unerfahren zu sein. Jemand wird dafür bezahlen.« Kreegan sah ihr Gesicht und wußte, daß sie es ernst meinte. Abgesehen von der Organisation war Ned Campbell ihr Anker zu einer gesellschaftlichen Identität gewesen. Es wurde Zeit, sie zu beschäftigen. »Ein Mädchen hat Kanes auf Weismans Spur geführt«, erklärte er. »Vom Freien Stand. Die Familie brachte sie weg, als es brenzlig wurde. Die Chance ist gering, aber wenn ihn die Trans-Union oder West-Metalle nicht erwischt haben, könnte er wieder an sie geraten sein. Du könntest feststellen, wo sie ist, dann prüfen wir, ob er bei ihr gewesen ist.« »Wo fange ich an?« »Sie ist Reids Tochter. Direktor Reid. Man hat Personal. Irgend jemand müßte Bescheid wissen.« »Und wenn ich es herausbekomme?« »Unternimm selbst nichts. Das muß über die normalen Kanäle laufen. Der Druck kommt von allen Seiten, und das gefällt mir gar nicht. Die Leute vom Bund sind zu nervös. Vielleicht hat die Sache mit Kanes das nur ausgelöst, aber ich vermute, daß man auf eine Entscheidung drängt. Berichte aus dem ganzen Gebiet zeigen, daß wir in den letzten zwei Tagen 136
mehr aktive Mitarbeiter verloren haben als im vergangenen halben Jahr. Was sie auch wissen mögen, beim Bund weiß man es jetzt auch. Darauf kannst du dich verlassen. Paß auf dich auf.« »Gewiß.« Außerhalb des Büros, in dem langen Hangar, herrschte die gedämpfte Geschäftigkeit der Nachtschicht. Kreegan wußte, daß manche sich schon Sorgen machten. Druck durch die Sicherheitsbehörden konnte seine Streitkräfte dezimieren, bevor man angriffsbereit war. Aber jede voreilige Handlung wäre noch gefährlicher gewesen. Sie konnte die Bewegung um Jahrzehnte zurückwerfen. Sein Sektor war den meisten anderen voraus. Waffen für fast tausend Mann, in kleinen Mengen in ganz Wirral City verstreut. Manche waren schon entdeckt worden, und das würde die Sicherheitsbehörden noch wachsamer machen. Bisher war aus dem leitenden Personal im Zentrum niemand gefaßt worden. Wenn man Linda erwischte … Sie war seinen Gedanken gefolgt. »Nicht mehr, Oskar. Ich bin schon einmal durch die Maschine gewandert. Erinnerst du dich? Schau.« Sie öffnete den Reißverschluß an der Brust. Auf der weißen Haut funkelte ein kleiner, hohler Amethyst, der eine Flüssigkeit enthielt. »Keine Sorge«, sagte sie bitter. »Sie erwischen mich nicht lebend.« Kreegan war tief bewegt. Er ging um den Tisch herum und strich ihr ungeschickt über die Haare. »Es tut mir leid.« Es war ein winziger Beitrag, aber sie erkannte, in welchem Dilemma sie sich beide befanden. Das System, das ihnen Rechte bestritt. Das sie beide, auf qualvollen Umwegen, zu diesem Ort, zu dieser Tätigkeit geführt hatte. Sie hörte auch persönliche Sorge um ihr Wohl heraus. »Schon gut. Ich überleb’s. Das habe ich immer getan.« Über ihrem Kopf beobachtete Kreegan die Leuchtsignale 137
an der Wandkonsole. Seine Augen sahen, aber das Gehirn verarbeitete nicht. Dann sah sie, was er anstarrte, und rannte zum Alarmknopf. Oskar Kreegan stand schon am Mikroarchiv und schleuderte lebenswichtige Unterlagen in eine Tasche. Nach zehn Sekunden meldete sich der Erste aus der Werkstätte. Kreegan krönte seine Sammlung mit einer apfelgroßen Granate. »Hier, Charlie, nimm das. Wenn du es loswerden mußt, hast du drei Sekunden, nachdem du dran gezogen hast. Los.« Die Männer drängten sich herein. »Das ist alles«, sagte Linda. »Fred Dixon meldet sich nicht von oben.« »Dann ’raus. Alles ’raus. Versucht nicht, miteinander in Kontakt zu bleiben. Ich rufe euch zusammen, sobald ich weiß, was los ist.« Linda zögerte. »Ich bleibe bei dir.« »Ausgeschlossen. Geh heim und tu nichts, was Aufmerksamkeit auf dich lenkt. Die Bewegung braucht dich, Linda.« Er sah die Unentschlossenheit in ihrem Gesicht und fuhr fort: »Ich brauche dich auch. Morgen kannst du dich um Miss Reid kümmern. Ruf vom Zentralarchiv aus an. Vielleicht sagen sie dir, wo sie ist. Vielleicht sollten wir der Sache nachgehen. Eine Weile aus der Stadt verschwinden. Raus mit dir.« Oskar Kreegan sah das flammend-rote Haar durch die Luke verschwinden und schaute sich in seiner leeren Werkstätte um. Von oben war rhythmisches Klopfen zu hören. Das hieß, daß Dixon tot war, sonst hätte man ihn an eine Befragungsmaschine angeschlossen und wüßte bereits, wo sich der Eingang befand. Die Decke zu durchstoßen, würde doch eine Weile dauern. Es erhob sich die Frage, ob er das regionale Hauptquartier verständigen sollte oder nicht. Eine Großrazzia durch Sicherheitstruppen würde mit tragbaren Ortungsgeräten arbeiten, die jeden Kanal, den er benützte, überwachen konn138
ten. Er wog die Wahrscheinlichkeiten ab und entschied sich für ein kurzes Signal auf der Ruffrequenz. Es würde einen Lauscher aufmerksam machen, und die Unterbrechung ohne Sendung mußte Warnung genug sein. Draußen in der Halle klirrte Metall. Sie waren bis zur Hülle vorgedrungen. Mit Vibratoren war sie in Sekunden zu durchbrechen. Er stellte den Zeiger für einen Zehn-SekundenCountdown und schaltete den Zerstörungsmechanismus auf Null. Zu seiner Überraschung empfand er kein Bedauern. Ein Jahrzehnt persönlicher Anstrengung, um diese SektorOrganisation aufzubauen, und nun ging sie in Rauch auf. Im Tunnel warf ihn die Druckwelle flach auf den Sandboden. Alle Lichter erloschen. Schutt rieselte auf seinen Rücken herab, und er blieb liegen, sah alles deutlich vor sich. Die Zerstörung bedeutete nichts. Er konnte es jetzt erkennen. Sie hatten sich im Kreis gedreht. Bewußt war ihm das nicht aufgefallen, weil er selbst in der Tretmühle gestanden hatte, bestrebt, das Rad in Gang zu halten. Aber es hatte keine Zukunft. Sie waren dem Establishment so gefährlich wie Mäuse am Fuß eines Festungsturms. Die Meritokratie funktionierte zu gut. Es gab zu wenige Leute wie ihn, mit genug Verstand und Weitsicht, um das zu durchschauen. Im großen und ganzen war der Dritte Stand so wirkungsvoll wie eine Herde Schafe. Auswahl, verfeinert und nochmals verfeinert, wobei die Computer einen Maßstab anlegten, der so verläßlich und unveränderlich war wie die alten Standardmaße und -gewichte. Es gab keine Fehlerquote, wie scheinbar in vergangenen Jahrhunderten, als man Menschen mit großer Fähigkeit in bedeutsamer Zahl übersehen hatte, so daß auch die untersten Schichten des gesellschaftlichen Komposthaufens ihren Anteil an der Führerschaft bekamen. Jetzt gab es zwischen den Klassen nicht einmal eine Verständigung. Kommunikation war der Knotenpunkt aller Kultur. Und jede Person, von oben bis un139
ten, wurde durch Gehirnwäsche dazu gebracht, die Grundlagen anzuerkennen, auf denen das Gefüge stand. Hätte er selbst den ungeplanten Arbeitern einen zweiten Gedanken gewidmet, wenn er nicht von seinem bequemen Platz gestoßen worden wäre? Er wußte die Antwort, und es war nicht angenehm, damit leben zu müssen. Wie sah die Antwort aus? War sie befriedigend, oder sollte er aufgeben? Er konnte es tun, ohne sein Gesicht zu verlieren. Niemand würde Wunder von ihm verlangen. Sein Sektor war auf Jahre hinaus erledigt. Die Vibration hatte aufgehört. Er besaß eine Dynamolampe, gönnte sich aber den Trost des Lichtes nicht. Er roch den Staub und den Schimmel an den Wänden. Grabesluft. Aber voreilig. Er war noch nicht tot. Er stand auf, immer noch im Dunkeln, und hörte ein Schlurfen. Richtung schwer auszumachen, aber nicht weit entfernt. Zentimeter für Zentimeter zog er einen kleinen Strahler aus der Tasche und drehte sich langsam, um zu lauschen. Als er seiner Sache sicher war, drückte er auf den Hebel seiner Dynamolampe. Ein blendender Lichtstrahl erfaßte Linda. Sie schrie auf und griff nach ihrem Amethyststein. »Keine Angst, Linda«, sagte Kreegan leise. »Ich bin’s.« »Ich mußte wissen, ob du durchgekommen bist. Entschuldige.« »Danke.« Als er sie so im Lichtkreis stehen sah, begriff er die wahre Natur der gesellschaftlichen Organisation. Man mußte den Mann – oder in diesem Fall die Frau – in den Mittelpunkt stellen. Das Ziel hatte das Wohl des Menschen selbst zu sein, nicht die Fortführung einer versteinerten Institution, einer leeren Schale, die sinnlos war. Die Auslöserin dieser Erkenntnis wurde nervös. »Hör auf, mich anzuleuchten. Sag etwas. Etwas Nettes.« Er hätte sagen können, daß sie ein Programm brauchten. 140
Daß Weismans Idee, wenn man sie finden konnte, es vielleicht liefern konnte. Daß er eine Idee brauchte, die alles durchtränken würde. Aber jetzt brauchte sie Persönlicheres. Er schob alle Gedanken an politische Theorien beiseite und ging auf sie zu, in einer Dunkelheit, wo ihre Ausstrahlung als Leitsignal genügte. * Chef-Administrator Lubin schaltete sein TV-Gerät ab. Es war geraume Zeit her, seit er solche Anwürfe hatte hinnehmen müssen, und er mußte offen zugeben, daß ihm das nicht angenehm war. Direkt vom Sicherheitshauptquartier im Regierungszentrum. Trotz der über tausend Kilometer Weg durch den Äther in der Wirkung nicht geringer als bei persönlicher Gegenüberstellung. Kommissar Brault hatte ihm auch keine Gelegenheit gegeben, durch eine höfliche Antwort sein Gesicht zu wahren. Er hatte abgeschaltet und Lubin im Bildschirm sein eigenes Gesicht betrachten lassen. Es war zum Teil ungerecht. Diese Region hatte nicht als einzige Unruheherde unter den Schlafgebieten der Ungeplanten. Er wußte sogar, daß es anderswo ärger war. Auf seinem Schreibtisch lag der Plan für eine totale Säuberung in allen Regionen. Diese Weisman-Geschichte mußte explosiv sein. Aber für den Mißerfolg vor so vielen Jahren konnte man doch nicht ihn verantwortlich machen. Er brauchte Aktion, um sich wieder aufzurichten. Er rief den Diensthabenden in seinem Vorzimmer, und seine eisige Stimme brachte schnelle und unterwürfige Reaktion. »Stoddart. Regionalbüro Sicherheit. In einer halben Stunde wünsche ich alle Bezirksleiter hier zu sehen. Eine halbe Stunde? Wozu brauchen die eine halbe Stunde? Zwanzig Minuten. Dringend. Der letzte verliert ein Jahr im Dienstalter. Los.« 141
Er half seinem Stolz ferner dadurch auf, daß er abschaltete, bevor Stoddart bestätigen konnte. Lubin benützte die Wartezeit dazu, eine Stadtkarte und eine Porträtreihe zu projizieren. Bevor er ganz fertig war, strömten die Sicherheitsleute herein. Als sie im doppelten Halbkreis um seinen Schreibtisch standen, sagte er: »Ich beginne mit dem Hinweis, daß hier niemand unersetzlich ist. In zwei Tagen tritt der Arbeitausschuß zusammen; und falls ich keine Erfolge sehe, werden einige von Ihnen umgeschult. Drücke ich mich klar genug aus?« Niemand reagierte direkt, weil man die Frage als rhetorisch erkannte. Einige nahmen sich vor, diese Worte in ihrem Sektor weiterzugeben. Lubin tippte auf das Duplikat der Wandkarte auf seinem Monitor, und sein Finger erschien vergrößert an der Wand, als Zeigestab. »Da, da, da. Ihr Sektor, Koestler, Ihr Sektor, Ford, Ihr Sektor, Classon. Ich erwarte eine Durchsuchung von Haus zu Haus, bis Sie persönlich dafür einstehen können, daß Ihr Sektor gesäubert ist. McAskill. Bei Ihnen lag das Hauptquartier. Jetzt ist es eine Grube. Sie brauchen mir nicht zu sagen, daß das eine Selbstmord-Anlage war. Graben Sie alles aus. Ich will Leichen sehen. Verstanden?« McAskill, ein hagerer, blasser Mann Ende Vierzig, sagte: »Das ist schon im Gange, Chef. Ein Schaufler ist an der Arbeit.« Lubin beachtete ihn nicht. »Danvers, Sie wissen, daß Kanes beschattet werden sollte. Wo ist er jetzt? Seit einer Woche ist er nicht aufgetaucht. Er gehört zu Ihrem Bezirk. Er muß gefunden werden. Überprüfen Sie Meta Reid. Er könnte ihr gefolgt sein. Sie ist in Villeneuve, wo sie ihre Ausbildung beendet. Hoffen wir um ihretwillen, daß er dort nicht zu ihr gestoßen ist. 142
Die Küstenwache hat ein demoliertes Flugboot und ein paar Leichen aufgefischt. Ein Trupp von West-Metalle. Das gerichtsmedizinische Institut führt die Todeszeit auf Kanes’ geschäftigen Abend zurück, als Hedgroves Leiche vor die Tür des Zweigbüros der Trans-Union gelegt wurde. Wenn man das zusammennimmt, kommt man auf eine mächtige Anti-WeismanLobby. Zufall kann das nicht sein. Es sieht so aus, als würde man uns die Arbeit abnehmen, und das paßt mir nicht. Kanes kann von Glück sagen, wenn wir ihn als ersten fassen.« Ein unterschwelliger Zug zur Offenheit ließ ihn fortfahren: »Nun ja, vergleichsweise von Glück. Bei ihm kann von Glück eigentlich überhaupt keine Rede mehr sein.« Lubin starrte die Männer der Reihe nach an. »Die Stabszentrale ist hier. Ich wünsche jede Stunde Berichte. Irgendwelche intelligenten Fragen?« Es gab keinerlei Fragen. Aber man hatte deutlich verstanden. Nach neunzehn Minuten meldete sich Danvers als erster. Sein Gesicht auf Lubins Bildschirm zeigte Verlegenheit und bescheidenen Triumph. »Sie hatten recht, Administrator. Kanes meldete sich bei einem Ozeanographeninstitut, das zu Villeneuve Polytech gehört. Das Mädchen war dort. Muß geplant gewesen sein. Er befand sich in einem zweiten Flugboot der West-Metalle, das er einem Trupp in Byrsa City gestohlen hatte. Alle Einzelheiten über den Auftrag, dort liegen noch nicht vor.« »Kümmern Sie sich nicht darum, Mann. Das mache ich schon. Sie haben Kanes also?« »Hm, nein. Nicht direkt.« »Aber Sie wissen, wo er ist?« Der Triumph verblaßte. »Es ist nicht leicht, sich ein klares Bild zu verschaffen«, sagte Danvers. »Das Flugboot ist dort, aber er verschwand mit dem Mädchen. Sie waren zu viert. Noch ein Mädchen, eine Schwarze, die leicht zu identifizieren sein müßte, und ein Student namens Ventner, der mit Meta Reid befreundet ist. Sie flogen mit Ventners Boot nach Norden.« 143
»Der Norden ist groß. Ich mache Sie verantwortlich, Danvers. Klemmen Sie sich dahinter.« »Wir haben schon eine Spur. Der Flugkörper ist kurz von Ilkley City gesichtet worden. Flog in verbotenes Gebiet weiter. Zu Gunters Besitz.« »Klar. Kanes ist noch immer an der Arbeit. Mit dem Mädchen. Diesmal wird Reid die beiden nicht so leicht herausholen. Gut, Danvers, ich befasse mich selbst damit. Sie stellen für mich fest, was ein West-Metalle-Trupp in Byrsa City zu suchen hatte. Hoffen wir um ihretwillen, daß ich sie finde. Allerdings wird nicht viel von ihnen übriggeblieben sein, wenn sie sich mit Gunter eingelassen haben.« Lubin schaltete ab und rief sein Vorzimmer. »Stoddart, ich brauche zwei bewaffnete Streifenflugboote. Holen Sie auf Regierungsebene Genehmigung ein. Ein Dutzend Mann mit voller Ausrüstung. In zehn Minuten Start. Genehmigung zum Besuch beim Vorsitzenden Gunter. Gehen Sie bis zur Spitze.« Howard Reid saß in seinem Dachbüro und beobachtete den Sonnenuntergang über der Flußmündung, während sein Kyber-Arm eine Verbindung mit Villeneuve Polytech herstellte. Als er ein klares Bild des Schulleiters, eines kahlen Eierkopfes mit langer Nase und hängender Unterlippe, vor sich hatte, fauchte er: »Doktor Plessey?« Der Kopf neigte sich höflich. »Sie haben meine Tochter dort – Meta Reid?« Wieder neigte sich der Kopf. »Ja oder nein, verdammt! Ich habe versucht, sie in ihrer Wohnung zu erreichen, aber sie ist irgendwo unterwegs.« »Worum geht es, Direktor Reid?« »Ich möchte mit ihr reden.« »Einen Augenblick.« Plessey verschwand und tauchte an seiner Konsole wieder auf, wo er eine Verbindung herstellte. Als er den Kopf hob, zeigte er ein überraschtes Gesicht. 144
»Sie ist also nicht da? Heraus damit, wo ist sie?« »Sie war in einer unserer Forschungsstationen. Ozeanographie.« »War? Was heißt ›war‹?« »Sie müssen verstehen, Direktor Reid, daß das Personal hier über die fortgeschrittenen Studenten nicht zu bestimmen hat. Sie sind aus eigenem Antrieb hier und können kommen und gehen, wie es ihnen paßt.« »Kommen Sie zur Sache. Wo ist sie?« »Das weiß ich nicht. Sie ist in Begleitung eines unserer besten Studenten weggefahren. Ein junger Mann namens Ventner. Sie haben nicht mitgeteilt, wann sie zurückkommen. Zwei weitere Personen begleiteten sie. Es scheint von einem Angelausflug gesprochen worden zu sein. Sie entfernten sich aber sofort nach Ankunft der anderen beiden. Einer davon war Ihrer Tochter bekannt.« »Ein Mann?« Plessey befragte sein Orakel. »Ja. Name wurde nicht genannt. Sehr groß, athletisch.« »Kanes!« »Verzeihung?« »Er könnte Kanes heißen. Und dieser Ventner?« »Ein Verwandter des Vorsitzenden Gunter. Sehr begabt.« »Sie informieren mich sofort, wenn sie zurückkommt. Und halten Sie diesen Kanes fest. Er ist sehr gefährlich. Gefährlich vor allem für jene, die ihm helfen wollen.« »Ich sorge dafür, daß Sie auf dem laufenden gehalten werden.« »Tun Sie das und vergewissern Sie sich, daß keiner von Ihren Leuten Kanes zur Flucht verholfen hat. Das könnten die Betreffenden und Sie sonst bereuen.« Reid schaltete ab und rief Lubin an. Als er den Chef-Administrator auf dem Bildschirm hatte, kam er ihm zuvor. »Ich habe eine Beschwerde vorzubringen. Ihre Dienststelle 145
hat im Fall Kanes einen schweren Fehler gemacht. Sie hatten ihn zum Verhör, und ich sorgte für seine Freilassung unter der Bedingung, daß ihm seine Fachqualifikation entzogen und er von meiner Tochter ferngehalten wird. Ich habe mich an die Vereinbarung gehalten. Meta wurde weit weggeschickt. Sie scheinen aber zugelassen zu haben, daß er Wirral City verließ und sich erneut mit ihr traf. Was für eine Sicherheitsbehörde sind Sie überhaupt?« Lubin legte die Frage seinem Hauptcomputer vor und erhielt die Antwort, daß er es riskieren konnte, die Anwürfe zurückzuweisen. Reid hatte sich zu weit vorgewagt und mußte das auch wissen. Freunde in einflußreicher Stellung zu haben, war eine Sache, einen Mann zu unterstützen, der von den Bundesbehörden beobachtet wurde, eine andere. Das Mädchen war minderjährig, und Reid trug die Verantwortung. Trotzdem empfahl sich ein Mindestmaß an Höflichkeit. Er zeigte eine verständnislose Miene und erklärte: »Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu verstehen, Direktor. Sie wissen, daß das Thema Weisman Verschlußsache ist. Die Aktualitäten-GmbH hat ihr Interesse bekundet. Ihre Tochter benützte eine Ihrer Legitimationen für ihre Nachforschungen. Sie ist durchaus nicht schuldlos und wird sich vielleicht zu verantworten haben. Nach den mir vorliegenden Berichten setzt sie ihre Bemühungen weiterhin fort. Nach meinen Informationen begleitete sie Kanes freiwillig und sorgte sogar für das Transportmittel. Sie werden ernsthaft mit ihr reden müssen. Sehr ernsthaft.« »Sie wissen also, wo sie sind?« »Zuletzt hatte der Kontrollturm von Ilkley City vor Gunters Besitz Kontakt mit ihnen. Sie haben mich gerade noch erwischt. Ich fliege selbst hin, um nachzusehen.« »Dann mache ich Sie dafür verantwortlich, daß sie mir hierher zurückgebracht wird.« »Sie brauchen sich Ihre Haltung natürlich nicht vorschreiben zu lassen. Ich kann aber nichts versprechen. Es hängt vom 146
Befund ab. Ich weise darauf hin, daß gegen beide Anklage erhoben werden könnte. Sie befinden sich außerdem durch die Sicherheitseinrichtungen auf Gunters Besitz in Gefahr. Wenn sie Dummheiten machen, kann man ihnen weder helfen noch sie verhaften.« »Das ist ein ungeheuerliches Eingeständnis. Gunter ist Privatperson. Er untersteht, wie jeder Mensch, dem Gesetz. Warum erlaubt man ihm, eine Privatfestung zu unterhalten?« »Das ist nicht meine Angelegenheit. Sie können das besser beantworten. Er hat viele Feinde und hat die Genehmigung dafür erhalten. Er steht nicht außerhalb der Bundesgesetze, wie er beweisen wird. Niemand tut das, Direktor. Niemand. Ich informiere Sie, sobald ich Nachrichten über Ihre Tochter habe.« Reid erkannte, daß Lubin seiner Sache sicher war und es nicht mehr für nötig hielt, sich zurückzuhalten. Das galt aber auch für ihn selbst. Stärker als die Bande der Zuneigung, die im Laufe der Jahre durch ihre Verschrobenheiten überanstrengt worden waren, wirkte die persönliche Herausforderung. Wer meinen Hund tritt, tritt mich. Er konnte fast so schnell an Gunters Besitz sein wie Lubin. Mit einer gesetzlichen Verfügung, Meta in persönlichen Gewahrsam zu nehmen, wenn es sein mußte. Er aktivierte seinen Kyber-Arm und beschäftigte sich mit seiner Steuerkonsole. Fünf Minuten lang übte er in alle Richtungen Druck aus. Als seine Sekretärin meldete, daß sein Flugwagen bereitstehe, besaß er bereits eine diktierte Vollmacht, die ihm erlaubte, Meta zunächst einmal vor dem Arm des Gesetzes zu schützen. Kanes mußte für sich selbst sorgen, egal, was sie vorschlagen mochte. In Wirklichkeit sagte sie: »Sei vorsichtig, Prosper«, und sah Kanes mit großen, leuchtenden Augen im Licht der Öffnung zum Generatorenraum an. Ein guter Rat, aber ob er ihm nützen würde, war höchst 147
zweifelhaft. Er hatte sich durch das Loch gezwängt und stand in einer V-förmigen Rinne voll Kabel, die sich links und rechts teilten und zu den Maschinen, Konsolen und zum Computer führten. Der letztere summte einen halben Ton tiefer und ließ seine Lämpchen spielen. Bei Zeit und Muße wäre das sehr interessant gewesen, aber es hatte eine direkte Auswirkung auf die Androiden. Sie verwandelten sich aus passiv starrenden Masken in langsam voranschlurfende Wesen und begannen einen Halbkreis zu bilden. Jeder einzelne hob den rechten Arm zum Schlag. Sie waren zwar nicht für halbmilitärische Aufgaben entworfen, schienen aber auch auf diesem Gebiet tüchtig zu sein. Als sich der Kreis schloß, wurde jeder zweite schneller, damit sie nicht von den zu vielen Einheiten in einem schrumpfenden Umkreis behindert wurden. Sie staffelten sich in die Tiefe, während die vorangehenden Figuren gemeinsam zuzuschlagen begannen. Kanes spürte den Luftzug, als die Arme heruntersausten. Er war an die Wand zurückgewichen, hypnotisiert von den glühenden Kristallaugen. Meta neben ihm war halb durch das Loch gekrochen. Ihre Stimme überschlug sich schreiend, verwies auf die Vorteile einer Rückkehr in die unterirdischen Gänge, zu denen sie, unlogischerweise, den Zugang versperrte. Das Schreien riß ihn aus seiner Lähmung. Die Wirkung fiel aber anders aus, als sie erwartet hatte. Statt umzukehren, sprang er zu den Kabelsträngen. Er zuckte zurück, als der erste Roboter ihn erreichte. Ein glänzendes Skalpell sauste herab und schnitt ein Stück aus seinem Hosenbein. Kanes traf den Schädel mit beiden Füßen, und der Android prallte mit dem hinter ihm herankommenden zusammen. Meta zwängte sich nach hinten, als sein rechter Nachbar einen Schlag nach ihrem Kopf führte. 148
Eine Metallwand versperrte ihr den Ausblick. Sie konnte nicht sehen, was Kanes machte, hörte ihn aber. Er schien mit sich selbst zu reden. Er war auf den Kabelröhren steil nach oben geklettert, hatte sich über einen Generator geschwungen und war auf die Motorkappe hinuntergesprungen. In drei Meter Entfernung war auf einem Bildschirm in der Konsolenwand ein Standfoto des Urhebers all dieser Aktionen erschienen. Die Eitelkeit stirbt mühsam. Es war Gunter in seinen besten Tagen, als er noch Haare und Zähne gehabt hatte, in jedem Zeitalter von vornherein für das Verbrecheralbum bestimmt. Rundes Gesicht, dunkler Teint, dicke Lider halb über harten Augen, die den Betrachter überallhin zu verfolgen schienen. Sogar die Lippen bewegten sich mit der Stimme, die aus dem Lautsprecher drang. In dem bewegungslosen Gesicht ein abstoßender Anblick. Die Mitteilung verzichtete auf alle Umschweife. »Sie haben mir einen unterhaltsamen Nachmittag verschafft, Kanes. Aber glauben Sie nicht, daß Sie hier herauskommen. Ich habe schon eine Streife abgeschickt. Wer weiß, was Sie alles anstellen, wenn Sie weiterhin in Freiheit bleiben? Umsicht ist die erste Voraussetzung für das Überleben, und ich lebe schon lange. Die Leute haben Anweisung, Sie beim Auftauchen zu erschießen. Das Mädchen ebenfalls. Ihre Asche kommt zu Gilmore in die Urne. Das wird Ihnen sicher angenehm sein.« »Sie haben zu sehr übertrieben, Gunter«, erwiderte Kanes. »Vielleicht bringen Sie es fertig, mich umzulegen, aber nicht das Mädchen. Sie hat mächtige Freunde. Sie sind ein Anachronismus. Es ist einfach, harmlose, alte Männer umzubringen, die am Rande des Geschehens dahinleben. Meta wird man hier aufspüren. Die Aktualitäten-GmbH befaßt sich damit. Überlegen Sie es sich, bevor jemand den Stöpsel zieht und Sie einfach auslaufen.« 149
»Das zeigt, wie naiv Sie sind, Kanes. Dieses Territorium steht außerhalb der Gesetze. Kein Gerichtshof in dieser Hemisphäre wird einen Durchsuchungsbefehl für dieses Tal ausstellen. Niemand hat Sie aufgefordert, herzukommen, und niemand wird mein Recht bestreiten, Eindringlinge zu beseitigen. Sie haben erneut bewiesen, wie wenig Sie geeignet sind, sich mit einem Mann von meinen Geisteskräften anzulegen. Während Sie gequatscht haben, sind Sie von den Androiden umzingelt, und die Streife ist oben am Schacht.« Die erste Hälfte der Behauptung stimmte zweifellos. Mit Ausnahme von zwei Androiden, die den von Kanes umgehauenen aufzurichten versuchten, hatten sich alle um den Generator versammelt. Er war knapp außer Reichweite. Sie standen mit erhobenen Armen da, wie Gottesanbeterinnen, bereit, zu verletzen. Die Sanitäter hatten den Demolierten zu einer Werkbank aus rostfreiem Stahl geschleppt und überprüften seine Funktionen. Metas weibliche Neugier gewann die Oberhand. »Mit wem redest du?« Ein Satz war plötzlich durch sein Gehirn gezuckt: ›Den Stier bei den Hörnern packen‹. Jetzt war nicht die Zeit für Sprichwörter, aber der Ausdruck besaß noch einen anderen Sinn. Sie war, in gewissem Sinn, seine Ariadne. Minos. Die Stiere. Ein Bild von schlanken Wesen, die über einen angreifenden Stier sprangen. Er hob sich auf die Zehenspitzen und schätzte die Arme des zunächststehenden Androiden ab. Handgelenke, im rechten Winkel zu langen Greifhaken. Ariadne war wieder durch die Öffnung gekrochen, schön, stolz und verblüfft. Er drehte sich in der Luft, bevor seine Hände leicht den kalten Metallboden berührten. Dann landete er in einer Vorwärtsrolle, die ihn fast vor ihre Füße führte. Die Androiden hatten sich nicht bewegt. Sie starrten immer noch den leeren Sockel an, als er ihre Hand packte. 150
»Los.« Gunters Bild konnte seinen Ausdruck nicht verändern, aber seine Stimme wurde laut, als sie um den Kreis herumliefen, auf den Liftkäfig zu. Die Androiden setzten sich in Bewegung. Kanes war in Hochstimmung. Es blieb Zeit für eine kleine Attacke. Er hatte lange genug nur einstecken müssen. Als er an einem Ersatzteilregal vorbeikam, ergriff er einen Ersatzroboterknopf und schleuderte ihn zielsicher auf den Bildschirm. Es gab einen lauten Knall, und der Bildschirm verschwand in den Tiefen, begleitet von einer Rauchwolke. Gunters Stimme erstarb. Sie hatten sowieso nicht zugehört. Meta stand schon im Lift und hatte das Gitter in der Hand, als Kanes hineinsprang. Eine Metallklaue schloß sich, und sie schwebten hinauf. Gunter reagierte schnell. Während der Maschinenraum unter ihnen versank, sahen sie, wie die Androiden den Computer zu reparieren begannen. Ein Leuchtpunkt, der auf der Steuertafel emporwanderte, blieb bei ›Stützpunkt‹ stehen. Meta hatte sich für eine Mittelstation entschieden, weil sie nicht wußte, wie groß die Wahlmöglichkeiten waren. Kanes, Gunters letzte Worte noch im Ohr, traf eine bewußtere Entscheidung. Er vermutete, daß die Verfolger in Bodenhöhe eintreffen würden. Es war besser, ganz hinaufzufahren. Er blickte auf die Tafel und wählte ›Sperre‹. Ein kleines, in die Kunststoffwand des Lifts eingelassenes Diagramm zeigte, daß es sich dabei um den obersten Haltepunkt am Rand des Staudamms handelte. Sie traten auf einen zehn Meter breiten Dammweg hinaus, durch die Mauer am Blick auf den Stausee gehindert, und sahen auf das Tal hinaus, bis zum verengten Eingang. Nackte Hügel, samtschwarz in der Dunkelheit. Eine Lichterkette am Wachhaus. Mauerwerk in scharfen Umrissen. Kanes schickte den Lift wieder hinunter und hastete zum Gitter zurück. Hier 151
war es, zur Umgebung passend, aus massiver Bronze und wurde durch sein eigenes Gewicht in Rinnen festgehalten. Ein kraftvolles Anheben, bei dem seine Stirnadern schwollen, und es kippte, lag schräg über dem Schacht. Er ließ es hinunterfallen, wo es sich nach zehn Metern einklemmte. Ein schnell heraufschießender Lift würde daran zerschellen. »Die Streife«, rief Meta leise. »Ich sehe einen Wagen.« Er trat zu ihr an den Rand der Betonklippe und sah zwei bleistiftdünne Lichtstrahlen unter ihnen einen Bogen beschreiben und vor einem steinernen Wachhaus zum Stehen kommen. »Dann hier weiter.« Er hastete über den Damm. Nach zwanzig Metern eine steil aufragende Wand. Gigantische Blöcke, durch kaum erkennbare Fugen getrennt, über den Rand hinausragend und an der Dammwand hinablaufend, wie ein Stützpfeiler. Es gab nur einen Weg, und der führte nach unten. Meta, schon auf eine Schwimmstrecke durch den Stausee und die lockende Ferne eingestellt, riß entsetzt die Augen auf – ihr Gesicht ein blasses Oval im Dunkeln. »Da suchen sie uns am allerwenigsten, außerdem zeichnen wir uns nirgends ab.« »Mich stört nicht, was sie sehen, sondern, was ich sehe.« »Denk nicht lange nach. Lauter Stufen, wie bei einer Pyramide. Summ einfach ein nettes Liedchen und preß dich seitwärts dran wie Nofretete, der du übrigens sehr ähnelst.« »Das ist das erste Kompliment, das ich von dir höre.« »Los, los, sonst ist es auch das letzte.« Zwei Meter Absprung zu einem halbmeterbreiten Sims. Kanes machte es vor und fing sie auf. Das wiederholte sich unablässig. Sie wirkten zwergenhaft vor der riesigen Staumauer. Oben Himmel, unten Beton. Von oben setzte ein Knall den Schlußpunkt. Der hochschießende Lift hatte sein Ziel getroffen. Unbeschadet der Einstellung Gunters waren sie von jetzt an für die Überlebenden des Streifentrupps zu vertilgendes Ungeziefer. 152
Kanes hob sie zum nächsten Absprung über den Rand. Vier Minuten später standen sie im Trockenbett eines Überlaufkanals, von dem niedrige Stufen zu der breiten Straße am Fuß des Staudamms führten. Die Straße beschrieb einen weiten Bogen und mündete in die Einfahrt zu Gunters Anlage. Kanes kroch wie eine sorgenvolle Raupe zur Straße hinauf. Links konnte er das Wachhaus und den Umriß eines Wagens erkennen. Ein hohes Gefährt mit kleinen Rädern, für die Wege innerhalb des Tals gedacht. Aber immer noch besser als ein Fußmarsch, angesichts der Wölfe im Wald. Er rannte darauf zu. Der Wagen war leer. Zwölfsitzig, mit Batteriebetrieb. Meta sprang auf der anderen Seite herein, während er sich mit dem Mechanismus vertraut machte. »Wohin können wir fahren? Ohne Gunters Erlaubnis lassen die uns nie durch.« »Stimmt. Also zurück zu Gunter. Mal sehen, was er dazu sagt.« Die Fahrt am Boden nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Obwohl die Geschwindigkeit nach absoluten Maßstäben nicht hoch war, kam sie ihm irrsinnig vor. Metas Haar flatterte wie ein schwarzer Wimpel. Im Scheinwerferlicht raste die Landschaft auf sie zu und verschwand. Der weise Entschluß fand seine Rechtfertigung, als ein schwarzer Schatten von der Straße sprang. Glühende Augen. Meta hatte herumgekramt und förderte einen Karabiner zutage. »Schau nach, ob er geladen ist.« »Das Magazin ist voll.« Gegen die Bewaffnung am Wachhaus konnte man damit nichts ausrichten, aber für die Psychologie des Individuums war es von Bedeutung. Meta beugte sich hinaus, um einen Schuß abzugeben. »Halt«, sagte Kanes. »Wir dürfen nicht auffallen.« 153
Es war eine gute Theorie, aber zwanzig Meter vor dem Haus reagierte Gunter auf eine Weise, die sie eher optimistisch als real erscheinen ließ. In einem Umkreis von hundert Metern wurde die ganze Umgebung taghell, wie von einem gigantischen Scheinwerfer bestrahlt. Kanes beendete das Manöver und kam mit blockierten Rädern auf lockerem Kies zum Stehen. Eine Stimme, erkennbar die von Gunter, in Stereo ausgestrahlt, so daß sie von einer Person neben ihnen zu kommen schien, sagte: »Betreten Sie das Haus durch die Tür, die Sie kennen. Wenn Sie versuchen, die Flucht zu ergreifen, werden Sie sofort erschossen.« Im Eingang stand noch immer der ›Eiserne Herzog‹ und wartete unter Dampf auf Fahrgäste. Kein Mensch war zu sehen. Es war so bizarr wie in einem Traum. Kanes zögerte. Wenn es hier eine Steuerung gab, mochte es möglich sein, mit der Lokomotive loszufahren und am Tor einen Durchbruch zu versuchen. Wie aufs Stichwort ertönte eine zweite Stimme, ebenfalls aus allen Richtungen, als erleide sie Qualen von unendlichen Ausmaßen. Endend in einem stöhnenden Atemzug. Nisha wurde gezwungen, dem Appell Nachdruck zu verleihen. »Bitte, tut es. Bitte. Bitte.« Kanes packte den Karabiner und lief in die Halle, wo sich der Lift befand. Beim erstenmal hatte er sich nicht richtig umgesehen. Nun schob er alle anderen Gedanken beiseite und holte es nach. Es mußte einen zweiten Weg nach unten geben. Vorräte in den Mengen, wie Gunter sie verbrauchte, konnten nicht mit dem Personenaufzug nach unten gebracht werden. Es dauerte eine Minute, bis er ihn fand, während Gunters Stimme sie ermahnte, sich zu beeilen. In der Rückwand gab es eine Doppeltür, die einen Lastwagen aufzunehmen vermochte. Er zerschoß das Schloß, und der Knall hallte in der Halle wider. 154
»Was tun Sie, Kanes?« fragte Gunter argwöhnisch, und Nisha stieß einen Schmerzensschrei aus. »Das kannst du ihr nicht antun. Wir müssen gehen.« Meta klammerte sich an seinen Arm, und er sah sie an, als sei sie eine Fremde. »Er ist so weit gegangen, daß er uns alle umbringen muß«, zischte er. »Es nützt Nisha nichts, wenn wir ihr Gesellschaft leisten.« Er rannte zu den Türen zurück. Der Lastenaufzug enthielt bereits einen kleinen, kompakten Hubstapler. Dahinter, an der Rückwand, befand sich eine große Steuerkonsole mit einem Plan der unterirdischen Anlagen, auf dem einige Verbindungskorridore rot markiert waren. Sie fuhren hinunter, während der nächste Schrei durch die Eingangshalle gellte. Meta war leichenblaß geworden und starrte ihn an, als habe sich ein Ungeheuer zu ihr gesellt. »Würdest du das mit mir auch machen, wenn ich da unten wäre?« »Du bist hier.« »Das ist keine Antwort. Würdest du?« »Das ist eine hypothetische Frage. Ich könnte sie nur beantworten, wenn sie real wäre.« »Du würdest es tun. Du bist genau wie Gunter.« Sie kamen zum Stehen. Kanes schob das Gitter zurück und rollte den Hubstapler hinaus. Um nicht zurückbleiben zu müssen, zwängte sie sich neben ihn in die Einmann-Kabine. »Wohin willst du?« »Dem Plan zufolge gibt es keinen direkten Zugang zu Gunter. Er sitzt in der Mitte der Anlage. Wir müssen uns einfach durcharbeiten.« »Laß dir ruhig Zeit.« Sie bekam keine Antwort. Kanes hatte eine Tür in der linken Wand erreicht und drehte den Hubstapler, zog die Ladegabel hoch und gab Vollgas. Sie zerschmetterten die Tür und befanden sich in einem 155
Raum von klinischem Weiß, mit Untersuchungstischen und Medikamentenregalen. Ein Kamerakran mit Mikrophon hing über einem der Tische. Auf ihm lag der Überrest dessen, was einmal Nisha gewesen war. Ein Android, mit Gunters Gesicht, drehte sich nach dem Ursprung des Geräusches um, hob einen Arm, als Kanes ihn umrannte. Er versuchte immer noch, sich zu orientieren, als Kanes auf den Boden hinuntersprang und die KristallFotozellen mit dem Kolben seines Karabiners zerschmetterte. Kanes zwang sich dazu, an den Untersuchungstisch zu treten. Weite Pupillen, kein Herzschlag. Elektroenzephalogramm Nullanzeige. Mit steinernem Gesicht setzte er den Hubstapler zurück und fuhr durch den Korridor weiter. Eine Biegung im rechten Winkel, eine weitere Tür. Er vermutete, daß Gunter diesmal gewappnet sein würde, und als der Hubstapler durchstieß, sprang er herunter, riß Meta mit sich, und sie warteten am Boden, bis die Tür fiel. Es war ein langer, rechteckiger Arbeitsraum für Reparaturen und Konstruktionen. Der Android, mit gespreizten Beinen der Tür gegenüber, feuerte eine Thermolanze auf den Hubstapler ab. Metall zerrann kaskadenförmig, als die Gabel herabsackte. Kanes spürte die sengende Hitze, als er auf ein weiteres Guntergesicht schoß. Querschläger heulten von dem Eierkopf davon, doch in einem durchschossenen Auge strahlten Sprünge aus. Kanes hatte es geschafft. Er eilte um das glühende Wrack des Hubstaplers herum und entriß den schimmernden Greifhaken von Gunter zwei die Thermolanze. Beizender Rauch quoll zur Decke, zum Luftschacht. Man konnte aber deutlich erkennen, daß dies das Herz der Reparatur- und Instandhaltungsanlage war. Eine Reihe von Spezialandroiden saß an einer langen Werkbank, auf Anweisungen wartend, bereit, Gunter zu vervielfältigen. Reproduktion durch Teilung. Rückkehr zum Einzeller. Kanes bestrich die Reihe mit der Thermolanze und ging weiter, die Augen vor dem grellen Glühen geschlossen. Er 156
schätzte, daß die Länge des Raums weit über die volle Breite des Labors hinausreichte. Demzufolge mußte sich dahinter noch ein Raum befinden. Er hatte vergessen, warum er hier war. Er hatte Meta und sogar Nisha vergessen, deren zermalmter Körper den letzten Anstoß gegeben hatte, ihn zu einer zerstörerischen Kampfmaschine zu machen. Er hatte nur ein festes Ziel, nämlich, sich zu dem elektronischen Haufen, der Gunter darstellte, durchzukämpfen und ihn zu vernichten. Als die Vibration aufhörte, weil die Ladung der Thermolanze verbraucht war, öffnete er die Augen und sah, daß er in Werkbank, Wand und Anhäufung halbzerschmolzener Androiden ein gezacktes V geschnitten hatte. Es hing schief herab, noch rotglühend, und er schaute sich nach einem Thermoisolator um. Ein schwarzhaariges Mädchen mit glitzernden Augen, das ihm vage bekannt vorkam, reichte ihm einen roten Kanister, und er sprühte grauen, kühlenden Schaum auf den Haufen. Als er in Gunters Lebenserhaltungssystem durchbrach, war er in Dunst gehüllt und hatte noch Zeit, sich seitwärts zu Boden zu werfen, bevor die Dunstwolke an der Stelle, wo sich seine Brust befunden hatte, rot aufglühte. Es war ein Gunter-Android mehr, zwischen dem rauchenden Loch und Gunters Nukleus unter seiner Glaskuppel stehend. Ventner hatte recht gehabt, als er von roten Vorhängen gesprochen hatte. Der Raum war ein elektronisches Kabinett in Plüsch. Das Androidengesicht konnte keine Verwirrung zeigen, aber es spiegelte deutlich die wachsende Angst seines Lenkers. Kleine, unsichere Bewegungen. Der Kopf vorgereckt, um die ersten Anzeichen eines Angriffs ausmachen zu können. Der Android entdeckte Kanes, als er aus seiner Wolke rollte und aufsprang. Der ausgestreckte rechte Arm begann eine Leuchtspur zu feuern, als er sich drehte, um den Ortungssi157
gnalen seiner Kristallrezeptoren zu folgen. Dieser Roboter war schnell. Ein fortgeschrittener Hominoide. Auf eigene Faust reagierend, um die Bedrohung zunichte zu machen. Es blieb keine Zeit, den Karabiner zu benützen. Kanes packte alle Energie, derer er fähig war, in einen Sprintstart, der ihn hinter den Glaskasten führte, während die rote Spur hinter ihm herzuckte. Durch die Glaswände sah er sie nach seinem Kopf zielen und warf sich flach auf den Boden. Es gab einen peitschenden Knall, wie bei einem Karabiner, und Jodoform-Gas fauchte aus der Glaskuppel, als sie zerbarst. Dann stand er auf der anderen Seite und feuerte ununterbrochen, bis das Magazin leer war und der Android gleich einem Stapel Dosen zusammenstürzte. Gunters Stimme, drängend, flehend: »Sie Narr. Sie verrückter Maschinenstürmer. Sie drehen die Uhr zurück. Das ist noch keinem gelungen. Ich hatte Erfolg, wo alle versagt haben. Ein Durchbruch. Unsterblichkeit. Was jeder Mensch sich seit Anbeginn ersehnt hat. Wenn Sie mir jetzt helfen, können Sie den Preis selbst bestimmen. Ich habe mehr Macht als irgend jemand auf der Welt. Sie haben alles zu gewinnen und nichts zu verlieren. Wenn Sie mich töten, entkommen Sie hier nicht.« »Es gibt nichts zu sagen, Gunter«, erwiderte Kanes. »Können Sie das glauben? Nach all den Jahren und all Ihren Manövern gibt es nichts zu sagen. Sie stecken in einer Sackgasse der Entwicklung. Sie sind in eine zweite Kindheit zurückgekehrt. In die endgültige Unreife. Das Leben hat nur Sinn, wenn es den Tod gibt. Das Wesentliche ist Ihnen entgangen. Ihre Belohungen, Ihre Drohungen oder was Sie sonst haben, interessieren mich nicht. Ich bin hier, um Ihr elektrisches Blut abzuschalten und Ihre Kraft der Stromleitung zurückzugeben. Vielleicht kann sich mit Ihnen jemand sein Essen kochen.« »Nein. Warten Sie!« Es war ein ansteigender Schrei, der mit einem Heulen ver158
schmolz, als Kanes Seinen Karabiner wie einen Knüppel schwang und die Geräte, Anschlüsse und Verkabelungen zerschmetterte. Er wütete immer noch, als Meta durch den sich auflösenden Nebel trat und wie ein Flaschengeist vor ihm stand. »Hat sie dir denn soviel bedeutet?« fragte sie. Diesmal erkannte er sie, aber die echte Verblüffung als Reaktion auf die einfache Frage zeigte eine langsame Rückkehr zur Erkenntnis der Wirklichkeit an. In gewisser Weise war das Antwort genug, und Meta bedauerte, daß eine persönliche Frage ihre menschliche Solidarität mit der unglücklichen Toten in den Hintergrund geschoben hatte. Sie beschloß, nicht weiter zu drängen. Aber es war zu spät. »Nisha? Sie hat mir das Leben gerettet. Aber es ging um mehr. Ich hätte Gunter auf jeden Fall vernichtet.« Alle Initiative schien ihm plötzlich entglitten zu sein. »Was nun? Sollten wir nicht Craig und Doktor Hyde zu finden versuchen?« »Ja«, sagte er dumpf. »Aber zuerst möchte ich mich hier umsehen. Irgendwo muß es hier in der Nähe einen zentralen Kontrollraum geben.« Meta fand die Tür und wollte sie öffnen, als er sie beiseite riß. »Vorsicht. Es gibt sicher noch mehr von seinen Gehilfen.« Das stimmte, aber sie gingen ihren Arbeiten nach, ohne Anweisung von oben. Es war ein Nachrichtenzentrum, in den Ausmaßen einer weltweiten Redaktion wie der Aktualitäten-GmbH. Parallel zur langen Werkbank verfügte es über zwölf Bildschirme, eine riesige hufeisenförmige Computerkonsole und eine Sprechzentrale, die Gunter mit allen Städten der Hemisphäre verband. An jedem Pult zwei Androiden. Im Augenblick zeigten sechs Bildschirme eine Nachrichtensendung der Regierung, während zwei Gunter-Androiden 159
Kopien für die Archive anfertigten. Sie schauten sich nicht einmal um, als Kanes herantrat und sie abschaltete. Sechs Regional-Nachrichtensprecher vermittelten den Massen annähernd dieselbe Botschaft. Kanes drehte die Lautstärke auf, um sich zu orientieren, und entschied sich schließlich für seine eigene Region. Ein Großteil des Schirms zeigte Bilder, während der Sprecher zu einem Kopf in der rechten oberen Ecke geschrumpft war. Polizeiaktion in großem Maßstab, auf allen anderen Kanälen ebenso. Bereitschaftspolizei, die Gebäude umstellte. Sicherheitsflugboote, die Vororte durchkämmten. Männer und Frauen, die in Fahrzeuge geführt wurden, Hände auf dem Kopf. Ein provisorischer Lagerkäfig, auf dem Hauptplatz von Wirral City errichtet, mit jetzt schon Hunderten von Insassen. Sitzend, stehend, manche mit Verbänden auf dem Boden liegend. Eines hatten sie alle gemeinsam. Sie gehörten ohne Ausnahme dem Dritten Stand an. Der Sprecher für die Nordwest-Region brachte eine Zusammenfassung für Zuschauer, die sich jetzt erst eingeschaltet hatten. »Die Bundesregierung hat heute früh überraschend reagiert. Seit einigen Wochen bereiteten sich die Sicherheitsbehörden darauf vor, gegen eine Untergrundorganisation mit weltweiten Verbindungen in den ungeplanten Klassen vorzugehen. Diese Anarchisten bedrohten die Grundlage des progressiven modernen Staates und wollten die Gesellschaft in das Chaos des zwanzigsten Jahrhunderts zurückschleudern. Waffen primitiver Art wurden gesammelt, so daß mehrere Divisionen hätten ausgerüstet werden können. Der Minister für geistige Gesundheit erklärte in einem Mittagsinterview, man werde ein großes Umorientierungsprogramm einleiten, um diesen Krebsschaden unseres Staates zu beseitigen.« »Worte, Worte«, sagte Kanes. »Was bedeuten sie, ver160
dammt noch mal?« Dem verstorbenen Gunter hätten sie jedoch gefallen. Dann dachte er an Kreegan und rechnete halb damit, seine stämmige Gestalt im Lager zu sehen. Aber das Bild wurde durch ein anderes ersetzt. Ein mutiges Team der Aktualitäten-GmbH. lieferte eine Aufnahme eines Rationendepots, wo sich eine Aktionsgruppe verbarrikadiert hatte. Karabinerfeuer aus den Fenstern, und die Polizei rückte mit Feuerschläuchen an. Das Gebäude war umstellt. Niemand konnte heraus. Kanes begriff, daß man sich anschickte, es niederzubrennen. Es war ihm bekannt. Das Depot, wo er aufgetaucht war, um Kreegans Mitteilung abzuholen. Linda mochte jetzt dort sein und darauf warten, bis das bewegliche Krematorium seine Arbeit aufnahm. Ein Mann versuchte zu fliehen, stürmte durch die Tür, feuerte eine handgefertigte Granate. Ein einziger Schuß durch einen der Schutzschilde mit Schlitz, und er brach zusammen, zehn Meter vor dem Haus. Es war ein Signal. Ströme von glühendem Gas fauchten aus allen Richtungen auf das Gebäude zu. Es schien zusammenzusacken, in seine Fundamente einzuschmelzen. Nach fünf Sekunden sah man nur noch einen glühenden Schutthaufen. Meta war an der Wand entlanggegangen. Auf einem der letzten Bildschirme erschien Chadwick, um Meldung zu erstatten. Sie drehte an einem Knopf, und seine Stimme schrie: »Die Fernortung hat zwei unabhängig voneinander operierende Flugkörper auf dem Weg hierher ausgemacht. BundesSicherheitsbehörde. Ein Chef-Administrator Lubin mit einem Sicherheitstrupp. Sechs in jedem Flugboot. Bewaffnet. Was soll unternommen werden?« »Prosper«, sagte sie. »Alles in Ordnung. Man muß uns aufgespürt haben. Dein Freund Lubin ist hierher unterwegs.« Chadwick starrte verwirrt aus dem TV-Gerät. Der ohne Schlaf auskommende Gunter hatte offenkundig schneller reagiert. 161
Kanes brauchte noch eine Minute, bis er an der Konsole die Regler fand. Dann sagte er: »Haltet Sie am Tor auf.« »Wer ist da?« fragte Chadwick argwöhnisch. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Chadwick. Tun Sie, was ich sage. Die Firma steht unter neuer Leitung.« »Warum hast du das getan?« fragte Meta. »Jetzt weiß er, daß etwas nicht stimmt. Warum willst du nicht, daß uns Lubin herausholt?« »Du hast die Bilder gesehen. Wir haben von Lubin genausoviel zu befürchten wie alle anderen.« »Wir können ja nicht ewig hierbleiben.« »Niemand kann irgendwo ewig bleiben.« »Ich hole Craig. Vielleicht hat er eine gute Idee.« »Tu das.« »Aber wie?« »Schau dich um. Die ausgeklügelten Verwandlungen müssen doch alle von hier ausgegangen sein.« Es stimmte. Dafür gab es eine eigene Konsole, und sie genoß es, Craig Ventners Verblüffung zu beobachten. Ventner lief in seinem Käfig herum und schlug mit einem Bettfuß an die Wände. Er wirkte erschöpft und aufgebracht. Zweifellos waren Nishas Schmerzensschreie überallhin übertragen worden. Als er die Zentrale erreichte, stieg er in Kanes’ Achtung, weil er das Chaos und ihre Gegenwart ohne Neugier hinnahm. »Wo ist Doktor Hyde?« fragte Kanes. »Sie ist zu Bett gegangen. Sie kann jeden Tag nur ein, zwei Stunden wachbleiben. Wenn man das ›wach‹ nennen will. Sie bleibt oft mitten im Satz weg.« »Wie hat er Nisha zu fassen bekommen?« »Sie ging in die Eingangskammer. Um Sie zu suchen, vermute ich.« »Sie wissen, daß sie tot ist?« »Darüber will ich Bescheid wissen. Das kann er nicht machen.« 162
»Sparen Sie sich die Mühe. Es gibt Arbeit. Ich möchte, daß Sie sich umsehen und feststellen, wie wir ausgerüstet sind.« Seine Hilfe kam zur rechten Zeit. Eine Anfrage kam von der Talsperre, wo ein besorgter Truppführer mit zahlreichen Schürfwunden meldete, daß er bisher niemanden habe festnehmen können, wohl aber habe er die Hälfte seiner Leute verloren. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Ventner. »Ich habe die Situation in der Hand.« Chadwick meldete sich erneut. »Ein weiterer Flugkörper hierher unterwegs. Registriert für die Aktualitäten-GmbH, Nordwest-Region. In dem Flugboot dürfte sich der Direktor, Howard Reid, befinden. Was sollen wir unternehmen?« »Das ist eine gute Nachricht«, meinte Meta. »Er darf doch herein, oder? Wenn wir ihm alles erklären, wird er uns gegen Lubin unterstützen. Eigentlich ist er ganz in Ordnung, wenn man ihn näher kennt.« »Du verstehst immer noch nicht, Meta«, sagte Kanes. »Weder dein Vater noch sonst jemand kann Lubin jetzt von seinem Ziel abbringen. Da findet ein Pogrom statt, das jede liberale Bewegung um eine Generation zurückwirft. Hast du denn die Bilder nicht gesehen? Das Establishment hat Angst, und das bedeutet, daß man zu harten Maßnahmen greifen wird. Jetzt herrscht das Gesetz, und nichts als das Gesetz.« »Die großen Fragen sind mir gleichgültig. Mir geht es nur um dich und mich. Du warst nicht beteiligt. Du warst nicht dabei.« »Ich bin beteiligt. Ich will es sein. Gunter gehörte zum Establishment. Er war es in Reinkultur. Ich will nichts damit zu tun haben. Laß deinen Vater ruhig herein. Er kann dich mitnehmen. Ich lasse mir nichts mehr befehlen.« Er schaute sich in dem Raum um. Nicht gerade grandios. Ein mechanischer Bau. Man würde ihn wie einen Maulwurf herausholen. Aber Gunter mußte über eine letzte Abwehr verfügt haben. Es würde sie etwas kosten. 163
Ventner mischte sich ein. »Die Möglichkeiten hier sind unbegrenzt. Er hat ein Sendepotential, das um die halbe Welt reicht. Könnte sämtliche Bundessender blockieren, vermute ich.« »Sonst noch etwas?« »Steuerpult für den seltsamen Zug. Abwehr-Kraftfelder, die er konzentrisch um das Haus legen kann.« »Was soll das nützen? Als erstes würde ein Gegner doch die Talsperre sprengen und sein Kraftwerk lahmlegen. Ihn überfluten.« »Das glaube ich nicht. Es gibt wasserdichte Schotts, die diese Zentralisation abschließen, und Reserve-Energie in Brennstoffzellen, die eine Ewigkeit reicht.« »Das ist großartig. Was um alles in der Welt wollte er mit seinem Leben in einer Grube unter einem großen See anfangen? Das ist es. Zurückführung zum Absurden. Als sich die Menschheit dem Computer unterwarf, kettete sie sich an das Bein eines superschnellen Idioten.« »Das war nur ein einzelner«, sagte Meta leise. »So typisch ist er auch wieder nicht.« »Er ist nur schon weitergekommen. Jedes System, das den Menschen nicht in den Mittelpunkt stellt, ist auf dem falschen Weg. Die gesellschaftlichen Organisationsformen müssen dem Menschen angepaßt werden, nicht umgekehrt. Was ist denn der Sinn einer Regierung? Doch nicht, ihr Dasein für alle Zeiten zu sichern. Doch nicht, ein Eigenleben zu entwickeln, das den Wünschen der Leute widerspricht, die sie ins Leben gerufen haben. Genauso ist es gekommen. Das System hat begonnen, selbst zu denken. Aber anstatt auf den besten Qualitäten menschlicher Erfahrung gegründet zu sein, basiert es auf den schlechtesten. Wirksam sind die niedrigsten, kleinsten gemeinsamen Nenner – diktiert von Zweckdienlichkeit, vom Kompromiß, von der Mittelmäßigkeit.« »Weisman hat das auch getan. Er versuchte, einen zusammengesetzten Verstand Antworten geben zu lassen.« 164
»Das war etwas anderes. Er hat die Besten ausgewählt. Es bestand direkter Kontakt mit menschlichen Reaktionen. Der Staat befaßt sich mit müden, schalen, überforderten Verallgemeinerungen. Mit Dingen, die nicht mehr menschlich sind.« »Ich verstehe, was Sie meinen, und bin zum Teil Ihrer Meinung«, sagte Ventner. »ich vermute aber, daß der Edelmut des freien Menschen ebenso ein Märchen ist wie die Bösartigkeit des Establishment-Wesens. Trotzdem, ich gebe Ihnen recht, er sollte die Wahl haben, auf seine eigene Weise zum Teufel zu gehen. Im Augenblick stehen Sie aber vor einem weiteren praktischen Problem. Das Wachhaus meldet, daß noch mehr Besucher unterwegs sind.« Chadwick hatte nachgedacht. Es fiel schwer, zu glauben, daß jemand ohne Einwilligung des Eigentümers von der Zentrale aus sprechen konnte, aber der Posten am Eingang zur unterirdischen Anlage hatte ihm Einzelheiten mitgeteilt. Nur ein Mann war zurückgeblieben. Die anderen hatten mit einem Wagen die Fahrt zur Talsperre angetreten, um zwei der Besucher festzunehmen, auf direkte Anweisung vom Vorsitzenden Gunter. Er, Baines, tat, was man ihn geheißen hatte – nämlich auf seinem Posten zu bleiben und auf ihre Rückkehr zu warten. Der Wagen sei wieder da, aber seinen Vorgesetzten habe er noch nicht gesehen. Außerdem habe der Vorsitzende die ganze Umgebung anstrahlen lassen. Ein Anruf bei dem Patrouillenfahrzeug, das auf dem Stausee vierundzwanzig Stunden am Tag Wache hielt, bestätigte, daß niemand über die Mauer gekommen war. Auf der Seeseite war die Staumauer ständig von Scheinwerfern beleuchtet, und zwei bewaffnete Tragflügelboote von dreißig Meter Länge befuhren den Stausee unablässig in Form einer Acht. Es wurde Zeit, daß er auf einem direkten Gespräch mit Gunter bestand. Zumal, da auf dem Schirm ein weiterer Flugkörper aufgetaucht war. Ilkley City hatte dazu nichts zu melden gehabt. Man mußte große Umwege gemacht haben, um ohne Ortung so weit gekommen zu sein. 165
»Verbinden Sie mich direkt mit Gunter«, sagte Chadwick. Kanes beobachtete Chadwicks Gesicht auf dem Bildschirm. »Das ist nicht nötig, Chadwick«, sagte er. »Gunter spricht mit seinem Neffen. Behalten Sie alle Neuankömmlinge vorerst bei sich. Er wird später mit Ihnen sprechen, wenn es ihm beliebt.« Er sah, daß sich Chadwicks Augen argwöhnisch verengten. So hatte sich der Vorsitzende noch nie verhalten. Es war Zeit, Entscheidungen zu reffen, und der Wachkommandant traf die richtige. »Damit bin ich nicht zufrieden. Entweder spreche ich mit Mr. Gunter, oder ich schicke einen Trupp hinüber, der sich umsehen soll.« »Wie Sie wollen. Warum soll ich Sie daran hindern, Ihren Posten aufs Spiel zu setzen?« »Kann ich mit ihm sprechen?« »Nein.« »Gut, ich komme.« »Tun Sie das.« Kanes warf den Hörer auf den Tisch. Im Wachhaus mochten fünfzig Mann sein. Chadwick konnte ein Dutzend entbehren. Das würde mehr als genug sein. Neben ihm prüfte Ventner das Steuerpult für den ›Eisernen Herzog‹. Das schematische Diagramm zeigte die Linie der Schienen, die direkt auf die Mitte des Wachhauses trafen. Er sagte: »Das wird sie nachdenklich machen«, und drehte den Startregler. Auf dem dazugehörenden Monitor konnten sie sehen, daß die Lokomotive in Dampf gehüllt war. Sie schien zu erzittern. Die Bremsen waren noch nicht gelöst. Die Maschine erzitterte bis zur letzten Niete. Als Ventner alle Knöpfe auf Start gestellt hatte, brach sie förmlich aus ihrem Glashaus aus. Sie sahen sie die Steigung hinaufschießen, ein wenig langsamer werden und mit voller Geschwindigkeit die gerade Strecke entlangrasen. Der Waggon schwankte hin und her und 166
hielt sich nur mit Mühe auf den Schienen. Ventner bremste vor der Kurve ein wenig ab und gab dann vollen Dampf. Meta beobachtete das Wachhaus und sagte: »Sie kommen heraus.« Es stimmte, und sie konnten die Unsicherheit verfolgen, als die Patrouille stehenblieb und zum Hügel hinauf sah. Ventner fand Gefallen am Spiel. Er fand den Knopf für die Sirene, und sie hörten sie mit durchdringender Stärke aufheulen. Der Dampf flog in einer weißen, dichten Wolke, die den Waggon verbarg, hinterher. Der ›Eiserne Herzog‹ nahm die letzte Kurve in einem Winkel, der die Maschine eigentlich zum Kippen bringen mußte, aber sie gewann das Gleichgewicht wieder, knallte auf die Schienen zurück und sammelte sich zum letzten Ansturm. Die Männer rannten davon und ließen ihren Wagen stehen. Während der letzten Sekunden verfolgten sie die Vorgänge auf dem Hauptbildschirm. Nichts konnte die Maschine mehr aufhalten. Ein Schütze auf der Terrasse drehte verspätet seine Waffe herum, und die explodierenden Geschosse prallten vom Metall ab. Dann war es vorbei. Die Maschine riß das Bild auseinander und prallte auf. Die obere Plattform zerfiel, und der Schütze konnte nicht mehr herabspringen. Das Bild fiel in sich zusammen. Dann öffnete es sich wieder, wie eine Blume, in Zeitlupe aufgenommen. Sie spürten die Vibration bis in die Zentrale. »Donnerwetter!« sagte Ventner. Das Bild war leer. Die Bildkabel am anderen Ende des Tals waren zerfetzt worden. Es dauerte fünf Minuten, bis sie an der Oberfläche waren und mit dem Wagen losfahren konnten. Sie hatten ihn erst aufrichten müssen. Die durch das Tal fauchende Druckwelle hatte die Fassade des Hauses weggerissen, und eine ganze Seitenwand hing schief herab, von einem einzigen Träger 167
festgehalten. Das Ende des Tals war durch eine Flammenwand abgeschlossen. Ventner sprang hinaus, bevor sie ihn zurückhalten konnten, und lief nach vorn, um den Ausgang abzusuchen. Von der Nähe aus konnten sie sehen, daß eine zwanzig Meter breite Bresche entstanden war, durch die Rauch und Flammen wehten. Eine Karabinersalve jagte ihre Leuchtspur von weit rechts her durch seine Brust. Kanes verfluchte seine Nachlässigkeit und riß das Steuer herum. Aus dem Augenwinkel sah er die Leuchtspur auftreffen. Ventner taumelte. Meta hieb die Fäuste auf seine Schultern und schrie: »Du darfst ihn nicht zurücklassen.« Aber Kanes wußte, daß er tot war. Nur der Kreiselstabilisator in seinem Kyber-Bein hielt ihn aufrecht. Als letzte bewußte Handlung mußte Craig Ventner ihn eingeschaltet haben. Als Kanes davonschoß, sah er, daß die Leiche weitersprang, in grotesken, einbeinigen Sätzen, über den Schutt, hinaus in die imaginäre Freiheit des Ukley-Moors.
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10 Oskar Kreegan kam vor den anderen an und sah das Wachhaus in die Luft fliegen, als er noch einen Kilometer entfernt war. Er wartete ab und hörte das Rattern von Gewehrfeuer im Inneren des Tales. Bis Ventners Bein, den toten Körper sorgfältig balancierend, aus der Ruine auftauchte, war er im weiten Bogen zum Rand der Absperrung geflogen. Linda, die neben ihm saß, leuchtete den Springer mit einem Scheinwerfer an, und sie sahen ihn Richtung Süden verschwinden. Hinter ihr drehten sich sechs weitere Köpfe nach hinten, und Harry sagte: »Soll ich ihn aufhalten, Chef?« »Nein. Er kann uns nichts sagen.« »Gunter steht doch sicher nicht auf der schwarzen Liste«, meinte Linda. »Was hat das zu bedeuten?« »Du siehst ja selbst, daß es nicht von außen kommt. Es sieht danach aus, als versuche jemand von innen durchzubrechen.« »Etwa Kanes?« »Etwa Kanes. Ich hätte aber nicht geglaubt, daß er in diesem Maßstab vorgehen kann.« Kreegan legte die Hände auf die Konsole. Sogar die Ruine des Wachhauses verriet ihm noch, daß sie niemals durchgekommen wären, wenn es unbeschädigt geblieben wäre. Es wäre ein Selbstmordangriff auf ein Ziel der Machthaber gewesen. Gewiß, in Wirral City oder auch anderswo hätten sie keine Zukunft gehabt, angesichts der gesteigerten Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Organisation. Als Linda gemeldet hatte, daß Kanes nach Norden geflogen sei, war das ausschlaggebend für seine Entscheidung gewesen, wohin sie sich wenden sollten. Sie hatten unglaubliches Glück gehabt, überhaupt so weit zu kommen. Tja. Jetzt waren sie hier, und die Situation war so unerwartet, wie sie es nur sein konnte. 169
»Was tun wir?« fragte Linda leise. Kreegan startete das Flugboot und schoß durch die Bresche. Sie rasten hindurch, während drei Sekunden lang Hitze auf sie einstrahlte. Dann verschwand der Rauch hinter ihnen und zeigte die undeutlichen Umrisse des Tals, mit einer freistehenden Lichtsäule im Mittelpunkt. Sie flogen darauf zu und sahen die Scheinwerfer eines Bodenfahrzeugs auf einer unsichtbaren Straße. Meta sah sie zuerst. Sie befanden sich in dem hell erleuchteten Gebiet, als das Flugboot aus der Dunkelheit herabstieß. »Lubin«, sagte Kanes bitter. »Das war’s also.« Das Flugboot landete vor ihnen, Männer sprangen heraus und rannten auf sie zu. Ein Ring von Karabinern richtete sich auf sie. Aber eine Stimme, die er schon gehört hatte, sagte voll Überraschung: »Was sagen Sie dazu, Chef? Schon wieder dieser Kanes. Frisch und sauber, diesmal, und mit seiner molligen Freundin.« Zwölf Stunden. Unglaubliche Leistung einer kleinen Gruppe. Eine stabilisierte Lage. Patt für Lubin, der zwei Männer verloren und seine Truppe am Rand des Eingangs verteilt hatte, alle Waffen auf das rauchende Wachhaus gerichtet. Kanes hatte sogar vier Stunden geschlafen und bei seiner Rückkehr festgestellt, daß Kreegan zwei Techniker damit beauftragt hatte, die Androiden der Nachrichtenzentrale wieder in Betrieb zu setzen. Sie hatten die Arbeit der vier übernommen, die ausersehen waren, die Sicherheitsleute am Wachhaus in Schach zu halten. Bewaffnet mit Thermolanzen, hatten sie sich in den Ruinen verborgen und wurden von der Zentrale aus gelenkt. Zehn Uhr. Kaltes, helles Tageslicht. Die Bildschirme zeigten alle Sektoren der Peripherie. Nichts rührte sich. Kanes kam sich vor, als sei er in die Enge seines Büros bei der Aktualitäten-GmbH. zurückgekehrt. Seine Horizonte hatten sich geweitet, er war vom Wind der Veränderung im Kreis 170
herumgeweht worden. Jetzt saß er in einem Bunker, ohne Aussichten. Howard Reid war eine halbe Stunde nach den Sicherheitstrupps eingetroffen und hatte versucht, Meta herauszuholen. Lubin hatte nichts versprochen. Er hatte gesagt: »Sie können es versuchen, Direktor, aber ich muß Ihnen sagen, daß das weit über eine Jugendtorheit hinausgegangen ist. Sie ist aus freiem Willen dort. Selbst wenn sie jetzt herauskommt, wird sie angeklagt, weil sie Kanes geholfen hat.« Sie hatte den Anruf persönlich entgegengenommen. Blaß, aber gefaßt. »Es tut mir leid. Ich weiß, daß du es gut meinst. Aber ich weiß, was ich tue. Egal, was geschieht, ich bleibe.« Reid erkannte einen neuen Zug an ihr und unternahm nicht den Versuch, sie überreden zu wollen. Zu Lubin sagte er: »Was werden Sie tun?« »Es gibt keine Wahl. Meine Männer können nicht hinein. Ich habe die Entsendung regulärer Truppen verlangt. Notfalls werden sie das Gebiet neutralisieren.« »Dazu brauchen Sie die Genehmigung der Regierung.« »Die bekomme ich. Das fällt unter die allgemeine Anordnung, die Unruhen zu unterdrücken.« »Wann?« »Wann die Truppen kommen? Sie dürften in vier Stunden hier sein.« »Bleibt Zeit, ein Reporterteam heranzuholen?« »Wie Sie wollen, Direktor. Sie tragen aber die Verantwortung, wenn ihnen etwas passiert.« Das Team der Aktualitäten-GmbH. arbeitete gegen die Zeit, kam aus Ilkley City heran und baute einen Kran auf, der den hageren Kopf über den Rand streckte, um ins Tal hineinsehen zu können. Es gab nicht viel zu sehen. Ein junger, begeisterter Sprecher schilderte jedoch die Szene und baute Spannung für die Hexenjagd auf. 171
Lubin hörte zu und war beinahe zufrieden. Er hatte nicht erwartet, daß Reid das so ruhig hinnehmen würde, und wurde auch jetzt den Verdacht nicht los, daß alles zu glatt lief. Er tat gut daran, vorsichtig zu sein. Reid hatte sich seinen Mann mit Bedacht ausgesucht. Während des Kommentars begann er von Bürgerrechten zu sprechen und darauf hinzuweisen, daß in diesen unglücklichen Zeiten jemand zur Stelle sein müsse, der dafür sorge, daß das Heilmittel nicht mehr koste als die Krankheit. Kanes lauschte mit wehmütiger Bewunderung. Er sah, worauf das hinauslief. Eine Verfügung erreichen, die diese Manöver unterband, weil wertvolles Besitztum allzuschwer Schaden erleiden könnte. Sobald er Meta in einem Staatsgefängnis in relativer Sicherheit hatte, fiel ihm schon etwas ein. Aber für Lubin arbeitete die Zeit. Lange bevor die Nachricht durchsickern konnte, wo sie nützen mochte, würde das Unternehmen abgeschlossen sein. Elf Uhr. Ein gepanzerter Spähwagen überflog das Tal in ganzer Länge in niedriger Höhe. Überzeugt, daß dort unten nichts war, was ihn gefährden konnte. Sie hörten den Piloten Meldung erstatten: »Gut angelegte Verteidigungsstellungen hinter dem Zugang. Genaue Position …« Er gab sie mit präziser Genauigkeit durch. Die auf dem ansteigenden Moorland Aufstellung nehmende Batterie würde die Androiden außer Gefecht setzen können, ohne auch nur einen Schuß zu vergeuden. 11.15 Uhr, und der Sprecher bereitete seine Zuhörer auf die Salve vor. Eine Kamera verfolgte sogar die Flugbahn – gestrichelte Linie von der Kanonenmündung bis zur weißen Blume der Zerstörung. Sie beobachteten es nun alle. Ein Bild des Stausees zeigte beide Boote an der Staumauer, mit überfüllten Decks. Blick auf den aufsteigenden Rauch. Die Überreste der Sicherheitstruppen des Tals hatten sich zu den Fünf-Mann-Besatzungen gesellt. Baines ebenfalls. 172
Zwei Überlebende vom Wachhaus, zwei von dem Trupp, der zur Staumauer geeilt war. Wie immer das auch ausgehen mochte, eine anscheinend sichere Welt war zerbrochen. Der Unter-Administrator für das See-Abwehr-System hatte sich mit Lubin bereits in Verbindung gesetzt und loyale Zusammenarbeit mit den friedenstiftenden Streitkräften angeboten. Bis ihn die Armee ablöste, wurde er vorübergehend als Stellvertreter vereidigt, damit er das Tal am oberen Ende abschloß. Kanes löste sich aus der wie gebannt auf die Bildschirme starrenden Gruppe. Er ging in Gunters Raum und prüfte die Wandkonsolen. Dort mußte die letzte, entscheidende Kontrolle ausgeübt worden sein. Ein Größenwahnsinniger von Gunters Art mußte eine Taste gehabt haben, um eine letzte Geste machen zu können. Die Energiereserven bedeuteten kein Problem. Wasserdichte Schotts? Jeder gutausgerüstete Ingenieur konnte diese Staumauer sprengen, und das Tal überfluten. Man würde ihn zu den Toten zählen, obwohl er weiterleben konnte. Er brauchte fünf Minuten, um es zu finden, und inzwischen gingen die Truppen weit durch die ganze Breite des Tales vor. In der Nachrichtenzentrale zog er Kreegan beiseite. »Was geschieht, wenn sie uns fassen?« »Das wissen Sie. Sie waren ja schon dort. Diesmal entweder ein Todesurteil oder völlige Umstrukturierung der Persönlichkeit. Sie werden sich so oder so nicht mehr kennen. Für mich ist das nichts. Ich habe genug.« »Und die anderen?« »Empfinden genauso.« »Linda?« »Auch.« »Aber Sie begrüßen es nicht?« »Niemand begrüßt es.« »Fein, dann können wir den Tag noch verschieben. Uns Zeit verschaffen. Gunter hat es so eingerichtet, daß er das Tal 173
überfluten kann. Wir können die Zeit unter dem Wasser überstehen, bis es abläuft. Uns vielleicht nach oben durchgraben, wenn man uns in Ruhe läßt.« »Haben wir noch Zeit dazu?« »Gerade noch.« Kreegan reagierte sofort. Er ließ seine Techniker den Countdown für die wasserdichten Türen beginnen. Kanes sagte: »Halt.« Er hatte Meta erblickt, und was er hier vorschlug, mußte einstimmig beschlossen werden. Er führte sie in Gunters Zimmer. Sie begriff erst nach einer halben Minute, worauf er hinauswollte. Er war einen Meter vor ihr stehengeblieben. Erkennend, daß dies eine Entscheidung war, die vom Verstand getroffen werden mußte, ohne die Einwirkung von Gefühlen. Aber auf dieser Ebene reagierte sie. Das Blut schoß ihr ins Gesicht, ihre Augen weiteten sich. Als sie zu sprechen begann, überraschte sie ihn völlig. Sie war wütend. »Du behandelst mich wie ein Kind.« Sie rang nach Worten. »Ich kann hören. Ich kann sehen. Ich kann begreifen. Was mußt du tun?« Er zeigte ihr den Hebel. Einen für die Androiden, und eine Verlängerung für Gunters persönliche Entscheidung. Bevor er sie zurückhalten konnte, hatte sie den Hebel gepackt und nach unten gedrückt. Er lief in die Nachrichtenzentrale, bevor sie sich umdrehen konnte, und schrie Kreegan zu, die wasserdichten Türen zu schließen, als ihn ein Beben auf den Boden warf. Vorrückende Truppen hatten den Eingang zur unterirdischen Anlage erreicht, und sie sahen auf dem Bildschirm, wie die Soldaten ungläubig aufblickten, bevor sie die Flucht ergriffen. Die Türen schlossen sich Zentimeter um Zentimeter. Massiv, meterdick, durch Schneckengetriebe bewegt. Der Staudamm war in der Mitte in einem tiefen V ausein174
andergebrochen. Eine Wand aus Wasser wölbte sich heraus, am Talboden weiß zerstäubend, Steinblöcke, scheinbar gewichtslos, fielen auseinander. Eines der Tragflügelboote raste in der Mitte der Flut herab, die Männer noch an Deck. Die Aktualitäten-GmbH. sendete alles. Reid tobte in einer hemisphärenweiten Übertragung und schloß alle Regionalzentren an. Die Sensation des Jahrhunderts. Das größte Publikum aller Zeiten. Es sah die Flutwelle das Tal hinunterrasen und die Überreste von Gunters Oberflächenhaus wegfegen, unaufhaltsam durch seinen Wald stürzen. Tiere flüchteten verzweifelt. Wölfe und Füchse Seite an Seite mit Kaninchen, die Ohren flach nach hinten gelegt, mit letzter Kraft versuchend, sich in Sicherheit zu bringen. Reid selbst gab Erläuterungen, einen rauhen, scharfen Kommentar zu den Tatsachen, die zu diesem Selbstmord geführt hatten. Unten im Keller starrten sie auf den Bildschirm, bis die Kameras unter der Flut verschwanden. Schirm um Schirm fiel aus, bis schließlich die letzte Kamera von Gischt besprüht, den Betrieb einstellte. Man hörte nur noch das Donnern des Wassers, das den Schacht füllte. Dann prallte es gegen die sich schließenden Türen, fand eine Lücke von immer noch einem halben Meter Breite, um hindurchschießen zu können. Kanes stemmte sich gegen die Tür. Völlig durchnäßt, bis zu den Knien im Wasser, gegen immensen Druck ankämpfend. Sie kämpften die Tür gegen die Flut durch, Millimeter um Millimeter, bis das Wasser schließlich durch einen Spalt von winziger Breite nur noch als hauchdünne Wand hereinkam. Als es geschafft war, schleppte er sich zurück in die Nachrichtenzentrale. Hin- und hergerissen in seiner Einstellung zu Meta, suchte er sie, ungewiß, ob er ihr den Hals umdrehen und ihnen allen künftig Ärger ersparen, oder sie als freiwilliges Mitglied des Dritten Standes begrüßen sollte. 175
Die Wahl blieb ihm erspart. Sie stand nicht in der Zentrale und auch nicht in Gunters Zimmer. Kanes begriff, daß es ihm nur darauf ankam, sie zu finden. Sie gab seinem Leben etwas, das bisher gefehlt hatte. Zugegeben, es war durchaus möglich, daß sie kein gutes Omen für ihn war. Aber die Aussichten standen an sich nicht günstig. Es war still geworden. Alle Bildschirme blieben dunkel. Der Druck war gestiegen. Nicht viel, aber genug, um die Atmosphäre zu verdichten. Kreegans Techniker hatten auf die Energieanlage in den Reserveräumen umgeschaltet. Die Luft war immer noch frisch. Woher? Ein Schacht zum Moor vielleicht. Gunter war nicht der Mann gewesen, alles unter Wasser zu setzen, ohne vorzusorgen. Kanes eilte durch das Labor, die Werkstätte und ein paar Lagerräume, die er noch nicht gesehen hatte. In einem der Räume stand ein Android, der auf Anweisungen wartete. Sie hätten ihn bei der wasserdichten Tür einsetzen können. Es gab auch eine Küche. Sie würde mit der Wohnung von Dr. Hyde in Verbindung stehen. Es dauerte fünf Minuten, bis er sich zurechtfand. Als er begriff, wie das System funktionierte, öffnete er es, so daß er zu Fuß durch einen Innenkorridor gehen konnte, der auf kugelgelagerten Schienen lief. Aminta Hyde war wach und hob den Kopf, als er eintrat. Meta Reid erkannte seinen Schritt und betätigte sich weiterhin als Samariterin mit dem Austeilen von Suppe. Sie hatte offensichtlich eine eigene Meinungsbefragung durchgeführt und begriffen, daß sie derzeit bei der Garnison nicht viel galt. »Weiß sie Bescheid?« »Junger Mann. Reden Sie in meiner Gegenwart nicht so, als sei ich schwachsinnig. Ich verstehe genau, was Sie getan haben. Die Frage ist: Was werden Sie jetzt tun? Für mich ist es nicht von Bedeutung, daß ich nicht heraus kann. Ich habe schon lange akzeptiert, daß ich mein Ende hier erlebe. Es ist 176
aber ironisch, daß eine der grundlegenden Freiheiten, auf denen Weismans Idee gründete, die Freiheit war, sich in jedem Staat beliebig zu bewegen. Jetzt bin ich die letzte, die davon weiß, und ich habe weniger Freiheit als die Menschen oben in der Meritokratie.« Meta benützte die Pause dazu, ihr noch ein paar Löffel Suppe einzugeben. Weismans Name brachte Kanes wieder auf den roten Faden, der durch die vergangenen hektischen Wochen gelaufen war und dem Ganzen einen Sinn verlieh. Das war es. Das Ziel der Reise hatte die Antwort geliefert und ihn an eine Stelle versetzt, wo er sie nicht anwenden konnte. Statt auf dem Hintern zu sitzen, bis die Luft oder das Essen ausging, gab es noch etwas zu tun. Seine Hand griff automatisch in die Brusttasche und fand den kleinen Anhänger mit dem Mikromagnetband. Sie besaßen noch immer Energiereserven. Vielleicht gab es einen Weg, das zu senden. Aminta Hyde, hellwach und aufmerksam, sagte zu ihrer Pflegerin: »Ihr Mann glaubt, daß es noch etwas zu tun gibt. Ich vermute, daß er Erfolg damit hat. Er ist ein Glückskind.« »Er ist nicht mein Mann. Er behandelt mich sehr schlecht.« »Sie sagen das so, als schließe das eine das andere aus. Das ist nicht der Fall, durchaus nicht. Haben Sie Geduld mit ihm, meine Liebe, er meint es sicher gut. Vergessen Sie nie: Die Familie ist die grundlegende und natürliche Einheit der Gesellschaft und verdient Ihre Unterstützung. Sie haben ein Recht darauf, zu heiraten und eine Familie zu gründen, ohne Rücksicht auf unterschiedliche Einstufungen.« Kanes hätte durchaus ihren Satz wiederholen können, sie möge in seiner Gegenwart nicht so reden, als gehöre er zu den Möbelstücken. Aber er sagte: »Ich muß mit Kreegan sprechen. Bleib hier, Meta, und kümmere dich um Doktor Hyde. Denk mindestens zweimal nach, bevor du etwas unternimmst. Paß auf dich auf, 177
es gibt viel zu sagen, und wir haben vielleicht nur wenig Zeit. Bis später.« Er hatte den Raum verlassen, bevor sie etwas erwidern konnte. Angesichts des milden Tons, mit dem sie nicht gerechnet hatte, war sie bereit, sich für ihre Voreiligkeit zu entschuldigen, aber das mußte warten. Sie schloß den Mund, faßte sich in Geduld und kümmerte sich wieder um Aminta Hyde. Der ältere der beiden Techniker fand die Lösung. Er überprüfte die Schaltanlagen so gründlich, daß Kanes vor Ungeduld die Sprache wegblieb. Auf dem Rückweg zur Nachrichtenzentrale war ihm plötzlich klargeworden, daß der weitsichtige Gunter für den Extremfall, daß er das Tal fluten mußte, nicht auf NachrichtenVerbindungen verzichten würde. Es mußte ein zusätzliches Sendesystem geben. Vielleicht keine Wechselsprechanlage, aber jedenfalls nach draußen führend, als Orakel, das zu einer wartenden Welt sprach. Es besaß nicht das Potential des Hauptsystems, war aber stark genug, in einem Radius von zweihundert Kilometern zu senden. Es gab auch eine Bildverbindung nach innen, von einem Punkt irgendwo auf dem Hügel rechts vom Wachhaus. Sie zeigte ihnen ein ganz neues Tal. Das Wasser wirbelte immer noch im Kreis und riß Bäume mich sich. Die anderen hatten, was weniger Schwierigkeiten bereitete, ein gutes Bild der Aktualitätensendung aufgenommen, die immer noch lief. Kanes zog die lange Zeit stumme Spule von Weismans erstem Versuch im Gruppendenken hervor und überreichte sie. »Ich möchte, daß das unablässig gesendet wird, mit allem, was wir haben. Fertigt Kopien an. Wir versiegeln sie in Kapseln, damit sie alles überstehen. Viele Kopien. Dann wollen wir uns auf dem Monitor anhören, was sie zu sagen hat. Übertragt auch zu Doktor Hyde – das wird sie interessieren.« 178
Es war gut, daß alles veranlaßt war, bevor sie einschalteten. Als die Übertragung auf dem Monitor lief, hörte jede Tätigkeit auf. Beinahe sogar das Denken. Die Techniker saßen mit gesenkten Köpfen und gefalteten Händen da. Niemand kümmerte sich um das Technische. Es wurde mit größter Stärke gesendet, und Reid ließ nach dem ersten Satz das Aktualitäten-Netz anschließen, als eine lebende und unerwartete Stimme aus dem Grab ertönte. Die Stimme hatte etwas seltsam Zwingendes, eine Verschmelzung vieler menschlicher Stimmen. Sie war weder männlich noch weiblich, weder jung noch alt. Sie war eine Stimme, die in den Köpfen der Zuhörer zu sprechen schien, als sei sie ihre eigene, als melde sich nachdenklich das Bewußtsein. Was sie sagte, war zugleich einfach und tiefschürfend. Es würde Teil des Denkens werden, das sich nur durch Chirurgenhand beseitigen ließe. Sie begann mit Grundsätzen. Anerkennung des gleichen und unveräußerlichen Rechts aller Menschen auf Freiheit und Gerechtigkeit. Anerkennung, daß die Menschenrechte durch Gesetz gewährleistet werden mußten, wenn der Mensch nicht gezwungen sein sollte, sich gegen Tyrannei aufzulehnen. Daß die Würde und der Wert der Einzelperson der Grundstein jedes Gefüges sein mußte, was überleben sollte oder durfte. Es nahm nicht wunder, daß die Meritokratie das unterdrückt hatte. Wieder und wieder machte die ruhige Stimme klar, daß es keine Ausnahmen gab. Alle Menschen waren frei geboren. Gleich an Würde und Rechten. Ausgestattet mit den gleichen Werkzeugen der Vernunft und des Gewissens. Weder Rasse noch Hautfarbe, noch Geschlecht, noch Sprache, noch politische Einstellung, noch gesellschaftliche Gruppierung konnten diese Forderung aus der Welt schaffen. Alle hatten das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit ihrer Person vor Einmischung. Dann kamen die Einzelheiten. Kapitel und Absätze eines 179
Gesetzes, das die Bundesregierung wie ein Gangsterimperium erscheinen ließ. Freiheit der Bewegung und des Wohnsitzes, Freiheit der Meinung. Rechte der Erziehung und Sicherung, gefolgt von einer nüchternen Wertung der Übernahme von Pflichten, die allein das Gebäude tragfest machen konnten. Als das Band abgelaufen war, blieb es lange still. Linda Campbell hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Es war eine vollständige, umfassende und befriedigende Darstellung all dessen gewesen, was sie undeutlich als gesellschaftliches Programm gedacht hatte. Es war überwältigend. Wenn das am Anfang gestanden hätte, wäre alles Leiden erträglich gewesen. Selbst jetzt, am Ende, stellte es ein Requiem dar, das für vieles entschädigte. In der Nachrichtenzentrale rührte sich niemand, und Kanes begriff, daß er schon geraume Zeit einen schlurfenden Schritt gehört hatte. Als Dr. Aminta Hyde durch die Tür kam, auf Metas Schulter gestützt, war das die einzige Reaktion, die dem Vorangegangenen entsprach. Sie sah unendlich alt aus. Ein wandelndes Symbol menschlicher Gebrechlichkeit, aber in ihren Augen lohte das Licht der Intelligenz, der Entschlossenheit. Kanes begriff sofort. »Charley. Eine Kamera hierher. Geben Sie mir eine Leitung für ein Nachwort, bevor Sie das Band wieder abspielen.« Der Stimme zu folgen, war nicht einfach. Aber er machte es kurz und knapp. Er schilderte seine eigene Rolle bei dem Bemühen, die Weisman-Idee aufzuspüren, und die ganze Zeit über richtete sich die Kamera auf Aminta Hydes uraltes Gesicht, zeigte es auf dem Bildschirm in ganzer Größe. Als die Kamera näher rückte, sah man, daß Meta die alte Frau stützte. Reid sah sie und unterbrach seinen Kommentar, um eine Leitung zum Hauptquartier der Bundesregierung zu verlangen. Er stand für die Familie ein und schätzte, daß er auf die eine oder andere Weise als einziger menschlicher Agent des Orakels diente. 180
Kanes hatte das Band zum zweitenmal laufen lassen. Eine kurze Einführung durch Aminta Hyde, dann ihr Bild. Ihre Worte erschienen als Schrift in ihrer eigenen, zittrigen Hand. »Meine Freunde, ich bin dankbar dafür, daß ich diesen Tag erleben darf. Niemand, der zuhört, kann bezweifeln, daß die Worte, die er hört, die Quintessenz menschlicher Weisheit sind. Ich weiß, daß meine lange Nachtwache zu Ende ist. Aber mein Ende ist ein neuer Anfang.« Dreimal in der Stunde, mit kurzen Unterbrechungen für verbindende Worte und Berichte über einzelne Opfer der Meritokratie, suchte Kanes in den fortlaufenden regionalen Nachrichtensendungen nach Hinweisen darauf, daß Weismans Idee Wirkung erzielte. Die Aktivität ließ nach. Das konnte bedeuten, daß immer mehr Zuschauer in den hypnotischen Kreis gezogen wurden. Sobald jemand die Stimme hörte, konnte er sich nicht davon lösen, bis er sie zu Ende gehört hatte. Vielleicht war es falsch, Unterbrechungen zuzulassen. Wie bei Reklamespots luden sie die Zuschauer dazu ein, sich dazwischen zu erholen. Meta hatte ihre Patientin in ihr Zimmer zurückgebracht. Sie fand Zeit, die Küche aufzusuchen und ein Tablett mit Kaffee und Broten herzurichten. Sie tauchte in dem Augenblick hinter Kanes auf, als sich auf dem Bildschirm Beweise für eine veränderte Haltung zeigten. Zwei Sicherheitsposten in olivfarbenen Uniformen rollten die Barriere vor dem Eingang eines Lagerkäfigs zurück. Sie erkannte den Platz an seinen Mosaiken. Es war Wirral City. Gesichter, an denen sie auf der Straße vorübergekommen sein mochte, waren der Tür zugewandt. Man hörte keinen Laut, aber die Mimik war deutlich genug. Zuerst glaubten die Gefangenen an einen Trick. An den Versuch, sie zum Tor zu locken, wo man sie als Fliehende erschießen konnte. Die Wachen gestikulierten freundlich und mit weiten Armbewegungen. Einer nahm seinen Karabiner von der Schulter und warf die Waffe in die Menge. 181
Für die guten Beziehungen wäre das beinahe tödlich gewesen. Der Mann, der sie am Lauf auffing, trug einen blutigen Kopfverband und hatte einige Rechnungen zu begleichen. Was hier auch stattfinden mochte, er gedachte sofort Kapital daraus zu schlagen. Er hob die Waffe an die Schulter. Als er abdrückte, zuckte eine Hand über seine Schulter und schlugt den Kolben nach unten. Der Schuß ging nach oben, ohne jemanden zu gefährden, aber der Wachtposten machte ein betroffenes Gesicht. Das Fraternisieren war nicht ungefährlich. »Natürlich, die Leute auf dem Platz sind die einzigen, die nicht mitgehört haben«, sagte Meta. »Jetzt sind sie nicht mehr die Fortschrittlichen. Das beweist nur, daß alle Positionen relativ und nicht absolut sind.« Kanes nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf den Tisch. Ohne zwei von Kreegans Leuten zu beachten, die vor den Monitoren saßen, schob er sie langsam zur Wand, als wolle er ihr symbolisch klarmachen, daß sie in einer Sackgasse stand, ohne entkommen zu können. Meta Reid stand still, hoch aufgerichtet, die Hände an den Seiten, die Augen weit geöffnet, ohne Vorbehalte. Er stand so nah vor ihr, daß ihre Brust ihn berührte. Es schien Kanes, als sei seit ihrer ersten Begegnung keine Zeit vergangen, daß sie, in gewisser Weise, stets in ihm gegenwärtig gewesen war. Daß ihre körperliche Anwesenheit nur etwas bekräftigte, das er schon immer gewußt hatte. Es spielte keine Rolle, daß sie am Boden einer mit Wasser gefüllten riesigen Grube standen. Ob sie nun Stunden oder Jahre gemeinsam hatten, sie waren vom Glück begünstigt. Der Gruppenverstand Weismans wußte das. Sie waren der Kern all dessen, worum es beim Menschen ging. Man konnte das nennen, wie man wollte, dieses Band zwischen ihnen war genau das, wo man beginnen mußte. Meta befeuchtete die Lippen. 182
Prosper Kanes griff in ihr Haar und küßte sie. Es dauerte einige Zeit, bis sie mit schwankender Stimme sagte: »Ich dachte schon, du kommst nie dazu.« Kanes zitierte einen der Nebensätze des Orakels, als er sagte: »Jeder Mensch hat das Recht auf freie Wahl seines Wohnsitzes. Wegen der Beschränkung, die wir uns selbst auferlegt haben, ist die Auswahl nicht groß, aber Aminta Hydes Suite wäre jetzt gut geeignet.« »Wozu?« Es war eine ernsthafte Frage. Aber ihre Augen straften sie Lügen. Sie waren geweitet und bejahend. Praktisch in jeder Beziehung, griff sie nach dem Tablett und trug es schulterhoch, auf der linken Handfläche balancierend. Eine priesterliche Haltung, die ihrer Figur nur schmeichelte. Oskar Kreegan schätzte, daß das Weisman-Magnetband fünfundzwanzigmal wiederholt worden war, und fragte sich, ob man abschalten sollte, bevor die Zuhörer die Stimme nicht mehr bewußt wahrnahmen. Als er die Lautstärke aufdrehte, wurde er aber wieder gepackt und mußte sich alles noch einmal anhören. In Wirral City war der Platz leer geworden. Auf keinem der Bildschirme sah man Menschen. Linda Campbell saß neben ihm und stellte die entscheidende Frage. »Glaubst du, daß es genügt, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen?« »Das kann nur die Zeit erweisen. Aber es hat gewirkt. Die Organisation kann Atem schöpfen und sich ein Programm geben. Die Leute denken nach. Selbst wenn man das System verteidigen will, muß man argumentieren. Solange die Menschen reden, können sie keine Dummheiten machen. Wie man es auch betrachtet, wir können einen Gewinn verbuchen. Du hast es als Offenbarung empfunden.« »Das ist immer noch so. Ich möchte einen Anfang daraus machen. Aber für uns ist es zu spät, nicht wahr? Du brauchst 183
bei mir nicht taktvoll zu sein. Wir kommen nicht heraus, nicht wahr?« »Nicht mit der Ausrüstung, die wir hier haben. Solange wir die Botschaft übertragen, wissen die Menschen aber, daß wir noch leben. Irgend jemand wird dafür sorgen, daß man uns herausholt.« Sie hatten den Bildschirm beobachtet, der ihnen einen beschränkten Blick auf das Tal erlaubte. Erst nach dreißig Sekunden erkannte Kreegan im Vordergrund ein graues Schlauchboot. Er stellte das Gerät schärfer ein. Ein Froschmann-Team. Das Unternehmen war bereits im Gange. »Das Weisman-Band hat die Gegner mürbe gemacht, aber da muß jemand Druck dahinter setzen«, meinte Linda. »Metas Vater. Soll ich es ihnen sagen?« »Nein. Sie erfahren es früh genug. Der Genuß ist um so größer, wenn man glaubt, ihn nur kurze Zeit zu besitzen. Niemand, der bei Verstand ist, würde sich ein Leben voll Seligkeit wünschen.« »Ist das wirklich deine Meinung?« Kreegan sah sie betroffen an. Er hatte die Anzeichen schon erkannt, als Linda seine Argumente auszuhöhlen versuchte. »Jeder hat das Recht auf freie Meinung«, sagte er hastig. Sein Stellvertreter rettete ihn. Harry kam durch die Luke und schrie: »Chef, jemand klopft an die Wassertür. Soll ich mich melden?« »Ja. Sie können sich melden. Klopfen Sie ein Lied. Die ›Marseillaise‹ – wenn Sie sich daran erinnern.« Meta stützte sich auf die Ellenbogen und sagte: »Wach auf, Prosper.« »Was ist?« »Ich habe ein ganz merkwürdiges Gefühl.« »Das freut mich.« »Nein, im Ernst. Ich bin überzeugt, daß alles gut wird. Ich weiß, daß wir herauskommen werden.« 184
Kanes zog sie zu sich herunter. Haut wie harter, kühler Alabaster. Duftendes Haar. Lange oder kurze Zeit, es war der Beginn eines großen Versprechens. »Lage, Zeit und Raum sind nur relativ«, sagte er. »Ich habe hier alles, was ich mir wünsche.« Sie akzeptierte es. Sie verstanden einander. Es gab vieles zu tun, bevor die Weisman-Idee wirklich haften blieb; für ihre fruchtbare Zusammenarbeit auf allen Ebenen war kein Ende abzusehen. Eins nach dem anderen nehmend, und mehr kann niemand tun, sei er, wo er wolle, begnügte sich Kanes damit, jene Ebene auszuloten, auf der sie sich eben jetzt befanden. ENDE
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