William S. Cohen
Die Verschwörer
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William S. Cohen
Die Verschwörer
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Der Insider-Thriller von Bill Clintons ehemaligem Verteidigungsminister: Brandaktuell, authentisch und so verblüffend gut erfunden, dass alles tatsächlich wahr sein könnte … Eine erschreckende Serie von Sabotageakten weckt in dem amerikanischen Verteidigungsminister Michael Santini den Verdacht auf eine Verschwörung – hinter der er einen hochrangigen chinesischen General und einen russischen Mafiaboss vermutet. Natürlich glaubt ihm in den Machtzentralen von Washington, Berlin, Peking oder Moskau niemand. Außer der Mossad-Agentin Elena … ISBN: 3-8090-2484-8 Original: The Conspirators Deutsch von Fred Kinzel Verlag: Limes Verlag, München Erscheinungsjahr: l. Auflage 2004
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Als Michael Santini das Amt des US-Verteidigungsministers von seinem ermordeten Vorgänger übernimmt, rechnet er vor allem mit den ganz alltäglichen bürokratischen Minenfeldern in Washington, DC. Doch dann erschüttert eine Serie von schrecklichen Sabotageakten die Welt. Santini ahnt, dass hinter diesen scheinbar zusammenhanglosen Attentaten zwei Männer stehen: der ultrakonservative chinesische General Li, der von einer Rückkehr zu Maos Werten träumt, und der milliardenschwere russische Mafiaboss Wladimir Berzin, der mit allen Mitteln Präsident seines Landes werden will. Eine Verschwörung dieser ungleichen Partner scheint jedoch so unwahrscheinlich, dass niemand in Washington, Berlin, Moskau oder Peking Santini Glauben schenken will. Aber die Zeit drängt, denn die chinesischen Militärs unter Li versuchen durch gezielte Desinformation einen amerikanischen Angriff auf Nordkorea zu provozieren. Während die Hardliner in Washington längst den Präventivschlag planen, sucht Santini an höchst ungewöhnlicher Stelle Hilfe für seine Friedensmission: bei Elena Solmitz, der schönen, aber undurchsichtigen Spezialagentin des Mossad … Brandaktuell, hoch brisant – und so verblüffend gut erfunden, dass es wahr sein könnte: Wenn von nächtelangen Kabinettsitzungen, von kleingeistigen Geheimdienstrivalitäten und von den internationalen Intrigen in den höchsten Rängen von Politik, Militär, Geheimdiensten und Verbrechensorganisationen die Rede ist, dann weiß der Leser, dass hier ein intimer Kenner der Politszene erzählt. Das Ergebnis: Ein höchst spannender Insider-Thriller, der zu Spekulationen über die Authentizität des Geschilderten geradezu einlädt!
Autor
Als Präsident Bill Clinton den Republikaner William S. Cohen 1997 in seine Regierung berief und zum 20. Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten machte, war es das erste Mal in der jüngeren Geschichte der USA, dass ein Präsident ein Mitglied der gegnerischen Partei in sein Kabinett berief. Geboren 1940 in Bangor, Maine, war der Jurist u. a. 24 Jahre Mitglied des amerikanischen Senats und des Kongresses. William S. Cohen lebt mit seiner Frau in der Nähe von Washington, DC.
Für meine Frau Janet, von deren Liebe ich besessen bin.
Die Stelle, an der wir kämpfen wollen, darf nicht bekannt werden, damit der Feind sich an mehreren Stellen auf Angriff vorbereiten muss; so sind seine Truppen in viele Richtungen zerstreut, und die Anzahl derer, denen wir an jedem dieser Punkte gegenüberstehen, wird verhältnismäßig gering sein. Sunzi Die Kunst des Krieges
Prolog WASHINGTON, 7. September Sonntagmorgen bedeutete für Verteidigungsminister Thomas H. Koestler und andere wichtige Quellen in Washington, dass man entweder selbst in einer der Talkshows erschien oder sie sich im Fernsehen ansah. An diesem Sonntag saß Koestler in der Küche seines herrschaftlichen Hauses in einem Vorort von Washington auf einem Hocker an der Marmortheke, knabberte an einem halben, dick mit Frischkäse bestrichenen Bagel und schaute »Meet the Press« in einem kleinen Fernsehgerät, das unter der Girlande hängender Töpfe und Pfannen stand. Tim Russell war es gelungen, sich Joseph Praeger zu schnappen, den Sicherheitsberater von Präsident Jefferson. Wobei »schnappen« nicht ganz der richtige Ausdruck war. Wie Koestler sehr wohl wusste, war Praeger bei »Meet the Press«, weil er es sein wollte, der die »Taiwansache« behandelte, wie er das Thema nannte, über das sich die beiden seit einiger Zeit in den Haaren lagen. Und als die Produzenten von »Meet the Press« um den Verteidigungsminister nachfragten, hatten die Kommunikationsstrategen des Weißen Hauses die Einladung geschickt abgefangen und Praeger als einen echten Knüller angeboten. Praeger erschien selten im Fernsehen, und als Koestler nun diese Miniversion seiner selbst betrachtete, war er überrascht, wie unwohl sich der Mann offenbar fühlte, als Russell mit seinem Ritual loslegte: erst eine knallharte Frage, dann ein belastender oder erhellender Zeitungsausschnitt. 6
»Nun, Mr. Praeger«, sagte Russell, »lassen Sie uns mit Taiwan beginnen. Beabsichtigen die Vereinigten Staaten, China in Rage zu versetzen, indem sie Abwehrraketen vom Typ Patriot an Taiwan liefern?« Als Praeger den Mund aufmachte, um zu antworten, sagte Russell: »Sehen wir uns erst mal das hier an«, und auf dem Schirm erschien ein Ausschnitt aus einem Artikel der Washington Times: Der Verteidigungsminister Taiwans fuhr fort, sein Land werde ein ›taiwanesisches Raketenabwehrsystem‹ errichten, wobei es sich um eine Version des von den USA entwickelten THEATER-Raketenabwehrsystems zu handeln scheint. Sein Verweis auf dieses System war offenkundig ein Versuch, ein heißes Eisen zum Thema zu machen: Taiwans Absicht, sich dem von den USA initiierten Raketenabwehrprojekt namens THEATER anzuschließen. Der Verteidigungsminister sagte, Taiwan werde im Ausland Ausrüstung erwerben, während es gleichzeitig eigene Systeme entwickeln werde. Zu dem Programm gehöre die Installation eines Radarfrühwarnsystems und der Kauf des amerikanischen Patriot-Abwehrsystems. Der Ausschnitt verschwand, und das Bild einer in den Himmel steigenden Patriot-Rakete füllte den Schirm. »Nun, wie sieht es aus, Mr. Praeger«, sagte Russell und schwenkte zum Sicherheitsberater herum. »Gibt es eine Sonderlieferung Patriots an Taiwan?« »Eines möchte ich hier klarstellen«, begann Praeger. »Noch ist die Patriot nicht auf dem Tisch.« »Noch nicht«, wiederholte Koestler und schüttelte den Kopf. Typisch Praeger, dachte er. Nur nicht direkt mit der Wahrheit rausrücken. Koestler griff nach seiner Kaffeetasse. Plötzlich begann seine Hand zu zittern. Er hatte sich noch nie so müde 7
gefühlt, nicht einmal am Ende des Marine-Marathons. Die Tasse fiel auf den weißen Fliesenboden und zersprang. Er hörte einen lang gezogenen, kläglichen Schrei und sah Sheba, die betagte, schwarze Katze in die Küche wanken. Ihre Schreie wurde von ihrem alten Gefährten Grayfur beantwortet, der irgendwo im Haus heulte wie eine Todesfee. Koestler begann zu husten – ein nasses, stoßweises Husten, das seinen ganzen Körper schüttelte. Es war so heftig, dass er kaum Luft bekam. In seiner Kehle brannte ein Schmerz, wie er noch nie einen gespürt hatte. Er stand auf und drehte sich zum Spülbecken um. Er brauchte Wasser. Aber er konnte seine Füße nicht bewegen. Er lehnte sich an die Theke und klammerte sich an den glatten Rand, um nicht umzufallen. Inzwischen bebte er am ganzen Körper, und aus seinem Magen stieg eine scharfe, übel schmeckende Flüssigkeit auf. Er würgte. Blut lief ihm aus Mund und Nase. Er musste sich übergeben, Blutfäden glitzerten in dem Erbrochenen. Seine Gedärme öffneten sich, und ein warmer, stinkender Brei lief ihm an den Beinen hinab. Die fleischigen Hände öffneten sich wie von selbst, er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Er hustete noch einmal und spuckte Blut. Dann fiel er und landete mit der linken Gesichtshälfte in den Porzellanscherben. Er brachte noch genügend Kraft auf, um zu schreien. Von irgendwoher glaubte er, ein Echo der Katzen zu hören. Aber die waren bereits verstummt. Er schrie erneut, hörte dann, wie seine Frau Gertrude wieder und wieder seinen Namen rief. Doc Gert, dachte er, denn sein Gehirn funktionierte noch. Dr. med. Gertrude Koestler, die so gerne Babys zur Welt brachte. Dann war sie da, kniete neben ihm, drückte ihm die Hände auf die Brust, presste ihre Lippen auf seinen Mund, um ihm Atem 8
zu geben, Atem … Während sie ihn wiederzubeleben versuchte, wusste sie, was sich im Körper des Mannes abspielte, den sie seit dreißig Jahren liebte. Anthrax. Sporen des Bazillus anthracis schlugen überall in seinem Innern gegen Zellmembrane und öffneten eine Zelle nach der anderen. Die Sporen reiften zu tödlichen Bakterien heran und vervielfachten sich so schnell, dass das Immunsystem keine Antikörper entwickeln konnte. Obschon lahmgelegt, versuchte es dennoch zu funktionieren, tötete scheinbar die Bakterien und transportierte sie zur Entsorgung zu den Lymphknoten. Aber die heimtückischen Eindringlinge erwachten zu neuem Leben, vermehrten sich, produzierten Giftstoffe und breiteten sich in die Blutbahn aus. Dr. Koestler stand auf und griff zum Wandtelefon. Als sie die Notrufnummer wählte, leuchteten die Ziffern auf einem Schirm im Wachhäuschen auf, in dem sich Koestlers Personenschützer aufhielten, wenn er zu Hause war. Zwei Männer mit Uzis in den Händen stürzten aus dem Gebäude und rannten die Einfahrt hinauf. Einer öffnete per Fernbedienung die Haustür. Er betrat das Haus, während der zweite draußen in die Hocke ging, um ihm Deckung zu geben. »Hier herein«, rief Gertrude Koestler. »Helfen Sie mir.« Die beiden kamen herein, ließen die Augen durch den Raum schweifen und schwenkten ihre Waffen im Kreis. »Legen Sie um Himmels willen die Dinger weg und helfen Sie mir, ihn auf die Couch zu schaffen«, sagte sie und deutete in Richtung des Flurs, der zu Koestlers Arbeitszimmer führte. Einer der Männer legte seine Maschinenpistole auf die Marmortheke und kniete neben Koestlers Schultern nieder. Der andere behielt die Waffe in der Hand und 9
fragte: »Was ist passiert? Sie bluten beide.« Gertrude Koestler begriff, dass sie sich mit Blut beschmiert hatte, als sie ihren Mann berührte. »Das Blut hat nichts zu bedeuten«, sagte sie. Der zweite Leibwächter legte nun ebenfalls seine Uzi weg und schob die Arme unter die zuckenden Beine des Ministers. Koestler hatte die Augen geschlossen und rang mit dem Tod. Er keuchte schwer, und aus seinem offen stehenden Mund floss wieder Blut. »Keine Sorge«, sagte Gertrude beim Blick in die ängstlichen Augen der beiden Männer. Sie hatten, indem sie Koestler halb schleiften und halb trugen, das Arbeitszimmer erreicht und den Minister auf die Couch gelegt. »Wir sind alle geimpft. Tom war es nicht.«
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1 WASHINGTON, 9. September Zwischen einen Nachrichtenmoderator und einen Lobbyisten der Luft- und Raumfahrtindustrie gezwängt, lauschte Michael Santini in der fünften Reihe der Kirchenbänke den Lobreden, die durch das große Mittelschiff der National Cathedral hallten. Ein »herausragender Staatsdiener« (der Vizepräsident), ein »Märtyrer des Terrorismus« (der Direktor der Heimatschutzbehörde), eine »geborene Führungspersönlichkeit« (der Chef des Generalstabs), ein »Mann für alle Gelegenheiten« (der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses), ein »Mensch, der in der Blüte seiner Jahre von uns genommen wurde« (sein Bruder, ein prominenter Anwalt in Washington). Thomas H. Koestler, der Gegenstand all dieser Lobpreisungen, war etwas länger als zwei Jahre Verteidigungsminister gewesen. Als man Tausende von Bundesbediensteten und ihre Angehörigen in Washington gegen Milzbrand impfte – angefangen beim Präsidenten bis hinab zu den Reinigungstrupps in den Regierungsgebäuden – hatte Koestler zu den wenigen gehört, die sich der Impfung widersetzten. Seine Weigerung war nicht öffentlich bekannt gemacht worden. Es waren tiefe religiöse Überzeugungen, die ihn davon abhielten. Einem kleinen Kreis von Freunden hatte er anvertraut, er habe sich »stets darauf verlassen, dass Gott ihn bei Gesundheit erhalten werde«. Drei Tage später war er tot, einer Lungenverseuchung durch Anthrax zum Opfer gefallen. Das FBI fand massive Anthraxspuren in Koestlers Haus in Virginia, unweit von Washington. Die 11
Quelle schienen die beiden Katzen der Koestlers zu sein, die eingestaubt worden waren, als sie auf einem Sessel vor der Terrassentür vor sich hin dösten. Seltsam, wunderte sich Santini nun während all dieser ehrenden Worte. Fast niemand sprach von »Mord« oder vom »Bösen«. Als wäre er einfach im Schlaf verschieden. Das Weiße Haus hatte zwar bekannt gegeben, dass Koestler an einer Verseuchung durch Milzbrand gestorben war, aber nur wenige Einzelheiten veröffentlicht. Santini war auf Bitte des Präsidenten von einem Agenten des Secret Service informiert worden. Das Band einer außerhalb des Hauses angebrachten Überwachungskamera zeigte einen Mann, der mit einem Blasegerät das Laub in Koestlers Garten zusammenhäufte. Der Mann fuhr den Transporter einer Firma, die nach entsprechender Überprüfung für Gartenarbeiten bei den Koestlers zugelassen war, und er trug scheinbar den üblichen Lärmschutz und eine Atemmaske, wie sie Landschaftsgärtner benutzten. Als er sich der Terrasse näherte, zeigte das Überwachungsvideo, wie er das Blasegerät ausschaltete und zur Terrassentür ging. Er kehrte der Kamera den Rücken zu, so dass man nicht sah, was er tat. Augenblicke später war er mit seinem Gerät wieder im Garten. Offenbar hatte er das Anthrax durch das Schlüsselloch gepustet. Die Zeitspanne zwischen Inhalation und Koestlers Tod stimmte mit dem Besuch des Laubbläsers überein. Koestlers Frau Gertrude, die sich hatte impfen lassen, blieb unversehrt. Die Katzen starben. Das FBI hatte einen weiteren Anthraxfall ohne Tatverdächtige. Während er mit halbem Ohr den Lobreden lauschte, fragte sich Santini, was sie wohl einmal über ihn sagen würden. Das Rouletterad drehte sich in seinem Kopf. Wie viel in seinem Leben war reiner Zufall gewesen, Glück oder 12
Pech? Hätte er auf Rot oder Schwarz setzen sollen? Hoch oder niedrig einsteigen? Und wie viel lag in der Hand der Vorsehung? Kirchen lösten immer die Erinnerung an die erste Kirche aus, die er kennen gelernt hatte, St. Dominik in Bostons North End. Eine italienische Kirche, die er wegen seines Familiennamens besuchte. Aber nicht wegen seines Vornamens. Er lebte in zwei Welten. Die italienischen Kinder mochten ihn nicht, weil ihm, blond und blauäugig wie er war, die irische Abstammung ins Gesicht geschrieben stand. Und die Iren mochten niemanden, dessen Name auf einen anderen Vokal als »a« oder »y« endete. Er hörte sich so manche Hänselei mit »Mick« oder »Spagettifresser« an, bis er schließlich auszuteilen begann. Seine Gedanken wanderten zu einem Augenblick in Boston zurück, als er Frank Murphy am Boden hatte und ihm gerade einen Kinnhaken verpassen wollte. Ein Polizist kam vorbei, packte ihn am Schlafittchen und sagte: »Wenn du gegen ihn boxen willst, dann nur zu, aber Mann gegen Mann. Lass ihn aufstehen.« Das Verlangen, Murphy zu vermöbeln, ging vorüber, und die beiden gaben sich, angespornt von dem Polizisten, die Hand. Eine Woche später spielten sie zusammen in der Basketballmannschaft eines Jugendklubs. Santini tat sich während seiner gesamten Zeit an der Highschool in Football, Basketball und Baseball hervor und schaffte es gleichzeitig, ein herausragender Schüler zu bleiben – eine Leistung, die er in hohem Maße dem einschüchternden Wirken seiner irischen Mutter und seines italienischen Vaters verdankte. Er erhielt ein Vollstipendium für Harvard und wurde am Ende seines ersten Jahres zum Kapitän der Footballmannschaft ernannt. Außerhalb der Saison hielt er sich fit, indem er seine Gegner bei Amateurboxwettkämpfen verbläute. Er rangierte im 13
Halbschwergewicht in den Top Ten von Neuengland. Nachdem Santini Harvard mit Auszeichnung abgeschlossen hatte und sich eigentlich auf ein Jurastudium vorbereitete, beschloss er spontan, zur Army zu gehen. Auch wenn Richard Nixon damals gerade Präsident war, so war es John F. Kennedy gewesen, der mit seinem Aufruf, sich »zu fragen, was du für dein Land tun kannst«, seine Fantasie beflügelt hatte. »Sicher, der Krieg in Vietnam läuft schlecht«, räumte er gegenüber seinen Kommilitonen ein. »Aber das kommt vielleicht daher, weil Leute wie wir ihren Teil nicht beitragen.« So erklärte er jedenfalls rational seinen Entschluss. Ein halbes Jahr nachdem er sein Diplom erhalten und bei der Verleihungsfeier einer nichts sagenden Rede gelauscht hatte, führte er eine Mannschaft bei einem Stoßtruppunternehmen zur Zerstörung feindlicher Stellungen im Dschungel nordwestlich von Da Nang. Er geriet mit seiner Einheit in ein heftiges Kreuzfeuer mit regulären Truppen des Nordens. Santini überlebte als Einziger. Schwer verwundet wurde er nach Hanoi transportiert, wo er für die nächsten drei Jahre in einer grausigen Folterkammer, die unter dem Namen »Hanoi Hilton« bekannt war, Quartier bezog. Er war kein Mustergefangener. Den größten Teil seiner Tage und Nächte kurierte er Knochenbrüche in der einsamen Enge einer Zelle von ein auf zwei Metern. 1973 schließlich, als Richard Nixon befand, es sei an der Zeit aus einem »unpopulären Krieg« auszusteigen, wie es die Presse nannte, wurde er mit allen seinen amerikanischen Mitbrüdern freigelassen. Dünn, nahezu ausgemergelt, traf er in Washington ein, und nach einer ausgiebigen Behandlung im Walter Reed Hospital überhäufte man ihn mit Medaillen für seinen ungebrochenen Mut und die 14
Führungsqualitäten, mit denen er seine Mitgefangenen angespornt hatte. Santini gab sich nicht damit zufrieden, sich im Glänze eines Ruhmes zu sonnen, der ohnehin verblassen würde. Er kehrte nach Harvard zurück, studierte Jura und schloss unter den Besten seines Jahrgangs ab. Da er sich für ein Leben im Staatsdienst entschieden hatte, begann er praktisch von dem Moment an, da er seine Zulassung als Anwalt für Massachusetts in der Tasche hatte, mit dem Aufbau einer politischen Karriere. Er schloss sich den Strafverfolgern des USBundesanwalts in Boston an und zog für sein energisches Vorgehen gegen das organisierte Verbrechen rasch die Aufmerksamkeit der Wähler auf sich. Er zerschlug den Drogenring von Tony »the Neck« Labonti und sorgte dafür, dass Tonys Konkurrenten hastig auf gefahrloseres Terrain in New Orleans oder Las Vegas flüchteten. Aber Santini wollte mehr, als Drogenfürsten hinter Gitter zu bringen. Er wollte den Lauf der Dinge in wesentlich größerem Maßstab beeinflussen. Deshalb richtete er sein Augenmerk auf einen Sitz im US-Senat. Das Fehlen eines bekannten Namens – ohne den in der Politik normalerweise nichts geht – spielte für ihn keine Rolle. Er schlug Kapital aus seinem Status als Kriegsheld, der zum Verbrecherjäger geworden war, und segelte auf einer Woge der öffentlichen Unterstützung ins Amt. Von Beginn an wurde Santini als ein Politiker neuen Typs gefeiert: hart, unabhängig, integer. Irgendwie ließ sich das amerikanische Volk von den ständigen Skandalen und Unzulänglichkeiten jener Leute nicht entmutigen, die es zuvor gewählt hatte. Wie Diogenes mit seiner zerbeulten Lampe, glaubten die Menschen nach wie vor fest daran, irgendwer könnte ihren Erwartungen gerecht werden. 15
Dazu auserkoren, sowohl im Geheimdienst- wie auch im Streitkräfteausschuss des Senats zu dienen, stürzte sich Santini in das Studium des Terrorismus. Er sah, wie die Baader-Meinhof-Bande in Deutschland, die Roten Brigaden in Italien, die baskischen Separatisten der ETA in Spanien den Terror als Waffe gegen unschuldige Zivilisten eingesetzt hatten. Für ihn war klar, dass es einmal zu Massenmord in Amerikas Straßen kommen würde. Einzig die Frage des Zeitpunkts war strittig. Er warnte in zahllosen Reden alle, die ihm zuhören wollten, dass Amerika zu selbstzufrieden und gleichgültig gegenüber der wachsenden Bedrohung durch politischen und religiösen Extremismus geworden sei und dass Technik und Terrorismus sich eines Tages mit verheerenden Folgen zusammentun könnten. Seine Senatskollegen, die ihm stets mit Respekt begegneten, widersprachen höflich der Vorstellung, Amerika würde sich einer »eindeutigen und unmittelbar drohenden Gefahr« gegenübersehen. Manche Leitartikler waren weniger freundlich. Sie kritisierten seine Ansichten als Schwarzseherei, die einen »verstörenden Mangel an Toleranz und Großmut« widerspiegelten. Am Ende geschah gar nichts. Viel Lärm. Wenig Zorn. Keine Taten. In der Hoffnung gestartet, er könnte dazu beitragen, dass Amerika seine Zukunft nicht verplemperte, verlor Santini langsam alle Illusionen über das Dasein als Senator. Nach zwölf Jahren hatte er die Belanglosigkeiten satt, die einen großen Teil der Zeit im Senat aufbrauchten, und nach nur zwei Wahlperioden verkündete er seinen Rückzug. Ein Dutzend anderer Senatoren war ebenfalls ausgestiegen. Natürlich führten sie alle die »richtigen« Gründe an: Gesundheit, Familie, finanzielle Bedürfnisse. 16
Aber im Grunde ihres Herzens wussten sie, dass »die beste beratende Körperschaft der Welt« arbeitsunfähig, verkalkt geworden war. Und bevor sie den Rest ihres Lebens mit dem Versuch zubrachten, in Sirup zu schwimmen, sprangen sie lieber ab. Alle außer Santini gaben zum Abschied brillante Schwanengesänge im Senatssaal zum Besten. Seine Person und seine Handlungen sprachen seiner Ansicht nach für sich selbst. Er sah keinen Grund, diejenigen mit Dreck zu bewerfen, die weiter im Rennen bleiben wollten. Sollten sie ruhig mehr Macht bekommen. Er meinte es ernst. Er war auf sechs Zylindern dahingetuckert statt zügig auf acht zu laufen. Die Menschen in Massachusetts hatten etwas Besseres verdient. Dank einer Kombination aus Glück und Instinkt hatte er eine neue Existenz in den Gräben der Wall Street gefunden. Ein Zufallsangebot von einem Freund hatte zu einer leitenden Position bei einer kleinen Investmentbank geführt, die im Begriff war zu expandieren. Er war zwar unerfahren als Geschäftsmann, aber man vertraute ihm, und er brachte es fertig, die Einzelheiten einer diffizilen Fusion abzuwickeln. Nachdem er seine erste Million gemacht hatte, kamen die nächsten Millionen fast von alleine. Er überstand den Zusammenbruch des Aktienmarkts nach den Angriffen des 11. September sowie das Ende einer kurzen, unglücklichen Ehe. Er hatte die Nachricht von Koestlers Tod noch nicht verdaut, als er den Anruf des früheren Gouverneurs von Florida erhielt, der nun Präsident der Vereinigten Staaten war. Das Land, hatte Bradford Jefferson gesagt, brauchte einen Mann, der das Pentagon übernahm, um sofortige Kontinuität zu demonstrieren, und er selbst brauchte unbedingt einen Kandidaten, der reibungslos durch das Bestätigungsverfahren im Senat kam. 17
Als Santini vor mehr als zehn Jahren aus dem Senat ausgeschieden war, hatte er sich geschworen, nie wieder in den Staatsdienst zurückzukehren. Warum also zog er auch nur in Erwägung, sich von seiner Geldmaschine an der Wall Street wegholen zu lassen? Sehr einfach. Amerika wurde angegriffen. Der Schatten des Terrors breitete sich weiter über das Land aus. Flugzeuge, die vom Himmel gebombt wurden, zum Entgleisen gebrachte Züge mit gefährlicher Chemikalienfracht, Anthrax in der Post – oder, wie in Tom Koestlers Fall, auf dem Rücken von Katzen. Es gab keine Grenzen für das kreative Böse, diesen Feind der modernen Welt. Es war einfach ausgeschlossen, dass sich Santini dem Ruf der Pflicht entzog. Und die Gelegenheit, als zweiter Befehlshaber des großartigsten Militärs der Welt zu dienen, bekamen nicht viele geboten. Santini war jedoch klar, dass sein Name bei den anderen Mitgliedern in Jeffersons Team nicht gut ankommen würde. Sie hielten Senatoren – auch ehemalige – für eingebildete Primadonnen. Und Santini war sogar noch schlimmer. Zu unabhängig, zu unempfindlich gegen Druck. Und er hatte diesen Kriegsheldenstatus. »Man soll nie jemanden einstellen, den man nicht rauswerfen kann«, war der Ratschlag, den Joseph Praeger, der Nationale Sicherheitsberater Jeffersons, dem Präsidenten gegeben hatte. Santini war in den Händen seiner Wärter im Hanoi Hilton durch die Hölle gegangen. Diese Erfahrung machte ihn zum Kriegshelden und würde ihm einen Hebel beim Präsidenten verschaffen, wenn es zu einem großen innenpolitischen Streit oder einer Auseinandersetzung um die politische Strategie kam. Er würde über zu viele Hintertürchen zu seinen früheren Freunden im Kapitol verfügen. 18
Der Präsident hatte all das abgewogen und war zu dem Schluss gekommen, dass ihm kaum eine andere Wahl blieb. Zu diesem Zeitpunkt war Santini die qualifizierteste Person für den Job. Und Zeit hatte der Präsident wirklich keine zu verschwenden. Von der Orgelempore dröhnte nun die »Battle Hymn of the Republic«, und die uniformierten Sargträger eskortierten den mit der Fahne bedeckten Sarg den Gang hinab. Eine nach der anderen leerten sich die Bankreihen, und die Kirche hallte vom Gemurmel wider, als man einander sichtete, sich zunickte und typisches Hauptstadtgeflüster austauschte. »Muss mich beeilen. Briefing im Außenministerium.« »Ja, ich habe die Kolumne gesehen. Verdammtes Lügenpack.« »Das ist ja eine Ewigkeit her. Wir müssen uns unbedingt mal zum Lunch treffen.« Oben auf der breiten Treppe der Kathedrale bildeten sich Trauben, die Leute sprachen nun in normalem Ton, sagten jedoch zumeist die gleichen Dinge. Santini, der nickte, lächelte, aber kaum ein Wort von sich gab, löste sich aus einer Gruppe und stieg die Stufen hinab. Unten angekommen, wurde ihm ein Mikrofon entgegengestreckt. »Higgins, CNN«, sagte eine schneidende, vertraute Stimme. Santini richtete den Blick nach unten. »Guten Morgen, Sally«, erwiderte er. »Sie sind zu spät dran für die Messe.« »Lange nicht gesehen, Senator«, sagte sie nun in weicherem Ton. »Darf ich Sie noch so nennen?« Sie wartete einen Moment und fügte, jetzt wieder mit ihrer professionellen Stimme, hinzu: »Und nun zur Sache. Haben Sie das Angebot des Präsidenten angenommen? Sind Sie unser nächster Verteidigungsminister?« 19
»Ich habe mich mit dem Präsidenten getroffen«, antwortete Santini. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Ich könnte natürlich sehr viel mehr sagen, dachte er auf dem Weg zu seinem Auto, das zusammen mit den anderen Limousinen samt ihren Chauffeuren in der Einfahrt wartete. Ich könnte sagen, dass ich den Job angenommen habe und das Weiße Haus es morgen verkünden wird. Ich könnte sagen, dass die Ernennung am Tag darauf im Senat glatt durchgehen wird. Und ich könnte sagen, dass ich auf dem Weg ins Marinekrankenhaus Bethesda bin, um mir eine Anthraxspritze geben zu lassen.
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2 WASHINGTON, März Als Santini die Tür seiner Wohnung öffnete, machte eine im Flur verborgene Kamera seine Wachmannschaft darauf aufmerksam, dass »Road Runner« (so lautete sein Codename) unterwegs war. Abgesehen von den unvermeidlichen bürokratischen Streitereien und der Großmäuligkeit von Sicherheitsberater Joe Praeger, gab es nicht viele Dinge, die ihm an seinem Job missfielen. Jedes Mal von vier Bodyguards umringt zu sein, wenn er woanders hinging als aufs Klo, gehörte dazu. Manchmal rannte er den Korridor hinunter, huschte in den Aufzug, fuhr schnurstracks bis zur Garage im Tiefgeschoss und sprang in sein Auto, ehe die Jungs auch nur die Hosen oben hatten. Dann raste er auf die Straße hinaus, überquerte die Pennsylvania Avenue und die 14th Street Bridge und verschwand auf dem George Washington Parkway. Nachdem er jede mögliche Sekunde des Alleinseins ausgeschöpft hatte, schaltete er für gewöhnlich sein Handy an und nahm den verlegenen Anruf seiner Beschützer entgegen, die in ihrem Wagen umherirrten, um ihn wieder einzufangen. »Okay. Das Spiel ist zu Ende. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten im Büro.« Das Problem bei seinem kleinen Streich war, dass die Männer sein Verschwinden und ihr eigenes klägliches Versagen melden mussten. Das war natürlich unfair ihnen gegenüber, aber sei’s drum. Dann mussten sie eben schneller werden. Wenn er sie beim Wettlauf zu seinem Wagen schlug, dann brachten das auch die Terroristen 21
fertig, gegen die sie ihn schützen sollten. Heute aber gab es keine Spielchen. Er lieferte sich dem Apparat aus und bestieg die gepanzerte Limousine, die direkt vor dem langen Baldachin am Eingang seines Appartementhauses parkte. Sobald er in den Wagen gestiegen war, überreichte ihm Curtis Preston, ein schlanker, muskulöser Schwarzer, der als Santinis bewaffneter Fahrer fungierte, sein Exemplar des PDB, des President’s Daily Brief. Es handelte sich dabei um dieselben Geheimdienstunterlagen, die Präsident Jefferson und seinem Nationalen Sicherheitsstab jeden Morgen vorgelegt wurden, ein Ringbuch mit mehr als einem Dutzend Seiten, die alle als Top Secret gekennzeichnet waren. Wie es Santinis Gewohnheit war, überflog er das Ringbuch und schrieb ein paar Bemerkungen an den Rand, mit denen er über verschiedene interessante Punkte weitere Informationen erbat. Einige Minuten später fuhr die Limousine am Ufereingang des Pentagon vor. Santini gab Curtis das PDB und stieg aus. Curtis würde persönlich dafür sorgen, dass das Dokument zu den richtigen Mitarbeitern im Geheimdienstapparat gelangte. Oben auf der breiten, steilen Treppe hielt Santini einen Moment inne, um das Gebäude zu betrachten, das praktisch sein Zuhause geworden war, seit er den Posten angenommen hatte. Nach der Grundsteinlegung 1941 in nur sechzehn Monaten erbaut, war es von der Idee bis zur Fertigstellung umstritten gewesen: Lage, Größe, Aussehen, Kosten. Es bedeckte fast zwölf Hektar Land und hatte eine Gesamtfläche von mehr als 600000 Quadratkilometern. Beschwerden hatte es von Kongressmitgliedern, Architekten, Gewerkschaften und Beamten des County gegeben. Und jetzt – nun jetzt war es teilweise ein Schrein. Das Loch, dieses herzzerreißend 22
klaffende, verkohlte Loch war zwar verschwunden. Die Wände standen wieder, die Leute waren zurück. Und von außen betrachtet, sah man nur eine Spur von Narben. Aber es gab andere Narben, und die würden nie vergehen. Im Laufe der Jahre hatte man das Pentagon durch schiere Nachlässigkeit und unzureichende Mittel für den Bauunterhalt verfallen lassen. 1991 wurde dann endlich beschlossen, es zu renovieren. Das würde keine billige Angelegenheit werden. Man rechnete mit Milliarden von Dollar und mehr als einem Dutzend Jahren, bis die Arbeiten erledigt waren. Das Renovierungsprojekt war in vollem Gange, als Fanatiker der al-Qaida eine Boeing 757 in das Gebäude rammten. Ironischerweise trafen sie den einzigen Abschnitt auf der Westseite, der bereits fertig gestellt war. Die Renovierung, zu der das Einziehen von Stahlträgern und feuerfesten Wandverkleidungen gehörte, hatte unzählige Menschenleben gerettet, die verloren gewesen wären, wenn das Flugzeug in irgendeinen anderen Teil des Gebäudes gekracht wäre. Es gab einhundertvierundachtzig Tote, einschließlich der Opfer an Bord des Flugzeugs. Das war eine geringe Zahl verglichen mit jenen, die beim Angriff auf das World Trade Center in New York ums Leben kamen, aber der Symbolwert war genauso hoch. Die Al-Qaida-Terroristen hatten mitten im Nervenzentrum der amerikanischen Verteidigung zugeschlagen. Der Schmerz und die Wut, die Santini an jenem Tag empfunden hatte, waren einige Tage später ein wenig gelindert worden, als er voller Stolz sah, wie eine Gruppe Marines mit Bauarbeiterhelmen auf die Spitze des Pentagon stieg und eine riesige amerikanische Flagge über den Trümmern hisste. Die Geste sagte alles: »Zum Teufel mit al-Qaida. Wir sind immer noch da. Und bald sind wir 23
drüben bei euch.« Bar aller äußeren Verzierung, war das Pentagon ein architektonisches Wunder, auch jetzt noch mit seinen leichten Narben. Wenn man die säulengeschmückten Fassaden und die Säulengänge an den Eingängen von der Mall und vom Fluss wegrechnete, besaß der fünfstöckige, fünfseitige und aus fünf Ringen bestehende Mittelpunkt des amerikanischen Militärs tatsächlich eine funktionale Schlichtheit, die auf der ganzen Welt unerreicht war. Das Pentagon war eine Stadt für sich, eine pulsierende Stadt, in der es von bestens ausgebildeten, brillanten und einsatzfreudigen amerikanischen Bürgern wimmelte, Bürger, die sich bei einer Probe mit Tod und Feuer bewiesen hatten. Sie hatten eine Mission – Tag für Tag: die Sicherheit der Nation bewahren. Für Santini symbolisierte das Pentagon Festigkeit. Der Bau war überschaubar und verständlich. Beständig. Wie Amerika selbst. Für die meisten der dreiundzwanzigtausend Männer und Frauen, die hier arbeiteten, war es lange Zeit einfach nur »der Bau« gewesen. Nun, da Pentagon zu einem Sinnbild geworden war, nannten sie es stets nur das Pentagon. Verzierungen oder Extravaganz hätten den Ernst seines Zwecks gemindert. Hier wurden jede Minute Entscheidungen getroffen, die das Leben oder den Tod von Menschen betrafen. Wie vielleicht auch heute, dachte Santini. Jeder Tag brachte eine Reihe kleinerer Notfälle und Dutzende von Entscheidungen, die meisten davon bürokratischer Natur, dazu bestimmt, in die großen und endlosen Archive des Pentagon geschoben zu werden. Aber jeden Tag, überall auf der Welt, konnte es zu einer größeren Krise kommen. Und wie es ein britischer General einmal formuliert hatte, 24
standen die Chancen gut, dass diese Krise mitten in der Nacht ausbrach und an einem Punkt, der genau im Niemandsland zwischen zwei veralteten Karten lag. Eine Erinnerung blitzte in Santini auf. Er dachte an ein Kriegsspiel, an dem er als Senator einmal teilgenommen hatte. Hier, im Kriegsimulationszentrum im Keller. Irgendein Szenario über einen Einmarsch im Iran. Es hatte eine Menge »Was wäre, wenn« und viele verwegene Züge gegeben, eine Gelegenheit, imaginäre Macht auszuüben und sich an Entscheidungen zu berauschen, die den Lauf der Geschichte ändern würden. Man hatte zum Beispiel dem Pentagon befehlen können, »die Marines reinzuschicken«. Jetzt konnte er genau das tun. Und es war kein Spiel mehr. Santini drehte sich um und wurde von Sergeant Major Walker begrüßt, der sein unvermeidliches Lächeln aufgesetzt hatte, ein Lächeln, das fast schon ein Lachen war. »Sind Sie heute Morgen zu Ihrem Achtmeilenlauf gekommen?«, fragte Santini und kannte die Antwort bereits. »Jawohl, Sir«, erwiderte Walker. »Kein Problem.« Santini wusste, dass Walker seit halb vier Uhr morgens auf den Beinen war und das Pentagon nicht vor acht Uhr abends verlassen würde. Er hatte eine Frau, zwei Kinder und drei Hochschulabschlüsse und arbeitete in seiner Freizeit an einer Doktorarbeit. Santini beneidete ihn um das Geheimnis seiner Energie, er hätte es sich gerne in Flaschen abgefüllt. Es gab viele andere im Pentagon, die bereits im Besitz der Formel waren. Santini stieg die breite Treppe am Ufereingang empor, hielt für den grinsenden Sicherheitsmann hinter dem Schalter seinen Gebäudeausweis in die Höhe und ging dann eine Treppenflucht zum Eisenhower-Korridor hinauf. Er trat rasch an dem bewaffneten Sicherheitsposten am 25
Hintereingang seines Büros vorbei in einen Raum von der Größe eines Footballfelds. In der Mitte des Raums stand General Jack Pershings wunderbarer, massiver Mahagonischreibtisch. Er war von tiefbrauner Farbe, mit Goldleisten an den Kassettenschubladen verziert und so beeindruckend, dass in Santinis Vorstellung zehn Männer nötig waren, um ihn anzuheben. Er bemühte sich tapfer, die Schreibtischoberfläche von den zahllosen vertraulichen Dokumenten freizuhalten, die man ihm im Lauf eines Tages vorlegte. Denn dieses Möbel war mehr als ein Schreibtisch. Es war ein Stück Geschichte, das nicht mit aktuellen Anforderungen übersät werden durfte. In der Mitte des Tisches lag eine Mappe mit den roten und weißen Diagonalstreifen, die anzeigten, dass sich streng geheime Informationen in ihr befanden. Er hob sie wütend auf. Wer zum Teufel hat das hier liegen lassen? Santini nahm es sehr genau mit Sicherheitsvorschriften. Das hier war ungeheuerlich. Man lässt Mappen mit Geheimunterlagen nicht einfach so herumliegen. Doch dann klappte er sie auf und sah ein einziges Blatt Papier, in dessen Mitte Margie Reynolds, seine Privatsekretärin, in großen Buchstaben geschrieben hatte: Happy Birthday! Meine Güte, dachte er, war schon wieder ein Jahr vergangen? Der Sand rieselt unaufhörlich durchs Stundenglas. An das Blatt war in einer durchsichtigen Plastikhülle im Taschenformat ein Kärtchen geheftet, das Santinis Tagesverlauf auf fünf Minuten genau einteilte. Der Zeitplan begann mit 06:00 Abfahrt Wohnung, setzte sich fort mit 06:30-07:00 Briefing Aufklärungsdienste, 07:30-08:00 Top 4, 08:00-08:30 Stab, 08:30 Abf. Pentagon zum WH … und endete mit 19:00 Empfang Admiral & Mrs. Conner. 26
Santini stellte seine Aktentasche ab und trat an eines der hohen Fenster, die direkt auf den Paradeplatz hinausgingen. So vieles war geschehen seit jenem Tag, da er seinen Amtseid im Oval Office abgelegt hatte. Zunächst hatte Santini pure Heiterkeit erlebt. Keine Verzögerungen oder Verwässerung seiner Absichten mehr wie im Senat, kein Kopfzerbrechen über das Auf und Ab an der Wall Street. Jeder seiner Befehle wurde ohne Zögern und ohne Murren ausgeführt. Ein neuer Mann kann das bewirken. Dann aber beginnen Leute, die irgendwo tief im Innern der Bürokratie hausen, Widerstand zu leisten und sich zu wehren. Natürlich fordern sie den Minister nie offen heraus, aber sie durchkreuzen seine Absichten, indem sie die Maschinerie abbremsen, den Prozess der Entscheidungsfindung in Regelungen und Vorschriften kleiden oder sich heimlich mit Mitarbeitern mächtiger Kongressabgeordneter treffen, die ihnen helfen, jede Änderung des Status quo zu verhindern. Und dann hatte man noch mit den Mitarbeitern des Weißen Hauses zu kämpfen sowie mit den Leuten vom Office of Management and Budget, die wild entschlossen waren, Mittel aus dem Verteidigungshaushalt zu verschieben, um damit vor der nächsten Präsidentschaftswahl politisch wünschenswerte Programme in wahlentscheidenden Bundesstaaten zu finanzieren. Die Freiheit in der Führung des Verteidigungsministeriums war beinahe ebenso flüchtig und illusorisch wie die Vorstellung, eine wirkungsvolle und unabhängige Stimme im Senat zu sein. »Mr. Secretary?« Santini wandte den Kopf und sah Margie in der Tür. Neben ihr stand ein hoch gewachsener, schlanker Mann, der eine Brille mit schwarzer Fassung trug. Er sah asiatisch aus, und Santini überlegte kurz, ob es sich etwa um einen unerwarteten Besucher aus der chinesischen 27
Botschaft handelte. Dann bemerkte er die Kennmarke um den Hals des Mannes und sah an den Farben, dass er für die Defense Intelligence Agency arbeitete. Das war also der Neue. »Mr. Secretary, das ist Arthur Wu, Ihr neuer DIABerichterstatter.« »Danke, Miss Reynolds«, sagte Santini. Als sie die Tür schloss, machte Santini einen Schritt auf Wu zu, der seinerseits mit zwei Schritten die Entfernung überbrückte und die rechte Hand vorstreckte, ehe er sie wieder zurückzog, weil ihm das Protokoll eingefallen war. Santini reagierte auf Wus Zögern, indem er lächelte und ihm einen Senatorenhandschlag zuteil werden ließ: Die rechte Hand schüttelt die Hand des Gegenübers, die linke fasst an dessen Oberarm und drückt ihn freundschaftlich. »Setzen Sie sich, Captain Wu«, sagte Santini und deutete zu zwei Stühlen an einem runden Tischchen rechts vom Schreibtisch. Wu setzte sich militärisch steif, als wären sein grauer Anzug, das weiße Button-down-Hemd und die blaurot gestreifte Krawatte eine Uniform. Bis vor einigen Wochen war Captain Wu am Army War College in Carlisle, Pennsylvania, tätig gewesen, wo er als Ausbilder einen Pflichtkurs in Geschichte der amerikanischen Chinapolitik gegeben hatte. Einer von Santinis Talentscouts hatte auf der Suche nach einem Chinaspezialisten seine Netze auch am War College ausgeworfen. Zukünftige Generale oder Admirale bekamen ihre Beförderungsscheine entweder dort oder an der Naval Post Graduate School in Monterey, Kalifornien, abgestempelt. Jeden Morgen wurde Santini von einem Mitarbeiter der Central Intelligence Agency, der natürlich Zivilist war, auf den neuesten Stand der Dinge gebracht. Diesem Briefing 28
folgte ein zweites durch einen Armee- oder Marineoffizier von der Defense Intelligence Agency. Verteidigungsminister Robert S. McNamara hatte die DIA zu dem Zweck geschaffen, Geheimdiensteinschätzungen zu koordinieren, die bis dahin einzeln von Army, Navy, Marine Corps und Air Force abgegeben worden waren. Santini war klar, dass die DIA im Schatten der wesentlich größeren CIA operierte. Aber er hörte gern die manchmal abweichenden Ansichten beider Dienste, und als auf seine Empfehlung hin Generalin Hayes von der Luftwaffe Direktorin der DIA geworden war, hatte er sie angewiesen, die beiden Berichterstatter von DIA und CIA niemals ihre Unterlagen vergleichen zu lassen. Die drei Fernsehbildschirme hinter Santinis Schreibtisch waren auf CNN, MSNBC und Fox News eingestellt. Im Augenblick lief auf allen dreien Werbung. Oft erfuhr er Eilmeldungen, die für die nationale Sicherheit von Belang waren, schneller über die Sender als von einem der Geheimdienste. »Nun, was haben unsere Medienmogule heute für uns«, sagte Santini und nickte in Richtung der stummen Monitore. »Die Nachrichtensendungen gehören nicht zu meinem Aufgabenbereich, Mr. Secretary. Aber wenn Sie wünschen …« »Ich habe nur Spaß gemacht, Captain Wu. Oder darf ich Sie Arthur nennen?« »Ja, natürlich, bitte nennen Sie mich Art. Und ich bin jetzt Captain der Reserve.« »Und, wie gefällt Ihnen Ihr neuer Job?« »Gut, sehr gut, Sir. Und ich bin dankbar dafür, dass ich ausgewählt wurde. Ich möchte …« »Ich habe dem War College mitgeteilt, dass ich ihren besten Chinaspezialisten zur DIA beordert haben will. Und ich habe General Hayes gebeten, einen Blick auf Sie 29
zu werfen und zu entscheiden, ob Sie Berichterstatter werden sollen. Sie hat die Entscheidung getroffen. Also, was haben Sie für mich?« Wu rückte näher an den runden Ziertisch, der ebenfalls zum Vermächtnis von General Pershing gehörte. Stocksteif auf seinem Stuhl sitzend, spulte er seinen Bericht ab, wobei er auch einige Angriffe streifte, die in der Nacht stattgefunden hatten. »Hamas hat die Verantwortung für eine ferngezündete Bombe in einem vollen Konzertsaal in Jerusalem übernommen. Es gab zwanzig Tote, mehr als siebzig Verletzte. In Russland ist eine Tschetschenin mit ihrem Wagen in die Tiefgarage eines Wohnblocks gefahren und hat nach Schätzung von Experten zweihundert Kilo Sprengstoff gezündet. Noch sind keine genauen Zahlen verfügbar, aber man rechnet mit mehr als zweihundert Opfern. In Kaschmir kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Muslimen und Hindus.« Gleichmäßig und in emotionslosem Ton fuhr Wu fort, die Checkliste der Gewalt abzuhaken, die zu einem beständigen Hauptbestandteil der nachrichtendienstlichen Kost geworden war. Der Mann war ein Automat. Er hätte ebenso gut die aktuellen Aktienkurse verlesen können. Schließlich schloss er mit Nordkorea. Während Wu Namen, Statistiken, verdeckte Operationen und HUMINT (human-provided intelligence, ein höflicher Ausdruck für Spione) herunterrasselte, schaute er kein einziges Mal in das Briefingbuch, das aufgeschlagen auf seinen Knien lag. Er klappte das Buch zu. »Wegen China, Sir. Mir ist aufgefallen, dass Sie in Ihrem gestrigen Exemplar des PDB angemerkt haben, Sie wünschten Hintergrundinformationen über zwei chinesische Themen und eine nordkoreanische Angelegenheit, 30
die natürlich eng mit der chinesischen Außenpolitik verknüpft ist.« »Diese Nachfragen können später im Hintergrundbericht der DIA abgehandelt werden. Zerbrechen Sie sich darüber im Moment nicht den Kopf. Sie waren für Ihren vorzüglichen Bericht nicht nötig«, sagte Santini und erhob sich. Wu stand auf, dankte Santini und machte sich auf den Weg zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um, schlug sich entschuldigend an die Stirn und sagte: »Eine Sache habe ich ganz vergessen, Mr. Secretary. Gestern am späten Abend hat Carole Minter, die Reporterin der Washington Post, einen Brief aufgemacht. Sie dachte, er wäre von einem Freund. Nachdem sie den Verschluss aufgeschlitzt hatte, wollte sie das Kuvert öffnen, indem sie hineinblies. Sie wäre fast an einem weißen Pulver erstickt, das sie praktisch eingenebelt hat.« »Ist ihr das nicht schon mal passiert?« »So ist es. Anscheinend hat jemand etwas gegen sie.« »Anscheinend kann sie sich nicht abgewöhnen, in Kuverts zu blasen. Alles in Ordnung mit ihr?« »Wie es aussieht, war es wieder nur ein übler Scherz«, sagte Wu. »Erste Labortests auf Anthraxsporen waren negativ, aber das Seucheninstitut will sicherheitshalber heute weitere Tests machen. Wie Sie wissen, wird die gesamte Post, die in der Stadt in Umlauf ist, inzwischen bestrahlt. Die Chancen stehen also ziemlich gut, dass sie unbeschadet davonkommt, selbst wenn sich die Substanz als echt erweisen sollte.« Als Wu im Begriff war zu gehen, sagte Santini: »Können Sie noch einen Moment bleiben, Art?« »Selbstverständlich. Gibt es noch etwas?« »Es geht um diesen Anthraxscherz, wenn es denn einer 31
war.« Santini bugsierte Wu zu dem kleinen Tisch und klopfte auf einen Stuhl, als Zeichen, dass er sich setzen sollte. »Irgendetwas stört mich an der Art und Weise, wie es Koestler erwischt hat. Und dass nach sieben Monaten noch kein Hinweis vom FBI kommt, wer der Täter war.« Wu schüttelte den Kopf. »Und meines Wissens ist es unwahrscheinlich, dass sie es je herausfinden werden. Es gibt Tonnen von dem Zeug. Und Hunderte von Tüftlern, die es in ihren Heimlaboren herstellen können.« »Ich möchte Sie etwas fragen, Art«, sagte Santini. »Wie viele Leute wussten, dass Koestler es abgelehnt hatte, sich impfen zu lassen?« Zum ersten Mal hatte Wu keine schnelle Antwort. »Nun, das weiß ich natürlich nicht, Mr. Secretary. Ich war damals noch nicht hier im Pentagon. Nur ein paar Leute, schätze ich.« Er wandte den Blick von Santini und fixierte vorübergehend die Wand gegenüber. »Seine Frau, nehme ich an. Sein Stellvertreter muss es gewusst haben. Wahrscheinlich der Chefarzt des Pentagons. Die Leute oben in der Klinik, wo Koestlers Krankenunterlagen aufbewahrt wurden.« »Aber das ist immer noch ein begrenzter Kreis von Leuten, oder?« »Ja, Sir.« Wus Stimme verriet Unbehagen darüber, in welche Richtung Santini steuerte. »Aber man kann nicht sagen, wie sicher diese Unterlagen waren. Wie Sie wissen, ist das Pentagon ein beliebtes Ziel von Hackern. Wir werden weit über tausendmal am Tag attackiert. Manche kommen durch die Firewalls. Das könnten Teenager sein oder …« »Oder Terroristen«, vervollständigte Santini den Gedanken. 32
»Ja, das wäre durchaus möglich.« Santini schwieg einen Moment lang und dachte daran, was Koestler zugestoßen war. Die Gesprächspause verunsicherte Wu, er wusste nicht, was er sagen sollte. »Möchten Sie, dass ich etwas unternehme? Ich kann Vic Sanders drüben beim FBI anrufen, um festzustellen, ob sie schon mehr wissen.« »Nein. Ich war nur neugierig. Jemand musste genau über Koestlers Verwundbarkeit informiert gewesen sein. Jemand, der ein starkes Interesse an seinem Tod hatte.« Santini stand auf und dehnte seine Rückenmuskeln. »Wenn ich mir so die Schmähpost ansehe, die ich jeden Tag bekomme, könnten das viele Leute gewesen sein.« Es sagte es in scherzhaftem Ton, aber die Zahl seiner Leibwächter erinnerte ihn beständig daran, wie viele Gefahren der Job tatsächlich mit sich brachte. »Tut mir Leid, dass ich Sie aufgehalten habe. Ich sehe Sie morgen.« Als Wu zur Tür ging, hatte Santini gemischte Gefühle hinsichtlich des Neuen. Und er konnte nicht genau sagen, weshalb. Wu machte zweifellos Eindruck. Klug. Selbstbewusst. Ehrgeizig. So stand es in seinen Papieren. Und er war durchaus sympathisch. Dennoch hatte er etwas an sich, das Santini nicht ganz stimmig vorkam. Santini war jemand, der sich auf seine Intuition verließ. Manche fanden, er sei zu schnell in der Beurteilung von Leuten. Entweder er mochte jemanden, oder er mochte ihn nicht. Traute dir oder jagte dich fort. Niemand bekam je eine zweite Chance, um einen guten ersten Eindruck zu machen. Für gewöhnlich ließ ihn sein Instinkt jedoch nicht im Stich. Wu schien nicht wohl bei der Frage gewesen zu sein, wie viele Leute von Koestlers Weigerung, sich impfen zu lassen, gewusst haben könnten. Er hatte ein wenig 33
defensiv gewirkt. Wie er gesagt hatte, war er damals noch nicht im Pentagon gewesen, und es gehörte wirklich nicht zu seinen Aufgaben, über Koestlers Ängste oder religiöse Überzeugungen Bescheid zu wissen. Aber hätte er als Nachrichtendienstoffizier nicht ein klein wenig neugieriger sein müssen? Andererseits, dachte Santini, spielte vielleicht nur seine Fantasie verrückt. Im Pentagon zu arbeiten war immerhin etwa so, als versuchte man, aus einem Feuerhydranten Wasser zu trinken. Die Ereignisse rauschten in einem Tempo heran, das einem kaum Zeit zum Nachdenken ließ. Tatsächlich hatte er selbst fast nicht mehr an die Bedrohung durch Anthrax gedacht, bis er gerade eben wieder daran erinnert worden war. Als Wu die Tür öffnete, streckte Margie den Kopf herein und verkündete: »Der Generalstabschef ist da, Mr. Secretary. Die anderen sind unterwegs. Soll ich ihn jetzt hereinbitten?« Santini nickte. Die »anderen«, auf die Margie anspielte, waren Sam Towers, Santinis Stellvertreter, und General Bill Steiger, der Vizechef des Generalstabs und George Whittiers Stellvertreter. Zusammen bildeten sie die »Top Vier« und trafen sich exakt eine halbe Stunde täglich, um Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden und Punkte ihrer jeweiligen Tagesordnung durchzugehen. Santini wollte auf keinen Fall, dass sich Whittier die Beine in den Bauch stand. Seine ambivalenten Gefühle in Bezug auf Arthur Wu würden warten müssen. Nach dem rituellen Handschlag setzten sich die beiden Männer an den kleinen Konferenztisch. Whittier war einer dieser zähen, drahtigen Texaner, wie sie die Air Force hervorbringt. Er hatte seine Laufbahn als Pilot begonnen, war aber dann zu den Special Forces gewechselt und zu 34
deren Kommandant aufgestiegen, ehe er für den Posten des Generalstabschefs auserkoren wurde. »Mr. Secretary«, begann Whittier, »wir haben soeben die Meldung erhalten, dass einer unserer elektro-optischen Aufklärungssatelliten bei seinen letzten beiden Umläufen außer Betrieb war. Es handelt sich um den, der Nordkorea abdeckt.« »Was heißt war? Funktioniert er jetzt wieder?« »Ja.« »Wissen wir, was los war?« »Noch nicht. Wir haben alle Mann auf die Sache angesetzt, die Jungs vom National Reconnaisance Office, vom Space Command, von der National Security Agency. Keine Hinweise auf Laseraktivitäten oder andere Sabotage. Könnte sich einfach um irgendein mechanisches Versagen handeln. Die Vögel sind ziemlich alt.« »Ich möchte Sie etwas fragen, General. Ich habe früher schon darüber nachgedacht und finde einfach keine Lösung.« Santini ließ seinen Stift auf den Tisch fallen und verschränkte die Hände. »Angenommen dieser Vogel oder einer der anderen würde auf Dauer lahmgelegt werden oder einfach den Geist aufgeben. Welche Optionen hätten wir dann?« Santini ahnte die Antwort, hoffte aber, dass er sich irrte. »Keine sehr guten, jedenfalls nicht kurzfristig. Wir könnten von unseren anderen Satelliten welche verschieben, um das entsprechende Gebiet abzudecken. Aber das ist ein Nullsummenspiel. Wir reißen an einer Stelle ein Loch, um anderswo eines zu stopfen. Wie Sie wissen, sind wir im Lauf der Jahre allmählich blind und taub im Weltraum geworden. Wir versuchen, immer neue Gebiete mit immer weniger Systemen abzudecken. Wir müssen in puncto Beschaffung mehr tun.« 35
In der Tat, dachte Santini. Dasselbe haben sie vor zehn Jahren auch schon gesagt. Geändert hatte sich nichts seither. »Oder einfach mit weniger Erfassung leben. Die Risiken eingehen. Die Dunkelheit akzeptieren.« »Das fürchte ich auch, Mr. Secretary. Wir könnten ein U-2-Spionageflugzeug aus dem Mittleren Osten hinüberverlegen«, sagte Whittier und kritzelte ein paar Notizen in den Block, den er anscheinend ständig mit sich führte. »Allerdings sind wir auch mit denen ziemlich knapp.« Er machte sich noch eine Notiz und fuhr fort: »Wenn die Blackbirds noch da wären, könnten wir die in Notfällen zur taktischen Aufklärung einsetzen. Aber die haben wir so ziemlich ausgemustert.« »Erinnern Sie mich nicht daran. Der Kongress hat 1988 gegen meine Einwände dafür gestimmt, das Programm einzustellen. SR-71, das schnellste Spionageflugzeug, das je gebaut wurde. Schneller als eine Kugel. Die Rechnungsprüfer des Pentagon haben behauptet, die Betriebskosten seien zu hoch, Satelliten würden bessere Arbeit leisten und kämen billiger. Niemand hat darüber nachgedacht, was es gekostet hat, die heutigen Satelliten zu bauen, oder wie viele wir auf den Trägerraketen verloren haben, die beim Start explodiert sind.« »Ich kann Ihnen sagen, als ehemaligem Angehörigen der Luftwaffe hat es mir das Herz gebrochen, als die Blackbirds stillgelegt wurden«, sagte General Whittier. »Eine andere Frage noch«, drängte Santini, der gern von dem Thema wegkommen wollte, wie es ihm als Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses nicht gelungen war, die Blackbirds zu retten. »Könnten wir nicht in Notfällen vorübergehend ein paar von den kommerziellen Satelliten in Besitz nehmen?« »Sicher, das könnten wir. Das Problem ist, wir würden 36
nicht diese erstklassige Auflösung bekommen. Wenn es bewölkt ist, oder wenn wir nachts etwas sehen müssten, wären wir aufgeschmissen. Und da wäre noch ein Problem.« »Nämlich?« »Es würde uns höllisch schwer fallen, geheim zu halten, dass wir die kommerziellen Vögel und ihre Frequenzverteilung rekrutiert haben. Nicht lange, dann hätte es sich herumgesprochen, dass wir knapp bei Kasse sind und nicht auf dem neuesten Stand mit unseren Spionageaufnahmen. Dann würden sich alle, die ohnehin schon ein bisschen mogeln, noch mehr Freiheiten herausnehmen.« »Verdammt«, fluchte Santini. »Dann sollten wir wohl lieber beten, dass der Kongress das Geheimdienstbudget nächstes Jahr ganz freigibt und nicht wieder politisch berechnet.« »Ganz meiner Meinung. Wir stecken wirklich bis zum Hals in der Scheiße.« Ein leises Klopfen an der Tür störte die beiden Männer in ihrer pessimistischen Stimmung. Es war Margie. Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sie die Tür und verkündete fröhlich: »Die anderen sind hier, Mr. Secretary.« »Gut«, sagte Santini. »Schicken Sie die Herren nur herein zu unserer Totenwache.«
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3 MOSKAU Die Boeing 767 traf über Moskau ein, als die Stadt in einer verschneiten Morgendämmerung erwachte. Der Pilot, ein Amerikaner, war früher für eine der CIA gehörende Fluglinie in Venezuela geflogen. Er trug noch immer das großgliedrige Goldarmband, das er nie hatte einsetzen müssen, um sich freizukaufen. Der russische Kopilot war ein Veteran des Afghanistankrieges. Die beiden redeten nicht viel, und wenn doch, taten sie es in einem russischenglischen Idiom, und ihre Gespräche drehten sich darum, wofür sie das Geld ausgeben würden, das sie mit diesen Geldflügen verdienten. Ihr einziger Passagier in einem der wenigen Sitze im hinteren Teil des Flugzeugs war Arthur C. Cartwright, Vizedirektor der New York Amalgamated Bank. Um ihn herum standen, auf Schienen im Kabinenboden festgezurrt, Dutzende von weißen Leinensäcken voll frisch gedruckter, nicht gebrauchter 100-Dollar-Scheine, in Stapeln, deren Banderolen den Aufdruck der US-Notenbank New York City trugen. Cartwright rutschte in seinem Sitz vor und schaltete das Deckenlicht ein. Er atmete tief und versuchte zu meditieren, so wie er es vor langer Zeit von seiner ersten Frau in Kalifornien gelernt hatte, damals, als das Leben noch einfach war. Das war heute seine letzte Reise als Babysitter des Geldfliegers. Er musste sich an den normalen Ablauf halten, durfte nicht nervös werden. Aber er war nervös. Bei seiner Rückkehr nach New York würde ihn das FBI wieder in das sichere Haus in White Plains 38
bringen, wo er Bericht erstattete und die Bundesanwälte traf, die ihn für die Anklagejury vorbereiteten. Er würde der Kronzeuge sein, der Bankier, der alles erklären konnte. Cartwright löste seinen Sitzgurt und ging nach vorn, um mit einem der Piloten zu sprechen. Er musste mit jemandem reden, egal worüber. Aber als er gerade den Türgriff drehen wollte, fiel ihm ein, dass die Tür zweifellos mit einem Sicherheitsschloss versehen war und jeder Versuch, sie von der Passagierseite aus zu öffnen, in zwei Ländern einen Alarm auslösen würde. Er ging zurück an seinen Platz, holte einen Flachmann aus seiner kleinen, schwarzen Tasche, schraubte den Deckel ab und goss ihn voll. Erstklassiger Wodka hatte Wladimir Berzin gesagt, als er ihm die Flasche bei seiner letzten Reise überreichte. Ganz ausgezeichneter Wodka, einen Wodka für Freunde hatte er ihn genannt. Cartwright öffnete ein Päckchen Cracker mit Erdnussbutter und spülte sie mit einer weiteren Verschlusskappe Wodka hinunter. Er hatte den Umstand immer gehasst, dass er nie wusste, wann Berzin den Geldflieger bestellen würde. Erst der Anruf von irgendwoher: vom anderen Ende Long Islands? Moskau? Smolensk? Almaty? Laut FBI arbeitete die NSA daran. Dann raus aus dem Büro, in dem gepanzerten Auto zur Notenbank, der ganze Papierkram dort, noch mehr Papierkram auf dem Kennedy-Flughafen und rein ins Flugzeug. Da blieb gerade noch Zeit, sich einen Schokoriegel oder eine Packung Cracker zu schnappen. Das nächste Mal würde er Notfallrationen in der Tasche haben. Aber was fiel ihm ein – es würde kein nächstes Mal geben. Der US-Marshall hatte ihm routiniert das Zeugenschutzprogramm erklärt. Sobald die Abschlussbesprechung mit FBI und Bundesanwalt vorüber war, würde man ihn, Svetlana und den kleinen Victor in einem sicheren Haus unterbringen, weit weg von der russischen Mafiya in New 39
York. Beim Prozess würde er unter seinem richtigen Namen, seiner richtigen Identität aussagen. Mit dem Tag, an dem der Prozess endete, würde er dann zu Roger Shadduck werden. Er und Shirley Shadduck – Svetlana würde diesen Namen lieben – würden mit ihrem Sohn George in Greenville, South Carolina, leben, und der frisch geborene Mr. Shadduck würde Eigentümer einer Reinigungskette sein, die der US Marshall Service vom Bundesfinanzamt gekauft hatte. Mr. Shadduck würde das bankrotte Unternehmen ersteigert haben. Auf dem Papier war alles perfekt. Und Svetlana/Shirley? Er fragte sich, wie lange sie wohl bei ihm blieb und ob sie Victor/ George mitnahm, wenn sie ging. Mr. Shadduck würde keine Möglichkeit haben, ihr zu folgen oder auf Scheidung zu klagen. Das war im Programm nicht vorgesehen. Er trank eine letzte Kappe Wodka. Berzin hatte Recht. Er war wirklich sehr gut. Er spürte einen Ruck, als das Fahrwerk ausfuhr, zog den Stoffvorhang zurück und blickte nach unten, wo gerade die Lichter der Landebahn durch die verschneite Düsternis drangen. Wer glaubte, der April sei der grausamste Monat, kannte den März in Moskau nicht. Augenblicke später landete die Maschine auf einem ehemaligen Militärflughafen fünfzig Kilometer südwestlich von Moskau. Als die 767 aufsetzte, raste ein rotweißer, gepanzerter Lieferwagen auf die Rollbahn, gefolgt von zwei Mercedeslimousinen der S-Klasse. Das Flugzeug rollte zu dem Lkw, aus dem zwei Russen in schwarzen Lederjacken stiegen. Der Fahrer stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus und blieb im Fahrzeug. Die beiden Männer trugen je eine für den Nahkampf umgerüstete AK-47 der Spetsnaz. Cartwright öffnete die hintere Kabinentür. Er trug einen schwarzen Parka mit Kapuze. Einer der Russen auf dem 40
Boden richtete seine Waffe auf ihn, der andere drehte sich zu den Mercedeslimousinen um und legte auf das erste Fahrzeug an. Der Fahrer blendete die Scheinwerfer dreimal auf und ab, aber der Bewaffnete ließ das Gewehr nicht sinken. Die beiden Limousinen hielten mit ausgeschalteten Scheinwerfern rund zehn Meter vom Flugzeug entfernt. »Die Ware ist geliefert«, rief Cartwright in stockendem Russisch nach unten. Er achtete nicht auf das Gewehr, es gehörte zum Ablauf, und trat in den Schatten der Kabine zurück. Der Pilot drückte auf einen Knopf. Eine Leiter wurde ausgefahren und fiel klappernd auf die Rollbahn. Es war das einzige Geräusch in der Dunkelheit. In diesem Augenblick gingen bei beiden Limousinen Türen auf. Zwei Männer, gekleidet und bewaffnet wie die anderen Russen am Fuß der Treppe, tauchten aus dem zweiten Wagen auf und bewegten sich langsam auf die Gangway zu. Nachdem sie sich gegenüber von den Männer aus dem Lastwagen aufgestellt hatten, ließen alle vier die Gewehre sinken, behielten den Finger jedoch am Abzug und den Blick geradeaus gerichtet. Cartwrights Führungsagent beim FBI hatte ihm erklärt, dass es sich bei Berzins Schlägern größtenteils um ehemalige Angehörige der Spetsnaz, der russischen Spezialkräfte handelte. »Das sind ausgebildete Killer«, hatte der Agent gesagt. »Und sie sind erstklassig in ihrem Job.« Erstklassig. Wie der Wodka. Ein großer Mann mit einem schwarzen Vollbart stieg auf der Beifahrerseite des Wagens aus, der näher beim Flugzeug stand. Der Mann trug einen langen, schwarzen Mantel über einem grauen Businessanzug. Die rechte Hand hatte er in die Manteltasche geschoben. Er sprach in ein Mikrofon, das an seinem linken Handgelenk befestigt war. Während er sprach, rollte das zweite Auto lautlos vorwärts. Beide Limousinen flankierten nun den Lkw. 41
Gleichzeitig durchbohrten ihre Scheinwerfer die Dunkelheit und tauchten die vier Bewaffneten so ins Licht, dass die Männer aus dem Lieferwagen augenblicklich geblendet wurden. Sie wandten die Augen nicht ab. Der Mann mit dem Sender am Handgelenk schob drei Finger in eine Öffnung unter dem Griff der rechten, hinteren Mercedestür, entriegelte das verborgene Schloss und öffnete die Tür. Ein hoch gewachsener, schlanker Mann stieg aus dem Wagen. Er trug einen schwarzen Regenmantel über einem dunkelblauen, schwach gestreiften Anzug. Er musste frieren unter seinem perlgrauen Homburg, aber er sah aus, als existierte für ihn kein Schnee. Ein Pharisäer. Cartwright war selbst verblüfft über den biblischen Ausdruck, der ihm in den Sinn kam. Wohl ausgelöst durch die bevorstehende Sühne, dachte er, als er auf Wladimir Berzin hinabblickte. Ein Gangster in einem geschmacklosen, teuren Anzug. Aber Gangster oder nicht, Berzin war der beste Kunde, den die New York Amalgamated Bank je gehabt hatte, und Cartwright behielt seine Gedanken wie immer für sich. Bankiers, die Berzin in die Quere kamen, erlebten ihre Pensionszahlungen nicht mehr. Es sind seine Augen, diese schwarzen Augen, die nie blinzelten, dachte Cartwright. Er und Berzin hatten sich nie getroffen, außer auf diese Weise, der Bankier im Dunkel, der Russe, der aus dem Dunkel ins Scheinwerferlicht trat. Der übliche Ablauf. Es war immer so. Gangsterchoreografie. Heute gab es jedoch eine Überraschung. Ein zweiter Mann stieg aus dem Wagen, um Berzin zu folgen. Er war so groß wie Berzin und fast genauso schlank, hatte aber blondes, nach hinten geglättetes Haar. Er trug einen schwarzen Kaschmirmantel. Der blonde Mann sah sich verstohlen um, und Cartwright erkannte selbst auf diese Entfernung, dass er nervös war und die Sache hier schnell 42
hinter sich bringen wollte. Der Mann hielt sich zwei Schritte hinter dem rasch ausschreitenden Berzin, und Cartwright bekam ihn besser zu sehen. Der Bankier konnte sich Gesichter gut merken, aber dieses hier kannte er nicht. Er trat einen Schritt vor auf die Treppe, um ein paar Einzelheiten für seinen Bericht mitzubekommen. Der Mann war modisch gekleidet, offenbar ein Freund guter Kleidung. Berzin begann nun schnell zu sprechen – auf Deutsch. Noch eine Überraschung. Der Bankier, der mehrere Jahre in der Berliner Niederlassung der Amalagamated gearbeitet hatte, hörte zu und machte sich im Geist Notizen. Das FBI hatte ihn verdrahten wollen. Er hatte sich geweigert und ihnen erklärt, dass er damit keine fünf Minuten überleben würde. Keine fünf Minuten. »Ich bin sehr froh, dass du kommen konntest, Wolfgang«, sagte Berzin zu dem Mann neben ihm. Wolfgang Wagner antwortete nicht. Er konzentrierte sich darauf, nicht nervös zu wirken, die Unruhe zu unterdrücken, die ihn ergriffen hatte, weil er spürte, dass er an einem Ort war, an dem er nicht sein sollte. Und er fror. »Keiner meiner Geschäftspartner hat das hier je zu Gesicht bekommen«, fuhr Berzin fort, ohne sich um das Ausbleiben einer Antwort zu kümmern. »Das ist meine fliegende Bank. Ich nenne es den Geldflieger.« Er nickte dem Mann mit dem Vollbart zu. »Sag ihnen, sie können ausladen, Tago.« Tago bellte auf Russisch einen Befehl. Die Männer aus dem Lkw schlangen sich die Waffen über die Schulter und gingen die Gangway hinauf, um die Geldsäcke zu holen. Der Fahrer stieg aus. Er trug die Uniform eines Moskauer Sicherheitstransportdienstes. Der Griff einer 9-mm-Beretta 43
ragte aus einem Hüfthalfter. Er wählte die Kombination an der Hecktür, die sich zu einem gut beleuchteten Innenraum mit Regalwänden öffnete. Als er den Laderaum betrat, kam der erste Mann aus dem Flugzeug bereits zurück und lud einen weißen Leinensack von seiner Schulter auf den Stahlgitterboden des Lkw. »Entschuldige mich einen Augenblick, Wolfgang«, sagte Berzin und machte Tago ein Zeichen, vor ihm die Gangway hinaufzugehen. Cartwright versuchte, einen besseren Blick auf den Mann namens Tago zu erhalten. Aber dessen Gesicht blieb im Dunkeln und war von seinem Vollbart verdeckt. »So sehen wir uns also wieder«, sagte Berzin in einem Englisch mit starkem Akzent zu Cartwright, streckte die Hand aus und verbeugte sich leicht. Er nickte Tago zu. »Bitte führe Herrn Cartwright zum Wagen«, sagte er auf Russisch. Dann sah er über die Schulter und fügte auf Deutsch an: »Warte einfach hier, Wolfgang. Wir brauchen nicht lange.« »Aber ich … Ich verlasse auf keinen Fall das …«, stammelte Cartwright. Tago, der den Bankier weit überragte, trat hinter ihn, presste ihm die Arme an die Seite und bugsierte ihn die Treppe hinab. Unten warf Cartwright dem Mann namens Wolfgang einen verängstigten Blick zu und setzte zu sprechen an. Tago brachte ihn zum Verstummen, indem er ihm den linken Arm um den Hals schlang, und schob ihn dann weiter zu einer der Limousinen. Die beiden Männer, die in diesem Wagen gekommen waren, warteten auf Berzin und fielen links und rechts von ihm in Gleichschritt; zu dritt folgten sie Cartwright und Tago. Trotz Berzins Aufforderung zu warten, schloss sich Wagner ihnen an. Die beiden Männer hielten Cartwright fest, während Tago ihm den Parka vom Körper riss. Dann entwand er 44
ihm den schwarzen Diplomatenkoffer und gab ihn Berzin. »Was tun Sie da?«, stammelte Cartwright. »Wieso …?« Tago riss Cartwrights weißes Hemd auf und tastete ihn unsanft ab. »Nicht verdrahtet«, sagte er auf Russisch. »Dann stimmt es also«, sagte Berzin. »Sie haben sich geweigert, sich vom FBI verdrahten zu lassen. Sehr vernünftig.« »Ich … Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Ich bin mir sicher, das wissen Sie ganz genau, Mr. Cartwright«, sagte Berzin. »Mach den Kofferraum auf«, befahl er auf Russisch. Der Mann schloss auf, und der Deckel schwang nach oben. Der Kofferraum war mit schwarzem Plastik ausgelegt. Tago langte hinein und holte ein ordentlich gefaltetes, weißes Handtuch hervor. Aus den Augenwinkeln sah Berzin, wie Wagner auf den Kofferraum des Mercedes starrte. Er machte Tago ein Zeichen, Cartwright weiter nach vorn zu schleifen, wo das Scheinwerferlicht durch die Dunkelheit drang. Tago drückte Cartwright auf die Knie und fasste ihn am Kinn, um die Kehle zu entblößen. Der Amerikaner versuchte, einen Schrei auszustoßen, aber es kam nur eine Art Miauen heraus. Berzin griff mit einer einzigen, raschen Bewegung hinter seinem Rücken unter den Mantel, zog ein Messer aus einer Scheide und drückte die gezackte Schneide gegen Cartwrights Haut. Das Messer, dachte Wagner, den Blick starr auf die funkelnde Klinge gerichtet. Das Mädchen in Berlin. Seine Gedanken jagten zurück zu einem finsteren Augenblick wie diesem, als sein Freund Wladimir einer Prostituierten, die vor ihm kniete, das Messer an die Kehle gehalten hatte. Betrunken und wütend über ihre Forderung nach ein paar Mark extra, hatte er ihre eine Markierung entlang des Kiefers geritzt, eine ungleichmäßige rote Linie, die ihre 45
Schönheit entstellte. Ihre Preise würden für zukünftige Kunden nicht mehr so hoch sein. Diesmal aber schnitt Wladimirs Messer tiefer und durchtrennte eine Arterie. Cartwrights Blut schoss in einem Strahl heraus und ergoss sich in hohem Bogen auf die Rollbahn. Der Mann fiel nach vorn in eine sich ausbreitende Lache. Tago und ein weiterer Mann hoben den Körper in den Kofferraum, wobei sie darauf achteten, ihn so zu platzieren, dass das Blut in die Falten der schwarzen Plastikfolie floss. Dann wischte Tago einen Großteil des Blutes mit dem Handtuch auf, warf es in den Kofferraum und begann, den Leichnam fest in die Folie zu wickeln. Die Plötzlichkeit von Berzins Tat erschreckte Wagner, aber er wusste, dass sein Freund zu solcher Gewalttätigkeit fähig war. Diesmal lag die Sache allerdings anders. Nun war er Zeuge eines Mordes geworden, und ihm war nicht wohl dabei. Es machte ihn zum Komplizen. »Nun, mein Freund, du bist wohl nicht einverstanden?« Es war im Grunde keine Frage. »Musste das sein? Dass du mich in diese … diese Sauerei mit hineinziehst?« »Ach, Wolfgang, da kommt wieder deine empfindsame deutsche Seele zum Vorschein.« Berzin lachte über den Einfall. »Der Mann war ein Verräter. Er musste sterben. Er hat mit dem FBI zusammengearbeitet.« »Aber warum ziehst du mich mit hinein?« »Du kommst auf Dauer nicht darum herum, dir die Hände schmutzig zu machen. Du meinst, du kannst einfach das Geld nehmen und dich wieder aus dem Staub machen? Den ganzen Profit, aber kein Risiko? Bisher warst du nur ein beschränkter Teilhaber, Wolfgang. Jetzt bist du ein vollwertiger.« 46
Wagner zuckte mit den Achseln, unglücklich darüber, sich plötzlich in dieser misslichen Lage wiederzufinden. Er achtete jedoch darauf, sein Bedauern nicht allzu offen zu zeigen. Berzin konnte sich jederzeit auch gegen ihn wenden. Der Russe legte seinen muskulösen Arm um Wagners Schultern und führte ihn zum Mercedes. »Komm, Partner, fahren wir zu unserer Geschäftsbesprechung.« Tago und die anderen Männer stiegen in den zweiten Wagen. Die Türen schlugen zu, und das Auto brauste davon. Es passierte ein offenes Tor und schlug draußen auf der Straße die Richtung ein, die von Moskau wegführte. Berzin, der in einer Hand Cartwrights schwarzen Diplomatenkoffer trug, zog Wagner in Richtung der Männer, die noch immer die weißen Leinensäcke ausluden. »Also, Wolfgang, ich fahre mit meiner Tour fort. Das Flugzeug verließ New York …« »Aber Wladimir – dieser Mann«, unterbrach Wagner. »Worum ging es bei der Sache?« Berzin drehte sich um und sah Wolfgang Wagner geradewegs in die Augen. Sein Gesicht war hart und gefühllos wie ein Totenschädel. »Wir sind nicht in deinem geliebten Berlin mit all euren netten Aristokraten. Das hier ist Russland. Wir erfinden unsere Regeln laufend neu.« Inzwischen waren alle Leinensäcke ordentlich in dem gepanzerten Fahrzeug verstaut. Die Männer bestiegen den Lkw und fuhren auf das offene Tor zu. Plötzlich rollte das Tor in seiner Schiene entlang und fiel ins Schloss. Davor sprang eine schwarzgelbe, mit Dornen gespickte Stahlsperre aus dem Boden. Aus dem Torwächterhäuschen trat ein älterer Mann in Jeans und einem Rock der Roten Armee samt Abzeichen und richtete eine Pistole auf den Fahrer. Der Fahrer verzog das Gesicht und fluchte, dann gab er dem Wächter einen Hundertdollarschein. 47
Berzin, der die Transaktion aus seiner Limousine heraus beobachtet hatte, lachte und drehte sich zu Wagner um. »Siehst du, Wolfgang. Alle müssen ihre Abgaben zahlen.«
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4 PEKING Es war nicht ungewöhnlich, dass der General an einem Sonntagmorgen in seinem Büro arbeitete. Seine Verpflichtungen erforderten große Hingabe. Ihm oblag es, alle Einzelheiten zu regeln, die mit der Leitung der gewaltigen Bürokratie einhergingen. Aber Arbeit war keine Last für ihn. Eher war sie eine Art Aphrodisiakum, ein Stimulans, das ihn dazu trieb, Tag und Nacht die verschiedenen Teile seines Plans zu einem Schild zusammenzufügen, das sein Land vor den Fallstricken und Verrätereien anderer bewahren würde. Er blickte durch die staubigen Lamellen der Jalousie vor seinem Bürofenster nach draußen. Sie waren fleckig vor Alter. Die Jalousie hätte längst ausgewechselt werden müssen, aber das hielt er für Verschwendungssucht, für eine unnötige Ausgabe. Sein hoher Rang hätte ihn zu einem wesentlich größeren Büro mit prächtigerer Ausstattung berechtigt, aber er verachtete jede Form von Luxus. Das hieß jedoch nicht, dass er über jeden Tadel erhaben und für Korruption unzugänglich gewesen wäre. Tatsächlich frönte er einer kreativen Finanzbuchhaltung, unterhielt geheime Schweizer Bankkonten und transferierte beträchtliche Geldsummen an fremde Staatsangehörige. Doch es war ihm bei diesen gesetzwidrigen Aktivitäten nie um persönliche Bereicherung gegangen. Er hatte stets im Dienst an seinem Land gehandelt. Der Himmel draußen war grau, und nach der Art zu 49
urteilen, wie die Leute ihre Pelzmützen und weiten Mäntel an sich drückten und den Kopf zum Schutz vor dem Wind einzogen, war ein Sturm im Anmarsch. Er griff zu einem Wandbrett hinter seinem Schreibtisch, hob ein Buch mit vielen Einmerkungen und Unterstreichungen auf und wiederholte im Stillen die Worte, die er darin fand: Komm wie der Wind, schlag zu wie der Falke, und zieh weiter wie ein Geist im Sternenlicht. Uralte Worte; zeitlose Weisheit. Einmal hatte er bereits zugeschlagen, nicht aus der Luft, sondern auf Katzenpfoten. Der Gedanke ließ ihn selbstgefällig grinsen. Es gab zu viele arrogante Führer in Amerika, die vorschnelle, provokante Versprechungen machten. Dank ihm gab es nun einen weniger. Aber es blieb noch viel zu tun, wenn er die hochfliegenden Pläne jener zerschlagen wollte, die sich in missionarischem Eifer aufbliesen und so darauf versessen waren, einen weltweiten moralischen Kreuzzug zu führen. Im Irak stand es für sie und ihre britischen Freunde nicht zum Besten. Nachdem sie den Sieg erklärt hatten, waren sie gezwungen gewesen, sich aus Angst vor der nächsten Welle von Selbstmordattentätern hinter Betonbarrikaden zu verstecken, und schließlich hatten sie die Vereinten Nationen um Hilfe bitten müssen. Aber die Welt hatte sich gegen sie gewandt. Was Amerika zerstört, das muss Amerika auf seine Kosten reparieren, hatte man den Imperialisten zur Antwort gegeben. Ja, viel war noch zu tun, und er war bereit dazu. Ein lautes Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner kurzen Träumerei. »Herein.« Ein junger Offizier, den man ihm als Adjutant zugeteilt hatte, öffnete die Tür. Er salutierte und stand stramm, ehe 50
sein Vorgesetzter ihm bedeutete, in einem ausgebleichten Rohrsessel vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. »General, ich habe eine Nachricht, die am Morgen hereinkam. Sie musste erst übersetzt und transkribiert werden.« »Und wer hat diesen Dienst geleistet, Oberst?«, fragte er, und in seiner Stimme lag mehr als reine Neugier. »Ich selbst, General. Ich bin mir der Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung sehr wohl bewusst. Das Einzige, was schriftlich existiert, sind die Notizen hier in meiner Hand.« Der Offizier hielt ein einzelnes, liniertes Blatt Papier in die Höhe. »Sonst wurde nichts aufgeschrieben.« »Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Bitte fahren Sie fort.« »Ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet, General. Es scheint sich um eine Art Code zu handeln. Der Text lautet: ›Der Kuchen wird bald geliefert werden, mein Freund. Alles ist im Zeitplan. Die Bäcker überprüfen, ob sie auch wirklich die besten Zutaten haben. Sie sind sehr stolz darauf, ein Qualitätsprodukt herzustellen. Mach dir keine Sorgen. Es gibt keine Verzögerung. Die Ladung wird genau wie versprochen eintreffen.‹« »Danke, Oberst, gut gemacht«, sagte der General und streckte die Hand aus, um das Blatt Papier in Empfang zu nehmen. »Das ist eine wichtige Nachricht«, fuhr er fort, während er seinen Adjutanten zur Tür begleitete. »Höchst geheim. Im Interesse der nationalen Sicherheit darf außer uns beiden niemand davon erfahren.« »Jawohl, General, ich verstehe.« Der General hakte sich am Arm seines Adjutanten ein, und fügte irgendwie drohend hinzu: »Jede Verletzung der Sicherheit könnte zu sehr ernsthaften Konsequenzen führen.« Er spürte, wie sich der Arm des Offiziers anspannte. Er war sicher, der Mann hatte verstanden. Als er zu dem 51
Fenster zurückkehrte, das auf den gepflasterten Platz hinausging, sah er, dass es angefangen hatte zu schneien. Alles entwickelte sich wie geplant. Er hoffte, sein russischer Freund hatte seine Hausaufgaben gemacht und die richtigen Leute für den Auftrag gefunden.
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5 HOLLOMAN, NEW MEXICO Besucher New Mexicos behaupteten oft, dass das endlos weite, von der Sonne überflutete Land trostlos wirke. Aber sie kannten New Mexico nicht so, wie Hal Prentice es kannte. Er wusste, seine Heimat war voller Leben, voller Gefahr, voller Geheimnisse. »Es ist wirklich das Land der Verzauberung«, erklärte er Touristen, die zum ersten Mal hier waren. »Genau wie es auf unseren Nummernschildern steht.« Sein ganzes Leben lang hatte Prentice die Wüsten, das Buschland und die Berge New Mexicos durchstreift. Als junger Mann war er auf der Jornado del Muerte, der Todesroute, wie die Spanier den trockenen, vor Schlangen wimmelnden Pfad nannten, in die Berge gewandert. Er hatte die Wüste nordwestlich von Alamogordo durchquert und in die Grube geblickt, die 1945 von der ersten Detonation einer Atombombe gerissen worden war. Die Testwaffe war in der morgendlichen Wüstendämmerung explodiert, hatte den Krater erzeugt und den Sand zu merkwürdigen, grünen Glasklumpen geschmolzen. Prentice bewahrte ein Stück von diesem Glas bei sich zu Hause auf. Prentice hatte die alten Pueblos erkundet, in denen lange vor der Ankunft der Spanier Indianer gelebt hatten. Viele Nächte hatte er in Pueblos geschlafen, die an Orten standen, an denen schon vor mehr als zwanzigtausend Jahren Menschen lebten. Manche Historiker behaupteten, dieses längst verschwundene Volk seien die Uramerikaner gewesen, die ältesten Eingeborenenstämme, die man in 53
ganz Nordamerika fand. Das gefiel Hal Prentice. Ihm gefiel die Vorstellung, dort zu leben, wo Amerika seinen Anfang hatte. Er stellte sich dieses Urvolk als Leute seiner eigenen Art vor: als Weiße. Die Urbevölkerung müssen Weiße gewesen sein, dachte er auch heute, als er seinen Pick-up unter ein paar gedrungenen Pinien an einer Staubstraße abstellte, die auf keiner Karte verzeichnet war. Er nahm seine M-16-Flinte von der Halterung hinter dem Sitz, schlang sich einen kleinen Rucksack auf den Rücken und marschierte einen Pfad in die Vorhügel der Sacramento Mountains hinauf. Nach einigen Minuten, als der Weg steil anstieg und im Zickzack verlief, begann er zu keuchen. Alle paar Meter musste er stehen bleiben, wieder zu Atem kommen und sich den Schweiß von der Stirn wischen. Er war fett und untersetzt, längst nicht mehr der schlanke junge Mann, der diesen Weg vor Jahren mit einem dreizehn Pfund schweren Rucksack auf dem Rücken hinaufgestiegen war. Jetzt trug er stattdessen einen dreizehn Pfund schweren Bierbauch vor sich her. Er hatte einen schwarzen Stetson mit Klapperschlangenband auf dem Kopf, und seine Tarnuniform sah aus, als tarnte sie eine riesige Birne. Der schwarze Bart, der Kinn und Wangen bedeckte, war grau durchsetzt. Die Füße taten ihm weh, und er wünschte, er hätte seine Slipper an statt dieser schwarzen Stiefel im Militärstil. Aber er ging weiter, denn er war der Kommandeur der Skorpion-Miliz, und er war in einer Mission unterwegs. Der Fußweg stieg zu einem geschlossenen Canon an, fädelte sich durch einen engen Spalt und verlor sich dann auf dem Grund des Tals. Rauch stieg aus dem Kamin eines niedrigen Gebäudes, rund vierhundert Meter voraus. Als Prentice etwa hundertfünfzig Meter gegangen war, rief eine männliche Stimme: 54
»Keine Bewegung.« Prentice blieb stehen und schaute nach oben. Die Wände der Schlucht waren rund fünfundzwanzig Meter hoch. Er blickte nach links, woher die Stimme gekommen war, und sah hinter Felsenbrocken auf halber Höhe ein Gewehr aufblitzen. »Deine gottverdammte Waffe strahlt wie ein Scheinwerfer, Frank«, rief Prentice in die Wand hinauf. Seine dröhnende Stimme hallte durch den Canon. Ein Mann mit Cowboyhut und Tarnanzug trat hinter einem Steinhaufen hervor und spähte kurz durch ein Fernglas zu Prentice hinab. »Dachte mir schon, dass Sie es sind, Colonel«, sagte der Mann und winkte. »Musste mich nur vergewissern.« Prentice antwortete nicht. Er ging weiter und hielt am Tor eines hohen Maschendrahtzaunes, der oben mit Stacheldraht abschloss. Der Zaun verlief über die gesamte Länge des Canons und verschwand dann zwischen Felsen. Ein dickbäuchiger Mann, der wie Prentice gekleidet war und ein Gewehr mit Zielfernrohr trug, kam ans Tor. »Das Passwort, Colonel?«, fragte er. Prentice stutzte kurz und konnte sich nicht auf Anhieb an das Wort erinnern. »Freiheit«, sagte er schließlich. Der Wächter nickte und öffnete das Tor. Ein mit weiß getünchten Steinen ausgelegter Weg führte zu einer alten Ranch, die dringend einer Reparatur bedurfte. Eine amerikanische Flagge, zum Zeichen der Not auf dem Kopf stehend, war an die Wand neben der Eingangstür genagelt. Hinter dem Haus war eine Scheune. Pappeln, deren Blätter hellgrün leuchteten, wuchsen an einem Bach, der durch eine Spalte im Canon sickerte. Unter den Bäumen duckten sich die kleinen Hütten, die Prentice als die »Freiheitsakademie« bezeichnete, ein Internat für die Kinder der Skorpion-Mitglieder. Eine Frau und mehrere 55
Kinder hatten sich vor einer der Hütten versammelt. Die Frau blickte auf, als sich Prentice näherte, und winkte ihm zu. Er zögerte einen Moment und ging dann zu ihr hinüber. »Hallo, Martha«, sagte er. »Wie geht’s mit dem Unterricht voran?« »Ausgezeichnet, Colonel«, erwiderte die Frau. Sie zeigte auf einen Jungen von etwa sieben Jahren. »Sam, sag dem Colonel, wo du lebst.« Sam stand auf, sah Prentice unverwandt an und sagte: »Ich lebe in der Unabhängigen Republik des WAHREN Amerika.« »Und lebst du denn in den Vereinigten Staaten von Amerika, Sam?« »Negativ!«, sagte Sam. »Ich lebe im Wahren Amerika!« »Und was wirst du tun, wenn du sechzehn bist?« »Ich werde mich in die Skorpion-Miliz einschreiben«, antwortete Sam, »genau wie mein Vater und Onkel Fred.« »Und was wirst du in der Miliz machen?« Der Junge hob die Arme und tat, als hielte er ein Gewehr. »Ich erschieße jeden, der versucht, mein Land zu stehlen. Und ich werde das Wahre Amerika größer machen.« Er ließ die Arme sinken, blickte sich um und fügte an: »Größer als das, was wir hier haben.« Prentice nickte der Frau und den anderen Kindern zu. »Ihr lernt sehr gut, Kinder. Wenn du nichts dagegen hast, Martha, würde ich jetzt gern ein paar Worte an sie richten.« Sie nickte, aber Prentice hatte sie gar nicht angesehen und kaum innegehalten. »Ich habe nachgedacht auf dem Weg hierher. Darüber, wer die Urmenschen waren. Die Wissenschaftler sagen ja, dass die Urmenschen vor langer, langer Zeit hier gelebt haben, vor Tausenden von fahren. 56
Und wisst ihr was? Diese Urmenschen, das waren keine Indianer, wie die im Mescalero-Reservat« – er deutete in die ungefähre Richtung des Reservats. »Auf keinen Fall waren das Indianer. Ihr müsst nur die Bibel lesen. Adam und Eva, das waren die Urmenschen. Und sie waren weiß, nach Gottes Ebenbild. Mit ihnen fing alles an. Und sie waren dazu bestimmt, über die Erde zu herrschen. Genau das werdet ihr tun. Und der Kampf beginnt hier!« Prentice zögerte, als wollte er fortfahren, überlegte es sich dann aber anders und kehrte auf den Weg zur Ranch zurück. Als er die ausgetretenen Stufen hinaufstieg, salutierte ein Mann, der am Eingang stand, und hielt ihm die Tür auf. Prentice betrat einen Flur, der zu einer Küche und weiter zu einem Schlafraum führte. Links und rechts des Flurs öffneten sich geräumige Zimmer. Prentice ging in das Zimmer auf der rechten Seite. Zwei Männer saßen an einem langen Tisch und stopften Flugblätter in Kuverts. Er unterhielt sich kurz mit ihnen, dann wandte er sich der linken Tür zu. Sie war verschlossen, er klopfte und sagte: »Colonel Prentice«. Drinnen glitt ein Riegel zurück, und die Tür ging auf. Im Eingang stand ein großer, schlanker Mann in Jeans und einem blauen Arbeitshemd mit aufgerollten Ärmeln. Aus dem Bund der Jeans ragte eine 45er Armeepistole. »Tag, Hal«, sagte der Mann. »Alles klar?« »Grüß dich, Charles«, erwiderte Prentice und runzelte die Stirn, weil Charles es versäumt hatte, ihn als »Colonel« anzusprechen. »Ja, alles in Ordnung«, sagte er knapp. »Kennen wir den Zeitpunkt?« Charles lächelte. Er war ein gut aussehender Mann, glatt 57
rasiert, mit militärisch kurzem, blondem Haar. Er wies mit einer leichten Kopfbewegung zu einer Ecke des Raums, wo ein Junge im Teenageralter auf einem Klappstuhl saß und konzentriert an einem Notebook arbeitete, das vor ihm auf dem Tisch stand. Ein Kabel verband den Computer mit einem tragbaren Nadeldrucker am Tischende. Ein zweites Kabel schlängelte sich über den Boden und verschwand durch ein halb offenes Fenster ins Freie. Durch die staubbedeckten Scheiben war eine Satellitenschüssel von der Größe einer Pizzapfanne zu sehen. Tatsächlich war sie einmal eine Pizzapfanne gewesen. Prentice folgte Charles zu dem Jungen, der die beiden nicht zu bemerken schien. »Zeig Hal, was du hast, Bobby«, sagte Charles. Er berührte den Jungen im Nacken und fuhr ihm mit der Hand über das lange, sonnengebleichte Haar. Bobby drehte sich um und sah die beiden Männer teilnahmslos an. Prentice langte über den Jungen hinweg und drückte zwei Tasten, mit denen er den einzigen Computerbefehl ausführte, den er kannte. Auf dem Bildschirm erschien die Homepage der Scorpions, mit der Kopfzeile The Scorpion Militia in Fettbuchstaben. Prentice hatte die Seite besser gefallen, als sie zusammengestellt wurde. Da war sie ganz schlicht gewesen. Nichts hatte sich bewegt. Keine Farben. Aber Bobby sagte, das sei Fortschritt und würde jugendliche Rekruten bringen. Das Einzige, was Prentice gefiel, war Old Glory, die amerikanische Flagge, die richtig wehte, als würde der Wind in sie blasen, und sie wehte über den Worten Gott segne Amerika. Und am unteren Ende der Seite liefen die Worte, die von Anfang an da gewesen waren, Worte, die Prentice vor langer Zeit geschrieben hatte: Nimm tapferen Männern ihren Hass, und du hast 58
Männer ohne Glauben. »Ich habe noch ein paar Ideen für die Homepage, Mis… , Colonel Prentice«, sagte Bobby. Prentice öffnete seinen Rucksack und legte zwei Powerpack-Computerbatterien auf den Tisch. »Jetzt vergiss erst mal deine Spielereien mit der Homepage, junger Mann. Wir müssen mit unserer Arbeit weiterkommen. Tu, was Charles sagt, und zeig mir, was du hast.« Der Junge drehte sich wieder zu dem Gerät um und drückte ein paar Tasten. Auf dem Schirm tauchten in rascher Folge Bilder auf. »Es ist ganz schön schwierig, wenn man nur mit Batterien arbeiten muss, Colonel. Nichts, wo man das Ladegerät einstecken kann, kein Strom, außer dem alten Generator, den Sie zusammengebaut haben, und ins Internet muss ich über eine Pizzapfanne als Satellitenverbindung gehen, mit dem Zeug, das Charles mir gegeben hat – ah, da ist es ja.« Auf dem Monitor erschienen Worte in weißer Schrift vor einem himmelblauen Hintergrund: U.S. Air Force Base, Holloman, New Mexico WARNUNG Dies ist eine geschützte Verbindung in einem vertraulichen Computerkommunikationsnetzwerk der US-Regierung. Sie gehört nicht zum Internet! Wenn Sie versehentlich hier gelandet sind, TRENNEN SIE SOFORT DIE VERBINDUNG!!! Wenn Sie kein autorisierter Nutzer sind und über diesen Punkt hinausgehen, machen Sie sich strafbar. Dieses Netzwerk enthält vertrauliche Informationen. Diese Informationen berühren die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten im Sinne der Spionagegesetze, Strafgesetzbuch Abschnitt 18, 59
Paragraphen 793, 794 und 798. Das Gesetz verbietet ihre Übermittlung oder jegliche Preisgabe ihres Inhalts an nichtautorisierte Personen. Billy blätterte weiter zu einem Menü, das mehrere Wahlmöglichkeiten bot. Er wählte »Wartungsplan«, öffnete dieses Unterverzeichnis und fand DIENSTPLAN. Er durchsuchte den Dienstplan nach einem Sergeant William Johnson und fand den Namen sowie Johnsons Identifizierungsnummer. Nun ging er zu einer Datei, die mit »Personal« beschriftet war und öffnete mit Hilfe von Johnsons Identifizierungsnummer die Personalakte des Sergeant inklusive Foto. »Sie haben Recht, Sir«, sagte Bobby. »Er sieht wirklich aus wie Sie.« »Wichtiger ist, dass er so denkt wie wir«, sagte Charles und legte Bobby einen Arm um die Schulter. »Er hat sich bereit erklärt, uns zu helfen. Jetzt geh zurück zum Wartungsplan. Sieh nach, ob die deutschen Tornados am 10. März zur Wartung eingeteilt sind.« Bobby tippte in die Tastatur und förderte ein Bild zutage, das wie ein großer Kalender aussah, dann klickte er das Kästchen an, das mit 10. März überschrieben war. Die Information in diesem Kästchen breitete sich über den Bildschirm aus. »Jawohl«, sagte Bobby. »Die Tornados sind an diesem Tag zur ›Routinewartung‹ dran«. »Geh jetzt zum nächsten Tag«, befahl Prentice in scharfem Tonfall. Er mochte es nicht, von irgendwem oder irgendetwas abhängig zu sein, schon gar nicht von einem halbwüchsigen Jungen. Der 11. März war mit Flugschau überschrieben. Wartungspause außer für Flugformation. 60
Prentice und Charles tauschten Blicke. Prentice lächelte, Charles wandte den Blick ab und starrte auf den Bildschirm. Die restliche Zeit seines Aufenthalts nutzte Prentice größtenteils, um sich mit kleinen Gruppen von Männern unter den Pappeln zu unterhalten. Er hatte die vage Vorstellung, dass das FBI irgendwie die Miliz unterwanderte. Er konnte nichts beweisen, aber er hatte sich in der Vorwoche mit einigen anderen Milizenführern in einem Motel in Phoenix getroffen und mit Erstaunen vernommen, dass manche von ihnen tatsächlich mit FBIAgenten gesprochen hatten. Anscheinend versuchte das FBI, die »friedlichen« Milizen von denen zu trennen, in deren Reihen es Terroristen gab. »Alles Bockmist! Das FBI will uns zerschlagen. Wie den Klan«, sagte Prentice unter den Pappeln. Er zeigte das selbstsichere, aufgeblasene Gehabe wie immer. Etwas nagte zwar an ihm, aber er ließ sich nichts anmerken. »Terroristen? Wir sind Patrioten. Und wehe ihr vergesst es!« Im Haus sah Charles noch eine Weile zu, wie Bobby Informationen aus dem Internet holte. Dann ging er zu einem kleinen, schrankartigen Verschlag in einer Ecke des großen Raums, schloss die Tür hinter sich ab und schaltete das Licht über einer Werkbank ein. Die von einem Generator versorgte Lampe flackerte, während er die Teile auf den Schalttafeln zusammenzubauen begann – AABatterien, ein kleines, schwarzes Kästchen und Spulen eines kittartigen Kunststoffs. Gegen Ende des Tages marschierte Prentice in Richtung des Pfades, der aus dem Canon führte. Charles kam, ein kaputtes Bein nachziehend, hinter ihm her und rief ihm zu, 61
stehen zu bleiben. »Ich will unten am Truck sein, solange ich noch ein bisschen Licht habe«, sagte Prentice gereizt. »Was ist los?« »Nichts ist los«, sagte Charles ruhig. »Bobby hat nur gerade ein Foto heruntergeladen und ausgedruckt, und ich dachte, du würdest es gern sehen. Falls du noch irgendwelche Zweifel darüber hast, was in Holloman vor sich geht.« Er gab Prentice den Ausdruck, das Bild einer amerikanischen und einer deutschen Flagge, die nebeneinander an Masten wehten. »Das ist für die Titelseite des Programms, das sie bei der Flugschau verteilen.« Die deutsche Fahne flatterte rund einen Meter oberhalb der amerikanischen. »Wessen Land ist das eigentlich, verdammt noch mal?«, sagte Prentice, zerknüllte das Foto und warf es auf den Boden. »Ver-dammt, ver-dammt, ver-dammt«, stieß er hervor, als würde er einen Schwur intonieren. »Nur Geduld, mein Freund, nur Geduld«, sagte Charles.
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6 MOSKAU Als Berzins Mercedes vor einem Lagerhaus am Rande des Flugplatzes hielt, trat Tago, der kurz zuvor eingetroffen war, an den Wagen und öffnete die rechte, hintere Tür. Berzin stieg aus, gefolgt von Wagner. Sie hatten auf der Fahrt von Moskau zum Flugplatz kaum gesprochen. Nun konnte Wagner nicht aufhören, ständig zum Kofferraum zu blicken. Immer wieder blitzte Cartwrights Gesicht in seiner Erinnerung auf. Berzin bemerkte den Blick, sah Wagner an und zuckte die Achseln. Tago sperrte das Vorhängeschloss an einer Seitentür auf, schaltete das Licht an und machte Platz, damit Berzin und Wagner eintreten konnten. Im flackernden Schein der Lampenbatterien an der Decke sah man an drei Wänden ordentlich in Regale gestapelte Kisten stehen. Wagner konnte einige der mittels Schablone aufgemalten Etiketten entziffern: Panasonic TV, JVC Video Cassette Player, Sony X512 Video Cassette, Godfather DVD Collection, Samsung DVD Player. »Das ist Tagos Nebengeschäft«, sagte Berzin auf Deutsch und wies auf die Regale. »Schmuggel und Diebstahl in kleinerem Rahmen. Es hält ihn bei Laune, weil es ihm seine Frauen finanziert. Ich überlasse ihm die Gewinne, solange er nicht gierig wird.« Berzin stieg vor Wagner eine metallene Wendeltreppe hinauf, die auf eine in die Trägerkonstruktion des Lagerhauses gebaute Plattform führte. Von dort gingen sie 63
über einen Laufrost. Drei Strahler, durch einen Bewegungsmelder ausgelöst, leuchteten auf sie hinab. Wagner spürte, dass mindestens ein Wächter im Dunkel hinter den Scheinwerfern stand. Am Ende des Laufrosts befand sich eine Tür. Berzin öffnete sie mit einem Schlüssel, den er an einer Goldkette vor seiner Weste trug. Wagner trat in eines der größten Zimmer, die er je gesehen hatte, eine riesige, helle Schachtel von mindestens zehn Metern Seitenlänge. Das Licht machte ihn im ersten Moment benommen. Überall schien Licht zu sein. Es war in die Decke eingelassen wie eine flach gedrückte Sonne, ergoss sich von Halterungen an den Wänden, beleuchtete die wenigen Einrichtungsgegenstände in dem gewaltigen Raum: einen schwarzen Metalltisch mit einem funkelnden Schachspiel aus Edelstahl darauf und zwei Sessel aus Chrom und Leder mit hohen Rückenlehnen; ein schwarzes Ledersofa, einen langen Glastisch, flankiert von weiteren Chrom-Leder-Sesseln. Exakt in der Mitte des Tisches stand, von einem eigenen Spot angestrahlt, eine hohe, schwarze Vase mit sechs weißen Lilien. An der Wand vor dem Sofa gab es eine Reihe Bildschirme, jeder mit einem anderen Bild ohne Ton: ein Kommentator mit grimmigem Gesicht auf CNN, das Bolschoi-Ballett auf Moskau Eins, zwei nackte Frauen und ein Mann mit einer Peitsche, ein amerikanischer Western in Schwarzweiß. Und aus verborgenen Lautsprechern ertönte raumfüllend der Klang des Moskauer Symphonieorchesters mit einem Stück, das Wagner als Tschaikowskys Fantasie über Romeo und Julia erkannte. Berzin dirigierte Wagner zu dem schwarzen Metalltisch. Die beiden Männer nahmen einander gegenüber Platz. Berzin drückte auf einen Knopf an der Wand. Eine weiße Kuppel senkte sich von der hohen Decke und stoppte wenige Zentimeter über den Köpfen der beiden. Sie waren, bis auf ein leises Summen, das aus der Kuppel 64
drang, von Stille umschlossen. »Stammt von denselben Ingenieuren, die diese Dinger für die CIA gebaut haben«, sagte Berzin. »Hier können wir so ungestört reden, wie es nur an wenigen Orten auf diesem lärmenden Planeten möglich ist.« Er schlüpfte aus der Stillekuppel, öffnete einen in die Wand eingebauten Schrank und schwenkte ein Fach heraus. Darauf stand ein silbernes Tablett mit einer offenen Flasche gekühltem Wein, zwei Gläsern und einem silbernen Behälter mit Kaviar, dazu Schwarzbrotscheiben und Zitronenviertel. Er tauchte wieder in die Kuppel, stellte das Tablett ab und schenkte Wein ein. »Dieser Raum enthält mehr, als man auf den ersten Blick sieht«, sagte Wagner. Berzin warf den Kopf zurück und lachte. »Ungestörtheit und Schutz«, sagte er. »Hier habe ich beides. Und ich versuche, es überall zu bekommen.« Die Kuppel dämpfte das Lachen in einer Weise, dass es gespenstisch klang. Wagner war zumute, als hätte er eine Geisterwelt betreten, in der Berzin über Licht und Klang herrschte, eine Welt, die unsichtbar neben der anderen existierte, die Wagner vor dem Betreten dieses Raumes gekannt hatte. Wladimir Berzin war Geschäftsmann genug, um zu wissen, dass wichtigen Gesprächen ein bisschen Smalltalk vorausgehen muss. Er begann, in Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit zu schwelgen, und Wagner, froh um diese Zuflucht, fiel mit ein, tauschte mit Berzin Geschichten aus, trank Glas um Glas mit ihm. Die beiden hatten sich als Kinder in Ostberlin kennen gelernt. Wagners Vater war Anwalt gewesen, Berzins Vater Geheimdienstoffizier der Roten Armee, an das Sowjetische Verbindungsbüro abkommandiert. 65
Sie unterhielten sich auf Deutsch, das Berzin wie eine Muttersprache beherrschte. Wagner erinnerte sich, wie er ihm einige der saftigeren deutschen Flüche beigebracht hatte. Wolfgangs Vater hatte mit stillschweigendem Einverständnis der ostdeutschen Behörden den Austausch von west- und ostdeutschen Spionen organisiert. Er hatte außerdem ein Vermögen damit gemacht, den von der westdeutschen Regierung bezahlten Umzug von Ostdeutschen nach Westdeutschland in die Wege zu leiten. Als verschlagener Kommunist, dem man dennoch traute, vergrößerte er seinen Reichtum, indem er bei der Verwaltung des KoKo, des Bereichs kommerzieller Koordinierung mitwirkte, einem geheimen ostdeutschen Devisenbeschaffungsunternehmen, das über Scheinfirmen vom Ministerium für Staatssicherheit, besser bekannt als Stasi, unterhalten wurde. Berzins Vater war als »Vernehmungsspezialist« für den GRU, den sowjetischen militärischen Geheimdienst tätig. Berzin besuchte deutsche Schulen, wo er Wagner kennen lernte. In jenen Jugendtagen spürte Wagner ständig einen russischen Schatten über seiner deutschen Nationalität. Die Arbeit seines Vaters brachte ihn mit vielen offiziellen sowjetischen Stellen in Kontakt, und er predigte – glaubte es aber nicht –, dass Deutschlands Zukunft in den brüderlichen Händen der Sowjetunion lag. Wagner spürte den Zynismus seines Vaters, und während er heranwuchs, erfuhr er immer mehr darüber. Von seinem Vater ermutigt, nahm Wagner den unbeholfenen Wladimir Berzin unter seine Fittiche und machte ihn zu einem deutschen Kind und vor allem zu einem richtigen Ostberliner Jungen, der sich in den Straßen und Abwässerkanälen der geteilten Stadt zurechtfand. Berzin lernte so fließend Berlinerisch reden, dass ihm seine 66
sowjetischen Altersgenossen oft vorwarfen, mehr Deutscher als Russe zu sein. Berichte über diese Vorwürfe gingen in die Personalakte seines Vaters ein. Seinen Vater beunruhigte das nicht. Wie er seinem Sohn erklärte, besaß er genügend Informationen über viele GRU-Offiziere, um sie in Schach zu halten. Als Berzin neun Jahre alt war, fragte er seinen Vater, ob er schon einmal jemanden getötet habe. Sein Vater lachte und antwortete, GRU-Offiziere würden nicht über ihre Arbeit sprechen. Und dann wartete er mit einer Geschichte auf. Er erzählte seinem Sohn, der GRU habe einmal einem Wissenschaftler befohlen, illegal in ein fremdes Land zu gehen und wissenschaftlich-technische Informationen für die GRU zu sammeln. »Der Wissenschaftler war einverstanden«, sagte Berzins Vater, »gab jedoch zu Bedenken, dass er die Sprache des Landes nicht beherrschte, in das er gehen sollte.« Der Führungsoffizier des Wissenschaftlers sagte: »Keine Sorge. Tun Sie einfach so, als wären Sie stumm.« »Und was, wenn ich plötzlich im Schlaf rede?«, fragte der Wissenschaftler. »Das wird nicht passieren«, versicherte ihm der GRUOffizier. »Wir schneiden Ihnen nämlich die Zunge raus.« Berzins Vater hatte gegrinst. Es war ein Grinsen, das sich immer über sein Gesicht ausbreitete, wenn er gewisse Scherze erzählte, bei denen Berzin nicht wusste, ob er sie glauben sollte oder nicht. Er fragte seinen Vater nie wieder nach dessen Arbeit. Wie viele andere GRU-Bengel, wie sich die Söhne der Offiziere nannten, war Berzin dafür vorgesehen gewesen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Zu einer Karriere im GRU bestimmt, graduierte er an der Moskauer 67
Militärakademie und beendete gerade seine SpetsnazAusbildung an der Luftwaffenschule von Ryazan, als die Sowjetunion auseinander brach. Als Offizier der Spetsnaz hatte sich Berzin zum Fallschirmspringer und Taucher qualifiziert. Er beherrschte die Feinheiten von Bombenbau, Sabotage und Attentaten. Einer seiner Ausbilder in Ryazan war der Leiter der Einheit gewesen, die vor dem sowjetischen Einmarsch im Dezember 1979 im Auftrag des KGB den afghanischen Präsidenten ermordet hatte. Berzin und Wagner waren getrennt worden, als Berzin nach Moskau ging, um die Ausbildung für seine Spionagelaufbahn zu beginnen. Sie waren nur oberflächlich in Kontakt geblieben, wie es häufig der Fall ist, wenn Jungen zusammen aufgewachsen sind und sich ihre Wege im frühen Erwachsenenalter trennen. Sie hören monate- oder gar jahrelang nichts voneinander. Und dann kommt ein Telefonanruf, ein Treffen in einer Kneipe – und sie machen einfach dort weiter, wo sie aufgehört hatten. Bald nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 zog Wagners Vater mit seiner Familie nach Westberlin. Die Komplizenschaft des älteren Wagner mit dem ostdeutschen Regime war der westdeutschen Regierung zwar bekannt, aber man unternahm weder juristisch noch auf politischer Ebene etwas gegen ihn, denn er besaß immense und höchst peinliche Kenntnisse über heimliche Ost-West-Geschäfte. Er und seine Familie fügten sich glatt in die Reihen der aufstrebenden Mittelklasse des neuen Deutschlands. Mit Hilfe der Kontakte seines Vaters mischte Wolfgang Wagner bald in Projekten zur Wiedervereinigung der Kommunikationssysteme zwischen dem ehemaligen Ostdeutschland und dem Westen mit. Und dank des geheimen väterlichen Privatvermögens spielte er schon bald eine dominante Rolle im Telekommunikationsbereich des wiedervereinten 68
Deutschlands. Die Finanzpresse hatte ihn gerade als rechtmäßigen Erben des Barons Eric von Heltsinger, Deutschlands einflussreichstem Finanzier, bezeichnet, als Berzin wieder in Wagners Leben auftauchte. Zunächst hatte sich Wagner nichts dabei gedacht, als er einen Anruf von seinem alten Freund Berzin erhielt, der ihn um ein Treffen bat, weil er ein Joint Venture mit ihm besprechen wollte. Aber Wagner vergaß nie einen Spruch seines Vaters, wonach sich »jeder Zufall auf eine Unvermeidlichkeit zurückverfolgen lässt.« Ein »Joint Venture« aus heiterem Himmel und seine bevorstehende Beziehung zu Baron von Heltsinger, das roch nach Unvermeidlichkeit. Als Wagner in Finanzkreisen diskrete Nachforschungen über seinen Freund anstellte, erfuhr er zu seiner Erheiterung, dass sein alter Genosse im neuen Russland zum Kapitalisten geworden war – genau wie er selbst. Wagners Recherchen förderten jedoch zutage, dass Berzin nicht einfach nur ein Kapitalist war. Vielmehr kontrollierte er Finanz- und Industrieunternehmen mit insgesamt fast einer halben Million Angestellten. Er war ein unsichtbarer Strippenzieher mit Zugang zu höchsten Regierungsstellen, die Art Geschäftsmann, die man in der feinen Gesellschaft als Oligarchen bezeichnete. Für Leute, die mit der blutigen Realität der Macht der Oligarchen Bekanntschaft gemacht hatten, war er einfach ein Mafiaboss. In einem Russland, in dem Geld Überleben bedeutete, hatte Berzin seine Fähigkeiten als Agent der Spetsnaz meistbietend verkauft. Er begann als Leibwächter für eine Mafiya-Bande in Moskau, tauchte in die Unterwelt ab und wurde zu einer Legende: der Mann, der Leute verschwinden lassen konnte. Es hieß, viele der hartgesottenen Burschen in der Mafiya würden ihre Mutter zum Verkauf anbieten, aber nur Berzin würde sie 69
tatsächlich verkaufen. Im neuen Russland wurde es zunehmend schwierig, die Mafiya von der legitim herrschenden Klasse zu unterscheiden. Berzin tauchte wieder aus der Unterwelt auf und stürzte sich in eine Gesellschaft zwischen Verbrechen und Kapitalismus, wo die Polizei wegsah, wenn Kaufleute Schutzgeld an »das Dach« zahlten, wie man die MafiyaBanden nannte, wo Politiker ihre Wahlkämpfe mit dem Geld der Mafiya finanzierten, wo die Gerissenen und Skrupellosen reich und berühmt wurden, und die fünftausend Dollar, die Berzin für das Designerkleid einer Geliebten zahlte, zwei Jahresgehältern eines ehrlichen Arbeiters in Moskau entsprachen. Unter dröhnendem Gelächter und beredten Gesten hatte Berzin den größeren Teil der Erinnerungen beigesteuert. Wagner beschränkte sich hauptsächlich darauf, lächelnd zu nicken. In einer Gesprächspause unterdrückte Berzin ein Gähnen und tippte auf seine Uhr. »Ich bin es nicht gewohnt, so lange aufzubleiben, Wolf«, sagte er. »Ich brauche ein bisschen Schlaf.« »Du und müde? Hast wohl zu viel mit deiner neuen Freundin herumgemacht?«, fragte Wagner spöttisch. »Freundin? Ich habe viele Freundinnen«, gluckste Berzin. »Ja, aber nicht viele wie Miya«, neckte ihn Wagner anerkennend. »Miya … Takala, so heißt sie doch, oder? Die du bei dem Abendessen kennen gelernt hast, das Kanzler Kiepler im Januar für Präsident Gruschkow gab. Diese reizende Finnin.« Berzin sah überrascht aus. Sein Gesichtsausdruck wurde von einer Sekunde auf die andere grimmig ernst, und auf seinen Wangen erschienen rote Flecken. »Du hast mich 70
beschatten lassen? Deinen alten Freund?« »Nein, nein. Ich habe nur so etwas gehört. Ein Gerücht.« Die Erklärung klang hohl. Klatsch war nicht Wagners Art. »Versuch nicht, mich zu verarschen, Wolfgang«, sagte Berzin drohend. »Schon gut, schon gut«, versicherte Wagner rasch. »Du wirst tatsächlich beschattet. Und zwar vom Bundesnachrichtendienst, wenn meine Informationen stimmen.« »Der BND – aber der ist doch nur an Spionen und Terroristen interessiert.« »Darauf beschränkt er sich keineswegs, mein Freund. Der BND hat eine Art Abkommen mit dem FSK, eurem russischen Sicherheitsdienst, geschlossen. Sie arbeiten bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens zusammen. Irgendwer beim BND hat Erkundigungen über dich eingezogen … und über unsere langjährige Freundschaft.« »Der FSK. Die mache ich verdammt noch mal einen Kopf kürzer!«, schimpfte Berzin. Nachdem er sich zwei, drei Schritte von Wagner entfernt hatte, fuhr er abrupt herum und näherte sich seinem Freund auf wenige Zentimeter. »Ich kann von zwei Annahmen ausgehen. Entweder der Bundesnachrichtendienst ist von allein auf die Verbindung Wlad – Wolf gekommen. Oder du hast mit dem BND über mich gesprochen.« »Das ist absurd. Ich habe nichts mit dem BND zu schaffen.« »Nein. Aber dein Freund, der Baron. Eric von Heltsinger. Er war ein Kontaktmann des BND seit Gehlen seine Spionageorganisation nach dem Krieg an Westdeutschland übergeben hat. Und du weißt sehr wohl über den BND Bescheid. Dein Vater hat während des Krieges für Gehlen gearbeitet.« 71
»Gehlen war ein Verräter«, sagte Wagner, selbst überrascht von seiner lauten Stimme. Sein ostdeutscher Patriotismus flammte mit der Erinnerung an seine Schulzeit auf. Man hatte ihnen beigebracht, dass General Reinhardt Gehlen, im Zweiten Weltkrieg der Chef der deutschen militärischen Aufklärung für die Ostfront, mit allen Unterlagen in den Westen geflohen war, als die sowjetischen Befreiungstruppen das spätere Ostdeutschland überrannt hatten. Gehlen wurde der erste Präsident des BND. »Natürlich weiß ich über den BND Bescheid, so wie Amerikaner über die CIA oder das FBI Bescheid wissen. Was ich meine, ist …« »Was du meinst«, vollendete Berzin für ihn, »ist, dass du kein Informant des BND bist. Ja, davon bin ich überzeugt. Der BND ist von allein auf die Idee mit Wladimir und Wolfgang gekommen.« »Du traust niemandem«, sagte Wagner. »Das war schon immer so.« »Das stimmt nicht, Wolf. Ich traue dir, denn ich weiß jetzt, dass ich dir trauen kann.« »Und ich soll ab jetzt einem Mann trauen, den ich kaltblütig einen Mord begehen sah.« Er hielt kurz inne und wartete auf eine Antwort. Es kam keine. »Kaltblütig«, wiederholte er. »Und?«, fragte Berzin. »So war es immer, Wlad. Misstrauen. Verbrechen, als wenn nichts dabei wäre. Das liegt bei euch in der Familie. In deinen Adern fließt das Blut deines Vaters.« »Auf unsere Väter«, sagte Berzin und hob sein Glas. »Auf unsere Väter«, wiederholte Wagner und stieß mit Berzin an. Beide leerten ihre Gläser. 72
Berzin schenkte rasch nach. »Und auf unsere Vergangenheit, auf die alten Tage«, sagte er und hob erneut das Glas. »Auf die Vergangenheit«, erwiderte Wagner und trank. »Aber genug von der Vergangenheit, Wlad. Wir müssen über das Heute sprechen. Ich würde gern mit dem Geldflieger anfangen. Und … und mit dem, was da passiert ist … was ich gesehen habe.« Berzin brach erneut in Gelächter aus. »Wie ich sehe, ist dein altes Schuljungengewissen immer noch intakt«, sagte er. »Du bist sehr, sehr deutsch.« Er zog das letzte Wort in die Länge. »Nichts ist heute Abend passiert, alter Freund. Bitte sei so gut und merk dir das: Nichts ist passiert.« Tago war durch eine unsichtbare Tür eingetreten, hatte die leere Weinflasche durch eine volle ersetzt und war wieder verschwunden. Wagner, der mit dem Alkohol gerne umso vorsichtiger wurde, je mehr die Nacht dem Ende zuging, geriet bei ihrem Wetttrinken in Rückstand und fühlte sich sonderbarer Weise mit jeder Minute nüchterner. »Nichts? Wie kann ein Mord nichts sein?« »Das war kein Mord, mein Freund. Es war die Exekution eines Verräters.« »Ich werde versuchen zu vergessen, was ich gesehen habe – was du mich gezwungen hast, mit anzusehen«, sagte Wagner und hielt die Hand über das Glas, als Berzin es neu füllen wollte. »Erzähl mir von dem Geldflieger«, fuhr er fort und ergänzte sarkastisch: »Bestimmt alles super legal.« »Sehr, sehr legal«, bestätigte Berzin. »Aber in deinen Hochfinanzkreisen vielleicht nicht bekannt.« 73
Dann erklärte Berzin mit kalter Präzision, wie der Geldflieger funktionierte. »Geh ganz an den Anfang zurück«, sagte er. »Nachdem die Sowjetunion auseinander gebrochen war, begannen US-Dollar in das neue Russland zu strömen. Es gab keine Regeln. Es gab keine Gesetze. Russland besaß Milliarden … Billionen an Vermögenswerten, wie zum Beispiel Öl. Angeblich gehörten diese Vermögenswerte dem Staat, aber mit ein bisschen Schmiergeld hier und ein bisschen Schmiergeld dort sicherte ich mir die Kontrolle über einige von ihnen. Ich wollte meine Geschäfte aber in Dollar abwickeln, nicht in Rubel, und ich wollte nicht, dass irgendwelche Unterlagen darüber existierten. Also überlegte ich mir, wie ich das anstellen konnte. Sagen wir, ich verkaufe Öl, das ich auf dem Spotmarkt in Rotterdam für 100 Millionen Dollar ›gekauft‹ habe. Die Leute in Rotterdam zahlen die 100 Millionen bei einer bestimmten Bank in London ein. Dann schickt eine Bank in Moskau, die mir gehört, eine Nachricht – ein Kabel, nennen sie es – an die Amalgamated Bank in New York und bittet um 100 Millionen Dollar. Amalgamated ordnet die Überweisung von 100 Millionen in US-Währung an und kauft ihrerseits die Devisen in originalverpackten 100Dollar-Scheinen von der US-Notenbank. Gleichzeitig erhält die Amalgamated aber ein Kabel, mit dem 100 Millionen Dollar von der Bank in London an Amalgamated überwiesen werden. Die Belege zeigen nur Transaktionen von Bank zu Bank. Niemand kann das Geld zu mir zurückverfolgen. Amalgamated bekommt eine Provision auf den Kauf und den Transfer der Devisen und sorgt dafür, dass das Geld in ein Flugzeug verladen und nach Moskau geflogen wird. So einfach ist das.« »So einfach, ja«, sagte Wagner und nickte. »Aber wozu das alles, Wlad? Was soll dieses schlaue System? Du 74
müsstest doch mächtig genug sein, um mit dem Öl zu machen, was du willst. Du hättest sogar ein ganz legales Geschäft aufbauen können. Wozu brauchst du diese Geldwäsche?« »Mein lieber Wolfgang, ich habe lukrative Unternehmungen, bei denen sogar der russische Gesetzgeber die Stirn runzelt. Es gibt gewisse Leute, die so ihre Gewohnheiten haben. Und für diese Gewohnheiten gibt es einen Markt. Und es gibt gewisse Leute mit besonderen Bedürfnissen, wie zum Beispiel einem Herz oder einer Niere.« »Großer Gott!«, rief Wagner aus. »Nur die Ruhe, Wolfgang. Ich mache mir die Hände mit solchen Dingen nicht schmutzig. Aber ich bin ein Makler, regle Dinge und erhalte, wie die Banken, meine Provision. Und die Leute, mit denen ich Geschäfte mache, wollen nun mal nur in 100-Dollar-Scheinen Handel treiben. Deshalb sind diese wundervollen neuen Banknoten ein Vermögenswert, wie das Öl.« »Aber du bekommst diese Banknoten von der USRegierung. Das muss ihnen doch verdächtig vorkommen. Nachdem das FBI Cartwright und die Geldwäsche …« »Ich kann mich wirklich nur über dich wundern, Wolf. Ist das Finanzwesen in Deutschland so antiquiert, dass ihr die modernen Tricks nicht kennt? Hat euch der Euro so verwirrt?« Berzin lallte bei dem einen oder anderen Wort, fuhr aber fort; er klang, als würde er eine Einführung für einen Studienanfänger halten. »Die US-Regierung besteht aus vielen Teilen. Das Finanzministerium ist ein Teil. Das FBI ist ein anderer. Natürlich gibt es Ermittlungen wegen Geldwäsche. Und weil Dollar auch an Terroristen gehen, versucht das FBI herauszufinden, wohin die Dollar wandern. Aber glaub mir, Wolf, die Ermittlung gegen Cartwrights Bank ist 75
Kinderkram. Es gibt keine Verbindung zu islamischen Terroristen, und das heißt, das FBI wird das Interesse daran verlieren. Wenn man heutzutage beim FBI vorwärts kommen möchte, muss man den Terrorismus bekämpfen.« »Und der andere Teil der Regierung, das Finanzministerium?«, fragte Wagner. »Vergiss nicht, Wolf, es handelt sich um Geschäfte von Bank zu Bank. Soweit es das amerikanische Finanzamt betrifft, verkauft es mit einem hübschen Gewinn Devisen an Banken. Es kostet das US-Schatzamt rund vier Cent, eine Hundertdollarnote zu drucken. Jede neue Hundertdollarnote, die nach Russland fliegt, ist für das Schatzamt 99,96 Dollar wert, denn sie scheint gänzlich in Russland zu zirkulieren. Sie ist im Wesentlichen ein Stück russische Währung – und wie du sicherlich weißt, die einzige Währung, die in Russland etwas bedeutet. Ich kann dir offizielle Berichte des US-Finanzministeriums, des Außenministeriums, der Notenbank zeigen. In allen steht das Gleiche: Der Verkauf und Transfer von USDevisen nach Russland ist gut für die Marktkräfte und für die Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Das übliche Gewäsch aus Washington eben. Und das USSchatzamt verdient rund fünfzehn Milliarden Dollar im Jahr durch Dollarverkäufe ins Ausland. Jeder Dollar, den ich kaufe, ist ein zinsfreies Darlehen an die Vereinigten Staaten. Ich liebe die Vereinigten Staaten.« Während Berzin sprach, tauchte Tago ein weiteres Mal aus der unsichtbaren Küche auf, diesmal räumte er den Wein und die Gläser ab und brachte eine Kanne Kaffee für sie beide. Wagner fragte sich, wie Tago so hellseherisch sein konnte, und kam zu dem Schluss, dass es irgendwo noch einen Knopf geben musste. Wagner trank einen Schluck von seinem Kaffee und versuchte, Berzin in die Augen zu sehen. Die Lichter 76
ringsum waren nun gedämpfter, und Berzins Gesicht lag im Halbdunkel. »Danke für die Vorlesung, Herr Professor. Ich kenne solche Dinge nur aus der Theorie. Ich fühle mich geehrt, einen Meister darin getroffen zu haben. Alles ganz legal, ja. Aber jetzt erzähl mir von Mr. Cartwright.« »Du hast gesagt, du vergisst die Sache.« Berzin beugte sich vor. »Ich vergesse Dinge leichter, wenn ich sie verstehe«, entgegnete Wagner. »Also gut. Ein bisschen Aufklärung. Mr. Cartwright war drauf und dran, einigen Freunden von mir in New York Ärger zu machen. Ein Teil des Geldes ging nämlich unvorsichtigerweise an diese Genossen zurück. Die Registrierungsnummern bewiesen, dass das Geld am falschen Ort war. Sehr peinlich. Sehr kostspielig. Das sind teure Freunde, Russen, die in den USA arbeiten wollen. Sie sitzen in Brighton Beach, in Brooklyn, du musst bei ihnen vorbeischauen, wenn du das nächste Mal in New York bist. Sie haben mich um einen Gefallen gebeten, und den habe ich ihnen getan. Mehr musst du über diese Sache auf keinen Fall wissen. Wie du schon sagtest, es wird spät, und wir sollten über den Grund unseres Treffens sprechen.« Berzin erzählte Wagner von einer neuen Idee: Computerbanking. Wie er die Idee beschrieb, war sie ursprünglich als eine Möglichkeit entwickelt worden, das russische Bankwesen vor der Mafiya zur retten. Berzin sagte, er sei bereit zu expandieren, weil er überzeugt sei, dass das System großes, internationales Potenzial besitze. Er forderte Wagner auf, sein Partner bei der Ausweitung des Systems auf Deutschland, dann auf Europa und schließlich die ganze Welt zu werden. Da das Vorhaben auf Computern und satellitengestützter Telekommunikation 77
beruhte, so Berzin, würde es sich ganz natürlich in Wagners Konglomerat von Telekommunikationsfirmen fügen. »Das ist interessant, sehr interessant. Aber …« »Aber du kannst dein Geld, das Geld deines Barons, nicht in das Unternehmen eines Gangsters investieren.« »Das war es nicht, was ich sagen wollte, Wlad. Ich wollte lediglich die Idee in Frage stellen. Russland gehört nicht gerade zu den Vorreitern in der Computertechnologie. Ich arbeite an einem ähnlichen System, ebenso wie Partner und Konkurrenten in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Abgesehen davon ist das nicht der Grund, warum du mich hierher gebracht hast. Du bist Schuft genug, mir eine fragwürdige Investition in einem schwachen Moment voll nostalgischer Erinnerungen aufzudrängen – obwohl du ganz andere Dinge im Sinne hattest. Du bist eben durch und durch ein Schlitzohr, Wlad.« »Also gut, ich bekenne mich schuldig, allerdings nur ein bisschen. Computerbanking ist wirklich eine gute Idee, Wolf. Aber du hast Recht – wir treffen uns aus einem viel wichtigeren Grund.« Berzin schob das Schachbrett in die Mitte des Tisches und begann mit den Figuren zu spielen, sie wahllos umherzuschieben. »Sag mir, Wolf, wo siehst du Deutschland in fünfzig Jahren?«,. fragte er. »In fünfzig Jahren?« Wagner lachte. »Ich habe keine Ahnung, wo Deutschland in fünf Jahren sein wird. Du bittest mich, eine Prognose abzugeben. Für ein Unternehmen – in Ordnung. Aber für ein Land, mein Land? Ich bin doch kein Wahrsager.« Berzin ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Er nahm einen schwarzen Springer vom Schachbrett und stieß einen weißen Bauern damit um. »Nein, ich meine es 78
ernst. Du musst darüber nachdenken«, sagte er. »Wo liegt die Zukunft? Schau dich um auf der Welt. Was siehst du?« Er hielt einen Moment inne, suchte nach einem Beispiel. »Nein, schau nur auf Amerika. Du warst oft dort. Ich ebenfalls, wenn auch nicht so oft wie du, wahrscheinlich. Aber ich sehe ein Amerika, das du vielleicht nicht siehst. Und das Amerika, das ich sehe, ist eine Nation im fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls, ein Amerika, das überall wild nach Terroristen schlägt und seine Linie verliert. Die moralische Kraft des Landes ist ausgehöhlt. Es ist verbraucht von Drogen, Sex, Vergnügungssucht, Bequemlichkeit.« Er benutzte den Springer wie eine kleine Keule, um einen Turm umzustoßen. »Du hast sicherlich Spengler gelesen. Du wirst mir zustimmen, dass keine Nation einen Anspruch auf Unsterblichkeit besitzt und keine sie je erreicht hat. Was gestern noch da war, ist heute verschwunden, und was heute noch nicht ist, wird morgen sein. In fünfzig Jahren wird Amerika eine Müllhalde sein, ein Schrottplatz, auf dem sich alle Verlierer, alle Ausrangierten dieser Welt tummeln.« Mit Hilfe eines langen Streichholzes zündete sich Berzin eine Davidoff an, die er regelmäßig aus Kuba importierte. Es war ein kleines Ritual. »Sicher, du hast Recht«, sagte Wagner. »Aber ich liege nachts nicht wach und grüble über Amerikas Probleme oder ob es für alle Zeiten eine Supermacht bleiben wird, da ich nicht damit rechne, noch zu leben, wenn es in Bedeutungslosigkeit versinkt.« »Menschen ohne Vision gehen zugrunde«, sagte Berzin. »Das steht so in der Bibel, oder? Du musst über dein nächstes geschäftliches Unternehmen hinausdenken, Wolf. 79
Träumer werden belohnt. Und ich spreche von einem sehr großen Lohn.« »Wovon redest du, Wladimir? Welcher Lohn? Wie groß?« »Im Augenblick sind sowohl Deutschland als auch Russland zu sehr von den Vereinigten Staaten abhängig, was unsere Zukunft betrifft. Und die USA sind zu eng mit Israel verbunden. Denk mal darüber nach. Dieser kleine Schwanz wackelt mit dem größten Hund. Und wir können nur teilnahmslos zuschauen und uns beklagen. Es wird nie Frieden im Nahen Osten geben, Wolf, das weißt du genau. Juden und Araber bekämpfen sich seit Jahrhunderten, und sie werden sich immer bekämpfen. Zu viele Menschen, zu wenig Land, zu viel Hass. Zu viel, was den Terrorismus nährt. Diese gottvergessenen Länder werden immer Terroristen hervorbringen. Und es wird einen neuen Krieg in der Region geben, und dann werden die Amerikaner darauf bestehen, dass die Deutschen einen Teil der Last tragen und sich nicht drücken wie im Irak. Aber der Iran und andere Länder – sie werden besser bewaffnet und besser vorbereitet sein. Sie werden den Ölhahn zudrehen, und wie wird der Westen dann dastehen?« Berzin lachte und zog den schwarzen König unter Missachtung der Schachregeln einige Felder seitwärts, als stünde er über allen Regeln, bewegte schwarze und weiße Figuren, als wären seine Überlegungen ein Schachspiel. »Siehst du meine Königin? Stell sie dir als China vor. Siehst du, wie geschützt sie ist?« Er stellte seine schwarzen Springer und die beiden weißen Springer auf die Felder um die schwarze Königin herum. »Siehst du, wie meine Springer sie umgeben? Sie könnte die Macht des neuen Jahrhunderts werden. Nicht die Vereinigten Staaten oder Japan. Amerika ist zu weich geworden, zu bequem und zufrieden. Die Amerikaner, Wolf, sind im 80
Grunde keine Krieger. Nimm ihnen ihre tollen Computer, ihre Laserspielzeuge und Satelliten und sie sind keine Riesen mehr.« »In Afghanistan und Irak kamen sie mir ziemlich beeindruckend vor«, gab Wagner zurück. »Tatsächlich?«, höhnte Berzin. »Sie kamen dir beeindruckend vor, weil du nichts vom Krieg verstehst. Natürlich kann einen ihr Feuerwerk beeindrucken, aber sie haben ihre so genannten smart bombs bei Nacht und aus großer Entfernung abgefeuert. Dagegen konnte ihre ganze Technologie sie nicht vor Selbstmordattentätern oder simplen, raketengetriebenen Granaten schützen. Ihre Black-Hawk-Hubschrauber sind wie lahme Fliegen vom Himmel gefallen. Und was ist dann passiert? Ihre viel gerühmte Disziplin und Moral begann zu bröckeln. Ihre politischen Führer bettelten andere um Hilfe an, damit sie nicht alleine leiden mussten.« »Russland hat ihnen in Afghanistan geholfen«, erwiderte Wagner. »Afghanistan! Die Taliban. Ein Haufen unbewaffneter Pygmäen, die sich in Höhlen verkrochen haben!«, rief Berzin aus. »Findest du, Afghanistan war ein großer Sieg für die Vereinigten Staaten? Ein paar von bin Ladens Männern haben Amerikas Phallussymbole hochgehen lassen. Der Aktienmarkt bricht ein. Tausende von Firmen gehen Pleite. Der Kongress plündert alles bis auf das Gold in Fort Knox und will jeder Familie eine Anthraxspritze und eine Gasmaske verpassen, nur weil ein paar Sporen in der Post auftauchen! Natürlich hat Russland Hilfe angeboten. Ein paar Schnipsel Geheimdienstmaterial und die Zustimmung, von trostlosen Gegenden wie Usbekistan 81
oder Tadschikistan aus zu operieren. Und das nicht umsonst. Alles hat seinen Preis, hab ich Recht, Wolfgang? Rückendeckung für unser Vorgehen in Tschetschenien. Verringerung der amerikanischen Nuklearwaffen, damit sie ihren bescheuerten Raketenabfangschild bauen können. Wir haben bereits eine Waffe, die kein Schild aufhalten kann.« Berzin machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann begann er den schwarzen König in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. »Und Afghanistan selbst?« Er lachte. »Das ist größtenteils wieder in der Hand der Warlords. Selbst Kabul wird fallen. Glaub mir, die Amerikaner haben kein Stehvermögen. Siehst du China Zeit und politisches Kapital im Mittleren Osten verplempern? Denkst du, es kümmert sie einen feuchten Dreck, ob sie zehn Männer oder zehntausend verlieren? Oder was die Welt dazu sagt, wenn sie einen weiteren Atombombentest durchführen wollen? Heute sind sie im All. Morgen werden sie den Mond besiedeln. Sie werden lange vor den Amerikanern dort sein. Und wer weiß, was dann kommt.« »Dann gehört die Zukunft also China?«, fragte Wagner. »Nur wenn wir es zulassen.« »Will heißen?« Berzin paffte an der Zigarre und betrachtete sie nachdenklich. »Nur wenn Deutschland dumm genug ist, sich von den Franzosen und ihrer Vision einer Europäischen Union einwickeln zu lassen. Die Franzosen sind schwach, und gerade die Deutschen sollten daran denken, dass sie eher gerissen als klug sind. Man kann ihnen nicht trauen.« »Noch einmal: Was ist dann deine Antwort auf Chinas aufgehenden Stern?« Während der nächsten zehn Minuten umriss Berzin 82
genau, was er im Sinn hatte. Als er fertig war, räkelte sich Wagner und sagte: »Interessant, aber das werden die Amerikaner nie zulassen.« Wagner hatte genug von Berzins historischen Fantastereien. »Bleib bei deinem Geldflieger. Er fliegt. Du verdienst. Das ist einfacher.« Berzin hatte gerade den schwarzen König von einer Hand in die andere geworfen. Wagner fing ihn in der Luft auf und sagte: »Deutschland und Russland. Theoretisch ein interessantes Arrangement.« Er stellte den König wieder aufs Brett. »Aber unmöglich auszuführen. Ich kenne den Kanzler ganz gut. Er wird von allen Seiten bedrängt. Schau dir die Probleme nur an, mit denen er sich herumschlagen muss. Nationalisten von rechts, die Grünen von links. Und dazu bei den Amerikanern in Ungnade gefallen. Man spricht von einer Zerrüttung unter den Parteien, die so katastrophal ist, dass sie zu einer Balkanisierung der deutschen Politik führen könnte. Gerade jetzt würde es dieser Kanzler nie riskieren, die Vereinigten Staaten noch einmal zu befremden. Deutschland braucht jede Hilfe, die es bekommen kann. Und er würde befürchten, alte Ängste über ein zu mächtiges Deutschland zu schüren. Ist es dir nicht aufgefallen? Er traut sich nicht einmal, das Wort Macht in den Mund zu nehmen, weil es Hitler so häufig benutzt hat. Er ist nicht der Mann, der große Risiken eingeht. Nein, er würde einer solchen Idee niemals zustimmen. Er mag die Russen natürlich, und er hat mitgeholfen, euch näher an die NATO heranzuführen, um nicht diejenigen Kräfte auf den Plan zu rufen, die überall Feinde sehen und nach einem Vorwand suchen, erneut die Kriegstrommeln zu rühren.« Berzin trank seinen Kaffee aus und schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf, dass wir die Zustimmung des Kanzlers oder von irgendwem sonst brauchen?«, fragte er. 83
»Heutzutage ist es die Wirtschaft, die die Politiker antreibt. Wir sind diejenigen, die die Risiken eingehen und Wohlstand schaffen, nicht die Bürokraten in Berlin oder im Kreml – und auch nicht in Peking oder Washington, was das angeht. Wir machen die Politik, und sie haben zu folgen. Wir initiieren, und sie reagieren nur …« »Es macht Spaß, über so ein Arrangement nachzudenken, Wlad. Aber es könnte nie Realität werden.« »Man soll niemals nie sagen.« »Aber ich sage es, ich muss es sagen: Nie, nie, nie. Es gibt einen Mythos über die Deutschen, der uns wie ein Schatten anhängt. Sobald wir nur das kleinste bisschen Initiative zeigen, heißt es selbst bei unseren Freunden: ›Aha, die Deutschen legen wieder los. Wir wissen schon, was sie vorhaben, sie können nicht anders. Die Hessen sind wiederauferstanden.‹« Berzin fuhr mit einer heftigen Bewegung über das Schachbrett und griff mit verblüffender Geschwindigkeit die weißen Türme und Springer heraus. Als spielte er ein echtes Schachspiel, schob er zwei Türme in die Nähe des weißen Königs und rief: »Schachmatt!« Wagner sah verdutzt auf das Brett hinab. Berzin hatte ein Spiel gespielt, das nur er selbst verstand. Als er wieder aufblickte, schaute ihm sein Freund genau in die Augen. »Wolf«, sagte er, »wir können wieder groß werden.« »Und wie soll das gehen?«, fragte Wagner. Er blieb skeptisch, spürte jedoch die Erregung, einem schöpferischen Moment beizuwohnen. »Ich werde mich ändern, Wolf. Das war meine letzte Fahrt zum Geldflieger. Ich habe zum letzten Mal Gewinn aus dem russischen Banksystem gezogen. Ich werde ein neuer Mensch. Ich werde Präsident von Russland sein. Und du wirst einer der mächtigsten Männer Deutschlands 84
werden.« Wagner starrte seinen alten Freund an, als sähe er tatsächlich einen neuen Menschen im Entstehen. »Du bist verrückt, Wlad. Du redest, und vielleicht handelst du hin und wieder auch – manchmal sogar mit einem Messer. Aber wir sind hier in der echten Welt. Und die enthält, neben anderen Hindernissen, die Vereinigten Staaten. Du kannst fantasieren, so viel du willst, dich ändern, so sehr du willst. Aber wir können es niemals mit den USA aufnehmen.« Berzin stand auf. Tago betrat lautlos den Raum. »Du wirst eine Überraschung erleben, Wolfgang.« Berzin blickte demonstrativ auf seine Uhr, eine Rolex mit Goldarmband. »Ich weiß noch, was mein Vater einmal in einer besonders bitteren Zeit des Kalten Kriegs sagte: ›Wenn du dich mit Adlern anlegen willst, solltest du fliegen können.‹ Bald, Wolfgang, werden wir sehen, ob Amerika fliegen kann.«
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HOLLOMAN, NEW MEXICO »Politiker! Das sind doch lauter Huren.« Lachend setzte Konrad Stiller eine Flasche Coca Cola an den Mund. Welche Differenzen es zwischen Berlin und Washington auch geben mochte, unter den Soldaten beider Länder gab es keine. Normalerweise hätte Stiller mit seinen Pilotenkameraden jetzt ein kaltes Bier gekippt. Aber morgen würden sie den ganzen VIPs im Publikum ein Spektakel bieten, und er konnte es sich nicht leisten, seine Sinne von einem Kater trüben zu lassen. Ihre Flugzeuge würden mit Schallgeschwindigkeit und beinahe auf Tuchfühlung zueinander steil in den Himmel schießen und noch steiler wieder nach unten stürzen. Für Fehler blieb da kein Spielraum. »Du hast Recht«, rief Captain Ken Dugan. »Aber vielleicht lassen sie dich eines Tages ja richtig ran. Es gibt nichts Aufregenderes, als wenn dir ’ne scharfe Sidewinder an die Eier will.« »Und dich verfehlt!«, gab Stiller zurück. Er lachte wieder, diesmal etwas rauer, um zu verbergen, wie sehr es ihn wurmte, nie in einem richtigen Gefecht gewesen zu sein. Er wollte sich unbedingt mit einem Feind messen, mit irgendeinem. Deutschland hatte keine Kriegshelden. Er hoffte, eines Tages vielleicht einer zu werden. Immerhin würden diese Politiker morgen sehen, dass er und seine Mannschaft es mit Amerikas Besten aufnehmen konnten. 86
Heute Abend jedoch hieß es entspannen, sich einen Film ansehen und die Kameradschaft genießen. Der Film war nur für Erwachsene. Nackte Haut. Action. Gewalt. Eine unschlagbare Kombination für heißblütige Kampfflieger. Charles Burkhart schlurfte langsam, fast schmerzlich langsam durch den Hangar, der die drei deutschen Flugzeuge beherbergte. Er arbeitete bei der örtlichen Reinigungsfirma, die der Stützpunkt vor Jahren engagiert hatte. Charles war erst seit kurzem bei der Firma angestellt, aber er hatte rasch das Vertrauen der Militärgemeinde gewonnen. Immerhin hatte er in der Armee gedient und seinen Zeugnissen zufolge während der Operation Desert Storm ernsthafte Verwundungen erlitten, die ihm einen Purple Heart und eine ehrenhafte Entlassung einbrachten. Die Männer, die stolz ihre Uniform trugen, betrachteten ihn als einen der ihren. Entsprechende Nachforschungen hätten allerdings ergeben, dass Charles über eine gründliche Sprengausbildung verfügte und wiederholt durch rassistisch motivierte Schlägereien mit schwarzen Soldaten in Fort Bragg aufgefallen war. Der Ablauf, nach dem er die Toiletten reinigte und die Böden des Hangars fegte, war jeden Tag gleich. Er trat eine Stunde vor Mitternacht zur Nachtschicht an, absolvierte dann mit offenkundigem Unbehagen seine niedrige Arbeit, um am nächsten Morgen um sieben wieder zu gehen. Er redete nicht viel und beschwerte sich nie. Das Personal des Stützpunkts schrieb sein unnahbares Wesen seinen Kriegserlebnissen zu und ließ ihn in Ruhe. Heute Nacht jedoch war alles anders. Heute bewegte er sich mit einer Behändigkeit, die seine Behinderung Lügen strafte. In dem Wissen, dass die bewaffneten Streifen mit ihren angeleinten Schäferhunden gerade draußen am Zaun 87
patrouillierten, huschte er rasch zum Fahrwerk eines der Tornados. Dann stieg er auf eine kleine Trittleiter, langte mit einem Akkuschraubenzieher nach oben und hatte binnen Sekunden eine Abdeckung losgeschraubt, die ihm Zugang zu der gewaltigen Maschine des Flugzeugs verschaffte. Sergeant William Johnson hatte ihm alles gegeben, was er brauchte. Es war so einfach. Ein Kinderspiel. Mit einer Zange bog er die Leitung, die zu den Sauerstofftanks lief, zurecht. Als Nächstes wickelte er eine kleine Menge einer kittartigen Substanz genau vor den Knick und formte sie so, dass sie von der Leitung selbst praktisch nicht zu unterscheiden war. Der Kitt war in Tschechien hergestelltes Semtex, der bevorzugte Sprengstoff der Fachleute. Als Nächstes nahm er einen der dünnen Drähte, der aus einem zylindrischen Zeitschalter kam, und befestigte ihn an den Glühfäden einer kleinen Taschenlampenbirne, deren Glas er zerbrochen hatte. Das würde ihm als Zünder dienen. Er implantierte den zweiten Draht in den Sprengstoff. Dann stellte er die Vorrichtung so ein, dass sie genau um 13.15 Uhr am folgenden Tag losgehen würde. Er hatte die Generalprobe der Piloten beobachtet. Die Deutschen flogen in einer so engen Formation, dass kein Blatt Papier mehr zwischen sie passte. Präzision war der Schlüssel bei ihrem Unternehmen. Und bei seinem. Es würde eine Mordsschau werden. Charles vergewisserte sich mit einem Blick nach allen Seiten, dass ihn niemand gesehen hatte, dann stieg er rasch von der Leiter und kehrte zu seinen normalen nächtlichen Aufgaben zurück. Bis Mittag des nächsten Tages wollte er in Mexiko sein. Draußen wanderten zwei Wachposten mit ihren Schäferhunden am Zaun des Stützpunkts entlang. Die 88
Wüstenluft war kühl; der Mond hing wie ein betörender Edelstein vor der weiten Samtbrust des Universums. Aus dem Klubhaus in der Ferne hörte man leise das heisere Gelächter der Kampfflieger. »Klingt, als würden sie sich gut amüsieren«, sagte der eine Posten. »Ja«, entgegnete der andere wehmütig. »Die Glückspilze.« »Schaltet die Fernsehgeräte ein, Leute, und seht mit eigenen Augen, was ich euch die ganze Zeit erzähle«, sagte die raue Stimme im Autoradio. »Es kommt gerade auf CNN: Der Beginn von Projekt Global, dem Plan der faustischen Finanzbruderschaft, die USA in ein Protektorat der Vereinten Nationen zu verwandeln.« »Der schon wieder«, sagte Majorin Sally Jackson halb zu sich selbst. »Schalten Sie aus, Jeff«, wies sie den Fahrer an. »Nein, lassen Sie es bitte an«, bat Senator Clarence Granonski. »Und klären Sie mich auf. Ich habe ein bisschen von dieser antideutschen Kampagne mitbekommen. Aber da ich schon mal hier bin, kann ich mich aus erster Hand informieren lassen – von der Presseoffizierin des Stützpunkts.« »Nur zu«, fuhr die Radiostimme fort. »Macht den Fernseher an und seht, wie die deutsche Flagge höher – jawohl: höher – flattert als unsere Old Glory. Und seht, wie diese Deutschen im Stechschritt herummarschieren. Aber darüber gleich mehr. Jetzt erst mal Informationen zum besten Altersruhesitz, den meine alten Augen je gesehen haben …« Während der Werbespot ertönte, hielt der blaue Wagen der Air Force knapp zwanzig Meter vom Haupttor des Luftwaffenstützpunkts Holloman entfernt. Granonski, der 89
Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Senat, sah aus dem Fenster. Sechs Deputys des Sheriffs, in schneidigen Khakiuniformen und mit Stetsons auf dem Kopf, standen links und rechts der Straße einer Menge von etwa hundert Menschen gegenüber, vorwiegend Männern, die ebenfalls Stetsons trugen. Hier und dort sah man eine Frau mit einem Kind an der Hand darunter. Ein paar Teenager saßen auf den Motorhauben ihrer Autos, lachten, redeten und hörten Rap aus dem Radio. In vorderster Reihe hatten sich Männer und Frauen aufgestellt, die amerikanische Flaggen schwenkten und den Polizeibeamten fast ihre Schilder ins Gesicht stießen: Krauts raus! Lange leben die USA. Stoppt die Neue Weltordnung! Durch die geschlossenen Fenster und über das Surren der Klimaanlage hinweg waren gedämpfte Rufe und der rhythmische Klang unergründlicher Sprechgesänge zu hören. Ein Kameramann von CNN sprang aus dem stehenden Kombi vor dem Wagen des Senators und filmte die Menge. Granonski, ein großer, kräftiger Mann, wandte den Kopf, um die Bilder auf dem kleinen, eingebauten Fernsehgerät zwischen seinem und Jacksons Sitz zu betrachten. Einen Augenblick lang spiegelte das Bild auf dem Monitor in Schwarzweiß den farbenfrohen Tumult vor dem Fenster wider. Dann wechselte die Szene zum Haupttor genau vor ihnen. Vor dem Tor standen Schulter an Schulter Militärpolizisten, alle mit weißen Helmen und Plexiglasschilden. Jackson, der Granonskis verstohlene Blicke nicht entgingen, zupfte am Rock ihrer Dienstuniform. Sie war froh, dass sich das Fernsehgerät zwischen ihr und dem VIP-Gast befand, den sie begleiten musste. »Der Mann im Radio«, erklärte sie, »ist der populärste Talkshowmoderator hier in der Gegend. Er macht jetzt seit zwei 90
Wochen ununterbrochen Stimmung. Das ist sein Steckenpferd, und er reitet es täglich. Er behauptet, die Anwesenheit der Deutschen hier sei Teil einer Verschwörung, in die auch die Weltbank, die Vereinten Nationen und das Weiße Haus verstrickt seien. Er erzählt seinen Anhängern – darunter eine Menge bewaffneter Milizgruppen –, die Verschwörer würden einen Staatsstreich planen, durch den die USA unter die Kontrolle der Vereinten Nationen kämen. Das Ganze soll hier beginnen, und zwar damit, dass New Mexico an die UN abgetreten wird.« »Na klar. Solches Gerede kriegen wir von einigen Spinnern in New Jersey ebenfalls zu hören«, sagte Granonski lächelnd. »Schwarze Helikopter. Tranquilizer in den Trinkwasserreservoirs. Anthrax in den Frühstücksflocken. Die fantastische Welt der Paranoiker.« »Aber hier bei uns, Senator, hören wir sie nicht nur. Wir müssen mit ihnen leben. Der besondere Clou ist, dass die Deutschen tatsächlich hier sind, und die wahren Gläubigen behaupten nun, das Weiße Haus habe sie für die Zeit hierher gebracht, in der UN-Sturmtruppen protestierende US-Bürger aufgreifen und in Konzentrationslager stecken würden. Nach ihrer Vorstellung geht die Regierung davon aus, dass amerikanische Truppen meutern könnten, wenn sie den Befehl erhielten, auf Landsleute zu schießen. Die Deutschen dagegen würden die Befehle der UN befolgen.« »Also, ich wusste ja, dass es Leute geben soll, die so etwas glauben. Aber irgendwie ist man doch überrascht zu sehen, dass diese Leute wirklich existieren.« »Und ob sie existieren, Senator, jedenfalls hier bei uns. Und nicht nur im Radio. Die Milizen legen unsere Website lahm, blockieren unsere Telefon- und Faxleitungen und 91
bedrohen sogar die deutschen Angehörigen, die außerhalb des Stützpunkts wohnen. Und sie haben dieses Bandschnipseln mit den Flaggen wieder aufleben lassen. CNN und MSNBC haben es beide heute schon zwei-, dreimal verwendet, und die Feierlichkeiten haben noch gar nicht angefangen.« »Dann stimmt es also, was über die Flaggen gesagt wird – dass die deutsche oberhalb der amerikanischen weht?« »Es stimmt nicht, Senator. Wenn man auf einem USStützpunkt etwas beherrscht, dann ist es das Hissen der amerikanischen Flagge. Es ist allerdings absolut in Ordnung, die Flagge einer anderen Nation auf einem benachbarten Mast in gleicher Höhe wehen zu lassen. Aber wenn man die beiden Fahnen aus einem bestimmten Winkel aufnimmt, kann man es so aussehen lassen, als wehte eine oberhalb der anderen. Und genau das ist bei unserer Eröffnungsfeier geschehen. Die Flagge hat die hiesigen Patrioten zu der Behauptung angeregt, die Deutschen würden US-Territorium besetzen. Wir haben eine ziemlich wirkungsvolle Gegenkampagne gestartet und erklärt, dass das Abkommen – nach dem wir neunhundert deutschen Soldaten einen Trainingsstützpunkt mit ganzjährig schönem Wetter zur Verfügung stellen – rund zweitausend Angehörige mit in die Region bringt und Millionen für die hiesige Wirtschaft bedeutet. Wir haben sogar die Preise in der Verpflegungsabgabestelle des Stützpunkts mit denen der Laden am Ort in Einklang gebracht, um so die Behauptung zu unterlaufen, die deutschen Familien könnten billiger einkaufen als ›echte Amerikaner‹. Aber fast vier Jahre später, als wir dachten, alles hätte sich beruhigt, tauchte das Flaggenbild in einer regionalen Kabelfernsehshow auf, und die Leute fingen wieder an, darüber zu reden. 92
Sie stellten das Bild ins Internet, machten Kopien davon und verschickten sie per E-Mail, ja, es wurde sogar überall in der Stadt plakatiert. Das Ganze kam wie aus dem Nichts, gerade rechtzeitig für die heutige Veranstaltung.« »Tja«, sagte Granonski mit einem aufgesetzten Lachen, »den Kommunisten kann man es wohl nicht mehr anhängen. Gibt es irgendwelche Verdächtigen?« »Die Milizen, vor allem eine, die sich Scorpions nennt. Aber die örtlichen Behörden wollen sie nicht anfassen.« »Und rechnen Sie auch nicht mit einer Untersuchung durch den Senat, Major. Senatoren müssen gewählt werden, genau wie Sheriffs.« Der Wagen fuhr weiter. Am Tor teilte sich die Kette der Militärpolizisten. Ein Sergeant salutierte und winkte das Fahrzeug durch, nachdem Jackson gewohnheitsmäßig ihren Ausweis gezeigt hatte. Sie hielten vor einer Tribüne unter einem weißen Baldachin. Granonski und Jackson stiegen aus, wobei Ersterer einen weiteren anerkennenden Blick auf Jacksons Beine warf. Brigadegeneral Paul Desmond trat vor, schüttelte dem Senator herzlich die Hand und führte ihn zu einer Bar, die man hinter der Tribüne aufgebaut hatte. Auf ein entsprechendes Nicken von Granonski goss ein Angestellter der Messe ein deutsches Bier in einen Steinkrug und reichte ihn dem Senator. Dann schenkte er Desmond eine Cola ein. Wie aufs Stichwort erschien Desmonds Stabschef mit mehreren deutschen Offizieren, angeführt von Desmonds deutschem Pendant, Generalmajor Erich Königsberg. Es war genau 12.30 Uhr. Desmond führte seinen Stützpunkt gern nach einem strikten Zeitplan, was seinen deutschen Mietern sehr gefiel. Er sprach überdies passabel Deutsch und hatte das Kommando über den Stützpunkt kurz vor der Verlegung 93
der deutschen Luftwaffeneinheit nach Holloman erhalten. Für Desmond war das Programm ein persönlicher Meilenstein. Sicher, es gab PR-Probleme mit den Demonstranten, die Schilder gegen die Deutschen schwenkten. Aber das hatte Major Jackson im Griff, sie hatte Desmond und Königsberg sogar in eine Morgenshow gebracht, wo sie über die erste gemeinsame Flugschau der US Air Force und der Deutschen Luftwaffe sprachen. Und sie hatte dafür gesorgt, dass all die Honoratioren gekommen waren – der deutsche Militärattaché und sein Stab, der Vizestabschef der US Air Force, der stellvertretende Gouverneur von New Mexico, eine Auswahl lokaler Politiker und natürlich Granonski, von dem es oft hieß, er habe noch jede Gesetzesvorlage zur Bewilligung von Geldern für die Air Force gutgeheißen. Darüber hinaus füllten Einheimische die Tribüne, alle sorgfältig von Jackson ausgewählt, die auch dafür gesorgt hatte, dass die Nutznießer der Deutschen – Geschäftsinhaber, Bankiers, Immobilienmakler, Gastronomen – die besten Sitze erhielten. Desmond musste Königsberg und Granonski einander nicht mehr vorstellen; der Senator hatte den deutschen General bereits zweimal getroffen, als jeweils eine Delegation des Kongresses Holloman besuchte, um das deutsch-amerikanische Gemeinschaftsunternehmen zu inspizieren. Weder Königsberg noch andere Uniformierte tranken Bier. Als Granonski ihn deshalb aufzog, runzelte Königsberg kurz die Stirn. Er verstand den amerikanischen Humor nicht recht, vor allem nicht den Humor von Kongressmitgliedern. Matt lächelnd stellte er dem Senator die drei deutschen Piloten vor, die zusammen mit drei amerikanischen Kollegen die Schau mit einem Formationsflug eröffnen würden. Bei zwei der Piloten erwiderte Granonski murmelnd die 94
Begrüßung, während er ihnen die Hand schüttelte. Als er den Namen des dritten hörte, der Konrad Stiller lautete, fragte er den jungen Mann, ob er etwa mit Christoph Stiller verwandt sei, dem Vizepräsidenten des BND. Es stellte sich heraus, dass die beiden Brüder waren. »Ihr Bruder hat uns bei verschiedenen wichtigen Angelegenheiten sehr geholfen«, sagte Granonski. »Ich hoffe, es geht ihm gut.« »Es geht ihm ausgezeichnet, Senator«, antwortete Stiller in flüssigem Englisch. »Er erzählt mir nur leider nie, was er macht. Aber ich freue mich zu hören, dass seine Arbeit wichtig ist. Als ich ein kleiner Junge war, schien er sich ausschließlich für Mädchen zu interessieren.« Königsberg runzelte erneut die Stirn und richtete die stahlblauen Augen auf Stiller. Kein Wunder, dass es diese ewig pubertierenden Kampfpiloten nie zum Generalsrang brachten. »Wenn Sie nun so gut wären, Ihr Flugzeug zu checken«, sagte er auf Deutsch. Stiller salutierte und schlenderte davon. »Guter Mann«, sagte Granonski. »Mir gefällt seine Art. Ich wette, er bringt es eines Tages selbst zum General.« »Vielleicht«, entgegnete Königsberg. Um 13.10 Uhr, genau nach Zeitplan, donnerten in kurzem Abstand drei silberne deutsche Tornados mit dem Luftwaffenkreuz auf Tragflächen und Rumpf eine Startbahn entlang und ließen die Luft hinter ihren Düsen vor Hitze flimmern. Jede der Maschinen war mit einem Piloten und einem Beobachter besetzt. Einen Augenblick später stiegen von einer anderen Startbahn drei F-117 Nighthawks der US Air Force auf, auch sie knapp hintereinander. Die schwarzen Nighthawks mit ihren 95
Fledermausflügeln flogen direkt über die Tornados, und die sechs Maschinen kamen sich so nahe, dass es von der Tribüne aussah, als erfüllte ein großes, donnerndes Ungeheuer den Himmel. Im Presseteil der Tribüne schwenkte ein Kameramann von CNN seine Kamera herum. Jackson, die zwei Reihen dahinter saß, konnte die Szene auf einem kleinen Fernsehgerät auf dem Sitz neben ihr sehen. Sie hatte zur Empörung der lokalen Fernsehgesellschaften die Exklusivrechte für die Live-Berichterstattung an CNN vergeben. Die Lokalsender hatten daraufhin die Flugschau boykottiert. Zu dem Geschäft gehörte aber, dass CNN vier Minuten des Materials den Lokalen zur Verfügung stellen musste. Jackson wusste, sie würden diesen großartigen Himmelsaufnahmen nicht widerstehen können. »Es gab eine Zeit, als das Luftwaffenkreuz heftige Gefühle bei Air-Force-Offizieren entfachte, die am Himmel über Deutschland gegen die Luftwaffe gekämpft hatten«, sagte der CNN-Reporter gerade. »Heute jedoch ist der Zweite Weltkrieg längst vergessen. Und Deutschland, das Seite an Seite mit den USA in Bosnien kämpfte, ist ein zuverlässiger NATO-Partner.« Die drei Tornados zogen von den Nighthawks weg und bildeten ein V, dabei rückten sie zusammen, bis nur noch schmale Streifen von Blau zwischen den Flugzeugen blieben. Die Nighthawks, die ihr eigenes, genauso enges V flogen, stießen nun mit der Nase in das deutsche V, so dass es vom Boden wiederum aussah, als wären die sechs Flugzeuge eines. Dann, während das Doppel-V höher stieg, schossen die drei deutschen Flugzeuge steil aus ihm heraus und setzten in nach wie vor enger Formation zu einem Looping an. Eine plötzliche Stille senkte sich auf die Tribüne, da alle die Köpfe verdrehten, um der rasenden Bogenspur zu folgen. Selbst dem CNN-Reporter 96
verschlug es bei diesem Manöver die Sprache. Jackson blickte auf das Fernsehgerät hinab. Sie schaute in diesem Moment lieber auf den Schirm statt in den Himmel. Und so sah sie statt der Realität ein Bild, das in den nächsten Tagen unzählige Male in allen Nachrichtensendungen auf der Welt erscheinen sollte. Dort, wo der Führungstornado gewesen war, brach plötzlich eine rote Wolke aus dem Himmel. Einen Sekundenbruchteil später dehnte sich die Feuerwolke aus und hüllte die beiden anderen Tornados ein. Jackson blickte auf, als der Knall und die Schockwelle der Explosion die Tribüne erreichten, die Holzsitze erzittern und die Fahnen flattern ließ. Die Wolke, die inzwischen schwarz war und von der sich ölige Rauchspuren nach oben rankten, stand ungeheuer groß am Himmel. Aus ihrem oberen Rand stießen zwei Nighthawks. Als der dritte auftauchte, zog er eine Rauchfahne hinter sich her. Ein Tornado mit nur einem Flügel trudelte aus dem Inferno, zusammen mit einzelnen Flugzeugteilen. Ein zweiter Tornado fiel mit zerfetztem, verkohltem Rumpf senkrecht nach unten. Er schlug als Erster auf den Boden und ließ einen rot und orange brodelnden Geysir aufsteigen. Als Nächster war der Tornado an der Reihe, bei dem es so ausgesehen hatte, als könnte er seinen Sturzflug abfangen. Seine linke Flügelspitze schnitt wie ein stumpfes Messer in die Erde. Als sich der Tornado überschlug, brach der Flügel auseinander, der Rumpf landete krachend auf ihm. Für einen Moment war es still. Dann explodierte der ganze Berg Metall, Flammen schossen hoch und verwandelten das Wrack in einen Scheiterhaufen.
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8 WASHINGTON Als Santini in den neuen Tag startete, fühlte er sich unerklärlicherweise nicht recht wohl. Er hatte einigermaßen gut geschlafen. Viereinhalb Stunden waren zwar nicht viel, aber sein Schlaf war tiefer gewesen als gewöhnlich. Kein Anruf aus dem Pentagon, der ihn mit einer neuen Tragödie aufschreckte. Er hatte eine Stunde im Fitnessraum verbracht und sein übliches Boxtraining absolviert: Zwanzig Minuten lang auf den Sandsack eingeschlagen, dann zehn Minuten den Speedbag bearbeitet und zum Schluss eine halbe Stunde auf dem Laufband und an den Gewichten. Er wusste nicht, ob es Stolz oder Eitelkeit war, was ihn zu dieser Schinderei trieb. Aber es zahlte sich auf jeden Fall aus. Er wirkte zehn bis fünfzehn Jahre jünger, als er war. Neu belebt, duschte er und zog sich an, dann trank er noch rasch einen Kaffee und machte sich auf den Weg zum Wagen. Aber er war einfach nicht auf der Höhe. Ein kleiner Schatten hing über seinem Gemüt und wollte nicht weggehen. Die Welt war seit Santinis Abschied aus dem Senat sehr viel komplizierter und gefährlicher geworden. In einem Interview mit einem Reporter der Washington Post hatte er einmal die Vermutung geäußert, Amerika könnte den Zusammenbruch der Sowjetunion eines Tages noch bedauern. Der Reporter hatte Santinis düstere Vorahnungen nicht geteilt. Der Artikel begann mit: Vorsitzender des Geheimdienstausschusses denkt 98
wehmütig an den Kalten Krieg zurück. Von da an sei es bergab gegangen. Aber das war natürlich genau die Richtung, die diese Welt offenbar einschlug. Nicht ausschließlich, keine Frage. Die USA behaupteten immer noch den Titel einer Supermacht, mit einem jährlichen Verteidigungsbudget, das sich 500 Milliarden Dollar näherte. Ökonomisch und kulturell kam ihnen niemand gleich auf dem globalen Markt. NATOMitgliedschaften breiteten sich aus wie Tinte auf Löschpapier. Und die Saat der Demokratie hatte in Russland, Südamerika und Teilen Zentralasiens Wurzeln geschlagen, wie flach diese auch sitzen mochten. Doch die Wurzeln des ethnisch und religiös motivierten Hasses reichten weitaus tiefer und waren wesentlich gefährlicher. Bosnien, Kosovo, Tschetschenien, Afghanistan, Indien, Pakistan, die Philippinen, Indonesien. Mittlerweilen kam es einem Wettlauf gegen die Uhr gleich, alle möglichen Länder davon abzuhalten, dass sie Plutonium in die Hände bekamen oder biologische Kampfstoffe. Früher oder später würden die Fanatiker wieder zuschlagen, die Frage war nur, in welchem Ausmaß. Tonnen von hoch angereichertem Uran oder Plutonium lagerten in der ehemaligen Sowjetunion. Das meiste davon nur durch einen Maschendrahtzaun und vielleicht noch ein Vorhängeschloss gesichert. Nuklearer Terrorismus war zum Greifen nahe. Oder vielleicht würde ein Reinigungsunternehmen, das Washingtons U-Bahn-Stationen säubern sollte, ein tödliches Gas freisetzen oder einen Virus aus einer Sprühdose, der Tausende von Opfern in wenigen Stunden oder Tagen befallen konnte. Um auf der sicheren Seite zu sein, gaben CIA und FBI Warnungen mit der Frequenz von Wetterberichten heraus. Der Jüngste Tag war nahe! Es hatte eine Zeit gegeben, da fing man solche selbst ernannten Propheten ein und steckte 99
sie für ihr Geschrei vom nahen Weltende in die Klapsmühle. Nun war es die Regierung, die dem amerikanischen Volk einredete, die Katastrophe stünde unmittelbar bevor, aber sie sollten sich keine Sorgen machen und weiter schön brav mit ihren Kreditkarten in die Megaeinkaufszentren rennen. Die Welt war verrückt geworden. Santini musste diese dunklen Wolken zurückdrängen, die ihn immer dann einzuhüllen schienen, wenn er es am wenigsten erwartete. In seiner Seele schien jederzeit zur Hälfte eine irische Schwermut zu herrschen. Oder war es italienischer Fatalismus? Er wusste es nicht. Solche Stimmungen traten jedes Mal nur kurz auf, dann wehrte sich sein Überlebensinstinkt und weigerte sich, der Anziehungskraft des Negativen nachzugeben. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit und machte sich methodisch daran, den Stapel der Papiere auf seinem Schreibtisch durchzusehen. Nicht ein einziger Tag verging, ohne dass es irgendwelche Vorfälle gab. Eine Kollision auf See. Ein Überschalljäger, der fast ein ziviles Verkehrsflugzeug rammte. Die angebliche Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen auf Okinawa. Ein schwarzer Marineinfanterist, der in einer Bar in North Carolina einen Hinterwäldler vermöbelte. Er schloss seine täglichen Besprechungen ab, fungierte als Gastgeber eines Arbeitsessens für eine Gruppe wichtiger Mitglieder der Bewilligungsausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus und hatte dann am späten Nachmittag gerade ein Telefongespräch mit dem NATOGeneralsekretär beendet, als die Tür zu seinem Büro aufgerissen wurde, und Scott O’Neill, ein Drei-SterneAdmiral, der Santini als oberster Militärberater diente, ins Zimmer platzte. »Machen Sie den Fernseher an«, sagte er, ohne das übliche Sir. Santini fuhr herum und richtete die Fernbedienung auf 100
einen der Monitore hinter seinem Schreibtisch. O’Neill stand neben dem Tisch, während er sprach. »Auf dem Luftwaffenstützpunkt Holloman sind gerade drei deutsche Düsenjäger mitten in der Luft explodiert.« »Was meinen Sie mit ›explodiert‹?« Wie als Antwort erschienen auf dem Schirm die roten Feuerbälle, die einmal Maschinen und Besatzung gewesen waren. »Wir wissen noch nicht genau, was passiert ist«, antwortete O’Neill. »Es könnte sich um eine Fehlfunktion in den Elektro- und Treibstoffsystemen handeln.« »Bei drei Flugzeugen gleichzeitig? Blödsinn, Scott. Was haben Sie sonst anzubieten?« »Oder aber – und das ist wahrscheinlicher – es handelt sich um einen Akt vorsätzlicher Sabotage.« »Terrorismus?« »Ja, Sir.« »Wie zum Teufel kommen Terroristen in den Stützpunkt?« »Das weiß ich nicht.« »Dann finden Sie es heraus«, sagte Santini, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Eine Stunde später kam O’Neill wieder ins Büro, diesmal über die Sprechanlage angekündigt. Santini deutete auf einen Stuhl, aber O’Neill zögerte, als müsste er stehen bleiben, um seine Nachricht loszuwerden. »Es geht um Holloman, Sir. Wir haben etwas erfahren, das ich Ihnen persönlich mitteilen wollte.« O’Neill hielt einen Moment inne, als könnte das die Wirkung seiner Mitteilung mildern. »Ihr Freund, Christoph Stiller vom 101
deutschen BND …« »Ja?« Santinis Tonfall machte deutlich, dass er keine Frage stellte, sondern O’Neill aufforderte fortzufahren. »Einer der getöteten Piloten war Stillers jüngerer Bruder Konrad.« Santini richtete sich erst ruckartig auf, dann sank er in sich zusammen, als hätte ihm O’Neills Mitteilung die Atemluft genommen. »Wurde Christoph schon unterrichtet?« O’Neill nickte. »Sobald feststand, dass es keine Überlebenden gab.« »Okay. Sorgen Sie dafür, dass ich telefonisch mit ihm verbunden werde, sobald ich aus dem Weißen Haus zurück bin.« »Verstanden, Sir«, sagte O’Neill zackig und salutierte. Als O’Neill gegangen war, läutete Santini nach seiner Sekretärin. »Eine Frage, Margie.« »Und die lautet?« »Was wissen Sie über diese Besprechung im Lageraum? Sie war ursprünglich nicht auf der Tagesordnung.« »Soviel ich weiß, hat Mr. Praeger sie einberufen, und sie hat mit russischen Geldwäschepraktiken zu tun.« »Geldwäsche? Was zum Teufel hat das Verteidigungsministerium damit zu schaffen? Das ist Sache des Justizministeriums und des FBI.« »Diese Frage, Mr. Secretary, übersteigt meine Gehaltsstufe, wie es so schön heißt.«
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9 BERLIN Ganz gegen seine Gewohnheit war Bundeskanzler Klaus Kiepler heute aufgewühlt. Für gewöhnlich wahrte der hoch gewachsene, schlanke ehemalige Bürgermeister von Berlin eine Haltung absoluter Zuversicht. Das war stets seine zwingendste Eigenschaft gewesen. Natürlich liebten die Frauen sein langes, salz- und pfeffergraues Haar, das er keck über den Hemdkragen fallen ließ, und Gerüchte über amouröse Abenteuer in früheren Tagen steigerten seine Anziehungskraft nur. Es war jedoch seine Redegabe, die Fähigkeit, aus tiefster Seele zu sprechen und die Leidenschaft seines Volkes anzufachen, ihm die Hoffnung zu vermitteln, dass sich sein Leben und das Leben seiner Kinder verbessern werde, die ihn in sein Amt gebracht hatte. Natürlich war das nur das Gesicht, das er der Öffentlichkeit präsentierte. Der Visionär. Der Mann, der die Fäden in der Hand hielt. Der das deutsche Volk endlich von den Ketten der Schuld befreien würde, die es so lange hatte tragen müssen, und ihm seinen rechtmäßigen Platz im neuen Jahrhundert sicherte. Aber Worte waren keine Taten. Die Rhetorik hatte dazu beigetragen, ihn ins Amt zu katapultieren; die Realität zog ihn nach unten. Kiepler betrachtete die Bismarckbüste, die auf dem Schränkchen hinter seinem Schreibtisch stand. Er unterdrückte ein ironisches Lachen. Bismarck, der Eiserne Kanzler, war seine Inspiration gewesen. Ein strategisches Genie und absolut rücksichtslos. Wie eitel und töricht von ihm zu glauben, er könnte es je mit Bismarcks manipula103
torischem Geschick aufnehmen! Er stand auf und schob den Stuhl von seinem Schreibtisch zurück. Dieser, eine massive Mahagonikonstruktion, zeigte auf der Vorderseite sieben Nischen mit den geschnitzten Figuren von sieben Deutschrittern in der weißen Tracht mit dem schwarzen Kreuz, die dem Orden 1205 von Papst Innozenz III. zuerkannt worden war. Der Schreibtisch war 1834 entstanden anlässlich des kaiserlichen Dekrets zur Neugründung des Deutschritterordens. Die Kunsttischler, die ihn gebaut hatten, ließen sich bis ins Mittelalter und zu den Ursprüngen von Kieplers eigener Familie zurückverfolgen. Als das Habsburger Reich 1918 zusammenbrach, ging der Schreibtisch von seinem adeligen Besitzer auf Kieplers Großvater über, einem Enkel von einem der Tischler. Kiepler erzählte die Geschichte des Möbels häufig, um seinen Zuhörern zu verdeutlichen, wie tief die deutschen Wurzeln des Ur-Urenkels dieses Tischlers reichten, der nun Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war. Er lief vor dem Gasfeuer auf und ab, das hinter einem Metallvorhang zischte, der ihn vor imaginären Funken schützen sollte. Künstliche Holzscheite. Wie angemessen, dachte er. Seine Umfrageergebnisse wurden im Spiegel breitgetreten. Aus dem Kabinett sickerten Informationen wie Wasser aus einem undichten Papierbecher. Deutschlands Militärausgaben waren seit langer Zeit so niedrig, dass selbst Luxemburg einen höheren Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts zu seiner Verteidigung aufwandte. Luxemburg! Himmel, das Land verfügte ja kaum über eine Polizeitruppe. Aber der Vergleich begann hängen zu bleiben, und selbst sein Koalitionspartner, die Grünen, realisierte allmählich, dass sich Deutschland in Europa zum Gespött machte. Seine politischen Gegner wurden mit jedem Tag kühner, angefeuert von ätzenden Karikaturen 104
und Fernsehkomikern. Seine Wahlversprechen lösten sich in nichts auf. Aber was sollte er machen? Er war ein Gefangener von Fehlern der Vergangenheit. Die sagenhafte deutsche Disziplin war im großen Projekt der Europäischen Union untergegangen. Die Exporte legten zwar allmählich zu, aber der Wirtschaftsmotor stotterte noch sehr. Die Arbeitslosigkeit verharrte auf einem Niveau, das früher undenkbar gewesen wäre. Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn aus den Gedanken über die Probleme aufschrecken, die in letzter Zeit über ihn hereinstürzten. Elke, eine schlanke, attraktive Frau, die schon als Privatsekretärin für ihn gearbeitet hatte, als er noch Bürgermeister war, betrat das Büro. Sie brachte ein großes Bündel Papiere in einer hübschen, mit Blattgold verzierten Ledermappe, einem Geschenk des marokkanischen Königs Mohammed VI. herein. »Die müssen heute noch unterschrieben werden«, sagte sie und legte die Mappe auf die rechte Seite des Schreibtischs. »Und Minister Joffe ist eingetroffen. Soll ich ihn hereinschicken?« Kiepler nickte, froh, aus seinen Grübeleien gerissen worden zu sein. Als Günther Joffe eintrat, stand der Kanzler auf, um seinen Verteidigungsminister zu begrüßen. Die beiden Männer hatten zusammen in der Bundeswehr gedient und später gemeinsam im Bundestag gesessen. Beiden lag die Stärkung des deutschen Militärs am Herzen, und beide waren gleichermaßen frustriert und enttäuscht, weil in der öffentlichen Meinung stattdessen weiterhin mehr Ausgaben für Gesundheit und Soziales favorisiert wurden. Diese Prioritäten ließen, zusammen mit der vollen Integration aller europäischen Länder, wenig Spielraum für eine Modernisierung des Militärs, wie sie Kiepler vorschwebte. 105
Der Kanzler deutete zu einer Ledersitzecke. »Komm«, sagte er und legte Joffe den Arm um die Schulter. »Da drüben sitzen wir bequemer.« Als sich die beiden Männer an einem mit Schnitzereien verzierten Kaffeetisch niederließen, ging die Tür auf, und ein Diener in schwarzer Hose und weißem Jackett kam herein. Er stellte eine Kaffeekanne, Tassen und einen Teller Gebäck ab, dann verließ er schweigend den Raum. »Ein Stück Zucker oder zwei?«, fragte Kiepler. »Selbst nach so vielen Jahren kann ich mir das nicht merken.« »Du hast eben wichtigere Dinge im Kopf zu behalten, Klaus.« Unter sich ließen die beiden alle Formalitäten fallen. »Eines reicht«, sagte er und griff nach einem Stück von dem süßen Gebäck. »Ich will nicht so früh am Tag schon eine Überdosis Zucker abbekommen.« »Aha«, sagte Kiepler und beschränkte sich ebenfalls. »Aber jetzt sag, Günther, gibt es neue Erkenntnisse zu dem Vorfall in Holloman?« »Sehr wenige, und keine guten. Die Leiche von Oberleutnant Stiller ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die seines Besatzungsmitglieds ebenfalls. Die beiden sind nicht abgesprungen, von ihnen ist nichts übrig geblieben. Zwei weitere Leichen – die von Leutnant Frauwirth und Hans Gerhardt, der mit ihm an Bord war, wurden in einiger Entfernung gefunden. Ihre Fallschirme haben sich geöffnet, aber offenbar nicht rechtzeitig. Die Leichen aus dem dritten Flugzeug wurden noch nicht gefunden. Die Suche wurde ausgedehnt, und die amerikanischen Offiziere sind überzeugt, dass es bald so weit ist. Aber selbst wenn man sie gefunden hat, können sie nicht sofort zurückgeschickt werden.« »Wieso das?« 106
»Es handelt sich um ein technisches – ein rechtliches Problem«, sagte Joffe. »Es gibt da einen Justizbeamten des Bundesstaates New Mexico, einen Coroner, der sich quer legt. Die Leichen wurden außerhalb des Stützpunktgeländes gefunden, womit rein theoretisch die Bundesbehörden nicht zuständig sind. Der Coroner will die Leichen nicht freigeben, bis jeweils eine Autopsie erfolgt ist. Das könnte schwierig werden. Man hat mir gesagt, es kann unter Umständen Wochen dauern, allerdings wurde mir auch versichert, dass letztendlich amerikanische Bundesbehörden das Sagen haben.« »Ich rede mit unserem Botschafter, oder besser gleich noch einmal mit Präsident Jefferson. Er kann die Angelegenheit sicherlich beschleunigen«, sagte Kiepler. Er setzte die Kaffeetasse ab und schwieg, wie um anzudeuten, dass die Unterhaltung damit zu Ende war. Aber plötzlich fiel ihm noch etwas ein. »Könnte es sein, dass die Amerikaner etwas vertuschen wollen? Treiben sie ein Spiel mit uns?« »Möglich wäre es. Allerdings habe ich einmal gelesen, dass etwas Ähnliches auch nach der Ermordung von Präsident Kennedy passiert ist. Irgendein kleiner Beamter in Texas hat die Überführung des Leichnams nach Washington verhindert.« »Aber das sind Deutsche, Günther, keine Amerikaner. Die Familien wollen das, was von ihren Söhnen übrig ist, jetzt zurückhaben, nicht in einem Monat!« Kiepler massierte sich mit beiden Händen die Schläfen. »Ich habe gestern das Weiße Haus angerufen und direkt mit Präsident Jefferson gesprochen. Er besteht immer noch darauf, die Sache als ›Unfall‹ zu bezeichnen. Was meinst du, Günther? Welche nachrichtendienstliche Erkenntnisse haben wir?« 107
»Unsere Leute sind überzeugt, dass es kein Unfall war. Das waren unsere besten Kampfpiloten. Unsere Top Guns. Ausgeschlossen, dass die miteinander kollidiert sind. Die amerikanische Presse hat berichtet, die Führungsmaschine sei explodiert, und Flammen und Flugzeugteile hätten die beiden anderen erfasst, da sie in enger Formation geflogen sind.« »Ist es überhaupt denkbar, dass ein Triebwerk explodiert, eine Treibstoffleitung geplatzt ist? Das waren immerhin unsere neuesten Flugzeuge.« »Denkbar ist alles, Klaus. Selbst bei Maschinen, die frisch vom Montageband kommen.« Joffe trank von seinem Kaffee. »Aber Teilnehmer unserer Beobachterdelegation erklärten, die drei Flugzeuge seien in diesem Moment nicht so nahe beisammen gewesen und fast gleichzeitig explodiert. Wir wissen es an diesem Punkt einfach noch nicht, aber mein Gefühl sagt mir, es war Sabotage. Ein Terrorakt, der auf uns abzielte.« »Aber wieso wir?«, fragte Kiepler. »Wir haben Afghanistan oder den Irak nicht bombardiert. Wir benehmen uns nicht wie Schwarzeneggers Terminator, der loszieht, um jeden radikalen Islamisten auf der Welt zur Strecke zu bringen. Wieso wir?« »Aber wir haben praktisch alles getan, was die Amerikaner von uns verlangten. Geheimdiensterkenntnisse mitgeteilt. Friedenssicherung … Vielleicht sind wir zu entgegenkommend, Klaus. Vielleicht stecken wir aus Sicht der Feinde Amerikas unter einer Decke mit ihnen. Oder, noch schlimmer, sie sehen uns wie die Briten ganz einfach als die Schoßhündchen der Amerikaner.« Joffe fing sich und unterdrückte eine Tirade, die er gerade anstimmen wollte. »Schon gut, Günther, das kränkt mich nicht«, sagte 108
Kiepler und legte Joffe kurz die Hand aufs Knie. »Ich habe die Umfragen ebenfalls gesehen. Überall macht sich eine antiamerikanische Stimmung breit, Deutschland ist da keine Ausnahme.« »Tut mir Leid, Klaus, es ist nur so, dass der Umgang mit ihnen immer schwieriger wird. Du weißt, wie wenig ich von unseren französischen Freunden halte. Aber sie erzählen uns seit Jahren von den Gefahren einer ›Hypermacht‹, die sich die Welt gefügig macht, und von der Notwendigkeit, Koalitionen gegen sie zu bilden. Ich gebe nur sehr ungern zu, dass sie Recht haben könnten. Die Amerikaner haben uns als irrelevant für ihren heiligen Krieg gegen den Terrorismus erklärt. Sie sind die wahren Krieger und wir die Friedenssicherer. Wir sind diejenigen, die hinterher die Sauerei wegmachen sollen, wenn sie mit ihrem futuristischen Waffenarsenal wieder unschuldige Zivilisten getötet haben. Als wären wir Straßenfeger, die einer Elefantenparade folgen. Deutschland hat etwas Besseres verdient.« Joffe verstummte, sein Frust legte sich schließlich wieder. Bundeskanzler Kiepler schwieg lange. Er erzählte Joffe nichts von der Beschwerde, die er in seiner Unterhaltung mit Jefferson vorgebracht hatte, weil die Amerikaner seine Bemühungen unterwanderten, Deutschland zu einem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrats zu machen. Aus Gründen, die Jefferson mit der Notwendigkeit einer »geografischen Ausgewogenheit« umschrieb, hatte sich Amerika zur Unterstützung des indischen Anspruchs und gegen Deutschland entschieden. War das nur eine weitere Vergeltungsmaßnahme für die ablehnende deutsche Haltung in Sachen Präventivkriege? Was glaubten die im Weißen Haus eigentlich, wie viel er noch schlucken würde? Schließlich erhob er sich, um zu signalisieren, dass die 109
Besprechung zu Ende war. »Du hast Recht, Günther. Wir müssen zusehen, dass wir von ihrem Schoß runterkommen. Ich rufe Jefferson noch einmal an. Wir müssen wissen, was passiert ist. Sie werden niemals zugeben, dass ihr Heimatschutzapparat schon wieder versagt hat. Sie werden es einen Pilotenfehler nennen. Wir dürfen uns das nicht mehr gefallen lassen.«
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10 WASHINGTON Als seine Limousine am Weißen Haus auf der unteren Ebene des Eingangs zum Westflügel hielt, stieg Santini aus und ging, von einem Sicherheitsbeamten begleitet, unter einem Baldachin bis zur Tür. Dann betrat er allein das Gebäude. Die Secret-Service-Mannschaft des Weißen Hauses teilte ihr Revier nicht gern mit den Sicherheitsleuten von Kabinettsmitgliedern und allen möglichen anderen Leibwächtern. Santini war kein gut aussehender Mann im klassischen Sinne. Seine Nase war nicht ganz gerade, nachdem sie zweimal gebrochen war. Einmal im Boxring und ein zweites Mal während einer der Folterrunden in den Händen der Nordvietnamesen. Er war fast einsachtzig groß, aber wegen seines kurzen, feisten Halses wirkte er kleiner. Was ihn herausragen ließ, war seine Präsenz. Er war ein Mann, der jeden Raum ausfüllte, den er betrat, und der die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich lenkte. Er hatte ein aufbrausendes Temperament, das er streng unter Kontrolle hielt, aber wenn es sein musste, konnte er es zu seinem Vorteil sichtbar werden lassen. Meist jedoch neigten die Leute dazu, aufgrund seiner Leiden als Kriegsgefangener über alle Fehler und Schwächen, die er haben mochte, hinwegzusehen. Außerdem war er einfach niemand, den man wütend machen wollte. Er betrat einen kleinen Vorraum und ging durch eine weitere Flügeltür, an der eine uniformierte Wache des 111
Secret Service nur nickte. Nach den Regeln und Traditionen des Weißen Hauses wurden Kabinettsmitglieder nicht gebeten, ihre Identifikationsmarken zu zeigen. Santini schritt an dem Wachmann vorbei in einen langen Flur, dessen Wände mit offiziellen Fotos des Weißen Hauses von den jüngsten Aktivitäten Präsident Jeffersons gesäumt waren. Linker Hand gab es einen Aufzug. Santini ging noch ein paar Schritte weiter und gelangte über eine kurze Treppe zu einer Tür in den Lageraum. Ein Kapitänleutnant der Marine, dessen goldene Achselschnüre ihn als Adjutanten auswiesen, erhob sich, salutierte und machte dem Marineinfanteristen an der Tür ein Zeichen, Santini eintreten zu lassen. Der Lageraum. Man stellte ihn sich gerne so groß wie ein Auditorium vor, mit drei Meter hohen Plasmabildschirmen, auf denen man Details von Satellitenaufnahmen bis zur Größe eines Wurmafters heranzoomen konnte. Reine Fiktion. Er war gerade geräumig genug für einen kleinen, rechtwinkligen Konferenztisch, um den herum zehn Personen in niedrigen, schwarzen Ledersesseln Platz fanden, und einen großen Bildschirm an einer Wand. Eher einer aufstrebenden, jungen Anwaltskanzlei angemessen, als der mächtigsten Nation der Welt. Joseph Praeger, der Sicherheitsberater des Präsidenten, saß am Kopfende des Tisches, am Platz der Macht. Damit brachte er, wenngleich selbst nur ein persönlicher, ernannter Berater des Präsidenten und kein Kabinettsmitglied, zum Ausdruck, dass dies sein Raum war und alle Anwesenden hier reine Untergebene. So war die Sache allerdings nicht gedacht. Praeger war ein Koordinator, er sollte nicht Entscheidungen treffen oder Politik machen. Seine Rolle bestand darin, die Positionen und Empfehlungen der Kabinettsmitglieder im Sicherheitsrat in Einklang zu bringen. Sie ausführlich zu 112
erörtern, um einen soliden Konsens herbeizuführen, damit der Präsident nicht täglich Schiedsrichter zwischen den Ministerien des Äußeren und der Verteidigung, der Finanzen und der Justiz spielen musste. Es stand dem Präsidenten frei, ihre Empfehlungen zurückzuweisen oder abzuändern. Aber er tat es selten, wenn man ihm eine einhellige Kabinettsposition präsentierte. Wenn es Praeger jedoch nicht gelang, eine Einigung zu erzielen, war es seine Pflicht, Unterredungen der Kabinettsmitglieder mit dem Präsidenten zu arrangieren, damit sie versuchen konnten, ihn von den Vorzügen ihres Standpunkts zu überzeugen. Es gab nicht viele solcher Momente. Santini bemühte sich nach Kräften, als Team Player aufzutreten. Aber seine Loyalität hatte Grenzen. Heute würde er zum Beispiel den Entschluss des Außenministeriums nicht absegnen, amerikanische Soldaten zur Friedenssicherung nach Israel zu schicken. »Sollen ausnahmsweise einmal die Europäer die Last auf sich nehmen«, verlangte Santini und schlug auf den Tisch, um seiner Nemesis im Sicherheitsrat klar zu machen, dass er diese Position bis vor den Präsidenten bringen würde. Praeger, dessen schmale, hohe Stirn ihm ein hartes, scharf geschnittenes Gesichtsprofil verlieh, mahnte Santini zur Mäßigung. »Wir sollten unser Urteil hier nicht durch Gefühlsregungen trüben lassen, meine Herren. Wir sind doch alle erwachsene Menschen. Also lassen wir die Wutausbrüche sein und wenden uns den Aufgaben zu, für die man uns engagiert hat.« Das war ein herablassendes und verlogenes Geschwätz von ihm. Er selbst ging fast immer los wie eine Leuchtrakete, wenn er seinen Willen nicht bekam. Nun versuchte er, sich als einen Quell der puren Vernunft hinzustellen. »Ich war wirklich sehr begeistert«, sagte Santini, »als Jefferson dem amerikanischen Volk im Wahlkampf 113
ankündigte, dass sein neues Team die Rettung bringen würde. Dass unsere Truppen nicht länger in kostspieligen Friedensmissionen vergeudet würden. Wie oft haben wir ihn in Wahlreden sagen hören, dass ›unsere Soldaten nicht zu Polizisten ausgebildet wurden, sondern dazu, diejenigen zu töten, die uns töten wollen.‹ Ihr werdet sie noch alle aus dem Militärdienst treiben. Die Rekrutierungszahlen sind im Keller, die Verpflichtungsdauer wird immer kürzer. Wann um Himmels willen bekommen sie eine Pause?« »Verschonen Sie uns mit diesem scheinheiligen Quatsch, Santini!« Mit Praegers Sanftmut war es schon wieder vorbei. »Sie treffen hier nicht die Entscheidungen. Meines Wissens macht das immer noch der Präsident. Vielleicht haben Sie ja in Verfassungsrecht nicht richtig aufgepasst. Vielleicht glauben Sie auch, Sie können immer noch den Einzelkämpfer für Ihre Wirrköpfe im Pentagon spielen. Sie haben hier in einem Team angeheuert. Niemand hat Sie gezwungen, den Job anzunehmen.« »Diese Wirrköpfe, von denen Sie sprechen, stehen rund um die Uhr an der Front, damit Sie hier am Daumen lutschen können, während Sie aller Welt einzureden versuchen, Sie wären eine Art strategisches Genie.« »Mein Herren«, unterbrach der Bariton des Außenministers den verbalen Schlagabtausch, der aus dem Ruder zu laufen drohte. Douglas Palmer, stets der elegante Patrizier mit seinen maßgeschneiderten englischen Anzügen und den Hemden mit aufgesticktem Monogram, erhob sich, trat zu einem kleinen Tisch nahe des Eingangs und griff nach einer Kaffeetasse. »Joe hat Recht, Michael. Wir haben es mit ernsten Dingen zu tun, die besonnen diskutiert werden müssen.« »Sehr nobel von Ihnen, Douglas«, gab Santini zurück. »Zumal das Außenministerium uns dazu verpflichten will, Kanonenfutter für die Bombenleger von Hamas und 114
Hisbollah zu werden.« »Mir gefällt die Vorstellung, GIs da rüberzuschicken, genauso wenig wie Ihnen. Ich habe einmal dieselbe stolze Uniform getragen wie Sie, Michael.« »Soweit ich mich erinnere, haben Sie dieselbe stolze Uniform hinter einem Schreibtisch auf Hawaii getragen. Als was taten Sie gleich noch Dienst? Journalist? Propagandaoffizier?« Palmer ignorierte Santinis Versuch, ihn aus der Reserve zu locken. »Es tut mir aufrichtig Leid, was Ihnen in Vietnam widerfahren ist, Michael«, sagte er, ohne sich allzu bedauernd anzuhören. Während das Wortgefecht weiterging, betrat Jack Pelky, der Director of Central Intelligence, den Raum. Der DCI war ein neu geschaffenes Amt, eine Art Koordinator aller Geheimdienste. Mit ihm kamen FBI-Direktor William McConnell und Justizminister Gregory Fairbanks. Und rechts von McConnell zwängte sich eine Frau in die Runde, die Santini auf Anhieb wiedererkannte. Mehr als vier Jahre waren vergangen, seit er zuletzt mit Leslie Knowles zusammen gewesen war. Sie hatten sich auf einer Veranstaltung des Rates für auswärtige Beziehungen in New York kennen gelernt. Damals gehörte sie zu einer Sondergruppe des FBI zur Bekämpfung der Drogenkriminalität. Man hatte sie gebeten, vor dem Rat einen Vortrag über Verbrecherorganisationen zu halten, die im Raum New York tätig waren. Santini hatte sich sofort von ihr angezogen gefühlt. Leslie war aus einem anderen Holz geschnitzt als die FBIAgenten, die er bis dahin kannte. Schlank und sportlich wirkend, kleidete sie sich mit einer lässigen Eleganz. Die goldene Cartier-Uhr, die ihr linkes Handgelenk zierte, verriet Santini noch etwas: 115
Entweder sie verfügte über zusätzliche Mittel zu ihrem Beamtengehalt, oder sie lebte über ihre Verhältnisse. Er bezweifelte allerdings die letztere Möglichkeit. Deutlicher hätte sie die internen Aufpasser des FBI nicht auf sich aufmerksam machen können. Andererseits, wie oft hatten sie gerade das Augenfällige übersehen? Wie auch immer, ihre gesamte Erscheinung wirkte zusammen mit ihrer offenkundigen Intelligenz wie ein Magnet auf ihn. Es gelang Santini, sie im Anschluss an die ausgedehnte Fragerunde mit Wall-Street-Bankern und führenden Medienvertretern in ein beiläufiges Gespräch zu verwickeln. Außer Hörweite der anderen schlug er ihr einen Schlummertrunk in der Bar eines Hotels vor. Zuletzt landeten sie dann in dem Appartement, das er im River House unterhielt, bei einem Liebesmarathon, an dessen Ende sie die Sonne über dem East River aufgehen sahen. Ihre Affäre erwies sich als ebenso heftig wie kurzlebig. So attraktiv Leslie auch war, Santini wusste, sie half ihm nur über die Wunden seiner kurz zuvor erfolgten Scheidung hinweg. Er mochte Leslie, aber er liebte sie nicht. Es gab nur eine Frau auf der Welt, die seine Gedanken beherrschte. Elena. Und die würde für immer ein Geist bleiben, ein Trugbild, eine Vision, die ihn in schlaflosen Nächten heimsuchte. Eine Liebe, die zu Ende gewesen war, ehe sie begonnen hatte. Er trennte sich einigermaßen freundschaftlich von Leslie. Falls sie ihm noch etwas übel nahm, ließ sie sich nun jedenfalls nichts anmerken. Sie blickte ihn mit kühler Professionalität an, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. Santini entschied, dass es das Klügste war, den Augenkontakt mit ihr auf ein Minimum zu beschränken. 116
Vor jedem lag eine blaue FBI-Mappe. Pelky hatte sich neben Santini niedergelassen. Der beugte sich zu dem DCI hinüber und flüsterte: »Worum zum Teufel geht es hier?« »Irgendeine Geldwäscheangelegenheit, wenn ich McConnell recht verstanden habe.« »Mag ja sein, dass sich Ihr Laden mit solchem Zeug befasst, aber ich habe eine Menge anderer Dinge am Kochen. Wie zum Beispiel Special Forces im Iran«, sagte Santini laut genug, um einen fragenden Blick von Fairbanks auf der anderen Tischseite zu provozieren. »Was zum Teufel habe ich hier verloren?« »Michael!«, rief Fairbanks mit seiner hohen Stimme und einem leicht britischen Akzent, Folge seines langen Aufenthalts als Fulbrightstipendiat in Oxford. »Guten Morgen. Sie sehen miesepetrig aus wie immer. Lächeln Sie! Wir haben einen Gast.« Fairbanks wandte den Blick zu Knowles. »Darf ich Ihnen Inspector Leslie Knowles vorstellen. Eine ausführlichere Vorstellung wird es geben, wenn …« »Fangen wir an«, unterbrach Praeger und schaute auf die Uhr. »Sie haben mir versichert, dass das, was Sie zu berichten haben, es wert ist«, er warf einen Seitenblick auf Knowles, »auf dieser Ebene präsentiert zu werden. Ich habe exakt achtzehn Minuten Zeit.« Er wartete einen Moment und runzelte die Stirn. »Nun, Greg?« Fairbanks nickte. »Sie haben alle Macs ausgezeichneten Bericht darüber vor sich liegen, was sich bei den bösen Buben in Russland tut.« Santini schaute auf die Mappe an seinem Platz. Sie sah aus wie beim FBI üblich: blauer Deckel, FBI-Siegel, der Aufdruck STRENG GEHEIM und der Titel: Kriminalität in Schurkenstaaten. Er klappte sie auf und blätterte die 117
Seiten durch. Manche Worte und Begriffe stachen ihm ins Auge: … chinesische Raketen … russische Hubschrauber … Eine Karte der Vereinigten Staaten zeigte FBIErmittlungen über die russische Mafiya in Boston, New York, Newark, Philadelphia, Los Angeles, Miami und mehreren anderen Städten der USA. Fairbanks leierte weiter seinen Bericht herunter, wobei er einige der Wörter benutzte, die Santini aufgefallen waren. Dieser gab Praeger nur ungern Recht, aber das war kein Material für die Kabinettsebene. »Deshalb möchte ich ohne weiteres Aufhebens an FBI-Direktor McConnell abgeben«, schloss Fairbanks und setzte sich. Er tätschelte Leslie Knowles Arm, und Santini bemerkte, wie ein leichtes Stirnrunzeln über ihr faltenloses, honigbraunes Gesicht huschte. McConnell, der Polizeichef in Boston gewesen war, ehe er Chef des FBI wurde, stand auf, um zu sprechen. Fairbanks hatte Santini einmal erzählt, es gäbe nur eine Sache, die man über McConnell wissen musste: Das Geschenk, das er bei seinem Abschiedsbankett in Boston erhielt, war ein schwarzes Sweatshirt; auf dessen Rückseite stand FBI und auf der Brust Legt an … und Feuer! McConnell drehte sein kantiges Kinn in Richtung Praeger und sagte: »Der Justizminister hat Ihnen sein Wort aufgrund meines Wortes gegeben, Joe. Sollten Sie also am Ende finden, das Ganze sei Zeitverschwendung gewesen, dann geben Sie mir die Schuld.« Er blickte Santini über den Tisch hinweg an. »Und Sie werden bald verstehen, warum Sie eingeladen wurden, Michael.« McConnell nickte in Richtung Leslie Knowles. »Inspector Knowles wird für das FBI sprechen. Sie hat in allen wichtigen Abteilungen gearbeitet und einige nette 118
Undercover-Aktionen durchgeführt, von denen nur sehr wenige Leute wissen. Sie ist eine unserer Allerbesten. Ihr letzter Posten war der eines FBI-Justizattachés in Moskau, wo man sie beinahe ermordet hätte – aber sie hat ein paar von den Bösewichtern ein Bullauge in die Stirn geschossen. Das Ganze wurde vom State Department und vom russischen Außenministerium gemeinschaftlich vertuscht, wobei Letzteres höflich darum bat, dass wir sie nach Hause zurückholen. Jetzt leitet sie das, was die Leute im Hauptquartier das Akte-X-Büro nennen, weil es so geheim ist, dass selbst der Name der Geheimhaltung unterliegt. Es ist das Büro, das sich mit der Kriminalität in Schurkenstaaten beschäftigt, und wir müssen es unter anderem deshalb so geheim halten, weil es sonst heißen könnte, wir wildern in Doug Palmers Revier.« Der Protokollant hinter dem Außenminister begann, hektisch mitzuschreiben. McConnell kehrte zu seinem formellen Berichtston zurück. »Ich habe Inspector Knowles gebeten, die Angelegenheit auf Kabinettsebene vorzutragen, weil ich glaube, dass die Aktivitäten des organisierten Verbrechens in Russland, vor allem die einer Gruppe, die als Der Garten bekannt ist, in vielerlei Hinsicht eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten darstellen. Der Garten operiert in einem Land, das nach außen hin den USA freundlich gesinnt ist, in dem es jedoch ein gewaltiges kriminelles Element gibt – die Mafiya, wenn man so will –, das praktisch jeden Aspekt des Lebens in Russland beherrscht. Der Garten wird seinem Namen vollauf gerecht. Er stammt aus einer Zeile in Tschechows Stück Der Kirschgarten: ›Ganz Russland ist unser Garten‹. Seine Fangarme reichen über das ganze Land, die ganze Welt. Der Garten befasst sich mit Menschenschmuggel, Devisenbetrug, 119
Drogenhandel, Erpressung, Urkundenfälschung, Prostitution. Und nun kommen wir zu dem Grund, weshalb Sie hier sind, Michael. Wir glauben, dass Der Garten zunehmend in den Handel mit Material für Nuklearwaffen verstrickt ist, darunter Zündvorrichtungen und schweres Wasser.« McConnell wandte sich an Knowles. »Okay, Leslie, legen Sie los.« Leslie Knowles stand nicht auf. Sie nahm eine Fernbedienung zur Hand, klickte sie an, und auf dem großen Monitor erschien eine Weltkarte. Santini grinste innerlich. Er hatte schon Vier-Sterne-Generale fluchen und rot anlaufen sehen bei dem Versuch, das Ding zu bedienen. »Zentren der von Schurkenstaaten ausgehenden Kriminalität gibt es rund um den Globus«, sagte sie. Rote Punkte auf der Karte markierten Moskau, St. Petersburg, Kabul, Hongkong, Taipeh, Bangkok, Yunnan, Caracas, Bogota. So weit keine Überraschung, dachte Santini. Aber Frankfurt, London, Vancouver, Toronto, New York, Miami, Los Angeles? Knowles bemerkte Santinis Stirnrunzeln. »Wir behaupten nicht, dass Deutschland, Kanada und Amerika Schurkenstaaten wären. Aber Schurkenstaaten exportieren Verbrechen und Verbrecher genauso, wie Rechtsstaaten rechtmäßige Produkte exportieren«, erklärte sie. »Russische und chinesische Kriminelle bauen Verbindungen in den großen chinesischen Bevölkerungsgruppen in Vancouver, Toronto und New York auf. Sie finden das in dem Bericht genauer ausgeführt, den wir verteilt haben. Und nun kommen wir, wie Direktor McConnell schon sagte, zu dem Grund, warum Sie, Mr. Santini, als Verteidigungsminister hier sind. Das Schurkenbüro, wie wir es nennen, entstand aus dem Rechtsattaché-Programm des FBI. Wie Sie wissen, hat das FBI in vielen US120
Botschaften Agenten stationiert. Die Idee dabei war, mit den Ermittlungsbehörden der Gastländer zusammenzuarbeiten, wenn es um Fälle ging, die sowohl das Gastland als auch die Vereinigten Staaten betrafen. Aber ich merkte bald – wie Direktor McConnell erwähnte, war ich einige Zeit in Moskau –, dass es häufig unmöglich war, einen Polizeibeamten von einem Mitglied der russischen Mafiya zu unterscheiden. Manchmal waren sie tatsächlich beides. Als ich nach dem Zwischenfall, von dem Direktor McConnell sprach, nach Washington zurückkehrte, regte ich an, dass die US-Regierung nach Wegen suchen sollte, mit der Kriminalität in Schurkenstaaten umzugehen. Durch die Bemühungen von Sicherheitsberater Praeger wurde eine geheime Anordnung des Präsidenten zur Gründung des Schurkenbüros erlassen, das mit Vertretern des Außen- und Justizministeriums sowie der CIA besetzt ist und in dem das FBI als Führungsbehörde fungiert.« Santini sah Doug Palmer überrascht an. Palmer hatte eine Direktive versandt, der zufolge das Außenministerium gewisse Länder nicht weiter als »Schurkenstaaten« bezeichnen würde. Laut Palmer sollten sie nun »Nationen von besonderem Interesse« heißen. Aber Praeger und McConnell blieben jetzt bei »Schurken«. Ein weiterer Pfeil Praegers in Richtung Palmer. »Mehr als sieben Milliarden Dollar haben die Vereinigten Staaten allein in den letzten zwölf Monaten illegal verlassen«, sagte Knowles. »Sie sind hauptsächlich durch Scheinfirmenkonten bei der Amalgamated Bank of New York geflossen. Das Geld wird gewaschen, um kriminelle Unternehmen zu maskieren und russische Steuer- und Zollpflichten zu umgehen. Die Bank hat sogar die Übergabe von 500000 Dollar Lösegeld an russische Mafiya-Gangster abgewickelt, die einen Moskauer Bankier 121
entführt hatten. Sie töteten ihn, nachdem sie das Geld bekommen hatten – in frisch gedruckten Hundertdollarscheinen, nebenbei bemerkt. Wir haben die Transaktion mit Hilfe von einem unserer Moskauer Spione zurückverfolgt.« »Euer was?«, fragte Pelky und fuhr fort, ehe Knowles antworten konnte. »So wie ich das Abkommen zwischen FBI und CIA über die Justizattachés verstanden habe, sind wir fürs Spionieren zuständig und ihr für die Rechtsberatung. Warum zum Teufel weiß ich von der Sache nichts?« »Ich bin mir sicher, Direktor Pelky«, erwiderte Knowles ruhig, »Sie werden in einem der letzten Kabel unseres Moskauer Stützpunktchefs einen Vermerk zu diesem Fall finden, Codename Grapple. Ich fürchte, er hält diesen Fall für nicht so wichtig und hat den Vermerk deshalb wahrscheinlich so tief vergraben, dass er Ihnen nicht aufgefallen ist. Der Spion – oder Informant, wenn Ihnen das lieber ist – wurde eine Woche nachdem er uns den Namen des New Yorker Kontakts verriet durch eine Autobombe getötet.« Sie wandte sich wieder an alle Anwesenden. »Wie gesagt, wir haben die Transaktion bis zur Amalgamated Bank verfolgt und herausgefunden, dass ein gewisser Arthur C. Cartwright, ein Executive Vice President der Bank, die Geldgeschäfte der Mafiya abwickelte. Mr. Cartwright hat sich angesehen, was wir gegen ihn und die Bank in der Hand hatten – darunter Unterstützung krimineller Machenschaften, Betreiben eines illegalen Unternehmens des Geldverkehrs und Steuerhinterziehung –, und erklärte sich einverstanden, mit uns zusammenzuarbeiten. Als Gegenleistung dafür, dass wir die Vorwürfe fallen ließen und ihm die Aufnahme in das staatliche Zeugenschutzprogramm garantierten, verpflichtete sich Cartwright, bei einem Prozess gegen den New Yorker Boss der Mafiya 122
auszusagen und uns außerdem zu erzählen, was er über die Geldwäscheoperationen in Russland wusste. Als ich seinerzeit in Moskau war, erhielt ich Kenntnis, dass die Mafiya – die Russen haben sich den Namen ganz selbstbewusst angeeignet und ihm eine russische Aussprache gegeben – enge Verbindungen zu einem Banken- und Ölimperium besitzt, das von Wladimir Berzin kontrolliert wird, einem prominenten russischen Finanzier und engen Freund von Präsident Alexander Gruschkow, der vor kurzem bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam. Berzin war einer der wenigen Oligarchen, die Gruschkow nicht verhaften und ins Gefängnis stecken ließ. Vielleicht, weil er Berzins Kontakte zum KGB fürchtete. Berzin ist nach unserer Überzeugung der geheime Chef des Gartens. Der sichtbare Kopf oder Straßenboss ist ein Tschetschene namens Tago, ein Überlebender der Bandenkriege in den Neunzigerjahren. Wir haben Berzin mit einigen früheren Versuchen in Verbindung gebracht, Nuklearmaterial aus Russland hinauszuschaffen. Gott sei Dank ist nichts passiert, deshalb wissen nicht allzu viele Leute davon. Ein radioaktiver Behälter mit Strontium 90 in Kiew, ein Pfund schwach angereicherte Uran-235-Brennkügelchen in Georgien, ein wenig radioaktives Material, das ein russischer Armeeoffizier vom Raumfahrtzentrum Baikonur in Kasachstan gestohlen hat. Unbedeutendes Zeug, das Werk kleiner Fische. Wir glauben jedoch, dass sich Berzin nur warmgelaufen hat. Seine Leute – unter denen viele ehemalige Offiziere oder Deserteure sind – wurden in Wladiwostok gesichtet, wie sie ihre Fühler nach Uran ausgestreckt haben und vielleicht nach Raketen von den Atom-U-Booten der Nordmeerflotte, die in den Docks vor sich hin rosten.« 123
Santini bemerkte, wie Pelky und Praeger, die bisher gelangweilt dreingeschaut hatten und sichtbar nicht bei der Sache gewesen waren, im selben Moment schlagartig bewusst wurde, was Knowles da sagte. Die FBI-Beamtin drückte auf die Fernbedienung, und auf dem Bildschirm tauchte das Bild eines Mannes auf. Hohe Wangenknochen und schmale Lippen ließen das Gesicht lang erscheinen. Die Augen waren dunkel und halb geschlossen. Das Haar war dunkelbraun und ohne Scheitel nach hinten gekämmt. Der Mann saß offenbar an einem Restauranttisch. Vor ihm war ein leerer Teller mit Goldrand und silbernes Besteck auf einem cremeweißen Tischtuch zu sehen. Rechts von ihm saß, das Gesicht von der Kamera abgewandt, eine Frau, deren silbernes Kleid makellose Brüste und Schultern einfasste. Eine Weinflasche und ein Kristallglas standen am linken Rand des Bildes, das leicht unscharf war und das verstohlene Aussehen eines Überwachungsfotos hatte. »Wladimir Berzin«, sagte Knowles. »Nach diesem Foto hat Mr. Cartwright ihn als den Mann identifiziert, der den Geldflieger New York – Moskau, wie er genannt wird, in Empfang genommen hat.« Sie beschrieb kurz, wie Berzin und Cartwright den Geldflieger einsetzten. »Cartwright befand sich auf einem Flug, der am 12. März in Moskau eintraf. Er kam nicht zurück. Die Vernehmung des Piloten ließ darauf schließen, dass Mr. Cartwright das Flugzeug freiwillig verließ. Der Pilot sagte aus, ein brutal aussehender Mann sei nach dem Entladen an Bord gekommen und habe ihm befohlen, aufzutanken und zu starten. Üblicherweise war es Mr. Cartwright, der den Befehl zum Start gab. Auf die Frage des Piloten nach Mr. Cartwright wollte ihm der Mann keine Antwort geben. Er wurde wütend und herrschte den Piloten an, keine weiteren Fragen zu stellen. Der Pilot gehorchte. Die 124
Maschine flog nach dem Auftanken zurück. Wir glauben, dass Mr. Cartwright auf Befehl von Berzin ermordet wurde – ein typisches Schicksal aufsässiger Bankiers in Russland. Allein im letzten Jahr fielen mehr als vierzig russische Bankiers einem Mord zum Opfer. Wir schätzen, dass Berzins Garten Zugriff auf mehr als fünftausend organisierte Verbrechergruppen unterschiedlicher Struktur und Größe mit insgesamt rund hunderttausend Mitgliedern hat. Mindestens zwei Dutzend dieser Gruppen sind in den Vereinigten Staaten aktiv. Russische Verbrecherbanden sind etwa zehnmal größer als unsere eigene Mafia. Ich werde nicht auf die Machenschaften der russischen Kriminellen in den Vereinigten Staaten eingehen – etwa, dass sie fast 200 Millionen Liter Benzin pro Monat kontrollieren und damit jeden Monat sieben Millionen Dollar an Bundessteuer hinterziehen. Oder die Betrügereien im Gesundheitswesen, die darauf abzielen, Mittel von MediCare in die Taschen der Verbrecher zu lenken. Wir haben es mit Berzins Organisation vory v zakone oder ›Schwiegerdiebe‹ zu tun, die vom russischen Untergrund als Elite anerkannt wird. Ihre Mitglieder akzeptieren nur Berzin als ihren absoluten Herrscher. Inhaftierte Kriminelle unterliegen weiter dem Kodex von vory v zakone. Die Mitglieder der Organisation sind wie die ›made men‹ der amerikanischen Mafia. Wir haben den Verkauf von Plutonium und Uran in Mengen und Anreicherungsgraden beobachtet, die weit unter einem waffenfähigen Niveau liegen. Aber wir sind nun überzeugt, diese Verkäufe sollen nur verschleiern, dass Atomwaffen und hoch angereichertes, waffenfähiges Nuklearmaterial an China verkauft werden. Das russische Innenministerium hat kürzlich einen Todesfall untersucht, der auf extrem hohe radioaktive Strahlung zurückging. Durch den bereits erwähnten Spion in Moskau, der 125
ermordet wurde, haben wir erfahren, dass Berzin dabei ist, China mit hoch entwickelten Waffen zu beliefern.« Knowles hielt inne, als wollte sie Santini absichtlich die Gelegenheit geben zu unterbrechen. »Vieles von dem, was Sie sagen, Inspector, ist nur auf den neuesten Stand gebrachtes Material. Ich weiß aus Berichten der CIA und DIA von den russisch-chinesischen Waffengeschäften dieser Mafiya. Aber ich muss zugeben, dass ich noch nie von dem Garten oder von diesem Berzin gehört habe.« »Ich habe aus bitterer Erfahrung gelernt, Mr. Secretary, dass so genannte niedrige Geheimdienstarbeit, besonders HUMINT, oft nicht ihren Weg zu den höheren Ebenen der Regierung findet«, sagte Knowles. »Ich bin mir ganz sicher, dass sich Informationen über den Garten sowohl in den Unterlagen der CIA wie auch der DIA befinden.« Bevor sie fortfahren konnte, warf Pelky Santini einen Blick zu; Knowles sah den Blick offenbar, ebenso wie Santinis bestätigendes Nicken. »Wenn Sie wünschen, Mr. Secretary, kann ich eine Ergänzung zu dem Bericht anfertigen, den Direktor McConnell heute hier verteilt hat.« »Danke, Inspector Knowles. Wenn ich nach Durchsicht des Berichts noch weitere Informationen benötige, werde ich darauf zurückkommen. Bitte fahren Sie fort.« Knowles schilderte nun, wie Berzin den Erwerb einer Infrarot-Wärmebildkamera für die chinesische Regierung in die Wege geleitet hatte. Die Kamera, die bei chinesischen Raketen und Aufklärungssystemen eingesetzt werden sollte, ging in China sofort in Produktion. Ein Prototyp der Kamera war von einem russischen Emigranten, der für den Garten arbeitete, aus einer Fabrik in Baltimore gestohlen worden. Knowles erzählte auch, dass Berzin an einem 126
komplizierten Handel beteiligt gewesen sei, bei dem nicht explodierte US-Raketen vom Typ Tomahawk von Afghanistan nach China geschmuggelt wurden. Ein andermal hatte Berzin angeblich persönlich den Verkauf von drei Frühwarnflugzeugen des Typs Beriev A50E, das dem amerikanischen AWACS-System ähnelt, an China abgewickelt. Er hatte auch für den Transfer von chinesischen Flugabwehrraketen an Nordkorea gesorgt. »Solche Geschäfte dürften eigentlich nur auf Regierungsebene abgewickelt werden«, sagte sie. »Aber Berzin hat derart hochrangige Kontakte in China aufgebaut, dass man ihm die Abwicklung des Handels gestattete. Und er hat Verbindungen zur höchsten Ebene der russischen Regierung.« Als Knowles zu Drogengeschäften überging, begann Santini das Interesse zu verlieren – bis sie Berzin erneut mit China in Verbindung brachte, einem Land, das für Santini von vorrangigem Interesse war. Sie erzählte von Berzins Rolle beim Ausbau eines Heroinhandelswegs von Myanmar nach China, von wo das Zeug, teilweise unter Verwendung der alten Seidenstraße, über Kirgisien und Kasachstan schließlich nach Russland gelangte und über ganz Europa verteilt wurde. »Berzin«, fuhr sie fort, »finanziert außerdem eine hochmoderne Heroinraffinerie in Tadschikistan und baut eine Opiumproduktion in Tadschikistan, Kirgisien, Turkmenien und Usbekistan auf. Sein Ziel scheint die Schaffung einer Heroinindustrie in diesen ehemaligen Sowjetrepubliken zu sein, einer Industrie, die mit dem traditionellen, chinesisch dominierten Heroinhandel von Myanmar über Yunnan nach Hongkong konkurrieren kann. Berzins nächster logischer Schritt wäre dann eine 127
Transaktion zur Übernahme des Handelsweges, auf dem Heroin nach New York geliefert wird, und zwar via Vancouver und Toronto, beides Städte mit großen chinesischen Bevölkerungsgruppen. Seine kriminellen Verbindungen zu China wurden jüngst um ein neues Geschäft erweitert, ein Unternehmen zum Drogenschmuggel über Panama, mit chinesisch kontrollierten Scheinfirmen an beiden Enden. Diese Firmen werden vom chinesischen Militär betrieben, der Volksbefreiungsarmee. Gleichzeitig scheint Berzin seine kriminellen Verbindungen und die Medienunternehmen, die er besitzt oder kontrolliert, dazu zu benutzen, scharf gegen den Heroinschmuggel in Russland selbst vorzugehen.« Knowles beendete ihre Präsentation zügig, indem sie ein spinnennetzartiges Diagramm auf den Schirm projizierte, das Berzins kriminelles Netzwerk zeigte. Santini schaute in den Bericht, der vor ihm lag, und sah dann hoch zu der Farbdarstellung auf dem Schirm. Knowles LiveDarbietung fiel nun mit den konservierten Fakten und Zahlen im Bericht zusammen. Wenn diese Übereinstimmung auftrat, war sie das sichere Zeichen dafür, dass ein Briefing in Washington zu Ende war. Noch ehe Knowles ihr »Ich danke Ihnen für die Gelegenheit …« ausgesprochen hatte, begannen alle Anwesenden aufzustehen, Sicherheitsberater Praeger voran. Ein Mann in Eile, dachte Santini, als er den Bericht in seiner abgenutzten braunen Aktentasche verstaute. Er machte sich auf den Weg zur Tür in der Hoffnung, eine peinliche Begegnung mit Leslie vermeiden zu können, als er einen Blick von Pelky auffing, der ihn mit einer Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen. Draußen dirigierte der DCI Santini in eine menschenleere Ecke des Flurs. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wir haben ein kleines Problem, Michael«, sagte er. 128
Santini lächelte. Er hatte diesen Satz schon viele Male gehört. Er bedeutete immer: Wir haben große Probleme. In seiner letzten Amtsperiode im Senat war Santini Vorsitzender des Geheimdienstausschusses gewesen. Pelky, ein kleiner, kräftig gebauter Afroamerikaner fungierte als Leiter des entsprechenden Ausschusses im Repräsentantenhaus. Die beiden hatten viele lange Stunden im vierten Stock des Kapitols verbracht, in den dunklen Höhlen, wo sich die Ausschüsse trafen und die tiefsten Geheimnisse der Nation besprachen. Dort hatten Santini und Pelky eine Freundschaft geschmiedet, die über das übliche Schulterklopfen auf dem Capitol Hill hinausging. Als der damalige Director of Central Intelligence zurücktrat, nachdem man ihm die Verletzung von Sicherheitsstandards vorgeworfen hatte, weil er seine Frau bei einem geheimen Briefing anwesend sein ließ, war Pelkys Name auf einer langen Liste möglicher Nachfolger aufgetaucht. Santini machte seinen Einfluss geltend, um Pelkys Namen auf die kurze Liste des Präsidenten zu bringen, und setzte sich im Weißen Haus für ihn ein. Pelky hatte das Kunststück fertig gebracht, nach der Wahl Jeffersons als Geheimdienstchef zu überleben. Aber nun kursierten Gerüchte, dass Jefferson seiner überdrüssig wurde und ihn demnächst auf die Vortragsrunde als Privatmann schicken wollte. Pelky zeigte das argwöhnische Aussehen eines Menschen, der nicht weiß, ob er springen soll oder warten, bis er geschubst wird. Aber Santini setzte großes Vertrauen in Pelky. Nachdem er Verteidigungsminister geworden war, kamen die beiden Männer oft zusammen, um Dinge zu besprechen, und manchmal erreichten sie eine Klärung, ohne dass ihr jeweiliger Stab davon erfuhr oder Memos für die Akten geschrieben wurden. Santini wusste, dies würde eine solche Zusammenkunft werden. 129
»Geht es bei diesem Problem um Zuständigkeiten, Jack?« »Das ist nur ein kleiner Teil davon. Das FBI drängt sich schon seit den Tagen von J. Edgar in die Geheimdienstarbeit. Das ist nichts Neues. Aber diese Sache mit den ›Rechtsattachés‹ gerät aus den Fugen. Praeger baut eine besondere Beziehung zu McConnell auf, um das FBI zu einer Art privaten Nachrichtensammeldienst für den Nationalen Sicherheitsrat zu machen. Als DCI sollte ich in Bezug auf das CIA keine Kirchturmpolitik machen. Aber manchmal komme ich mir blöd vor in meiner Doppelrolle, und das ist so ein Moment. Egal, was in der Organisationstabelle der Dienste steht, ich bin zuerst und vor allem Director of Central Intelligence. Jedenfalls kann ich leisten, was man von mir erwartet – nämlich dafür zu sorgen, dass Geheimdiensterkenntnisse zu den richtigen Leuten kommen, die sie dann wahrscheinlich sowieso ignorieren. In diesem Punkt hat Leslie Knowles absolut Recht. Nein, Michael, es geht um ernstere Dinge als um Zuständigkeiten. Um etwas, das noch über Top Secret und Codenamen hinausgeht. Ein Vorgang, der sich nicht einmal in meinem Bürosafe befindet. Ich muss es dir erzählen, weil ich deinen Rat brauche, was ich mit ihm anstellen soll.« »Mit ihm? Von wem redest du?« »Ich mag nicht einmal seinen Namen laut aussprechen. Es ist dieser gewisse Herr, den Leslie Knowles immer wieder erwähnt hat. Sie hat uns zwar eine Menge über ihn erzählt, aber es gibt einige Dinge, die sie nicht erzählt hat. Ich …« Pelky sah an Santinis Kopf vorbei. Santini drehte sich um, gerade blieb Gregory Fairbanks hinter ihnen stehen. »Na, was heckt ihr beiden denn hier aus?«, sagte er. »Werde ich wohl einen Sonderermittler einsetzen müssen?« Santini hielt Fairbanks für einen genialen Apparatschik, 130
der das Justizministerium in demselben lässigen Stil leitete, in dem er Washingtons angesehenste Anwaltskanzlei geführt hatte. Er blieb stets unverbindlich und nach außen liebenswürdig, während er innerlich wachsam und sehr clever war. »Nur ein kleiner Putsch, Greg«, sagte Santini. »Kein Grund zur Sorge. Jack will die 101. Luftlandedivision einsetzen, und ich verkaufe sie ihm gerade. Schurkenzeug eben.« »Na, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie einen guten Schurkenanwalt brauchen«, erwiderte Fairbanks und setzte seinen Weg zum Aufzug fort. »Wir fallen hier auf, Jack«, sagte Santini. »Schnell, was hast du auf dem Herzen?« »Berzin. Wir haben gerade aufgeschnappt, dass er vorhat, bei der vorgezogenen Präsidentschaftswahl zu kandidieren, die für Ende April angesetzt ist.« »Dann hat er ja weniger als zwei Monate Zeit«, sagte Santini. »Er wird Millionen in den Wahlkampf investieren, um sich das Amt zu kaufen.« »Du lieber Himmel. Ein Unterweltkönig, der ganz offen Russland regiert. Das ist, als wäre Dapper Dan Gotti Präsident der Vereinigten Staaten. Aber du sagtest, es gäbe noch andere Dinge, die uns Knowles nicht erzählt hat?« »Wir können es nicht beweisen, aber wir sind überzeugt, Berzin hat Präsident Gruschkow umbringen lassen. Wie du weißt, hatte Gruschkow schon seit Monaten gekränkelt. Es gibt einige Hinweise, dass er vergiftet wurde. Aber nicht durch Alkohol. Ob du es glaubst oder nicht, er war gar kein Trinker. Wir vermuten inzwischen, dass Berzin dahinter steckte. Schließlich wurde er ungeduldig und hat den Raketenangriff eingefädelt, bei dem Gruschkows 131
Hubschrauber in Tschetschenien abgeschossen wurde, als er Militäreinheiten besuchte. Berzins Garten hat viele Bäume in Tschetschenien.« »Ein Präsidentenmörder als Präsident!« Pelky nickte, beugte sich näher zu Santini und raunte: »Und das ist noch nicht alles.« »Was denn noch?« »Er hat jahrelang für uns gearbeitet. Er war unser größter Aktivposten seit dem Zerfall der Sowjetunion.« »War?« »Er steht nicht mehr auf unserer Gehaltliste. Er hatte vor etwa einem Jahr ein Treffen mit seinem Führungsoffizier in Wien, und teilte ihm mit, er sei draußen. Außerdem eröffnete er dem Führungsoffizier, er werde ihn umbringen lassen, wenn ihn die CIA nicht sofort nach Langley zurückholte und dafür sorgte, dass er den Mund hielt. Ich zog den Mann umgehend ab. Wir fürchteten die Macht dieses Burschen wirklich, vor allem, was Morde anging. Damals wusste ich noch nichts von seinen politischen Plänen. Jetzt sehe ich ein unglaubliches Szenario: Wir können ihn wieder für uns arbeiten lassen – als Präsident! Ihm ist klar, wir könnten ihn damit bloßstellen, dass er für uns gearbeitet hat.« »Wer weiß von der Sache?« »Auf seiner Seite vermutlich niemand, der noch lebt. Auf unserer Seite ich und weniger als fünf Leute. Und ich würde mein Leben darauf verwetten, dass keiner von denen jemals etwas über ihn verlauten lässt, egal, was kommt.« »Wie sieht es mit dem Kongress aus?« »Nichts. Du weißt, dass wir immer versuchen, sie bei verdeckten Geschichten so weit wie möglich im Dunklen zu lassen.« 132
»Wir müssen einen Termin finden, um die Sache zu besprechen, am üblichen Ort. Lass mich kurz darüber nachdenken, ich rufe dich dann an. Wie die Chinesen sagen, wir sind dazu verflucht, in interessanten Zeiten zu leben.« »Du sagst es. Apropos Chinesen – McConnell und Knowles irren, wenn sie glauben, irgendwelche Mafiosi hätten die Wärmebildkamera gestohlen. Das war ein Insiderjob, ein Spionageauftrag. Es gibt einen Spion im System. Wir werden auch darüber reden.« Kaum hatte Santini die gepanzerte Limousine bestiegen und Curtis das Blaulicht eingeschaltet, um zum Pentagon zurückzujagen, als der Minister begann, über sein Gespräch mit dem DCI nachzudenken. Pelky hatte nur die Hälfte der Gleichung dargelegt. Vielleicht wusste er, dass er dem früheren Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses im Senat nicht alles bis ins Detail erklären musste. Natürlich bot die Aussicht, eventuell den künftigen Präsidenten von Russland am Haken zu haben, faszinierende Möglichkeiten. Die CIA könnte ihn drängen, gewissen »Vorschlägen« seiner alten Freunde zu folgen oder aber zu riskieren, dass sie ihn bloßstellten. Aber das Schwert, das sie damit in der Hand hielten, war zweischneidig und sehr scharf. Es konnte ganz leicht die Hand abtrennen, die es schwang. Vor allem, wenn man es mit jemandem zu tun hatte, der so brutal und verschlagen war wie Berzin. Wenn die CIA ihre Karten überreizte, konnte Berzin einer Bloßstellung zuvorkommen und dem russischen Volk erklären, er habe Uncle Sam schwer an der Nase herumgeführt. Sie hätten ihn hübsch bezahlt, damit er Mütterchen Russland betrog. Er jedoch habe tatsächlich nur die Vereinigten Staaten betrogen. Er sei ein Doppelagent 133
gewesen, ein Mann, der seinem Land gegenüber treu geblieben sei und für die eingebildeten Narren, die geglaubt hatten, sie könnten seinen Patriotismus mit Gold kaufen, nur Verachtung übrig habe. Jetzt würde ihre Dummheit der ganzen Welt vor Augen geführt. Jedes Geheimnis, das er ihnen angeblich verraten habe, sei vom russischen Auslandsgeheimdienst, dem ehemaligen KGB, überprüft und abgesegnet worden. Alle diese nachrichtendienstlichen Schnipsel dienten nur dem Zweck, die Amerikaner und ihre hoch gelobten Agenten in Sackgassen zu führen und auffliegen zu lassen. Berzins Name würde von nun an Amerikas Schandmauer zieren, zusammen mit Walker, Ames, Hanssen und all den anderen. Und, dachte Santini, um noch tiefer in die Wunde zu stoßen, würde Berzin behaupten, es sei die CIA gewesen, die den Mord an seinem Vorgänger in die Wege geleitet habe, weil dieser Russland wieder groß machen wollte. Nun sei es Berzin zugefallen, in Gruschkows Fußstapfen zu treten, seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Die CIA hielt eine Zeitbombe in den Händen. Und das war zweifellos der Grund, warum Pelky seine heftigen Magenschmerzen mit jemandem teilen wollte.
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11 Es war einer dieser Tage, an denen Scott O’Neill Santini bereits morgens an der offenen Tür der Limousine empfing. Wie der inzwischen wusste, war das ein Hinweis auf schlechte Nachrichten. Santini grüßte den Fahrer, dann schlüpfte er an O’Neill vorbei in den Wagen. Er wollte sitzen, ehe er den Admiral begrüßte. »Nun, Scott«, begann er, »ich würde ja gern guten Morgen sagen, aber Ihrem Gesichtsausdruck nach wird es kein guter Morgen werden, hab ich Recht?« O’Neill überreichte ihm ein Mappe mit dem Aufdruck TOP SECRET. »Das ist nur ein vorläufiger Bericht aus Holloman«, sagte er. »Das FBI ist die federführende Behörde. McConnell hat angeordnet, dass Sie ein Exemplar von allem bekommen, was an ihn ging. Nette Geste.« Santini nahm die Mappe zur Hand und schlug die erste Seite auf. »Sabotage? Steht das fest?« Er schloss die Mappe, da er wusste, dass O’Neill den Inhalt fast auswendig kannte. Und niemand im Pentagon konnte Schriftstücke so gut zusammenfassen wie O’Neill. »Nicht hundertprozentig. Aber die Verteilung der Flugzeugteile passt zu einem starken Sprengstoff und nicht zur Explosion von Treibstoff«, sagte O’Neill und schaute aus dem Fenster, während die Limousine den Potomac überquerte. »Weder die Tornados noch die Nighthawks waren mit Waffen bestückt. Der Sprengstoff muss sich also in dem Tornado befunden haben, der explodiert ist.« »Vielleicht hat jemand Mist gebaut und den Tornado mit Artillerie bestückt.« »Negativ. Eine Rakete oder Bombe wäre nicht auf diese 135
Weise losgegangen. Es war Sabotage, keine Frage. Und keine von der Art, von der wir immer reden.« »Will heißen?« »Will heißen, dass hier keine Botschaft in die Luft geflogen ist. Oder das World Trade Center. Um einen solchen Terroranschlag handelt es sich in diesem Fall nicht. Das Ziel war genau dieser Tornado, bei genau dieser Flugvorführung. Es ist eine Botschaft, oder eine Art Botschaft, und sie betrifft die Deutschen in Holloman. Bisher glauben die Jungs vom FBI, dass ein Spinner von den Milizen dahinter steckt. Aber das ist nicht ganz zufrieden stellend.« Santini wartete gespannt. Wenn O’Neill »nicht ganz zufrieden stellend« sagte, folgte immer eine Reihe klarer Sätze, die ein Problem treffend analysierten. Im Pentagon gab es zwar jede Menge Leute, die sich Analysten nannten. Aber sie produzierten alle nur lange, mit Grafiken gespickte Berichte oder endlose Vorträge, die keine Ideen enthielten und völlig sinnlos waren. O’Neill verstand unter einer Analyse dagegen eine Folge erläuternder Sätze in einfachem Englisch, sei es mündlich oder schriftlich. »Normalerweise erledigen die Deutschen ihre Wartungsarbeiten selbst. Aber vor zwei Monaten entschied der Kommandeur des Stützpunkts, dass Wartungsleute der Air Force einen Blick auf die Tornados erhalten sollten. Die Idee dahinter war, ihre Bildung zu fördern.« Santini hörte aus dem Wort »Bildung« ganz schwach jene Herablassung heraus, die sich in die Stimme des Admirals schlich, wenn er Dinge erörtern musste, die sich auf die US Air Force bezogen. »Das heißt, ein Amerikaner hätte in den Wartungsbereich der Deutschen eindringen können. Er kannte vermutlich den Wartungsplan und war mit den Sicherheitsmaßnahmen 136
auf dem Stützpunkt gründlich vertraut. Er – oder wahrscheinlich eher ein Hacker als Komplize – ist fachmännisch in das Computersystem von Holloman eingedrungen. Er kam durch alle Firewalls. Es sieht aus, als hätte jemand eine Art Falltür eingebaut – so nennen Hacker das –, durch die er fast nach Belieben rein- und rausgehen konnte. Und sie konnten alles in Erfahrung bringen, was sie über den Zugang zu den Tornados wissen mussten. Das FBI hat ein Team von Computerspezialisten in Holloman, die sich das genau ansehen. Es war also jemand von innen. Irgendwer auf dem Stützpunkt, der über das geänderte Wartungsverfahren Bescheid wusste, hat die Sache entweder selbst erledigt oder den Saboteur eingeschleust.« »Okay. Wir haben also die Gelegenheit. Jetzt brauchen wir noch Mittel und Motiv«, sagte Santini, in Erinnerung an seine Zeit als Staatsanwalt. »Ich weiche in diesem Punkt vom Bericht ab, Sir. Aber man muss kein FBI-Agent sein, um zu sehen, dass die Sache für einen verrückten Einzelgänger zu anspruchsvoll ist, selbst wenn einer so talentiert wäre wie beispielsweise der Unabomber. Es gibt eine Menge zu bedenken, eine Menge zu planen bei so einem Unternehmen. Mein erster Gedanke war eine Gruppe wie al-Qaida. Dann dachte ich an eine gut ausgestattete Miliz oder womöglich sogar ein paar einheimische Terroristen. Aber wir haben es hier weder mit einer Düngemittelbombe in einem Lkw zu tun wie in Oklahoma City, noch zielte der Anschlag mitten ins Herz wie beim World Trade Center. Ich tippe auf einen Schurkenstaat. Oder muss man jetzt ›Nation von besonderem Interesse‹ sagen?« »Schurkenstaat ist wieder in Mode. Selbst beim Außenministerium.« »Danke«, sagte O’Neill und lächelte. »Dann also Schurkenstaat. Aber mit einem zusätzlichen Haken. Ich 137
denke, wir sollten die Geheimdienstleute in diese Richtung arbeiten lassen.« »In Ordnung. Stellen Sie eine abhörsichere Konferenzschaltung mit McConnell und Pelky her.« Als Santini aufblickte, sah er, dass sich die Limousine dem Kontrollpunkt River Road des Pentagon näherte. »Stürzen wir uns in einen neuen Tag.« »Ja, Sir. Und vielleicht wäre es angebracht, den deutschen Verteidigungsminister anzurufen.« »Stimmt. Arrangieren Sie das ebenfalls.« In dem Moment, in dem Santini sein Büro betrat, teilte ihm Margie mit, dass das Weiße Haus in der Leitung war. Dort wusste man immer genau, wo er sich gerade befand. Santini drückte den ersten Knopf in der obersten Reihe der sechzehn Knöpfe seiner Telefonanlage. Sekunden später war der Präsident am anderen Ende. »Ich habe gerade zum zweiten Mal in dieser Woche mit Kiepler gesprochen«, sagte der Präsident. »Er kocht vor Wut. Nicht nur wegen des Zwischenfalls. Er ist wütend, weil sich die Überführung der toten Piloten nach Deutschland verzögert und weil er keine Informationen bekommt, was genau passiert ist. Er glaubt, wir trödeln herum und versuchen womöglich, etwas zu vertuschen. Könnte nicht einer von euch ein bisschen Bewegung in die Sache bringen? Ich muss Kiepler irgendetwas sagen. Bitte, Michael, helfen Sie mir aus der Patsche.« Santini legte auf. Ein anderes Licht auf der Konsole leuchtete auf. Es war O’Neill. »Der deutsche Verteidigungsminister, ich zitiere, ›kann im Augenblick nicht sprechen‹, Ende des Zitats.« »Gut«, sagte Santini. »Er ist wahrscheinlich auf einer Linie mit Kiepler. Der Präsident sagt, der ist wütend, weil er die toten Piloten nicht zurückbekommt und weil er 138
glaubt, wir blockieren.« O’Neill hatte wie üblich eine Antwort parat. »Ich habe einen Freund aus meiner Klasse auf der Akademie. Konteradmiral im Ruhestand. Jetzt ist er Polizeichef in New Mexico. Ich könnte ihn anrufen und sehen, was er unternehmen kann, damit die Autopsien abgeschlossen und die Leichname in einer Herkulesmaschine nach Deutschland geflogen werden.« »Das wäre sehr hilfreich.« »Was weitere Informationen über die Untersuchung angeht, müssen wir vorsichtig sein. Wir dürfen Kiepler nicht sagen, dass wir es für Sabotage halten. Davon würde die deutsche Presse im Handumdrehen Wind bekommen, und wir sitzen mit unseren Jungs hier ganz schön in der Tinte. Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, ich lasse mir etwas einfallen.« »Geben Sie mir so bald wie möglich Bescheid. Das Weiße Haus braucht etwas.« »Jawohl, Sir«, sagte O’Neill. »Bereit für die Top Vier?« »Nach den Geheimdienstberichten. Und bitten Sie den Generalstabschef, es kurz zu machen. Ich brauche noch ein wenig Zeit, um mich auf den chinesischen Verteidigungsminister vorzubereiten.« »Kein Problem, Sir«, erwiderte O’Neill. »Ich sage ihnen, sie sollen halb so lang machen.« Währenddessen hatte Wu geduldig im Vorraum von Santinis Büro gewartet. Sobald er hereinkam, begann Santini ihn durch sein Briefing zu hetzen. Als Wu seinen Bericht abgeschlossen hatte, sagte er: »Mr. Secretary, Sie treffen heute Xu Ling, den chinesischen Verteidigungsminister.« »Dessen bin ich mir bewusst, Art, glauben Sie mir«, 139
sagte Santini. »Natürlich, Sir. Aber ich habe mir überlegt, ob es wohl irgendwie möglich wäre, dass ich dabei bin.« Santini zeigte selten offen seine Verärgerung. Er hielt das für eine sinnlose Verschwendung von Energie. Es kam jedoch vor, dass ihm die Beherrschung entglitt. »Lassen Sie das, Art«, sagte er. »Sie sind neu auf dem Posten. Werden Sie nicht aufdringlich. Ihre Aufgabe ist es, mir zu berichten, und damit basta. Ich habe einen ausgezeichneten Dolmetscher, den mir das dafür zuständige Amt zur Verfügung stellt. Ich kann es nicht gebrauchen, dass ein Geheimdienstmann mit im Raum ist und versucht, ein paar Häppchen aufzuschnappen, während ich wichtige Angelegenheiten behandle. Bleiben Sie bei Ihren Leisten, Art.« »Leisten, Sir?« »Ach, verdammt noch mal, Art! Das ist eine Redewendung. Das Briefing ist zu Ende. Danke.« Ohne Verlegenheit oder eine andere Regung zu zeigen, nickte Wu und zog sich zurück, während sich Santini fragte, ob das Leisten, Sir? Vielleicht ein subtile Unverschämtheit gewesen war. Robert Sommers von der CIA trat ein, spürte rasch Santinis Ungeduld und kürzte seinen Bericht auf sechs Minuten zusammen, ehe er wieder ging. Als Nächstes kam die Sitzung der Top Vier. O’Neill hatte Wort gehalten. Die übrigen drei, die merkten, dass ihre Nummer eins an diesem Morgen außerordentlich ungeduldig war, handelten ihre Diskussionspunkte rasch ab. General Whittier setzte seine Brille auf, zog ein einziges Blatt Papier aus der rotweiß gestreiften Mappe und begann seine Litanei. »Warten Sie«, unterbrach Santini Whittiers Vortrag. »Wie sieht es in der Folge von Holloman mit der 140
Alarmbereitschaft aus, insbesondere auf Stützpunkten in den USA?« Whittier blickte seinen Vize an. »Binnen einer Stunde nach dem Vorfall waren alle Stützpunkte weltweit in erhöhter Alarmbereitschaft«, sagte dieser. »Gut. Wir müssen es dabei belassen, bis die Sache aufgeklärt ist«, sagte Santini. »Ich werde in Kürze mit Direktor McConnell über den Vorfall sprechen. Ich bereite eine Zusammenfassung über den Fortgang der Ermittlungen für den Präsidenten vor. Und ich werde das Weiße Haus bitten, Ihnen eine Kopie davon zu schicken. Ich möchte, dass Sie vollständig informiert sind.« »Ja, Sir. Danke.« »Okay. Was haben Sie als Nächstes auf Ihrer Tagesordnung?« »Die Lashkar-e-Toiba, eine militante Gruppe aus Pakistan, hat den Präsidentenwohnsitz in Neu Delhi angegriffen. Neun der Angreifer wurden getötet, dazu sechs Leute der Präsidentengarde. Indien droht damit, den Waffenstillstand mit Pakistan zu beenden.« »Klingt eher nach einer Sache für Palmers Außenministerium. Aber vielleicht sollten Sie die Evakuierungspläne für die Botschaft auffrischen für den Fall, dass es dort wirklich mal rundgeht.« »Das ist eine ziemlich große Botschaft. Wir werden eine Menge Mittel brauchen.« »Das ist mir klar, General. Aber stufen Sie es als einen Punkt ein, bei dem Handlungsbedarf besteht.« »Ja, Sir.« »Weiter«, drängte Santini. »Siebenundzwanzig nordkoreanische Soldaten haben die entmilitarisierte Zone durchquert und sind als Gruppe 141
übergelaufen. Sie wollen nur mit einem hochrangigen amerikanischen Offizier sprechen.« Er blickte auf. »Überlassen Sie die Sache vorläufig General Craig. Die Südkoreaner werden vermutlich ihre Auslieferung verlangen.« »Ja. Aber die halten Überläufer grundsätzlich für Spione.« »Was immer sie sind, wir sollten sie schnell in die Mangel nehmen, bevor sich das Außenministerium einmischt. Kim Song Jo hat sich in letzter Zeit sehr rücksichtslos benommen, und wir müssen wissen, was der Große Führer vorhat. Okay. Noch andere wichtige Punkte?« »Nein, Sir«, antworteten Whittier und die beiden anderen Männer beinahe unisono. Sie erhoben sich. Nachdem er sie entlassen hatte, wechselte Santini in den ausladenden Richterstuhl, der es mit Pershings Schreibtisch an Größe und Prunk aufnehmen konnte. Er blätterte rasch aber methodisch das umfangreiche Informationsheft durch, das man für seine Besprechung mit Xu Ling vorbereitet hatte. Das oberste Blatt lieferte in fünf Abschnitten eine Biografie des chinesischen Verteidigungsministers. Geburtsort: Shenyang, Provinz Liaoning. Sohn eines Oberst der Volksbefreiungsarmee (VBA). Es folgte eine Liste der militärischen Posten, darunter der des Militärattachés in Paris. »Das galt als besonders attraktiver Posten und bestätigte seinen Status als Mitglied des inneren Führungszirkels in der VBA. Er begann seine Karriere im Verteidigungsministerium als regionaler Repräsentant des Ministeriums in Shenyang. Er interessiert sich stark für moderne chinesische Literatur und hat seinen Einfluss geltend gemacht, um den Frühlingswind Literaturverlag in Shenyang zu beschützen, dessen Bücher als etwas system142
kritisch angesehen werden, vor allem eine Serie namens ›Stofftiger‹, ein gewagtes Wortspiel mit ›Papiertiger‹.« Ein Auszug aus einem der Stofftiger-Bücher war als Anhang B aufgeführt. Santini blätterte zu ihm. Offenbar stammte er aus einer Kurzgeschichte über einen provinziellen Parteibürokraten, der die Anweisung erhalten hatte, eine Fahrradfabrik in einer ländlichen Gegend aufzubauen. Der Bürokrat stößt bei der Suche nach geeigneten Leuten unter den Bauern im Dorf auf eine kluge junge Frau aus Peking. Sie hatte dort Ärger mit den Behörden, und der Bürokrat weiß, er sollte sich nicht mit ihr einlassen. Aber er verliebt sich in sie und … So gern Santini weiter in der Geschichte gelesen hätte, riss er sich hier los. Es war wichtiger, dass er sich über die Haltung des Ministers zu den amerikanischen Plänen einer Raketenabwehr informierte. »Xu gehört zur neuen Generation von Funktionären. Er führt die Fraktion derer an, die in dieser Frage erst einmal abwarten wollen«, stand in dem Vorbereitungspapier. »Damit gilt er für chinesische Begriffe schon als leicht proamerikanisch. Die dominierende Fraktion im Verteidigungsministerium – und in der zivilen Führung – ist überzeugt davon, dass eine wirkungsvolle Raketenabwehr eine absolute Bedrohung für Chinas Sicherheit darstellt. Sollte diese Fraktion letztlich siegen, wird China ein kostspieliges Wettrüsten beginnen. Falls aber Xu und seine Fraktion ihren bisherigen Kurs beibehalten, käme es zu einem differenzierteren Dialog mit den Vereinigten Staaten – wenngleich der derzeitige Aufbau strategischer Nuklearwaffen weitergehen würde. Xu ist keine Taube. Vielmehr scheint er zu einer gleichzeitigen Partnerschaft mit den USA und mit Russland zu neigen. Er hat Russland in den letzten anderthalb Jahren zweimal besucht und wurde freundlich aufgenommen (siehe russische Waffenverkäufe an China, Anhang D).« 143
Santini ging rasch weiter zu »Vorgeschlagene Punkte für das Gespräch«, dem Resultat einer gemeinschaftlichen Bemühung vieler Leute im Pentagon und der Geheimdienste, mit einem kleinen Beitrag des Außenministeriums. Die Gesprächsvorschläge begannen mit einer Phrase, die Santini verabscheute: »Wie Sie wissen …« Eine doppeldeutige Formulierung. Sie drückte aus, dass jemand zwar klug war, aber dennoch Rat brauchte. Er konnte nichts dagegen tun, außer O’Neill bei Gelegenheit darauf anzusprechen. Aber vielleicht lohnte es sich nicht, O’Neills Talente für solchen Kinderkram zu vergeuden. Die Gesprächspunkte also. »Wie Sie wissen, ist Xu Mitglied der Zentralen Militärkommission, die Chinas Nuklearwaffen kontrolliert. (Neueste Schätzungen beziffern sie auf 400 Stück, davon etwa zwanzig auf Dong-Feng-5-Flüssigraketen montiert, die eine Reichweite von 13000 Kilometern besitzen. Weitere 230 Nuklearwaffen sind auf Flugzeuge, atomgetriebene U-Boote und Mittelstreckenraketen gestützt. Die restlichen 150 werden offenbar als taktische Waffen angesehen.) Sie sollten Xu vielleicht hinsichtlich Größe und Zustand von Chinas Nuklearwaffenarsenal auf den Zahn fühlen. Alles, was er sagt, wird für eine Analyse von Wert sein. Er wird mit Sicherheit Taiwan zur Sprache bringen. Wenn Sie ihn aus dem Tritt bringen wollen, könnten Sie beiläufig nach der Errichtung einer modernen Langstreckenraketenbasis in Zhangzhou in der Provinz Fujian gegenüber von Taiwan fragen. Er verfügt zwar über ein Pokerface (und ist in der Tat ein eingefleischter Spieler), könnte aber vielleicht Überraschung verraten. Die Geheimdienste bitten um diesen Punkt, damit er erfährt, falls er es nicht schon weiß, dass der Bau von Raketenbasen im Satellitenzeitalter kein Geheimnis bleiben kann.« 144
Santini überflog gerade die unwichtigeren Gesprächspunkte, als Margie anklopfte, die Tür öffnete und Colonel Rick Patterson in den Raum schob, den Kommandeur der militärischen Ehreneinheit des Pentagon. »Minister Xu wartet«, sagte Patterson mit einer Stimme, die den Raum füllte. Santini winkte ihn zu sich, damit sie die Zeremonie kurz durchgingen, die bei aller Routine eindrucksvoll war. Beide Männer kannten ihre Choreografie auswendig. Es lohnte sich dennoch, ein, zwei Minuten darauf zu verwenden. Von einem Fenster seines Büros sah Santini auf den Paradeplatz hinab. Die Ehrengarde hatte sich bereits versammelt, ihre Uniformen waren frisch gebügelt, und die Bajonette auf ihren Gewehren glänzten im Licht des ungewöhnlich warmen und sonnigen Morgens. Mehrere Mitglieder der Kapelle hatten begonnen, die Finger zu lockern, und spielten auf ihren Instrumenten die Tonleiter rauf und runter. Die Fahnen flatterten in dem lebhaften Wind, der aufgekommen war. Santini stand einen Moment reglos da wie hypnotisiert vom Anblick der sich sammelnden Truppe. Dann sah er die schwarzen Limousinen von Wu und seinem Tross, die darauf warteten, auf den Paradeplatz vorzufahren. »Es ist Zeit«, sagte Patterson, und Santini folgte ihm mit raschen Schritten in den Flur und die Treppe hinab, die zur Lobby des Ufereingangs im Pentagon führte. Die Ehrengarde und die Armeekapelle hatten Aufstellung bezogen, sie flankierten das Rasenrechteck des Paradeplatzes. Santini ging die breite Außentreppe hinab und spürte, wie der Wind über ihn strich. Er kräuselte auch noch die Flaggen vor ihm, als Xu aus seiner Limousine stieg. Santini begrüßte ihn und stellte Colonel Patterson vor, der mit Hilfe des chinesischen 145
Dolmetschers das Protokoll der Zeremonie wiederholte. Dann schritten beide Männer zu einer kleinen Plattform am Rand des Paradeplatzes. Die zwei Minister – Santini hoch gewachsen und gerade, in einem blauen Anzug, Xu kleiner, aber durchtrainiert wirkend, in einer gut geschnittenen, olivgrünen Uniform – erreichten die Plattform im selben Moment. Santini blieb stehen, während Xu die beiden letzten Stufen hinaufstieg. Als die beiden Männer mit Blick zum Paradeplatz Haltung angenommen hatten, begannen unsichtbare Haubitzen einen aus neunzehn Schuss bestehenden Salut zu feuern. Beim ersten Knall der Kanonen flog eine erschreckte Schar Möwen vom Potomac auf, wo sie sich an Abfällen aus dem Yachthafen gütlich getan hatten. Rechts von der Plattform standen, von Protokollbeamten des Pentagon behütet, neunzehn Offiziere der Volksbefreiungsarmee, vier davon weiblich. Ihre schlichten Waffenröcke bildeten einen Kontrast zu den bändergeschmückten Oberkörpern der US-Offiziere. Mehrere chinesische Offiziere hielten Einkaufstüten in den Händen oder hatten sie zu ihren Füßen abgestellt. Die Tüten legten mit ihren Aufschriften – Gap, CVS, Hechts, Macy’s, Bloomingdales – nicht nur Zeugnis vom Einkaufsbummel der Offiziere ab, sie enthüllten auch deren Misstrauen gegenüber den Gepäckarbeitern der VBA, die das Flugzeug beluden, das sie wieder nach Hause bringen würde. Die Kapelle stimmte das »Star-Spangled Banner« an. Santini legte die rechte Hand aufs Herz; Xu schlug die Hacken zusammen und salutierte. Nach einer kurzen Pause spielte die Kapelle anschließend die chinesische Nationalhymne, eine musikalische Leistung, die Xu zu beeindrucken schien. Die Militärkapelle verstummte, als ein Korps Pfeifer und Trommler vorbeidefilierte; sie 146
spielten den »Yankee Doodle« und trugen Uniformen des Unabhängigkeitskrieges. Xu sah verwundert aus. Wie aus dem Nichts tauchte ein Dolmetscher des Pentagon auf und übersetzte Santinis Bemerkung für seinen Gast: »Sie tragen die Uniform unserer Volksbefreiungsarmee von 1776.« Xu nickte und lächelte breit. Eindeutig einer vom neuen Schlag, dachte Santini. Sieht aus wie Kronen, was er auf den Zähnen trägt. Keine Goldzähne mehr, jedenfalls nicht für Generäle. Ob aber mit oder ohne Kronen, Xus Zähne legten unmissverständlich Zeugnis für seine Tabaksucht ab. Das Geheimdienstprofil übersah nicht viel. Die Kapelle wechselte zu einem Souza-Marsch. Xu und Santini stiegen von der Plattform und begannen, die Reihen der Ehrengarde abzuschreiten, die aus Angehörigen von Heer, Marine und Luftwaffe bestand, während Kameraleute des Pentagon die Szene filmten. Wie immer klappt alles bestens, dachte Santini. Niemand kam aus dem Tritt. Patterson hatte es wieder einmal geschafft. »Danke. Vielen Dank«, sagte Xu zu Santini auf dem Weg zur Treppe ins Pentagon. »Das war sehr schön gemacht.« Die Bemerkung überraschte Santini, wenn er an seine Unterlagen dachte: Xu hatte sich selbst Englisch beigebracht nach einem Satz alter Langspielplatten, die seinem Vater gehört hatten. Er zog es jedoch vor, von einem Dolmetscher Gebrauch zu machen, wenn er auf seine Amtskollegen traf. Er persönlich war den Strafen entgangen, die man während der Kulturrevolution gegen seinen Vater verhängt hatte. Aber er erinnerte die heutigen Hardliner nicht gerne an seine Englischkenntnisse. Santini fragte sich, ob es ein Zeichen des Vertrauens war, dass Xu gerade jetzt Englisch sprach. Vielleicht würde er Wu von dieser Begebenheit erzählen und die Sicht des DIA dazu einholen. Vor den Flaggen im Speisezimmer von Santinis Bürosuite 147
wurden die obligatorischen Handschlagfotos gemacht, zuerst von Xu und Santini allein, dann beide flankiert von chinesischen und amerikanischen Offizieren, wobei Letztere, unter ihnen O’Neill und Whittier, ihre Gäste um Haupteslänge überragten. Santini wurde rasch Xus Beratern vorgestellt in der Reihenfolge ihrer Bedeutung, beginnend mit Li Kangsheng, dem stellvertretenden Verteidigungsminister. Alle Offiziere salutierten und schüttelten ihm die Hand; Li salutierte nur, sagte aber zu Santinis großer Überraschung in sehr stockendem Englisch: »Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen.« Die Worte lösten eine Erinnerung in Santini aus, die er nicht einordnen konnte, aber andere Dinge waren im Augenblick drängender. Er vermerkte Li als einen Hardliner und beschloss, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Einige Pentagonkorrespondenten hatten sich in den Raum gedrängt in der Hoffnung, der Fototermin würde sich zu einer ausgewachsenen Pressekonferenz entwickeln. »Wo steht China in der Frage der amerikanischen Raketenabwehr?«, fragte ein Reporter. Xus eigene Dolmetscherin, eine hübsche Frau in einer schlecht sitzenden Uniform, übersetzte die Frage. Ehe Xu antworten konnte, hob Santini die Hand. »Das ist keine Pressekonferenz. Vielleicht später. Wir haben zu arbeiten.« Mit sanftem Druck auf Xus rechten Ellbogen schob er seinen Gast in sein Privatbüro. Ein amerikanischer Sicherheitsbeamter in einem dunkelblauen Anzug schloss die Tür hinter Santini. Dann führte ein Protokolloffizier Xus Gefolge zu einem nahe gelegenen Konferenzraum. Dort würde General Whittier ein paar Nettigkeiten sagen, die Leitung der Runde an den Stabschef des Heeres übergeben und sich verabschieden. Anschließend würden hochrangige Offiziere beider Länder, um einen langen, polierten Tisch versammelt, in der so genannten Plenarsitzung Punkte einer Tagesordnung diskutieren, die ihre jeweiligen Stäbe schon 148
vor Wochen ausgearbeitet hatten. Die Ergebnisse des einstündigen Treffen würden im Wesentlichen bedeutungslos sein, aber ein Ritual namens »Kontakt auf der militärischen Ebene« war geschaffen worden. Und in einer zukünftigen Krise würde dieser Kontakt vielleicht Offiziere beider Seiten in die Lage versetzen, der Krise Gesichter zuzuordnen. Und das war nicht unwichtig. In Santinis Büro nahmen Xu und Santini an dem kleinen Tisch Platz. Eine Ordonanz trat ein und stellte Santinis Lieblingstasse und eine kleine Thermoskanne Kaffee vor ihm ab. Vor Xu stellte die Ordonanz eine weiße Teekanne aus Porzellan mit Tasse und Untertasse. Xu nippte vorsichtig und lächelte. »Grüner Tee vom Jangtse«, sagte er. »Meine Lieblingssorte. Ihre CIA ist sehr gründlich.« Sein Englisch war eher britisch als amerikanisch gefärbt. Die Sprachplatten, dachte Santini, müssen aus England gewesen sein. »Eigentlich«, sagte Santini und erwiderte das Lächeln, »stammt die Information vom militärischen Geheimdienst.« »Ihr Militärattaché – Brigadegeneral Waters, glaube ich – ist sehr aufmerksam.« Xu holte ein silbernes Zigarettenetui hervor, öffnete es und bot Santini davon an. »Ich bedaure, General«, sagte Santini. »Im Pentagon ist Rauchen nicht erlaubt.« Xu war verblüfft. Die Hand mit dem Etui darin beschrieb einen Kreis, wie um das große Büro zu umfassen. »Aber hier?« »Es gibt ein paar Dinge, die kann nicht einmal ich befehlen«, musste ihn Santini enttäuschen, »tut mir Leid.« Xu runzelte die Stirn und steckte das Etui weg. Santini griff in eine Tasche, zog einen Palmtop hervor und gab ihn Xu. »Zur Erinnerung«, sagte er. »Sie können Ihre Termine damit im Auge behalten und sich Notizen 149
machen. Sie können E-Mails verschicken. Und ich kann E-Mails direkt an Sie senden.« Santini erklärte, wie der Minicomputer funktionierte, wobei er anmerkte, dass es nicht mehr nötig war, ihn an eine Telefonleitung anzuschließen, um Nachrichten zu übermitteln. »Ich glaube, meine Genossen werden sich sehr dafür interessieren«, sagte Xu und untersuchte das Gerät. »Und Ihre Geheimdienstleute«, erwiderte Santini, »wenn sie nach Wanzen suchen.« Xu tat, als habe er nicht verstanden. »Das ist ein Geschenk von einem Freund zum anderen«, sagte Santini. »Nicht von einem Staatsdiener zum anderen. Es ist eine Möglichkeit, wie wir uns in Notfällen erreichen können.« »Ja, danke. Ich hoffe, wir werden weiter Freunde sein … und nicht nur Funktionäre. Aber wir sind nur Figuren oder Schauspieler, die eine Rolle für ihr Land spielen. Wir sind Männer der Pflicht, und wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Pflicht sogar über Freundschaft geht. Und deshalb muss ich Sie daran erinnern, dass Taiwan das sensibelste und zentrale Thema in der Beziehung zwischen unseren Ländern ist. Wenn die Frage Taiwans gut gehandhabt wird, ist mit unserer Beziehung alles in Ordnung. Wenn sie schlecht gehandhabt wird, gibt es Probleme.« »Auch ich hoffe, dass kein Thema zwischen uns schlecht gehandhabt wird«, sagte Santini. »Was Probleme angeht, sehen wir möglicherweise eines in Zhangzhou.« »Das ist eine hübsche Stadt, und sehr wohlhabend. Waren Sie einmal dort?« »Nicht persönlich, aber ich habe Fotos von ihr gesehen, und sie zeigen, dass China dort eine moderne Raketenbasis baut. Wir empfinden das als eine direkte Bedrohung für Taiwan.« 150
»Fotos können lügen. In Zhangzhou wird im Moment viel gebaut. Luxushotels, Fabriken, Unterkünfte für Arbeiter. Tausende Hektar, die bebaut werden.« »Diese Fotos lügen nicht. Ich wünschte tatsächlich, ich könnte sie Ihnen zeigen. Man kann die Fahrräder in den Straßen zählen. Und man kann die Raketen zählen. Ich kann Ihnen die genauen geografischen Koordinaten sagen, wenn Sie wollen.« »Lassen Sie uns nicht dieses Spiel spielen, Mr. Secretary. Wie Sie sehr wohl wissen, kauft Taiwan zunehmend offensive Luftwaffen. Wenn es eine chinesische Reaktion gibt, dient sie der Selbstverteidigung und stellt keine Offensivmaßnahme dar. China investiert seine Energie in Frieden und Wohlstand. Aber wie Ihr Mr. Roosevelt selbst sagte, ist es weise, sanft aufzutreten und einen großen Knüppel im Gepäck zu haben.« »Und Mr. Roosevelt hat den Friedensnobelpreis erhalten«, sagte Santini. »Vielleicht sollte das unser Ziel sein: Frieden zu gewinnen, nicht im Krieg zu siegen.« Es klopfte leise an der Tür. Margie steckte den Kopf herein und sagte: »Die Plenarsitzung ruft, meine Herren. Es sind Zeitpläne einzuhalten und Papiere zu unterschreiben.« Auf der Plenarsitzung prüften Santini und Xu die Entwürfe von Vereinbarungen, die Wochen zuvor ausgehandelt worden waren. Sie betrafen ein Programm fortgesetzter Kontakte auf militärischer Ebene, Möglichkeiten, Katastrophenhilfseinsätze zu koordinieren und das Training für künftige, wechselseitige Rettungsmissionen. Auf chinesischer Seite hatte Li Kangsheng, der stellvertretende Verteidigungsminister, einen großen Teil der Arbeit an den Vereinbarungen geleistet. Santini streckte die Hand aus und dankte ihm für die Mühe beim Aushandeln der neuen Regeln. Li, ein unter151
setzter und kräftig gebauter Mann, verbeugte sich steif, ergriff jedoch auch diesmal nicht Santinis Hand. Dann murmelte er etwas zu der chinesischen Dolmetscherin. »Minister Li möchte gern wissen, wo er in Amerika rauchen darf«, übersetzte sie, neigte den Kopf und wirkte ein wenig verlegen. Santinis amerikanischer Dolmetscher, der ein kleines Stück entfernt stand, strich sich mit der rechten Hand über die Stirn, ein verabredetes Zeichen, dass die Übersetzung nicht ganz korrekt gewesen war. Dann zuckte er leicht mit den Achseln, um anzuzeigen, dass es sich im Augenblick nicht lohnte, der Ungenauigkeit nachzugehen. Santini winkte ihn heran und sagte: »Bitte erklären Sie Minister Li, dass die Plenarsitzung in wenigen Minuten zu Ende ist. Dann dürfen er und andere chinesische Gäste, die zu rauchen wünschen, dorthin gehen, wohin auch amerikanische Raucher gehen – in den Hof des Pentagon. Man wird ihnen den Weg zeigen.« Der Dolmetscher übermittelte die Worte. Xu und die anderen Chinesen lachten. Li dagegen behielt eine Miene bei, die Santini als permanentes Stirnrunzeln auffasste. Der Mann hatte etwas an sich, das Santini verwirrte und an eine Erinnerung rührte. Er merkte sich in Gedanken vor, mehr Informationen über Li vom DIA einzuholen. Aber wie viele solcher gedanklichen Notizen geriet auch diese für eine Weile in Vergessenheit.
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12 Als Sicherheitsberater des Präsidenten hatte sich Joe Praeger selbst die Macht verliehen, Sitzungen im Lageraum einzuberufen. Die heutige, die er auf sechs Uhr angesetzt hatte, bedeutete, dass Santini mit seinen Abendterminen jonglieren musste, zu denen ein Empfang und ein Essen für Xu und seine Begleiter gehörten. Wie üblich gab Praeger keinen Grund für die Sitzung an. Santini vermutete aber, dass Praeger Außenminister spielen und die Gelegenheit nutzen würde, ihn über die chinesisch-amerikanischen Beziehungen zu belehren. Praeger saß auf dem Stuhl des Präsidenten am Tisch. Er begrüßte Santini zu seiner Rechten flüchtig und setzte dann zu einer raschen Tour um die Welt an, wie er sie sah. Die Tour spiegelte wider, was Santini in seinen morgendlichen Briefings gehört hatte, ergänzt um zusätzliche Rhetorik (»In Israel müssen wir in einer aggressiven, aber beobachtendabwartenden Fördererrolle bleiben«), in der sich die Jargons von politischem Klugscheißer und Sozialarbeiter mischten. Den Zwischenfall in Holloman erwähnte Praeger nicht. Als er auf seiner Rundreise in China ankam, begann Santini aufzupassen. In der anhaltenden Debatte der Regierung über China vertrat Praeger eine harte Linie. Und Praegers Linie wurde immer mehr zu der des Präsidenten. Jefferson gab oft Praegers Äußerungen über China wieder und wies die Ratschläge von Santini und Außenminister Palmer höflich zurück. Santini hatte Praegers persönliche Agenda ziemlich durchschaut. Er versuchte, sich als Außenminister für eine mögliche zweite Amtszeit Jeffersons in Position zu bringen. Er war bösartig antichinesisch eingestellt. Aber öffentlich 153
musste er seine wahren Empfindungen bis nach der nächsten Präsidentschaftswahl unter einem verlogenen, staatsmännisch gemäßigten Mantel verbergen. Er war jedoch davon überzeugt, das amerikanische Volk würde seine Ansicht teilen, dass China der Feind des 21. Jahrhunderts war, die neue Sowjetunion, die man gewaltsam von ihren Träumen abbringen musste, die Weltbühne auf Kosten der Vereinigten Staaten zu dominieren. Santini machte sich keineswegs Illusionen über die chinesischen Bestrebungen. Ihr Humankapital war außerordentlich groß, mehr als eine Milliarde Menschen. Sie blickten auf fünftausend Jahre Geschichte zurück und verfügten über ein kulturelles Erbe, dem kein anderes gleichkam. Und die Chinesen waren entschlossen, einen wichtigen Platz am Tisch der weltpolitischen Macht einzunehmen. Wer glaubte, man könnte China irgendwie eindämmen oder von seinen Zielen abbringen, war nach Santinis Ansicht entweder hoffnungslos naiv oder ein ideologischer Enthusiast, der ein gefährliches »chinesisches Roulette« mit dem Leben von 275 Millionen Amerikanern spielte. Santini war also kein Apologet, was die Ziele Chinas betraf. Aber nach seiner Überzeugung war eine zweigeteilte diplomatische Vorgehensweise die richtige Antwort. Die Bereitschaft, China herauszufordern, wenn es eindeutig im Interesse Amerikas lag, einerseits; Gemeinsamkeiten zu suchen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, andererseits. Das hielt er für einen gesünderen und sichereren Weg zu internationalem Frieden. Das Problem war Praegers unmittelbare Nähe zum Präsidenten, er war nur ein paar Schritte vom Oval Office entfernt. Und Nähe bedeutete Macht, die Möglichkeit, den Präsidenten fast nach Belieben zu sehen und zu sprechen. Und Santini, nun, der war nicht die erste Wahl des 154
Präsidenten für den Posten des Verteidigungsministers gewesen. Er befand sich außerhalb des Machtzirkels, und Praeger hatte nicht vor, ihn hineinzulassen. Und so bot jede Sitzung im Lageraum des Weißen Hauses Praeger eine Gelegenheit, Santini subtil zu verhöhnen, ihn zu einer unhaltbaren Verteidigung chinesischen Fehlverhaltens zu drängen, oder ihn in den Konsens einstimmen zu lassen, dass man China zurechtweisen müsse. Es überraschte Santini nicht, dass sich Praeger auch diesmal den Seitenhieb nicht verkneifen konnte, die für Minister Xu vom Pentagon geplanten Zeremonien einschließlich neunzehn Schuss Salut würden sich zu einer absolut unangebrachten Unterwürfigkeit summieren. »China«, sagte er gerade, »wird immer rastloser. Satellitenbilder beweisen eindeutig den Aufbau einer großen Raketenstreitmacht, die Taiwan bedrohen wird. Um die gegenwärtige Situation zu bemessen, ist man versucht, sie mit der sowjetischen Entscheidung zur Stationierung von Atomraketen auf Kuba zu vergleichen.« »Das ist stark übertrieben, Joe«, sagte Santini. »Die Sowjetunion war eine mächtige Nation, und Kuba war ihr Hündchen. China ist …« »China geht in dieselbe Richtung wie die Sowjetunion. Nach Geheimdienstschätzungen liegt die Zahl ihrer nuklearen Gefechtsköpfe bei rund vierhundert, davon etwa hundertfünfzig für das reserviert, was die chinesischen Militärstrategen als ›taktische‹ Nutzung bezeichnen. Das kann alles bedeuten, auch einen atomaren Präventivschlag gegen Taiwan.« »Joe. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. China weiß verdammt gut, dass selbst ein nichtatomarer Schlag gegen Taiwan zur Folge hätte …« »Was zur Folge hätte? Eine Standpauke von Palmer? 155
Den Abzug unseres Botschafters? Oder …«, Praeger stand auf und stütze sich auf die Fäuste, »eine militärische Reaktion.« »Vielleicht. Das hängt davon ab, was der Präsident befiehlt.« »Kommen Sie mir nicht damit, Michael. Sie müssen doch Pläne für jede Eventualität haben. Ein Anruf aus dem Weißen Haus – und dann? Haben Sie einen Plan, der unverzüglich ausgeführt werden kann? Oder würde eine Sache daraus werden, die sich wie Kaugummi hinzieht?« »Woher kommt das eigentlich, Joe? Was macht Sie so paranoid in Bezug auf China?« »Das bringt der Job mit sich. Ich bin es dem Präsidenten schuldig, paranoid zu sein. Und Sie sollten es ebenfalls sein.« »Ich bin es aber nicht«, sagte Santini. »Natürlich müssen wir ein Auge auf China haben. Und wir müssen darauf vorbereitet sein, auf jeden Schritt zu reagieren, den es gegen Taiwan unternimmt. Aber China besitzt keine Kapazitäten für ein Landungsunternehmen. Und wenn es anfinge, seine Raketen aufzurüsten, würden wir es sehen.« »Seien Sie sich unserer Satelliten nicht so sicher. Die lassen sich außer Gefecht setzen. Blind machen.« Praeger musste von der CIA über den zeitweiligen Ausfall der Satellitenüberwachung unterrichtet worden sein, auf den Whittier Santini aufmerksam gemacht hatte. »Das wäre für sich genommen schon eine Warnung. Wir hätten dann binnen kürzester Zeit Aufklärungsflugzeuge in der Luft.« »Ja, wenn die 7. Flotte in der Straße von Taiwan kreuzen würde. Aber befindet Sie sich im Augenblick etwa dort?« »Sie wissen genau, dass wir die 7. Flotte ausdrücklich 156
nicht in der Straße von Taiwan haben, damit wir sie dorthin schicken können, um Flagge zu zeigen, falls China Theater macht.« »Damit bin ich nicht zufrieden, Michael. Ich werde dem Präsidenten empfehlen, dass wir die Flotte auf Dauer dorthin verlegen.« »Wie? Einfach so? Das glaube ich, wenn ich es direkt vom Präsidenten höre. Das wäre ein Akt der Provokation, Joe, das wissen Sie genau.« Praeger hatte sich wieder gesetzt und sah bemüht entspannt aus. »Keine Provokation. Protektion. Wir schützen unsere Freunde in Taiwan. Ich will nichts weiter, als auf diese Raketen reagieren, die in Zhangzhou aufgestellt werden.« »Genau. Ich habe Zhangzhou heute gegenüber Xu zur Sprache gebracht.« »Und er hat gesagt: ›Na und?‹, hab ich Recht? Michael, die Chinesen verstehen nur die Sprache der Macht. Ich möchte, dass Sie heute Abend etwas über die 7. Flotte sagen, wenn Sie mit Ihrem Minister Xu dinieren. Erzählen Sie ihm, der Präsident würde eine dauerhafte Stationierung der Flotte vor Taiwan in Erwägung ziehen.« »Kein Schmierentheater, Joe. Es ist ein großer Unterschied, ob Sie sagen, sie beabsichtigen es dem Präsidenten zu empfehlen, oder ob ich sage, der Präsident würde es ›in Erwägung ziehen‹.« Praeger schaute auf seine Uhr. »Ich habe um halb acht einen Termin beim Präsidenten. Vielleicht schaue ich noch zum Dessert und Kaffee auf dem Empfang vorbei. Dann sage ich es Xu selbst.« »Ich bin schon spät dran, Joe. Solange Sie nicht persönlich auftauchen, um Xu – und mir – einen Brief des Präsidenten zu übergeben, halte ich mich an das 157
vorgesehene Programm.« »Und das wäre? Irgendwelches Geschwätz über Kontakte auf Militärebene?« »Sie erhalten morgen früh ein Memo von mir, in dem genau steht, was ich gesagt habe und was er gesagt hat. Wie ich es sehe, Joe, können wir mit dem Säbel rasseln, aber wir können kein Schwert ziehen. Die chinesischen Nuklearwaffen unterliegen der Kontrolle der Zentralen Militärkommission. Xu ist Mitglied dieser Kommission. Der stellvertretende Verteidigungsminister, ein gewisser Li Kangsheng, gehört ihr ebenfalls an. Wir haben also zwei Mitglieder der Kommission heute Abend in Washington, und vielleicht wird auch über Nuklearwaffen geredet. Xu scheint zugänglich zu sein. Er hat unter vier Augen Englisch mit mir gesprochen, nicht jedoch in der Öffentlichkeit. Li allerdings ist ein Typ, auf den man aufpassen muss. Er scheint ein Hardliner zu sein.« »Ich habe von Li gehört«, sagte Praeger. »Er ist auf Xus Job aus, so viel steht fest.« »Als ich ihnen erklärte, dass sie im Pentagon nicht rauchen dürfen, riss Li eine Art Witz. Der chinesische Dolmetscher hat ihn gedeckt. Mein Dolmetscher hat mir später erzählt, was Li wirklich gesagt hat.« »Nämlich?« »›Scheiß auf Amerikas Regeln. China bestimmt die Regeln.‹ Wir haben das Treffen von einem Kameramann des Ministeriums filmen lassen. Ich ließ mir die Szene vorspielen. Xu war sichtlich geschockt von Lis Bemerkung. Ich glaube, Xu ist ein Mann, den wir so gut es geht unterstützen sollten.« »Ich traue keinem von ihnen«, sagte Praeger und erhob sich. »Übrigens habe ich gehört, Sie haben einen neuen Mann 158
beim DIA.« »Wie ich sehe, machen Ihre Spione Überstunden. Er heißt Wu, Arthur Wu.« »Chinese, richtig?« »Amerikanisch-chinesisch. Captain der Reserve.« »Ein Bindestrich-Amerikaner«, sagte Praeger mit einem verächtlichen Lächeln. »Von mir aus kann er sich Sterne oder Streifen in den Arsch geschnitzt haben. Wie gesagt, ich traue keinem von ihnen.« Er klappte seine Briefingmappe zu und stand auf. Auf dem Weg zur Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Vergessen Sie nicht, das Silberbesteck zu zählen. Und heben Sie einen Glückskeks auf, falls ich doch noch auftauche.«
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13 Zurück in seinem Büro, verfasste Santini ein Memo an den Präsidenten und tippte es auf seinem eigenen, geschützten Laptop. O’Neill würde es dem Präsidenten auf dem üblichen inoffiziellen Weg zukommen lassen. Wie Santini sehr wohl wusste, hatte auch Praeger seine eigenen Kanäle, und zwischen den beiden tobte schon seit längerem ein unerklärter, uneingestandener Memokrieg über das Thema China. Wenn die Regierung eine Einschätzung zu China wünschte, wandte sich der Präsident an Praeger und Außenminister Palmer, nicht an Santini. Und Xus Besuch wäre eine Gelegenheit für Praeger, Punkte für seine harte Haltung gegenüber China zu machen. Seine Drohung, in das Abendessen zu platzen, war wahrscheinlich nur ein Bluff; plötzliche Konfrontationen waren nicht Praegers Stil. Dennoch hielt es Santini für angebracht, noch rasch ein Memo aufzusetzen. »Mr. President«, begann er, »meine Vorgespräche mit Minister Xu haben mich zu der Überzeugung geführt, dass er ein vernünftiges China repräsentiert. Ich glaube jedoch, dass er, wie andere gemäßigte Politiker, von Hardlinern unter Druck gesetzt wird, die sich lieber mit Russland und dem Irak verbünden würden als mit den Vereinigten Staaten. Es gibt kein unmittelbares Problem mit China. Es ist keine Supermacht. Die Chinesen haben nicht das Geld oder die technologische Grundlage, um mit uns zu konkurrieren, insbesondere nicht, was die Entwicklung von Zukunftswaffen, wie etwa satellitengesteuerte Systeme, angeht. In Bezug auf Taiwan besteht Xu auf der üblichen Parteilinie. Ich sehe jedoch keine aggressiven Schritte gegen Taiwan voraus. Ich treffe Xu heute Abend informell 160
und werde über alles berichten, was sich aus diesem Gespräch ergibt.« Er unterzeichnete das Memo mit »Santini.« Kurz darauf saß der Verteidigungsminister in der Limousine. Curtis schaltete das Blaulicht an, und der Verfolgungswagen des Sicherheitsdienstes setzte sich dicht hinter sie. Santini war kaum dazu gekommen, sich die Notizen auf seinen Kärtchen anzusehen, als sie bereits wieder vor den Betonbarrieren am Kontrollpunkt des CStreet-Eingangs zum Außenministerium hielten. Soldaten, Matrosen und Marineinfanteristen, exakt im Abstand von jeweils einem Meter aufgestellt, säumten die Zufahrt und das Foyer bis zur Einlasskontrolle. Während andere Nachzügler langsam einer nach dem anderen die Metalldetektoren passierten, eilten Santini und ein Sicherheitsbeamter zu einem wartenden Aufzug, der sie schnellstens ins oberste Stockwerk brachte. Die Aufzugstür öffnete sich zu einem Flur, der zu den prächtigen Empfangsräumen des State Department führte, die im Stil des 18. Jahrhunderts dekoriert waren und seltene Kunstgegenstände und Möbel aus den Anfangsjahren der amerikanischen Nation enthielten. Korinthische Säulen säumten die Wände. Vergoldeter Stuck füllte die Übergänge zwischen Wänden und Decke. Kristalllüster hingen von Kassettendecken. Das große Staatswappen in Gips und Blattgold blickte von der Deckenmitte herab. An einer Wand hing ein Porträt des Mannes, nach dem der Raum benannt war: Benjamin Franklin. An einer anderen gab es ein Gemälde, das unter dem Namen »The Spirit of ’76« bekannt wurde. Der Empfang hatte sich durch die Flügeltüren bis auf den Balkon ausgedehnt. Im milder werdenden Licht bot Washington ein Panorama aus blauem Himmel, grünender Mall, weißen Monumenten und einem grauen Potomac. Während Santini nach Xu Ausschau hielt, entdeckte er 161
einen Fernsehmoderator, einen Zeitungsherausgeber, zwei Senatoren, drei Kongressmitglieder, einen früheren Außenminister und eine Schauspielerin, die zufällig in der Stadt war und durch einen Kontakt zur Protokollabteilung des Weißen Hauses eine Einladung herausgeschunden hatte. Sie redete auf Xu ein, dessen Dolmetscherin völlig überfahren wirkte. Santini hörte sie etwas über Tibet sagen, während er zu Xu eilte. Er griff sich zwei Clubsodas von einem vorbeikommendem Kellner, reichte eines davon Xu und sagte: »Ich bin mir sicher, General Xu weiß Ihre Bemerkungen zu schätzen und freut sich auch schon auf Ihren nächsten Film.« O’Neill näherte sich, jeder Zoll ein Marineoffizier mit Kordeln und Reihen von Abzeichen. Santini stellte ihn rasch der Schauspielerin vor, fasste Xu am Ellbogen und schob ihn in Richtung Balkon. Mehrere chinesische Offiziere, die sich aus einer anderen Richtung genähert hatten, füllten rasch den freien Raum um die Schauspielerin. »Es tut mir Leid, dass ich zu spät komme«, sagte Santini. »Ich musste einen unerwarteten Zwischenstopp im Weißen Haus einlegen. Entschuldigen Sie.« »Kein Notfall, hoffentlich«, erwiderte die Dolmetscherin. Ihr Singsang überraschte Santini, der erwartet hatte, Xus Stimme zu hören. Er hatte vergessen, dass Xu sehr vorsichtig darin war, wo und wann er Englisch sprach. »Nein. Nur die üblichen bürokratischen Dinge.« Als die Dolmetscherin das übersetzt hatte, trat Xu ans Balkongeländer, deutete zum Washingtondenkmal und sagte leise auf Englisch: »Falls uns jemand beobachtet, Leutnant Hua, ich frage Außenminister Santini nach der 162
Höhe des Washingtondenkmals.« Er wandte sich Santini zu, während Leutnant Hua getreulich wiederholte, was er gesagt hatte. »Leutnant Hua weiß von meiner … meiner Zurückhaltung, in der Öffentlichkeit Englisch zu sprechen und macht zu ihrer und meiner Erheiterung die Farce mit zu übersetzen«, fuhr Xu fort. Hua lächelte und senkte den Kopf, während sie erneut die Worte ihres Chefs übersetzte. »Der Empfang ist bald zu Ende, und wir werden zum offiziellen Bankett übergehen«, sagte Santini. »Ich schlage vor, wir versuchen, ein paar Minuten ungestört zu bleiben.« Leutnant Hua lieferte die unnötige Übersetzung. Santini nickte in Richtung einer Frau in einem roten Kleid, die zur Sicherheitsmannschaft gehörte. Sie stand an der Tür einer Lounge, die das Dekor eines Raumes in Mount Vernon, entworfen von Martha Washington, widerspiegelte. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, schlug Xu vor, Hua sollte das Gemälde am anderen Ende des Zimmers betrachten – Edward Hicks’ William Penns Abkommen mit den Indianern. Santini und Xu spazierten zu einem polierten Tisch, auf dem einer der Schätze der Empfangsräume stand, eine Porzellanpunschschale aus dem 18. Jahrhundert, die an den Handel des Westens mit China erinnerte. Ein Gemälde auf ihr zeigte den Hafen von Kanton, wo Händler geschäftig an den Ufern des Perlflusses umherwuselten. »Sehr passend«, sagte Xu und zeigte auf die Trauben von Händlern vor ihren Lagerhäusern, aus denen Flaggen wehten und von der jeweiligen Nationalität kündeten. »Handel, nicht Krieg.« »Die Schale steht normalerweise nicht in diesem Raum«, sagte Santini. »Ich habe sie hierher schaffen lassen, damit Sie einen scheinbaren Grund für unser Tête-à-tête haben. 163
Etwas, das Sie General Li erzählen können.« Xu runzelte die Stirn bei der Erwähnung von Li, antwortete jedoch nicht sofort. Mit einer weit ausladenden Geste umfasste er den Raum. »Das hier ist der Sitz des Außenministeriums – Handel, Diplomatie, offene Märkte. Warum findet der Empfang hier statt und nicht im Pentagon?« »Das Pentagon verfügt über keine Räumlichkeiten wie diese. Das State Department leiht sie uns.« »Und leihen Sie dem State Department dafür gelegentlich Hubschrauber?« »Nur wenn es Ärger gibt und Menschen schnell in Sicherheit gebracht werden müssen.« »Ja, Ärger sollte man aus dem Weg gehen. Wir wünschen sehr, dass Sie Ärger aus dem Weg gehen, indem Sie keine neuen Luftabwehrsysteme nach Taiwan senden. Und indem Sie das Gesetz über die Beziehungen zu Taiwan für unverbindlich erklären.« Santini war auf eine gegen Taiwan gerichtete Bemerkung gefasst gewesen, aber nicht auf eine derart unverblümte. »Das ist eher eine Angelegenheit für Außenminister Palmer«, versuchte er, Zeit zu gewinnen. »Als Amerikaner die chinesische Botschaft in Belgrad zerstörten«, sagte Xu, »kam einer von Minister Palmers Vorgängern nach Peking und erklärte den Zwischenfall. Und ich war es, der die Bombardierung als einen tragischen Unglücksfall akzeptierte.« Nach amerikanischen Geheimdiensteinschätzungen stand Xu ganz oben auf der kurzen Liste von chinesischen Offiziellen, die an ein versehentliches Bombardement glaubten, hauptsächlich dank der genauen Schilderung der 164
Ereignisse durch das State Department. Mehrere andere hochrangige Funktionäre akzeptierten dagegen die Erklärung der USA noch immer nicht. »Ich habe die Berichte über diesen tragischen Zwischenfall persönlich überprüft, General«, sagte Santini. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass es ein Unfall war. Sie haben Recht, andere, die immer noch zweifeln, irren sich.« Xu nickte. »Die Sache ist für mich längst erledigt. Neues Thema: Das Militärabkommen ist vage. Es gibt wenig Konkretes darin.« Santini war froh, von dem Zwischenfall mit der Bombardierung wegzukommen. »Wir hoffen, ein Abkommen über humanitäre Erleichterungen und vielleicht schließlich eine gemeinsame Militärübung zustande zu bringen. Wir können uns sofort an die Arbeit machen.« »Das ist Zukunftsmusik«, sagte Xu und setzte sein gespieltes Stirnrunzeln wieder auf. »China will etwas ganz Bestimmtes sofort. China will eine Garantie, dass keine Kriegsschiffe der US-Marine die Straße von Taiwan durchqueren, und Ihre so genannte ›veränderte Richtlinie‹ gegenüber Japan keine Einladung an Japan ist, mein Land zu bedrohen.« »Und die Vereinigten Staaten wollen, dass China dem Dalai Lama die Rückkehr nach Tibet erlaubt. Außerdem wollen wir, dass China seine politischen Gefangenen freilässt. Diese Wünsche sind aber – genau wie Ihre Wünsche – zu wichtig für ein beiläufiges Gespräch in einem wunderschönen Raum. Ich sollte jedoch anfügen, dass Japan auf dem Weg ist, ein ›normales Land‹ zu werden, was ja nur recht und billig ist. Wir haben kein Verlangen, Japan in der Rolle einer aggressiven Macht zu sehen.« Leutnant Hua hielt sich weiterhin geduldig am anderen Ende des Raums auf und kehrte ihnen den Rücken zu. 165
»Jedenfalls werde ich dem Präsidenten persönlich von diesem Gespräch berichten«, sagte Santini. Dann griff er in die Innentasche seines Mantels und entnahm ihr ein Kuvert mit einer verschlüsselten Modemkarte, die wie eine Kreditkarte aussah. »Die passt in den Palmtop, den ich Ihnen geschenkt habe. Wenn Sie Kontakt mit mir aufnehmen müssen, ganz gleich ob bei Tag oder Nacht, wird Ihre Nachricht mich erreichen. Die Gebrauchsanweisung befindet sich im Kuvert.« Xu revanchierte sich, indem er Santini einen Zettel mit einer Telefonnummer darauf gab. »So viel ich weiß, nennt man das bei Ihnen ›geheime Kanäle‹«, sagte er und lächelte. »Die Nummer ist für ein Telefon in der Schweiz. Aber Sie erreichen mich, und nur mich.« »Danke, General. Und nun müssen wir uns zum Bankett aufmachen. Ich glaube, auf der Speisekarte stehen Lotussuppe und Gans mit Aprikosen.« Die Tür war aufgegangen. Die Melodie eines StraußWalzers wehte herein, als draußen ein Marschorchester der Armee vorüberzog. Xu lächelte. »Ihren Colonel Patterson sollte man zum General befördern«, sagte er. Dann rief er auf Chinesisch nach Leutnant Hua, und die drei verließen den Raum.
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14 PEKING Chi Zhiqiang, der chinesische Staatspräsident, war an diesem Morgen in gelöster Stimmung. Um einen großen Konferenztisch aus Walnusswurzelholz hatten sich sechs seiner getreuesten Berater versammelt. Sie saßen in schwarzen Sesseln aus Handschuhleder, die bequem der weichen Fülle der einen wie auch den drahtigen Gestalten der anderen Platz boten. Drei Projektionsschirme auf der gegenüberliegenden Seite des niedrigen, reich getäfelten Raums trugen jeweils das farbenfrohe Symbol des Militärischen Geheimdienstes. Erst Anfang sechzig, war Chi körperlich fit und von scharfem Verstand. Er vermittelte mit jedem Wort und jeder Geste die heitere Zuversicht eines Mannes, den das Leben in die turbulentesten Wasser geworfen hatte und der ungebeugt und ungebrochen überlebt hat. Nach chinesischen Maßstäben war er jung für ein Staatsoberhaupt, und er beabsichtigte noch mindestens ein Jahrzehnt an der Macht zu bleiben. Abgesehen von Peng Fong, einem alten Parteifunktionär, der ständig Mao im Munde führte, waren alle Versammelten zufrieden mit Chis Führungsrolle und seiner ruhigen Steuerkunst. Wie üblich hatte Chi einige Minuten schweigend verstreichen lassen, während er sich mit seiner Teetasse beschäftigte, eine Zigarette anzündete und ein paar Zeichen auf einen Schreibblock kritzelte. Er war stolz auf seine schöne Schrift, eine Obsession, die viel damit zu tun hatte, dass man ihn als Jungen während der Kultur167
revolution in ein Landwirtschaftslager geschickt hatte. Das Protokoll verlangte, dass Chi bei diesen Sitzungen als Erster das Wort ergriff. Er wandte sich an Verteidigungsminister Xu und sagte: »Erzählen Sie uns, wie Sie in Washington empfangen wurden, Xu. Wir sind gespannt, welchen Eindruck Minister Santini auf Sie gemacht hat und ob Sie glauben, dass er jemand ist, mit dem Sie bei Themen, die uns wichtig sind, Fortschritte erzielen können.« Xu beantwortete die Frage des Präsidenten nicht direkt. Als vollendeter Bürokrat und sehr vorsichtiger Mensch hielt er sich an den vorbereiteten Bericht. »Ich fuhr«, begann er, »zur US-Militärakademie am Hudson River, oberhalb von New York, aß mit den Kadetten zu Mittag und wohnte einem sehr langweiligen Spiel bei, einem Baseballspiel zwischen den dortigen Heereskadetten und den Marinekadetten einer Offizierschule der Navy in Maryland, nahe Washington, D.C. Ich glaube, die Heereskadetten haben gewonnen. Offenbar in dem Glauben, die Große Chinesische Revolution sei irgendwie ein Bürgerkrieg gewesen, führten mich meine amerikanischen Gastgeber auch zu einem berühmten Schlachtfeld ihres Bürgerkriegs. Ich hörte höflich zu, als mir meine Gastgeber, darunter Minister Santini, einreden wollten, was im 19. Jahrhundert in Amerika geschehen war, hätte etwas mit China im 20. und 21. Jahrhundert zu tun. Inzwischen war ich erschöpft, aber ich hielt in einer Art fliegendem Langen Marsch weiter durch. Mein nächster Halt – in der Mitte Amerikas – war der interessanteste. Ich war im Hauptquartier des Amerikanischen Strategischen Kommandos. Ich fand den Spruch – den Slogan, nennen sie es – amüsant, den ich überall sah. Er lautete ›Frieden ist unser Beruf‹. 168
Ich habe einige Zeit in der Kommandozentrale verbracht, die sich tief im Innern eines Berges befindet. Ich habe den zuständigen Geheimdienstoffizieren bereits einen Bericht über die Zentrale geschickt. Es war eine ziemlich verlockende Tour, nicht unähnlich dem Tanz einer verführerischen Frau: Man zeigt mir viele Attraktionen, aber ich darf sie nicht berühren. Und ich darf die Attraktionen nicht mit nach Hause nehmen.« Chi lachte, und die anderen stimmten augenblicklich mit ein. Der Präsident hörte abrupt auf zu lachen, und alle taten es ihm gleich. »In Kriegszeiten«, fuhr Xu fort, »würde man die unterirdische Anlage hermetisch abriegeln, und amerikanische Offiziere könnten den Krieg von dort führen statt von Washington aus. Ich fand besonders die Miniaturisierung elektronischer Anlagen interessant. Sie brauchen nur einige Quadratmeter für Kommando- und Kontrolleinrichtungen, die in China ein großes Gebäude füllen würden. Wir müssen bedenken …« »Bitte, General Xu«, sagte Chi überdrüssig, »benutzen Sie die Gelegenheit nicht zu einer Rede über Ihre Etatbedürfnisse.« Er sah Li an. »Erzählen Sie uns, was Sie auf Ihrer Amerikareise erfahren haben.« »Man hat mich zum Joint Command geführt, das früher das Atlantische Kommando hieß, in Virginia, irgendwo südlich von Washington, und …« »Norfolk«, unterbrach Xu gereizt. »Der Stützpunkt befand sich in Norfolk.« »Jawohl, mein General, Norfolk. Viele Schiffe. Atom-UBoote – ich war in einem und habe mit der Mannschaft Hamburger und Eis gegessen. Viele Männer waren Schwarze. Dann hat man mich in einem großen Flugzeug, ähnlich der Air Force One des Präsidenten, zu einem 169
Lüftwaffenstützpunkt in New Mexico und einem Armeestützpunkt in Texas gebracht, wo ich einen höchst amüsanten Bericht über eine so genannte Operation Sicherheit erhielt, ein Programm, das darauf abzielt, Geheimnisse zu bewahren, insbesondere über Sicherheit bei Computern und Funkverkehr.« »Amüsant in welcher Hinsicht?«, fragte Chi. »In der Hinsicht, dass sie mir gesagt haben, was sie schützen«, entgegnete Li. »Sie haben mir erzählt, was ihre wertvollsten und vielleicht auch am leichtesten zugänglichen nachrichtendienstlichen Informationen sind. Auch ich habe meine Beobachtungen den zuständigen Geheimdienstoffizieren unterbreitet. Ich habe außerdem die Entwicklungseinrichtung für Atomwaffen am Sandia National Laboratory, ebenfalls in New Mexico, besichtigt. Dort habe ich viele Chinesen gesehen. Manche waren Amerikaner, andere waren Landsleute, Wissenschaftler aus China, die dort zu Besuch sind. Wie Sie wissen, wird in diesem Laboratorium …« »Wir werden uns im Moment keinen anderen Themen zuwenden«, sagte Chi. »Nun erzählen Sie mir von Verteidigungsminister Santini, Xu.« »Santini war offen und zugänglich«, sagte Xu leise und langsam, ein Zug, der Chi ärgerte, denn er empfand es als Herablassung. Aber Xu hatte einen anderen Grund, langsam zu sprechen: Seine Gedanken kreisten um Fragen, die Lis Bericht aufgeworfen hatte. Er war unvollständig und stimmte nicht mit Xus Kenntnis von Lis Reiseroute überein. Es gab Auslassungen. Li lief mehr und mehr aus dem Ruder und entwickelte seine eigene Agenda. Diese Gedanken beschäftigten Xu, während er mit seinem Bericht fortfuhr. »Es war offensichtlich, dass Santini seinen Marschbefehl« – Chi runzelte die Stirn, 170
weil Xu die amerikanische Redewendung gebrauchte, die auf Chinesisch merkwürdig klang – »vom Weißen Haus bekommen hatte. Ich habe denselben Text überall in Washington gehört – auf einer Sitzung mit Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrats und in einer Besprechung mit Chinaspezialisten im Außenministerium.« Xu hielt inne und trank von dem heißen Tee, den lautlos durch den Raum huschende Diener auf den Tisch gestellt hatten. »Es gab natürlich eine unausgesprochene Tagesordnung. Die Regierungsvertreter, mit denen ich gesprochen habe, äußerten sich ganz freimütig über die chinafeindliche Atmosphäre, die aufgekommen ist, seit die amerikanischen Medien ein Getöse wegen chinesischer Schurkerei machen, wie sie es nennen.« Wieder zeigte sich Chi überrascht. »Schurkerei?«, fragte er. Xu seufzte. »Man hat mir vorgeworfen, in meinen Diskussionen mit Ihnen kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Präsident Chi«, begann er. »Erlauben Sie mir, erneut freimütig zu sprechen. Sie werden von den westlichen Medien abgeschirmt. Ihre Berater sagen Ihnen nicht, was Journalisten auf FOX, was die Washington Times oder die New York Post über China berichten.« Chi beugte sich vor, um einen Schluck Tee zu trinken. Drei der anderen Funktionäre vollführten identische Gesten. Schweigen lag über der Szenerie. Xu wusste sehr gut, dass das Schweigen Missfallen an seinen Worten signalisierte. Er wusste außerdem, dass verborgene Mikrofone diese Worte aufzeichneten. Die Worte würden Eingang in sein Dossier finden, und eines Tages würden sie unter Umständen dazu benutzt werden, ihn aus dem Führungskader zu werfen oder aber ihn weiter nach oben zu befördern. Beides konnte jederzeit geschehen. Xu erinnerte sich an eines der vielen Sprichwörter seines Vaters: Viele Wege führen auf den Gipfel des Berges, aber 171
die Aussicht ist immer dieselbe. Er setzte seinen Bericht fort. »Seit gut zwei Jahren bauen die amerikanischen Medien China zum Nachfolger der Sowjetunion als das kommende ›Reich des Bösen‹ auf. Der so genannte Krieg gegen den Terrorismus hat den Fokus für eine Weile verändert. Aber China wird nach wie vor als potenzieller Feind betrachtet. Es gibt Leute, die behaupten, der Kalte Krieg habe nicht wirklich aufgehört, sondern würde von vorn beginnen, mit China als neuem Feind. Wir haben uns unklug verhalten mit unseren heimlichen Geschenken an die amerikanischen Politiker. Häufig haben wir für unbedeutende, dumme Schritte großen Ärger auf uns gezogen. Nun haben wir die Gelegenheit, intelligenter, verantwortungsbewusster zu handeln. Und der Mann, den wir pflegen sollten, ist Verteidigungsminister Santini. Ich spürte, dass seine Gastfreundschaft aufrichtig gemeint war, besonders in den Äußerungen, die er bei dem Bankett zu meinen Ehren – zu Chinas Ehren – machte. Er tat mehr, als die üblichen Floskeln herunterzuleiern. Allerdings war auch noch etwas anderes zu spüren.« Xu hob die Stimme, um mehr Aufmerksamkeit von seinen Zuhörern einzufordern. »Santini wirkte geistesabwesend, als er mich mit militärischen Ehren empfing. Er war in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt.« Xu warf einen Blick zum Platz von Li hinüber. »Mir fiel auf, dass er sich mit großer Neugier auf den stellvertretenden Minister Li zu konzentrieren schien.« Xus Blick blieb auf Li gerichtet. »Es war, als würde er ihn von irgendwoher kennen.« Falls Li etwas in Xus Bemerkungen hineinlas, ließ er es sich nicht anmerken. »Gab es Gespräche wegen unserer Sorgen bezüglich Taiwan und Japan?«, fragte Chi nach. 172
»Ja, natürlich«, erwiderte Xu. »Santini versicherte mir, dass Washington nicht beabsichtige, seine China-Politik auszuhöhlen, und dass es kaum im Interesse der USA sei, Japan zu einer gewichtigeren oder aggressiveren Rolle in asiatischen Angelegenheiten zu ermuntern.« Xu überlegte, ob er von der privaten Unterhaltung mit Santini über die Straße von Taiwan und Tibet erzählen sollte, ließ es aber lieber sein. Tibet war ein viel zu heikles Thema, als dass der Verteidigungsminister es beiläufig erwähnen konnte. Für auswärtige Angelegenheiten war er nicht zuständig. Chi schien von Santinis Versicherungen nicht beeindruckt zu sein. »Ja, natürlich«, sagte er in beißendem Tonfall. »Das erklärt, warum sie weiterhin so genannte Defensivwaffen an Taiwan verkaufen oder insgeheim auf größere Unterstützung durch Japan drängen, falls ein Konflikt auf der koreanischen Halbinsel ausbrechen sollte.« Chis Sarkasmus eröffnete Li die Gelegenheit, sich einzuschalten. »Ganz recht«, sagte er. »Mir liegen eine Reihe von Berichten über amerikanische Aktivitäten vor. Ihre Taten sind wesentlich beredter als die Plattitüden, die sie uns ständig vorsetzen,« Li drehte sich zu den großen Bildschirmen an der Stirnwand des Raums um. »Licht aus, bitte.« Während es dunkel wurde, trat Li zu den Schirmen und begann mit Hilfe eines Laserstrahls als Zeigestock seine allwöchentliche nachrichtendienstliche Reise um die Welt. Der äußerste linke Schirm zeigte eine digitalisierte Karte Europas, auf der geografische Grenzlinien von einer dunklen Woge ausgelöscht wurden, die an die Grenzen Russlands brandete. »Die Amerikaner benutzen den Irak als Sprungbrett für das übergeordnete Ziel, den Ölreichtum am Golf zu kontrollieren. Sie benutzen weiterhin ein NATOProgramm, das sie ›Partnerschaft für den Frieden‹ nennen, als Trick, um mehr Staaten auf die Mitgliedschaft in der 173
NATO vorzubereiten. Bald wird sich Russland mit dem Rücken zur Wand wiederfinden, an einer Erschießungswand. Die Übereinstimmung der Vereinigten Staaten mit Russland im so genannten Krieg gegen den Terrorismus war nur eine List.« »Unsinn!«, schnitt ihm Chi das Wort ab, ehe er richtig begonnen hatte. Das war eine bevorzugte Technik von Chi, um seine Funktionäre auf Trab zu halten und sie daran zu erinnern, dass er keine vorgefertigten Plattheiten schluckte. »Der Irak steckt den Amerikanern wie ein Knochen im Hals. Und die NATO ist viel schwächer als sie scheint. Indem sie die Arme nach immer neuen Ländern ausstreckte, hat sie ihren Kern geschwächt. Schauen Sie sich nur an, was der amerikanische Kongress zu den Europäern sagt: Warum seid ihr euren Versprechungen in finanzieller Hinsicht nicht nachgekommen? Und was sagen die Europäer? Nichts. Sie kürzen einfach weiter ihre Militärausgaben und behaupten, mehr Geld sei nicht nötig, die Amerikaner versuchten nur, einen Markt für ihre Rüstungsindustrie zu schaffen, wo gar keine gebraucht würde. Russlands Problem ist nicht die NATO. Russlands Problem ist Russland.« Xu lächelte. Russland war Chis besondere Spezialität, und Xu wusste, die Diskussion war nun endgültig von Amerika zu Russland gewechselt. »Die russische Armee befindet sich nach wie vor im Zustand der Auflösung«, fuhr Chi fort. »Es wird Jahre dauern, bis sie auf konventionellem Gebiet zu etwas taugt, und inzwischen müssen sie sich auf ihre Nuklearwaffen stützen, um falsche Stärke zu demonstrieren.« Nachdem er Russland als Bedrohung für China verworfen hatte, bemerkte Chi, dass sie Russland als Lieferant großer Waffensysteme zu Spottpreisen benutzten. Er erwähnte, zu Xus gelinder Überraschung, Wladimir Berzin. Dem 174
Verteidigungsminister war nicht bewusst gewesen, wie viele Detailkenntnisse über Verteidigungsfragen der Präsident parat hatte. Li, dachte er, natürlich. Und eine Kette von Informanten. Berzin war Chinas Hauptlieferant für hoch entwickelte elektronische Ausrüstung. Und wie Xu wusste, hatte Berzin einen grausigen, aber lukrativen Nebenerwerb begonnen: menschliche Organe. Jedes Mal, wenn ein chinesischer Gefangener hingerichtet wurde, jedes Mal, wenn ein junger, gesunder Mann auf der Unfallstation eines Krankenhauses starb, wurden dem Opfer die Organe entnommen und an ein geheimes Organhandelsunternehmen weitergegeben. Xu wusste, dass die Volksbefreiungsarmee in den Organhandel verwickelt war – und dass Li den Schmuggel kontrollierte. Geheimdienstmitarbeiter, die loyal gegenüber Xu waren, hatten ihm Abschriften von Telefongesprächen zwischen Li und Berzin gegeben. Xu war von einem Getreuen im Hauptquartier des Generalstabs der VBA gewarnt worden, sich aus der Organhandelssache herauszuhalten, die als Privatunternehmen zwischen Li und Berzin angesehen wurde. Im Lauf der Jahre hatte die VBA den Weg des Kapitalismus eingeschlagen, mehr als zwanzigtausend Gewinn bringende Unternehmen gegründet und eines der weltgrößten Wirtschaftsimperien geschaffen. Die VBA betrieb Firmen, die von Touristennippes bis zu Flugzeugen alles herstellten. Sie hatte sich außerdem Land für luxuriöse Golfplätze angeeignet (Golf war ein neuer Zeitvertreib für hochrangige VBA-Offiziere) und eine Kreuzfahrtlinie auf dem Jangtse gestartet; sie hatte Profibasketballmannschaften gekauft und begonnen, eine Diskothekenkette zu betreiben, in der neben Drinks auch Frauen erhältlich waren. Zudem hatte sich die VBA mit der Volkspolizei zusammengetan, um in großem Maßstab 175
Schmuggel zu betreiben. Einer von Xus loyalen Agenten hatte Informationen über den Schmuggel an einen Korrespondenten der Washington Post durchsickern lassen. In dem Bericht wurde geschätzt, dass der Schmuggelring die Regierung zwölf Milliarden Dollar im Jahr kostete. Als Xu den Bericht Präsident Chi gezeigt hatte, hatte dieser zur Vorsicht gegenüber der »Kapitalistischen Volksarmee«, wie er sie nannte, geraten und Xu empfohlen, bei den Exzessen der VBA einfach wegzusehen. Solche selektive Blindheit war nach Xus Ansicht der Preis, den Chi zu zahlen hatte, um sich die Unterstützung der VBA für die zivile Führung zu erhalten. Bald nachdem er Chi den Bericht der Post gezeigt hatte, bekam Xu den geheimen Befehl, den geschäftlichen Abenteuern der VBA ein Ende zu machen. Chi hatte dafür gesorgt, dass der Geheimbefehl den westlichen Medien bekannt wurde, die daraufhin zahlreiche Beiträge über Xus Kreuzzug produzierten. Xu hatte diese Publicity als eine Art Schutz und als Garantie aufgefasst, dass er selbst keiner Säuberung zum Opfer fallen würde, während er die VBA säuberte. Gleichzeitig hatte Xu daran gearbeitet, die VBA in eine Armee nach westlichem Vorbild umzugestalten. Ein ums andere Mal hatte er jedoch mit Hemmnissen zu kämpfen gehabt, die ihm Li in den Weg warf. Kurz nachdem Xu zum Beispiel die Anweisung bekommen hatte, die VBA aus ihrer Unternehmerrolle zu führen, hatte die zivile Führung einen neuen Geheimbefehl nach unten weitergegeben: Alle Unternehmen, die direkt dem Hauptquartier des Generalstabs gehörten, würden von der Säuberung ausgenommen bleiben. Zu den Unternehmen zählten eine riesige Waffenhandelsgesellschaft, eine Immobilienfirma und eine Diskothekenkette. Xu wäre Li gern losgeworden. Aber Li war zu gut 176
verschanzt – ein passendes Wort für die Art, wie das Militär ihn schützte. Und für die Gräben, die sich um seine Festung auftaten – heimliche Gräber für Offiziere, die Li herausforderten und dann spurlos verschwanden. Hier in der Führungsrunde sprach Li immer noch weiter über Berzin. »Er ist ein äußerst findiger Mann«, sagte er. »Ohne in russische Regierungskanäle vorzustoßen, gelang es ihm, uns Technologie zu verkaufen, die legal nicht exportiert werden darf. Mit Hilfe dieser Technologie verbessern wir in schnellem Tempo unsere Luftabwehrsysteme. Ja, er ist ein guter Mann, oder sollte ich sagen, ein prinzipienloser? Er hat sich eine beträchtliche Gefolgschaft in der Politik erworben und besitzt gute Chancen, der nächste russische Präsident zu werden. Wir sollten ihn finanziell unterstützen. Auch wenn er kein Geld braucht, wird er die Geste zu schätzen wissen. Russlands Wahlgesetze sind – anders als die unserer amerikanischen Freunde – in Sand geschrieben. Es wird uns in keinerlei Verlegenheit bringen, unser Geld einem russischen Kandidaten zu geben.« Li lachte, aber Präsident Chi teilte seinen Humor nicht. Er machte Li ein Zeichen fortzufahren. Li war mit all dem Selbstvertrauen eines Ideologen ausgestattet, für den fanatischer Eifer ein Ehrenzeichen ist. Als der nächste Wandmonitor flackernd anging, präsentierte er eine Reihe von Satellitenbildern, die USKriegsschiffe in philippinischen Gewässern, in Häfen in Japan und Okinawa zeigten. Ein weiteres Bild zeigte ein riesiges neues Dock in Singapur. »Das ist von besonderem Interesse für uns,«, sagte Li, »denn die Dimensionen sind so, dass es ohne weiteres einen US-Flugzeugträger aufnehmen kann – ein mit Nuklearwaffen ausgerüstetes Kriegsschiff.« 177
»Bei allem Respekt, Vizeminister Li«, unterbrach Xu, »aber wie Sie vielleicht vergessen haben, führen Flugzeugträger und andere Überwasserschiffe der USA keine Atomwaffen mit sich.« »Und bei allem Respekt für Sie, Verteidigungsminister«, entgegnete Li, und sein Tonfall spielte leicht ins Respektlose, »woher wissen wir, dass das stimmt?« Den Blick auf Präsident Chi gerichtet, zuckte Xu nur mit den Achseln und hoffte, dass dieses Achselzucken Lis Frage beantwortete. Xu hatte dem Präsidenten erst vor kurzem unter vier Augen versichert, dass sich die chinesische Militäraufklärung in Amerika als erstaunlich genau erwies. Bei seinem letzten Besuch in Washington hatte Xu ein Privatanwesen in Virginia besucht und persönlich einen hochrangigen US-Sicherheitsbeamten dekoriert, der für China spionierte. Der Verteidigungsminister behielt sich die strenge und direkte Kontrolle über den militärischen Geheimdienst vor und unternahm außerordentliche Vorkehrungen, um die Identität seiner amerikanischen Agenten vor Li und seinen Verbündeten geheim zu halten. »Ich teile das Vertrauen von Minister Xu in die Amerikaner nicht«, sagte Li. »Sie bedrängen uns unaufhörlich, versuchen, uns zu umzingeln, einzudämmen.« Er merkte, dass er im Begriff war, die Beherrschung zu verlieren, und holte tief Luft. Aber es war zu spät, schon sprudelte es aus ihm heraus. »Wir hätten Taiwan bombardieren sollen. Wir haben Schwäche gezeigt. Wir hätten sie auf die Probe stellen können – und sie wären eingeknickt. Wir haben gewartet, und die Amerikaner nutzten die Verzögerung, um Taiwan zu mehr Kühnheit zu drängen. Das hat die Bande zwischen der USA und anderen asiatischen Ländern gestärkt. Seht nur, wie sie uns in die Zange nehmen. Ihre Flugzeugträger docken in Singapur an; 178
Japan ist eine Kolonie des Pentagon; amerikanische Unternehmen, die als Strohfirmen für Pentagon und CIA fungieren, werden in Zentralasien aktiv.« Er beruhigte sich und ging zum nächsten Bild weiter. »Und es gibt Hinweise auf Aktivitäten der US-Marine in der Bucht von Cam Ranh in Vietnam. Ein Hafenbesuch, sagen sie. Wie Sie wissen, war ich gegen die Wideraufnahme von Hafenbesuchen so kurz nach dem vorsätzlichen Angriff der Amerikaner auf unsere Botschaft in Belgrad.« Xu sah aus, als wollte er etwas sagen, blieb jedoch stumm. Li wandte sich dem Schirm in der Mitte zu und lenkte seinen Laserstrahl auf den Persischen Golf. »Im Mittleren Osten, wie ihn die Amerikaner und Briten nennen, bleibt alles beim Alten. Es wird nie Frieden zwischen Juden und Arabern geben. Dank uns ist der Iran nun stärker und könnte den Ölfluss tagelang zum Versiegen bringen, und die USA würden feststellen, dass die iranische Marine im Nahkampf ein mehr als ebenbürtiger Gegner ist.« Xu wollte anmerken, dass es sich dabei um keinen uneingeschränkten Vorteil handelte, da China selbst Millionen von Barrel täglich importierte, um sein industrielles Wachstum in Gang zu halten. Und konnte China den Westen im Wettstreit um Öl überbieten? Aber er sagte nichts. Er sah zum Präsidenten und kam zu dem Urteil, falls es weitere Unterbrechungen geben sollte, dann durch Chi. »Es ist unwahrscheinlich«, fuhr Li fort, »dass die Vereinigten Staaten den Iran angreifen, es sei denn, der Iran würde Terrorangriffe unternehmen, wie sie es unserer Ansicht nach 1996 in Saudi-Arabien getan haben. Es ist interessant, dass Minister Santinis Vorgänger dem örtlichen Kommandeur vorwerfen konnten, seine Truppe nicht vor der Explosion einer Bombe von zehntausend Kilo Sprengkraft geschützt zu haben. Aber es gelang ihnen 179
nicht, den Iranern die Schuld in die Schuhe zu schieben – oder sie trauen sich nicht. Nun kommt Santini. Er begreift, dass der Iran nicht hilflos den Kopf einzieht, wenn er geschlagen wird. Nein, der Iran wird amerikanische Ziele auf der ganzen Welt angreifen, vor allem in Amerika selbst. Es wird ein weltweiter Krieg sein. Ein Krieg, auf den das amerikanische Volk nicht vorbereitet ist.« Dieser Gedanke schien Li besondere Freude zu machen.
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15 Li Kangsheng stieg aus seinem Dienstwagen, einem schwarzen Mercedes, gefolgt von einem Offizier, der während des Treffens beim Präsidenten an der Wand gesessen hatte. Sie drängten sich durch eine wogende Menge junger Leute und betraten eine Disko. Genauso nannten sie es. Disko. Es gab kein chinesisches Wort für diesen Ort, diesen kleinen Posten im prallvollen Investmentportfolio der Volksbefreiungsarmee. Dieses Gebäude, dachte Li, war früher eine Brutstätte gewesen, ein Ort, an dem wir die Küken herangezogen hatten, die einmal die Falken Chinas werden sollten. Und nun das … Gewissen ist eine bourgeoise Vorstellung, hatten ihm seine Lehrer auf der Schule für die viel versprechenden Söhne von Parteimitgliedern beigebracht. Gewissen ist eine christlich-kapitalistische Erfindung, um die Gedanken und Wünsche des Individuums in die von der herrschenden Klasse geschaffenen und unterhaltenen Bahnen zu lenken. Und dennoch. Li nahm das Zucken eines unzulässigen Zweifels wahr. Er fühlte, dass die Übernahme des Kadettenhörsaals durch die VBA irgendwie falsch war. Li war am Balancepunkt, wie er es nannte, an der Stelle, wo die festen, alten Ideale der Partei auf ihre ständig wechselnden, neuen Praktiken stießen. Tausende von angehenden Offizieren waren in diesen Hörsaal marschiert und hatten sich Vorlesungen über das Betragen angehört, das man von einem Offizier erwartete. Nun erwartete man von Offizieren wie Li, dass sie die Früchte der Doppelwirtschaft genossen: Kommunismus der alten Schule, der die Massen unter Kontrolle hielt, und staatlich geförderter Kapitalismus für die Elite. Häufig kam es zu Zusam181
menstößen zwischen den beiden Wirtschaftsformen – wie erst vor wenigen Tagen in einem bedrückend armen, kleinen Dorf im Süden geschehen. Die Lehrer einer Grundschule hatten ihre Schüler gezwungen, Feuerwerkskörper für eine von der VBA kontrollierte Exportfirma herzustellen. Die Lehrer verkauften die Feuerwerkskörper mit Gewinn, begünstigt durch den Umstand, dass die Schüler keinen Lohn erhielten. Als die Schule in die Luft flog und Dutzende von Kindern ums Leben kamen, hatte der örtliche Parteiführer den trauernden Eltern mit Gefängnis gedroht, falls sie ein Wort von dem Vorfall verlauten ließen. Li und andere Angehörige der Elite hatten durch einen geheimen Parteibericht davon Kenntnis erlangt, in dem auch stand, dass der Ortsvorsitzende offiziell gerügt und in eine andere Provinz versetzt worden war. Für Li war der Zwischenfall nur ein Beweis mehr, dass die Doppelwirtschaftsdoktrin China schwächte, dass sie den Kommunismus letztendlich zerstören und das Land wieder den alten Kriegsherren ausliefern werde. Die Kleinbauern würden aufbegehren, und man würde die VBA rufen, um die Revolte zu ersticken. Als sollte die VBA zum späten Erfüllungsgehilfen Chiang Kai-sheks werden. Und doch … und doch … In einer Revolution war das Schlimmste manchmal das Beste. Li führte den anderen Offizier durch den überfüllten Eingangsbereich, an einem Garderobenmädchen in einem hauchdünnen roten Kleid vorbei, bis sie den Rand einer überfüllten Tanzfläche erreichten. Li, der schlank und fit war, machte eine gute Figur und wusste, wie man eine Aura von Autorität ausstrahlte. Er überragte seinen Begleiter, Generalmajor Zhou Xi, um eine Handbreit. Zhou, ein kahler und korpulent Mann ohne eine Spur von Offiziersanmut, besaß die lächelnde Miene eines buddhistischen Mönches. Sein Aussehen wie auch seine 182
unklare, geistesabwesende Art hatten ihn vor allem unter jüngeren Offizieren zum Gespött werden lassen. Sie nannten ihn den Mönch und äfften seine Singsangstimme nach, wenn er alte Gedichte zitierte, um ein Argument zu unterstreichen. Zhou diente Li als wichtigster Berater und versorgte ihn mit Einsichten in die Welt außerhalb Chinas. Zhou sprach gut Englisch, fließend Russisch und passabel Französisch – Sprachen, die er sich im privaten Studium angeeignet und dann während seiner Dienstzeiten in den Militärattachébüros in London, Moskau und Paris vertieft hatte. Zhou war so kosmopolitisch, dass ihm viele hochrangige VBA-Offiziere misstrauten. Li dagegen betrachtete ihn als Aktivposten, jedenfalls für den Augenblick. Später, wenn die Zeiten rauer wurden und blutiger, würde vielleicht auch Zhou nicht mehr so nützlich sein. Weiße Lichter pulsierten durch die rauchige Dunkelheit, wurden von den silbrigen Wänden reflektiert und beleuchteten die gespenstischen Gesichter der Tänzer. Rockmusik der Siebzigerjahre hämmerte aus zwei Dutzend leistungsstarken Lautsprechern. Li wusste, dass Licht- und Tonanlage aus Taiwan stammten, genau wie die Ingenieure, die den Hörsaal umgebaut hatten. Offiziere der Volksbefreiungsarmee hatten sie samt ihren Waren nach Peking geschmuggelt, unterstützt von den Offizieren und der Mannschaft eines Patrouillenschiffes, das in der Straße von Taiwan operierte. Ein General aus dem persönlichen Stab des Parteivorsitzenden hatte den Verkauf des VBAHörsaals an eine Scheingesellschaft genehmigt, die aus dem General, seiner Geliebten und seinem ältesten Sohn Shen Quintau, einem Oberst in Xus Stab, bestand. Li und Zhou begrüßten Shen nun am Rand der Tanzfläche. Zu dritt näherten sie sich einem hoch gewachsenen, ernsten Mann, dessen Smoking lose genug saß, um über 183
ein Schulterhalfter mit einer Glock 34 und eine kugelsichere Weste zu passen. Er stand vor einer Tür in der Nähe einer Theke. Li zog an der Fliege des Mannes und ließ sie an ihrem schwarzen Gummiband zurückschnappen. »Alles in Ordnung, Gefreiter?«, fragte er. »Alles in Ordnung, General«, antwortete der Mann, und ein verkrampftes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Sie haben einen Besucher.« Er langte mit der rechten Hand hinter sich und drückte auf einen Knopf. Die Tür glitt auf, Li, Shen und Zhou gingen hindurch, die Tür schloss sich hinter ihnen. Über einen kurzen, schwach beleuchteten Flur gelangten sie zu einem zweiten Eingang. Li gab sechs Ziffern in das elektronische Schloss ein, öffnete die Tür und führte die beiden anderen Offiziere über eine Wendeltreppe in einen großen Raum hinab. An einem Ende des Raums befanden sich eine braune Ledercouch und zwei dazu passende Sessel. Schonbezüge bedeckten die Couch- und Sesselarme. Auf einem niedrigen Teakholztisch standen drei blauweiße Tassen und eine blauweiße Teekanne. Ein Mann erhob sich aus einem der Sessel und verbeugte sich in Richtung der Ankommenden. »Gratuliere, Wang Gui«, begrüßte ihn Zhou. »Ich habe heute erfahren, dass Sie der jüngste General in der chinesischen Armee geworden sind.« Zhou ging auf Wang Gui zu und schüttelte ihm schlaff die ausgestreckte Hand. Wang Gui war größer als Li und dunkelhäutiger, mit einem mongolischen Einschlag in dem kantigen Gesicht. Seine Uniform aus leichtem Kammgarn war gut geschnitten, etwas gepolstert in den Schultern, an der Taille enger. Wahrscheinlich war sie in Hongkong geschneidert worden. Sie stand in schroffem Gegensatz zu den Uniformen von Zhou und General Li, dem Standardsack der VBA aus glatter Baumwolle, trüb olivgrün gefärbt, eine 184
zur Bescheidenheit mahnende Erinnerung an die Zeiten, als Offiziere der VBA keine Rangabzeichen oder Orden trugen. Brigadegeneral Wang Gui war vom Kleinbauernstand so weit entfernt wie jene Börsenmakler, die mit dem Handy am Ohr durch die Straßen Pekings liefen. General Li setzte sich in die Mitte der Couch. Wang Gui und Shen ließen sich links und rechts in den Sesseln nieder. Zhou nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz. Li goss sich Tee ein und füllte dann Shens Tasse. Er stellte die Teekanne vor Wang Gui ab, der sich selbst würde bedienen müssen. Zhou bot er keinen Tee an. Li stellte seine schwarze Aktentasche auf den Tisch, sperrte sie mit einem kleinen Messingschlüssel auf und entnahm ihr einen schmalen Aktenordner. Er klappte ihn auf und holte ein Papier heraus. »Wir kommen soeben von einer Sitzung bei Präsident Chi«, sagte Li an Wang Gui gewandt, der sich gerade Tee einschenkte und nun aufsah. »Es war wie immer erbärmlich langweilig. Präsident Chi spult Sitzungen rein routinemäßig herunter. Ich glaube, er ist mit seinen ziellosen Gedanken mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Und mein so genannter Vorgesetzter, Minister Xu, ist kaum besser. Er hat über unsere Amerikareise berichtet.« Er wandte sich an Zhou. »Eine Reise, die Sie zu Ihrem Glück verpasst haben, General Zhou.« Li lehnte sich zurück und trank seinen Tee. Er hielt das Blatt Papier vor die Augen, als würde er es lesen. Aber das war nur Pantomime. Das Papier war in Englisch verfasst, und Li konnte kein Englisch lesen. Nachdem er einen wohl überlegten Moment gewartet und den Eindruck vermittelt hatte, sich den Inhalt des Schreibens einzuverleiben, reichte er es an Zhou weiter. »Lesen Sie das vor.« »Laut?«, fragte Zhou. 185
»Ja, laut. Damit wir alle etwas davon haben.« »Es ist das, was die Amerikaner eine Kurznachricht nennen«, sagte Zhou. »Ein Memo«, fügte er auf Englisch an. »Es scheint vom Büro des amerikanischen Verteidigungsminister Santini zu kommen und ist adressiert an …« Er blickte auf, Verwirrung und Erstaunen im normalerweise ausdruckslosen Gesicht. »Adressiert an den Präsidenten der Vereinigten Staaten.« »Sehr gute Übersetzung bis hierher«, sagte Li und lachte. »Bitte fahren Sie fort.« »Mr. President«, las Zhou vor, »meine Vorgespräche mit Verteidigungsminister Xu haben mich zu der Überzeugung geführt, dass er ein vernünftiges China repräsentiert. Ich glaube jedoch, dass er wie andere Gemäßigte von Hard …« »Das reicht«, sagte Li, griff nach dem Papier und verstaute es in seinem Aktenkoffer. »Aber wie …?«, fragte Wang Gui und schnellte vor. »Wie …?« »Ich habe meine Kanäle«, sagte Li. »Sie sind vielleicht zu jung, um sich zu erinnern, dass China einmal einen Spion in der CIA hatte, einen Patrioten namens Larry WuTai Chin. Er wurde von dem Verräter Yu Zhensan aufgedeckt, dem früheren Direktor des außenpolitischen Büros im Ministerium für Staatssicherheit. Yu Zhensan ist in den Westen übergelaufen. Es dauerte sehr lange, bis das Ministerium für Staatssicherheit einen neuen Spion aufgebaut hatte. Wie Sie wissen, traue ich dem Ministerium für Staatssicherheit nicht. Deshalb habe ich mir meine eigenen Spione gesucht. Ich brauche solche Geheimdiensterkenntnisse für meine Pläne.« Wang Gui stand auf und legte die Hände aneinander. »Es ist, wie General Sun-tzu vor vielen Jahrhunderten schrieb«, 186
sagte er. »Wenn man den Feind kennt und sich selbst kennt, braucht man hundert Schlachten nicht zu fürchten. Aber wenn man nur sich selbst kennt und nicht den Feind, wird man für jeden Sieg eine Niederlage erleiden.« »Ja«, antwortete Li. »General Sun-tzu. Wir lernen aus der Vergangenheit. Wir lernen aber auch aus der Gegenwart. Wir lernen, dass sich Verteidigungsminister Xu und Santini sehr nahe gekommen sind. Wir lernen, dass Xu möglicherweise auf dem Weg des Verrats ist. Er gibt Taiwan auf.« Li wedelte mit dem Papier. »Und Taiwan aufgeben, heißt China aufgeben.« Li holte Atem und beugte sich vor, als wollte er, dass sie alle näher zusammenrückten. »Präsident Chi«, sagte er leise, »ist ein großer Narr. Er weigert sich zu sehen, was die Amerikaner mit uns machen. Stützpunkte in Pakistan – unserem früheren Verbündeten – und in Usbekistan, in Tadschikistan. Auf den Philippinen planen sie neue Operationen. Noch mehr Waffen für Taiwan … Wir sitzen da und schauen zu, wie sie ihre imperialen Arme ausstrecken – alles im Namen eines Kampfes gegen den globalen Terrorismus. Und Chi sagt, wir sollen Geduld haben! Nein, sage ich. Was wir da tun, ist absurd. Wir machen zu viel Aufhebens um die Tatsache, dass die Amerikaner bei unserem Vorgehen gegen Falun Gong oder in Tibet wegsehen. Unser furchtloser Führer predigt uns, unser Ziel müsse ein ›leiser Imperialismus‹ sein. Nur keine Ängste wegen unserer zunehmenden Präsenz in Panama, Südostasien und Saudi-Arabien wecken.« »Ja, General Li«, unterbrach Wang Gui und verbeugte sich leicht ob seiner Anmaßung. »Aber Schifffahrtsrouten und Energieversorgung sind lebenswichtig für Amerikas Wirtschaft. Sie könnte in sich zusammenfallen wie ein Akkordeon, wenn beides abgeschnitten wird.« 187
»Das ist das Argument, das unser großer Führer Chi für uns bereithält. Immer auf lange Sicht denken. Das Versprechen eines Morgen, das vielleicht nie kommt. Aber schauen Sie auf das Heute. Heute werden wir eingekreist. Die Leute im Innern unseres Landes ernähren sich von Haferschleim und geben erstklassige Ziele für die muslimischen Fanatiker in den westlichen Provinzen ab. Wir verfaulen von innen, während uns die Amerikaner systematisch die Gliedmaßen amputieren. Wir können nicht auf ein goldenes Morgen warten.« Li lehnte sich zurück. Ein langes Schweigen senkte sich auf die Runde. »Wir – wir wenigen jetzt, wir viele sehr bald – müssen Amerika isolieren, die Supermacht impotent machen. Ein scharfes Schwert, wie Sun-tzu sagen würde, ist der beste Weg zum Herzen. Um Amerika zu schwächen, müssen wir das Pentagon schwächen. Und wir haben bereits damit begonnen. Ich darf Ihre Aufmerksamkeit auf die Zerstörung deutscher Kampfflugzeuge in Amerika lenken, auf einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt.« Wang Gui und Zhou wechselten Blicke. »Wollen Sie damit sagen, Sie haben diese Kollision irgendwie herbeigeführt?«, fragte Zhou. Shen wollte offenbar die gleiche Frage stellen. »Ich glaube, die Amerikaner nennen die Chinesen oft unergründlich«, sagte Li und lachte wieder. »Ich werde selbst für Sie, meine Freunde, unergründlich bleiben. Aber erlauben Sie mir, zum Seher zu werden.« Er griff nach seiner Tasse, schwenkte die letzten Tropfen in ihr herum und blickte auf die Teeblätter am Grund hinab. »Ich sehe einen noch größeren Unfall, eine Tragödie für viele Menschen.«
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16 SHANGHAI Das Neue Shanghai, wie die Chinesen die Stadt gerne nannten, sprach Wladimir Berzin mehr an als Moskau, besonders jetzt, da Moskau so trist und grau und voller obdachloser Trinker war. »Hure des Ostens« und »Paris des Orients« hatte man Shanghai in seinen wilden, gesetzlosen Zeiten genannt. Und diese wilde Vergangenheit hielt sich immer noch in den dunklen Ecken der Stadt, die nun die größte und wohlhabendste Chinas war und gegen die Peking wie ein verräuchertes Provinzkaff wirkte, das sich erst langsam aus dem 20. Jahrhundert heraustastete. Berzin hatte ein kleines Vermögen in Shanghai gehortet und ließ seine Dollars sowohl in legale Immobilienanlagen als auch in einige schmutzige, aber profitable Arrangements mit den chinesischen Banden fließen, die Prostitution und Drogenhandel in der Stadt kontrollierten. Shanghai war ein Zentrum der Kinderprostitution in China. Berzin mied dieses Geschäft, nicht aus moralischen Gründen, sondern weil nicht das große Geld damit zu verdienen war. Die neuen Millionäre in Shanghai wollten sich stilvoll vergnügen. Das große Geld steckte in Escortagenturen und Kurtisanen für fünfhundert Dollar pro Nacht. Erst vor zwei Jahren hatte Berzin Anteile an den drei größten Escortdiensten gekauft. Inzwischen besaß er einen maßgeblichen Anteil an einem von ihnen, und bald würde er alle drei kontrollieren. 189
Er stand in einen weißen Frotteebademantel gehüllt auf dem Balkon seiner Suite im Grand Hyatt Hotel und beobachtete das Tosen des Verkehrs unter ihm. Er hörte, wie hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, als Hsu Lin ging – wie üblich, ohne sich zu verabschieden. Sie würde in ein paar Stunden zurück sein und, so stellte er sich vor, das meergrüne Kleid tragen, das er bei ihrem gestrigen Einkaufsbummel für sie ausgesucht hatte. Sie würden in einer ruhigen Ecke in der oberen Etage des Restaurants Drachenvogel zu Abend essen, vielleicht noch dem sehr zahmen Jazz unten in der Bar lauschen, und dann würde er eine weitere fantastische Nacht mit der talentierten Hsu Lin genießen. Er drehte sich um, ging ins Schlafzimmer und begann, sich für seine Verabredung anzukleiden. Li traf auf die Minute pünktlich ein, begleitet von einem schlaksigen Mann mit Hängeschultern in einem schlecht sitzenden braunen Anzug, grünem Hemd, weißer Krawatte und gelben Sandalen ohne Socken. »Mein Dolmetscher«, sagte Li anstelle einer Begrüßung. Berzin nickte und lächelte über Lis absoluten Mangel an Freundlichkeit. Für Li, dachte er, ist Höflichkeit – ja, schon bloßer Anstand – ein Zeichen von Schwäche, ein Zusteuern auf bourgeoise Werte. Berzin kannte den Typ. Er hatte als Kind und als Erwachsener viele solcher Leute getroffen, in Berlin ebenso wie in Moskau. Li und Berzin hatten sich einige Jahre zuvor kennen gelernt, als Li für einen General der Volksbefreiungsarmee arbeitete, der in Russland Raketentechnologie studiert hatte und dann für die China Trade Company (CTC) tätig war, eine Firma, an der die VBA einen umfangreichen geheimen Anteil besaß. Der Aufgabenbereich der CTC war die Entwicklung von Telekommunikationstechnik für militärische Zwecke. Li war nach Moskau geschickt worden, um ehemalige KGB-Offiziere aufzusuchen, die 190
ihm helfen konnten, diese Technologie auf die leichte Tour zu beschaffen – indem man sie von den Vereinigten Staaten stahl. In Moskau passierte nicht viel, ohne dass Berzin davon erfuhr. Er hörte, wonach Li suchte und tauchte unangemeldet in Begleitung eines Dolmetschers in Lis Hotelzimmer auf. Berzin wurde Kommissionär der CTC und ließ, nach Erhalt eines hohen Honorars, von MofiyaKomplizen in den Vereinigten Staaten ein legal aussehendes amerikanisch-chinesisches Joint-Venture-Unternehmen aufbauen. Die Firma lieferte Telekommunikationsausrüstung, Verschlüsselungssoftware und Glasfaserkabel aus den USA an die Chinesen. Was Li nicht wusste, war, dass Berzin auch für die CIA arbeitete. So gab er alle Informationen (inklusive der Lösungen für die Verschlüsselungen) an seinen Führungsoffizier in Moskau weiter. Und was die CIA nicht wusste, war, dass Berzin anschließend ein Abkommen traf, Versionen der Ausrüstung in den Irak zu schaffen, für das Luftabwehrnetz der Iraker. Als letzten Dreh erfand Berzin dann noch einen nicht existierenden Agenten, dessen Identität dem Führungsoffizier der CIA nicht bekannt war. Und dieser vorgetäuschte Agent lieferte gegen eine hübsche Summe Details des irakischen Systems an die CIA, was es USKampfflugzeugen erleichterte, irakische Raketen anzugreifen. Irgendwann bekam die CIA schließlich Wind von Berzins Geschäften. Als sie ihn gerade mit einer vagen Erklärung und einer großen Abfindung fallen lassen wollten, stieg Berzin seinerseits aus mit der Forderung, dass sein Führungsoffizier aus Moskau abgezogen wurde. Der Erfolg mit CTC hatte zu Berzins Aufstieg als Drahtzieher für Unternehmen der VBA geführt. Li konnte offen und legal mit ihm verhandeln. Deshalb erregten Lis häufige Reisen nach Russland in Peking keinen Verdacht. Lis Revolution, wie Berzin es nannte, mehrte beständig 191
Berzins Reichtum und versorgte ihn zuverlässig mit Einsichten in die Methoden und Pläne der chinesischen Führung. Berzins Verwicklung in Lis Revolution begann, als er erfuhr, dass Verteidigungsminister Koestler Präsident Jefferson empfehlen wollte, inoffiziell und heimlich Bauteile für Patriot-III-Raketen an Taiwan zu liefern, um es in die Lage zu versetzen, eine Abwehr gegen chinesische Raketen aufzubauen. Koestler hatte den Vorschlag mit Praeger und einigen Waffenhändlern diskutiert, die die ganze Sache abwickeln würden. Als Berzin über seine eigenen Verbindungen zu Waffenhändlern davon Wind bekam, informierte er Li, der darüber außer sich war. Um seine Möglichkeiten zu demonstrieren, bot Berzin an, Koestler zu eliminieren. Die »Tat«, wie Li es nannte, schweißte die beiden zusammen. Als Li erfuhr, dass er zur offiziellen Delegation beim Besuch in den Vereinigten Staaten gehören würde, nahm er mit Berzin Kontakt auf und teilte ihm mit, dass weitere Taten nötig seien. Nach Lis Ansicht war eine Schwächung von Macht und Ansehen der USA für seine Pläne von entscheidender Bedeutung. Wie er Berzin verraten hatte, frustrierte es ihn, dass sein Arm nicht über China hinausreichte. Berzin hatte Li überzeugt, dass russische Agenten in den USA und Europa viel eher dazu in der Lage waren, Informationen zu sammeln und Sabotageakte zu verüben als chinesische. »Ein Chinese kann sich einfach nicht viel erlauben«, hatte er gesagt, und Li hatte ihm widerwillig Recht gegeben. Li hatte Berzin ermächtigt, Wege zu suchen, wie man Amerikaner und Deutsche auseinander bringen konnte. Dies sollte ein erster Schritt in dem Plan sein, die weltweite Macht der USA zu beschränken. Aus einem Gespräch, wie sie es auch heute führten, war das entstanden, was sie den 192
»New-Mexico-Zwischenfall« nannten. Sie trafen sich diesmal zwar auf Lis Territorium, aber Berzin war der Gastgeber, und er beschloss, ein Stückchen Autorität zu demonstrieren, indem er den Ort ihrer Unterredung ein wenig verschob. »Wollen wir auf dem Balkon beginnen?«, fragte er und deutete auf die offene Doppeltür. Die glatten weißen Vorhänge blähten sich in den Raum. Der Dolmetscher übersetzte so leise, dass Berzin die chinesischen Laute kaum hörte. Er wusste, dass sich Li mit Dolmetschern nicht wohl fühlte. Er benutzte nie zweimal denselben, und Berzin fragte sich, ob er ein unerschöpfliches Reservoir an ihnen hatte. Li beantwortete den Vorschlag, indem er auf dem Absatz kehrtmachte, den Vorhang teilte und auf den Balkon hinaustrat. Berzin und der Dolmetscher folgten, wobei Letzterer aus seiner Jackentasche ein kleines Gerät holte, das wie ein Kassettenrekorder aussah. »Ich teste auf elektronische Geräte«, sagte er zu Berzin. Berzin forderte Li auf, in einem Stuhl an einem runden Tisch mit Glasplatte Platz zu nehmen, setzte sich gegenüber und zeigte auf einen Stuhl beim Geländer für den Dolmetscher. In der Mitte des Tisches stand eine Flasche Johnny Walker Black, eine Siphonflasche, ein Eimer mit Eis, zwei Gläser mit Berzins Initialen in kyrillischen Buchstaben und eine Schale Pistazien. Li blickte beifällig auf den Tisch, lächelte und griff nach einem Glas. Er goss sich reichlich von dem Scotch ein, griff sich eine Hand voll Pistazien und begann, die Schalen mit seinen vorstehenden Zähnen aufzuknacken. Dann spuckte er die Schalen aus und kaute die kleinen Köstlichkeiten. Dazwischen trank er regelmäßig von 193
seinem Whiskey. Berzin wusste, dass fünf Minuten dieses Rituals jedem Gespräch vorauszugehen hatten. Er nahm sich ein Glas, gab einen langen Spritzer aus der Sodaflasche zu einem Schuss Whiskey und warf drei Eiswürfel hinein. Er trank einen Schluck und sah zu dem Dolmetscher hinüber, der kerzengerade dasaß und Kugelschreiber, russischchinesisches Wörterbuch und Notizblock bereithielt. Wie Berzin wusste, entsprach es der chinesischen Tradition, Dolmetscher, Fahrer und andere Angestellte als Unpersonen zu behandeln. In Gegenwart ihrer Vorgesetzten durften sie nicht essen, trinken, sich unterhalten oder irgendwie sonst eine eigenständige Existenz erkennen lassen. Berzin beschloss, die Situation an sich zu reißen. Er stand wortlos auf, ging in das prächtige Badezimmer der Suite und kam mit einem Glas Wasser zurück. Er warf drei Eiswürfel in das Glas. »Es ist heiß hier draußen auf dem Balkon«, sagte er und reichte dem Dolmetscher lächelnd das Wasser. Der Dolmetscher trank gierig fast das ganze Glas aus. Li sah ihn böse an und sagte rasch etwas. Berzin brauchte keine Übersetzung – Li wollte wissen, was er eben gesagt hatte. Der Dolmetscher antwortete. Li sprach erneut, ruhig diesmal. Der Dolmetscher wandte sich an Berzin. »Vor dem Gespräch möchte« – der Dolmetscher senkte den Kopf – »General Li Ihnen mitteilen, dass die … die Frau, die hier war … Hsu Lin … nicht wiederkommen wird.« Ehe Berzin reagieren konnte, sprach Li schnell weiter zu dem Dolmetscher, der in dem Wörterbuch blätterte, etwas auf seinen Notizblock kritzelte und dann zu Berzin aufsah. »Die Frau, Hsu Lin, hat kein gültiges Gesundheitszeugnis. 194
Eine Frau, die ein solches Zeugnis hat, wird heute Abend in Ihre Suite kommen.« Der Dolmetscher sah Li an, dieser nickte. »Wir werden nun mit dem Gespräch fortfahren.« »Sagen Sie General Li, ich weiß seine Sorge um meine Gesundheit zu schätzen.« Berzin lächelte. Er nahm an, Hsu Lin würde von einem Offizier Lis gründlich vernommen werden. Berzin hatte die Suite routinemäßig entwanzt. Deshalb wollte Li auf andere Weise erfahren, ob Berzin etwas von Interesse zu Hsu Lin gesagt hatte. Es konnte gar nichts dergleichen geben, weil Berzin kein Chinesisch sprach und Hsu Lin kein Russisch. Aber das war genau die Art Realität, die chinesische Geheimdienstoffiziere für gewöhnlich ignorierten. Li sagte etwas, und der Dolmetscher übersetzte: »Schauen Sie auf die Ostseite des Huangpu-Flusses, auf Pudong. Früher war es Ödland. Jetzt gibt es dank der Weitsicht der chinesischen Regierung viele hohe Gebäude in Pudong, die Shanghaier Börse und den Fernsehturm. Shanghai ist die einwohnerreichste Stadt der Welt.« Wieder lächelte Berzin. Vielleicht, dachte er, glaubt Li, der Dolmetscher trägt einen Rekorder am Leib, und meint, ein wenig Propaganda verbreiten zu müssen. »Eine sehr schöne und wohlhabende Stadt«, sagte er. »Und sicherlich ein Ort, wo Geschäftsleute nicht die Zeit ihrer Partner verschwenden.« Li wirkte einen Moment lang irritiert und hielt den Blick starr auf Shanghais spektakuläre Skyline gerichtet. Er gab sich große Mühe, seine Verachtung für all das zu unterdrücken, was er ringsum sah. Hatte Deng Xiaoping bei seiner Vision von den »Vier Modernisierungen« mit solcher Extravaganz, solcher Dekadenz gerechnet, fragte sich Li. Gewiss, die Projekte zur Urbarmachung von Land und die den Himmel krümmenden, optisch eindrucksvollen Gebäude zeugten vom Genie und der Fantasie 195
Chinas. Aber zu welchem Preis? Diskos, McDonald’s, Kentucky Fried Chicken, all das war aus der Erde geschossen wie Pilze im Dunkeln. Sie waren überall, und bald würden sich Starbucks-Cafés wie ein Krebs ausbreiten. Die Leute würden immer höhere Löhne fordern müssen, um sich Kaffee leisten zu können. Denn nicht Tee, sondern kolumbianischer Kaffee wurde zum bevorzugten Getränk für die Neureichen in ihren japanischen oder deutschen Autos. Und sexuelle Promiskuität hatte ihre Strafe über sie gebracht – AIDS, mit freundlichen Grüßen von denselben Leuten, die ihre Autos und Schnellimbissketten nach China importierten. Und was scherte sich diese neue Generation um Leute, die von einem Penny am Tag leben mussten? Oder wussten sie, wie es den Menschen in Xinjiang oder anderen entlegenen Provinzen erging? In Asku ermordeten die islamischen Extremisten örtliche Funktionäre, sprengten Gebäude in die Luft und vergifteten Vieh. Sie versuchten, die dortige kommunistische Partei zu vernichten und kämpften für einen eigenen Staat, den sie Ostturkmenien nannten. Das war reiner Terrorismus gegen die Zivilbevölkerung. Selbst die Heuchler in Washington hatten eine Gruppe der Uiguren auf ihre Terroristenliste gesetzt – zur Beschwichtigung Chinas. Aber Washington hielt Pakistan nicht davon ab, den uigurischen Terroristen Waffen zu senden. In der Zwischenzeit war China gezwungen, den islamischen Mord an seinen Menschen ohnmächtig und schweigend zu erdulden. Li fühlte, wie sein Puls raste. Der Hass, der durch seine Adern strömte, war schlecht für seine Gesundheit, hatte man ihm gesagt. Aber ringsum erinnerte ihn alles ständig daran, dass die Führer Chinas ihre Seele für diese Wohlstandsblase verkauften, die eines Tages platzen würde. Es war unvermeidlich. 196
Li lag die chinesische Kultur und Geschichte sehr am Herzen. Vor allem aber war er ein Mann des Militärs, der sein Leben dem Schutz seines Landes widmete. Und die Entwicklung, die er sah, erschreckte ihn und machte ihn wütend. Amerikanische Luftabwehrsysteme und AegisTechnologie für Taiwan. Amerikanische Abfangraketen für Japan. Amerikanische Stützpunkte auf den Philippinen. Und das Gerede, dass amerikanische Marineeinheiten nach Vietnam zurückkehrten, war mehr als nur ein Gerücht! Sie wurden umzingelt, während Amerika seine Anwesenheit mit seinem Krieg gegen den Terrorismus rechtfertigte. Alle Welt musste entweder für oder gegen sie sein. Nun, ihn konnten diese Hundesöhne jedenfalls zur Gegenseite zählen … »Ich sagte«, wiederholte Berzin, »ein Ort, wo Geschäftsleute nicht die Zeit ihrer Partner verschwenden.« Der Dolmetscher bewegte sich leicht, um Lis Aufmerksamkeit zu wecken. Der fuhr aus seiner Geistesabwesenheit auf, griff in eine kleine, lederne Aktentasche und zog mehrere Blätter heraus. Er setzte gerade zu sprechen an, als ihm Berzin zuvorkam. »Ich muss gestehen, General Li, dass ich Schwierigkeiten habe, unsere beiden Geschäftsbereiche auseinander zu halten.« Als der Dolmetscher das übersetzte, schien Li nicht wohl in seiner Haut zu sein. »Sie sind«, fuhr Berzin fort, »der leitende Beschaffungsoffizier der VBA. Sie sind außerdem Mitglied des Vorstands der China International Trust and Investment Company, manchmal CITIC genannt, um die westliche Abkürzung dafür zu benutzen. Und diese Firma gehört meines Wissens zu großen Teilen der VBA. Meine Frage ist also: Habe ich es nun mit General Li, dem Beschaffungsoffizier, zu tun, oder mit Mister Li, dem Vorstandsmitglied der CITIC?« 197
Es war ein kühner Zug. Aber Berzin war es gewohnt, unerschrocken mit Partnern umzugehen, die weitaus bedrohlicher waren als Li. Er hatte nicht nur enthüllt, dass er Lis Verbindung zur CITIC kannte. Er hatte es zugleich auch jedem verraten, den der Dolmetscher zu informieren beliebte. Dieser sah Li mit großen Augen an, während Li in scharfem Tonfall zu ihm sprach und sich noch ein Glas Scotch einschenkte. »Sie reden zu offen, Mr. Berzin«, übersetzte der Dolmetscher. »Sie sind sich nicht völlig über die Situation im Klaren.« »Ich glaube auch nicht, dass Sie sich völlig über die Situation im Klaren sind, General.« Li machte dem Dolmetscher ein Zeichen, seinen Stuhl an den Tisch zu rücken und goss ihm großzügig von dem Whiskey ins Wasserglas. Berzin spürte einen Wandel in Lis Tonfall und Benehmen, von barsch autoritär zu konspirativ freundlich. Li stellte den Dolmetscher als Hauptmann Chang K.Y. Yew vor, Offizier im Ministerium für Staatssicherheit, der obersten Geheimdienstbehörde des Landes. Er sagte, Chang genieße sein vollstes Vertrauen. »Ihre indiskrete Äußerung über die CITIC« – er blieb bei der englischen Abkürzung – »wird also nicht weiter verbreitet werden.« Als der Dolmetscher das übersetzte, lachte er und schüttelte heftig den Kopf. »Vielleicht sollten wir kurz die Vergangenheit durchgehen und uns dann die Zukunft ansehen.« In der Folge gingen die Übersetzungen flotter vonstatten, da der Dolmetscher einen entspannteren Rhythmus einschlug. Sowohl Li als auch Berzin griffen ihn auf. Berzin nahm an, dass keiner der vorherigen Dolmetscher ein Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen war. Er und Hauptmann Chang sahen sich kurz in die Augen. Der 198
Mann wirkte nun weniger wie ein Dolmetscher, sondern mehr wie ein Geheimdienstoffizier, der ein Dossier über Berzin besaß. Eine echte Geschäftsangelegenheit hatte Berzin nach Shanghai geführt. Er war angereist, um den Transport einer Schiffsladung Waffen zu überwachen, die die VBA unter Lis Aufsicht offen von russischen Herstellern gekauft hatte. Unter den Waffen befanden sich SA-15Kurzstreckenraketen, Überschalltorpedos vom Typ SS-N22 Sunburn und S-300-Boden-Luft-Raketen für die moderne Langstreckenraketenbasis in Zhangzhou auf dem chinesischen Festland, gegenüber von Taiwan. Während der offiziellen USA-Reise des chinesischen Verteidigungsministers hatte sein amerikanischer Amtskollege Santini die Basis in Zhangzhou erwähnt, merkte Li an. »Gute Geheimdienstarbeit der Amerikaner«, sagte Berzin. »Meine ist besser«, ließ Li über den lächelnden Chang erwidern. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, Santinis Memo an den Präsidenten aus seiner Tasche zu ziehen. Eine russische Übersetzung war angeheftet. Berzin bemühte sich, nicht überrascht zu wirken. »Wie viel bezahlen Sie meinen Geheimdienstfreunden in Moskau für so etwas?«, fragte er und gab Li die Papiere zurück. »Das ist meine Sache, mein Freund. Und ich habe meine eigenen Quellen. China hat seine Abhängigkeit vom Großen Bruder schon vor langer Zeit beendet.« Li benutzte den in den Sechzigerjahren bevorzugten Ausdruck für die Sowjetunion. »Aber der Große Bruder existiert nicht mehr«, sagte Berzin. »Es gibt keine Sowjetunion mehr. Russland ist schwach und in Schwierigkeiten. Deshalb müssen Sie mit 199
mir verhandeln, einem Meister des Kapitalismus, nicht des Kommunismus. Und ich denke, Sie wären ebenfalls gern ein Kapitalist – wie sehr viele Offiziere in der Volksbefreiungsarmee.« »Das meine ich damit, dass Sie die Situation nicht verstehen«, sagte Li. »Ich bin ein Patriot und Revolutionär. Ich glaube daran, dass sich China läutern und dann zu seiner wahren Bestimmung finden muss – zu der Bestimmung, die der Große Steuermann, Mao Zedong vorhergesehen hat.« »Aber Sie sind wie so viele hochrangige Offiziere. Sie wollen Reichtümer. Sie verhandeln mit mir als Vorstandsmitglied eines gewinnorientierten Unternehmens.« »Wir leben in einer komplizierten Zeit, Genosse Berzin. Was wir sehen, ist nicht immer das, was tatsächlich vor sich geht. Sie zum Beispiel, Sie sind so vieles. Teils Kapitalist, teils Verbrecher. Und Patriot, glaube ich. Ich weiß genau, dass Sie alles – alles – tun werden, um Präsident von Russland zu werden.« »Und Sie, General Li? Was sind Sie?« »Ich toleriere, was heute vor sich geht, um der Wirkung willen, die es morgen haben wird. Ich bin gegen die Hurerei der Volksbefreiungsarmee. Ich bin gegen die Verwendung der Armee als kapitalistische Organisation. Ich will, dass China zu seinen revolutionären Wurzeln zurückkehrt. Aber für den Augenblick muss ich es so aussehen lassen, als würde ich bei der Hurerei mitmachen.« »Hure oder nicht, es ist Ihnen gelungen aus Großer Fall 4-20 herauszukommen. Ich habe schon eine Menge über 4-20 gehört, aber ich wüsste gern noch mehr.« Bei der Erwähnung von Großer Fall 4-20 sahen Li und Chang einander verwundert an. Dann begann Li zu sprechen, es hörte sich für Berzin nach unzusammenhängenden 200
Phrasen an, die der Dolmetscher erst zu verständlichen russischen Sätzen aneinander reihen musste. »Großer Fall 4-20 war eine Untersuchung, die fast erreicht hätte, worauf ich gehofft hatte. Wäre die Angelegenheit dem chinesischen Volk bekannt gemacht worden, hätte ich meine neue Revolution offen gestartet. Ich bin ebenso sehr ein Bewunderer von Fidel Castro wie von Mao. Ich habe mich bereits eine Revolutionsarmee nach Peking führen sehen, um das Alte hinauszuwerfen und das Neue einzusetzen. Ich war der vollen Überzeugung, die Sache würde das alte Regime zu Fall bringen, und ich könnte mit meinen Leuten zuschlagen. Aber es sollte nicht sein. Ich bekam den geheimen Auftrag, Fälle von Korruption aufzuspüren, vor allem in der Volksbefreiungsarmee. Ich setzte Großer Fall 4-20 in Gang, indem ich Ermittler suchte, die den Mut hatten, Korruption auf höchster Ebene auszumerzen. Ich konzentrierte die Ermittlung auf eine berüchtigte Stadt – den Schmugglerhafen Xiamen an der Straße von Taiwan. Seit der Zeit der Ming-Dynastie war Xiamen ein Piratennest. Sie, Genosse Berzin, kennen es zweifellos gut. Ich erfuhr – und konnte es beweisen –, dass Führer der Partei und hochrangige Offiziere der Volksbefreiungsarmee mit dem Schmuggel von Öl, Autos und Computerwaren aus Taiwan nach Xiamen reich geworden waren. Es ging um Milliarden von amerikanischen Dollars. Alle diese Importe umgingen die Steuer und brachten den Verrätern riesige Gewinne, wenn sie die Schmuggelware an ihre Kunden verkauften, die zweite Ebene der Korruption. Ich ließ meine getreuen Agenten heimlich ein riesiges neues Hotel in Xiamen übernehmen, das mit Hilfe von Schmuggeldollars erbaut worden war. Dann begannen meine Leute, die Verräter mit verschiedenen Tricks ins 201
Hotel zu locken. Einer nach dem anderen wurden sie festgenommen – ein Mitglied des Politbüros, drei Generäle, Bankiers und viele lokale Funktionäre, die den höheren Tieren geholfen hatten. Manchen gelang die Flucht nach Taiwan. Aber die meisten blieben gefangen, mehr als hundertfünfzig Kriminelle, bis zu ihrem Verhör in Isolationshaft gehalten. Über jeden hatten wir umfangreiche Dossiers für die staatlichen Strafverfolger zusammengestellt. Und dann plötzlich kam von absolut höchster Stelle der Befehl: Stopp. Lassen Sie die Verräter frei. Schließen Sie Großer Fall 4-20. Vergessen Sie, dass es ihn je gab. Und so kommt es, dass wir nun hier meine eigene Revolution planen, Genosse Berzin. Das ist die Folge von Großer Fall 4-20. Ich habe mich auf ihre Seite geschlagen, um sie zu vernichten. Ich nutze ihre Gier aus, um meine Revolution zu finanzieren. Ich habe Zugang zu unbegrenzten Mitteln, weil sie glauben, ich habe den Fall abgeschlossen. Ich bin nun der große Held der großen Kriminellen.« »Ausgezeichnet!«, rief Berzin aus und fasste Li am Arm. »Ich hätte dieses Täuschungsmanöver nicht besser machen können. Wollen wir nun zum Geschäft kommen?«, leitete er dann zur Frage der Waffenlieferung über. Als der offizielle Beschaffungsoffizier nahm Li berechtigterweise die Waffen entgegen, nachdem er sorgfältig das Inventarverzeichnis durchgegangen war. Er unterschrieb ein Dokument, mit dem er den Empfang bestätigte, und ein zweites Dokument, mit dem er eine Zahlung von 70 Millionen US-Dollar von einem Konto der VBA bei einer Pekinger Bank an Berzins Bank in Moskau genehmigte. Berzin ging davon aus, dass Li in offizieller Regierungseigenschaft handelte. Allerdings wusste er es nicht mit Bestimmtheit. Ihn interessierte nur, 202
dass beim Zoll alles reibungslos über die Bühne ging. Bisher war dies immer der Fall gewesen. Li seinerseits interessierte sich nicht sonderlich dafür, ob Berzin die Waffen berechtigterweise verkaufte. Er wusste auch nicht, wie viele von den 70 Millionen Dollar an das russische Finanzamt gingen, an russische Waffenhändler oder an Berzin selbst. Waffenkäufe von Russland waren für beide Seiten zu einer sich ständig verschiebenden Grauzone geworden. Für Li bedeutete der Kauf eine stärkere VBA für seine Zwecke in der Zukunft. Als Nächstes gab Berzin Li die Nummer des Schweizer Bankkontos, auf dem seine Bank drei Millionen Dollar hinterlegen würde. Das war Lis persönliche Kommission von Berzin. Auch das sollte für die Revolution sein. Oder für einen Fluchtfonds, falls die Revolution scheiterte, dachte Berzin. Lis Schicksal kümmerte ihn nicht, auch nicht das Schicksal Chinas. Im Zentrum seiner finsteren Pläne stand einer, der sowohl Chinas als auch Amerikas Streben nach Vorherrschaft beenden würde. »Können wir nun von der anderen Angelegenheit sprechen?«, sagte Berzin und wies mit dem Kopf in Richtung Chang. »Hauptmann Chang weiß über Ihre Aktivitäten genau Bescheid«, sagte Li, während der Hauptmann den Kopf in Anerkennung seiner Rolle als vertrauter Berater senkte. Als Chang Lis Worte dolmetschte, fiel Berzin auf, dass seine Stimme einen entschieden festeren Klang hatte. Er sprach nicht mehr als Dolmetscher, sondern als Geheimdienstoffizier. Berzin und Li sprachen weiter, indem sie sich nur gegenseitig ansahen, und nie Chang, als wüssten sie beide, dass Mienen und Gesten ebenso wichtig waren wie Worte, wenn Männer die Versprechen und Aussagen des anderen 203
beurteilen mussten. Als Nachmittagsschatten auf den Balkon fielen, ging ihr Gespräch zu Ende. »Wie Sie wissen«, sagte Berzin, »plane ich eine wesentlich größere Operation. Es ist besser, wenn Sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Einzelheiten kennen. Die Operation wird Sie 100 Millionen Dollar kosten. Und sie wird es wert sein.« »Darf ich wenigstens Ihre Einschätzung von der Größe der Operation erfahren?«, fragte Li. »Sie werden Bescheid wissen, wenn es passiert, das verspreche ich«, sagte Berzin.
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17 BEI HOLLOMAN Hal Prentice ging über die Veranda, sperrte das Vorhängeschloss an einem Schließband der Eingangstür auf und betrat den Salon, wie er den Hauptraum seines Zuhauses gern nannte – ein altes, niedriges Ranchhaus, zwanzig Kilometer nördlich des Luftwaffenstützpunkts Holloman. Ein steinerner Kamin, den Prentice’ Großvater gebaut hatte, nahm die Hälfte einer Wand ein. Über dem Kaminsims hing ein Steinschlossgewehr, dessen Schaft aus wellenförmig gemasertem Ahornholz mit silbernen Einlegearbeiten gefertigt war. Die gravierte Messingplakette am Schloss war mit S. Moore/Garantie unterzeichnet. In ein silbernes Schild auf dem Lauf war R. Prentice, 1817 eingraviert, Hal Prentice’ Urgroßvater. Mit diesem Gewehr hatte Hal Prentice bei einem Truthahnschießen am Ort einem Truthahn den Kopf weggeschossen und das Tier letztes Jahr zu Thanksgiving den Führern der SkorpionMiliz serviert. Einer alten Gewohnheit bei Betreten des Raums folgend, langte er nach oben und berührte das Gewehr. R. Prentice würde die Wände aus roh behauenen Baumstämmen wiedererkennen, genau wie den großen Wollteppich, den Kiefernboden, das Steinschlossgewehr, den Kamin und den Schaukelstuhl, den Nachbau einer früheren Version. Die einzigen Neuerungen waren der große Fernsehapparat, der links von der Tür stand, der Klubsessel vor dem Gerät und das Telefon auf dem Tisch daneben. Rechts von der Tür befand sich unweit eines 205
Fensters ein altes Ahornschränkchen, darauf stand die silbern gerahmte Schwarzweißfotografie eines jungen Mannes in der Ausgehuniform der US-Marine und einer hübschen jungen Frau in einem Hochzeitskleid. Sie war vor vier Jahren mit dreiundsechzig gestorben. Zu beiden Seiten des Kamins befanden sich Türen. Eine führte in eine große Küche, die andere in Prentice’ Schlafzimmer. Auf dessen Rückseite lag der kleine Raum, der ihm als Büro diente. Prentice hängte seinen schweißfleckigen Stetson an einen Hutständer in Form eines Hirschgeweihs und ging in die Küche. Er holte ein Bier aus dem Kühlschrank, trank einen langen Zug und stellte die Flasche auf den Tisch. Von irgendwoher tauchte eine Katze auf und rieb sich an Prentice’ Bein. Prentice holte eine Dose Katzenfutter aus dem Hängeschrank über der Spüle, öffnete sie und leerte sie in den Futternapf auf dem Boden. Dann ging er zurück in den Salon. Er nahm die Fernbedienung zur Hand und schaltete den Fernseher ein. Nach einem neuerlichen Klicken erschien das Logo von CNN auf dem Schirm. Er schaute auf die Uhr. Die Hauptnachrichtensendung des Abends hatte vor acht Minuten begonnen. Es gab einen Bericht über die neueste Runde der Gewalt im Nahen Osten und dann einen über das, was der Sprecher als den Zwischenfall in Holloman bezeichnete. Wieder füllte das Bild der Explosion den Monitor. »Das FBI sagt, es verfolge mehrere Spuren«, erklärte der Sprecher, »und es gebe Fortschritte.« Prentice schnaubte verächtlich, trank die Flasche leer und schaltete zu einem Spielfilmkanal. Als er aufstand, um sich ein zweites Bier zu holen, läutete das Telefon. »Hier Prentice«, sagte er sehr laut, wie immer, wenn er sich meldete. 206
»Das Passwort ist Freiheit«, sagte sein Gesprächspartner. »Das Passwort ist Freiheit«, wiederholte Prentice und legte auf. Er sah auf die Uhr, ging in sein spärlich möbliertes Schlafzimmer, schaltete ein Deckenlicht ein und ließ das Rollo vor dem einzigen Fenster des Raums herunter. Draußen ging die Dämmerung in die Nacht über. Aus einer Tasche seiner Jeans zog er einen Schlüsselring an einer Kette und öffnete damit ein Vorhängeschloss an der inneren Tür. Dann steckte er einen zweiten Schlüssel in das Schloss unter dem Türknauf und öffnete die Tür zu einem Raum, der gerade groß genug für einen Tisch und einen Stuhl war. Prentice trat in die Dunkelheit und knipste eine gebogene Schreibtischlampe an, die einen weißen Strahl auf den Tisch warf. Der Tisch war leer bis auf ein Mobiltelefon. Prentice sah erneut auf die Uhr und schaltete das Handy an. Er ließ sich schwerfällig auf dem ausgebleichten, grünen Sitzkissen des Stuhls nieder und wartete. Nach neunzig Sekunden läutete das Telefon. Er wartete das dritte Läuten ab, dann meldete er sich. »Ich höre«, sagte er. »Lieferung an Ort Nummer zwölf.« Prentice schaltete das Handy aus, legte es zurück auf den Tisch und stand auf. Er sperrte den Raum hinter sich ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort machte er den Fernseher aus, griff nach seinem Hut und öffnete die Eingangstür. Eine ohrenbetäubende Explosion ließ die Veranda in einer Wolke aus Rauch und Dreck vom Boden abheben. Prentice’ Hut segelte aus der Wolke heraus, während es seinen Körper in Stücke riss. Nachfolgende Explosionen pflanzten sich entlang der Grundmauern des Hauses fort und entfachten ein Inferno, das die Holzwände verschlang und alles, was sie beinhaltet hatten. Binnen Minuten 207
stürzte das brennende Dach ein und ließ einen Funkenregen in den Himmel stieben. Ein Fenster zersprang, und eine Katze mit brennendem Fell setzte durch den Rahmen, rannte zu einer einsamen, lodernden Kiefer und starb, während sie die Krallen der Vorderpfoten in die Rinde schlug. Einige Stunden später war ein gelbes Absperrband des FBI um den Baum geschlungen und lief von dort um die Überreste des Hauses. Männer und Frauen in blauen FBIJacken stöberten in der rauchenden Ruine und legten Bruchstücke möglichen Beweismaterials in schwarze Plastiksäcke. George Miller, der leitende Agent des FBIBüros in Santa Fe, sprach mit einem Hilfssheriff, der als erster Gesetzeshüter auf den Knall der Explosion reagiert hatte. »Der Hurensohn hat gekriegt, was er verdient hat«, sagte der Sheriff gerade zum zweiten Mal. »Was muss der Kerl mit diesem Sprengstoff herumpfuschen. Es gibt wohl keinen Zweifel, dass er das war, mit den deutschen Fliegern.« »Keinen Zweifel«, wiederholte Miller. Aber er war alles andere als überzeugt. Er musste einen Nachtrag zu seinem »Bericht über terroristische Vorfälle« zu den Akten geben, der an die alle Dienste übergreifende Aktionsgruppe gegangen war und den sowohl McConnell als auch Pelky gelesen hatten – vielleicht sogar der Präsident selbst –, und er hatte nicht die Absicht, Prentice als einen »Paddy« abzutun. Diese Bezeichnung hatte er bei einem Londonaufenthalt von seinem Verbindungsoffizier bei der britischen Special Branch gehört. Als Paddys bezeichneten sie die Trottel von der IRA, die sich versehentlich mit selbst gebastelten Bomben in die Luft sprengten. Die Suche hatte eine überraschende Information zutage gefördert. In den verkohlten Überresten waren mehrere 208
Zeitungsausschnitte aus der New York Times irgendwie von den Flammen unversehrt geblieben. Einer davon enthielt ein Profil von Verteidigungsminister Tom Koestler. Mehrere Zeilen in dem Artikel waren mit einem gelben Neonstift gekennzeichnet. Koestler war der Sohn jüdischer Eltern. Deutscher Juden. Großer Gott, dachte Miller. Die Miliz war in den Mord an Koestler verstrickt gewesen. Aber inwiefern? Wie sollten sie an Anthrax gekommen sein? Und wie um alles in der Welt sollten sie herausgefunden haben, wie man die Sicherheitsmaßnahmen für Koestler überwand? Es ergab keinen Sinn. Aber dann rief er sich in Erinnerung, dass es ihnen auch irgendwie gelungen war, in den Stützpunkt Holloman zu gelangen. Miller begann, sich in Gedanken den Text für das Memo zurechtzulegen, das er in Kürze diktieren würde. Zwei Stunden vor der Explosion hatte ein Bundesgericht in Santa Fé einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus erlassen. Es ist gut möglich, dass Prentice oder seine Komplizen davon Kenntnis erhielten, und zwar über die Miliz, zu der auch Personal des Gerichts gehören soll. Ich vermute stark, dass man Prentice getötet hat, um alle Spuren zu vernichten. Ich glaube weiterhin … »Sir!«, rief eine der Agentinnen. »Sehen Sie sich das an!« Ihr Gesicht war rußverschmiert, und ihre Auge rot gerändert. Sie hielt die rechte Hand in die Höhe. Auf der Handfläche lag ein verformtes Stück Metall. »Sieht aus wie ein MST-Timer«, sagte sie. Miller bahnte sich behutsam einen Weg durch die verkohlten Trümmer und nahm ihr das Teil aus der Hand. »Ich glaube, Sie haben Recht«, sagte er. »Netter Fund. Tüten Sie es fürs Labor ein.« Miller war begeistert. Jetzt hatte er etwas Handfestes für sein Update. Miller hatte zur Sondereinheit im Fall des 209
Lockerbie-Absturzes gehört. Den entscheidenden Hinweis hatte damals ein verbogenes Stück Metall wie dieses hier gegeben. Ein Technikexperte der CIA identifizierte es als einen höchst ausgeklügelten Zeitschalter, der von einer Schweizer Firma namens Mebo hergestellt wurde und als MST-13 im Handel war. Ein libyscher Geheimdienstmann hatte einen im Gepäck gehabt, als er bei einer groß angelegten Fahndung herausgegriffen wurde. Und mit Hilfe dieses intakten Geräts konnte man das Bruchstück von der Pan-Am-Maschine identifizieren. Inzwischen tauchten nach Aussage der Terrorismusexperten des FBI echte MST-13 und Nachbauten davon überall auf der Welt auf. Der Mossad benutzte eine Variante für Telefonbomben. Das Ding wies in die Richtung von Millers Vermutung. Irgendwer hatte beschlossen, Prentice zu töten, so dass die Ermittlungen mit seinem Tod in einer Sackgasse endeten. Und wer immer es getan hatte, war so frei gewesen, eine Botschaft in Form des MST zu senden. Aber wieso? In Millers Kopf entwickelte sich langsam eine Antwort. In seinem Update würde es heißen: Ich glaube, die Täter wollten die Verantwortung für den Sabotageakt von Prentice’ Miliz zu einem anderen, höher angesiedelten Gebilde verschieben. Es ist eine Botschaft: Internationale Terroristen nehmen das Territorium der USA ins Visier. Aber es ist eine Botschaft ohne Absender – noch.
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18 LOP NUR, CHINA Hans Liebling führte ein Doppelleben, und das hier war der Teil davon, den er genoss. Er folgte den schwachen Spuren einer Maus über eine festgebackene Strecke Sand in der Wüste Taklamakan und war so weit entfernt von seinem anderen Leben, wie er es sich nur vorstellen konnte. Die Spuren führten zum Vorratszelt. Er malte sich aus, wie sich die Maus an der fremden Kost gütlich tat – Fladenbrot, Ziegenkäse, Reis. Was, fragte sich Hans Liebling, würde die Maus anfangen, wenn die Menschen wieder verschwanden? Sie würde es wissen. Sie und ihre Vorfahren hatten hier schon immer von dem überleben können, was sie fanden. Und was würde Liebling tun, wenn er von hier fortging? Würden ihm diese Männer in Berlin wirklich erlauben, jenes zweite Leben aufzugeben? Er ging zu einem wüstentauglichen Lkw mit großen Reifen, stellte einen Campingstuhl in den schmalen Streifen Schatten neben dem Fahrzeug und setzte sich. Dann nahm er ein Tagebuch mit ausgebleichtem, grünem Einband aus seiner Khakijacke und begann zu schreiben. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und ein erster Hauch von Kühle regte sich in der Luft. Lieblings Gedanken wanderten zu der Zeit zurück, als er zum ersten Mal von der Taklamakan gehört hatte. Er hatte in seinem Zimmer in Frankfurt gesessen, ein einsamer Junge, der in einem Atlas blätterte. China erstreckte sich darin über zwei Seiten. Er suchte nach der Gegend, über die er in einem Buch von M. Aurel Stein 211
gelesen hatte, einem Entdecker, der Marco Polos Hinweisen zu einem fremdartigen, öden Gebiet namens Taklamakan gefolgt war. In der äußersten westlichen Ecke Chinas, weit entfernt von Peking, bedeckte die größte Provinz des Landes, die autonome Region Xinjiang-Uigur, eine weite, menschenleere Fläche, und da, im Becken eines verschwundenen Sees, lag ein Gebiet namens Taklamakan. Der einsame Junge hatte Bücher über Entdecker verschlungen. Stein war einer seiner Helden gewesen, und die Taklamakan einer der Orte, von deren Erkundung er träumte. Zur Erfüllung des Traums hatte es vieler Schritte bedurft, aber er war so zielstrebig gewesen wie die Spur der Maus: Er hatte sich Stipendien und Auszeichnungen an der Universität verdient und als Helfer bei einem renommierten Archäologen angeheuert. Er war der Protegé des Archäologen geworden, hatte seinen Doktor gemacht und Expeditionen in Ägypten, Yukatan und China geleitet. Und dann hatte sich die Wirtschaftslage in Deutschland verschlechtert, die Fördertöpfe waren versiegt, und Archäologie war zur Stubenhockerei verkommen. Lieblings Leben bestand nun aus Vorlesungen für Studenten und dem Versuch, einen Verlag für seine Arbeiten zu finden. Jedenfalls war das sein Leben bis vor einem Jahr gewesen, bis ein Freund von der Fakultät ihn Christoph Stiller vorstellte, dem Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Ehe er Stiller kennen lernte, hatte Liebling kaum je einen Gedanken an die deutsche Geheimdienstbehörde verschwendet. »Ein Spion? Sie wollen, dass ich ein Spion werde?«, hatte er erstaunt und wütend gesagt, als Stiller davon zu reden begann, dass der BND Bedarf an »erfahrenen Augen«, wie er es nannte, in Xinjiang habe. »Wir brauchen lediglich einen guten Beobachter, und Sie bekommen die Chance, an 212
einem Ort zu graben, an dem Sie schon immer graben wollten«, hatte Stiller gesagt. Die Verführung hatte begonnen. Der BND ließ der Universität ein Stipendium zukommen, das angeblich von einem deutschen Philanthropen stammte, und richtete bei einer Bank in Shanghai ein diskretes Konto für einen führenden chinesischen Archäologen ein, als Belohnung dafür, dass er die Marotte des Philanthropen unterstützte und die Liebling-Expedition absegnete. Der Philanthrop bezahlte auf diese Weise scheinbar für das, was er wollte: eine rein deutsche Expedition in die Taklamakan, geführt von einem der angesehensten Archäologen Deutschlands. Der Philanthrop zeigte seine Dankbarkeit mit einer hübschen Spende an das archäologische Institut Chinas. Die Chinesen konnte außerdem die beiden in Deutschland hergestellten Lkw als Spende herausschlagen sowie die gesamte Ausrüstung Lieblings, von den Spaten, Zelten und Schlafsäcken bis zu seinem Fernglas und einem tragbaren GPS-Gerät. So war Hans Liebling zu seinem Traum gekommen und zu einer zweiten Existenz als Spion. »Es handelt sich um einen einmaligen Auftrag«, hatte Stiller gesagt. »Tun Sie diese eine Sache für Ihr Land.« »Mein Land?«, hatte Liebling ausgerufen. »Das geschieht doch für Amerika, für den amerikanischen Geheimdienst. Bitte beleidigen Sie meine Intelligenz nicht.« »Glauben Sie mir, Doktor Liebling, Sie tun das für Ihr Land – und für die Welt. Ich erzähle Ihnen weit mehr, als Sie wissen müssen, weil ich Ihre Intelligenz respektiere. Es ist ebenso sehr im Interesse Deutschlands wie im Interesse aller NATO-Staaten, dass wir so viel wie möglich über Chinas Nuklearpotenzial in Erfahrung bringen. Die Amerikaner glauben, dass die Chinesen 213
technische Informationen gestohlen haben, die es ihnen ermöglichen, einen miniaturisierten Gefechtskopf zu kopieren, den die Amerikaner W-88 nennen. Die Amerikaner glauben, dass …« »Die Amerikaner, die Amerikaner«, hatte Liebling gesagt. »Warum erledigen die Deutschen die Drecksarbeit für die Amerikaner?« »Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens wollen sich die USA ihre Beziehungen zu China nicht verderben, zumindest nicht bis die Sache mit W-88 bewiesen ist. Zweitens können sie niemanden in die Taklamakan schicken, weil sie eine sehr frostige Beziehung zu den Uiguren haben.« Stiller war ein sehr überzeugender Mensch. Genau wie der Kanzler der Universität, der offenbar in den Plan eingeweiht war. In einer ruhigen Unterhaltung mit diesem Kanzler, der die Bedeutung von patriotischer Gesinnung und Kooperation mit der Regierung unterstrich, wurde Liebling deutlich gemacht, dass es seine akademische Karriere durchaus befördern würde, wenn er die Sache ausführte. Schließlich erklärte er sich einverstanden. Sobald er den Auftrag akzeptiert hatte, stürzte er sich in den Schnellkurs in Spionage und fasste sein Training als neue intellektuelle Fertigkeit auf, die er zu erlernen hatte. Liebling verfügte über die perfekte Tarnung, wie Stiller gesagt hatte. Er war Archäologe, und er würde echte archäologische Arbeit betreiben. Und während er das tat, konnte er leicht ein paar kleine Aufgaben für Stiller und dessen amerikanische Freunde erledigen. Eines Tages zeigte ihm Stiller ein Satellitenfoto der Taklamakan. Liebling, der nur Steins Schwarzweißfotos einer vom Sand verschütteten, untergegangenen Stadt gesehen hatte, war von der Weltraumansicht des Ortes 214
begeistert. Das Foto zeigte auch die in stufenförmigen Windungen nach und nach zurückweichende Küstenlinie eines Sees, der einmal einen Durchmesser von mehr als zweihundert Kilometern gehabt hatte. Stiller interessierte sich nicht für den archäologischen und geologischen Wert des Bildes, sondern für die unregelmäßigen, weißen Narben rund um Lop Nur. »Bombenkrater«, sagte er und merkte an, dass die Chinesen in Lop Nur lange Zeit ihre Nukleartests durchgeführt hatten. Liebling hatte den Ort nur als eine Stadt an der Seidenstraße gekannt, die Jahrhunderte lang geblüht hatte und dann ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. langsam unterging. Die Menschen in dieser Stadt, die als Niya bekannt war, hatten ein gutes Leben gehabt. Sie fischten in den Flüssen, die sich in den See ergossen, ließen ihr Vieh auf dem Grasland weiden, das den See umgab, und jagten in den Wäldern nach Wild. Aus dieser Stadt und der Kultur, die sie hervorgebracht hatte, entsprang ein Volk namens Uiguren, ein ausdauerndes Volk, das die riesige Region Xinjiang immer noch als seine Heimat ansah. Die Uiguren besaßen das, was man allgemein als kaukasische Züge bezeichnet, wenngleich sie mit ihren hohen Wangenknochen und den schwarzen Haaren und Augen eher den heutigen Türken ähnelten und auch einen türkischen Dialekt sprachen. Sie waren Muslime, und ihre Anführer betrachteten die Chinesen als Eindringlinge. Die Chinesen übersetzten die unermessliche, trostlose Taklamakan mit »Geh rein, und du kommst nicht mehr raus«. Die Uiguren behaupteten, Taklamakan bedeute »Heimat der Vergangenheit«, ein Klagelied über eine untergegangene Kultur und eine Hymne auf jene Uiguren, die sich gegen Chinas derzeitige Besetzung des Landes wehrten. So saß Hans Liebling nun da und dachte über die 215
Gewohnheiten einer Wüstenmaus nach. Er schrieb Tag 2 oben auf eine Seite seines Tagebuchs und begann, Notizen zu Papier zu bringen, die er später in seinen Laptop übertragen würde. Ihr Lager in der Taklamakan befand sich nahe der Stätte, die Stein mit N-2 bezeichnet hatte – Reihen von Rundstäben und Pfählen, die aus dem Sand ragten und vermutlich die Lage von neunzehn Häusern der Stadt Niya markierten. Diese Expedition in die Taklamakan war die dritte für den chinesischen Archäologen Huang Wen, der den Grabungen in Xinjiang seine Karriere verdankte, aber nie Uigurisch sprechen gelernt hatte. Eine japanische Stiftung hatte die ersten beiden Reisen gesponsert, und Liebling fragte sich, ob auch eine japanische Geheimdienstbehörde die Archäologietarnung benutzt hatte. Tag 1. Endlich in der Taklamakan! Bin nach Urumqi geflogen, der Hauptstadt von Xinjiang, dann ein unruhiger Flug nach Hotan, wo sich die Expeditionsteilnehmer trafen. Anschließend ganztägige Fahrt nach Minfeng (dessen alter Name Niya ist). Letzte Strecke war eine Fahrt zu einer Uigurensiedlung am Rand der Wüste: Kapak Askan, das Dorf der Hängenden Kürbisse. Wir haben einen Führer namens Ababehri, das Oberhaupt des Dorfes, abgeholt und sind rund fünfundzwanzig Kilometer durch Wüstenstaub gefahren. Huang Wen befahl den Fahrern, zu halten und das Lager aufzubauen. Huang Wen hat mit dem GPS-Gerät herumgespielt. Liebling war den Fahrern und den beiden anderen Männern nicht vorgestellt worden, die aus der Sicht Huang Wens von niedrigerem Stand und einer Begrüßung nicht würdig waren. Er ignorierte sie, außer wenn er Befehle brüllte. Nun lächelte Huang Wen, hielt das GPSGerät in die Höhe und sagte etwas auf Chinesisch. Liebling glaubte das Wort »Stein« herauszuhören. 216
Ein Mann namens Lu, anscheinend ein Sicherheitsoffizier, der ein Auge auf Huang Wen und Liebling haben sollte, übersetzte in passables Deutsch: »Huang Wen hat entdeckt, dass wir uns auf siebenunddreißig Minuten siebenundfünfzig Sekunden nördlicher Breite und fünfzehn Minuten neunundvierzig Sekunden westlicher Länge befinden. Er sagt, das weiche eine Minute von der Position ab, die Stein angegeben hat.« Liebling wandte sich an Ababehri, einen kleinen Mann, der einen Strohhut mit breiter Krempe, ausgewaschene Jeans und eine Schaflederweste über einem schwarzen Hemd trug. Liebling konnte gut genug Türkisch, um Uigurisch zumindest ungefähr zu verstehen. Er übersetzte stockend ins Uigurische, was Lu gesagt hatte. Ababehri lächelte und ließ seine weißen Zähne sehen. »Sie vergessen, dass ich Chinesisch spreche, Doktor Liebling. Das ist ein Grund, warum Huang Wen mich anheuert.« Stiller hatte Liebling gesagt, dass Ababehri sein Verbindungsmann war. Jetzt, am zweiten Tag, spürte Liebling, dass Ababehri im Begriff war, diesen Kontakt herzustellen. Ababehri gab dem Archäologen ein Bier. Es war zwar warm, aber zumindest war es ziemlich gutes Bier. Dank der Deutschen, dachte Liebling, die den Han-Chinesen das Bierbrauen beigebracht hatten. Liebling öffnete die Flasche und trank einen tüchtigen Schluck. Ababehri, die unvermeidliche Blechtasse mit Tee in der Hand, sagte auf Uigurisch: »Kommen Sie mit.« Es war ein Befehl. Ababehri führte Liebling zur Ruine einer kleinen buddhistischen Pagode. Auf dem letzten Abschnitt der Anreise hatte Huang Wen die Pagode beiläufig erwähnt, sie war ein archäologisches Rätsel. Lu hatte übersetzt und 217
angefügt, dass Huang Wen sich nicht für die Pagode interessierte. Liebling fragte sich, warum, aber Sätze, die mit warum begannen, blieben oft unbeantwortet. Überraschenderweise hatte Ababehri eine Bemerkung eingeworfen und erst auf Chinesisch und dann zu Liebling auf Uigurisch gesagt: »Vielleicht wäre Doktor Liebling interessiert. Er sollte sie sehen.« Huang Wen hatte mit den Achseln gezuckt. Die Pagode war knapp hundert Meter vom Lager entfernt. Ababehri kauerte sich neben einen umgestürzten Buddha und tat, als würde er Liebling etwas zeigen. »Hier werden sie uns nicht hören«, sagte er und wies mit einem Kopfnicken in Richtung Lager. »Ein Mann wird kommen«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, wer er ist oder wann er kommt. Es ist ein bedeutender Mann. Sie sollen ihm das hier geben.« Ababehri drehte sich so, dass sein Rücken zum Lager zeigte, und langte hinter die Stele. Er zog fünf kleine Tüten hervor und gab sie Liebling, der sie in die Taschen seiner Jacke und Hose stopfte. »Ich tue das für die ganze Welt, nicht für Deutschland oder Amerika«, sagte Ababehri, und seine dunklen Augen funkelten. »Es gab Tests. Die Proben stammen von unserer Erde. Von verschiedenen Stellen, auf Minuten und Sekunden bestimmt.« Er lächelte. »Auch wir haben GPS.« »Danke. Ich weiß, dass Sie es für die Welt tun. Und für Ihre Sache. Darüber weiß ich allerdings nur wenig.« »Ich habe nicht die Zeit, alles zu erzählen. Dafür brauchte ich den ganzen Tag und die ganze Nacht. Sie stehen auf dem Land der Uiguren, nicht der Han. Die Han bringen unsere Imame fort, um ihnen zu erklären, was am Koran falsch ist, wie sie sagen. Sie halten unser Volk davon ab, im heiligen Monat Ramadan zu fasten. 218
Moscheen wurden geschlossen, weil die Han behaupteten, sie seien den Schulen zu nahe und hätten einen schlechten Einfluss auf junge Uiguren. Und die Amerikaner …«, er spuckte in den Sand, »nennen uns Terroristen, um den Han in den gelben Arsch zu kriechen. Aber wir sind Menschen, die um ihre Freiheit kämpfen.« Am vierten Tag, kurz nach Morgengrauen, streckte einer der Fahrer den Kopf aus dem Zelt, rief etwas und zeigte zum Himmel. Binnen einer Minute waren alle aus den Zelten gekrochen und blickten zu einem größer werdenden, schwarzen Fleck empor. Lu setzte sein Fernglas an die Augen und sagte auf Chinesisch etwas zu Huang Wen, der eben aus seinem Zelt kam und seine Brille zurechtrückte. Dann sagte er auf Deutsch zu Liebling: »Militärhubschrauber.« Der Hubschrauber schwebte über den Zelten, wobei er zwei von ihnen umblies, dann flog er ein gutes Stück weiter und ging langsam nieder. Eine mächtige, goldene Wolke stieg auf, Sandkörner, die im Morgenlicht schimmerten. Als sich die Staubwolke legte und die Rotorblätter zum Stillstand kamen, stieg ein Mann in Militäruniform aus dem Helikopter. Lu stürzte in sein Zelt und kam mit einer Art Militärrock über dem T-Shirt wieder heraus. Er setzte sich, um dunkelbraune, polierte Militärstiefel anzuziehen. Auch seine Hose sah militärisch aus, wie Liebling nun auffiel: knitterfrei, mit messerscharfer Bügelfalte. Lu rannte auf die sich nähernde Gestalt zu, in der er offenkundig Generalmajor Zhou erkannte, den Chefadjutanten des stellvertretenden Verteidigungsministers Li Kangsheng. Er verneigte sich leicht und salutierte dann dem korpulenten General, der die rechte Hand zum Schirm seiner Mütze hob, jedoch halb winkte, ehe er den Schirm berührte. Der Bruder weiß nicht mal, wie man grüßt, 219
dachte Lu. Er sieht auch gar nicht wie ein General aus. Aber Zhou war ein mächtiger Mann, und Lu stand steif vor ihm und wartete auf Befehle. Zhou beschied ihn mit einem Nicken, näher zu kommen. Er sprach eine Weile. Lu nickte und trat mit angemessener Ehrerbietung zur Seite, als Zhou in Richtung Lager schritt. Bis Zhou und Lu die Zelte erreicht hatten, waren alle vollständig bekleidet und standen in zwei Reihen nahe der Kochstelle, Liebling und Huang Wen vorne, Ababehri, die Fahrer und die Arbeiter dahinter. Huang Wen, der General Zhou ebenfalls erkannte, streckte die Hand aus und sprudelte eine überschwängliche Begrüßung hervor, auf deren Übersetzung für Liebling Lu verzichtete. Als Liebling die Hand ausstreckte, erwiderte General Zhou die Geste nicht. »Sprechen Sie Englisch?«, fragte er zur Überraschung von Liebling und Huang Wen. »Äh, ja«, stammelte Liebling. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Sofort dachte er an die Päckchen mit Erde, die er in seinem Schlafsack versteckt hatte, und begann, sich eine Geschichte zu ihrer Erklärung auszudenken. »Sehr gut«, erwiderte Zhou. Er sah Lu an und sagte in hohem Singsang etwas auf Chinesisch. Lu salutierte, ging zu Lieblings Zelt und rief den Arbeitern etwas zu. Einer von ihnen verschwand im Zelt des Deutschen. Zhou wandte Liebling das runde, teilnahmslose Gesicht zu. Er sprach stockend, sein Singsang behielt auch im Englischen die Oberhand. »Ich habe Hauptmann Lu befohlen, alle Sachen aus Ihrem Zelt zu holen, in den Hubschrauber zu laden und …« »Moment mal!«, unterbrach Liebling. »Was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Sie?« Zhou ließ eine halbe Minute verstreichen, ehe er antwortete. »Ich bin Generalmajor Zhou vom chinesischen 220
Verteidigungsministerium. General Li Kangsheng, der stellvertretende Verteidigungsminister hat mich geschickt. Ich hole Sie und Ihre Sachen aus dem Zelt ab. Ich bringe Sie in eine Militäreinrichtung in Urumqi. Von dort fliegen wir nach Peking.« »Und warum diese … diese Entführung?« »Entführung?«, sagte Zhou, wobei er jede Silbe betonte. »Das ist keine Entführung. Ich bringe Sie weg von hier.« Währenddessen hatte der Arbeiter Lieblings Zelt ausgeräumt und alle Gegenstände, einschließlich zwei leerer Bierflaschen, davor ausgebreitet. Hauptmann Lu stieß die Flaschen mit dem Fuß zur Seite und gab Anweisung, die Kleidung und den zusammengerollten Schlafsack in Lieblings beiden Matchbeuteln zu verstauen. Liebling bemühte sich, den Schlafsack nicht anzusehen und machte einen Schritt auf das leere Zelt zu. Lu drehte sich um und sagte auf Deutsch: »Halt!« Dann fügte er lächelnd hinzu: »Sie dürfen zum Pinkeln hinter das Zelt gehen. Es wird ein langer Hubschrauberflug.« Auf dem Weg in Richtung Zelt fing Liebling Ababehris Blick auf. Ababehri sah zur Seite, und Liebling dachte: Er gehört zu ihnen. Man hat mich zum Narren gehalten. »Beeilen Sie sich, Doktor«, rief Lu. »Wir verschwenden Zeit.« Der Arbeiter ging bereits zum Helikopter, einen Matchbeutel unter jedem Arm. Liebling schaute zu seinem Zelt. Davor lagen sein Laptop, das Fernglas und das GPSGerät sowie der CD-Player samt Kopfhörer und einem Stapel CDs. »Was ist mit diesen Sachen?«, fragte Liebling auf Deutsch. Lu fasste ihn mit hartem Griff am rechten Ellbogen und bugsierte ihn in Richtung Hubschrauber. »Die wird Doktor Huang Wen untersuchen.« 221
»Und ich kann damit rechnen, sie nie wiederzusehen, oder?« Lu gab keine Antwort. Sie gingen zum Hubschrauber, wobei sie manchmal in die tiefen Fußabdrücke stolperten, die der Arbeiter hinterlassen hatte. Der Laptop, dachte Liebling. Er enthält nichts Belastendes, aber sie müssten ihn doch eigentlich mitnehmen. Warum lässt ihn Zhou hier? Zhou stieg als Erster in den Hubschrauber und ließ die Tür für Liebling offen. Der Archäologe setzte sich dem General gegenüber in einem Abteil, das vom Platz der beiden Piloten abgetrennt war. Zhou legte den Sicherheitsgurt an und machte Liebling ein Zeichen, es ihm gleichzutun. Dann drückte er auf einen Knopf in der Decke und sagte drei Worte auf Chinesisch. Der Motor sprang an, die Rotorblätter begannen, sich zu drehen, und der Helikopter stieg in einer Sandwolke auf, die so dicht war, dass es in seinem Innern plötzlich dunkel wurde. Zhou streckte die Hand aus und berührte Liebling am linken Knie. Sie waren aus der Wolke aufgetaucht, Sonnenlicht strömte in den Helikopter. Zhou deutete zu einem Kopfhörer, der neben Lieblings Sitz hing. Der Deutsche setzte den Kopfhörer auf und hörte Zhou sagen: »Sony. Sehr gut. Sehr klar.« Liebling nickte. »Worum geht es hier, General? Warum werde ich entführt?« »Ich kenne mich mit Elektronik gut aus, schon seit meiner Jugend. Ich habe überprüft, ob diese Kopfhörer sauber sind. Niemand kann hören, was wir sagen. Ein geschlossener Kreislauf, verstehen Sie?« »Nein, ich verstehe nicht. Warum werde ich von meiner Arbeit weggebracht?« »Zu Ihrer Sicherheit, Doktor.« »Eine seltsame Vorstellung von Sicherheit.« 222
»Ababehri wurde verraten. Er muss heute Nacht nach Pakistan fliehen. Das wird Nachforschungen auslösen. Ihr Auftrag …« »Mein Auftrag? Wovon reden Sie?« »Ich rede von dem, was Ababehri Ihnen gegeben hat. Aber das ist jetzt nicht so wichtig wie das, was ich Ihnen sagen muss. Und was Sie Stiller sagen müssen.« »Wer ist Stiller?« »Bitte glauben Sie mir, Doktor Liebling, ich bin nicht Ihr Feind. Denken Sie daran, was Ababehri zu Ihnen gesagt hat: ›Ich tue das für die ganze Welt.‹« »Woher wissen Sie, was er gesagt hat? Wenn er es gesagt hat.« »Weil es das Band zwischen uns ist, zwischen uns allen. Auch ich tue das für die ganze Welt. Das ist ein Teil meiner Überzeugung.« »Falun Gong«, sagte Liebling plötzlich halb flüsternd. »Es geht um die Religion.« »Ja. Aber wir verstehen es als spirituelle Bewegung, nicht als Religion. Wir glauben, wir können auf friedliche Weise ein neues China entstehen lassen. Viele, viele Leute gehören zu uns. Ich glaube, der Pilot ist Mitglied, vielleicht auch der Kopilot. Aber ich kann mir nicht sicher sein. Niemand kann das.« »Ich dachte, China hätte Falun Gong so gut wie ausgerottet.« Zhou lächelte. »Nein. Es wächst. Und es wirkt.« »Aber ich verstehe nicht, was …« »Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen, Doktor. Ich habe erfahren, dass mein Vorgesetzter, General Li Kangsheng, der stellvertretende Verteidigungsminister, einen Putsch plant. Er ist der Anführer einer Gruppe, die … 223
Es gibt da ein englisches Wort. Ein schlechte Gruppe …« »Schurken. Eine Gruppe von Schurken.« »Ja, Schurken. Ich habe erfahren, dass Li – die Schurken – deutsche Flugzeuge in Amerika zerstört haben. Stillers Bruder … Sie haben vielleicht davon gehört.« »Ja, dieser Unfall in Amerika. Es stand bei uns in den Zeitungen.« »Das war kein Unfall. Li ist dafür verantwortlich. Und jetzt kommt noch etwas, etwas noch Schlimmeres. Etwas Schreckliches. Ich weiß nichts Genaues, aber etwas in der Art des World Trade Centers. Nur diesmal in Deutschland. Sie müssen warnen.« »Warnen? Wen? Wovor?« »Stiller. Sie dürfen ruhig weiter so tun, als würden Sie ihn nicht kennen oder nicht wissen, wer er ist. Das spielt keine Rolle. Erzählen Sie ihm von Li. Ihr Verteidigungsministerium wird wissen, wer Li ist. Sagen Sie Stiller, dass Li eine entsetzliche Katastrophe für Deutsche in Deutschland plant. Das ist alles, was ich weiß.« »Ich habe keinen Grund, Ihnen zu glauben. Was haben Sie Lu erzählt, warum Sie mich wegbringen?« »Ich bin General. Ich muss einem Hauptmann nichts erzählen. Er hat genug Verstand, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Ich sagte, dass ich Sie vernehmen wolle. Und dass er und Huang Wen Ihre Sachen behalten dürfen – bis auf das hier.« Er zeigte zu den Matchbeuteln. »Ich dachte, Sie waren sicher so schlau, nichts auf dem Laptop zu hinterlassen. Glauben Sie mir, dass sie die Sachen behalten dürfen, bedeutet, sie werden zufrieden sein und den Mund halten.« »Und Ababehri?« »Der geht heute Nacht in sein Dorf und verschwindet 224
nach Pakistan. Dort gibt es viele Uiguren.« Der Hubschrauber landete auf einem Militärflugplatz in Urumqi. Zhou und Liebling gingen mit je einem Matchbeutel zu einem Flugzeug der chinesischen Luftwaffe, das sie zum Luftwaffenhauptquartier in Peking flog. Dort wartete ein schwarzer Mercedes auf sie. Zhou sprach mit dem Fahrer, und der Wagen raste in Richtung einer der Ringautobahnen, die um die Stadt herumführen. »Sie werden zum Zivilflughafen gebracht. Dort hat man eine Maschine der Lufthansa aus technischen Gründen aufgehalten. Das ist der schnellste Weg, Sie nach Berlin zu befördern.« »Aber … was wird aus Ihnen? Das alles«, Liebling machte eine Armbewegung, als wollte er das gesamte Unternehmen, von der Taklamakan bis Peking mit ihr einschließen, »das alles wird doch bestimmt dazu führen, dass man Ihnen Fragen stellt.« »Fragen werden immer gestellt. Das dauert Tage. Die Bürokratie.« Er beugte sich zu Liebling und flüsterte: »Dann werde ich der deutschen Botschaft in Peking einen Besuch abstatten. Stiller holt mich raus, falls es nötig werden sollte.«
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19 PEKING General Zhous Wohnung lag acht Kilometer vom Verteidigungsministerium entfernt. Er war nie im Außeneinsatz gewesen, deshalb kam es ihm nicht in den Sinn, seinen täglichen Weg zur Arbeit zu ändern. Er lebte allein – zum einen war seine Frau vor fünf Jahren gestorben, zum anderen wollte er es so, da sich diese Lebensform besser mit seiner Arbeit vereinbaren ließ. Er war Frühaufsteher und lebte nach einem exakten Zeitplan. Er brach unabänderlich um 6.45 Uhr zur Arbeit auf und erreichte den Tiananmen um sieben. Dort wanderte er dann langsam und gleichmäßig im Uhrzeigersinn um den Platz und vollführte dabei mit den Armen eine Reihe von Bewegungen, die wie eine Übung im Flaggenwinken aussahen. Als er an der steilen, breiten Treppe des Volksmuseums vorüberkam, löste sich ein Mann aus einer Gruppe älterer Leute, die Käfige mit Zimmervögeln trugen. Zhou erkannte den Mann, der sich ihm näherte und seine Käfigfinken in die Höhe hielt. Er blieb stehen und tat, als würde er die Vögel bewundern. »Sie wurden verraten«, sagte der Mann, zeigte auf den Käfig und mimte ein beiläufiges Gespräch. »Man wird Sie in der deutschen Botschaft aufnehmen. Gehen Sie unverzüglich dorthin.« Zhou lief einem Taxi entgegen und hielt es an. Der Fahrer, der wütend aussah, wie es alle Taxifahrer in Peking tun, nickte, als Zhou ihn fragte, ob er wüsste, wo die deutsche Botschaft sei. Er wendete und hatte noch keine zwei Kilometer zurückgelegt, als ein schwarzes 226
Auto dem Taxi den Weg abschnitt. Der Fahrer trat auf die Bremse, so dass Zhou nach vorn geschleudert wurde und mit dem Kopf gegen die Plastikscheibe hinter dem Fahrer stieß. Zwei junge Männer stiegen aus dem Auto. Einer stellte sich vor das Taxi. Der andere öffnete die rechte, hintere Tür und bedeutete Zhou auszusteigen. »Staatssicherheit«, sagte er. »Sie kommen mit uns.« »Ich möchte den Fahrer bezahlen«, sagte Zhou. Der Mann drehte sich um und sprach hastig mit seinem Kollegen vor dem Taxi. »Er wird sich um den Fahrer kümmern«, sagte er. Der andere Mann ließ sich Informationen vom Fahrer geben, die er aufschrieb. Jetzt sieht er nicht mehr wütend aus, dachte Zhou. Er sieht ängstlich aus. Ich darf nicht ängstlich aussehen. Die beiden Männer fassten Zhou an den Armen und schoben ihn auf den Rücksitz des schwarzen Wagens. Einer stieg vorn beim Fahrer ein. Der andere, anscheinend der Chef, setzte sich neben Zhou. »Sie werden nicht zur deutschen Botschaft fahren«, sagte er. »Da muss ein Irrtum vorliegen«, erwiderte Zhou. »Ich war auf dem Weg in mein Büro.« »Sie werden jetzt bitte anfangen, die Wahrheit zu sagen.« Der Mann drehte sich leicht auf seinem Sitz, so dass er Zhou direkt ansah. Der schwarze Wagen bog in eine Straße ein und hielt vor einem dreistöckigen Gebäude. Zhou wusste, es war nicht das Hauptquartier der Staatssicherheit, aber er sagte nichts. Der Mann stieg aus und zerrte an Zhous Arm. »Los, Beeilung«, sagte er. »Sie gehen da rein und fangen an, die Wahrheit zu sagen.« Das schwarze Auto jagte davon. Der Mann stieß Zhou 227
vor sich her in das Gebäude. Eine schlichte Tür ging auf, und sie betraten einen kleinen Raum. Ein Mann, der älter war als der aus dem Auto, wies mit einem Kopfnicken auf einen Hocker, der vor seinem Schreibtisch stand. Über dem Tisch hing eine trübe Lampe. »Sie brauchen meinen Namen nicht zu wissen, Genosse Zhou. Betrachten Sie mich einfach als Genosse Wahrheit.« Er entfaltete ein Papier auf seinem Schreibtisch und reichte es Zhou, der nicht hinsehen musste, um zu wissen, was es war. Bei dem Papier, das ein kleines Siegel in der unteren rechten Ecke trug, handelte es sich um einen ju Zhou an zheng, eine Zwangsvorladung. Auf dem Papier stand kein Datum. Zhous Name hatte man hastig auf eine gestrichelte Linie geschrieben. Es gab keinen Grund für die Vorladung. Es gab nie einen Grund für einen ju Zhou an zheng. »Wie Sie sehen«, sagte Genosse Wahrheit, »laden wir Sie in Einklang mit dem Gesetz vor.« Er riss Zhou das Papier aus der Hand. Dann nickte er einem Mann zu, der auf einer Bank an der Tür saß. Zhou hatte ihn bereits vorher bemerkt. Nun trat der Mann vor. Er war groß und trug ein schwarzes TShirt und eine schwarze Hose. Seine Schultern waren breit und seine Arme muskulös. Die Suche nach der Wahrheit begann. Die endgültige Wahrheit kam in der Morgendämmerung des folgenden Tages zum Vorschein. Der Mann mit den Vogelkäfigen war der Erste, der sie sah. Er reagierte nicht sichtbar. Sie würden zuschauen, wie sie immer zuschauten. Er ging an dem Laternenpfahl vorbei, ohne seinen Schritt zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Die Vögel sangen weiter. Der Mann wünschte, sie würden verstummen. Aber er wusste, sie würden immer singen, egal, was sie sahen auf dem Tiananmen. 228
An dem Laternenpfahl hing die nackte Leiche von Zhou. Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt und ihm ein Traktat in den Mund gestopft, das die Vorzüge von Falun Gong pries.
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20 BERLIN »Erzählen Sie mir noch mal alles«, sagte Christoph Stiller zu dem Polizeibeamten, der die Leiche gefunden hatte. Lars Kestenberg stand zur Beförderung zum Kommissaranwärter bei der Berliner Kriminalpolizei an und war stolz auf seine Fähigkeit, Tatsachen bündig und genau wiederzugeben. Er wagte ein leichtes Stirnrunzeln in Richtung dieses Bürokraten vom BND, der hier aufgetaucht war und der Berliner Polizei das Kommando über einen Tatort aus der Hand genommen hatte. »Heute um 11.35 Uhr«, begann Kestenberg, »rief eine Person über Handy beim Revier Tempelhof-Schöneberg an und sagte, Zitat: ›Schicken Sie einen Beamten zum Tempelhofer Damm 782. Dort liegt eine Leiche.‹ Ende des Zitats. Mein Wagen wurde zu der Adresse befohlen, die ich als leer stehendes Lagerhaus kannte, das oft von Drogensüchtigen zum Fixen benutzt wird. Mein Kollege und ich betraten das Gebäude durch die offene Eingangstür und gingen über einen Flur bis zum ersten Lagerraum auf der rechten Seite. Die Tür war offen, und wir gingen hinein. Es ist der Raum, in dem wir jetzt stehen.« Kestenberg hielt inne und zeigte zu einer Tür am anderen Ende des langen, schmalen Raums. Mattes Sonnenlicht strömte durch die Reste von vier hohen Fenstern, alle halb zerbrochen und schmutzig. Der größte Teil des Raums lag im Dunkeln. Aber auf dem von Müll übersäten Boden standen zwei Scheinwerfer auf Stativen. 230
Sie beleuchteten mit ihrem grellen Licht die Gestalt eines an die Tür genagelten Mannes. »Wir ließen unsere Taschenlampen über den Raum wandern und sahen an dieser Tür da drüben etwas hängen, das wie eine Leiche aussah. Ich näherte mich vorsichtig, um keine Spuren zu verwischen, und richtete mein Licht auf die Leiche. Der Mann, der dort hing, war offensichtlich tot. In seinen Händen und Handgelenken steckten große Nägel, je einer in der Handfläche und im Gelenk. Ich …« »Aber woher wussten Sie, dass er tot war?«, unterbrach Stiller. »Woher wussten Sie, dass er nicht ärztliche Hilfe brauchte?« »Nun ja, wie ich schon berichtet habe, hatte der Mann die Augen offen, weit offen. Das waren die Augen eines Toten. Ich kenne diesen Blick. Sein Kopf hing nach vorn, auf die Brust, und ich sah die zwei Löcher in seinem kahlen Schädel. Das waren Einschusslöcher. Ich sah keine Austrittswunden, und ich wusste deshalb, dass sie von dem Typ Munition stammen, die im Körper explodiert. Keine Frage, der Mann war tot.« »Sie haben einen ausgezeichneten Bericht abgeliefert, Kestenberg«, sagte Stiller. »Ich lasse mir immer zweimal mündlich berichten, um zu sehen, ob sich irgendwelche Details ändern. Das war bei Ihnen nicht der Fall. Und trotzdem haben Sie Ihre Meldung erkennbar nicht auswendig gelernt. Wie ich höre, stehen Sie zur Beförderung an. Sie werden einen vorzüglichen Kommissar abgeben.« Stiller durchquerte mit zwei Schritten den Raum und sah sich den Leichnam ein letztes Mal an. Der Mann war Ende vierzig. Er trug einen dunkelgrünen Pullover über einem blauen Hemd, stark verwaschene Jeans und Wanderstiefel. An seinem rechten Handgelenk war eine Uhr mit 231
dehnbarem Silberband. Die Uhr zeigte die falsche Zeit. Dann wurde Stiller klar, dass Hans Liebling sie noch nicht umgestellt hatte und sie chinesische Zeit anzeigte. Stiller machte kehrt und ging zu Kestenberg zurück. Er fasste ihn am Arm und führte ihn in den Flur hinaus. »Ein guter Kommissar weiß den Mund zu halten«, sagte er und zog den Beamten nahe zu sich her. »Soweit es Sie und Ihre Kollegen von der Polizei betrifft, war weder ich noch irgendwer sonst vom BND hier. Und wir waren auch nicht in diese … andere Ermittlung am Flughafen involviert. Erwähnen Sie mich oder den BND nicht in Ihrem Bericht. Haben Sie mich verstanden?« Kestenberg nickte. »Ja, natürlich.« »Schön«, sagte Stiller und ließ den Arm des Polizisten los. »Und jetzt bringen Sie mich bitte zu der anderen Leiche.« Die beiden stiegen in Stillers schwarzen Opel. Kestenberg dirigierte den Fahrer zu einem der Parkplätze des Flughafens Berlin Tempelhof, der nicht weit entfernt war. Beamte der Spurensicherung arbeiteten rund um einen weiteren schwarzen Opel. Die Fahrertür stand offen. Hinter dem Lenkrad saß ein Mann in braunem Tweedsakko und grauer Hose. Sein Kopf lag auf dem Steuerrad. Er hatte dichtes schwarzes Haar. Stiller musste genau hinsehen, um die beiden rot geränderten Löcher zu erkennen. Er wandte sich an Kestenberg. »Und diese Leiche?« »Ein Beamter auf Streife überprüfte routinemäßig Autos auf dem Parkplatz«, begann Kestenberg und holte ein schwarz gebundenes Notizbuch aus seiner Uniformjacke. Er klappte es auf, schaute aber nicht hinein. »Der Beamte dachte zunächst, der Fahrer würde irgendwie Hilfe brauchen. Dann sah er, dass der Mann tot war.« Kestenberg blickte Stiller an. »Ich nehme an, er hat das 232
aufgrund von sachkundiger Beobachtung festgestellt.« Er konsultierte nun das Notizbuch. »Er rief auf dem Revier an, wo man zwanzig Minuten zuvor den Anruf wegen der Leiche am Tempelhofer Damm erhalten hatte. Ich hörte den Funkverkehr und dachte, es könnte einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden geben – Tempelhof-Schöneberg ist zwar eine raue Gegend, aber viele Morde passieren nicht. Deshalb ließ ich meinen Partner beim Lagerhaus zurück und fuhr hierher. Inzwischen hatte der Beamte hier das Nummernschild des Opels überprüfen lassen und erfahren, dass es der Geheimhaltung unterlag.« Er sah zu Stillers Opel hinüber. »Ich fuhr zum Lagerhaus zurück und wurde bald darauf vom Revier informiert, dass der BND die Ermittlung in die Hand nehmen würde. Und deshalb vermute ich, dass die beiden Morde tatsächlich zusammenhängen und dass es sich um eine Angelegenheit des BND handelt.« »Danke«, sagte Stiller. »Ich bringe Sie zum Lagerhaus zurück. Meine Leute werden eng mit Ihnen und den anderen Ermittlern der Berliner Polizei zusammenarbeiten. Aber es wird nur eine Informationsquelle geben. Und gewisse Aspekte in diesem Fall machen es erforderlich, die Sache zumindest vorläufig nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.« Beim Lagerhaus angekommen, setzte Stiller Kestenberg ab und winkte einem Mann, der gerade mit einem Kommissar der Berliner Polizei sprach. Der Mann war groß und muskulös und trug einen dunklen Rollkragenpulli und eine schwarze Hose. Er stieg zu Stiller auf den Rücksitz. »Was denkst du, Kurt?« »Mossad«, erwiderte Kurt. »Zwei in den Kopf. Es geht nichts über zwei Hohlmantelgeschosse in den Kopf. 233
Erinnerst du dich an diese Sache, von der wir in Jordanien gehört haben? Sie wollten irgendeinen Palästinenser beseitigen, indem sie ihm Gift ins Ohr injizierten. Hat nicht funktioniert. Das hier hat funktioniert. Zwei Kugeln in den Kopf, das funktioniert immer.«
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21 Eine Kuppel aus Stahl und Glas schwebte über dem Reichstag. »Stell dir das vor, Miya«, sagte Berzin. »Ein Herrschersitz für einen König, ein Herrschersitz für Hitler, das Ziel Tausender Bomben, das Herzstück einer Stadt, die von einer mörderischen Mauer in zwei Hälften geteilt wurde, und jetzt …? Eine Bühne, auf der Demokratie aufgeführt wird.« Berzin sprach in rauem Deutsch, seine Worte klangen oft hart. Er hatte Wagners Warnung, dass er unter Beobachtung stand, in den Wind geschlagen. Die Deutschen würden es nicht wagen, ihn anzurühren. Miya Takala konnte seinen Worten folgen – das war leicht. Aber die Gedanken hinter den Worten waren das eigentliche Übersetzungsproblem. Man hatte Miya vor einigen Monaten nach Deutschland geschickt. Der Mossad begann sich Sorgen über die wachsende Zahl von Terroristen zu machen, von denen man glaubte, sie würden sich in Berlin sammeln und von dort zuschlagen. Miya war die ideale Agentin, um alles aufmerksam zu beobachten und wenn nötig zu handeln. Der israelische Geheimdienst hatte außerdem davon reden hören, dass Wladimir Berzin, ein russischer Bandenchef, verdeckte Waffenverkäufe an Elemente in Chinas Militär tätigte. Manche dieser Rüstungsgüter wurden dann in den Iran weiterverfrachtet. Und von dort zu Hamas und Hisbollah. Einer Quelle zufolge hatten angeblich kleine, koffergroße Atombomben auf einer Einkaufsliste gestanden. Dafür gab es zwar keine Bestätigung, aber Israel durfte kein Risiko eingehen. 235
David Ben-Dar, der israelische Geheimdienstchef, brachte in Erfahrung, dass Berzin als Mitglied einer russischen Wirtschaftsdelegation zu einem Abendessen eingeladen war, das Kanzler Kiepler zu Ehren des kränkelnden russischen Präsidenten Alexander Gruschkow gab. Ben-Dar sorgte dafür, dass Miya ebenfalls auf die Gästeliste kam, und wies sie an, mit Berzin Kontakt aufzunehmen. Ben-Dar wusste, dass Berzin sie nicht übersehen würde. Das taten Männer fast nie. Miya ließ es sich angelegen sein, Berzin den gesamten Abend über ihre Aufmerksamkeit zu schenken und ihm unaufdringlich zu schmeicheln. Wie erwartet, hatte sie mit ihrem Auftrag Erfolg. Er war fasziniert von ihr. Als er ihr vorschlug, am nächsten Tag im Park Plaza an der Storkower Straße mit ihm zu Mittag zu Essen, sagte sie zu. Im Gegensatz zu allem, was sie in ihren vertraulichen Unterlagen über ihn gelesen hatte, fand ihn Miya auf eine etwas derbe Art ganz charmant. Er verfügte zwar nicht über die geschliffensten Umgangsformen, aber er war auch keineswegs so ungehobelt oder ungebildet, wie sie gedacht hatte. Allerdings zeigte er sich offenkundig von seiner besten Seite und fest entschlossen, sie zu beeindrucken. Während des Mittagessens sagte er, er würde sie »weltgewandt«, »kultiviert« und »entzückend« finden. Sie gestattete sich einen stillen Moment der Unbescheidenheit und dachte: Ohne Frage weit über dem Niveau der Tausend-Dollar-Huren, mit denen du bekanntermaßen in Moskau verkehrst. Aber sie wusste, er würde an irgendeinem Punkt mehr als höfliche Konversation wollen, und Wladimir Berzin war nicht der Typ, der ein »Nein« als Antwort akzeptierte. Er war ein gefährlicher Mann, aber das war nicht das Problem. Gefahr war ein ständiger Begleiter in Miyas 236
Gewerbe. Die Sache war komplizierter. Ben-Dar hatte schon vieles von ihr verlangt. Sie hatte auf seinen Befehl getötet, und sie würde es ohne Zögern oder Reue wieder tun. Aber Sex war etwas anderes. Sie war bereit, ihr Leben für ihr Land zu opfern, aber nicht ihren Körper. »Das verstehe ich nicht«, hatte Ben-Dar behauptet. Miya war es egal. Sie würde es einfach nicht tun. Am Ende gab Ben-Dar immer nach. Nun war Berzin wieder in Berlin. Er lud sie zu einem Spaziergang ein. Es war ein schöner Tag. »Warum nicht?«, sagte sie. Berzin zeigte auf eine Figur auf einer Verkehrsampel. Sie war rot, mit einem Eierkopf unter einem flachen Hut und hatte die Arme steif von sich gestreckt. Während er deutete, wurde die Figur grün und marschierte mit flinken, kleinen Schritten los. »Ostmännchen haben sie den kleinen Kerl im Westen genannt. Dort hatten sie eine nüchternere Figur, die einem sagte, ob man die Straße überqueren durfte. Da drüben ist eine, sehen Sie? Es gibt sie jetzt beide in Berlin, als eines dieser albernen Symbole der Einheit. Aber die Mauer ist immer noch da, die Mauer in den Köpfen.« Unweit der Oper Unter den Linden gingen sie zu einem rechteckigen Fenster im Straßenbelag und blickten hinab. Unter dickem Glas schimmerte ein weißer Raum mit weißen, leeren Regalen. Auf einer Gedenktafel stand, dass hier die Stelle war, an der die Nazis am 10. Mai 1933 Hunderte Bücher verfemter Autoren verbrannten. Sie sahen schweigend nach unten. Das hat einer von uns geschaffen, Micha Ullman, dachte Miya. »Es gibt ein deutsches Wort, das ich gelernt habe«, sagte 237
Berzin. »Schreibtischtäter. Am Anfang war es schwer zu verstehen. Ich musste es nachschlagen.« »Schreibtischtäter«, wiederholte sie. Hier waren sie alle gegenwärtig: Heydrich, Himmler, Eichmann. Ein Stück der Mauer, mit verblassenden Graffiti bedeckt, stand nahe der Bornholmer Brücke, wo am 9. November 1989 die ersten Ostdeutschen in den Westen gegangen waren. Und neben dem Mauerstück machte eine Reklametafel Werbung für Zigaretten. Berzin wies mit dem Kopf in Richtung Osten. »Als ich als Kind da drüben gelebt habe«, sagte er, »habe ich vom Westen geträumt. Ich stellte ihn mir wie das Zauberreich von Walt Disney vor.« Er hielt inne. »Und jetzt finde ich gar nicht mehr so viel Zauber in diesem Reich.« »Ja?«, sagte Miya. »Disney enttäuscht Sie?« Sie hatte sich angewöhnt, immer dann ihr Gehirn auf Zuhören und Speichern umzustellen, wenn Berzins Stimme einen sanfteren Ton annahm. Jetzt hörte sie zu. Sie wusste, er hatte den Tag zum Teil mit Wagner verbracht, und sie spürte intuitiv, dass er gleich etwas sagen würde, was zumindest einiges von den Gesprächen der beiden widerspiegelte. »Ja, total. Es ist alles nur Schein, Täuschung. Es verschwindet in dem Moment, in dem man das Kino verlässt. Mir schwebt etwas Realeres vor.« Er führte sie zu einer Bank mit Blick auf einen kleinen Park, nahe des glitzernden Kudamms. Als sie sich setzten, legte Berzin den rechten Arm auf die Banklehne, und Miya wartete darauf, dass seine Hand auf ihrer Schulter landen würde. Aber er zog die Hand zurück, wahrscheinlich, weil er beide Hände zur Unterstreichung seiner Rede brauchte. Er war ein Mann ausladender Gesten. »Ich schaue auf Amerika und sehe nur Enttäuschung. 238
Dekadenz. Menschen, die ihre Disziplin verloren haben und fett geworden sind. Das amerikanische Jahrhundert, wie man das zwanzigste genannt hat, ist vorbei.« »Und wem gehört dann die Zukunft?« Er hatte nun ihre Neugier geweckt. »Sie gehört Deutschland«, sagte Berzin und zeigte mit einer Armbewegung auf die gewaltigen neuen Gebäude, die man überall sah. »Deutschland und Russland!« Berzin beschwor den Namen seines Vaterlands mit besonderem Stolz. »Bedenken Sie, wie deutsche und russische Firmen jetzt überall in Europa Joint Ventures eingehen. Denken Sie an noch größere Partnerschaften. Was das für ganz Europa bewirken könnte!« »Und die Franzosen?« »Die Franzosen? Mit denen kann man keine Geschäfte machen. Sie sind zu schwierig. Außerdem kann man ihnen nicht trauen. Nein, russische Macht und deutsche Effizienz – das ist der Schlüssel zum Erfolg.« Berzin hielt inne. Offenbar merkte er, dass er zu prahlerisch klang. Er legte nun den Arm um Miyas Schulter und änderte sein Sprechtempo. »Genug von Geschäften und Politik«, sagte er. »Wir müssen uns überlegen, wie wir unsere eigene Verbindung nutzen können.« Miya lächelte warm, obwohl es ihr kalt über den Rücken lief. Sie wusste nicht genau, was er gemeint hatte, als er von Geschäften und Politik sprach. Aber sie wusste, es konnte nichts Gutes bedeuten. Während sie aufstand und elegant aus Berzins Umarmung schlüpfte, wusste Miya, dieser Auftrag würde ihr härtester werden.
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22 WASHINGTON Santini traf kurz nach 21.00 Uhr wieder zu Hause ein, es war die übliche Zeit. Fünfzehn Stunden machten einen durchschnittlichen Arbeitstag aus. Manchmal dauerte er auch länger. Nachdem er Krawatte und Jackett abgelegt hatte, ging er in die Küche und holte eine Flasche Wodka zusammen mit einem Glas aus dem Eisfach seines Kühlschranks. Er goss sich zwei Fingerbreit ein, schlenderte ins Wohnzimmer und kuschelte sich in seinen Lieblingssessel, einen Eames Lounge. Es war das einzige Möbelstück, das er aus New York mitgebracht hatte. Als er vor sieben Monaten den Anruf aus dem Weißen Haus und die Einladung in Jeffersons Team erhielt, hatte er wenig Zeit zur Haussuche gehabt. Die Maklerin, die er engagierte, behauptete, genau das Richtige für ihn gefunden zu haben: Eine luxuriöse Eigentumswohnung an der Pennsylvania Avenue, exakt auf halbem Weg zwischen dem Capitol Hill und dem Weißen Haus gelegen, mit einem Panoramablick über die Stadt. Die Besitzer, ein schwules Paar Innenarchitekten, hatten beschlossen, ihr Unternehmen nach Palm Beach, Florida, zu verlegen. Sie verlangten eine Million für die Wohnung, voll möbliert. Perfekt, dachte Santini. Nachdem die Maklerin ihm versichert hatte, die Wohnung sei »höchstes Niveau«, kaufte er sie unbesehen. 240
Die übliche Besichtigung vor Abschluss des Vertrags hätte ihm die Überraschung erspart, die er erlebte, als er seine Neuerwerbung zum ersten Mal betrat. Es sah aus, als stammte die gesamte Einrichtung aus dem Räumungsverkauf eines chinesischen Warenhauses. Bunte Gartenstühle, Pergamentrollen mit heiteren, handgemalten Wasserfallszenen, Cloisonné-Schalen und Statuetten … Die ganze Wohnung war voll gestopft mit dem Zeug. Es machte ihm aber nicht viel aus. Er hatte nicht vor, Gäste zu bewirten. Seit seiner Scheidung war ihm der Wunsch nach romantischem Kerzenschein ziemlich vergangen. Abgesehen davon hatte er schlicht keine Zeit dafür. Er schwenkte den Wodka im Glas herum, ehe er einen Schluck trank. Nachdem er das Fernsehgerät mit dem Flachbildschirm eingeschaltet hatte, suchte er mit der Fernbedienung einen Spielfilmkanal. Bis zur Jay-LenoShow waren es noch zwei Stunden. Er freute sich jeden Abend auf Lenos zehnminütigen Monolog. Es war das einzige Mal am Tag, dass er lachen konnte. Santini wünschte, sein Leben bestünde nicht nur aus Arbeit, aber hol’s der Teufel, es war ja nicht für immer. Schließlich diente er einem höheren Zweck als seinem eigenen Wohlergehen. Das laute Klingeln seines abhörsicheren Telefons bewahrte ihn davor, in Selbstmitleid abzugleiten. Es war William McConnell, der FBI-Direktor. »Ich wollte Sie nur auf den neuesten Stand über die Situation in Holloman bringen«, sagte er. »Einer der Schweinehunde, die den Anschlag auf die Deutschen verübt haben, hatte ein unschönes Erlebnis mit Sprengstoff. Meine Leute sagen, sie saugen ihn mit einem Strohhalm auf.« O’Neill hatte Santini bereits informiert. »Klingt, als hätte 241
die Gerechtigkeit ihren Lauf genommen.« »Keine Frage. Aber hinter der Sache steckt mehr, als Praeger heute an die Medien herausgegeben hat.« »Zum Beispiel?«, fragte Santini, neugierig, warum McConnell ihn angerufen hatte. McConnell war kein Freund von Praeger, aber er hatte noch nie mit Santini direkt über eine FBI-Angelegenheit gesprochen. Und Santini hatte keine Ahnung, was Praeger seinen Freunden von der Presse steckte. »›Mörderische Miliz‹ ergibt eine nette Schlagzeile, aber meinem Spitzenmann zufolge passt es ein bisschen zu gut. Er ist überzeugt, dass Koestlers Tod und der Tod der deutschen Piloten von außen geplant, wenn nicht sogar ausgeführt wurden.« »Irgendwelche Vermutungen?« »Noch nicht. Aber Anthrax und Zeitbomben sind eine Nummer zu groß für diese Gruppe, egal, was das Weiße Haus sagt. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn wir mehr wissen.« »Danke, Bill«, erwiderte Santini und überlegte, welche Folgerungen sich aus dem eben Gehörten ergaben. Motiv. Gelegenheit. Mittel. Irgendwer besaß all das. Aber wer?
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23 Der kommende Tag würde für Santini einer von denen werden, die nicht endeten. Er sollte im Pentagon beginnen und auf dem Luftwaffenstützpunkt Andrews weitergehen, um sich anschließend über den Atlantik hinzuziehen; dann eine kurze Pause auf dem Münchner Flughafen, ehe im Hotel Bayerischer Hof mit Frühstück und Briefings alles von vorn anfing. Der Tag würde also einfach mit dem nächsten verschmelzen. Mit diesem Gedanken stürzte sich Santini in die Arbeit. Arthur Wu erwähnte in seinem täglichen DIA-Bericht den Mord an einem deutschen Archäologen, der für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet hatte, wobei ihm das Wort für den deutschen Geheimdienst glatt über die Lippen ging. Santini konnte sich vorstellen, wie Wu gewissenhaft ein deutsches Wörterbuch zu Rate gezogen und dann das Wort geübt hatte. »Der Archäologe hieß Liebling«, sagte Wu. »Er war soeben von einer gemeinsamen Operation von CIA und BND aus China zurückgekehrt.« Er hielt einen Moment inne. »Die DIA hat natürlich von der CIA nichts über die Sache bekommen. Ihr CIA-Berichterstatter …« »Schon kapiert, Art. Ich frage, wenn ich es brauche«, sagte Santini mit einem Anflug von Ungeduld. »Der BND, von dem wir hingegen informiert werden, sagt, es sieht nach einem typischen Mossad-Job aus.« Die Bemerkung löste eine Kette von Erinnerungen aus, die Santini durch den Kopf jagten – und wieder verschwanden. Als Nächstes erzählte Wu von einem nordkoreanischen Wissenschaftler, der in die Vereinigten Staaten übergelaufen war. Der Mann behauptete, Nordkorea habe eine Rakete entwickelt, die einen nuklearen Gefechtskopf 243
tragen und North Dakota erreichen könne. »Es ist also wieder einmal der Mensch, Art, der die Geheimnisse preisgibt, nicht der Computer«, sagte Santini und brachte damit eines von Wus Lieblingsthemen zur Sprache, die Verwundbarkeit von Computersystemen. Wu nickte und setzte seinen Bericht fort. Zwanzig Minuten nachdem Wu gegangen war, teilte Margie ihrem Chef mit, dass ein Bote vom DIA eine vertrauliche Nachricht gebracht habe. »Herein damit«, sagte Santini. »Beachten Sie die Anlage, wenn es um Geheimnisse geht«, hieß es in der Nachricht. »Computersicherheit ist keine Sicherheit.« Die Anlage, die als GEHEIM gekennzeichnet war, bestand aus einem ausführlichen technischen Bericht über die visuellen und akustischen Fähigkeiten von Lasern. Santini blätterte die Zusammenfassung durch. Darin wurde der zunehmende Einsatz von Lasern zur Überwachung vertraulicher Gespräche und zur Erfassung von E-Mails und Computermemos erwähnt. Er schrieb »Zu Ihrer Information« auf die Titelseite und bat Margie, den Bericht an Scott O’Neill weiterzuleiten. Wu wollte das Thema einfach nicht ruhen lassen. Damit Santini den FBI-Bericht einordnen konnte, den er bei der Sitzung im Weißem Haus vor einigen Tagen erhalten hatte, fragte er Robert Sommers, seinen CIABerichterstatter, was der Dienst über die Mafiya wusste. »Ich habe von diesem Briefing gehört, Sir«, antwortete Sommers. »Es gibt ein paar Dinge, die Ihnen Knowles nicht gesagt hat. Darf ich Ihnen erzählen, was ich persönlich weiß? Nicht als offizieller Berichterstatter?« »Sicher. Ich bin für persönliche Kenntnisse jederzeit 244
empfänglich.« »Also, mal angenommen, Sie sind wegen irgendwelcher Finanzangelegenheiten in Genf, und Sie gehen in Ihrem hübschen Hotel in die Bar, und dort beginnt dieser Russe in einem Dreitausend-Dollar-Anzug ein Gespräch mit Ihnen. Nach ein paar Drinks deutet er vage an, er würde gern Geschäfte mit Ihnen machen. Er gibt Ihnen seine Karte, auf der steht, er ist Vizepräsident irgendeiner modern klingenden Firma mit einem Namen aus lauter Großbuchstaben – TRIMEX, BETREX, NINEX – und Sie geben ihm Ihre Karte. Mit wem haben Sie es zu tun? Mit einem echten Geschäftsmann? Einem russischen Geheimdienstoffizier? Einem Schwindler? Oder einer Mischung aus allen dreien? Soweit wir feststellen, ist immer häufiger Letzteres der Fall. Die vermischen sich inzwischen alle. Und wie es aussieht, kandidiert einer von ihnen jetzt als Präsident Russlands.« Santini sah Sommers einen Moment lang an, um herauszufinden, ob er zu den CIA-Leuten gehörte, die mehr über Berzin wussten, es aber für sich behielten. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass Sommers anscheinend nicht mehr über den früheren Spion der CIA wusste, entließ er ihn. Genau um 16.45 Uhr erinnerte Margie Santini daran, dass er in fünfzehn Minuten zum Stützpunkt Andrews aufbrechen musste. Sie händigte ihm eine Passagierliste aus – das übliche Sicherheitspersonal und die Kommunikationsspezialisten; drei Senatoren, sechs Kongressmitglieder, ein Politikwissenschaftler der Yale University, dessen Buch über die Wurzeln des islamischen Terrorismus es soeben in die Bestsellerlisten geschafft hatte. Und zwölf Journalisten, unter ihnen der Enthüllungsjournalist Randall Hartley von der Washington Post. 245
»Rufen Sie die VIP-Lounge in Andrews an, Margie«, sagte Santini. »Sie sollen dafür sorgen, dass Hartley einen Platz in der Nähe meiner Kabine bekommt. Ich muss ein bisschen ungestört mit ihm plaudern.« Santini war nicht überrascht gewesen, den wesentlichen Inhalt dessen, was McConnell ihm in der Nacht zuvor erzählt hatte, in der Washington Post abgedruckt zu finden. Mit ein paar Stunden Vorsprung informiert zu werden, war alles, worauf er oder irgendwer sonst im heutigen Politikumfeld hoffen durfte. Was ihn aber überrascht hatte, war die Tatsache, dass die Post die Nachricht nicht auf der Titelseite gebracht hatte. »Ich lasse es von der Protokollabteilung regeln«, sagte Margie. »Alles wird reibungslos wie immer funktionieren.« Die Protokollabteilung des Verteidigungsministeriums sorgte tatsächlich für den reibungslosen Ablauf von Reisen und anderen Ereignissen, aber es gab keine Garantie, dass von den Politikern niemand darauf bestehen würde, ihn »unter vier Augen« zu sprechen. Er hoffte, sie würden alle einschlafen und ihn nicht stören. Es musste noch zwei Reden durchsehen – die eine, von der alle dachten, er würde sie halten, und die andere, in der er Klartext redete. Normalerweise freute er sich auf die alljährliche Heltsinger-Konferenz. Er traf dort alte und neue Freunde, hörte alte und neue Ideen und genoss das Zusammensein. Die Konferenz ging auf die frühen Sechzigerjahre zurück, eine unsichere Zeit für Europa. Angesichts der Teilung Deutschlands und der Konfrontation von NATO-Truppen und den Armeen des Warschauer Pakts, fürchtete Baron von Heltsinger, dass man auf einen Krieg zusteuerte. Deutsche Politiker und Generäle würden nur »Panzer zählen und ans Schießen denken«, hatte er damals gesagt. 246
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte von Heltsinger im deutschen Finanzwesen großen Einfluss erlangt und war zur Grauen Eminenz in den höchsten Kreisen der deutschen Politik und Wirtschaft aufgestiegen. So beschloss er, eine Konferenz zu organisieren, die untersuchen sollte, wie sich eine Entwicklung des Kalten Krieges zum dritten Weltkrieg verhindern ließ. Am Anfang kamen nur rund zwanzig Leute, unter ihnen ein junger Harvard-Professor namens Henry Kissinger und ein junger Bundestagsabgeordneter, der Helmut Schmidt hieß und später Verteidigungsminister und dann Kanzler wurde. Mit Heltsingers Ruf als Entdecker politischer Talente wuchs auch die Bedeutung seiner jährlichen Konferenz. Noch immer suchten führende deutsche Politiker seinen Rat, besonders der gegenwärtige Kanzler. Eine Teilnahme an seiner Konferenz war nur per Einladung möglich, und eine Einladung bedeutete, dass man auf gutem Fuß mit dem Establishment westlicher Sicherheitskreise stand. Das Treffen wurde zur wichtigsten Konferenz über Sicherheitsthemen in der NATO. Dieses Jahr jedoch würde Santini zum Überbringer schlechter Neuigkeiten werden. Er wusste, dass sich niemand, am wenigsten sein alter Freund Baron von Heltsinger, über die Botschaft freuen würde, die er im Gepäck hatte. Stunden später streckte Santini den Kopf aus seiner Privatkabine an Bord der Boeing 747, die früher als fliegende Kommandozentrale für den Fall eines Atomwaffenangriffs gedient hatte. Er genoss den Luxus einer Koje in seiner Kabine. Es gab einige zusätzliche Kojen im hinteren Teil der Maschine, die normalerweise für das AirForce-Personal an Bord reserviert waren, aber fast alle anderen überquerten den Atlantik sitzend. 247
Er winkte O’Neill zu sich. O’Neill stand auf, ging in Santinis Privatabteil und schloss die Tür hinter sich. »Scott, bitten Sie Randall Hartley zu mir herein, aber so, dass es die übrige Bande nicht unbedingt mitbekommt.« Das mitreisende Pressekorps auf dem Laufenden zu halten war für Santini ein notwendiges Übel. Er hatte zwar ein ganz gutes Verhältnis zu Journalisten und konnte sich nicht beklagen, dass sie ihn oder das Ministerium nicht fair behandelten. Aber sie waren unersättlich und wollten ständig gefüttert werden. Und wenn sie Blut rochen, spielte es keine Rolle, wie sehr sie Santini mochten oder respektierten. Das traf besonders auf den Journalisten zu, der als »Big Foot« bekannt war. Randall Hartley war ein rundlicher Mann, der mit seinem Kahlkopf und den wässrigen blauen Augen den Eindruck eines liebenswerten Iren machte. Irischer Abstammung war er tatsächlich, aber nur ein Narr hätte das Wort liebenswert mit ihm in Verbindung gebracht. Er war ein Hai, der sich mit Vorliebe von den Fehlern der Großen und Mächtigen nährte. Er stand in dem Ruf, mehr Leitungen zur CIA zu haben als AT&T. Das war zum Teil nur Reklame, und vieles verdankte er purem Glück. Aber der Ruf, allwissend zu sein, verstärkt sich in einer Weise selbst, die ihn am Ende tatsächlich wahr werden lässt. Abgesehen von einer kurzen Begegnung bei einem Botschaftsessen vor einiger Zeit, hatte Santini seit Jahren nicht mehr mit Hartley gesprochen, genauer gesagt, seit der Journalist einen Stenografen des Geheimdienstausschusses im Senat als Erpressungsopfer der Russen entlarvt hatte. Santini war zu jener Zeit der Ausschussvorsitzende gewesen. Hartley verdiente sein Geld nicht mehr als 248
sensationsgieriger Reporter. Er beschränkte sich darauf, im obersten Stock seines großen, im gotischen Stil erbauten Hauses in Georgetown Bestseller und Exposés für Kinohits zu schreiben. Aber jedermann in Washington wusste, dass er weiterhin rund um die Uhr arbeitete, um seine Geheimdienstquellen zu kultivieren, und dass niemand in dieser Stadt ein besseres Gespür dafür hatte, was tatsächlich in der Weltpolitik vor sich ging. »Was verschafft mir die Ehre, Mr. Secretary?«, sagte Hartley, als er die Kabine betrat. Er hatte immer diesen leicht flapsigen Tonfall, es gehörte zu seiner gewinnenden, charmanten Art. Liebenswürdigkeit, Lachen, umgängliches Wesen. Aber es war sehr gefährlich, darauf hereinzufallen, denn Hartley sagte nichts ohne Absicht, und die Absicht bestand immer darin, Informationen aus einem herauszuholen, während man scheinbar nur höfliche, harmlose Konversation machte. Santini stand auf und begrüßte Hartley, der einen Jogginganzug trug und breit lächelte, als er dem Minister die Hand schüttelte. Während seiner Zeit im Senat hatte Santini selten von sich aus den Kontakt zu Hartley gesucht, da er befürchtete, er könnte unwissentlich entscheidende Informationen preisgeben, nach denen Hartley suchte. Und wenn Hartley ihn anrief, entsprach es in etwa einem Anruf der berüchtigten Sendung 60 Minutes. Man wusste einfach, es würde ein sehr schlechter Tag werden. Santini wies auf einen Ledersessel mit hoher Lehne an einem schmalen Tisch, auf dem Berichtsmappen und ein Notizblock lagen, und nahm selbst in einem ähnlichen Sessel gegenüber von Hartley Platz. »Na, mal wieder in den Niederungen des Journalismus unterwegs, Randy?«, spottete Santini. »Ich dachte, Sie hecheln nicht mehr hinter den neuesten Meldungen her.« 249
»Ab und an muss ich mal raus«, sagte Hartley und ließ sich in dem Sessel nieder. »Außerdem verraten mir meine Quellen, dass heuer in München die Fetzen fliegen könnten.« »Möglich«, sagte Santini in gleichgültigem Ton. »Man weiß nie, was die Franzosen vorschlagen.« »Wohl nicht die Franzosen, was ich höre.« »Ich nehme an, dass Sie nicht für die morgige Zeitung schreiben, oder?« Hartley nickte. »Ich arbeite an einem Buch über die Pläne der Europäer, eine eigene, von der NATO unabhängige Militärmacht zu schaffen.« »Wenn das so ist, verrate ich Ihnen vorab, was ich zu sagen beabsichtige.« »Okay.« »Aber zuerst wüsste ich gern etwas von Ihnen.« »Kommt drauf an«, sagte Hartley. »Ich wüsste gern, warum Ihre Leute bei der Post die Story, wonach die Miliz für den Mord an Koestler und den Anschlag in Holloman verantwortlich sein soll, auf Seite acht versteckt haben.« »Sie meinen die Geschichte, die Praeger verbreitet hat?« »Richtig.« »Ganz einfach. Sie war zu simpel. Zu glatt. Die Miliz hatte zweifellos den Vorsatz. Sie hassen die Deutschen, und vielleicht hatten sie auch für Koestler nichts übrig. Aber beide Operationen überstiegen in Planung und Ausführung ihre Fähigkeiten. Der führende Kopf muss jemand von außen gewesen sein. Abgesehen davon«, ergänzte Hartley lächelnd, »hatte ich eine Quelle beim FBI. Ich durfte das Weiße Haus nicht öffentlich anpinkeln, aber ich konnte kaltes Wasser auf die Story schütten.« 250
»Irgendwelche Vorstellungen, wer die Strippenzieher sind?«, fragte Santini und überlegte, ob McConnell wohl wusste, dass ein Mitarbeiter des FBI Informationen an Hartley weitergab. »Noch nicht. Aber meine Leute sagen, sie sitzen nicht in Amerika. Und sie gönnen sich ihre kleinen Spielchen.« »Wie das?« »Wir sollen wissen, dass da draußen noch etwas ist, das viel größer und schlauer ist.« »Das ist ungefähr so vage wie die Terrorwarnungen, die wir jeden Tag bekommen«, sagte Santini. Wir können euch nicht sagen, wer, wo, wann oder wie, aber irgendjemand wird in den nächsten ein, zwei Wochen einen Terroranschlag gegen uns oder unsere Verbündeten verüben. »Können Sie nicht etwas genauer werden?« Hartley lächelte. Er war berüchtigt für seine Kritik an der Unfähigkeit von Regierungsstellen, terroristische Pläne vorauszusehen oder zu vereiteln. »Noch nicht. Ich habe meine Fallen in dieser Sache aufgestellt. Die Liste von Koestlers Feinden war lang.« »Bringt der Job mit sich.« »Ja, das Motiv ist eine Sache, aber die Liste wird gleich kürzer, wenn man überlegt, wer auch die Mittel und die Gelegenheit besaß, die Pläne auszuführen.« »Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie ›alle Punkte miteinander verbunden haben‹.« Ein leichter Seitenhieb auf Hartley. Der hatte den Ausdruck bei mehr als einer Gelegenheit benutzt, um anzudeuten, dass die geistigen und motorischen Fähigkeiten des offiziellen Washington unter einer angeborenen Behinderung litten. »Touché«, sagte Hartley. »Ich schicke Ihnen auf jeden Fall eine Kopie der Geschichte, bevor sie erscheint.« Im 251
Grunde fiel der Schlagabtausch zwischen den beiden Männern nie grob aus. Sie respektierten sich gegenseitig. Beide erkannten an, dass sie aufgrund ihrer Rollen ein gewisses Maß an Distanz in ihrer Beziehung wahren mussten. Hartley suchte schonungslos nach geheimen Informationen. Santini war gleichermaßen entschlossen, sie zu schützen. Obwohl Hartley neugierig darauf war, was Santini auf Heltsingers Konferenz mitteilen würde, sagte er nun: »Es gibt eine neue Information, die ich preisgeben kann.« Santini fasste das Angebot als Waffenstillstand auf. »In Mexico City hat man einen Mann, der als Charles Burkhart identifiziert wurde, tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden. Man hatte ihm die Zunge herausgeschnitten. Die Täter gaben sich aber offenbar nicht damit zufrieden, dass Burkhart nicht reden würde. Jemand hat ihm zwei Hohlmantelgeschosse ins Hirn gefeuert.« »Und?« Santini war nicht klar, was ihn die Ermordung Burkharts anging. »Er hatte in der Armee gedient. Wegen Kriegsverletzungen entlassen, die er bei der Operation Wüstensturm erlitten hat. Wie sich herausstellte, war er ein Spezialist für Sprengungen.« »Interessant, aber ich verstehe noch immer nicht, was …« »Wie sich außerdem herausstellte, arbeitete er bei einem Hausmeisterdienst, der in Holloman eingesetzt wird.« Jetzt läutete es bei Santini. »Großer Gott«, stieß er hervor. »Das heißt …« »Das war noch nicht alles. Mein Quelle gibt an, dass man Dokumente in seinem Zimmer gefunden hat – Reisepass, Führerschein, Kreditkarten –, die ihn als Jason Treadwell auswiesen.« 252
Hartley hielt inne und wägte ab, wie viel er Santini verraten sollte. Er entschloss sich fortzufahren. »Sie ließen den Namen durch die Computer der Fluglinien laufen und fanden heraus, dass für einen Mr. J. Treadwell bei Continental Airlines ein bezahltes Ticket auf die CaymanInseln hinterlegt war.« Alle Punkte liefen zusammen. »Jemand hatte beschlossen, Treadwells – Burkharts – Ruhestandspläne zu streichen«, sagte Santini. »Dieselbe Person, die hinter Holloman und vielleicht auch hinter dem Mord an Koestler steckt.« »Genau das vermute ich.« »Kommen Sie damit raus?«, fragte Santini. »Noch nicht. Die Sache passt noch nicht ganz zusammen. Warum sollte ein Killerkommando die ganzen Dokumente in seinem Zimmer zurücklassen? Das ergibt keinen Sinn, es sei denn, sie versuchen, das FBI in die Irre zu führen. Es ist natürlich auch möglich, dass die Täter nicht dazu kamen aufzuräumen. Aber wenn das nicht der Fall ist, treibt entweder jemand seine Spielchen, oder die Typen sind unglaublich dumm. Und ich glaube nicht, dass sie dumm sind.« Santini nickte zustimmend. Es ergab wirklich keinen Sinn. »Eins noch«, sagte Hartley. »Ich habe gestern Abend mit zuständigen Leuten in Mexiko gesprochen. Bevor die Pathologen ihn zerlegt haben, entdeckten sie, dass er einen dieser Gürtel mit verstecktem Reißverschluss auf der Innenseite trug. Darin fanden sie einen Zettel mit dem Wort ›Tago‹ darauf. Niemand weiß, was es bedeutet. Haben Sie eine Idee?« Santini zuckte mit den Achseln. »Ein Codename? Ein Akronym? Vielleicht ein Treffpunkt oder ein Kontakt. Das kann alles Mögliche sein.« 253
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Hartley. »Vorläufig ist es nur einer dieser ›Punkte‹. Jedenfalls ist das alles, was ich habe. Jetzt erzählen Sie mir von morgen.« Santini griff in seinen Aktenkoffer und zog ein gutes Dutzend getippte und zusammengeheftete Seiten heraus. Er gab sie Hartley und sagte: »Das hier wird im Vorfeld der Konferenz verteilt werden.« Dann zog er ein Bündel Papiere hervor, die seine handschriftlichen Notizen enthielten. »Und das beabsichtige ich zu sagen.« Hartley überflog die Notizen. »Die Deutschen werden nicht erfreut sein«, bemerkte er.
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24 MÜNCHEN Baron von Heltsingers Zuhause an der Prinzregentenstraße, unweit des Bayerischen Nationalmuseums, wirkte relativ bescheiden für einen Mann seines Reichtums. Genauso sollte es natürlich wirken. Im Innern des dreistöckigen Baus sah die Sache ganz anders aus. Der zweihundert Jahre alte Kronleuchter aus böhmischem Kristall, der von der vier Meter hohen Decke im zweiten Geschoss hing, hatte die Heime einiger der reichsten deutschen Familien geziert. Die Wände waren mit exquisiter, handbemalter Tapete bedeckt, einem Import aus China. Der Baron hatte darauf bestanden, dass die Tapete mit einer speziellen Technik angebracht wurde, die es erlaubte, sie zu entfernen, falls das Haus nach seinem Tod verkauft wurde. Die Treppe, die aus der Eingangshalle emporstieg, war aus italienischem Marmor und anmutig gebogen wie der Hals eines Schwans. Das Lieblingszimmer des Barons war die mit dunklem Kirschholz getäfelte Bibliothek mit ihren raumhohen Bücherregalen. Hierher pflegte er sich nach einem leichten Abendessen zurückzuziehen, das zwei im Haus wohnende Diener für ihn zubereiteten. Weinbrand und eine Zigarre rundeten den Abend dann ab, während er in den Schriften von Thukydides, Hegel oder Spengler las. Er war überzeugt, dass sich Geschichte wiederholte. Dass sich in den Ruinen aller Reiche die gleichen Leidenschaften, ehrgeizigen Ziele und Torheiten finden ließen. Dass die Philosophie als höchste Form geistiger und spiritueller 255
Übung einigen wenigen Auserwählten vorbehalten blieb. Deshalb blieb die Menschheit in einem Teufelskreis gefangen, den sie selbst geschaffen hatte. Es war keine Frage der Ursünde, sondern der anhaltenden Dummheit. Wenn ihm ein Umstand nicht gefiel, versuchte er allerdings manchmal, ihn zu beseitigen. In den Achtzigerjahren hatten die Sowjets Deutschland mit SS-20-Raketen ins Visier genommen. Präsident Ronald Reagan bestand darauf, dass zur Abschreckung Pershing-II-Raketen auf deutschem Boden stationiert wurden. Die Pazifisten behaupteten, die Amerikaner würden die Spannungen eskalieren lassen und betrachteten die Aufstellung der Pershings als gefährlichen Akt der Provokation. »Die Amerikaner hatten völlig Recht«, erinnerte er sich einmal lachend gegenüber Santini. »Und so gelang es uns auf einer Konferenz schließlich, genügend Unterstützung zu erhalten, damit die deutschen Politiker richtig handelten und Stärke mit Stärke erwiderten. Und was geschah? Die Sowjets gaben nach. Atomwaffen verschwanden.« Alle wichtigen Vorschläge, die während der letzten drei Jahrzehnte innerhalb der NATO angenommen wurden, und auch alle, die schließlich im Papierkorb landeten, waren auf einer seiner Konferenzen ausgebrütet worden. Aber die heimliche Tagesordnung der Treffen war immer die deutsch-amerikanische Verbindung gewesen. »Politik«, hatte von Heltsinger zu Santini gesagt, »ist eine Frage von Macht. Wenn man also in diesen Begriffen denkt, darf man nie vergessen, wo die Macht liegt. Man braucht nicht viele Freunde. Nur den richtigen.« Aber der Baron klammerte sich auch immer noch an seinen Hoffnungsanker. Er hoffte auf einsichtigere politische Führung. Auf ein Deutschland, das noch wohlhabender, stolzer und sicherer war. Das nicht nach Kriegen strebte, aber nicht zu besiegen war, wenn es zu welchen 256
kam. Diese Hoffnung lebte auch in Gestalt seines Protegés Wolfgang Wagner, Er war der Enkel eines alten Freundes der Familie, ein gebildeter junger Mann, der ein Händchen für finanzielle Dinge hatte und sich neuerdings stark für Politik interessierte. Er würde einen würdigen Nachfolger für die Herzensangelegenheit des Barons abgeben – die Förderung der deutschen Führungsrolle in Europa. Und eines Tages konnte er durchaus Kanzler werden. Heute Abend war Baron von Heltsinger beunruhigt, während er in seinem bevorzugten Ledersessel einer Sonate lauschte und einige von Goethes weniger bekannten Gedichten überflog. Wolfgang hatte vorhin angerufen. Er hatte gesagt, es sei dringend und habe mit der Konferenz zu tun, die am nächsten Tag beginnen sollte. Und obwohl sich der Baron auf einen ruhigen und erholsamen Abend gefreut hatte, stimmte er einem Treffen sofort zu. Sollte es Probleme geben, die seine Konferenz betrafen, musste er es jetzt wissen. Als Wagner eintraf, wurde er von Frederick, Heltsingers Diener, in die Bibliothek geführt. Der Baron, immer noch im Geschäftsanzug mit gestärktem, weißem Hemd, erhob sich, um ihn zu begrüßen. »Willkommen, mein Freund, willkommen. Ich bin froh, dass wir die Gelegenheit zu einem ruhigen Gespräch haben, bevor die ganzen Delegierten eintreffen.« Eigentlich wünschte von Heltsinger nichts dergleichen, aber seine Stimme klang nach purer Aufrichtigkeit. »Was treibt Sie heute Abend aus dem Haus? Sie sollten sich ausruhen. Die nächsten beiden Tage werden sehr anstrengend.« Der Baron legte Wagner väterlich den Arm um die Schulter und führte ihn zu einer Sitzgruppe. »Trinken Sie einen Weinbrand mit mir?« Es war im Grunde keine Frage. »Ja, natürlich«, sagte Wagner rasch. »Baron von Heltsinger …« 257
»Bitte, Wolfgang. Nennen Sie mich Eric. Bitte.« Wagner nickte, konnte sich aber immer noch nicht zu solcher Formlosigkeit gegenüber dem großen Mann durchringen. »Ich habe soeben durch eine Quelle in der deutschen Botschaft in Washington erfahren, dass Ihr alter Freund Michael Santini in seiner Rede eine politische Bombe auf uns fallen lassen wird.« Der Baron sagte nichts, sein Schweigen war leicht entmutigend. »Wir machen uns ja schon seit einer Weile Sorgen über die Absichten der Amerikaner«, fuhr Wagner fort. »Offenbar glauben sie, dass wir zu ihrer Sicherheit und für ihre Interessen in Zukunft nichts mehr beizutragen haben. Sie haben ihren Fokus nach Osten, zu China hin, verschoben. Santini wird das in seiner morgigen Rede bestätigen.« »Ich habe die Rede meines Freundes gelesen und nichts dergleichen darin entdeckt.« »Genau das meine ich, Baron. Nach meiner Quelle – und der Mann hat einen direkten Draht zur unmittelbaren Umgebung Santinis – hat ihm das Weiße Haus einen Marschbefehl vorgegeben. Die USA werden fünfzigtausend Mann ihrer Streitkräfte hier in Deutschland abziehen, mit der Aussicht auf eine weitere Reduzierung in naher Zukunft. Sie behaupten, darin spiegele sich eine gesunde strategische Planung. Aber es ist klar, dass es sich in Wahrheit um eine Vergeltung dafür handelt, dass wir mit den Franzosen an der Bildung einer gesonderten militärischen Streitmacht für Europa arbeiten, und dass wir uns weigern, ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen, wenn sie einen Krieg führen wollen.« Heltsinger blieb einen Augenblick stumm, aber die Röte, die ihm ins Gesicht stieg, verriet seinen wachsenden Zorn. »Wissen Sie das genau?«, flüsterte er schließlich. »Das 258
wird Santini tun?« Wagner nickte ernst. Er wusste, die Freundschaft des Barons mit Santini war tief und bestand seit langer Zeit. Verrat war etwas, das von Heltsinger nicht hinnahm. Nicht von Bekannten, und auf keinen Fall von Freunden. Wagner entschied, dass die Zeit reif war, seine und Berzins Pläne für eine geopolitische Partnerschaft mit dem Baron zu diskutieren. Unter Auslassung der Gewalttätigkeiten, die Berzin verübt und geplant hatte, legte er dar, was sein russischer Freund ihm in jener Nacht in Moskau erzählt hatte. Zunächst war von Heltsinger skeptisch. Doch je mehr er hörte, desto plausibler erschien es ihm. Gedanken an die Geschichte regten ihn zu einer Bemerkung an. »Es gibt einen Historiker, der davon berichtet, wie er in den Sechzigerjahren in einem Park in Moskau saß und russische Kinder ein Lied über die Glocken von Buchenwald singen hörte, ohne dass sie wussten, was Buchenwald eigentlich war, ohne dass sie über Todeslager oder Nazis Bescheid wussten, oder warum Millionen ihrer Landsleute gestorben waren. Geschichte ist für viele Leute eine flüchtige Angelegenheit, Wolfgang.« Nach einer halben Stunde gab von Heltsinger zu verstehen, dass er müde war. »Das reicht für heute, Wolfgang. Die Idee ist faszinierend. Ich bin überrascht – angenehm überrascht –, dass Sie in großen Zusammenhängen denken. Ich möchte weitere Überlegungen zu dem Konzept anstellen. Vielleicht treffen wir uns wieder, wenn die Konferenz vorbei ist.« »Danke … Eric«, sagte Wagner, stolz wegen von Heltsingers Lob. Warum sollte er ihm nicht von nun an auf gleicher Augenhöhe begegnen? Auf dem oberen Absatz der großen Treppe drehte er sich noch einmal um und wiederholte Berzins Worte: »Die Amerikaner haben 259
uns eine Gelegenheit zu neuer Größe eröffnet.« Als Wagner gegangen war, saß der Baron lange da und starrte in einen Raum und eine Zeit, die nur er sah. Geschichte, persönliche und nationale, ging ihm durch den Kopf. Seine Familie war mit preußischen Königen und dem letzten deutschen Kaiser, Wilhelm II., verwandt. Er dachte an die Hitlerzeit zurück und daran, wie teuer sie ihn und seine Familie zu stehen gekommen war. Wäre Stauffenberg mit seinem Plan, Hitler zu töten, erfolgreich gewesen, hätte von Heltsingers Vater Deutschland in ein goldenes Zeitalter geführt. Vielleicht war dies wieder möglich. Wagners Idee faszinierte ihn. In diesem Jahr zählte Wladimir Berzin zu den Teilnehmern seiner Konferenz. Ein äußerst umstrittener Mann. Ein Mann, der wusste, was Macht bedeutet.
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25 Die Sicherheitsvorkehrungen im Hotel Bayerischer Hof waren streng. Selbst Santini wurde von einem jungen Sicherheitsbeamten aufgehalten, der einen Ausweis zur Bestätigung seiner roten VIP-Marke sehen wollte. Santini gehorchte höflich, während Mitglieder seines Gefolges, die weniger prominente Kennzeichen trugen, sich wütend an den gefühllos dreinblickenden Männern in der Eingangshalle vorbeischoben. Wie üblich wurde die Konferenz ihrem Ruf als hochrangige Veranstaltung gerecht. Alle NÄTO-Verteidigungsminister sahen ihre Teilnahme als Verpflichtung an. Die Sitzungen im NATO-Hauptquartier in Brüssel folgten grundsätzlich einem Drehbuch und waren im Wesentlichen langweilig. Aber hier, im Hotel Bayerischer Hof, liefen die Treffen freier ab und waren interessanter. Zwar erschienen dieselben Politiker und Bürokraten, um vorgefertigte Reden zu halten und Positionspapiere ihrer Regierungen vorzustellen, die trocken wie Sägemehl waren. Aber unter sie mischten sich Wirtschaftsführer und Medienpersönlichkeiten, die für Farbe und andere Perspektiven sorgten. Und sie kamen aus Russland, China und Japan, nicht nur aus den NATOLändern. Die Sitzungen wurden vom Veranstalter selbst für das Fernsehen aufgezeichnet, aber Journalisten aus der ganzen Welt konnten in einem angrenzenden Raum die Übertragung verfolgen und ihren Berichten mehr Farbe verleihen, da sie die Teilnehmer in Aktion erlebten. Die hohe Nachfrage für die Konferenz bestand auch heuer, obwohl sie nicht mehr mit dem Höhepunkt des Faschings zusammenfiel. Santini unterdrückte ein Lächeln bei der Erinnerung an tanzende Kongressmitglieder in den 261
Münchner Nachtklubs. Baron von Heltsinger, der sich Sorgen machte, die Konferenzteilnehmer könnten von der Feierstimmung zu sehr abgelenkt werden, hatte darauf bestanden, dass die Konferenz heuer einen Monat später stattfand. Das freute auch die deutschen Sicherheitsorgane, denn es war beinahe unmöglich geworden, in der ausgelassenen Atmosphäre des Münchner Faschings für den Schutz der Konferenz zu sorgen. Santini hatte die Veranstaltung zum ersten Mal vor Jahren als Senator besucht. Nun würde er als Verteidigungsminister daran teilnehmen. Er merkte den Unterschied, sobald er das Hotel betrat. Er war jetzt der wichtigste Mann auf dem europäischen Parkett. Sein Budget war größer als das der meisten anderen NATO-Mitglieder zusammen. Obwohl die Europäer von einer eigenen Verteidigung sprachen, war niemand von ihnen bereit, ernsthaft Geld dafür auszugeben. Aber es ging nicht nur um Geld. Die Europäer betrachteten die Vereinigten Staaten nicht mehr als ein Land, das ihre Sicht der Welt teilte. Sie waren vielmehr davon überzeugt, dass die USA seit den Angriffen des 11. Septembers zu einer Politik des Unilateralismus zurückgekehrt waren. Die Amerikaner ihrerseits waren zu dem Schluss gekommen, dass die Europäer zwar groß im Reden waren, aber wenig zu bieten hatten, wenn es ernst wurde. Sie stellten sich deshalb darauf ein, allein zu handeln. Ein Publizist hatte die Ansicht vertreten, »die Amerikaner stammten vom Mars und die Europäer von der Venus«. Die Europäer störten sich an dem Vorwurf, ihre Politik sei weiblich geworden. Sie waren vielmehr überzeugt, dass im 21. Jahrhundert Diplomatie statt Krieg als einzig verantwortungsvoller Kurs in Frage kam. Es sei töricht, argumentierten sie, jedes Problem wie einen Nagel zu behandeln, nur weil Amerika einen Hammer in der 262
Hand hielt. Unter zivilisierten Nationen sei kein Platz für einen Robocop, der auf alles einschlug, was eine potenzielle Gefahr für seine Interessen darstellte. Aber Europa war nicht in der Weise angegriffen worden wie Amerika, und darin lag der große Unterschied. Und wie es aussah, wurde der Graben immer breiter. Immerhin war Santini hier, um eine nüchterne Botschaft zu überbringen. Als er sich dem Podium näherte, spürte er die Energie und Erregung in dem Ballsaal, der nun als Kongresszentrum diente. Er blickte ins Publikum, während Baron von Heltsinger zu seinen Begrüßungsworten ansetzte. Er sah die Gesichter alter Freunde, die warm lächelten. Dann betrat er das Podium, dankte Heltsinger für seine Einführung und begann zu sprechen. »Lassen Sie mich zunächst mein aufrichtiges Bedauern über den Tod deutscher Soldaten auf dem Luftwaffenstützpunkt Holloman zum Ausdruck bringen. Das war eine große Tragödie, und das amerikanische Volk teilt Ihre Trauer und Ihr Leid. Die Angelegenheit wird noch immer untersucht, aber ich kann Ihnen versprechen, dass wir unermüdlich daran arbeiten werden, die Verantwortlichen für diese abscheuliche Tat zu finden und sie der Gerechtigkeit zuzuführen.« Santini nutzte seine Beileidsbezeugungen, um zum Thema Terrorismus überzuleiten. »Wie Sie wissen, meine Freunde, kam ich zum ersten Mal zu dieser Konferenz, als der Kalte Krieg heiß zu werden und das Leben von Millionen Menschen auszulöschen drohte. Vieles hat sich seit jener Zeit geändert. Heute ist ein anderer Krieg im Gange, der anders geartete Opfer verlangt.« Santini legte die Blätter weg, die er zum Podium 263
mitgebracht hatte, und konzentrierte sich jetzt auf die Gesichter seiner Freunde. Sie lächelten nicht mehr. »Sie haben meine vorbereitete Rede vor sich liegen. Wie Sie sehen, enthält sie Wendungen, die unser Engagement für die transatlantische Solidarität und die Bedeutung der NATO für unsere gemeinsame Sicherheit bekräftigen. Aber ich muss offener über die Situation, in der sich mein Land befindet, mit Ihnen sprechen. Die Vereinigten Staaten können nicht länger Truppen in großer Zahl in Westeuropa unterhalten. Dafür reichen unsere Mittel nicht. Die Gefahr für unsere Sicherheit hat sich zum Nahen und Mittleren Osten, nach Zentralasien und darüber hinaus verschoben. Wir müssen unsere Kampfeinheiten in einer militärisch vernünftigen Weise neu ordnen.« Santini fuhr fort, indem er den Zeitplan für die Truppenreduzierungen und Standortschließungen erläuterte, die sein Vorhaben mit sich brachte. Murmeln und lautes Murren gingen durch das Publikum. Die Delegierten hatten Veränderungen erwartet. Es hatte Gerüchte gegeben, Leitartikelspekulationen über Truppenreduzierungen, aber was Santini da vorschlug, war zu radikal. Wie sehr er es auch herunterspielte, das würde wehtun. Es würde bedeuten, dass sie mehr Geld für ihre gemeinsame Verteidigung ausgeben mussten, und das zu einer Zeit, da die Wirtschaft in den meisten ihrer Länder stagnierte oder rückläufig war. Nach Beendigung seiner Rede ließ Santini keine Fragen zu. Die Konferenzteilnehmer waren wie betäubt von der Botschaft und von der Art, wie er sie vorgebracht hatte. Es gab keinen Applaus, nicht einmal dieses mechanische Klopfen auf die Tische, das inzwischen überall Sitte war. Sie waren überrascht worden, und das noch dazu von 264
einem Mann, den sie für einen Freund gehalten hatten. Man war Akte des Verrats von den Repräsentanten der Macht gewohnt. Täuschung und Doppelzüngigkeit waren Neigungen, die sie ihren europäischen Brüdern jederzeit zutrauten. Aber Amerika, das man früher für zu idealistisch oder zu naiv gehalten hatte, als dass es die Kunst des diplomatischen Meuchelmords anwandte, hatte aufgeholt. Jene Zyniker, die davor gewarnt hatten, dass die Amerikaner ihre Bande zu Europa schwächten, waren bestätigt worden. Baron von Heltsinger blieb stumm und weigerte sich, Santini anzusehen. Seine Gesichtsfarbe war tiefrot, und der feiste Hals drohte aus dem steifen Hemdkragen zu platzen. Ohne Santini zu danken, stellte er die nächste Rednerin vor. »Und nun spricht unsere Freundin Monique de Montribial, die französische Verteidigungsministerin, zu uns.« Santini glitt vom Podest und bewegte sich rasch auf einen der Ausgänge zu. Sofort war er von einem halben Dutzend Mitgliedern seiner Sicherheitsmannschaft umringt. In deren Kokon eingehüllt, bahnte er sich seinen Weg an den Rednern vorbei, die nach ihm zu den Konferenzteilnehmern sprechen sollten. Als er in die Hotellobby hinauskam, begrüßte ihn Christoph Stiller. Die beiden umarmten sich freundschaftlich. Sie hatten sich vor mehr als zwanzig Jahren auf einer Veranstaltung in Bonn kennen gelernt. Damals waren die Hunde des Terrors von der Leine. Ein deutscher Bankier war tot im Kofferraum seines Wagens gefunden worden, von mehreren Schüssen in den Kopf getroffen. Die deutsche Regierung wollte erörtern, wie die internationale Gemeinschaft auf diese zunehmende Gefahr für die Gesellschaft reagieren konnte. Santini, damals Senator, wurde zusammen mit einer Reihe von außenpolitischen Experten zu dem Treffen eingeladen. Stiller nahm als 265
Studentenvertreter teil. An den Hochschulen war man besorgt, die Bedrohung könnte als Vorwand benutzt werden, die bürgerlichen Freiheiten des deutschen Volkes zu beschränken. Während die teilnehmenden Experten keine bestimmten Änderungen der Politik empfahlen, war Santini von dem Sicherheitsniveau verblüfft gewesen, das die deutsche Regierung für die Konferenz aufbot. Panzerwagen säumten die Straßen rund um das Tagungszentrum. Alle Polizisten waren mit Automatikgewehren bewaffnet. Santini dachte, dass eine solche Szenerie in den Vereinigten Staaten niemals möglich wäre. Aber das war natürlich, ehe Mohammed Atta und seine Männer ihre Spielart des Terrors nach Amerika brachten. Santini und Stiller schoben sich rasch durch das Gedränge der Konferenzteilnehmer in der Eingangshalle des Hotels. Zwei Sicherheitstrupps umringten die beiden Männer nun. Im zweiten Stock des Hauses hatte man ihnen einen Raum für ein ungestörtes Gespräch reserviert. »Kaffee, Chris?«, fragte Santini, als sie im Zimmer angekommen waren, und forderte ihn auf, in einem der Sessel Platz zu nehmen. Stiller nickte. Er sprach perfekt Englisch, so perfekt, dass er übermäßig ernst und pedantisch wirkte. Dabei war er alles andere als das. Normalerweise begann er eine Unterhaltung mit Santini, indem er grässliche Witze erzählte. Nun saß er da und starrte ins Leere. »Die Sache mit Konrad tut mir wirklich sehr Leid«, sagte Santini. »Wie wirst du damit fertig? Als wir telefoniert haben, hast du stoisch gewirkt. Und jetzt?« »Ich denke, ich komme damit klar. Ich arbeite viel, manchmal zwanzig Stunden am Tag. Aber ich denke immer an ihn.« Stiller versagte die Stimme. Die 266
Erinnerung an seinen jüngeren Bruder war noch zu frisch, als dass er darüber reden konnte, ohne dass es ihm die Kehle zuschnürte. Konrad war das jüngste von fünf Kindern gewesen. Und, vielleicht weil er ein solcher Nachzügler gewesen war, der Liebling seiner Eltern. Aber er war ebenso der Liebling seiner Geschwister gewesen. Von Natur aus gesellig und bescheiden, hatte Konrad als Sportler geglänzt und seine Trainer und Fans auf dem Fußballplatz begeistert. Und obwohl er seine Wehrpflicht ableisten und sich dann dem Berufsleben zuwenden hätte können, wollte er nichts davon wissen. Unerklärlicherweise wurde er seit seiner Kindheit von dem Wunsch zu fliegen verzehrt. Und zwar nicht mit irgendeinem Flugzeug. Es musste ein Kampfflugzeug sein. Die deutsche Luftwaffe war der richtige Platz für ihn. Er hatte Christoph versprochen, dass er eines Tages der Beste von allen sein würde. Jetzt war er tot. »Hast du schon weitere Informationen darüber, was passiert ist? Und wer es war?« Santini trank von seinem Kaffee, der lauwarm und bitter war. Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein, bisher nicht. Wie du weißt, wird eine Miliz in New Mexico damit in Zusammenhang gebracht. Ich kann dir im Vertrauen sagen – und das muss vorläufig unter uns bleiben –, dass es möglicherweise eine Verbindung ins Ausland gibt. Wir wollen das noch nicht öffentlich machen. Du weißt, wie sich die Medien darauf stürzen würden. Wir müssen wissen, womit wir es zu tun haben, bevor die Nachrichtenkanäle ihre Hyänen loslassen.« »Ich verstehe«, sagte Stiller. »Und es hilft bestimmt nicht, dass die Stimmung zwischen unseren Ländern so gereizt ist. Wir können im Moment keine weiteren Spannungen gebrauchen.« 267
Santini gab einen Überblick über die Spuren, die das FBI verfolgte. Reste von al-Qaida. Milizen. Verärgerte ExSoldaten. Anhänger des Oklahoma-Attentäters Timothy McVeigh, die seinen Hass auf die US-Regierung und ihre Politik teilten. Andere Terrororganisationen, die Verbindungen zu organisiertem Verbrechen und Drogenhandel hatten. Stiller hatte sich Notizen in ein Spiralbuch gemacht. Nachdem Santini zu Ende geredet hatte, sagte er: »Ich weiß nicht, ob es etwas mit dem Fall zu tun hat, Michael, aber du hast eine mögliche Verbindung ins Ausland erwähnt. Wir haben da etwas aufgeschnappt. Wir hatten einen Agenten – einen Amateur im Grunde – in der Provinz Xinjiang, in China. Seine Tarnung war echt. Er war Archäologe. Ich hatte ihn zu der Sache überredet, seine Ausbildung überwacht …« Santinis Stirnrunzeln verriet Stiller, dass sich der Amerikaner wunderte, warum der BND Agenten in China im Einsatz hatte. »Das Ganze gehörte zu einer gemeinsamen Operation mit FBI und CIA«, fügte er deshalb rasch an. »Wir folgten Spuren, wonach die Uiguren möglicherweise an einem Netzwerk zum Drogenschmuggel beteiligt waren. Und die Vereinigten Staaten haben die Uiguren ohnehin auf ihre Terroristenliste gesetzt.« »Diese Liste ist nicht immer auf dem neuesten Stand«, sagte Santini und machte Stiller ein Zeichen fortzufahren. »Unser Mann traf sich mit einem hohen chinesischen Militär, und der hat behauptet, dass die Explosion in Holloman kein Unfall war.« »Wie bitte? Wie kann es im Fall Holloman einen chinesischen Aspekt geben? Hatte euer Mann gesicherte Informationen?« 268
»Der chinesische Offizier gab ihm einen Zettel mit Namen darauf.« »Und was stand auf dem Zettel?« »Wir haben ihn nie gefunden. Nur die Leiche des Archäologen. Er sollte sich direkt nach seiner Ankunft auf dem Flughafen mit mir treffen. Das hat er nicht mehr geschafft. Der Fahrer wurde ebenfalls getötet. Im Wagen erschossen. Unser Mann wurde an ein Lagertor in Berlin genagelt.« »Eine Kreuzigung?« »Gestorben ist er an zwei Kugeln in den Hinterkopf, Kaliber 22, Hohlmantelgeschosse. Ein professionelle Tat. Ähnlich wie der Mossad seine Gegner ausschaltet. Aber das ergibt keinen Sinn. Sie sind auf unserer Seite. Außerdem gehört die Kreuzigung nicht zu ihrem Repertoire. Es sieht wie eine Botschaft an uns aus. Schickt keine Missionare – oder Spione – mehr in unsere Region.« Santini ging kurz das Schicksal von Charles Burkhart in Mexico durch den Kopf. »Mehr hat dein Agent in seiner Mitteilung an dich nicht gesagt?« »Nein.« Santini biss sich auf die Unterlippe und atmete dann langsam aus. »Nicht viel, worauf man aufbauen könnte.« Er erhob sich und schüttelte Stiller die Hand. »Lass uns in dieser Sache in Kontakt bleiben, Chris. Ich gebe alles an dich weiter, was wir erfahren. Du machst es genauso.« Als sich die beiden Männer zum Gehen wandten, zögerte Stiller und sagte: »Da fällt mir noch etwas ein. Manche Leute bei uns im Staatschutz sind ein bisschen besorgt wegen Wolfgang Wagners Verbindung zu Wladimir Berzin. Wagner ist, wie du weißt, der Schützling des Barons. Dieser Berzin ist eine ziemlich üble Figur, nicht gerade der typische Investmentbanker. Er ist einer der 269
russischen Oligarchen. Von denen sind nicht mehr viele übrig, dank der Erfolge, die Gruschkow bis zu seinem Tod erzielt hatte. Über Berzins Organisation gibt es jede Menge Gerüchte. Es handelt sich um eine Superbande, die Drogen, Hightech-Waffensysteme und Nuklearmaterial schmuggelt. Und menschliche Organe für die Reichen, ob du es glaubst oder nicht.« »Ich habe von Berzin gehört«, sagte Santini vorsichtig. Stiller spürte, dass ihm sein Freund etwas verheimlichte und lachte. »Wir wollten uns doch austauschen, richtig? So viel wir wissen, will Berzin für das Präsidentenamt kandidieren. Was wissen eure Geheimdienstleute darüber?« Santini hatte einen Onkel, der Aluminiumverkleidungen verkaufte. Er erzählte Santini immer von seinen Anleitungen für das Verkaufsgespräch. Danach sollte er an der Tür stehen, die Hand an der Klinke, wenn er sein entscheidendes Argument vorbrachte. Santini lächelte, weil er spürte, dass Stiller gleich noch mit einem wichtiger Punkt herausrücken würde. »Ach ja«, sagte der Deutsche, »bei der Beobachtung Berzins sind unsere Leute auch auf eine Frau gestoßen, die in seiner Begleitung gesehen wurde.« »Ich verstehe deine Bedenken wegen Berzin«, antwortete Santini. »Aber warum macht dir die Frau Sorgen?« »Wie du weißt, ist Wagner wie ein Sohn für den Baron. Und der Baron hat uns gebeten, ein Auge auf ihn zu haben. Das bedeutet, jede Person, die in Wagners Gesellschaft gesehen wird, ist von Interesse für uns. Das erstreckt sich bis zu den Freunden seiner Freunde … Denk nur an die Gewalttaten, zu denen es ständig kommt. Oder wie man die Reichen und Erfolgreichen auszunutzen versucht, Erpressung und solche Dinge, du weißt schon.« Stiller wurde bei seiner Erklärung zunehmend unwohl 270
zumute, und Santini verstand genau, wieso. Babysitting war nicht die Aufgabe des BND. Und nach deutschem Recht durften sie todsicher keine Personen überwachen, wenn keinerlei Verdacht gegen diese vorlag. »Ich verstehe immer noch nicht«, sagte Santini. »Wo ist das Problem?« »Das Problem ist, dass wir die Frau anscheinend nicht identifizieren können. Sie tritt unter dem Namen Miya Takala auf. Sie leitet eine kleine Softwarefirma mit Sitz in Berlin. Ihr Hintergrund lässt sich nicht klären. Angeblich ist sie gebürtige Finnin. Sie ist aber keine, auch wenn sie ganz nett Deutsch mit finnischem Akzent spricht. Wir kommen nicht hinter ihre Nationalität. Wir könnten sie uns natürlich vorknöpfen. Ihren Pass einziehen und sie ausquetschen. Aber das könnte unangenehm werden. Und der Baron würde es nicht wollen.« »Und das ist alles?«, fragte Santini ungläubig. »Nein. Unsere Techniker haben ihren E-Mail-Verkehr abgefangen. Die Mails werden nach Helsinki geschickt und dann an eine Mailbox in Tel Aviv umgeleitet. Und sie sind verschlüsselt. Wenn es uns gelingt, die Chiffrierung zu knacken, ist die Botschaft immer ziemlich harmlos. Scheint sich um Codesprache zu handeln.« »Vielleicht ist sie nichts weiter als eine Geschäftsfrau, die das geistige Eigentum ihrer Firma zu schützen versucht.« »Möglich. Aber es wäre hilfreich, wenn du die CIA veranlassen könntest, uns bei der Sache zu unterstützen. Aus nahe liegenden Gründen wollte ich diese Anfrage nicht über die regulären Kanäle laufen lassen. Der Baron wäre wirklich außer sich, wenn wir aus der Angelegenheit ein Problem für ihn machen würden.« Und für dich wäre es auch keine Freude, dachte Santini. »Zufällig ist die Frau gerade in der Stadt, sie wohnt im 271
Vier Jahreszeiten. Wahrscheinlich um in Berzins Nähe zu sein. Wir haben ein Überwachungsfoto von ihr. Wenn es dir recht ist, kann ich es dir nachher rüberschicken.« »Klar, Chris, kein Problem. Ich helfe gern.« Santini gab ihm die Nummer des sicheren Faxgeräts, das im Kommunikationszentrum neben seinem Hotelzimmer stand. »Hör zu, ich leide ein bisschen unter Jetlag. Ich muss mich ein paar Stunden hinlegen. Wie wär’s wenn du mir das Material am frühen Abend schickst?«
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26 Während sich das Blatt Papier langsam aus dem Faxgerät schälte, zog sich Santini der Magen zusammen. Ihm war, als liefe die Zeit langsamer, als spielte jemand sein Leben in der falschen Geschwindigkeit ab, so dass sich Sekunden zu Minuten dehnten und Minuten zu Stunden. Er hoffte, dass ihm seine Augen einen Streich spielten. Als Erstes sah er die kräftige Kinnlinie, so wie Fotografen sie lieben. Auf dem Foto war ihr Haar in einen Turban gewickelt. Aber diese vollen Lippen, die breiten Wangenknochen, die tief liegenden Augen, groß wie Trauben – all das war unverkennbar. Die Augen hatten vielleicht auch die Farbe dunkler Trauben, aber die Augenfarbe war für diese Frau ohne Belang. Sie wechselte sie mit ihrem Auftrag, mit der angenommenen Nationalität. Es war das Gesicht eines wunderschönen Models, aber nur wenige Leute hatten es je gesehen. Und sie war tatsächlich alles andere als ein Model. Santini merkte, wie seine Gefühle in Aufruhr gerieten. Er hatte nicht geglaubt, sie jemals wiederzusehen. Wie lange war das nun her? Acht Jahre? Zehn? Großer Gott, es war mehr als zehn Jahre her, dass er sie auf einer dieser geistlosen, langweiligen Dinnerpartys kennen gelernt hatte, die in Washington als wichtiges gesellschaftliches Ereignis gelten. Damals hieß sie nicht Miya. Sie war in Begleitung von Oscar De Guterez, dem mexikanischen Botschafter, gewesen, der sie als Katrina Bissett vorstellte, Herausgeberin einer Modezeitschrift namens Elite. Als Santini ihr am Tisch gegenübersaß, war er völlig hingerissen. Er hatte noch nie eine so berauschend schöne 273
Frau gesehen. Ihr rabenschwarzes Haar rahmte ein Gesicht ein, das die Titelseiten von Vogue oder W hätte zieren können. Ihre walnussbraune Haut wurde von einem weißen Designerkleid betont, von Halston, wie Santini annahm. Seine Ex-Frau, die zu den oberen Zehntausend gehörte und aus dem nobelsten Viertel von Long Island stammte, hatte einen ganzen Schrank voll von den Dingern besessen. Sie hatte eine freundliche, aber verwirrende Art, ihn aus smaragdgrünen Augen, die im Kerzenlicht funkelten, über den Tisch hinweg anzusehen. Katrina war zugleich exotisch und elegant, unverkennbar eine Frau von Welt, die ungezwungen über jedes Thema plaudern konnte, ob es um Politik oder Polo, flämische Malerei oder französische Weine ging. Aber es war alles Lüge, wie er später erfahren sollte. Eine einzige kunstvoll angelegte Täuschung. Ihr richtiger Name war nicht Katrina, sondern Elena. Elena Solmitz, deren Eltern Mitte der Sechzigerjahre aus dem polnischen Bialystok nach Israel emigriert waren. Ihr Vater David traf gerade rechtzeitig ein, um im Sechstagekrieg von 1967 als Wehrpflichtiger in der israelischen Armee zu kämpfen. Die Israelis hatten mit ihrer Luftüberlegenheit und einem furiosen Blitzkrieg die ägyptischen, jordanischen und syrischen Kräfte vernichtend geschlagen. Aber der Gewinn der Schlacht beendete nicht den Krieg. Zwei Monate nach ihrer Niederlage verabschiedeten die arabischen Nationen auf ihrem Gipfeltreffen in Khartum eine Erklärung, nach der es keinen Frieden, keine Verhandlungen, keine Anerkennung Israels geben sollte. Man würde die Israelis nie mehr zur Ruhe kommen lassen. Tod sollte ihr ständiger Begleiter sein. 274
Und er wurde auch Elenas ständiger Begleiter. Sie war damals erst fünf Jahre alt. Ihre Eltern hatten sie und ihren Bruder Zvi zu einem Besuch bei Freunden mitgenommen, die in einem Kibbuz im Norden Israels nahe der libanesischen Grenze lebten. Nachdem sie den ganzen Tag mit anderen Kindern gespielt und ein üppiges Abendessen genossen hatten, legte ihr Vater den Arm um ihre Mutter Sarah und sagte: »So, Kinder, wir müssen los. Wir haben eine lange Fahrt vor uns, und es wird bald dunkel.« Sie stiegen in ihren Wagen, um die Rückfahrt nach Jerusalem anzutreten. Plötzlich gab es ringsum heftige Explosionen. Ihr Vater versuchte verzweifelt, den Wagen zu starten. »Komm schon, komm schon«, rief er, Panik in den Augen. Er musste außer Reichweite der Raketen kommen, die wie ein stählerner Regen auf sie niedergingen. In seiner Verzweiflung trat er wieder und wieder aufs Gaspedal und ließ den Motor absaufen. Dann schlug eine Katjuscha-Rakete direkt in ihr liegen gebliebenes Fahrzeug ein. Elena wurde aus dem Wagen geschleudert und überlebte wie durch ein Wunder. Aber sie musste hilflos mit anhören, wie ihr Bruder Zvi und beide Eltern in Todesangst schrien. Sie lief verzweifelt umher, rief um Hilfe, suchte nach Wasser, nach irgendetwas, womit sie die Flammen löschen konnte. Aber sie fand überall nur rauchende Trümmer, Gliedmaßen und andere Körperteile. Binnen Minuten waren israelische Kampfjets über ihnen und starteten Gegenschläge auf die Angreifer des Kibbuz. Aber es war zu spät. Elenas Familie war verbrannt. Sie waren tot, alle. Soldaten eines nahe gelegenen Stützpunkts jagten in den Kibbuz. Als einer von ihnen die kleine Elena in die Arme 275
schloss, schwor sie, Rache zu üben. Ein Leben lang. Santini erfuhr die Wahrheit über Elena erst Monate nach ihrer ersten Begegnung. In der Folge einer sehr hässlichen Scheidung während der Zeit, in der er sich an der Wall Street etablierte, hatte er sich damit zufrieden gegeben, als überzeugter Junggeselle nichts anbrennen zu lassen. Aber das war, bevor er Elena kennen lernte. Alles an ihr erregte ihn. Ihre umwerfende Schönheit, ihre athletische Anmut. Selbst ihr Parfüm. »Wie heißt der Duft, den Sie tragen?«, hatte er bei einem Tanz während jener ersten Dinnerparty gefragt. »Er nennt sich Enchanting«, hatte sie gesagt und den Kopf von seiner Schulter genommen, um zu sehen, ob er nur Smalltalk machte oder einen interessanteren Schritt unternahm. »Wieso fragen Sie?« »Ach, ich war nur neugierig. Er ist sehr subtil, aber …« Er stolperte und war einen Moment lang verlegen. »Der Name passt gut. Subtil und bezaubernd.« Er tanzte an diesem Abend noch mit mehreren anderen Frauen, wie es das Protokoll vorschrieb. Aber er konnte die Augen nicht von Elena abwenden. Als sich die Gäste im geräumigen Atrium der National Gallery of Art versammelten, um auf ihre Limousinen zu warten, sagte Santini außer Hörweite ihres Begleiters: »Ich bin ziemlich oft in New York. Vielleicht könnten wir das nächste Mal, wenn ich in der Stadt bin, bei meinem Lieblingsitaliener zu Abend essen?« Sie neigte den Kopf in einer Weise, die erkennen ließ, dass seine Einladung sie sowohl überraschte als auch 276
verwirrte. »Und welcher wäre das?« »Bravo Giani’s. Die Atmosphäre ist angenehm und das Essen noch besser. Der Besitzer ist ein Freund von mir.« »Ach, ja«, erwiderte sie, »von dem habe ich schon gehört. Doch, das würde mir gefallen. Ich liebe italienisches Essen.« Damit drehte sie sich zu Botschafter De Guterez um, der inzwischen dem Galeriedirektor und seiner Frau für ihre »wie immer wunderbare Gastfreundschaft« gedankt hatte. Als er auf die beiden zukam, wirkte er ein bisschen verstimmt darüber, wie intensiv sich Santini um seine Begleitung bemühte. Er hakte sich bei ihr ein und führte sie zu dem schwarzen BMW, der am Eingang vorgefahren war. »Guten Abend, Senator«, sagte er mit gekünsteltem Anstand, ehe er auf die Rückbank des Wagens schlüpfte. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Abend.« »Durchaus«, erwiderte Santini und bemühte sich, nicht zu der Frau zu schielen. »Wir sollten uns bald einmal zum Lunch treffen«, sagte De Guterez. »Es gibt viel zu besprechen.« Es gab tatsächlich Bedarf an Gesprächen, die Beziehungen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten waren frostig. Aber das war Sache des Außenministeriums. »Sobald ich ein wenig Luft in meinem Terminkalender habe, werde ich versuchen, etwas zu vereinbaren«, sagte Santini. Beiden Männern war klar, was diese Formulierung bedeutete. Santini ließ mehrere Wochen verstreichen, ehe er einen Besuch in New York einplante. Er wollte seine 277
»Verzauberung« durch Katrina nicht zu offensichtlich werden lassen. Er hatte ihr angeboten, sie von zu Hause abzuholen, aber sie hatte gesagt, sie würde direkt von der Arbeit kommen und vorgeschlagen, dass sie sich bei Bravo Giani trafen. Der Abend war ein Erfolg. Giani hatte seinen besten Tisch für Santini reserviert, denselben, den er für Stars wie Bill Cosby oder die frühere Football-Größe »Broadway Joe« Namath bereithielt. Sie tauschten Familiengeschichten aus. Katrina erzählte, ihr Vater sei schwedischer Diplomat gewesen und ihre Mutter Journalistin bei der französischen Tageszeitung Le Monde. Sie hätten sich als Studenten bei einer Ferienreise in Italien kennen gelernt. Katrina sei in Spanien zur Welt gekommen, während ihr Vater dorthin abkommandiert war. Bevor sie in der Schweiz ihren Schulabschluss machte, habe sie in den Botschafterresidenzen von fünf europäischen Hauptstädten gelebt. Santini hörte aufmerksam zu und gab dann eine Kurzversion seines Weges von den Straßen in Bostons Little Italy bis in den Senat der Vereinigten Staaten zum Besten. Er wusste nicht genau wieso, aber irgendwie hatte er den Eindruck, dass Katrina die Geschichte nicht zum ersten Mal hörte. Nachdem Santini zum Abschied Giani brüderlich umarmt und versprochen hatte, bald wiederzukommen, hielt er auf der Straße ein Taxi an. »Kommen Sie, ich setze Sie zu Hause ab.« »Zum Sherry Netherlands Hotel«, sagte Katrina zum Fahrer, als sie in das Taxi stiegen. »5th Avenue, Ecke 59.« Auf Santinis erstaunten Blick fügte sie an: »Ich wohne dort. Das Appartement gehört meiner Zeitschrift. Da ich sehr viel reise, ist diese Lösung ideal für mich.« 278
Nach wenigen Minuten trafen sie vor dem Hotel ein. Katrina beugte sich zu Santini hinüber und küsste ihn leicht auf die Wange. »Danke, Senator«, sagte sie und schlüpfte rasch aus der Tür, »es war ein wunderbarer Abend.« »Fand ich auch«, erwiderte Santini, »aber wenn wir Freunde sein wollen, müssen Sie mich Michael nennen.« Katrina lächelte, wobei sie makellos gleichmäßige Zähne sehen ließ. »Also gut. Aber dann müssen Sie von nun an Kat zu mir sagen.« »Abgemacht«, sagte er lachend. »Gute Nacht, Kat.« Er hatte beabsichtigt, weitere Ausflüge nach New York zu unternehmen. Weitere italienische Abendessen. Er sehnte sich nach einer Liebesaffäre mit ihr. Nachts fand er häufig keinen Schlaf, er lag wach und stellte sich leidenschaftlichen, gymnastisch unmöglichen Sex mit ihr vor. Manchmal sah er sich und Katrina langsam und ausgesprochen zärtlich miteinander umgehen, dann wieder rammten sie ihre Körper rücksichtslos ineinander und jagten einem Höhepunkt entgegen, nach dem sie schwitzend, lachend und schwer atmend in die Kissen sanken. Zum ersten Mal seit Jahren war der Gedanke an eine ernsthafte Beziehung nicht mehr tabu. Jedenfalls nicht, bis er einen Anruf von Marcus Trelcott, dem Chef der Spionageabwehr erhielt. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Senator«, hatte Trelcott verkündet. »In meinem Büro?« »Nein, wir sollten uns im Kapitol unterhalten.« Im Kapitol bedeutete oben im vierten Stock, in einem der Räume, die vom Geheimdienstausschuss des Senats 279
benutzt wurden. Jahre zuvor war er vom Kongressausschuss für Atomenergie genutzt worden. Angesichts der streng geheimen Aspekte des Atomenergieprogramms hatte man den Raum absolut abhörsicher installiert und regelmäßig auf Wanzen durchforstet, um zu verhindern, dass geheime Briefings und Beratungen des Ausschusses belauscht wurden. Er war einer der wenigen Orte auf dem Capitol Hill, wo man vor dem Spinnennetz der elektronischen Geräte, das sich über Washington spannte, völlig sicher war. Santini war Trelcott schon früher begegnet. Die Schwere der Verantwortung, die der Mann zu tragen hatte, spiegelte sich in seinem zerfurchten Gesicht wider. Er sah einen aus dunklen Augen unter schweren Lidern an. Augen, die alles sahen und die nichts und niemandem trauten. Amerika wurde unaufhörlich angegriffen. Information war Macht. Wer sie besaß, herrschte. Wer sie besaß, lebte in ständiger Gefahr, dass sie ihm gestohlen wurde. Feinde und Verbündete gleichermaßen waren die Barbaren, die sich vor den Toren des Landes sammelten. Es war Trelcotts Job, dafür zu sorgen, dass sie nicht hineinkamen. Santini traf als Erster ein und wartete im Vorzimmer auf Trelcott. Dann öffnete er mit seiner elektronisch verschlüsselten Karte die stahlbeschlagene Tür und führte den Spionageabwehrchef in den Sitzungsraum, der mit seiner falschen Decke und der düsteren, indirekten Beleuchtung eine fast gruftartige Atmosphäre ausstrahlte. Er forderte Trelcott auf, in einem Ledersessel in einer Ecke Platz zu nehmen. Trelcott verschwendete keine Zeit auf Höflichkeiten. »Ich habe mit dem CIA-Direktor gesprochen und mir die Erlaubnis geben lassen, die Angelegenheit mit Ihnen zu diskutieren, ehe ich Sie anrief, Senator. Die Sache ist 280
ziemlich heikel. Normalerweise befasse ich mich nicht mit dem Privatleben amerikanischer Bürger …« »Das ist Ihnen allerdings auch verboten«, unterbrach Santini, »solange jemand nicht für die CIA arbeitet.« Er spürte, dass Trelcott eine Richtung einschlagen würde, die ihm nicht gefiel. »Ja, Sir. Aber die Sache betrifft Sie persönlich. Und sie ist gefährlich.« »Ich höre.« Santini rutschte in seinem Sessel vor, und sein Tonfall verriet Trelcott, dass er hoffentlich einen verdammt guten Grund hatte, Privatpersonen über die Schulter zu schauen. »Wir haben Kenntnis davon erhalten, dass Sie in Begleitung einer Frau gesehen wurden, die sich Katrina Bissett nennt …« Bevor Trelcott ausreden konnte, war Santini aufgesprungen. »Verdammt noch mal!«, explodierte er. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie mich ausspionieren! Einen Senator der Vereinigten Staaten. Das ist nicht nur total bescheuert, sondern auch illegal!« Trelcott blieb trotz Santinis Ausbruch ruhig. »Nein, Senator. Die CIA spioniert Sie nicht aus. Wir haben eine Funkmeldung mit Ursprung Tel Aviv aufgefangen …« »Tel Aviv? Wollen Sie sagen, die Israelis spionieren mich aus?« »Nein, das will ich nicht sagen. Die Meldung besagt, dass eine israelische Topagentin mit Ihnen Kontakt aufgenommen hat. Es ist nicht klar, ob es auf Anweisung der Israelis geschah.« »Topagentin? Katrina? Sie ist keine Israelin«, stammelte Santini, »sie ist …« »Wir haben sie sehr gründlich überprüft, Senator. Sie ist 281
nicht nur eine Agentin des Mossad, sie ist noch viel mehr. Eine professionelle Attentäterin. Eine ihrer besten.« Trelcott überreichte Santini eine Aktenmappe, auf der in roten Buchstaben die Worte TOP SECRET, CODE XENO prangten. »Da steht alles drin. Sie müssen es lesen.« Santini setzte sich wieder, er war wie betäubt, in seinem Innern herrschte ein gewaltiger Aufruhr. Das konnte nicht sein. Nicht die wunderschöne Katrina. Nicht … Der Gedanke, was das für ihn bedeutete, traf ihn wie ein Artilleriegeschoss. Er schlug den Ordner auf und begann zu lesen. Wie Trelcott gesagt hatte, stand alles darin. Die ganze blutige Spur. Sie war eine Meisterin der Verkleidung, ein tödliches Chamäleon, das mit jeder Umgebung verschmolz. Sie hatte Dutzende von Männern getötet. Mehrere Frauen. Jeden, der eine Gefahr für Israel darstellte. Die meisten im Nahen Osten, aber nicht alle. Einen traf es in Marokko, einen anderen in Algerien. Zwei starben in Frankreich … Als Santini zu Ende gelesen hatte, gab er sich große Mühe, ruhig zu bleiben. Er fühlte einen Skandal aufziehen, der ihn wie eine Wolke einhüllen würde. »Haben Sie das irgendwem gezeigt … dem FBI?« »Noch nicht«, sagte Trelcott und ließ die Doppeldeutigkeit seiner Antwort im Raum stehen. »Aber Sie müssen es tun.« Dem Gesetz nach war das FBI befugt, die Aktivitäten ausländischer Agenten und ihrer Kontakte zu überwachen und zu untersuchen, solange sie sich in Amerika aufhielten. »Irgendwann ja.« Santini blickte Trelcott durchdringend an und versuchte 282
festzustellen, ob er mit ihm spielte, die Gefahr einer Enthüllung über seinem Haupt schweben ließ, um irgendetwas aus ihm herauszuholen. Er sah nichts. Vielleicht brachte Trelcott einfach nur die uralte Rivalität zwischen CIA und FBI zum Ausdruck, und die Abneigung beider Behörden, untereinander Informationen auszutauschen. Aber genau bei diesem »vielleicht« lag der Hase im Pfeffer. Wenn er Katrina – oder Elena, wie sie tatsächlich hieß – weiter sah, würde er ein Niemandsland betreten, einer möglichen Bloßstellung ausgesetzt sein, weil er mit einer Berufsspionin, einer Killerin verkehrte. Dabei spielte es keine Rolle, dass Israel ein Verbündeter Amerikas war. Als Vorsitzender der Geheimdienstausschusses im Senat hatte er Zugang zu den bestgehüteten Geheimnissen des Landes. Kriegsheld oder nicht, er sähe sich Vorwürfen ausgesetzt, die nationale Sicherheit gefährdet zu haben. Er hatte einen zu hohen Preis bezahlt, um die Ehre seines Landes zu verteidigen. Er würde das alles nicht aufs Spiel setzen. Nicht für Liebe. Für niemanden. Santini schloss die Akte und gab sie Trelcott zurück. »Sagen Sie dem Direktor, ich weiß seine Sorge zu schätzen.« Trelcott nickte, ließ die Mappe in eine Segeltuchaktentasche gleiten, die mit einem schweren Kombinationsschloss gesichert war, und verließ den Raum. Santini lehnte sich zurück. Seine Träume hatten sich in einen Albtraum verwandelt. Er war wütend auf Elena. Sie hatte ihn in eine unmögliche Lage gebracht. »Verdammt«, fluchte er, »verdammt noch mal.« Dann rief er sich in Erinnerung, dass er derjenige gewesen war, der hinter ihr her war. Der anklagende Zeigefinger wies genau auf ihn. Er presste die Hände fest aneinander, um die Spannung zu lösen, die sich in ihm aufgebaut hatte, und überlegte, ob ihre erste Begegnung damals in der National Art Gallery 283
Zufall oder Absicht gewesen war. Wollte der Mossad ausloten, ob er verwundbar war. War die Sitzordnung beim Essen wirklich nur zufällig gewesen? Es spielte keine Rolle. Er hatte keine Wahl. Und er hatte nicht vor, Kat – Elena – jemals wiederzusehen. Doch jetzt war sie wieder da, und diesmal lief sie als Miya Takala herum. Nur ein weiterer Name, den sie aus dem Hut zauberte. Aber warum Deutschland? Und was konnte sie mit einem russischen Mafiaboss zu tun haben? Der Präsident werden wollte. Und auf der Gehaltsliste der CIA gestanden hatte. Stiller hatte darauf hingewiesen – und den Gedanken gleich wieder verworfen –, dass die Ermordung seiner Männer alle Anzeichen einer Mossad-Aktion aufwiesen. Aber wenn Stiller Zugang zu den Akten der CIA hätte, würde er schnell verstehen, warum man Elena ganz oben auf die Liste der Tatverdächtigen setzen sollte. Santini vergegenwärtigte sich das Dossier, das ihm Trelcott gezeigt hatte. Er sah die Fotografien ihrer Opfer vor sich. Fast alle waren, nach Art einer Hinrichtung, durch zwei Hohlmantelgeschosse in den Kopf gestorben. Santini griff zum Telefon und wählte Stillers Privatnummer. Nach dreimaligem Läuten hörte er Christophs Stimme auf einem Anrufbeantworter, die um eine Nachricht bat. Er wartete auf das Ende des langen Pieptons. »Chris«, begann er mit belegter Stimme, er brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande. »Ich brauche noch Zeit für die Suche nach … der Person, nach der du mich gefragt hast. Es dürfte aber nicht lange dauern. Ich melde mich, sobald ich etwas habe.« 284
Er knallte den Hörer auf. »Himmel!«, schimpfte er auf sich selbst. Was fiel ihm ein, Stiller anzurufen, bevor er wusste, was zum Teufel überhaupt los war? Stillers Gegenspionageunternehmen wurde womöglich unterwandert. Er durfte dieses Risiko nicht eingehen. Und er hatte nicht die Absicht, Jack Pelky anzurufen, um herauszufinden, was der gegebenenfalls über Elena wusste, und was sie mit Berzin im Sinn haben könnte. Eine solche Anfrage würde zu viel Interesse bei den CIALeuten draußen in Langley wecken, und dann könnte sein früherer Kontakt mit ihr ans Licht kommen. Und das konnte er im Moment wirklich nicht gebrauchen, da Joe Praeger im Weißem Haus saß und nach Möglichkeiten suchte, ihn in Misskredit zu bringen. Er griff erneut zum Hörer und ließ sich von der Vermittlung die Nummer des Hotels Vier Jahreszeiten geben. Es war ein langer Tag gewesen, und Miya freute sich heute Abend auf ihre täglichen Yogaübungen. Sie brachten ihr Entspannung und meditative Ruhe. Nachdem sie zwanzig Minuten lang Muskeln und Sehnen vom Hals bis zu den Zehen gedehnt und gebeugt hatte, schlüpfte sie in ein warmes Bad, das mit Duftölen versetzt war, und begann, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Das schrille Läuten des Telefons an der Badezimmerwand zerstörte den Frieden des Augenblicks und ließ sie reflexartig nach vorn schnellen. Sie fluchte, dann glitt sie ins warme Wasser zurück. Wer immer es war, er konnte warten. Sie versuchte erneut, zur Ruhe zu kommen, jedoch vergeblich. Neugier hatte sich wie ein ungebetener Gast in ihre Gedanken gestohlen und weigerte sich, wieder zu gehen. Sie stieg aus der Wanne, schnappte sich ein großes Handtuch und hüllte sich darin ein. Im Schlafzimmer sah sie das 285
Licht am Telefon blinken, das eine Nachricht anzeigte. Sie drückte den entsprechenden Knopf und lauschte. »Kat … Elena, hier ist …« Sie erkannte Santinis Stimme fast auf Anhieb wieder. Es war sonderbar, aber der Klang seiner Stimme entfachte einen Funken freudiger Erregung. Sie war nur zweimal mit ihm zusammen gewesen, aber er war ihr nach all den Jahren noch immer präsent. Sie hatte nie jemanden wie ihn kennen gelernt. Wenn sie sich überhaupt den Gedanken an eine ernsthafte Beziehung gestattet hätte, dann mit ihm. Aber das war unmöglich. Es war Israels Schicksal, unablässig von seinen Feinden bedroht zu sein. Und es war ihr Schicksal, bei der Vernichtung dieser Feinde mitzuhelfen, wo immer sie anzutreffen waren. Und das hieß überall, jeden Tag. In ihrer Welt war kein Platz für Liebe. Sie war ein kleines Kind gewesen, als sie ihre Familie verlor, aber die Erinnerung an die Schreie hatte sie nie verlassen. Sie hatte jahrelang an ihren athletischen Fähigkeiten gearbeitet. Fußball, Bogen- und Pistolenschießen, Kampfsport. Ihre Leistungen im Unterricht waren ihrer sportlichen Meisterschaft ebenbürtig. Sie besaß, wie viele ihrer Klassenkameraden, Talent für Mathematik und Naturwissenschaften, aber das Gebiet, auf dem sie wirklich herausragte, waren Sprachen. Zu der Zeit, da sie ihren zweijährigen Dienst in der israelischen Armee beendete, beherrschte sie bereits fünf Sprachen fließend. Das war es jedoch nicht, was den Mossad, Israels berühmten Geheimdienst, auf sie aufmerksam werden ließ. Sicher, sie verfügte über Verstand, gutes Aussehen und sportliche Begabung. Alles unverzichtbare Vorzüge. Vor 286
allem aber war sie begierig darauf zu töten. Dafür schien sie eine wahre Leidenschaft zu haben. Das machte sie zu einer erstklassigen Kandidatin für die »Boten«, das Killereliteteam des Mossad. Die Existenz dieses Tötungskommandos wurde von israelischen Regierungsstellen nie ganz zugegeben. Natürlich war bekannt, dass die Israelis Führer von Hamas und Hisbollah eliminierten. Sie beschrieben das als legitime Kriegsführung. Prävention zum eigenen Schutz. Diejenigen töten, die vorhatten, sie zu töten. Die zimperlichen Europäer heulten auf, aber das waren machtlose Bürokraten, die in Brüssel auf ihren faulen Ärschen hockten und von verlorenen Reichen träumten. Und was konnten die Amerikaner schon dagegen sagen? War es nicht genau dasselbe, was sie in Afghanistan und im Irak getan hatten und überall wieder tun würden, wo sie terroristische Netzwerke verfolgten? Nein. Die »Boten« nahmen Feinde ins Visier, die glaubten, geografische Entfernung würde ihnen Sicherheit garantieren. Mit akribischer Planung und durch Ausnutzung des gigantischen Geheimdienstnetzwerkes des Mossad verfolgten sie die Bewegungen ihrer Feinde, setzten ihnen nach und schlugen zu. In Kanada, Argentinien, Großbritannien, Frankreich, der Schweiz. Selbst in den USA. Hier eine aufgeschlitzte Kehle. Dort ein eingeschlagener Schädel. Leute, die einfach spurlos verschwanden. Keine Leiche, kein Blut. Verbrechen? Welches Verbrechen? Natürlich war nicht jedes Unternehmen erfolgreich. In der Schweiz hatte man eines gründlich verpfuscht. Sie hatten den falschen Mann getötet, und ein Mitglied des Teams war gefasst und strafrechtlich belangt worden. Israel war peinlich berührt gewesen. Aber nur kurz. Und 287
sie gaben die Existenz eines Exekutionskommandos nie zu. Alles war nur der schreckliche Fehler einiger fehlgeleiteter Eiferer gewesen. Absolute Perfektion lässt sich nirgendwo erreichen. Aber wer konnte es mit einer fünfundneunzigprozentigen Erfolgsquote aufnehmen? Also ging die Sache weiter. Und es blieb nicht unbemerkt, dass Israel die Politik verdeckter Attentate auch nie gänzlich leugnete. Dass sie ihr Killerkommando mythische Ausmaße annehmen ließen. Und so jedem Feind bewusst machten, dass sich, egal, ob in ruhigen Vorstadtstraßen oder in lauten Innenstadtcafés, zu einem festgelegten Zeitpunkt die Agenten des Todes einfinden würden. Elena wurde eine Starattentäterin; Erste unter Gleichen. Sie bewegte sich mühelos in jeder Welt – Kunst, Literatur, Sport, Politik. Sie war eine Meisterin der Verkleidung. Den einen Tag blond, und am nächsten mit rabenschwarzem Haar. Die Augenfarbe passte sie jeweils an. Sie baute Bekanntschaften und Kontakte auf, aber nie Freundschaften, und sie blieb überall nur lange genug, um ihr Opfer in die Abschusszone zu locken. Dann schlug sie zu. Nie aus der Distanz. Es geschah immer aus nächster Nähe, auf eine fast schon intime Weise. Jetzt, mit Anfang vierzig, hatte Elena genug von ihrer Tätigkeit. Dieser Auftrag würde ihr letzter sein, hatte sie zu David Ben-Dar gesagt. Sie war erschöpft. Sie hatte ihre Schärfe verloren. Und das konnte sich in diesem Geschäft als tödlich erweisen. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Vielleicht konnte sie andere ausbilden. Widerstrebend hatte Ben-Dar nachgegeben. »Also gut, Elena. Das wird dein letzter Job.« Er hatte aufrichtig geklungen. Aber bei Ben-Dar konnte man sich nie sicher 288
sein. Sofort gewann nun ihr professionelles Denken die Oberhand. Wie hatte Santini nur wissen können, dass sie in München war? Und wo sie wohnte? Entweder der israelische Geheimdienst hatte Mist gebaut, oder Berzin wurde vom BND überwacht. So oder so war ihr Auftrag damit gefährdet. Es läutete erneut. Sie hob ab, diesmal entschlossen, Michael Santini anzuhören.
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27 Santini wollte ungestört mit Elena sein. Deshalb nahm er den Leiter seiner Bodyguards beiseite und erklärte ihm, er werde sich mit einer alten Freundin treffen und brauchte an einem öffentlichen Ort ein wenig Privatsphäre. Der Nightclub im Untergeschoss des Bayerischen Hofs war nicht seine erste Wahl, aber die einzige Möglichkeit, die in Frage kam. Dort würde er zwar mit Sicherheit anderen Konferenzteilnehmern begegnen, aber er wusste aus Erfahrung, dass man private Treffen am besten an öffentlichen Orten abhielt. Raul Gomez, sein Sicherheitschef, stimmte widerwillig zu, vorausgesetzt, er durfte die Lage im Nightclub rasch in Augenschein nehmen. »Ich postiere mich mit zwei Männern beim Eingang«, sagte er, als er zurückkam. »Wir werden zehn Minuten nach Ihnen das Lokal betreten. Und wir werden nicht weiter hineingehen, solange es nicht nötig wird.« Was bedeutete, dass Gomez, nicht Santini, entscheiden würde, ob die Party platzte. Seit Santinis letztem Besuch hatte sich wenig verändert. Restaurant und Nightclub im Keller dienten als Refugium für Münchener Yuppies, die nach einem geschäftigen Tag ein wenig Dampf ablassen wollten. Gelegentlich nutzten es manche auch für ein heimliches Rendezvous. Aber das war nicht ganz ungefährlich. Zwar bestand ein Schweigekodex unter den Stammgästen, trotzdem sickerten Gerüchte irgendwie an die lokale Boulevardpresse durch, deren Kolumnisten allzeit begierig auf Klatsch waren. Santini hatte es am eigenen Leib erfahren. Er hatte an einer privaten Geburtstagsparty für einen deutschen Freund teilgenommen und war in das Objektiv einer 290
Nikon geraten, während er zwischen zwei blonden Models, Bekannten seines Freundes, saß. Und obwohl man ihm versichert hatte, das Fest sei absolut privat, erschien sein Bild zwei Tage später in der Abendzeitung mit der Legende US-Senator vergnügt sich mit Münchner Schickeria. Es richtete keinen ernsthaften Schaden an. Santini war Single und nicht als Playboy bekannt. Aber es war wieder einmal eine Lehrstunde gewesen, dass bei Personen des öffentlichen Lebens eben nichts privat ist. Er wusste noch, dass nach acht Uhr das Licht im Nightclub ziemlich gedämpft war. In einer der Nischen im hinteren Teil sollten er und Elena einigermaßen unbeobachtet und unbelauscht reden können. Santini traf als Erster ein. Heute Abend war ungewöhnlich viel los, so viel, dass er Elena fast übersehen hätte, als sie sich unter den bewundernden Blicken der Männer an der Kirschholztheke vorbei ihren Weg in seine Richtung bahnte. Es war die Neigung des Kopfes, die Santini ins Auge sprang. Vielleicht nahm sie auf diese Weise ein Opfer über den Lauf einer Beretta mit Schalldämpfer hinweg ins Visier. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Es gab noch einen Grund, warum er sie fast übersehen hätte. Ihre prächtige, schwarze Mähne war jetzt nahezu weiß gebleicht, straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gesteckt. Es ließ sie hart aussehen, beinahe wie eine preußische Prinzessin. Santini, der an einem kleinen Tisch im hinteren Teil der Bar saß, winkte ihr zu. Als sie sich näherte, stand er auf und streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen, ehe ihm klar wurde, wie linkisch das wirkte. Er umarmte sie und küsste sie leicht links und rechts auf 291
die Wange. »Sie sehen …« »… älter aus«, vereitelte sie den Versuch einer höflichen Bemerkung. »Nein. Noch schöner, als ich Sie in Erinnerung hatte«, sagte er ernsthafter, als er in diesem Moment eigentlich sein wollte. Er hatte gehofft, die Zeit wäre weniger gnädig gewesen, und Elena wäre auf eine Weise gealtert, die den Schmerz, den er nach so vielen Jahren noch immer empfand, ein wenig gelindert hätte. »Sie lügen«, sagte Elena und ließ sich auf dem Sessel nieder, den ihr Santini zurechtgerückt hatte. »Nein, ich meine, Sie sehen …« Santini kam sich allmählich ein wenig tölpelhaft vor. Seit seiner Scheidung hatte es zwar die eine oder andere Liebesgeschichte gegeben, aber er verbrachte nicht viel Zeit in der Gesellschaft von Frauen, schon gar nicht von Frauen wie Elena. In diesem Moment nahm er das Aroma von Enchanting wahr, jenem Duft, der sich am Abend ihrer ersten Begegnung irgendwie in sein Gedächtnis eingegraben hatte. Es erstaunte ihn immer aufs Neue, wie das Gehirn Worte, Melodien, Blumendüfte bewahren und dann Jahre nachdem sie die Sinne berührt hatten, wieder freisetzen konnte. Und es war nie vorhersehbar, wann sie wieder auftauchten, es konnte durch einen Klang, einen Anblick oder Geruch ausgelöst werden, der mit dem ursprünglichen Erlebnis gar nichts zu tun hatte. Er fragte sich, ob Elena dieses Parfüm heute Abend absichtlich benutzte, um ihn zu quälen. Aber vielleicht war sie einfach nur bei dieser Essenz geblieben, die wie für sie geschaffen schien. »Sie schreiben nicht, Sie rufen nicht an …«, unternahm Elena einen zaghaften, bemühten Versuch, keine Verkrampfung aufkommen zu lassen. Aber in ihrer Stimme, in ihren Worten lag eine gewisse Gereiztheit, ein leichter Zorn. 292
»Ich wollte ja, aber …« »Aber was? Ich habe Sie angerufen, viele Male. Und keine Antwort. Sie haben mich fallen lassen, als hätte ich die Pest.« »Ich musste es tun. Mir blieb gar nichts anderes übrig, nachdem ich herausgefunden hatte, wer Sie sind. Für wen Sie arbeiten.« Elena ließ ein langes Schweigen zwischen ihnen entstehen. »Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Sie dachten, ich hätte Sie hereingelegt. Sie benutzt, weil sich die Gelegenheit gerade bot.« »Der Gedanke kam mir, ja. Aber es spielte keine Rolle, ob unsere Begegnung Zufall oder Absicht war. Nicht in meiner Position.« »Schuldig durch falschen Umgang?« »Und wie.« »Wirklich schade. Ich hatte gehofft, wir könnten Freunde werden.« Santini schaute ihr tief in die Augen, die zugleich kühl und leidenschaftlich waren, Augen, die ihn in ihren Bann zogen. »Das wäre nett gewesen«, sagte er matt. Im Stillen zählte er die Nächte, die er wach gelegen und an sie gedacht hatte. Erst Reue und dann Wut hatten ihm schließlich geholfen, seine Sehnsucht zu überwinden. Ein junger Mann mit rotblondem, unter Verwendung von viel Gel nach hinten geklatschtem Haar und einem kleinen, goldenen Ring im linken Ohr, tauchte plötzlich am Tisch auf. »Guten Abend, die Herrschaften. Darf ich Ihnen etwas von der Bar bringen?« Santini ärgerte sich, dass er den Mann nicht hatte kommen sehen, und fragte sich, ob er hinter ihnen herumgelungert hatte. 293
»Kir royal, wenn ich mich recht erinnere«, sagte er zu Elena. Sie nickte. Santini bestellte den Kir und für sich einen Absolut und schickte den Mann weg. Er mochte es nicht, wenn sich Kellner in seiner Nähe herumdrückten. Sie waren Klatschmäuler, Gullis, die Informationen sammelten statt Regenwasser. Der Kellner kam nach wenigen Minuten mit ihren Drinks zurück. Santini stieß wortlos mit Elena an und leerte sein Glas in einem Zug. »Warum haben Sie mich angerufen? Und warum wollten Sie sich unbedingt hier mit mir treffen?« Sie ließ den Blick mit sichtlichem Missvergnügen über die Menschenmenge wandern. »Meine Bewegungsfreiheit ist ziemlich eingeschränkt. Außerdem …« Laute Musik schluckte vorübergehend, was Santini noch sagte. Schlanke Gestalten in ArmaniSakkos und Jeans von Calvin Klein schoben sich in Richtung einer kleinen Tanzfläche in der Mitte des Klubs. »Hier hört niemand, was wir sagen«, schrie er praktisch. »Das stimmt. Nicht mal ich höre Sie.« Santini beugte sich über den Tisch und forderte Elena mit einer Handbewegung auf, es ihm gleichzutun. Ihre Köpfe berührten sich fast. »Sie reisen in gefährlicher Begleitung.« »Da Sie über mich Bescheid wissen, Michael – oder soll ich Sie Mr. Secretary nennen –, dürfte es Sie eigentlich nicht überraschen, dass ich mich gelegentlich in gefährlicher Begleitung befinde.« »Sie haben die Aufmerksamkeit des deutschen Geheimdienstes erregt.« 294
»Und daraufhin entscheiden Sie, mich noch stärker in sein Blickfeld zu rücken?« »Nein, Elena. Ich versuche, Sie zu warnen.« Santini zögerte, unschlüssig, wie viel er verraten sollte. »Vor ein paar Tagen wurde ein Mann gefunden. Jemand, der für die deutsche Regierung wichtig ist.« »Gefunden?« Elena schien aufrichtig interessiert zu sein. »Ja, mit zwei Hohlmantelgeschossen Kaliber 22 im Kopf. Der BND glaubt, es könnte das Werk des Mossad sein.« »Michael, bitte. Sie glauben doch nicht etwa, ich könnte mit diesem … Mord etwas zu tun haben.« Elenas Tonfall drückte nichts als Ungläubigkeit aus, aber Santini zwang sich, daran zu denken, dass sie eine gerissene Agentin war. »Ich habe nichts von Ihnen gesagt. Aber die BND-Leute bleiben misstrauisch. Sie wissen, dass Sie nicht das sind, wofür Sie sich ausgeben, also nicht die Chefin irgendeiner Hightech-Firma. Von Ihrer Verbindung zum Mossad wissen sie nichts. Aber Sie werden überwacht.« »Ich könnte jetzt sagen, dass ich inzwischen im Ruhestand bin, Michael. Dass der Mossad meine Dienste nicht mehr zu schätzen weiß. Aber Sie wissen, es wäre gelogen. Die Wahrheit ist, ich bin nur eine Agentin im Außendienst.« »Und Sie halten sich rein zufällig in Berlin auf? Verkehren rein zufällig mit einem Mann, der mit organisiertem Verbrechen zu tun hat? Sind rein zufällig in der Nähe, wenn ein wichtiger Agent mit allen Merkmalen einer Mossad-Tat ermordet wird?« Santini forschte nach einem Anzeichen der Bestätigung in Elenas Gesicht. Aber ihre Augen, diese wundervollen Augen, die alles erfassten, verrieten nichts. Sie musste wegen eines Auftrags mit Wladimir Berzin zusammen sein. Aber wieso? Und warum sollte er ihre 295
Geschichte – glauben, dass sie nur eine normale Agentin war und nichts mehr mit Mordanschlägen zu tun hatte? »Ich bitte Sie, Michael, glauben Sie wirklich, der Mossad hinterlässt auf jedem Opfer seine Fingerabdrücke?« Ihre Verachtung über eine solche absurde Annahme war deutlich herauszuhören. »In Deutschland gibt es eine große und noch immer wachsende muslimische Bevölkerungsgruppe. Und Israel ist jederzeit daran interessiert, was die Muslime im Schilde führen.« Elena hielt es offenbar nicht für nötig, weitere Erklärungen anzufügen. Aber um sicherzugehen, dass er auch wirklich verstanden hatte, was ihrer Ansicht nach selbstverständlich war, erinnerte sie ihn daran dass die Vereinigten Staaten ein ähnliches Interesse an den Vorgängen in Deutschland haben mussten. »Sie erinnern sich bestimmt an den Namen des Imam alFazazi. Er predigte eine besondere Art von Hass auf euch und auf uns in der Al-Quds-Moschee in Hamburg. Es wurde ausführlich berichtet, wie er die Muslime dazu aufrief, allen Juden und Christen die Kehle aufzuschlitzen. Genau diese Moschee hat Mohammed Atta häufig besucht. Wir haben die Videobänder von früheren Predigten des Imam sorgfältig geprüft. Er läuft immer noch frei herum, vielleicht in Marokko, vielleicht in Libyen. Irgendwann finden wir heraus, wo er lebt.« Sie hätte anfügen können: Und wo er sterben wird, aber sie ließ die offensichtliche Folgerung unausgesprochen. »Inzwischen sind einige seiner Anhänger aufgetaucht, und mein Land findet es wichtig, sie möglichst genau zu beobachten.« Das leuchtete Santini ein, aber es musste noch mehr dahinter stecken. 296
Es erklärte immer noch nicht, was sie in der Gesellschaft von Berzin tat. Er beschloss, in diesem Punkt nicht weiter in sie zu dringen. Mehr würde sie, zumindest im Augenblick, nicht preisgeben. »Okay, ich akzeptiere, was Sie sagen«, antwortete er ohne Überzeugung. »Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass man Sie hier deutlich auf dem Radarschirm hat und dass Sie vorsichtig sein müssen.« Elena langte über den Tisch und berührte Santinis Arm. »Danke, Michael. Und das meine ich aufrichtig. Aber in meinem Geschäft – in einem Leben wie meinem – ist man immer vorsichtig.« Santini nickte und tätschelte ihre Hand. Er fragte sich, ob sie auch in Bezug auf ihn vorsichtig gewesen war. Elena sah auf die Uhr und nutzte die Gelegenheit, das Treffen zu beenden. »Ich muss gehen. Ich habe heute Abend noch etwas zu erledigen.« Sie gab keine weitere Erklärung. »Am besten, wir brechen getrennt auf.« Santini war einverstanden. Mit einer einzigen, anmutigen Bewegung schob sie ihren Sessel zurück, strich sich das Kleid glatt und verschwand im mittlerweile dichten Gedränge der Bar. Santini wartete noch ein paar Minuten, ehe er die Rechnung verlangte, wobei er sich Mühe gab, gleichgültig gegenüber der Tatsache zu wirken, dass seine Begleiterin schon gegangen war. »Eine bildschöne Frau«, sagte der Kellner eine Spur zu anzüglich, wie Santini fand. Er hätte ihm am liebsten geraten, sich zu verpissen, stattdessen gab er ihm reichlich Trinkgeld und machte sich auf den Weg zur Tür. Als er sich durch ein Knäuel jüngerer Leute an der Theke arbeitete, blockierte ein breitschultriger Mann mit 297
Stiernacken und dunklem, schütterem Haar Santinis Vorwärtsbewegung mit dem Unterarm. Santini versuchte, sich sanft an dem Mann vorbeizuschieben. Er spürte, wie der Arm gewaltsam dagegengehalten wurde. Sofort waren seine Instinkte hellwach. Das war kein Zufall, und dieser Mann hatte auch nicht vor, ihn um ein Autogramm zu bitten. »Was tun Sie hier?« Der Mann lallte schon leicht. »Ich genieße nur ein wenig die deutsche Gastfreundschaft«, antwortete Santini. »Wahrscheinlich wollen Sie eher noch ein paar Deutsche umbringen«, sagte der Mann so laut, dass seine Freunde aufmerksam wurden und ihre Unterhaltung einstellten. »Ihr Scheißtypen habt unsere Jungs umgebracht, da drüben in … in irgend so ’ner verdammten Wüste …« Santini hatte mehr als eine Kneipenschlägerei mit Betrunkenen, die sich als Alphamännchen beweisen mussten, hinter sich. Normalerweise bereuten sie es, sich ihn als Opfer ausgesucht zu haben. Er hatte immerhin im College in der Boxmannschaft gekämpft und sogar einen Titel errungen. Und die Fertigkeiten, die er später als Ranger und Angehöriger der Special Forces erwarb, machten ihn zu einem Mann, den man lieber nicht reizte. »Hören Sie, wir wollen doch …« Bevor er ausreden konnte, setzte der Mann zu einem rechten Schwinger auf Santinis Kopf an. Die Bewegung überraschte Santini, er konnte sich gerade noch so weit ducken, dass er nicht voll am Kinn getroffen wurde. Die Faust des Angreifers streifte ihn seitlich am Kopf und schrammte am linken Ohr entlang, das sofort feuerrot wurde und brannte. Santini stieß den Mann heftig von sich und schrie ihn an, mit dem Unsinn aufzuhören. Aber ein Blick in die glasigen Augen verriet ihm, dass hier nicht mit einer 298
diplomatischen Lösung zu rechnen war. Niemand an der Theke machte Anstalten einzugreifen. Der Mann sah allerdings auch nicht aus, als würde er Hilfe brauchen. Er war gebaut wie ein Leopard-Panzer. Auch wenn die Stirn schon etwas höher wurde, war er wahrscheinlich erst Mitte dreißig. Keine einfache Angelegenheit. Flüchten oder kämpfen, das schienen Santinis einzige Möglichkeiten zu sein. Beides gefiel ihm nicht, aber es lief darauf hinaus, denn seine Leibwächter würden es nicht rechtzeitig bis zu ihm schaffen. Erneut schlug der Mann nach ihm, aber diesmal konnte Santini den Hieb mühelos mit dem linken Arm abblocken. Er blickte sich rasch um in der Hoffnung, dass irgendwer versuchen würde, seinen Angreifer zu beruhigen. Aber alles, was er hörte, waren Anfeuerungsrufe einiger Umstehender für ihren Freund, der offenbar Hans hieß. Es war einige Jahre her, dass Santini in eine Kneipenschlägerei verwickelt gewesen war, die letzte hatte im Boom Boom Room in Saigon stattgefunden. Aber während Army Ranger nicht gerade dafür bekannt waren, die andere Wange hinzuhalten, um einen Kampf zu vermeiden, galt es für einen Politiker bereits als zweifelhaftes Benehmen, überhaupt in einer Bar gesehen zu werden. Und noch weniger Feingefühl ließ erkennen, wer dem angetrunkenen und ungehobelten Gast einer Einheimischentränke in den Arsch trat, egal, wie sehr man provoziert worden war. Aber wenn das hier so weiterging, würde Santini bald bis zum Hals in der Scheiße stecken. Mit Reden ließ sich die Situation nicht bereinigen. Er rückte näher an den Mann heran, damit dieser keinen Platz hatte, zu seinen Schwingern auszuholen. Er achtete jedoch darauf, ihm nicht so nahe zu kommen, dass Hans die Arme um ihn schließen und ihm die Rippen brechen konnte. Als der nächste Schlag kam, packte Santini den ausgestreckten 299
Unterarm des Mannes und drehte sich mit dem Rücken voran in seinen Körper, als wollte er ihn über die Schulter werfen. Stattdessen trat er ihm blitzartig mit dem rechten Schuhabsatz gegen das Schienbein und schürfte ihm die Haut bis zum Knöchel hinab auf. Der überraschend explosiv geführte Tritt veranlasste den Mann augenblicklich, verblüfft die Arme sinken zu lassen. Dann erreichte der stechende Schmerz das Gehirn, er bückte sich reflexartig, um das verwundete Bein zu umklammern, und schrie auf vor Qual. Hans wäre damit wirksam außer Gefecht gesetzt gewesen. Aber Santini hörte nicht auf. Seine Wut gewann jetzt die Oberhand. Sein Ohr schmerzte heftig. Die Selbstbeherrschung, die er sich im Lauf der Jahre angeeignet hatte, löste sich in nichts auf. Als Hans noch nach vorn gebeugt war, packte ihn Santini mit beiden Händen am Kopf und rammte ihm das Knie brutal ins Gesicht. Knorpel und Knochen brachen mit einem unschönen Geräusch. Hans stürzte nach hinten, auf den Rücken, hielt sich beide Hände vors Gesicht und bemühte sich hektisch, den Blutfluss zu stoppen, der aus ihm sprudelte. All das hatte sich in vielleicht zwei Sekunden abgespielt. In dem Moment, da Hans zu Boden ging, drängten sich Gomez und seine Leute bereits durch das Knäuel der Umstehenden. Gomez packte Santini am rechten Arm und zerrte ihn die Treppe hinauf zu einem Aufzug, der ihn in sein Zimmer im obersten Stock brachte. »Danke, Raul«, sagte Santini beim Verlassen des Aufzugs mit leichtem Spott in der Stimme. »Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen.« »Der Kerl wird bestimmt so schnell nicht wieder auf die Beine kommen, Sir«, erwiderte Gomez.
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28 Nach Betreten ihrer Suite im Vier Jahreszeiten warf Elena die Handtasche auf einen kleinen Tisch im Marmorfoyer. Sie ging rasch durch den geräumigen Wohnbereich zu einer Arbeitsecke mit Telefon und Faxgerät. Dort ließ sie sich in einen Sessel fallen, holte ein Blatt Papier aus dem Schreibtisch und machte sich daran, eine hastige Notiz an David Ben-Dar zu kritzeln. Ihre Nerven lagen blank, und das durfte in ihrem Job eigentlich nicht vorkommen. Sie dachte, sie wäre in Bezug auf Berzin vorsichtig gewesen, da sie sich nicht öffentlich mit ihm sehen ließ, außer bei gewissen geschäftlichen Anlässen oder einem gelegentlichen Spaziergang im Park. Offenbar nicht vorsichtig genug. Nun, da sie auf der Beobachtungsliste des BND stand, sollte Ben-Dar darüber Bescheid wissen und entscheiden, ob sie eine Belastung für das Unternehmen war. Sie hoffte es. Sie hatte von Anfang an aus der Sache herausgewollt. Sie begann zu schreiben. Papa, ich hatte heute Abend eine interessante Begegnung mit einem alten Freund aus den Vereinigten Staaten, der, mit dem ich vor ein paar Jahren kurz gearbeitet habe. Er hat jetzt einen neuen Job, einen ganz schön anstrengenden, wie es aussieht. Er sagte, er hätte von einigen Leuten gehört, dass ich in Deutschland ziemlichen Eindruck mache und dass mehrere seiner Freunde meine geschäftliche Karriere verfolgten. Sehr schmeichelhaft. Es ist schon spät, aber ich muss 301
heute Nacht trotzdem noch ein bisschen Arbeit nachholen. Ich rufe von Berlin aus wieder an. Ich vermisse dich, alles Liebe, Miya Sie schob den Brief in das Faxgerät und wählte eine Nummer in Finnland. Eine Schaltstation würde das Fax abfangen und an Ben-Dars persönliches Gerät im Hauptquartier des Mossad umleiten. Es war zwei Uhr morgens in Israel. Ben-Dar würde in wenigen Stunden im Büro sein. Nachdem das Faxgerät die Übertragung des Briefes angezeigt hatte, nahm sie ein Streichholzbriefchen aus dem Aschenbecher auf dem Schreibtisch. Sie hielt das brennende Streichholz an das Papier, bis es ihr fast die Finger versengte, und hätte beinahe vergessen, dass sie womöglich die Sprinkleranlage in der Decke des Hotelzimmers in Gang setzte. Rasch öffnete sie das große Fenster, das zur Straße hinausging, und ließ den Rauch in die Nachtluft abziehen. Solche amateurhaften Fehler würden nicht einmal einem Schulmädchen passieren. Sie sollte sich wirklich beruhigen und darauf konzentrieren, was als Nächstes zu tun war. Sie ging ins Badezimmer, prüfte im Neonlicht ihr Makeup und entschied sich gegen eine Auffrischung. Dann kehrte sie in den Wohnbereich zurück und wartete. Sie war immer noch aufgewühlt, aber auf sich selbst zu schimpfen, machte die Sache kaum besser. Sie war wütend auf Santini, weil er sie angerufen hatte. Wütend, weil sie nicht Nein gesagt hatte. Wütend, weil sie so kalt zu ihm gewesen war. Wütend auf das, was sie war und was sie immer noch für ihr Land tun musste. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Wieder und wieder. Es reichte nun. »Ich schwöre, das war’s«, versprach sie sich selbst. »Das 302
war’s.« Baron von Heltsinger saß im milden Licht seiner Bibliothek und lauschte Beethovens Mondscheinsonate. Sein weiser alter Verstand prüfte bereits eine neue Welt. Santini hatte von dieser Welt gesprochen, aber er hatte nur eine Ecke des Vorhangs gelüftet, hinter dem sie sich verbarg. Heltsinger fühlte sich betrogen von Santini, den er für ehrlich und prinzipientreu gehalten hatte. Offensichtlich war sein Vertrauen fehl am Platz gewesen. Santini hatte sich dem Druck und Taktieren jener Kräfte gebeugt, die für Europa nicht viel übrig hatten. Die Nationen Europas waren nicht gleich, was ihre Größe, Stärke, Geschichte oder Kultur anging. Trotz aller Verkündigungen eines geeinten Kontinents war dem Baron klar, dass Europa, sich selbst überlassen, zu alter Missgunst und Feindschaft zurückkehren würde. Die Briten, Franzosen und Italiener würden sich verschwören, um Deutschland einzudämmen, es mit ihren starren Paragraphen und ihren Intrigen in Fesseln zu legen. Sie würden Deutschland zwingen, in einem Einheitsbrei des Mittelmaßes zu versinken. Das düstere Grübeln des Barons wurde von seinem Butler Frederick unterbrochen. »Herr Wagner und sein Gast sind da, Baron«, verkündete er. »Führen Sie die Herren herein, Frederick.« Die beiden Männer traten Seite an Seite ein, als wollte keiner dem anderen den Vortritt lassen. »Guten Abend, Baron von Heltsinger«, sagte Berzin. »Wolfgang hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Es ist mir eine Ehre.« »Ganz meinerseits«, entgegnete von Heltsinger und schüttelte Berzin die Hand. Er zeigte auf zwei Polster303
sessel. »Bitte machen Sie es sich bequem.« Sobald die beiden Platz genommen hatten, fragte er: »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder vielleicht einen Cognac?« Er hielt ein Glas in die Höhe. »Er ist ausgesprochen weich.« »Für mich Cognac«, sagte Berzin rasch. Wagner überlegte einen Moment, dann bestellte er das Gleiche. Frederick verbeugte sich, eilte nach nebenan und kam Augenblicke später mit den Getränken auf einem Silbertablett wieder. Von Heltsinger erhob sein Glas und sagte: »Wolfgang hat mir erzählt, Sie hätten einige interessante Ideen. Es ist zwar schon spät, aber ich höre gern noch zu.« Berzin vergeudete keine Zeit auf Höflichkeiten. »Ich bin überzeugt, dass Deutschland und Russland ihre jeweils besten Eigenschaften verbinden können«, begann er. »Zu einer Partnerschaft, die deutsche Leistungsfähigkeit mit Russlands gewaltigen natürlichen Ressourcen und seiner militärischen Macht vereint. Eine deutsch-russische Allianz würde uns zu einer wahren Supermacht werden lassen. Sie könnte einen Vertrag wiederholen.« »Sie sprechen von Rapallo«, unterbrach von Heltsinger, »vom Rapallo-Vertrag.« Er hatte den Begriff sehr lange nicht gehört. Der Vertrag war nach der italienischen Stadt benannt, in der er unterzeichnet wurde. Deutschland hatte in dem geheimen Abkommen 1922 die Sowjetunion anerkannt und strategische Zusammenarbeit mit Lenins Regierung versprochen. Es hatte außerdem alle Vorkriegsschulden gestrichen und alle Ansprüche widerrufen, die aus dem Ersten Weltkrieg herrührten. Der Vertrag ermöglichte es der deutschen Armee, in der Sowjetunion Waffen zu produzieren, die ihr durch den Versailler Vertrag verboten waren. 304
»Der Vertrag von Rapallo, ganz recht«, erwiderte Berzin. »Ich weiß, Sie sind ein Geschichtskenner, Herr Baron.« Der Baron lächelte gequält. »Die Sache hatte durchaus eine ironische Note, nicht wahr? Dank Rapallo konnte die deutsche Armee – lange vor Hitler – Waffen herstellen, die ein Jahrzehnt später gegen die Sowjetunion eingesetzt wurden.« Berzin lachte. »Es gab, sagen wir, unerwartete Resultate. Aber Rapallo verlieh beiden Ländern eine Stärke, die jedes für sich nicht besaß. Diesmal wird es nur beabsichtigte Resultate geben.« Berzin hatte klugerweise beschlossen, jeden Hinweis auf seine Aktivitäten als Anführer des Gartens auszulassen. Er beschrieb im Folgenden, wie er beabsichtigte, an der russischen Präsidentenwahl teilzunehmen und sie zu gewinnen. Von Heltsinger dachte über Berzins Vorschläge nach. »Das ist alles sehr interessant, Herr Berzin. Nicht unproblematisch, aber der Überlegung wert. Ich muss noch genauer darüber nachdenken. Ich verreise für ein paar Wochen nach Spanien, aber wenn ich zurück bin, können wir die Sache vielleicht weiter diskutieren.« Das Gespräch war vorüber, und der Baron brachte Berzin und Wagner zur Tür. »Gute Nacht, meine Herren«, sagte er. Er legte Wagner die Hand auf die Schulter. »Und danke, Wolfgang. Wir sprechen uns später.« Nachdem er in die Bibliothek zurückgekehrt war, dachte von Heltsinger über das nach, was Berzin gesagt hatte. Wehmütig rief er sich ein Bonmot in Erinnerung: »Amerikanische Truppen sind in Deutschland, um die Russen draußen und die Deutschen klein zu halten.« 305
Witzig. Aber wenn die amerikanischen Streitkräfte dabei waren abzuziehen, dann wäre es vielleicht sinnvoll, die Russen reinzulassen. Nicht als Besatzungsmacht, sondern als Partner in einem großen Plan. Ein anderer Spruch fiel ihm ein. Es gibt keine dauerhaften Freunde und keine dauerhaften Feinde. Nur dauerhafte Interessen. Er hatte Berzin als imposante Figur empfunden. Wirklich sehr beeindruckend. Aber der Mann bereitete ihm auch Sorgen. Von Heltsinger hatte Wolfgangs Vater versprochen, auf seinen Sohn aufzupassen. Ihm zu geschäftlichem, vielleicht sogar politischem Erfolg zu verhelfen. Seine Freunde beim BND hatten dem Baron erzählt, Berzin sei ehrgeizig und skrupellos. Auf illegale Weise zu seinem Reichtum gekommen. Aber war Reichtum im Lauf der Geschichte etwa zumeist ehrlich erworben worden? Nahmen die Starken nicht immer von den Schwachen, die Rücksichtslosen von den Furchtsamen? Es war das Gesetz der Natur. Belohnt wurde, wer bereit war, Risiken einzugehen, das Pferd der Geschichte zu besteigen und in die Zukunft zu reiten. Wer weiß, dachte er lächelnd, wenn ein österreichischer Muskelprotz als Politiker in Amerika Erfolg haben konnte, war dann nicht alles möglich? Er knipste das Licht in der Bibliothek aus und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer, plötzlich heiterer Stimmung. Vielleicht war es gar kein so wilder Traum, dass Deutschland erneut zu einer politischen und militärischen Macht wurde. Oder Wolfgang Kanzler. Santini konnte keinen Schlaf finden. Er litt weiter unter Jetlag und war total durcheinander, was die Tages- oder Nachtzeit betraf. Er warf die Daunenbettdecke von sich, 306
unter denen man in deutschen Hotels begraben wurde. Mann, war das heiß! Das Laken war völlig durchgeschwitzt und schob sich unter seinem Rücken zusammen. Er fühlte sich klebrig und verschmutzt, obwohl er erst vor einer Stunde heiß geduscht hatte. Das Brummen des Autoverkehrs, das durch das offene Fenster hereinwehte, klang so entfernt, als wären seine Ohren mit Watte verstopft. Wie dumm, wie dumm … Er verfluchte sich immer noch für das, was vorhin unten in der Bar passiert war. Er ließ nach. Der Druck setzte ihm zu. Wie konnte er sich von so einer halb besoffenen Witzfigur provozieren lassen? Amerika musste mit genügend Problemen fertig werden. Nun hatte er alles noch schlimmer gemacht. Er hatte allen, die Amerika hassten, einen Vorwand geliefert, ihre Angriffe zu verstärken. Er hatte eine persönliche Note ins Spiel gebracht … Elena. Elena. Ihr Name ging ihm nicht aus dem Kopf. Ihr Parfüm krallte sich in sein Gehirn und überflutete es mit einer leichten und köstlichen Sinnlichkeit, die sich jeder Beschreibung entzog. Er hätte ihr so gern geglaubt, dass sie nichts mehr mit Exekutionen zu tun hatte, dass man sie nur hierher geschickt hatte, damit sie die zunehmende Präsenz islamischer Terroristen in Deutschland überwachte. Aber ihre Geschichte klang einfach nicht wahr. Vielleicht war sie zur Wahrheit nicht fähig. Vielleicht hing ihr Leben davon ab, dass sie sich … wie hatte es Churchill genannt … mit einer »Leibwache aus Lügen« umgab. Vielleicht … Schließlich döste er weg, taumelte in einen Zustand, in dem Formen und Geräusche sich in Erinnerungen kleideten, die unter unendlich vielen Lagen des Schmerzes begraben gewesen waren.
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»Sie sind ein sturer Mensch, Captain.« Die Stimme war ruhig und grausam zugleich und warf einen Schatten des Kommenden voraus. Das Zischen des Gummiknüppels gab nur eine Sekunde Vorwarnung, ehe er ihn in die Niere traf. Der Schmerz war so heftig, dass sich Santini wie ein Kind im Mutterleib zusammengekrümmt hätte, hätte er nicht an den Armen von der feuchten Decke gehangen. Stattdessen zuckten seine Bauchmuskeln reflexartig und zogen seine Knie an die Brust, bevor sie schwer wieder nach unten fielen. Die krampfartige Bewegung riss ihm die Schultern aus den Gelenken. Er hustete Blut. Er unterdrückte einen Schrei, erstickte fast an dem Blut, das ihm in die Kehle lief. Er hustete wieder, dann spuckte er seine Peiniger an. Ein zweiter Schlag fast auf die gleiche Stelle ließ ihn unkontrolliert aufschreien. Er biss die Kiefer so fest zusammen, dass er glaubte, die Backenzähne würden sich lösen. »Stur und dumm. Eine sehr schlechte Kombination«, ertönte die kalte Stimme wieder. Santini kannte den Ablauf der Folter längst auswendig. Seine Gruppe war in heftiges Kreuzfeuer regulärer Truppen der nordvietnamesischen Armee geraten. Er war der Einzige, der den Hinterhalt überlebte hatte, wenngleich schwer verwundet. Er sollte das Pech, am Leben geblieben zu sein, noch bereuen. Seine Bewacher waren überzeugt, dass er entweder mit ihnen kooperieren oder darum beten würde, bei seinen toten Kameraden zu sein. In vom Schmerz erzeugten Delirien hatte er gebetet. Erst um Hilfe, und, als keine kam, um den Tod. Als seine Gebete nicht erhört wurden, war er überzeugt gewesen, dass Gott ihn einfach verlassen hatte, in dieser einsfünfzig mal zwei Meter großen Zelle, die für mehr als fünf Jahre zu seinem Zuhause wurde. Aber warum? Welche Sünde 308
hatte er begangen? Er hatte getötet, sicher. Aber für sein Land. Für die Freiheit … »Warum erdulden Sie so viel?« Wieder kam die Stimme von irgendwoher außerhalb des Lichtkegels, den die nackte Glühbirne über ihm warf. Immer dieselben Fragen. Mit solch höhnischer Aufrichtigkeit gesprochen. Aber es war eine andere Stimme diesmal, auch wenn ihr derselbe Singsang zu Eigen war. Der Tonfall war vertraut, aber ohne den leichten französischen Akzent, den er mit zwei besonders brutalen Vernehmungsoffizieren verband. »Die Leute in Amerika nennen euch Nazis, Massenmörder. Ihr habt ihre Ehre besudelt.« »Mörder«. »Ehre besudelt«. Die Worte ließen seine Gefühle entbrennen, härteten ihn gegen seine Peiniger, gegen den einen, der im Hintergrund im Dunkeln stand, dessen Stimme er nie vergessen, dem er nie verzeihen würde, nie … Das Schrillen des Funkweckers ließ Santini hochfahren. »Was ist los, verdammt?«, fluchte er und starrte in die Finsternis. Er dachte erst, es müsse sich um einen Feueralarm handeln. Dann konzentrierte er sich auf die Quelle des Lärms. »Verdammt.« Das Hotelpersonal hatte es versäumt, den Wecker nach dem vorherigen Gast neu einzustellen, und er selbst hatte keinen Gedanken daran verschwendet. Es war erst drei Uhr morgens! Aber im Kopf war er jetzt hellwach. Er würde nicht mehr einschlafen können. Verdammt. Er sank aufs Bett zurück, in die schweißgetränkten Laken, und schürzte die Lippen zu stummem Protest. Die Dunkelheit wurde nur vom Mond aufgehellt, der gelegentlich 309
zwischen den dünnen Wolken am Nachthimmel hindurchlugte. Irgendwo hinter seinen Augen begannen Bruchstücke aus dem Traum vorüberzutreiben. Diese Stimme. Er hatte sie vor kurzem gehört. Aber wo? Das Wort Ehre. Die Art, wie es gesagt wurde. Es war so lange her. Mit wem hatte er in letzter Zeit gesprochen? Wo auf seinen Reisen hatte er das Wort am ehesten gehört? Konnte es sich um einen Schaltfehler im Gehirn handeln? Einen zufälligen, unerklärlichen Defekt, der das Wort in den hohlen Schein seines Traums geschleudert hatte? Dann fiel es ihm ein. Es war im Pentagon gewesen. Der General, der den chinesischen Verteidigungsminister begleitet hatte. Dieser Li. Als sie einander vorgestellt wurden. Er hatte gesagt: »Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen.« Es waren die einzigen Worte gewesen, die er auf Englisch gesagt hatte. Sie hatten holprig geklungen, wie eigens auswendig gelernt von jemandem, dem es an Sprachtalent mangelte. Aber es hatte auch diesen Anflug von Spott gegeben. Sehr subtil, aber vorhanden. Und irgendwie hatte Santini an jenem Tag das Gefühl gehabt, Li bereits früher begegnet zu sein, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, das Gesicht je gesehen zu haben. Es war höchste Zeit, der Sache nachzugehen. Santini sah noch einmal auf die Uhr. Neun Uhr abends in Washington. Er schwang sich aus dem Bett und schlüpfte in den Morgenmantel, der an der Badezimmertür hing. Dann wählte er von dem Telefon auf seinem Nachttisch aus die Zimmernummer von Alex Dixon, dem Kommunikationsoffizier, der mit ihm reiste. »Captain«, sagte er, »ich brauche eine Verbindung mit Arthur Wu von der DIA. Ich bin in fünf Minuten unten im abhörsicheren Raum. Kriegen Sie das hin?« »Ja, Sir. Wir sind bereit.« 310
29 GRAFENWÖHR Dem Kalender nach war noch Winter. Aber auf den Kalender war kein Verlass mehr. Vielleicht hatten die Umweltschützer Recht. Die Menschen verursachten eine globale Erwärmung, einen Zustand, der die Natur auf den Kopf stellte. Die letzten Wochen waren bereits so warm gewesen wie jene Frühlingstage, für die Bauern wie Josef Kaiser lebten. Ein wolkenloser Himmel, blau wie das Ei eines Rotkehlchens. Selbst die Erde schien verwirrt zu sein. Sie begann aufzubrechen. Die wenigen verbliebenen Milchkühe von Kaisers Herde streiften träge über die Wiese, die aussah, als würde sie bald grün werden. An einem Tag wie heute stand die Zeit still, als wäre es Kaisers Großvater Rutger, der den Blick zum Horizont schweifen ließ und gelobte, für die Söhne, die ihm folgen würden, den Wald zu roden und das Land zu bestellen. Der Traum war erst wahr geworden und dann wieder verloren gegangen. Das einst reichlich vorhandene, scheinbar endlose Acker- und Weideland lag mittlerweile eingequetscht zwischen wuchernden Städten und dem sich ständig ausdehnenden militärischen Betrieb der Amerikaner. Wie viele Stützpunkte gab es? Ramstein, Rhein-Main, Stuttgart, Bamberg, Giebelstadt, Spangdahlem. Zwei Dutzend insgesamt, mit hunderttausend Soldaten und ihren Familien. Er hatte nichts gegen die Amerikaner. Sie hatten sich nicht danebenbenommen oder wie Eroberer aufgeführt. Sie spazierten nicht wie eine Besatzungsmacht herum. 311
Dennoch besetzten sie deutsches Territorium und forderten immer mehr Land, auf dem sie ihre Panzer rollen lassen konnten, mehr fruchtbaren Ackerboden, um Raketen auf imaginäre Bodentruppen abzufeuern. Das Land um Grafenwöhr herum war nicht mehr der Ort von Opa Rutgers Träumen. Einst so idyllisch, dass es die Poesie der deutschen Romantiker inspirierte, war es zum Übungsgelände der NATO-Staaten geworden, wo monströse Panzer rasselnd und schnaubend die Vision eines Armageddon heraufbeschworen, wo Überschallflugzeuge mit schrillem Ton wie Adler auf ihre Beute herabstießen, während Bodentruppen, die nicht furchteinflößender als Spielzeugsoldaten wirkten, die Hügel durchkämmten. Es kam einem alles so lächerlich vor. Der Kalte Krieg war Geschichte. Das Sowjetreich hatte sich aufgelöst. Die Russen, den Klauen Stalins und aller Erben seines Terrorregimes entkommen, versuchten, die Schlüssel zum Königreich des Kapitalismus zu finden. Und immer noch waren sie alle da draußen. Die Tschechen, Ungarn, Polen, Litauer. Kaiser stieß einen resignierten Seufzer aus. Was würde aus seinem kleinen Hof werden? Thomas und Stefan, die jüngsten seiner fünf Kinder, würden bald zu studieren beginnen. Sie hatten nichts übrig für die Landwirtschaft, für die unablässige Aufmerksamkeit, die sie forderte, die Launenhaftigkeit des Wetters, die Monopolmacht der großen Genossenschaften. Nein, sie streiften lieber den ganzen Tag lang durch den unermesslichen Raum des Internets, traten in Verbindung mit ätherischen Stimmen, die durch unendliche Galaxien hallten. Er hoffte, sie fanden einen Sinn in all dem und machten die Wissenschaft zu ihrem Diener, nicht zu ihrem Herrn. Und vielleicht konnten sie an einen spirituellen Ort gelangen, der ihnen Trost und Frieden brachte in einer Welt, die jeden Sinn für moralische Ziele verloren zu haben schien. 312
Ach, dachte er, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, die ziellosen Gedanken eines alternden Mannes, der beklagt, wie ihm die Zeit durch die Finger rinnt. Während er langsam zum Kuhstall schlurfte, wanderte Kaisers Blick zum Horizont. Dunkle Objekte, zunächst nichts weiter als Dreckspritzer am Himmel, näherten sich von Westen und wurden schnell größer. Noch hörte er nichts als das liebliche Zwitschern von Singvögeln, die im Hof umherflitzten. Aber er wusste, in wenigen Sekunden würde das Donnern von Düsentriebwerken die Stille zerreißen und die Kühe würden jammervoll über die fliegenden Eindringlinge stöhnen. Wie viele waren es? Es war schwer zu erkennen. Fünf? Nein acht. Noch eine Übung. Noch eine gespielte Schlacht. Er hatte schon so viele über sich ergehen lassen müssen. Als sich die Kampfflugzeuge dröhnend seinem Anwesen näherten, warf eines von ihnen eine Ladung kleiner Behälter ab. Nach dem Aufprall auf dem Boden breitete sich ein feiner Nebel aus, der wie Silberstaub im Morgenlicht schimmerte. Kaiser hatte diese Wolken schon gesehen. Sie nannten es CS, eine Art Reizgas, das sie benutzten, um einen Angriff mit chemischen Waffen zu simulieren. Er war schon beim Bürgermeister von Grafenwöhr gewesen, um sich zu beschweren. Das Gas machte ihn und seine Familie krank. Zwei von seinen Kühen hatten einen Lungenschaden wegen dem Zeug, eine musste sogar getötet werden. Was sollte er noch alles schlucken? Dieser Wahnsinn musste ein Ende haben. Seinen Beschwerden begegnete man meist mit gutmütiger Gleichgültigkeit. Es geht um unsere Sicherheit. Tut mir Leid, da kann man nichts machen. Die NATO, Sie wissen schon. Kaiser machte sich auf den Weg ins Haus, um wieder einmal anzurufen. Aber ehe er es erreichte, 313
bemerkte er, dass hier etwas fürchterlich schief lief. Tröpfchen von dem feinen Nebel ließen sich auf seinen Armen und Beinen nieder. Dampf drang in seine Nase und brannte auf den Schleimhäuten. Seine Kehle fühlte sich an, als hätte man ihm Mull hineingestopft. Er atmete tief ein, weil er dachte, ein Schwall frischer Luft könnte ihm Erleichterung verschaffen. Aber er würgte nur, erstickte an dem Schleim, der den Weg zu seinen Lungen blockierte. Galle drang aus seinen Eingeweiden nach oben wie ein Geysir. Was ging mit ihm vor? Seine Hände begannen, unkontrolliert zu zittern, während seine Beine unter ihm nachgaben, als hätte man ihm einen Stahlbolzen in den Schädel getrieben. So sah es aus, wenn seine Kühe geschlachtet wurden. Er versuchte, um Hilfe zu rufen. »Greta, Gret …« Die Worte blieben ihm in der brennenden Kehle stecken, er brachte keinen Laut mehr heraus. Sein Atem wurde flach und hastig. Seine Augen fühlten sich an wie rohe Eier, die aus ihren zersprungenen Schalen sickerten. Binnen zwei Minuten war Kaiser tot. Gnädigerweise musste er nicht mit ansehen, wie seine beiden Kinder, die sich mit unzähligen anderen gerade im Pausenhof ihrer Schule aufhielten, unwissentlich das Gift einatmeten, das in Form einen Frühlingsnebels auf sie niederging.
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30 MÜNCHEN »Mr. Secretary!« Admiral O’Neill schrie praktisch, als er in Santinis Hotelzimmer stürmte. »Schalten Sie CNN ein. Etwas Unglaubliches ist passiert. Großer Gott!« Santini hatte Scott noch nie so durcheinander gesehen. Es handelte sich offenkundig um keine guten Neuigkeiten. Er schaltete das kleine Fernsehgerät an, und bekam ein flaues Gefühl im Magen, als Jamie McGregor auf dem Bildschirm erschien. McGregor war der Topkorrespondent von CNN für das Pentagon. Santini hatte ihn immer für einen erstklassigen Journalisten gehalten, der mit seinen Nachrichten bei der Wahrheit blieb. Er empfand ihn keineswegs als lasch, aber er war nie auf die sensationelle Eilmeldung aus. Er hatte Santini einmal anvertraut, dass ein Vorgesetzter bei seinem Sender in Atlanta ihn zwingen wollte, aggressiver in seiner Berichterstattung zu werden. Als der Mann darauf bestand, dass CNN immer zuerst berichten müsste, hatte McGregor gefragt, was denn sei, wenn die Geschichte gar nicht stimme. »Scheiß drauf, ob sie stimmt«, war die Antwort gewesen. »Wichtiger ist, dass wir sie als Erste bringen. Eine Berichtigung können wir immer noch nachschieben.« McGregor hatte sich geweigert, dem Druck nachzugeben, und irgendwie hatte er es geschafft, seinen Job trotzdem zu behalten. Aber Santini war klar, dass McGregor dank ebendieser unabhängigen Art nun 315
gnadenlos auf sie einprügeln würde. »Hier ist Jamie McGregor, live aus München. Wie CNN soeben erfahren hat, ist eine NATO-Übung in Deutschland außer Kontrolle geraten. Dabei sollen Hunderte Einwohner der Stadt Grafenwöhr ums Leben gekommen sein. Unseren Quellen zufolge war Sarin die Todesursache, ein Giftgas, das die Atemwege angreift. Nach den CNN vorliegenden Informationen hat eine amerikanische F-16 das tödliche Gift während einer gemeinsamen Übung von NATO-Streitkräften freigesetzt. Offenbar glaubte der Pilot des Kampfjets, dessen Identität noch nicht bestätigt ist, er würde CS-Gas abwerfen, ein bekanntes Reizgas, das vom Militär dazu verwendet wird, ein durch chemische Waffen verseuchtes Umfeld zu simulieren. Wir hoffen, in Kürze von General John Ellsworth, dem NATO-Oberkommandierenden für Europa, eine Erklärung dafür zu bekommen, wie eine der tödlichsten Chemikalien, die der Mensch kennt, in das Arsenal der amerikanischen Luftwaffe gelangt ist. Es handelt sich um dieselbe Substanz, die Anhänger der japanischen Aum-Sekte im März 1995 in fünf Tokioter UBahnen freisetzten, wobei zwölf Menschen getötet und Tausende verletzt wurden. Sarin ist auch die Chemikalie, die 1970 angeblich von amerikanischen Special Forces bei einem Stoßtruppunternehmen in Laos verwendet wurde …« Santini machte den Ton aus. Er war aschfahl im Gesicht, denn er wusste nur zu gut, auf welche Geschichte sich McGregor bezog. Sie lief unter dem Namen »Operation Tail Wind.« CNN hatte die Behauptung aufgestellt, amerikanische Hubschrauberpiloten hätten in Vietnam eigene Soldaten vergast. Die Story war kompletter Unsinn. Nachdem CNN sie wochenlang ausgewalzt hatte, musste sich der Sender schließlich dafür entschuldigen, weil er keine Belege dafür beibringen konnte. Aber das war 316
sieben Jahre her, und McGregor hatte nichts damit zu tun gehabt. Wenn er sie jetzt anführte, dann war für Santini klar, dass sie stimmte. Santini rannte in den Kontrollraum hinunter und schreckte den Kommunikationsoffizier auf. »Dixon«, bellte er, »stellen Sie mich auf einer sicheren Leitung direkt zu General Ellsworth im NATO-Hauptquartier in Brüssel durch. Sofort.« Dreißig Sekunden später war Ellsworth am Apparat. Ein Blick auf die Digitalanzeige seines Telefonidentifikationssystems verriet dem General, wer ihn anrief, und er wusste auch, wieso. »Guten Tag, Mr. Secretary«, antwortete er schneidig und bemühte sich, ruhig zu klingen, obwohl er das Gefühl hatte, dass es ihm den Magen umdrehte. »Ich habe den CNN-Bericht gerade gesehen. Wir sind noch dabei, uns Klarheit zu verschaffen, aber es sieht nach Sabotage aus.« »Was soll das heißen, ›es sieht nach Sabotage aus‹, John? Wie konnte verdammt noch mal jemand das Sicherheitssystem unserer Stützpunkte überwinden? Wie konnte sich jemand Zugang zu unseren Munitionslagern verschaffen?« Bevor Santini weiter verbal auf Ellsworth eindreschen konnte, signalisierte ihm Captain Dixon, dass das Weiße Haus in der Leitung war. Der Sicherheitsberater rief an. »Mist«, fluchte Santini, während er Ellsworth auf Warten legte und das Gespräch aus Praegers Büro annahm. »Santini«, schrie Praeger, »haben Sie gehört, was in Deutschland passiert ist?« »Ich habe den Bericht eben gesehen.« »Erklären Sie mir verdammt noch mal eine Sache.« Praeger atmete hörbar aus, wie um zu unterstreichen, dass er sich große Mühe gab, beherrscht zu bleiben. Was ihm 317
allerdings nur selten gelang. »Warum muss ich von so einem kolossalen Desaster über CNN erfahren? Warum rufen Sie nicht an und warnen uns vor?« Santini wollte ihm gerade erklären, dass er aus derselben Quelle wie Praeger erfahren hatte, was passiert war. Aber dann überlegte er es sich anders. Es hatte keinen Sinn, Praegers Voreingenommenheit gegenüber dem Pentagon noch weiter zu verstärken. »Ich kann Ihnen nichts sagen, was ich nicht weiß. Die Sache ist eben erst passiert. General Ellsworth wartet in der anderen Leitung, er berichtet mir gerade. Es gibt zu diesem Zeitpunkt noch zu viele Unbekannte. Sobald wir Klarheit gewonnen haben, gebe ich Ihnen, dem Präsidenten und dem Nationalen Sicherheitsrat einen vollständigen Überblick.« »Der Präsident will, dass Sie sofort nach Washington kommen. Und das heißt sofort. Das Ganze ist eine Katastrophe, damit können wir es uns mit sämtlichen Verbündeten verderben! Da versuchen wir, die Welt von Massenvernichtungswaffen zu befreien, und dann kippen wir Sarin über eine ganze Ortschaft! Mit einer lahmarschigen Entschuldigung nach dem Motto ›Hoppla, tut uns Leid‹, kommen wir aus der Sache bestimmt nicht heraus. Ich fürchte, wir haben ein kleines Sicherheitsproblem in Ramstein oder wo zum Teufel ihr das Zeug aufgeladen habt.« »Wann soll die Sitzung sein?« »Sobald Sie zurück sind.« »Der Flug dürfte etwa acht Stunden dauern. Hier ist es jetzt kurz nach Mittag. Ich kann am späten Nachmittag im Weißen Haus sein.« »Hoffentlich haben Sie nicht vor, den Präsidenten noch länger warten zu lassen, damit Sie sich in irgendwelchen deutschen Bars prügeln können! Du lieber Himmel! 318
Müssen Sie zu allem Überfluss auch noch Rambo spielen in München! Die Geschichte ist raus. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, was Sie da angerichtet haben?« Ein lautes Klicken beendete das Gespräch mit Praeger. Jedes Bedauern, das Santini über seine Unbeherrschtheit in der Bar empfunden hatte, löste sich rasch in nichts auf. Aber es ließ sich nicht wegdiskutieren. Für die Boulevardpresse würde es ein gefundenes Fressen sein, seine Unbedachtheiten mit dem Vorfall in Grafenwöhr zu verknüpfen. Santini hatte oft über »smart bombs« nachgedacht, jene lasergesteuerten Präzisionsraketen, die den Krieg wie ein Videospiel aussehen ließen. Viele Millionen Dollar teure Waffen, Satelliten, Miniaturkameras. Und was kommt am Ende dabei raus? Jemand baut Mist, vertauscht ein Etikett, machte eine falsche Eingabe in einen Laptop. Er schaltete zu Ellsworth zurück. »Ich muss bis 16.00 Uhr Washingtoner Zeit im Weißen Haus sein. Was kann ich dem Präsidenten sagen?« »Das war kein Unfall, Mr. Secretary. Es war ein kriegerischer Akt, der von einer hoch entwickelten Organisation geplant und ausgeführt worden sein muss.« »Islamistischer Hintergrund? Al-Qaida?« »Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Es war ein Unternehmen auf dem Niveau der Twin Towers.« »Muss ich Sie daran erinnern, General, dass das zivile Flugzeuge waren? Dieses Gas kam von einem Kampfflugzeug der US Air Force! Ich will einen Bericht vorliegen haben, wenn ich in Washington eintreffe. Sie können ihn mir direkt ins Flugzeug faxen. Und ich möchte, dass etwas in diesem Bericht steht, was ich nicht schon im Fernsehen gesehen habe.«
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31 WASHINGTON »Ich habe gleich gesagt, er bringt uns in Verlegenheit«, zischte Joe Praeger, der Sicherheitsberater des Präsidenten. »Ich meine, was könnte Santini noch tun, um Ihre Führerschaft zu untergraben und Ihre Chancen auf eine Wiederwahl zu schmälern?« Praeger atmete zum Zeichen seiner Wut geräuschvoll aus. »Erst prügelt er sich mit irgendeinem Betrunkenen in einer Bar in München. Dann verätzen unsere Jungs Hunderten von unschuldigen Leuten mit chemischen Waffen die Lungen!« »Finden Sie nicht, es wäre klug, sich erst einmal anzuhören, was überhaupt passiert ist, ehe er verurteilt wird? Keine Verurteilung ohne Prozess. War das nicht mal der Kern unseres Rechtssystems?«, fragte Präsident Jefferson. Er war ein zurückhaltender und eher bescheidener Mann, der seine engsten Berater – und allen voran Praeger – nur ungern daran erinnerte, dass es immer noch er war, der die Sterne des Oberkommandierenden trug. »Oder sind Sie in Wahrheit auf seine Hinrichtung aus?« Praeger hatte sich angewöhnt, Jefferson offen zu widersprechen, wenn sie sich unter vier Augen trafen. In Gesellschaft anderer Kabinettsmitglieder gab er sich schamlos bemüht. Aber insgeheim kochte er, wenn der Präsident seinen Rat missachtete. Seiner Ansicht nach war Bradford Jefferson ein Leichtgewicht, das jeder stärkere Wind umblasen würde, wenn er, Praeger, nicht wäre. 320
Er glaubte, dass Jeffersons viel gerühmter geschäftlicher Erfolg weniger sein Genie widerspiegelte als sein Glück bei Frauen. Indem er das Erbe seiner Frau einsetzte, war Jefferson nämlich einer der ersten großen Investoren bei AOL gewesen. Das war lange bevor AOL mit Time Warner fusionierte und seinen »synergetischen« Ehepartner in die Pleite trieb. Jefferson verkaufte seine Aktien und kassierte 600 Millionen Dollar. Überzeugt, dass das Leben an der Ostküste überall süßer als in Cleveland, Ohio, sein musste, zog er mit seiner Familie nach Miami. Dort entschied er, dass der Besitz einer ProfiFootballmannschaft ihm auf Anhieb Berühmtheit und gesellschaftlichen Status verleihen würde. Zusammen mit zwei Partnern einer Risikokapitalgesellschaft kaufte er die Miami Conquistadors, die damit gedroht hatten, den Staat zu verlassen. Nach zwei erstklassigen Spielzeiten des Teams setzten Jeffersons Aktien, zusammen mit denen der Mannschaft, zu einem Höhenflug an. Aber der Erfolg des Teams war Praeger zuzuschreiben, nicht Jefferson. Immerhin war Praeger der clevere junge Klubchef, der die richtigen Manager und Trainer ausgesucht hatte. Er war es auch, der Jefferson überredete, in größerem Maßstab zu denken. Der ihn auf die Idee brachte, das Leben müsse mehr zu bieten haben, als jeden Sonntag mit Steroiden voll gepumpten Hünen zuzuschauen, die sich auf Kunstrasen gegenseitig umzubringen versuchten. Zehntausende Sportfans in politische Unterstützer zu verwandeln, würde ein Kinderspiel sein. Ein bekannter Name, ehrlich erworbener Reichtum, gutes Aussehen und eine intakte Familie – alle Zutaten, die man für ein Leben auf der politischen Überholspur brauchte. Natürlich mussten noch gewisse Veränderungen vorgenommen werden. Die viertausend Dollar teuren 321
Brioni-Anzüge würden verschwinden müssen. Zu viele Überflieger der Dotcom-Szene hatten sie inzwischen gegen orangefarbene Overalls aus der Kollektion der Justizvollzugsanstalten eingetauscht. Und obwohl Jefferson seine Verbindung mit AOL gelöst hatte, lange bevor das Unternehmen die Aufmerksamkeit der Börsenaufsicht oder das Interesse ehrgeiziger Staatsanwälte weckte, war es besser, selbst jeden unterschwelligen Vergleich zu vermeiden. Dunkelblaue CanaliAnzüge würden es genauso tun. Außerdem musste der neue Mercedes 300 gegen amerikanische Fabrikate eingetauscht werden. Ein, zwei Cadillacs würden genügen. Auch ein etwas bescheideneres Zuhause konnte nicht schaden. Binnen drei Jahren war es Praeger gelungen, Jefferson in das Rennen um den Gouverneursposten von Florida zu schicken. Die Chancen, im ersten Anlauf gegen einen populären Amtsinhaber zu gewinnen, waren allerdings nicht sehr hoch. Jedenfalls waren sie es nicht, bis Gouverneur Walker bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, den die Presse als »Horrorunfall« beschrieb. Mit dem Rückenwind eines kleinen wirtschaftlichen Aufschwungs, den Walker noch in Gang gesetzt hatte, wurde Bradford Jefferson zum Mann der Stunde in Florida. Die fünfundzwanzig Wahlmännerstimmen, die er mitbrachte, machten ihn zum klaren Favoriten dafür, seiner Partei das Weiße Haus zu sichern, und genau das tat er auch. Glückliche Zeiten brachen an. Praeger, der dem Gouverneur Jefferson als Stabschef und oberster Wahlkampfstratege gedient hatte, war auf eine Beförderung scharf. Sollte jemand anderer den Terminkalender des Präsidenten überwachen und dafür sorgen, dass die Züge rechtzeitig gingen. Er wollte das Außenministerium. Dort konnte er die größte Wirkung erzielen. Aber wenn er es offen verlangte, würde man ihm 322
vorwerfen, sich zu übernehmen. Alles zu seiner Zeit. Der Posten des Nationalen Sicherheitsberaters brachte ihn erst einmal in die Warteposition für einen Umzug ins State Department nach Jeffersons Wiederwahl. Und nichts würde ihn davon abhalten, seinen Traum zu verwirklichen. Nicht Michael Santini. Nicht einmal Jefferson – seine Schöpfung –, der als der mächtigste Mann der Welt galt. »Mr. President«, sagte Praeger nun, und es klang nicht mehr ganz so scharf wie noch einen Augenblick zuvor, »wir haben zugelassen, dass Saboteure drei deutsche Flugzeuge vom Himmel über New Mexico bombten, und jetzt hat unsere Air Force gerade Hunderte Deutsche auf ihrem eigenen Boden getötet. Und das alles im Verantwortungsbereich Ihres … Verzeihung, unseres … Verteidigungsministers.« Praeger war immer noch wütend über Jeffersons vorschnelle Entscheidung, Santini nach Koestlers Tod zum Nachfolger zu ernennen. Die kriecherische Presse hatte es seinerzeit als einen »kühnen und beherzten Zug« bejubelt, aber für Praeger war es eine absolute Dummheit, und die Sache steckte ihm seitdem wie ein sehr spitzer Stein im Schuh. Den er unbedingt entfernen musste. »Sie wissen, was ich von Ihrer Entscheidung für Santini gehalten habe. Sein Erfolg beruht nur auf seinem Ruf als unabhängiger Geist. Er wird weit überschätzt. Ehrlich gesagt, glaube ich, er ist seit Vietnam nicht mehr ganz dicht im Kopf. Manchmal macht er einfach …« »Fahren Sie nicht solche Geschütze auf, Joe. Santini war einer Folter ausgesetzt, die sich die wenigsten von uns auch nur vorstellen können, geschweige denn, dass wir sie ertragen könnten.« »Dafür ist er zweifellos zu bewundern, Mr. President. Aber sein Heldenmut gibt ihm nicht das Recht, uns in die Suppe 323
zu spucken – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Er ist eine Belastung für Sie, für Ihre Präsidentschaft.« »Er hat mehr als einmal im Kongress die Kohlen für uns aus dem Feuer geholt.« »Alle Welt vergisst gern, dass ihn die Vietkong im Gefängnis gebrochen haben. Er hat verdammt noch mal ein Geständnis unterschrieben, in dem er bekannte, ein Kriegsverbrecher zu sein. Aber diese ganzen Arschkriecher von Journalisten, die ihm auf den Leim gehen, scheinen praktischerweise an Gedächtnisverlust zu leiden, was das angeht.« »Jetzt aber mal langsam, Joe«, sagte Jefferson. »Alle Welt weiß auch, dass er das Geständnis unter extremer Folter unterschrieben hat, und die Art, wie er es unterschrieben hat, lässt keinen Zweifel daran, dass es nicht freiwillig geschehen ist.« »Ich sage Ihnen, Mr. President, das ist alles nicht ohne Spuren geblieben. Die haben ihn versaut da drüben. Himmel, Sie wissen doch noch, was das FBI bei seiner Sicherheitsüberprüfung gefunden hat. Sie sagten, seine Wohnung sei mit so viel asiatischem Dekor eingerichtet, dass es aussieht wie in einem chinesischen Antiquitätenladen.« »Sehen Sie ihn jetzt auch noch als eine Art Botschafter der Angst? Das reicht, Joe«, sagte Jefferson, hörbar verärgert. »Lassen Sie uns um Himmels willen erst einmal feststellen, was eigentlich passiert ist.« Da Praeger einsah, dass er Jefferson nicht von seiner Haltung abbringen konnte, jedenfalls nicht im Augenblick, nickte er und sammelte die Kopien der Agenturmeldungen ein, die er auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. »In Ordnung, Sir. Aber ich sage Ihnen, Santini ist ein Problem, und früher oder später bringt er uns zu Fall.« 324
Praeger wusste, dass er sich mit dieser Bemerkung auf dünnem Eis bewegte. Er hatte soeben unterstellt, dass sein Schicksal und das Jeffersons ein und dasselbe waren. Er war zwar überzeugt davon, dass Jefferson ohne ihn aufgeschmissen wäre, aber üblicherweise hütete er sich, das so unverfroren zum Ausdruck zu bringen. Jeffersons kalter Blick gab ihm zu verstehen, dass er besser daran täte, im Oval Office künftig sehr viel bescheidener aufzutreten.
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32 Auf dem langen Rückflug nach Washington ließ Santini die Gedanken schweifen, als hinge seine geistige Gesundheit vorübergehend davon ab, dass er nicht ständig die Szenen des CNN-Berichts vor Augen hatte. Die Informationen, die er von General Ellsworth erhalten hatte, waren wertlos. Nur eine vertrauliche Liste aller Stützpunkte in Deutschland einschließlich Grafenwöhr, wo einmal chemische Munition gelagert gewesen war. Grafenwöhr war ein Stützpunkt des Heeres, und es sprach nicht viel dafür, dass dort Behälter mit Sarin gelagert haben sollten, die zum Abwurf aus der Luft bestimmt waren. Allerdings war auch eine kleine Staffel F-16 dort untergebracht, und man konnte es nicht völlig ausschließen. Mit anderen Worten: Niemand wusste genau, ob es auf dem Truppenübungsplatz je Sarin gegeben hatte, ob es entfernt und vernichtet worden war, oder ob es für diese Übung auf den Stützpunkt geschmuggelt wurde. Mit Sicherheit wusste Santini nur, dass das Ganze kein »harmloser« Irrtum gewesen sein konnte. Es handelte sich um Vorsatz, um einen Fall von Massenmord. Aber wer hatte ihn verübt? Und wieso? Sobald Santinis Maschine gelandet war, fuhr Curtis in seiner Limousine vor. Santini sprang hinein, die paar Blätter in der Hand, die Ellsworth gefaxt hatte. Er saß zusammengesunken auf der Rückbank, während Curtis mit Blaulicht und Sirene in Richtung Weißes Haus jagte. Glücklicherweise war Sonntag, so dass er sich nicht durch den Verkehr fädeln musste wie ein Chirurg, der eine zerfranste Wunde näht. Geduld mit Gaunern oder Narren hatte noch nie zu 326
Santinis besonderen Vorzügen gehört, und er war sich nicht sicher, ob er sich beherrschen konnte, falls Praeger vor dem Präsidenten und allen anderen über ihn herfallen sollte. Santini hatte beschlossen, im Amt zu bleiben, weniger aus Respekt für den Präsidenten, als aus Respekt für das Amt des Präsidenten. So begründete er jedenfalls seine Geduld angesichts Praegers fortgesetzter Bemühungen, seine Autorität zu untergraben. Aber das allein war es nicht. Er blieb, weil er befürchtete, der Einzige im Kabinett zu sein, der Jefferson davon abhalten konnte, eine Dummheit zu begehen. Er würde nicht zulassen, dass das Militär zu einer Schachfigur in der Hand von Leuten wurde, die es nach Macht hungerte. Nicht, solange er es verhindern konnte. Als Santini im Weißen Haus eintraf, drängten sich die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats bereits im Lageraum. Wenngleich er dem Rat satzungsgemäß nicht angehörte, nahm Justizminister Gregory Fairbanks auf Einladung Praegers für gewöhnlich an den Sitzungen teil. Wie üblich hatte Fairbanks einen Schreibblock vor sich liegen. Er machte sich ständig Notizen. Santini wusste nie recht, ob er eine Anklage vorbereitete oder einen Bericht schrieb. Neben ihm saß William McConnell. Auch er war kein offizielles Mitglied des Sicherheitsrats, aber möglicherweise hatte er Informationen über einen Zusammenhang zwischen dem Gasangriff in Deutschland und dem Vorfall in Holloman. Außenminister Douglas Palmer unterhielt sich angeregt mit CIA-Direktor Pelky. Selbst Vizepräsident Dan Moxley hatte man heute offenbar von der Kondolenztour abgezogen. Er tauchte sonst häufiger in der Washingtoner Oper und bei gesellschaftlichen Anlässen auf als im Sicherheitsrat. Santini sah sich weiter im Raum um, während er seinen Platz am Konferenztisch einnahm. Luftwaffengeneral 327
George Whittier, der Chef des Generalstabs, zog den Kopf unter dem niedrigen Türsturz ein, als er direkt vor Joe Praeger den Raum betrat. Anspannung hing wie ein schlechter Geruch in der Luft, aber diese Wirkung hatte Praegers Anwesenheit meistens. Anders als angekündigt, nahm der Präsident nicht an der Sitzung teil. »Also gut«, murmelte Praeger, »fangen wir an. Inzwischen wissen alle hier, dass wir vor rund zehn Stunden etwas begangen haben, was man mit Sicherheit als Terrorakt bezeichnen wird. Mehr als dreihundert Deutsche sind tot.« Praeger machte eine dramatische Pause, was aber nur wie eine überflüssige Affektiertheit wirkte. »Vergiftet von einem Piloten der Vereinigten Staaten«, fuhr er fort und blickte Santini anklagend an. »Das ist eine internationale Krise gewaltigen Ausmaßes. Es könnte der Tropfen sein, der das NATO-Fass zum Überlaufen bringt, und dazu führen, dass sich auch noch unsere allerletzten Freunde gegen uns wenden.« Preager war gewaltigem Druck ausgesetzt, und er wollte, dass alle Anwesenden ihn zu spüren bekamen. »Das Ganze ist außerdem ein Rückschlag in unserem Krieg gegen den Terrorismus.« Santini wartete, dass die Schimpfkanonade zu Ende ging. Er sah General Whittier an, der gelassen blieb. Beide Männer wussten, dass Schweigen Praeger mehr auf die Palme brachte, als jeder Versuch, ihn zu widerlegen. Schließlich wandte sich Praeger an Santini und sagte: »Minister Santini, wären Sie so freundlich, uns zu erklären, wie es eigentlich zu diesem Desaster kam?« »Sie wissen, dass ich die Antworten noch nicht kenne«, erwiderte Santini, und seine unheilvoll leise Stimme war eine Warnung an Praeger, sich nicht mit ihm anzulegen. 328
»Offenkundig gab es eine ernste Verletzung der Sicherheitsvorschriften auf einem unserer Stützpunkte in Europa. Wir sind immer noch dabei zu ermitteln, wo die Munition an Bord des Flugzeugs gelagert war und wo sie geladen wurde. Diese Information sollten wir in Kürze haben. Im Moment läuft eine umfangreiche Untersuchung, um festzustellen, wie viele Personen Zugang zu Nervengasvorräten besaßen und die Erlaubnis hatten, unsere Maschinen zu entladen. Übungen dieser Art werden mindestens ein Jahr im Voraus geplant. Wer immer also für diese Tat verantwortlich ist, hatte wahrscheinlich sehr viel Zeit, seine Spuren zu verwischen.« »Was denken Sie eigentlich, wie viel Zeit wir haben?«, fragte Praeger. »Überall in Deutschland brechen Unruhen aus. Skinheads schlagen die Fensterscheiben amerikanischer Firmen ein und werfen Molotowcocktails auf Militärangestellte und ihre Familien.« »Joe«, unterbrach General Whittier, »ich habe Befehl gegeben, dass alle unsere Truppen samt ihren Angehörigen in den Stützpunkten bleiben. Wer außerhalb wohnt, wurde angewiesen, sich umgehend in einen Stützpunkt zu begeben. Wir können die Leute dort notdürftig unterbringen.« »Alles schön und gut, General, aber wir können sie nicht ewig in Quarantäne halten. Wir brauchen ein paar Antworten, und zwar schnell. Der Präsident muss heute Abend eine Erklärung abgeben. Er muss den Deutschen und dem amerikanischen Volk mehr zu sagen haben als: ›Wir untersuchen die Angelegenheit.‹« Aus Praegers Stimme tropfte Sarkasmus wie Salzsäure. »Ich habe Justizminister Fairbanks gebeten«, fuhr er fort, »unsere internationalen Abkommen zu prüfen und eine Gesetzesvorlage zur Bewilligung von Notfallmitteln zu entwerfen. Wir müssen die Opfer dieser fürchterlichen 329
Fehlleistung entschädigen, und zwar schnell. Wir können nicht warten, bis das Militär eine Untersuchung durchgeführt hat, um die Schuldfrage zu klären, und wir können auf keinen Fall darauf bestehen, unter Berufung auf unser Truppenstationierungsabkommen unsere finanzielle Haftung zu beschränken.« Praeger schaute trotzig in die Runde. »Irgendwelche Einwände?« »Ich habe jede Menge Einwände«, rief Santini. »Wir brauchen Zeit, um herauszufinden, wie die Sache genau passiert ist. Wir wissen noch nicht einmal, ob die Deutschen vielleicht irgendwie schuld waren.« »Das darf doch wohl nicht wahr sein! Sie wollen den Opfern die Schuld geben? Ist das Ihre Bitte an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, ja? Soll er eine Pressekonferenz einberufen und den armen Teufeln, denen es die Lungen verbrannt hat, die Schuld daran in die Schuhe schieben?« »Verdammt noch mal«, rief Santini, »drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um. Sie wissen genau, was ich gemeint habe. Wir brauchen mehr Zeit.« »Wir haben keine Zeit.« »Und es kümmert Sie überhaupt nicht, dass Sie damit einen Präzedenzfall schaffen?«, erwiderte Santini und senkte die Stimme. »Dann wird von nun an also jedes Mal, wenn unschuldige Menschen infolge einer militärischen Operation – oder wie in diesem Fall, eines terroristischen Akts – getötet oder verwundet werden, die US-Regierung zur Stelle sein und zahlen? Verabschieden Sie sich schon mal von jedem Kongresshaushalt. Von nun an wird zur Jagd auf Uncle Sam geblasen.« »Der Präsident hat bereits entschieden. Um morgen kümmern wir uns morgen.« Praeger schob seinen Stuhl zurück, das vertraute Signal, dass die Sitzung zu Ende war. 330
Schon halb aus der Tür, drehte er sich noch einmal um und sah Santini an. »Ich vergaß zu erwähnen, dass der Präsident und ich morgen mit der Air Force One nach Deutschland fliegen. Der Gedenkgottesdienst für die Toten von Grafenwöhr findet am Freitag statt. Der Präsident beabsichtigt, bei der Feier zu sprechen, sich im Namen des amerikanischen Volkes zu entschuldigen und den Deutschen unsere Entscheidung bekannt zu geben, alle Familien zu entschädigen. Ich werde dem Präsidenten sagen, dass er dabei die volle Unterstützung seines Teams hat.« »Joe«, entgegnete Santini, ohne die Augen von dem Mann zu nehmen, den er verachtete, »ich möchte mit dem Präsidenten reden.« »Das trifft sich ausgezeichnet«, sagte Praeger und klappte seinen Kalender zu, »zufällig will der Präsident auch mit Ihnen reden.« Santini stieg rasch die hintere Treppe im Westflügel hinauf, durchquerte den Hauptempfangsraum und betrat den schmalen Gang, der zum Oval Office führte. Er grüßte die beiden Wächter am Gästeeingang und schlüpfte in das Büro von Barbara Curran, der Sekretärin des Präsidenten, die eifrig dabei war, der Lawine der persönlichen Korrespondenz und offiziellen Geschenke Herr zu werden, die sich jeden Tag ins Weiße Haus wälzte. »Guten Tag, Mr. Secretary«, sagte sie freundlich. »Bitte nehmen Sie Platz. Der Präsident wird in Kürze für Sie Zeit haben.« Augenblicke später, während Santini die New York Times und das Wall Street Journal durchblätterte, griff sie zum Hörer und verkündete Santinis Ankunft. Dann bedeutete sie ihm mit einem Kopfnicken, durch die rückwärtige Tür des Oval Office einzutreten. »Der 331
Präsident wird Sie jetzt empfangen.« Als Santini den Raum betrat, der ihm jedes Mal allzu winzig erschien angesichts der Macht, die in ihm ausgeübt wurde, sah er als Erstes Joe Praeger. »Mr. President«, sagte Santini, »falls Sie nichts dagegen haben, würde ich dieses Gespräch lieber unter vier Augen führen.« Jefferson sah Praeger an, dessen Kiefernmuskeln sichtbar zuckten. Der Präsident ignorierte Praegers feindseligen Blick. »Einverstanden. Ich glaube, wir kommen allein klar«, sagte er und fuhr an Praeger gewandt fort: »Es dauert nicht lange, Joe.« Praeger nickte, griff nach seinem ledergebundenen Notizbuch und steuerte die Nordseite des Raums an. Fügsamkeit vorgebend, erklärte er beim Hinausgehen: »In Ordnung, Sir. Ich warte draußen in Barbaras Büro.« Als sich die Tür schloss, wies Jefferson Santini einen Platz auf der Couch an, die im rechten Winkel zum Sessel des Präsidenten vor dem Kamin stand. Es war ungewöhnlich warm für März, aber Jefferson hörte so gern die Ahornscheite im Kamin knistern. »Michael«, begann der Präsident etwas zögernd. Die beiden Männer hatten erst relativ wenig Zeit allein miteinander verbracht. Normalerweise war der Präsident immer von mehreren wichtigen Beratern umgeben, sei es im Oval Office, in seinen Privatgemächern im Weißen Haus oder auf dem Landsitz Camp David in den Catocin Mountains. Auch wenn sich Jefferson herzlich gab, hatte der Moment eine gewisse Peinlichkeit. Santini war überrascht, dass der Präsident eher entschuldigend als zornig klang. »Ich weiß, die letzten Wochen waren hart für Sie und ihre Leute drüben im Pentagon. Was die Sache in Deutschland angeht – mir ist natürlich klar, dass Sie auf 332
das, was geschehen ist, im Grunde keine Einflussmöglichkeit hatten, nicht mehr als ich. Aber ich will ehrlich zu Ihnen sein, Michael. Ich höre in letzter Zeit eine Menge Gerede. Meist kleinliches Zeug, nichts Bewegendes.« »Zum Beispiel?« »Nun ja, dass Ihr Führungsstil … wie soll ich sagen … zu locker ist. Dass Sie nicht genügend durchgreifen. Noch bleibt nichts hängen, aber Sie wissen, wie diese Stadt funktioniert.« Allerdings. Santini wusste, wie Praeger tickte. Er hatte dem Pressekorps des Weißen Hauses diese Richtung fast mit dem Tag vorgegeben, an dem Santini seinen Amtseid ablegte. »Glauben Sie, dass ich dem Job nicht gewachsen bin, Mr. President?« »Nein, um Gottes willen. Ich habe Sie schließlich ernannt, weil ich überzeugt bin, dass Sie der richtige Mann dafür sind. Es ist nur so …« Santini konnte die leeren Stellen ausfüllen. Es ist nur so, wenn Sie die Sache nicht im Griff haben, bedeutet das, ich habe sie nicht im Griff, und dann wird das Gerede zu einem Geschützfeuer, das auf mich zielt. »Wegen der Sache, die in Grafenwöhr passiert ist?« »Holloman war ein Nagel«, sagte Jefferson. »Grafenwöhr wächst sich zu einem Sarg aus. Ich brauche ein paar harte Fakten, was um alles in der Welt da gestern passiert ist. Die Deutschen sind ausgerastet wegen der Geschichte, und das zu Recht. Für sie steht dieser Unfall in einer Reihe mit dem 11. September.« »Es war kein Unfall«, sagte Santini rundheraus. »Es war Sabotage.« »Aber Joe sagt, Sie wüssten nicht, was passiert ist, und hätten keine Erklärung.« 333
»Ich habe Joe mitgeteilt, dass ich noch keine Fakten kenne. Ich weiß nicht, wie das Sarin an Bord unseres Flugzeugs kam, ich weiß nicht, durch wen, wo oder wann. Aber es steht außer Frage, dass es sich um einen neuerlichen Terrorakt handelt, genau wie in Holloman.« »Wollen Sie behaupten, die Milizen sind jetzt in Deutschland tätig?« Jefferson fand den Gedanken erkennbar unglaubwürdig. »Nein, Sir. Und ich glaube auch nicht, dass die Milizen wirklich hinter Holloman stecken. Sie waren Mittel zum Zweck, bloße Marionetten, aber die Fäden zog jemand von einem ganz anderen Kaliber.« »Was soll das heißen?« »Ich muss Ihnen etwas anvertrauen, Sir, und Sie bitten, es niemandem weiterzusagen. Auch nicht Praeger.« »Muss ja ziemlich wichtig sein«, erwiderte Jefferson, ohne sich zu verpflichten, es vertraulich zu behandeln. »Ich arbeite eng mit den deutschen Geheimdienstleuten zusammen, und wir sind den Individuen oder Gruppen, die hinter all dem stecken, auf der Spur«, sagte Santini. Er wollte Jefferson ursprünglich erzählen, dass es möglicherweise eine Verbindung nach China gab. Aber wenn Praeger davon erfuhr, wäre das nur Wasser auf seine Mühlen. Er suchte ohnehin nur nach Vorwänden, China zum unversöhnlichen Feind der Vereinigten Staaten zu stempeln. Das mochte durchaus der Fall sein. Aber Santini weigerte sich, China zu beschuldigen, ehe er alle Fakten kannte. Deshalb erwähnte er nur eine mögliche Verbindung ins Ausland. »Sie haben die CIA nicht davon in Kenntnis gesetzt?«, fragte der Präsident und runzelte leicht die Stirn. »Das FBI? Den Heimatschutz? Das sind diejenigen, an die sie alles weitergeben müssen, was Sie haben, Michael. Sie 334
können bei dieser Sache nicht den einsamen Helden spielen.« Diesen Vorwurf kannte er schon. Es war Praegers Lieblingsstichelei. Santini ist ein Einzelgänger, kein Teamspieler. In Praegers Mannschaft spielte er tatsächlich nicht, so viel stand fest. Und er war sich auch nicht ganz sicher, ob er weiter in der von Jefferson mitmachen wollte. Er hatte den Mann gewählt und war begeistert von ihm gewesen, so wie er ihn aus der Ferne wahrgenommen hatte. Aber je mehr er von ihm sah, desto mehr missfiel ihm. Jefferson wurde genauso wie viele seiner Vorgänger. Es entmutigte Santini. Vielleicht hatte er die ganze Zeit gewusst, dass es so kommen würde. Jeder Präsident versucht, ein Bild von Stärke, moralischer Überzeugung und Kompetenz zu vermitteln. Die Menschen in Amerika möchten unbedingt daran glauben, dass der Mann ihrer Wahl diese Eigenschaften immer widerspiegelt. Das ist allzu oft eine falsche Hoffnung. Bradford Jefferson war da keine Ausnahme. Er wirkte zwar, als würde er seiner Rolle gerecht, keine Frage. Und am Anfang stand er für einen Führungsstil, der die Fantasie der Leute beflügelte. Aber mit der Zeit höhlte es ihn aus, dass er zu vielen Gruppen zu viele Versprechen machen musste. Versprechen, von denen er wusste, dass er sie nicht halten konnte. Und so geriet er unter die Kontrolle seines Stabes, seiner wichtigsten Berater und Imagepfleger, leicht zu beeinflussen von jenen, die seine Eitelkeit ansprachen und seinen verzweifelten Wunsch, nicht von den Massen zurückgewiesen zu werden, die er einst so geblendet und getäuscht hatte. »Nein, Sir. Ich bin noch nicht so weit, meine Informationen mitzuteilen. Ich rechne damit, dass wir in rund einer Woche etwas Handfestes zu berichten haben.« »So viel Zeit habe ich nicht«, sagte Jefferson 335
kopfschüttelnd und erhob sich, um anzuzeigen, dass die Unterhaltung zu Ende war. »Ich breche bald nach Deutschland auf, um am Gedenkgottesdienst für die Opfer teilzunehmen. Das wird uns hoffentlich etwas Zeit verschaffen, weil es Amerikas Anteilnahme für … für das, was wir ihnen angetan haben, demonstriert. Anschließend plane ich eine Rundreise durch ein halbes Dutzend anderer europäischer Staaten, um die Wogen zu glätten. Aber ich muss Ihnen sagen, Sie spielen mit dem Feuer, wenn Sie in dieser Sache eigenmächtig handeln. Ich werde abwarten, bis ich wieder in Washington bin. Aber wenn Sie dann nichts vorzuweisen haben … nun, dann werden wir beide ein anderes Gespräch führen müssen.« »Da wäre noch etwas, Mr. President. Wenn ich recht verstehe, wollen Sie den Deutschen Entschädigungszahlungen anbieten. Bei allem Respekt, Sir, das wird …« »Michael«, unterbrach ihn der Präsident abrupt. »Ich finde es unglaublich, dass Sie sich angesichts dieser Katastrophe über Geld Gedanken machen. Diese Frage ist bereits entschieden. In dem Gespräch, das ich meine, geht es um etwas ganz anderes.«
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33 An diesem strahlenden Morgen, da der nahende Frühling das Waldgebiet rund um das Hauptquartier der CIA in Langley grün färbte, saß Jack Pelky in seinem Büro im siebten Stock und segnete einen gemeinsamen Bericht der Geheimdienste für den Kongress ab. »Das Sicherheitsumfeld, in dem wir leben, ist dynamisch und unklar, voller drohender Gefahren und Herausforderungen, die das Potenzial haben, sich noch tödlicher zu entwickeln … Um den Herausforderungen dieser zunehmend gefährlichen und komplexen Welt begegnen zu können, verlangen unsere Kunden rechtzeitigere, genauere und …« Er fragte sich, wie lange es sich die CIA wohl noch leisten konnte, dieses ewig gleiche Gefasel von sich zu geben. Gnädigerweise läutete sein Telefon, das Display zeigte ihm an, dass es Santini war. »Wie stehen die Chancen auf ein Tennismatch?« »Du rettest mich vor dem Tod durch Langeweile. Gib mir eine Stunde.« Pelky wies seine Assistentin an, die Sicherheitsleute zu mobilisieren. Seine Leibwächter waren plötzliche, nicht eingeplante Ausflüge mit dem Direktor gewöhnt; regelmäßige Abläufe lockten nur Attentäter an. Es war also nicht ungewöhnlich, dass er überraschend wegfuhr, vor allem nicht, wenn es zum Capitol Hill ging. Und da der Kongress gerade in den Ferien weilte, war den Sicherheitsleuten klar, dass Pelky nicht zum Büro eines Abgeordneten oder Senators fahren würde, sondern zu einem Ort zwischen dem Hart Building und dem Dirksen Building. Dort lag eine wenig bekannte Hallentennisanlage mit einer exklusiven Klientel: Mitglieder des US-Senats und ein paar Ex337
Senatoren. Selbst während der Sitzungsperiode des Senats wurden die Plätze selten genutzt. Santini traf als Erster ein. Drei Minuten später rollte ein blauer Chrysler langsam durch die Second Street, um die Lage zu peilen. Santinis Fahrer winkte den grimmig blickenden Männern im Chrysler. Sie grüßten nicht zurück. Pelkys Limousine und der schwarze Verfolgungswagen hielten auf der anderen Straßenseite. Die Sicherheitsleute hatten Anweisung, draußen zu bleiben und dieses Treffen nicht in ein eventuelles Tagesprotokoll mit aufzunehmen. Santini führte Pelky zur Tür der Tennisanlage und schloss auf. Er schob ihn hinein und schaltete eine Batterie von Deckenlichtern an. Pelky stellte zwei Stühle näher zusammen. Santini hatte oft hier Tennis gespielt, aber er hatte Pelky noch nie zu einem Spiel eingeladen. Der große, schlaksige Geheimdienstdirektor war ein überdurchschnittlicher Spieler. Zwar kein Arthur Ashe, aber er war immerhin Kapitän des Tennisteams im Dartmouth College gewesen. Die beiden kamen sofort zur Sache. »Praeger war gestern ziemlich grob.« »Joe ist ein Arschloch, das ist nicht Neues«, sagte Santini wegwerfend. »Ich brauche bei dieser Geschichte wirklich deine Hilfe, Jack. Dreh alle Hähne auf. Was deine Leute haben, gereinigt oder nicht.« Pelky nickte. »Okay. Die Leitungen sind alle offen. Ich komme direkt zu dir, du kriegst alles ungefiltert.« »Sehr gut. Was ist mit dieser anderen Sache, wegen der ich dich angerufen habe. Hast du etwas über Li Kangshen herausgefunden?« »Ich dachte ja eigentlich, die DIA hätte dir alles über ihn 338
erzählt«, erwiderte Pelky mit einem süßsauren Lächeln. »Bitte, Jack, es geht um eine persönliche Angelegenheit.« Santini erzählte ihm von dem Albtraum. »Ich habe Wu – meinen Berichterstatter – gebeten, Nachforschungen anzustellen. Nichts. Und dann hat er es an deinen Laden weitergegeben. Als ich das hörte, habe ich dich angerufen. Ich wollte nicht, dass die Sache außer Kontrolle gerät.« »Unsere Informationen aus der Zeit, als du in Vietnam warst, sind lückenhaft; vieles davon ist längst im Reißwolf gelandet. Aber ich habe einen verdammt guten Mann durchsehen lassen, was wir über Li haben, und ihn gefragt, ob es irgendwelche Hinweise darauf gibt, dass er als Berater in Nordvietnam war. Er fand heraus, dass Li bei den Roten Garden war und als übler Typ galt, und das selbst nach ihren Maßstäben. Folter hat ihm Spaß gemacht. Mein Mitarbeiter glaubt, dass die schlimmsten Rotgardisten zum Abkühlen ins Ausland geschickt wurden – hauptsächlich nach Nordvietnam.« »Das engt die Sache ein«, sagte Santini. »Aber es beweist nicht, dass Li der Mann war, den ich gehört habe. Ich erinnere mich an eine Stimme, die Englisch mit starkem Akzent gesprochen hat.« »Richtig, und wie es der Zufall will, haben wir einen Überläufer der Volksbefreiungsarmee – einen ehemaligen Oberst – der sich sein Geld damit verdient, uns Hintergrundinformationen über die wichtigen Figuren der VBA zu liefern. Wir haben konkret nach Lis sprachlichen Fähigkeiten gefragt. Der Oberst sagt, er habe gehört, dass man Li beinahe aus den Roten Garden geworfen hätte, weil er versucht hatte, nachts heimlich in einer Selbsthilfeschule in Peking ein wenig Englisch zu lernen. Er war kein besonders guter Schüler. Hat sich nur ein paar Worte angeeignet, nichts Brauchbares. Seine Lehrerin war eine junge Frau, die er später denunziert hat. Der Oberst 339
meint, er hat sich deshalb übler aufgeführt als ein durchschnittlicher Rotgardist, weil er glaubte, wettmachen zu müssen, dass er ein bisschen Englisch konnte.« »Bingo!«, rief Santini. »Das ist noch nicht alles«, fuhr Pelky fort. »Zunächst einmal gehörte Li Kangshen – in Zivilklamotten und unter falschem Namen – zu einer chinesischen Delegation, die Kuba letztes Jahr einen Freundschaftsbesuch abgestattet hat. Wir wissen das, weil er auch in Lourdes war, früher einmal die größte Funkabfangstation der Sowjets außerhalb der UdSSR. Wir haben immer noch ein Auge auf Lourdes.« »Aber haben die Russen nicht zugesagt, die Anlage zu schließen?« »Eigentlich schon, aber du weißt ja, wie solche Dinge laufen. Kuba hat ein bisschen mit China geturtelt und angedeutet, dass China die Basis gegen Bezahlung übernehmen könnte. Es gibt immer noch ein paar russische Hausmeister dort, die den Chinesen alle Tricks beibringen.« »Dann wäre es also für jemanden in Lis Position nicht außergewöhnlich, an einem Inspektionsbesuch teilzunehmen?« »Richtig. Aber was uns interessierte, war, dass Li, nur von einem Dolmetscher begleitet, das offizielle Gästehaus verlassen hat, in dem die chinesische Delegation wohnte. ›Rausgeschlichen‹ sagte unser Mann in Havanna. Er wurde von einem Auto abgeholt, das ihn zum Hemingway-Yachthafen brachte. Dort ging er zu einem Treffen an Bord einer auf den Bermudas registrierten Yacht.« »Mit wem hat er sich getroffen?« »Das wissen wir nicht.« Santini blickte nach oben zur Decke und dann nach unten auf seine Füße. Es war seine Art, mit seiner Verärgerung 340
umzugehen, weil Pelky offensichtlich Informationen zurückhielt. Die DIA war unter Santinis Vorgänger in hohem Maß konkurrenzfähig geworden, und die CIA rückte noch immer nicht gern Informationen ans Pentagon heraus, trotz der besonderen Beziehung, die eigentlich zwischen Santini und Pelky bestand. »Ich habe noch mit keinem anderen Menschen darüber gesprochen, Jack, aber es gibt Hinweise auf eine mögliche chinesische Verbindung zu allen Vorfällen der letzten Zeit.« »Die Chinesen?«, fragte Pelky ungläubig. »Du weißt, dass man einen BND-Mann mit zwei Kugeln vom Kaliber 22 im Kopf in Berlin gefunden hat. Bei meinem Aufenthalt in München habe ich erfahren, dass er gerade aus dem Nordwesten Chinas zurückgekehrt war und behauptet hatte, die Chinesen wüssten etwas über Holloman.« »Und?« »Er kam nicht mehr dazu, genauer Auskunft zu geben.« Pelkys Augen verrieten, dass er in Gedanken bereits vorausjagte und jede hypothetische Verbindung prüfte, die Peking zu den jüngsten Angriffen haben konnte. »Wer weiß noch davon?«, fragte er. »Meines Wissens niemand«, erwiderte Santini. »Ich habe dem Präsidenten erzählt, dass wahrscheinlich Kräfte von außerhalb der Miliz im Spiel waren. Ich habe angedeutet, sie könnten ausländischen Ursprungs sein, aber mehr nicht.« »Ich möchte dir noch eine Frage stellen. Wie viel weißt du über Arthur Wu?« Pelky gab nicht zu erkennen, dass er das Thema gewechselt hätte. »Auf Sicherheitsrisiken für alle Geheimhaltungsstufen 341
überprüft. Er ist ein bisschen sonderbar, irgendwie aufdringlich. Wieso?« »Das ist jetzt sehr heikel. Die NSA holt aus abgefangenen Funksprüchen nicht so viel Informationen über China heraus, wie wir gern hätten, aber diese eine Botschaft haben sie aufgeschnappt. Sie kam von einem Handy in Peking und enthielt eines jener Schlüsselwörter, die die Rekorder der NSA aktivieren. Es war das chinesische Wort für ›streng geheim‹. Im Gegensatz zu uns werfen die Chinesen mit dem Begriff nicht um sich. Wenn die NSA es also auffängt, schneidet sie mit, so viel sie kann. Man benutzt ›streng geheim‹ nicht am Handy, es sei denn, man ist völlig außer Fassung oder sehr sorglos. Die NSA hat nur ein paar Fetzen mitgekriegt, aber dein Name kam laut und deutlich darin vor.« »Na und? Was hat das mit Wu zu tun? Ihr CIA-Leute versucht ständig, die DIA herumzuschubsen. Mir fallen auf Anhieb ein Dutzend Gründe ein, warum mein Name und ›streng geheim‹ in einem Telefongespräch in Peking vorkommen könnten.« »Aber der Gesprächspartner befand sich in den Vereinigten Staaten, Michael.« Pelky zog seinen Stuhl näher zu Santini. »Die NSA hat ihn vorsichtig im nördlichen Virginia lokalisiert, innerhalb eines DreiMeilen-Kreises, der das Pentagon mit einschließt.« »Und Langley schließt dieser magische Kreis rein zufällig knapp aus, ja?« »Schon gut, Michael, sei ruhig skeptisch. Ich frage mich trotzdem, ob du Wu nicht vorsichtshalber vom FBI überwachen lassen solltest.« »Darf ich dich etwas fragen, Jack? Hat Praeger dich zu diesem Vorschlag angestiftet?« »Du weißt, ich lasse mich weder von ihm noch von sonst 342
jemandem bevormunden«, sagte Pelky mit Nachdruck, aber eine Spur zu defensiv für Santinis Geschmack. »Reiche ein offizielles Ersuchen ein, Jack, und ich komme ihm gern nach.« »Es geht mir nicht um ein offizielles Ersuchen, Michael. Ich wollte dich nur freundschaftlich warnen.«
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34 Santini saß an seinem Schreibtisch und ließ sich die Warnung durch den Kopf gehen. Erst Praeger, jetzt Pelky. Vielleicht hatten sie Recht. Wie oft musste sich das Pentagon die Finger verbrennen, ehe es in den Spiegel schaute und den Feind darin erblickte. Wenn Genie darin bestand, das Offenkundige zu erkennen, dann waren sie die reinsten Trottel. Chinesen in den Forschungslaboren. Islamische Konvertiten als Berater der Gefangenen in Guantanamo Bay auf Kuba … Kein Wunder, dass sie als Hanswurste gebrandmarkt wurden. Dennoch musste er vorsichtig bleiben. Die Erfolgsrate des FBI war nicht gerade rekordverdächtig. Jemanden mit dem Etikett »verdächtig« oder »von Interesse« zu versehen reichte bereits aus, den Ruf des armen Teufels für alle Zeiten zu ruinieren. Das nachfolgende Eingeständnis der Regierung, sich geirrt zu haben, konnte – selbst wenn es von einer Entschädigungsvereinbarung begleitet wurde – den angerichteten Schaden niemals wettmachen. Der Verdacht blieb wie ein schlechter Geruch haften. Er selbst hatte ja vom ersten Tag an seine Zweifel an Arthur Wu gehabt. Aber war es nicht ethnischer McCarthyismus, einen Amerikaner chinesischer Abstammung der Spionage zu verdächtigen? Santini erinnerte sich an das Debakel mit der Verdächtigung eines chinesischstämmigen Physikers, der an der Entwicklung atomarer Gefechtsköpfe mitgearbeitet hatte. Er wollte nicht, dass dasselbe im Pentagon passierte. Er rief O’Neill herein und erzählte ihm von seinen Unterredungen mit Christoph Stiller und Jack Pelky. 344
Santini war inzwischen überzeugt, dass eine chinesische Verbindung zu Holloman und Grafenwöhr existierte. »China?«, sagte O’Neill und schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte China die Deutschen und uns mit einem Terrorakt wütend machen wollen? Das passt nicht im Geringsten zu der Art, wie China vorgeht.« »Und was, wenn es eine Gruppe von Schurken in China gibt? Wenn das Ganze keine offizielle Operation war, sondern abseits der Regierungslinie stattfand? Ich kann nämlich nicht glauben, dass Xu nach Washington kommt, mir in die Augen sieht und diese Dinge geschehen lässt. Er steht für ein Land, das sich ehrlich eine solide Beziehung zu den Vereinigten Staaten wünscht. Es muss sich um eine Schurkengruppe handeln, wahrscheinlich verärgerte Offiziere aus den Reihen der VBA, die einen Putsch planen.« »Dafür haben wir keine Beweise. Und wir haben keine Möglichkeit, welche zu finden. Das ist Sache der CIA«, sagte O’Neill. Santini griff zu einer Kanne und schenkte O’Neill Kaffee ein. »Ich möchte, dass wir so geräuschlos wie möglich einen Blick auf China werfen.« »Meinen Sie mit ›uns‹ die DIA?« »Ja, aber bevor wir den militärischen Geheimdienst ins Spiel bringen, müssen Sie noch eine kleine verdeckte Operation für mich durchführen.« »Im Geheimauftrag Ihrer Majestät?«, sagte O’Neill. »Mit Liebesgrüßen nach Peking?« »Nichts ganz so Aufregendes. Aber Sie müssen vorsichtig zu Werke gehen.« »Schießen Sie los.« »Arthur Wu.« »Sir? Ich kann Ihnen nicht folgen.« O’Neill runzelte die 345
Stirn. »Ich habe ein ungutes Gefühl wegen ihm. Ich kann nicht beschreiben, wie es dazu kam, aber irgendetwas stimmt einfach nicht mehr, seit er hier aufgetaucht ist.« Als Santini O’Neills skeptischen Blick sah, fügte er an: »Ich weiß, was Sie denken. Es ist keine Frage der Rasse, das wissen Sie genau. Irgendwo hier gibt es eine undichte Stelle. Jemand von außerhalb scheint Zugang zu Vorgängen in diesem Büro zu haben. Ich bin überzeugt, die Mörder Koestlers hatten Hilfe aus dem Pentagon.« »Und Sie glauben, es ist Arthur?« O’Neill schüttelte ungläubig den Kopf. »Der war damals noch gar nicht hier.« »Ich weiß. Aber ich muss mehr über ihn wissen. Er könnte ein Schläfer sein, den man aktiviert hat. Joe Praeger versucht sich schon länger als Brunnenvergifter in Sachen Wu. Jetzt wirft auch Jack Pelky Fragen über ihn auf. Ich möchte, dass Sie seine Personalakte noch einmal durchgehen. Konzentrieren Sie sich auf Aspekte des Lebensstandards. Spielt er den Playboy? Kauft er teure Geschenke? Lebt er über seine Verhältnisse? Was so dazugehört.« »Und ich darf keine Fingerabdrücke hinterlassen, richtig?« »Genau.« »Kein Problem, Mr. Secretary«, sagte O’Neill und machte sich auf den Weg zur Tür. »Ich glaube allerdings, dass Sie sich irren. Ich habe Wus Dossier gründlich durchgesehen, bevor er zu Ihrem Berichterstatter ernannt wurde. Aber Sie sind der Boss. Es sollte nicht lange dauern.« O’Neill hielt Wort. Eine halbe Stunde später erschien er wieder bei Santini und händigte ihm Wus Personalakte und Selbstauskünfte aus. Santini überflog die Unterlagen rasch. 346
»Vater Maschinenbauingenieur im Ruhestand, der für die Atlantic Richfeld Company (ARCO) als Berater gearbeitet hat … die Mutter hat an der University of California in Los Angeles Chinesisch unterrichtet … schulische Leistungen herausragend … Musterschüler von der ersten Klasse bis zum letzten Semester … Sechs Jahre bei der Army, und in dieser Zeit zwei Diplome gemacht … Finanzen anscheinend in Ordnung. Hatte ein Darlehen über achtzigtausend Dollar für eine Eigentumswohnung in Arlington laufen … Besaß einen 87er Chevrolet und einen neuen Cadillac Escalade …« Santini hörte auf zu lesen. Da stimmte etwas nicht. »Eine Frage, Scott«, sagte er und drehte sich zu O’Neill um. »Wie viel legt man für einen Escalade mit allem Drum und Dran hin?« O’Neill schürzte die Lippen und sah zur Decke. »Mit allem Drum und Dran? Grob geschätzt fünfzig- bis dreiundfünfzigtausend Dollar.« »Wie kann sich ein Captain der Reserve so ein Auto leisten? Wu führt kein Darlehen dafür auf.« Peinlich berührt, weil ihm selbst dieser Sachverhalt entgangen war, antwortete O’Neill: »Gute Frage, Sir. Vielleicht hat er es nur vergessen.« »Möglich«, sagte Santini und gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen. Wu war zu gewissenhaft, als dass er vergessen hätte, eine finanzielle Verbindlichkeit aufzuführen. »Auch möglich, dass er bar bezahlt hat.« O’Neill musste es einräumen. »Okay, Scott, das ist auf jeden Fall hilfreich. Danke.« Santinis Tonfall drückte genau aus, was er in diesem Moment fühlte. Er war enttäuscht, dass die fehlende Angabe entweder übersehen oder nicht beachtet worden war. »Ich kümmere mich von nun an selbst um die Angelegenheit.« 347
Santinis Mutter Claire zitierte gern den Bibelspruch, wonach die Liebe zum Geld die Wurzel allen Übels sei. Sein Vater Salvatore, der zwölf Stunden am Tag in seinem kleinen Restaurant schuftete, pflegte anzumerken: »Es wäre trotzdem nett, ein bisschen mehr davon zu haben.« Die meisten Leute wollten mehr. Und einigen machte es nichts aus, ihr Land zu verraten, um mehr zu bekommen. Santini würde einen persönlichen Besuch machen, um festzustellen, ob Arthur Wu zu diesen Leuten gehörte.
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35 Die Capitol Trust Company war in einem niedrigen Steinbau an der Pennsylvania Avenue untergebracht, nur drei Blocks von Santinis Wohnanlage entfernt. Sie war seit weit über hundert Jahren im Geschäft, eine wahre Institution in Washington. Santini hatte Curtis angewiesen, ihn vor der Bank abzusetzen, anstatt bei seiner Wohnung. Er sagte, er würde nach seinem Termin zu Fuß nach Hause gehen. Curtis, der es nie gern sah, wenn Santini zu Fuß irgendwohin ging, bestand darauf, in der gepanzerten Limousine zu warten und ihn die drei Blocks zu chauffieren. Es war ein ständiger Reibungspunkt zwischen ihnen. »Schauen Sie, Curtis«, argumentierte Santini, »es gibt keinen sicheren Ort. Jeder Verrückte kann mich auf kurze oder lange Distanz abknallen.« »Das stimmt.« Curtis klopfte an die getönten Panzerglasscheiben der Limousine. »Die retten ihnen nicht unbedingt das Leben. Aber sie verhindern, dass jemand Sie entführt und foltert.« Santini wusste, das Curtis Recht hatte. Dennoch wollte er auf keinen Fall völlig in einem Kokon leben. Er würde zu Fuß gehen, zum Teufel mit den Terroristen. Curtis gab nach. Immerhin war Santini der Boss. Außerdem wusste er, dass ihn sein Bewachungstrupp beschatten würde, und das nicht allzu diskret. Santini betrat die Bank und wurde umgehend von Robert Fitzgerald, dem leitenden Vizepräsidenten von Capitol Trust begrüßt. Santini hatte Fitzgerald zuvor angerufen und angedeutet, dass er ihn in einer äußerst heiklen 349
Angelegenheit sprechen müsse. Fitzgerald hatte als Armeeoffizier in Vietnam gedient, und als Santini bei seiner Rückkehr nach Washington ein Konto bei der Bank eröffnete, hatten sich die beiden Männer angefreundet. »Schön, Sie wiederzusehen«, sagte er nun, als er den Verteidigungsminister in sein getäfeltes Büro führte. Er bedeutete Santini, auf dem Ledersofa Platz zu nehmen. »Hier ist es bequemer«, sagte er. Santini setzte sich, lehnte das Angebot eines Kaffees ab und erzählte Fitzgerald unverzüglich, was er von ihm wollte. Der Banker fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid. Ich würde Ihnen gern helfen, aber das kann ich nicht machen. Als Treuhänder sind wir gesetzlich dazu verpflichtet, solche Unterlagen vertraulich zu behandeln. Wir brauchten einen Gerichtsbeschluss oder etwas Ähnliches.« »Ein Gerichtsbeschluss ist nicht mehr gesetzlich vorgeschrieben, Bob.« »Das ist richtig, aber nach dem Patriot Act muss der Justizminister oder jemand aus seinem Ministerium die Sache genehmigen.« »Stimmt«, sagte Santini. »Ich könnte Douglas Fairbanks anrufen und in zehn Minuten ein paar FBI-Beamte hier aufkreuzen lassen. Aber dann müsste das Justizministerium eine Akte über Mr. Wu anlegen. Wie Sie wissen, bleibt in dieser Stadt nie etwas lange geheim. Es könnte Wu am Ende die Karriere kosten – und alles nur, weil ich einen Verdacht habe, denn mehr ist es nicht.« Fitzgerald schwieg fürs Erste. Freundschaft und Pflicht lagen erkennbar in heftigem Widerstreit. 350
Santini wusste, dass ein Versuch, Fitzgerald einzuschüchtern, nicht funktionieren würde. Eher schon ein Appell an den Ehrenkodex zweier alter Krieger. »Wir haben beide in einem Krieg gekämpft, weil wir an die gleiche Sache glaubten. Sie sollen mir nur sagen, ob Wu im letzten halben Jahr irgendwelche größeren Einlagen getätigt oder ungewöhnlich hohe Schecks ausgestellt hat. Wenn die Antwort ›Ja‹ ist, lasse ich das FBI eine Ermittlung starten. Lautet sie ›Nein‹, endet damit alles.« »Ich könnte meinen Job verlieren.« »Wenn Wu Dreck am Stecken hat, Bob, dann hat das Land noch sehr viel mehr zu verlieren.« Santini bemerkte ein Aufblitzen von Zorn in seiner Stimme und zwang sich zur Beherrschung. »Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.« Erneutes Schweigen. Schließlich nickte Fitzgerald mit zusammengebissenen Zähnen. »Also gut. Wenn es so ernst ist, wie Sie sagen.« Er erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch. »Ich muss mir ein paar Zugangscodes beschaffen und in den Unterlagen graben, um Kopien der Schecks zu prüfen, die er ausgestellt hat. Genügt es Ihnen bis morgen?« »Morgen ist prima, Bob. Ich will keine schriftliche Hinterlassenschaft über den Vorgang.« Santini reichte Fitzgerald seine Visitenkarte, auf der ein goldener Adler aufgeprägt war. »Hier steht meine Durchwahl im Pentagon drauf. Meine Sekretärin heißt Margie. Sie wird Sie direkt zu mir durchstellen.« Er schüttelte dem Banker die Hand und sah ihm in die Augen. »Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. Mir ist klar, dass ich einiges von Ihnen verlangt habe.« »Schon gut«, sagte Fitzgerald leise. »Niemand wird es je erfahren. Sie haben mein Wort.« 351
Fitzgerald blickte Santini nach, der durch die schweren Glastüren der Bank auf die Pennsylvania Avenue hinaustrat. Dann schwenkte er seinen Chefsessel zu dem großen Bildschirm auf der Arbeitsplatte und begann seine Suche. »Mein Wort«, wiederholte er mehrmals für sich, während er in die Tasten tippte. Er wünschte, er konnte Santinis Wort in den Safe legen. Fitzgeralds Anruf kam früh am nächsten Vormittag. Santini hatte gerade die Stabsbesprechung beendet, als sein Telefon klingelte. Er wartete, bis alle draußen waren, ehe er den Antwortknopf drückte. »Ich habe die Information, nach der Sie gefragt haben«, sagte Fitzgerald halb flüsternd. »Können Sie reden?« »Ja, kein Problem, Bob«, sagte Santini. »Danke, dass Sie so schnell zurückrufen.« »Nach unseren Unterlagen hat Mr. Wu am 16. Januar dieses Jahres zweihundertachtzigtausend Dollar auf sein Konto eingezahlt. Und eine Woche später hat er einen Scheck über etwas mehr als dreiundfünfzigtausend Dollar ausgestellt …« Santini spürte, wie sich sein Hals rötete. Sein Instinkt war richtig gewesen. Wu nahm Schmiergeld. Er unterbrach Fitzgeralds nüchterne Aufzählung. »Und auf wen war der Scheck ausgestellt?« »Tyson Cadillac.« Santini hatte den Maulwurf gefunden. Ein Dolch, der direkt auf sein Herz zielte. Der Mann, der ihm jeden Morgen den Geheimdienstbericht lieferte und dann seinen Spionagechefs alles erzählte, was Santini vorhatte. »Übrigens«, ergänzte Fitzgerald, »diese große Einzahlung im Januar …« 352
»Ja?«, antwortete Santini und erwartete weitere Belege für Wus Verrat. »Der Scheck kam von der Anwaltskanzlei Piper Rudnick, einer der größten in Washington. Soweit ich der Fotokopie des Schecks entnehme, stammt das Geld aus dem Nachlass seiner Eltern.« Wie viel Luft auch in Santinis Ballon gewesen sein mochte, sie entwich auf einen Schlag. Verdammt, hätte er fast gemurmelt. Das war es also. Wu hatte seinen Vater oder seine Mutter verloren. Vielleicht beide. Er war kein Verräter. »Danke, Bob. Das löst ein großes Problem für mich.« Eigentlich löst es ein Problem für Wu, dachte er, sein eigenes bestand weiter. Irgendwie gelangten Informationen aus dem Pentagon nach außen, und er hatte nach wie vor keine Ahnung, auf welche Weise das geschah. Oder durch wen. Zwei Tage später wartete O’Neill in der Limousine, als Santini aus seiner Wohnung kam. »Sir, Wu hat etwas entdeckt, das wir die ganze Zeit direkt vor Augen hatten.« Als Santini O’Neill informiert hatte, was er über Wus Finanzen in Erfahrung gebracht hatte, war O’Neill erleichtert gewesen. Aber er war clever genug, sich nun, da er von Wus Entdeckung berichtete, keine Genugtuung anmerken zu lassen. »Verdammt«, sagte er, »vielleicht hat die CIA doch Recht in Bezug auf die DIA.« »Schießen Sie los. Und vergessen Sie nicht, dass Wu zur DIA gehört.« »Stimmt. Also, jetzt kommt’s. Vor zwei Monaten haben die Chinesen ein Vorausteam in die Staaten geschickt, das sich die Stationen von Xus Tour angesehen hat. Die Idee dabei war, dass sie ein Spiegelbild von Xus Besuch herstellen wollen, wenn Sie nach China reisen. Das Voraus353
team wurde vom Attachébüro des Außenministeriums betreut, eine dieser Institutionen, die als Verbindungsglied zwischen Außen- und Verteidigungsministerium gedacht waren und nichts Halbes und nichts Ganzes sind.« O’Neill stöhnte, und Santini wusste, dass keine erfreuliche Nachricht folgen würde. »Ich kann gar nicht glauben, was jetzt kommt. Aber Wu hat zum Glück die Unterlagen gesehen und Kopien davon beiseite geschafft, falls Sie oder das FBI welche haben wollen.« »Kopien von was? Nun spucken Sie’s schon aus.« »Zu den Orten, die das chinesische Vorauskommando erkundet hat, gehörte auch der Luftwaffenstützpunkt Holloman.« »Was! Und das hat das FBI nicht zutage gefördert?« »Wer weiß? Wir haben es mit einer dieser Situationen zu tun, wo ein Teil der so genannten Geheimdienstgemeinde ein Netz auswirft, um Informationen einzuholen, aber bei den anderen Geheimdienstleuten nicht nachfragt. Dann kommt Wu, der Computerfreak, arbeitet die ganze Nacht und durchforstet alles, was er zu Holloman findet, und entdeckt die Chinesen in Holloman. Es stellt sich heraus, dass die Delegation, die in einem Motel im Ort untergebracht war, zwar locker von der DIA überwacht wurde. Aber niemand hat daran gedacht, diesen Überwachungsbericht in die FBI-Ermittlung zu Holloman einzuarbeiten. Kommt Ihnen das bekannt vor?« O’Neill kramte in seinem unvermeidlichen Kartenstapel und begann dann hastig und in dringlichem Ton zu sprechen. »Wu überprüft die Überwachungsprotokolle und entdeckt, dass ein Mitglied der Delegation sich der Überwachung zweimal für kurze Zeit entzogen hat.« Er blickte von den Karten auf und schüttelte den Kopf. 354
»Kaum zu glauben, dass das in einer Datenbank der DIA so stehen geblieben ist.« Er seufzte und fuhr fort. »Der Chinese hat vom Motel aus Gespräche zu einem Münzfernsprecher gemacht. Wu durchforstet eine andere Datenbank und findet heraus, dass das FBI diesen Apparat angezapft hatte, weil er von einer Miliz benutzt wurde. Und …« »Sagen Sie nichts«, unterbrach Santini. »Die Miliz wurde von diesem Prentice angeführt, dem Kerl, der angeblich starb, weil er aus Versehen ein paar selbst gebastelte Sprengkörper hochgehen ließ.« Santini hatte sich auf einem Block Notizen gemacht. Er überlegte fieberhaft. »Wissen wir, wer der Chinese war?« O’Neill schaute in seine Karten. »Hauptmann Chang K.Y. Yew. Es gibt eine dürftige DIA-Datei über ihn. Er ist Beamter im Ministerium für Staatsicherheit und gehört nicht zur Volksbefreiungsarmee.« »Danke, Scott. Bitte grüßen Sie Wu von mir. Und sagen Sie ihm, er soll sich bedeckt halten. Er hat immer noch Feinde in der Stadt.« Santini erinnerte sich an einen berühmten Spionagefall. Ein Marine namens Lonetree war in eine Falle des KGB getappt, während er in der Botschaft in Moskau Dienst tat. Als er einem CIABeamten die Spionage gestand, spielte die CIA mit dem Gedanken, Lonetree als Doppelagent einzusetzen – ohne jemandem davon zu erzählen. Schließlich wurde Lonetrees Spionagefall nicht vom FBI oder der CIA abgewickelt, sondern vom Ermittlungsdienst der Marine, der die Sache beinahe verpfuscht hätte. Santini kritzelte ein paar Worte auf seinen Block, riss die Seite heraus und steckte sie in ein Kuvert, das er anschließend zuklebte. »Rufen Sie Curtis an, er soll Sie nach Langley fahren. Ich 355
sage vorab dort Bescheid. Ich möchte, dass Sie das hier Pelky geben, er soll es in Ihrer Gegenwart lesen und anschließend in den Reißwolf stecken. Dann warten Sie, bis er Ihnen eine Notiz in einem seiner Umschläge aushändigt.« O’Neill stellte in solchen Situationen nie Fragen. »Bin schon unterwegs«, sagte er. Auf Santinis Zettel stand: Was weißt du über einen Chinesen namens Chang K.Y. Yew? Handelt er unabhängig von der chinesischen Regierung? Ich brauche nur ein Ja oder Nein. Ich erkläre alles, wenn wir das nächste Mal Tennis spielen. Gruß, Santini Anderthalb Stunden später war O’Neill zurück. Er gab Santini ein Kuvert, der riss es auf, nahm das Blatt heraus und las: Keine Ahnung. Und misch dich bitte nicht in unsere Angelegenheiten ein. Jack »Hurensohn. Pelky mauert, Scott. Er hält alles unter Verschluss, bis sich seine Leute einen Weg ausgedacht haben, wie sie es Praeger zukommen lassen können.« »Sir, es drängt mich, etwas zu sagen, dem Sie vielleicht nicht ganz zustimmen werden.« »Nur zu, Scott. Ich respektiere Ihre Ansicht in jedem Fall, auch ohne Vorwarnung.« »Wie Sie meinen. Ich habe das Gefühl, Sie kommen Pelky in die Quere. Und wenn er glaubt, Sie haben Ihre eigene Geheimdienstoperation laufen, dann wird er einen Mordskrach schlagen und Praeger ein noch größeres Messer in die Hand liefern, damit der Ihnen die Eier 356
abschneiden kann.« »Das muss ich riskieren, Scott. Ich will ja nicht paranoid klingen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, die ganze Sache ist gegen uns gerichtet.« Er machte eine ausladende Armbewegung, wie um das ganze Pentagon einzuschließen. »Wir sind das Verteidigungsministerium. Wir müssen für die Verteidigung sorgen.«
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36 An Wochenenden schaltet das Tempo im Pentagon einen Gang runter. Die meisten der ständig unter Strom stehenden Workaholics bemühen sich, in dieser Zeit ein paar Stunden ihren Familien und der Kirche zu widmen. Man neigt viel zum Beten in diesem Geschäft. Es hilft den Leuten, lange Trennungen zu überstehen und die permanente Angst auszuhalten, ihnen oder ihren Freunden könnte etwas Schlimmes zustoßen. Natürlich mussten alle auf ihrem Posten bleiben, die Wachdienst hatten, die Sicherheits- und die Geheimdienstleute. Die Furcht vor weiteren Angriffen auf Amerika war nicht einfach nur Paranoia. Das Land hatte echte Feinde, und diese warteten nur darauf, beim geringsten Anzeichen von Unaufmerksamkeit oder Schwäche zuzuschlagen. Die Fitnessfans, die nach Hanteltraining, Basketball oder Squash süchtig waren, trieben sich im POAC herum, dem Pentagon Officers Athletic Club, einer unter der Erde gelegenen Anlage, kaum hundert Meter vom Ufereingang des Pentagon entfernt. Gelegentlich war Santini mit von der Partie, wenn sich O’Neill und einige der Jungen aus seinem Büro zu einem Spiel trafen, das sich nur als Extrem-Basketball beschreiben ließ. Santini war nie als Talent für die NBA aufgefallen, aber er konnte durchaus bestehen neben jenen, die versuchten, ihrem Minister ein paar der raueren Seiten des Spiels beizubringen. Es wurde mit harten Bandagen gekämpft, und wer immer aus seiner Uniform heraus auf den Platz trat, hatte keine Gnade zu erwarten. Auf dem Spielfeld waren alle ranggleich. Es beförderte die Moral, und die Nachricht von Santinis jovialer Art wie auch von seinen Muskelpaketen machte 358
die Runde im Pentagon. Der Verteidigungsminister war einer von ihnen! Aber nicht heute. Santini brauchte Zeit, um sich durch die Geheimdienstberichte zu wühlen. Er wollte versuchen, ein Muster in den Aktivitäten zu finden, beginnend mit den Ereignissen in Holloman. Wie es schien, hatte Stiller Recht. Diese beiden Leichen in Berlin deuteten fast sicher darauf hin: Irgendwie waren die Chinesen in die Sache verwickelt. Unfälle gab es immer. Militärische Operationen, auch reine Übungen, waren ihrem Wesen nach gefährlich. Amerika musste damit rechnen, jedes Jahr hundert und mehr junge Leute durch Abstürze von Flugzeugen und Hubschraubern zu verlieren. Und dabei waren die Toten der laufenden Einsätze in Afghanistan, Irak und dem Nahen Osten noch gar nicht mitgezählt. Ein Transportflugzeug vom Typ C-130 stürzt in Honduras ab. Ein Black-Hawk-Hubschrauber rasiert einen Funkturm in Mazedonien. Solche Vorfälle erschienen höchstens als Vierzeilenmeldung in der New York Times. Aber alle verstanden die Grundregel. Amerikas Truppen waren die besten, weil sie hart trainierten. Risiken auf sich nahmen. An Grenzen gingen. Das alles gehörte dazu, wenn man zum überragenden Militär auf dem Planeten zählte. Da wurde nicht gejammert. Aber hier war mehr als Pech oder schadhafte Ausrüstung am Werk. Angenommen, es gab wirklich eine chinesische Schurkengruppe – wie sah ihr Plan aus? Versuchte sie, Amerikas Beziehungen zu Deutschland zu zerstören? Würde sie es wagen, die Ermordung eines der höchsten Regierungsvertreter Amerikas auch nur in Erwägung zu ziehen? Und wozu? Santini bemühte sich, die Fakten miteinander zu verknüpfen: Suche Motiv, Gelegenheit, Mittel. Sie hatten die Gelegenheit in Holloman. Und sie hatten, 359
die Hilfe der Miliz vorausgesetzt, auch die Mittel. Aber ein Motiv? Es war frustrierend. Santini rieb sich die Augen und entfernte sich einige Schritte vom Konferenztisch. Der Tisch war mit einer Unmenge an Geheimdokumenten und Funkprotokollen übersät, die er angefordert hatte. »Ich komme einfach nicht dahinter, was zum Teufel da los ist, Scott. Die Sabotage in Holloman – warum sollten die Chinesen etwas mit diesen Bürgerwehrspinnern zu tun haben?« Santini hatte O’Neill gebeten, ihm am Wochenende bei dem Versuch zu helfen, die Punkte miteinander zu verbinden. O’Neill, sonst selten ohne Uniform, trug heute Jeans, Sweatshirt und Tennisschuhe. Und auch wenn er äußerlich lässig auftrat, war er in seiner Analyse diszipliniert wie immer. »Ich denke«, begann er, wobei er darauf achtete, dass er Santini nicht direkt in Frage stellte, »wir müssen verschiedene Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Erstens könnte die Miliz, auch wenn wir sie für eine Ansammlung von Bekloppten halten, trotz allem ohne die Chinesen für Holloman verantwortlich gewesen sein. Sie taugen sicher nicht für die Georgetown-Universität, aber sie sind auf ihre Art gerissen. Denken Sie dran, dass Timothy McVeigh auch kein Genie war, trotzdem hat er es fertig gebracht, ein Bundesgebäude in Oklahoma City zum Einsturz zu bringen.« Santini lächelte insgeheim über O’Neills Versuch. »Zweitens«, fuhr O’Neill fort, »glaube ich, Sie haben Recht damit, dass die Bürgerwehrtypen nichts mit der Katastrophe in Grafenwöhr zu tun haben können. Es gibt zwar lose internationale Verbindungen zwischen den rechtsextremen, regierungsfeindlichen Eiferern, aber es wäre wirklich übertrieben anzunehmen, sie könnten einen 360
Gasangriff geplant und organisiert haben, ohne im Netz von FBI oder BND aufzutauchen. Bei dieser Größenordnung muss es sich um eine Terrorgruppe handeln, wahrscheinlich um staatlich geförderten Terrorismus. Damit sind wir wieder bei den Chinesen und bei dieser rätselhaften Warnung von Stillers Spion. Aber ich sehe keine Verbindung zwischen Grafenwöhr und Holloman. Und was Verteidigungsminister Koestler angeht, also daraus werde ich überhaupt nicht schlau.« »Wissen Sie, was Ihnen zu schaffen macht, Scott? Sie suchen nach einem Motiv. So eines brauchen Ankläger in jedem Fall. Wir können dem Weißen Haus alles zeigen, was wir bis jetzt haben – und selbst, was vielleicht noch an Beweisen ans Licht kommt. Aber wir können ihnen kein Motiv nennen. Und da liegt das Problem.« O’Neill lachte. »Dann heißt es also wieder zurück auf Start und alle Möglichkeiten noch einmal durchdenken.« »Wenn das so weitergeht, bin ich ein Pflegefall, ehe Sie fertig sind«, spottete Santini. Genau das hatte er selbst schon getan. Zurück auf Start und jedes einzelne Teil des Puzzles methodisch geprüft. »Al-Qaida wäre dazu in der Lage. Von denen laufen immer noch Hunderte, vielleicht Tausende frei herum.« »Ja, aber es ist kaum vorstellbar, dass sich die Chinesen mit muslimischen Extremisten verbünden würden. Was im Übrigen auch für die Miliz gilt. Die Miliz mag die Deutschen hassen, aber die Deutschen sind weiß, und das Pigment bestimmt für sie die menschliche Rasse. Das sind reine Rassisten. Araber sind für sie nichts weiter als Sandf…« Santini unterbrach sich. Er war nicht für political correctness bekannt, aber er hatte zu viele seiner schwarzen Freunde auf dem Schlachtfeld sterben sehen, wo sie seiner Ansicht nach die Werte dieses Landes 361
verteidigt hatten. Werte, die ihnen bis auf den heutigen Tag allzu oft verweigert wurden. Er brachte das Wort nicht über die Lippen. Es war erniedrigend, entmenschlichend. Doch als genau das sahen Rassisten schwarze Amerikaner nach wie vor an: als keine vollwertigen Menschen. »Und al-Qaida hat kaum Grund, Deutsche zu töten«, fuhr Santini fort. »Es ist ja nicht so, als wäre die deutsche Regierung im Krieg gegen den Terrorismus mit uns in der vordersten Reihe marschiert.« »Nein«, antwortete O’Neill, »aber wenn al-Qaida anfängt, genügend Europäer zu töten, überlegen die es sich vielleicht zweimal, ob sie sich aus einer Auseinandersetzung heraushalten können, die sie für einen amerikanischen Dschihad gegen die islamische Welt halten.« »Nein, Scott, ich glaube nicht, dass Holloman und Grafenwöhr etwas mit herkömmlichem Terrorismus zu tun haben. Die Chinesen oder irgendeine Bande von Schurken haben Deutschland im Visier. Sie wollen uns und die Deutschen entzweien. Aber sie hinterlassen keine Fingerabdrücke. Keinen Absender.« »Was ist mit dem Zeug, an dem Hartley arbeitet?«, fragte O’Neill. »Das sind weitere Teile, die zu dem Puzzle gehören. Dieser Charles Burkhart, den man mit herausgeschnittener Zunge gefunden hat. Er sieht nach dem Übeltäter von Holloman aus – aber für wen hat er gearbeitet? Wo ist die Verbindung zu den Chinesen? Und was zum Teufel hat es mit diesem Wort auf dem Zettel in seinem Gürtel auf sich?« »Eines schönen Tages«, sagte Santini, »werden wir alle Antworten auf der Titelseite der Post finden, mit Grüßen von unserem Freund Hartley.« Er hielt inne, weil ihm plötzlich etwas einfiel. »Tago«, sagte er, »das Wort hieß 362
Tago. Eine Art Kontaktname oder Codewort – Moment mal! Tago. Das habe ich schon irgendwo gehört!« Instinktiv drückte er auf einen Knopf seiner Sprechanlage, um Margie zu rufen. Aber es war Sonntag, und Margie war nicht da. »Scott, wo wird Margie wohl den FBI-Bericht über den Garten abgelegt haben?« »Sie hat verschiedene Formen der Ablage. Nach Themen, chronologisch …« »Es ist mir egal, wie sie ihre Ablage macht. Wühlen Sie ihre Akten durch, und besorgen Sie mir diesen Bericht«, rief Santini aus. Dann fügte er ruhiger hinzu: »Da steht der Name Tago drin, ich schwöre es.« O’Neill ging in Margie Reynolds’ Büro, drehte am Zahlenschloss eines Aktenschranks und klaubte die Ordner durch. Er zog einen blauen Aktenordner mit dem FBI-Emblem heraus, rannte zurück in Santinis Büro und überreichte ihn triumphierend seinem Chef. Santini holte den Bericht aus dem Ordner, blätterte ihn durch und hielt ihn seinerseits triumphierend in die Höhe. »Hier ist es! Tago. Das FBI identifiziert ihn als den nach außen hin sichtbaren Kopf des Garten. Er ist Tschetschene und die rechte Hand Berzins. Da haben wir die Verbindung!« »Wunderbar, Sir. Aber … es ist eine russische Verbindung. Wo ist die Verbindung zu China?« »Es ist beides, Scott. Wir wissen ja, dass Berzin mit den Chinesen Geschäfte macht. Hier die russische Mafia, dort eine chinesische Schurkenfraktion. Ich bin mir sicher. Sie nicht?« O’Neill schwieg nachdenklich und schenkte sich Kaffee nach. »Es wäre eine Möglichkeit. Eine gute Möglichkeit, 363
aber sie basiert nur auf einer Ahnung. Sie werden mehr brauchen.« Er hielt die Kaffeekanne über Santinis Tasse. »Noch einen Schluck?« Santini nickte. Es war seine sechste Tasse an diesem Vormittag und dabei war es erst zehn Uhr. Er trank einen Schluck und hätte den Kaffee um ein Haar wieder ausgespuckt. »Pfui Teufel«, sagte er, »der schmeckt ja wie das Spülwasser von gestern. Sagen Sie in der Kantine Bescheid, sie sollen frischen machen.« »Das Kantinenpersonal bin heute ich, Sir. Es ist Sonntag, und ich habe nicht angenommen, dass ich die ganze Mannschaft antanzen lassen soll. Ich versuch’s noch mal.« Er verschwand im angrenzenden Konferenzraum, hinter dem eine kleine Küche lag. Santini stand auf und streckte sich, um die Müdigkeit nach einer weiteren schlaflosen Nacht zu vertreiben. Schon erstaunlich, dachte er. Da berichtet die Agentin Leslie Knowles im Weißen Haus über Geldwäsche und die russische Mafia und identifiziert Tago als einen der wichtigsten Akteure. Dann findet ein anderer Agent, der im Fall Holloman ermittelt – und bei dem es sich um Hartleys Quelle handeln muss –, einen Zettel mit Tagos Namen darauf, und diese Information schafft es tatsächlich nicht bis hinauf zu Knowles oder zum FBIDirektor. Wirklich ganz erstaunlich! Er sah durch die hohen Fenster über den Paradeplatz hinweg und fasste den Yachthafen ins Auge, wo Dutzende von Booten vor Anker lagen. Diese Boote hatten ihn schon immer gestört. Sie befanden sich in direkter Blickrichtung zu seinem Büro. Von jedem von ihnen hätte man ihm ohne große Mühe eine Rakete in den Hintern jagen können. Und dann kam ihm plötzlich eine Idee: Wenn man eine Rakete abfeuern konnte, warum nicht auch einen elektronischen Strahl? Konnte man nicht einen Laser auf die Fenster 364
richten, um Unterhaltungen aufzufangen? Oder einfach nur einen Empfänger an Bord haben, der einen irgendwo im Büro verborgenen Sender anpeilte? Einen Sender, der den wöchentlichen Sicherheitsüberprüfungen entging, falls er nur dann aktiviert wurde, wenn eine Person auf dem Boot entschied, dass es gefahrlos möglich war? Er erinnerte sich, dass genau das vor einigen Jahren im Außenministerium passiert war. Der Sender im Konferenzraum dort war inaktiv gewesen, bis ihn ein Russe, der vor dem Gebäude in seinem Auto saß, einschaltete. Himmel, fiel ihm ein, hatte ihn nicht Arthur Wu mit diesem Bericht über Lasertechnik auf etwas in der Art aufmerksam gemacht? Dieses Papier, das er nur kurz überflogen und nicht weiter beachtet hatte? Als O’Neill mit der frischen Kanne Kaffee zurückkam, legte Santini den Zeigefinger an die Lippen und gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle mit ihm nach draußen gehen. Vor der Tür angelangt, sagte er: »Vielleicht bin ich verrückt, Scott, aber ich glaube, mein Büro ist scharf. Verdrahtet. Alles was wir sagen, könnte von jemandem auf einem der Boote da unten im Yachthafen aufgefangen werden. Ich verstehe das verdammt noch mal nicht. Wir sind hier ansonsten zugeknöpfter als Fort Knox, aber diese verfluchten Boote lassen wir genau vor meiner Veranda parken! Was für Komiker sind bei uns eigentlich für die Sicherheit zuständig?« »Ich glaube, die Boote gehören ausschließlich Offizieren im Ruhestand, aber ich kümmere mich gleich mal darum.« »Nein. Als Erstes gehen Sie morgen früh zu den Technikern, die den Raum abtasten. Reden Sie nichts in ihrem Büro. Stecken Sie ihnen einen Zettel zu, dass sie um sieben Uhr zum Treffen der Top Vier kommen sollen. Wir besprechen in der Sitzung irgendwelchen nicht ver365
traulichen Blödsinn, und sie können mit ihren … Wie heißen die Dinger noch?« »EEDs.« »Wie?« »Elektronik-Emissions-Detektoren.« O’Neill war Kampfpilot bei der Navy gewesen, oder Flieger, wie er sich lieber bezeichnete. Er begeisterte sich für Technik und noch mehr für Abkürzungen. Gelegentlich machte er Santini rasend damit. »Von mir aus können sie Staubsauger benutzen. Ich bin überzeugt, dass der Raum verwanzt ist. Wenn es sein muss, hole ich die Jungs von der CIA oder vom FBI, damit die den Job erledigen. Notfalls sogar den Kammerjäger.« »Manchmal lassen wir es Leute vom Defense Protective Service machen. Dann wieder welche von der National Security Agency. Und ich glaube, sie haben Vorkehrungen getroffen, die es ausschließen, dass jemand das Innere des Büros elektronisch durchdringt, aber ich kümmere mich Montag früh als Erstes darum.« »Und noch etwas, Scott. Wer überwacht die Bewacher? Ich möchte, dass Sie die Techniker noch einmal überprüfen. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht auch noch woanders auf der Gehaltsliste stehen.« Der Mann rieb sich die Hände, um ein wenig Wärme zu erzeugen, und tauchte unter das Deck des Zehn-MeterSegelboots. Er trug Jeans, einen dicken blauen Pullover und braune Segelschuhe. Es war ein bisschen zu kühl, um auf dem Potomac draußen zu sein, aber wenn man ein Boot wie seines besaß, gab es immer etwas zu reparieren oder zu warten. Für die meisten Leute im Yachthafen war er ein vertrauter Anblick. Mit seiner gebräunten Haut und dem weißen, gepflegten Bart wirkte er, als würde er einen 366
großen Teil seiner Zeit in der Sonne verbringen. Ein Segler mit Leib und Seele, keine Frage. Der Verwaltung des Yachthafens war er einfach nur als »Chas« bekannt. Der Hafen war einer Betreibergesellschaft überlassen, eigentlich gehörte er der US-Regierung in Gestalt des National Park Service. Unter Deck wandte sich Chas rasch seiner Aufgabe zu. Er holte ein neues Iridiumtelefon aus dem kleinen Schreibtisch neben der Ledercouch, dann stieg er wieder nach oben, auf die Steuerbordseite des Bootes. Er brauchte eine freie, ungehinderte Verbindung zu den Iridiumsatelliten, die um den Globus kreisten. Ironischerweise hatte das Pentagon intervenieren müssen, damit die Dinger weiter fliegen durften. Sie waren gut für das Verteidigungsministerium. Wenn es zugelassen hätte, dass die Satelliten in der Atmosphäre verglühten, hätte das Pentagon den Zugriff auf die zehn Prozent des Telekommunikationsverkehrs verloren, der nichtkommerziellen Telefongesellschaften gehörte. Für Chas waren die Satelliten sogar noch besser. Er lachte in sich hinein, als er eine Chiffrenummer wählte, die ihm so vertraut war, wie die auf seiner gefälschten Sozialversicherungskarte. Heute würde eine Verbindung problemlos herzustellen sein. Der Himmel war wolkenlos und die Luft klar. Ideal für einen verschlüsselten Anruf in Peking. Sein Freund musste erfahren, dass Verteidigungsminister Santini und der Journalist Randall Hartley unangenehm neugierig geworden waren.
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37 BERLIN Sie gingen einmal mehr in Wladimir Berzins Berliner Lieblingsstraße spazieren, dem Kudamm mit seinen schicken Läden und Cafés. Als Nächstes, dachte Miya, würde ein Abendessen folgen und dann, wenn es nach Berzin ginge, eine Liebesnacht. Kommt nicht in Frage, hatte sie zu David Ben-Dar gesagt. Sie hatte ein riskantes persönliches Treffen in einem sicheren Haus in Berlin verlangt und ihm erklärt, dass sie Berzin eher töten würde, als mit ihm zu schlafen. Heute Abend würde sie Berzin mitteilen, dass sie sich um ihre kranke Mutter in Helsinki kümmern musste. Keine besonders gute Geschichte, aber sie konnte Berlin damit hinter sich lassen. Und diese Charade. In Deutschland war sie ohnehin verbrannt. Der BND hatte sie enttarnt. Das war ihr Grund. Ben-Dar dagegen hatte Santinis plötzliches Wiederauftauchen in ihrem Leben für ihre Entscheidung verantwortlich gemacht. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht. »… findest du nicht auch?«, fragte Berzin. »Tut mir Leid, ich war ganz in Gedanken …« »In Gedanken an uns, oder? Das kann ich verzeihen. Jedenfalls sagte ich: Jetzt, da ich in der Politik bin, solltest du vielleicht erwägen, nach Moskau umzuziehen.« »Sag mir eins, Wladimir. Wie kannst du es dir leisten, nach Berlin zu kommen, wenn in einem Monat schon die Wahl stattfindet?« 368
Berzin lachte. »Um dich zu sehen, meine liebe Miya, bin ich nie zu beschäftigt. Abgesehen davon betreibe ich meinen Wahlkampf hauptsächlich über das Fernsehen. Und in den Umfragen liege ich haushoch vorn.« »Trotzdem …« Berzins Handy läutete. Er machte drei Schritte, als wollte er im Gehen reden, aber dann blieb er plötzlich stehen. Miya sah, wie sein Gesichtausdruck versteinerte. Er nickte erst und schüttelte dann den Kopf, als könnte ihn sein Gesprächspartner sehen. Sie hatte ihn noch nie so beunruhigt erlebt. Es musste sich um eine wichtige Angelegenheit handeln. Sie hängte sich an Berzins linken Arm, schmiegte den Kopf an seine Brust und zog eine Schnute, so gut sie konnte. Gleichzeitig strengte sie sich an, die Stimme zu hören, die ihn so unvermittelt stehen bleiben ließ. »Tut mir Leid, Miya, tut mir Leid. Geschäfte«, sagte er nervös, das Telefon weiter am rechten Ohr. Er hielt das Gerät umklammert, als wäre es eine Rettungsleine. Die wenigen Worte, die Miya erlauschen konnte, waren Russisch, aber die Stimme produzierte ein helles Stakkato, fast eine Art Singsang. Der Sprecher war eindeutig asiatischer Herkunft. Berzin antwortete auf Russisch. Miya zwang sich, im Kopf von Deutsch auf Russisch umzuschalten. Sie beherrschte es gut genug, um auf der Sprachskala des Mossad mit 5,3 abzuschneiden (leidlich konversationsfähig). Sie setzte eine Miene auf, die Langeweile ausdrückte und nicht erkennen ließ, dass sie verstand, was sie hörte. »Unmöglich!«, sagte Berzin auf Russisch. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass Santini davon weiß.« Miya überlegte einen Moment, ob Berzin spürte, wie schnell ihr Herz auf einmal klopfte. 369
»Ich werde dafür sorgen, dass er kein Problem mehr für uns darstellt«, hörte sie ihn sagen. »Ich kläre die Sache, Sie haben mein Wort. Ich setze Tago noch heute Abend in eine Maschine. Und er wird sich auch um diesen Journalisten kümmern.« Berzin steckte das Handy wieder ein und legte den Arm um Miya. »Dringende Geschäfte«, sagte er. »Ich fürchte, ich muss sofort zurück nach Moskau.« »Das tut mir sehr Leid«, sagte sie und zog erneut eine Schnute. »Geschäftliche Dinge sind für uns beide einfach zu wichtig.« Er winkte ein Taxi für sie herbei. Als es am Bürgersteig hielt, küsste er Miya auf die Stirn. »Dieses besondere Geschäft wird bald erledigt sein. Und dann besuche ich dich sofort. Sehr bald schon.« Dann machte er dem Fahrer seiner Limousine ein Zeichen. Miya legte die Hand an den Mund und sagte auf Deutsch: »Auf Wiedersehen.« Er runzelte die Stirn. »Das klingt aber sehr formell. Sonst sagst du immer ›Ciao‹.« »Vielleicht werde ich schon zu sehr Deutsche«, erwiderte sie und bemühte sich zu lächeln. Vielleicht hatte sie Auf Wiedersehen gesagt, weil sie in diesem Moment beschloss, ihren deutschen Reisepass zu verwenden anstatt ihres finnischen. Denn auch sie plante einen Flug.
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38 WASHINGTON In einem Motel in Bethesda, Maryland, nur wenige Kilometer nördlich der Stadtgrenze von Washington, klopfte Tago an die Tür von Zimmer 212. Ein stämmiger Mann mit dichtem Wuschelhaar öffnete die Tür zunächst einen Spalt, dann riss er die Tür weit auf und begrüßte Tago mit einer innigen Umarmung, einer russischen Bärenumarmung. »Tausendmal willkommen, Tago«, brüllte er auf Russisch. Er trug ein schwarzes T-Shirt, Jeans und ein Paar schwarze Schuhe mit Gummisohlen. »Ich heiße Basil«, sagte Tago und löste sich aus der Umarmung. Sein russischer Pass und das Besuchervisum trugen den Namen Basil Kasyan. Der kräftige Mann nickte und lachte mit weit offenem Mund, wobei er drei Goldzähne erkennen ließ und eine starke Whiskeyfahne ausstieß. »Dann ist also Wodka nicht mehr dein Lieblingsgetränk, Mikhail?«, sagte Tago und deutete zu der halb vollen Flasche Virginia Gentleman auf dem Tisch. »Ich bin jetzt Amerikaner … Basil«, antwortete Mikhail und forderte Tago auf, Platz zu nehmen. »Ich liebe Amerika! Gute Frauen. Guter Whiskey.« Ein Mann, der auf einem der Doppelbetten gelegen hatte, stand auf, nickte Tago wortlos zu und setzte sich auf die Bettkante. »Gesprächig wie immer, Asian«, sagte Tago und nickte 371
ebenfalls. Asian, der nur eine weiße Unterhose trug, hatte den Körper eines Gewichthebers. Auf den Bizeps des rechten Armes war ein grauer Wolf tätowiert, ein Symbol für Tschetschenien. Unter dem Wolf stand Asian in der merkwürdigen arabischen Schrift des alten Tschetschenien. Tago, ein Landsmann Asians, trug eine ähnliche Tätowierung auf dem rechten Arm. Mikhail, der Russe war, hatte kein Tattoo. Asian griff wieder nach dem Time Magazine, in dem er gelesen hatte, und begann, darin zu blättern. Dann blickte er auf und sagte: »Wir wechseln das Land. Du wechselst den Namen.« »Was soll das bedeuten?«, fuhr ihn Tago an. »Du weißt ganz genau, was es bedeutet, mein Freund.« Mikhail trat vor das Bett, darauf gefasst, wieder einmal einen Streit zwischen den beiden schlichten zu müssen. Er setzte sich neben Asian auf die Bettkante. »Wir haben gesagt, wir befolgen die Befehle, vergiss das nicht.« Mikhail warf die Zeitschrift auf den Boden. Er hatte vergeblich nach Neuigkeiten aus Tschetschenien gesucht, aber die westliche Presse vergaß das Land zumeist und konzentrierte sich stattdessen auf den Nahen und Mittleren Osten. Asian und Tago waren 1999 aus Tschetschenien geflohen, nachdem sie einen Sprengstoffanschlag auf eine Kaserne der russischen Armee verübt hatten. Sie fanden sich schließlich in Moskau wieder, wo sich der Kriminelle Mikhail mit ihnen anfreundete, der später auch dafür sorgte, dass sie in den Garten eingeführt wurden. Asian und Mikhail arbeiteten allgemein als Schläger, gelegentlich führten sie auch einen Auftragsmord durch. Tago hatte es bis in Berzins Führungszirkel geschafft und auf dem Weg dorthin dafür gesorgt, dass es Asian und Mikhail gut ging. Auf Berzins Befehl wurden die beiden – 372
mit untadeligen Papieren versehen, die sie als eingebürgerte Amerikaner auswiesen – nach Amerika geschickt. Asian vertrat Berzin in der US-Version der Mafiya, während Mikhail als sein persönlicher Schläger fungierte. »Nach diesem Job bekommst du die Chance, nach Russland zurückzukehren, Asian. Ich verspreche es«, sagte Tago. »Und du, Mikhail, kannst es dir aussuchen – Wodka oder Whiskey.« Er warf Mikhail die Schlüssel seines Mietwagens zu. »Bringt eure Sachen ins Auto. Ihr seid bereits ausgecheckt.« Er schaute auf die Uhr. »Wir fahren in fünfzehn Minuten.« Tago befahl Mikhail, die Wisconsin Avenue hinunterzufahren, über die Military Road zur Connecticut Avenue und weiter zum National Zoo. Mikhail parkte den schwarzen BMW auf einem halb leeren Parkplatz in der Nähe des Elefantenhauses. Tago führte sie zu einer Bank und setzte sich zwischen Mikhail und Asian. »Ihr habt die Karten und Fotos studiert und vernichtet?«, fragte er. Sie nickten. »Wir haben zwei Subjekte vor uns, das eine ein bisschen schwieriger als das andere. Wir werden beide heute erledigen. Wir können es uns nicht leisten, Zeit zu vergeuden. Gehen wir den Plan durch.« Randall Hartleys Lieblingsgebäude in Georgetown stand ein paar Straßen von seinem Haus entfernt. Es hieß Dunbarton Oaks, ein Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert, an einer Stelle erbaut, die einst der höchste Punkt eines bewaldeten Tals gewesen war. Als er auf der 32. Straße auf den Eingang zuspazierte, dachte er, dass das stattliche Gebäude immer noch das Flair des 19. Jahrhunderts besaß, eine Oase der Ruhe im geschäftigen Georgetown. 1944 waren bei den Dunbarton-Oaks-Konferenzen die Grund373
sätze festgelegt worden, aus denen sich später die Charta der Vereinten Nationen entwickelte. Nun befand sich hinter den roten Ziegelmauern ein Museum, das eine unschätzbare Sammlung präkolumbianischer Kunst beherbergte. Der Privatsammler Hartley sollte auf einem Symposium über die Seuche des Kunstdiebstahls in Lateinamerika sprechen. Die Rede war natürlich in der Post schon ausführlich publiziert worden. Hartley war noch etwa fünf Meter von den Betonstufen entfernt, die zum Eingang des Museums führten, als ein Junge im roten Sweatshirt auf einem Skateboard den Gehsteig entlanggesaust kam. Hartley trat einen Schritt beiseite und lehnte sich leicht an einen Laternenmast. Ein schwarzer BMW bog um die Ecke. Wie in einem einzigen, langen Augenblick sah Hartley den Jungen fallen, sah Ziegelsplitter durch die Luft fliegen, hörte ein metallisches Surren vom Laternenpfahl und stürzte zu Boden, als ihm das Skateboard des Jungen zwischen die Beine schlingerte. Aus dem vorbeifahrenden BMW glaubte er, einen Ruf in einer Sprache zu hören, die nicht Englisch oder Spanisch war. Russisch? Vielleicht. Noch während er der Länge nach auf dem Boden lag, sah er, wie die Tür des Museums rasch auf und wieder zu ging. Er griff in seine Tasche, holte das Handy heraus und wählte die Notrufnummer. »Eine Schießerei, aus einem fahrenden Auto heraus, 32. Straße, beim Eingang von Dunbarton Oaks. Das Auto fährt in Richtung Süden.« Er rannte geduckt zu dem Jungen. Rot färbte Rot. Die Augen des Jungen waren offen, aber er sah nichts mehr. Hartley drückte eine Taste auf seinem Handy und sagte: »Hartley hier, geben Sie mir die Lokalredaktion. Ja, ich habe gerade eine Schießerei aus einem Auto heraus gesehen. Mitten in Georgetown, um Himmels willen!« 374
Es war ein weiterer Tag in der Verbannung für Santini gewesen. Präsident Jefferson und Joe Praeger waren noch immer nicht von ihrer ausgedehnten Europareise zurück. Zuvor hatten sie in Berlin an dem Gedenkgottesdienst für die Opfer des »unglücklichen Gaszwischenfalls« teilgenommen, wie sich das Weiße Haus höchst unangemessen ausdrückte. Santini hatte angeboten mitzukommen, aber Jefferson hatte ihm erklärt, er wäre nur eine Belastung – als potenzielles Ziel. »Und die Sicherheitsvorkehrungen sind ohnehin bereits ein Albtraum. Ihre Anwesenheit würde alles nur noch schlimmer machen.« Sicherheit. Ein Wort, das heutzutage einen großen Teil des Lebens ausmachte. Sie würden erst in vier Tagen zurückkommen. Dann erwartete Jefferson, dass Santini inzwischen herausgefunden hatte, was um alles in der Welt eigentlich vor sich ging. Aber Santini würde ihm außer seinem Rücktritt wenig anzubieten haben. Er trat hinaus auf die Terrasse seiner Wohnung, von der er auf das Navy Memorial hinabblickte – die Statue eines einsamen Matrosen, der eine in den polierten Stein des Denkmals gemeißelte Weltkarte betrachtete. Nemir Haddad, ein Equity-Fonds-Manager aus London, hatte Santini eine Kiste seiner Lieblingszigarren schicken lassen. Das Paket war sofort in die Prüflabore des Pentagon geschafft worden, wo man sich vergewisserte, dass es keinen Sprengstoff oder biologische Wirkstoffe enthielt, ehe man es ihm in die Wohnung zurückbrachte. Auf diese Weise wurde seine gesamte Post behandelt. Alles wurde durchleuchtet, um sicherzugehen, dass nicht irgendwo Anthraxsporen lauerten. Santini wollte sich 375
heute Abend eine Zigarre anzünden, nur um festzustellen, ob die Bestrahlung den Geschmack abgetötet hatte. Hoffentlich nicht. Castro wäre beleidigt. Die Sicherheitsleute gerieten langsam außer Kontrolle, dachte er und befeuchtete die Davidoff mit den Lippen, ehe er ein extralanges Streichholz entzündete. Sie waren natürlich zu Recht besorgt, nachdem Tom Koestler mit Hilfe seiner Katzen umgebracht worden war, aber sie ließen Santini fast keine Privatsphäre. Fast keine. In der Wohnung selbst zeichnete keine Kamera seine Bewegungen auf. Angeblich wurde auch sein Telefon nicht angezapft, jedenfalls nicht von der US-Regierung. Aber er vermutete, dass es den Russen und Chinesen gelungen war, sich in seine Gespräche einzuklinken. Und um das nachrichtendienstliche Jeder-gegen-Jeden zu vervollständigen, hörte die NSA wahrscheinlich ab, was die Russen und Chinesen von diesen Gesprächen an ihre Zentralen übermittelten. Deshalb hatte er es sich zur Regel gemacht, über seinen Privatanschluss nichts zu sagen, das irgendwen interessieren könnte. Seine Freunde verstanden, warum er immer so kurz angebunden war und nur Banalitäten von sich gab. Andere dagegen hielten ihn für arrogant oder schlicht langweilig. Es gab noch einen Bereich, der für seine Beschützer tabu war: die riesige umlaufende Terrasse, auf der bis zu hundertfünfzig Leute Platz gehabt hätten. »Und sie ist so offen und ungeschützt, dass jeder Attentäter Sie vom Nachbargebäude mit einem Kleinkalibergewehr wegputzen könnte«, hatte Raul Gomez, der Chef seiner Leibwache, schon oft gemahnt. Das Appartementgebäude war Gomez’ ärgster Albtraum. Da gab es zum Beispiel die Gefahr, die von der öffentlichen Tiefgarage ausging. Hunderte von Fahrzeugen gelangten auf diesem Weg in den Bau, ohne dass sie auf 376
Sprengstoff überprüft wurden. Dann fand er den Portier in der Eingangshalle in den frühen Morgenstunden meist schlafend vor. Fremde spazierten mit den Bewohnern ins Gebäude, ohne dass sie sich ausweisen mussten. Waren sie erst einmal drin, konnten sie durch die Korridore streifen oder sich Zutritt zu einer leeren Wohnung verschaffen. Und war man in einer Wohnung, hatte man freien Zugang zu den umlaufenden Terrassen, die jedes Stockwerk schmückten. Gomez hatte keine Möglichkeit, die vier Stockwerke oberhalb von Santini rund um die Uhr überwachen zu lassen. Er konnte nichts weiter tun, als eine dreiköpfige Einheit in einer nahe gelegenen Wohnung zu stationieren und eine Kamera einzubauen, die Santinis Eingangstür überwachte. Während einer der höchsten Alarmphasen hatte Gomez Santini bedrängt, in ein Offiziersquartier im Fort McNair zu ziehen, das nicht weit vom Pentagon entfernt lag. Santini hatte nichts davon wissen wollen. Das hier war sein Zuhause, und aus dem würde ihn niemand vertreiben. Er zog kräftig an der Zigarre und war beinahe versucht, den dünnen Rauchstrom zu inhalieren. Er ließ den Blick nun vom Justizministerium und den Gebäuden des Nationalarchivs zur Kuppel des Kapitols wandern, das, angestrahlt von verborgenen Scheinwerfern, in atemberaubender Schönheit leuchtete. Dieser Panoramablick, der prächtige Bogen, der an die Architektur der Griechen und Römer erinnerte, entführte Santini in eine geschichtliche Zeit, die einfacher gewesen sein musste. Nicht weniger gewalttätig vielleicht, aber sicherlich von größerer Klarheit und Einfachheit geprägt. Als sich Santini wieder in seinem Klubsessel niederließ und friedlich seine geliebte Davidoff paffte, kletterten draußen auf der Terrasse drei Männer, alle schwarz 377
gekleidet und mit Skimützen über dem Kopf, geschmeidig um die kunstvoll verzierte Absperrung herum, die seine Wohnung von der benachbarten trennte. Ihre gummibesohlten Turnschuhe verursachten keinen Laut, der Santini aufgeschreckt hätte, während er, erschöpft von den Terminen des Tages, vor sich hin träumte. Der erste Angreifer schwang einen zusammenklappbaren Schlagstock, der ein lederumhülltes Bleigewicht enthielt. Er traf Santini mit großer Wucht hinter dem rechten Ohr und ließ ihn halb bewusstlos werden. Während der Minister noch gegen die schwarze Wolke ankämpfte, die sein Gehirn umnebelte, und mühsam aufzustehen versuchte, drehten ihm die beiden anderen Männer die Arme auf den Rücken und zerrten ihn unsanft aus dem Sessel. Er spreizte die Beine, verzweifelt um Gleichgewicht bemüht. Doch von dem Schlag geschwächt, knickten sie ihm ein. Er sank auf die Knie. Erneut zogen ihn die drei Männer hoch und schleiften ihn zum Rand der Terrasse. Großer Gott! Sie wollen mich von der Terrasse stürzen! Santini sah die Titelgeschichten der Zeitungen am nächsten Morgen vor sich. Mit Verteidigungsminister Michael Santini starb bereits der zweite Pentagonchef während Präsident Jeffersons Amtszeit. Nach James Forrestal ist er der zweite, der in den Tod sprang. Freunde gaben an, Santini habe sich wegen der tragischen Vergasung deutscher Zivilisten bei einer NATO- Übung in der letzten Woche in einem Zustand tiefer Niedergeschlagenheit befunden. In Kreisen des Weißen Hauses war es außerdem kein Geheimnis mehr, dass Präsident Jefferson das Vertrauen in Santinis Amtsführungverloren hatte und beabsichtigte, ihn nach der Rückkehr von seiner Europareise zu entlassen. »Wer sind Sie?«, schrie Santini. »Warum tun Sie das?« »Sie sind den falschen Leuten in die Quere gekommen«, 378
erwiderte eine gedämpfte Stimme mit starkem Akzent. »Jetzt lassen wir deine Scheiße auf den Matrosen da unten spritzen.« Diesmal ging Santini absichtlich in die Knie, um sie aufzuhalten. Sein Widerstand wurde mit einem Faustschlag ins Gesicht belohnt. Blut strömte ihm aus der Nase in den Mund, während er keuchend um Atem rang. Ganz klaglos würde er sich aber nicht geschlagen geben. Er riss den rechten Arm los, stieß den Ellbogen zurück und traf einen der Angreifer mit voller Wucht am Kehlkopf. Der Mann fasste sich an den Hals, gab einen erstickten Laut von sich und brach zusammen. Gerade als Santini dachte, er könnte doch noch entkommen, traf ihn der kräftigere der beiden übrig gebliebenen Angreifer mit dem bleiernen Schlagstock in den Nacken. Er sank bewusstlos zu Boden. Die beiden Männer beeilten sich nun, die fünfundneunzig Kilo totes Gewicht über die einen Meter hohe Brüstung der Terrasse zu hieven. Sie waren derart davon in Anspruch genommen, dass sie nicht sahen, wie eine weitere Gestalt geschmeidig um die Trennsäule glitt und den Infrarotstrahl einer großkalibrigen Sturmpistole erst auf die eine Skimaske richtete und dann auf die zweite. Pfft, pfft, es klang wie ein zweimaliges unterdrücktes Husten. Zwei Männer lagen am Boden, mit großen Löchern im Kopf. Pfft. Für den dritten Mann stellte sein zertrümmerter Kehlkopf kein Problem mehr dar. Elena lief rasch zu Santini, der langsam wieder zu sich kam und vor Schmerz stöhnte. Zwei weitere Männer erschienen auf dem Balkon und halfen ihr, Santini in die Wohnung zurückzutragen. Nachdem sie ihn dort abgelegt hatten, sammelten sie die Leichen der drei Attentäter ein 379
und brachten sie zu einer Wohnung, zu der sie sich Zugang verschafft hatten. Santini saß aufrecht auf dem Boden, während Elena ihm einen kalten Waschlappen an die Stirn drückte. »Sie hatten noch Glück, Michael, auch wenn Sie übel zugerichtet sind. Allerdings sind Sie besser weggekommen als Ihre Skisportfreunde. Die wollten Sie anscheinend zu einem Bungeesprung ohne Seil überreden.« Ein beißender Geruch stieg Santini in die Nase. Er hatte einen Geschmack im Mund, als hätte er aus einer Kloake getrunken. Er schaute an sich hinab und sah, dass er auf sein Hemd erbrochen hatte. Verlegen, weil er sich so mühelos hatte überwältigen lassen, rieb er sich den Nacken. »Eine äußerst aufwändige Art, eine Verabredung zu arrangieren«, witzelte Elena und half ihm auf die Beine. »Wie sind Sie … Sie müssen gewusst haben, was die vorhatten. Woher …?« Santini versuchte mühsam, aus den Ereignissen schlau zu werden. »Ich könnte es Ihnen sagen, aber …« »Ich weiß. Dann müssten Sie mich umbringen.« Santini hustete, was seinen Hals schmerzhaft brennen ließ. »Ein alter Witz. Und kein besonders guter dazu.« »Sagen wir einfach, ich habe meine Quellen.« »Gut, einverstanden. Aber können Sie mir verraten, wer die drei waren? Für wen sie gearbeitet haben? Warum sie mich töten wollten?« »Zwei von ihnen waren Emigranten, einer aus Russland, der andere aus Tschetschenien. Sie lebten in Brighton Beach und operierten von dort aus. Sie gehörten zum Garten. Bezahlte Schläger, die Leute entführen und töten, die ihre Spielschulden oder ihr Schutzgeld nicht bezahlen.« 380
»Und der dritte?« »Sein Name war Tago. Ein Psychopath und … Berzins Pitbull.« Elena sah keinen Grund mehr, Informationen zurückzuhalten. Sie wusste über Tago Bescheid, weil sie nicht nur in Deutschland war, um Muslime zu beobachten. Sie war dort, um Berzins Aktivitäten mit Wagner zu verfolgen. Die beiden führten etwas im Schilde. Man hatte sie losgeschickt, um herauszufinden, worum es sich handelte. »Steckte er hinter dieser Katastrophe in Holloman? Und dem Gasangriff in Deutschland?« »Ja.« Elena zögerte kurz und suchte nach der richtigen Bezeichnung. Sie wollte in ihren Schlussfolgerungen nicht zu weit gehen. Noch waren es bloße Vermutungen. »Und?« »Nichts und. Er war im Wesentlichen nur der Auftragskiller. Wir wissen, dass er Befehle von jemand anderem ausführte.« »Von jemand anderem? Das hört sich an, als wüssten Sie es nicht genau.« »Ich kenne noch keine Namen. Sie müssen mich in diesem Punkt schützen, Michael. Ich weiß, es ist ein hochrangiger chinesischer General. Ich weiß nicht, wer er ist, aber ich weiß, dass er nicht mit Billigung der chinesischen Führung handelt. Ich muss vorsichtig sein.« Allerdings, dachte Santini. Im Laufe der Jahre hatte Israel eine sehr stille, aber auch sehr profitable Beziehung zu China aufgebaut, hatte ihnen militärische HightechAusrüstung verkauft und eine Reihe von geheimen Geschäften verdeckt mitfinanziert. Und die ganze Zeit hatte Israel weggesehen, als China Technik und Techniker in den Iran schickte, um dem Land beim Aufbau ziviler 381
Atomkraft zu helfen. Diese Hilfe würde die Iraner eines Tages in die Lage versetzen, Nuklearwaffen zu entwickeln. Waffen, die dann gegen Israel gerichtet werden könnten. Santini hatte nie verstanden, wie Israel seine langfristige Sicherheit um solch kurzfristigen Profits willen verraten konnte. Vielleicht glaubten sie, sie könnten China überreden, die Geschäfte mit dem Iran einzustellen. Wahrscheinlicher war, dass sie dachten, die USA würden den Iran niederwerfen. Elena ging zum Kühlschrank und holte noch mehr Eis. Sie wickelte es in ein Geschirrtuch und drückte es Santini in den Nacken. »Sind Sie okay, Michael? Brauchen Sie ein Schmerzmittel?« »Nein, nein, ich komme schon klar«, sagte er und stellte eine Tapferkeit zur Schau, nach der ihm nicht zumute war. »Außerdem liegen in meinem Medizinschrank mehr Schmerzmittel als in einer Apotheke.« Als Elena das kalte Tuch um Santinis Kopf wickelte, strich ihr langes Haar über sein Gesicht. »Entschuldigung«, sagte sie und warf die Haare mit einem Kopfschwung über die Schulter. Die Bewegung war so anmutig und sinnlich, dass Santini wie betäubt war. Er sah Elena mit einer Intensität in die Augen, die sie in ihren Verrichtungen innehalten ließ. Wortlos zog er sie an sich. Seine Leidenschaft war ungeachtet des Schmerzes entbrannt. Er küsste sie erst zärtlich, dann ungestüm. All die Jahre der Sehnsucht, in denen er sich nichts so sehr gewünscht hatte, wie sie wiederzusehen, zu berühren, zu lieben … Elena erwiderte seine Leidenschaft, umfasste seine Gesicht mit beiden Händen. Dann aber zog sie sich ebenso schnell wieder zurück. »Nein, Michael«, sagte sie. »Nicht jetzt. Das geht nicht.« 382
»Wieso nicht?«, fragte er und wurde sofort verlegen, da er merkte, wie dumm die Frage war, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. »Weil du Ruhe brauchst, und ich die drei loswerden muss«, sagte sie. »Hoffentlich hat niemand gesehen, was da draußen passiert ist. Das Letzte, was wir brauchen können, ist, dass die Polizei auftaucht.« Santini gab ihr Recht. Es war ausgeschlossen, dass er drei tote Männer irgendwie erklären konnte. Vor allem nicht diese drei Toten. Es würde aussehen, als wäre ein Drogengeschäft übel ausgegangen und als wäre er darin verwickelt. Die Drogenfahndung würde sich auf ihn stürzen wie Bussarde auf ein überfahrenes Tier. Joe Praeger hätte einen Festtag. »Es wird nicht lange dauern, bis Berzin anruft, um bei Tago nachzufragen, wie das Unternehmen gelaufen ist. Wenn er nichts hört, wird er – oder wer immer dich tot sehen will – andere Leute schicken.« Santini nickte einfach nur. Elena hatte Recht. Er wusste, wenn Berzin ihm nicht weiter nachsetzte, dann würde es dieser Chinese tun, der die Fäden in der Hand hielt. »Elena, du musst mir unbedingt helfen, die Namen der Leute herauszufinden, die hinter all dem stecken.« Sie blickte ihm fest in die Augen. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte sie schließlich.
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39 Auf dem Weg zu ihrer Botschaft war Elena unschlüssig, was sie tun sollte. Santini hatte sie gebeten, in israelische Geheimdienstdateien einzudringen. Dafür war sie nicht ausgebildet. Selbst wenn sie den Eingangsschlüssel für das »Haus des Mossad« finden sollte, würde sie sich einem Spiegelkorridor nach dem anderen gegenübersehen, wo allein die Multiplikation der Spiegelungen schon zu Schwindel und halbem Wahn führte. Codenamen, Aliasse, Tarngeschichten, kryptische Täuschungen – alles entwickelt, um die Sicherheit des Landes Israel zu schützen. Zwar ging es nicht direkt um Kronjuwelen, aber wer konnte wissen, was sie im Zuge ihrer Unternehmung womöglich gefährdete? Und kämen ihre Bemühungen nicht praktisch einem Hochverrat gleich? Sicher, Amerika war der Verbündete Israels, aber sie würde ohne offizielle Genehmigung handeln. Und David Ben-Dar konnte wer weiß welche Deals mit den Chinesen ausgehandelt haben. Sie war ohne Erlaubnis nach Washington gekommen. Sie hatte ihren Auftrag bereits gefährdet. Berzin musste auf jeden Fall klar geworden sein, wer als einzige Person von seinem Plan, Santini zu töten, gewusst haben konnte. Santini bat sie, sehr viel mehr aufs Spiel zu setzen als ihre Karriere. Ursprünglich dachte sie, es wäre am besten, zur israelischen Botschaft zu gehen, Kontakt mit Ben-Dar aufzunehmen und ihn davon in Kenntnis zu setzen, was geschehen war. Vielleicht könnte sie, ohne genau darzulegen, um welche Information Santini gebeten hatte, feststellen, ob Ben-Dar einer solchen Anfrage gegenüber aufgeschlossen wäre. Aber sie kannte die Antwort bereits. 384
Ben-Dar würde darauf bestehen, dass er die Angelegenheit über offizielle Kanäle erst mit Jack Pelky besprach. Vermutlich war das genau der Grund, warum Santini sie um Hilfe gebeten hatte und sich nicht direkt an die CIA wenden wollte. »Besorg mir die Namen der Chinesen«, hatte Santini gefleht. Es klang so einfach. Aber Israels Beziehung zu China war alles andere als einfach. Waffen an China zu verkaufen war in Elenas Augen nicht sehr sinnvoll. Sie hatte die Klugheit eines Technologietransfers an diese aufstrebende asiatische Macht bereits offen in Frage gestellt. »Könnte es nicht sein, dass China die Muster einfach nachbaut und am Ende seine Version unserer Systeme an Dritte weitergibt, die sie dann gegen uns einsetzen?«, hatte sie Ben-Dar gefragt. Ihr Vorgesetzter hatte sich mit genau dieser Frage selbst schon gequält und die Sache mit dem israelischen Verteidigungsministerium besprochen. »Elena«, sagte er, nachdem er mit seinen Zweifeln abgeblitzt war, »immer wenn wir Geschäfte machen, geht es in Wirklichkeit um mehr als Geschäfte. Wir erhalten Zugang zu Märkten, aber auch zu etwas noch viel Wichtigerem – zu Informationen. Wenn uns die Chinesen als gute Lieferanten betrachten, werden sie vielleicht die Hand nicht beißen wollen, die sie füttert.« »Und wenn sie es doch tun?« »Dann gibt es zwei Möglichkeiten«, hatte Ben-Dar im Tonfall eines Rabbi gesagt. »Erstens können wir unsere fortschrittliche Technik immer an Indien verkaufen, den historischen Kontrahenten Chinas. Das sollte dazu beitragen, dass die Chinesen ehrlich bleiben.« »Und zweitens?« 385
»Wenn das nicht funktioniert, schnappen wir in China vielleicht die eine oder andere Information auf, bevor es zu spät ist zu reagieren.« Ben-Dar sollte Recht behalten. Israelische Geheimdienstagenten hatten Informationen aufgefangen, dass russisches Nuklearmaterial zu Hamas und Hisbollah unterwegs sein könnte. Das hieß, Israel wäre durch Androhung seiner Auslöschung erpressbar: Verschwindet aus der West Bank, dem Gazastreifen und Jerusalem – oder sterbt! »Nie wieder«, sagte sie sich, das Motto jedes Israeli. Nie wieder unterwürfig in die Gaskammern gehen. Keine Verbrennungsöfen mehr. Keine Schwäche. Vor langer Zeit hatte sie geschworen, jene zu töten, die ihre Familie getötet hatten, die entschlossen waren, alle Juden auszulöschen. Wladimir Berzin hatte einen Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten ermordet und soeben versucht, einen zweiten zu töten. Hunderte unschuldiger Deutscher waren vergast worden, und nun plante er zusammen mit seinem chinesischen Freund zweifellos etwas noch Entsetzlicheres. Als Elena vor der israelischen Vertretung im Nordwesten Washingtons eintraf, hatte sie ihre Meinung geändert. Kurz vor dem Tor der Botschaft am International Drive legte sie zur Verblüffung des Wachmanns, der sich ihr näherte, plötzlich den Rückwärtsgang ein. Das Heck des Cadillac rammte um ein Haar die Schnauze eines Lkws. Elena trat das Gaspedal durch, packte das Lenkrad fest mit beiden Händen und schoss schlingernd zurück in den Verkehr. Gegen alle warnenden Stimmen, Santini zu vergessen und ihn bei der CIA Hilfe suchen zu lassen, stand ihr Entschluss fest. Sicher, sie hatte heute Abend schon genug getan, indem sie ihm das Leben gerettet hatte. Aber hier 386
ging es nicht um ihn. Ein Verrückter spielte mit dem Feuer, und dieses Feuer konnte sich zu einem atomaren Brand entwickeln. Und falls sich Amerika in einem solchen Krieg wiederfand, wo würde dieser enden? Für Israel würde es keine sichere Zuflucht vor dem Höllenfeuer geben. Sie hatte keine Zeit, sich offizieller Kanäle zu bedienen, und selbst wenn es möglich gewesen wäre, gab es keine Garantie dafür, dass Ben-Dar oder jemand anderer ihr zuhörte. Sie würde ihnen später alles erklären müssen. Sie hatte keine Wahl. Sie musste Santini helfen. Er brauchte nur ein paar Namen. Es gab eine Person, die ihr helfen konnte. Und während sie zurück nach Georgetown raste, hoffte sie, dass sie zu Hause war. Saul Teischer war wenig erfreut, als gegen halb zwölf Uhr nachts sein Telefon läutete. So spät abends bedeutete ein Anruf immer Ärger. Ein Todesfall in der Familie. Eine schreckliche Tragödie irgendwo. Oder der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im Senat rief an und verlangte, dass er einen Bericht über eine Rebellion vorbereitete, die irgendwo im hintersten Papua-Neuguinea stattfand. Es war allerdings auch nicht so, dass er um diese Zeit bereits tief schlafen würde. Es war vielmehr die Stunde, die er für die Sopranos reservierte. Er hatte die Sendung früher am Abend aufgezeichnet, während er noch im Büro arbeitete: Sechzehn Stunden täglich las er Geheimdienstberichte, sprach mit CIA-Mitarbeitern, bereitete den Ausschuss auf Hearings im Kongress vor. Teischer war vor vierundvierzig Jahren in Israel zur Welt gekommen. Er war während der frühen Reagan-Jahre in die Vereinigten Staaten ausgewandert und US-Bürger gewor387
den. Als einer von sehr wenigen Menschen auf dem Capitol Hill besaß er eine doppelte Staatbürgerschaft. Noch seltener war die Unbedenklichkeitsbescheinigung, die Teischer über seinen Boss, Senator David Steadman, erhalten hatte und die ihm Zugang zu Informationen gewährte, die als »streng geheim« klassifiziert waren. Steadman hatte Freunde an höchsten Stellen im Nationalen Sicherheitsrat. Jack Pelky hatte protestiert, aber Praeger hatte den DCI überstimmt. »Geben Sie ihm die Genehmigung«, hatte er Pelky angewiesen. »Der Präsident will, dass Steadman seinen Mann im Stab des Ausschusses hat. Abgesehen davon könnte er uns ja von Zeit zu Zeit Einblicke in die Vorhaben der Israelis gewähren. Immerhin hatten sie im Umgang mit dem Terrorismus mehr Glück als wir.« Das war aber nicht sehr wahrscheinlich. Als Pelky Teischer gebeten hatte, seinen israelischen Pass bis zum Ausscheiden aus dem Geheimdienstausschuss abzugeben, hatte er sich geweigert. Vielleicht sollte ich das verdammte Ding einfach läuten lassen, dachte Teischer nun. Die Anruferidentifizierung auf dem Display zeigte nur Privatanruf an. Das konnte alles bedeuten. Lästige Marketingtypen. Werber für Telefonsex. Falsche Nummer … Wer es auch sein mochte, wenn sich nach sechsmaligem Läuten der Anrufbeantworter einschaltete, würde er oder sie aufgeben. Von wegen. Der Anrufer hinterließ keine Nachricht, und er hörte nicht auf anzurufen! Wütend griff Teischer schließlich zum Hörer, bereit, diesem Störenfried eine Flut von Schimpfwörtern entgegenzuschleudern. »Wer zum Teufel ruft mich um diese …« »Saul, ich bin es, Elena. Ich brauche deine …« »Elena, meine Güte, wie lange ist das her. Wo bist du? Bist du in Washington?« 388
Voller echter Anteilnahme sprudelten die Fragen aus Teischer heraus. Er hatte seit mehr als einem Jahr nichts von Elena gehört. Er vermisste seine Cousine, die Gespräche mit ihr. Er liebte sie sehr. Wie oft hatte er den Himmel verflucht, dass sie Blutsverwandte waren, denn sie war die Frau seiner Träume. Allerdings musste er sich auch eingestehen, dass er ihr ohne diese Blutsverwandtschaft wahrscheinlich erst gar nicht begegnet wäre. Er konnte froh sein, dass er sie überhaupt kennen durfte. Trotzdem … »Was kann ich für dich tun?« Falls Saul Teischer geglaubt hatte, Elena könnte ein wenig lockere Konversation um Mitternacht brauchen, dann war es mit solchem Wunschdenken rasch vorbei. Er konnte nicht sagen, ob es Angst oder Erschöpfung war, die aus ihrem Gesicht sprach, aber sie war erkennbar aus der Fassung. Ohne jedes Make-up, in schwarzer Freizeithose, Schlabberpulli und Turnschuhen kam Elena eindeutig nicht von einem Bankett im Weißen Haus. Er hatte sie noch nie so lässig gekleidet und gleichzeitig so angespannt erlebt. Ungeachtet ihrer Aufmachung, ging es nur um dienstliche Belange. Namen. Sie brauchte die Namen von Wladimir Berzins chinesischen Kontaktpersonen. Wer waren sie? Wann und wo trafen sie sich? Aber warum brauchte sie die Namen? Und warum ging sie nicht zum Mossad? Oder zur CIA? Warum zu ihm? Und wieso jetzt, um diese Uhrzeit? Sie gab ihm keine Antworten. »Vertrau mir«, sagte sie einfach. »Es ist wichtig. Ich brauche deine Hilfe. Heute Nacht.« Und diese Hilfe würde sie bekommen. Teischer wusste zwar nicht, dass Liquidationen ihr Spezialgebiet waren, 389
aber er wusste, dass sie eine Favoritin von David Ben-Dar war. Und das reichte ihm. Schließlich musste er weiß Gott keine Berge versetzen, um ihr zu helfen. Das Ganze war ein Spaziergang. Oder genauer gesagt ein Ausflug in den Dschungel von Langley. »Mach’s dir bequem«, sagte Teischer. »Ich glaube nicht, dass es lange dauert.« Er ging in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Es erstaunte Saul Teischer immer wieder aufs Neue, in welchem Maße Eifersucht und Kleinkriege geradezu ein Lebenselixier für Bürokratien waren. Zum Teufel mit dem 11. September! Das eigene Revier zu schützen hieß nach wie vor das oberste Gebot. Allen Dunhill, der Minister für Heimatschutz, wusste, dass die CIA ihm pflichtschuldig Geheimdienstinformationen vorlegte, die den Anschein uneingeschränkter Kooperation erweckten, aber sorgsam mit dem Ziel bearbeitet waren, ihn in seinen Schranken zu halten, und das hieß außerhalb der echten Geheimdienstschleife. Was er bekam, war immer eine Woche alt und taugte nicht viel. Dunhill hatte sich bei Präsident Jefferson beschwert, aber der Präsident gewährte ihm nicht allzu viele Besuche im Oval Office, und Dunhill war klug genug, nicht jeden davon als Gelegenheit zur Beschwerde zu nutzen. Er überlegte sich genau, wann er murrte. Der Präsident sagte jedes Mal, er werde Pelky nachdrücklich bitten, mit Dunhill als gleichwertigem Partner im Kampf gegen den Terrorismus zusammenzuarbeiten, und der Präsident hielt Wort. Pelky schlug dann die Hacken zusammen und salutierte, und einige Wochen lang kooperierte er tatsächlich. Dann versickerte der Informationsfluss allmählich 390
wieder, und Dunhill musste sich überlegen, ob er von seinem Beschwerdekontingent Gebrauch machen sollte. Ihm war klar, dass Pelky ebenfalls über Dunhills Beschwerdekontingente Bescheid wusste und die »ZuBefehl-Sir«-Nummer als der alte Insider spielte, der er war – und der Dunhill nicht war. Dunhill bekam die Farce schließlich satt. Er wies sein Technikerteam an, verdeckt in den begehrtesten Geheimnissen der CIA zu wühlen. Es war eine große Herausforderung, aber nicht unmöglich. Als er einem seiner Stellvertreter, der sich mit Computern beschäftigte, von seinem Problem erzählte, schickte der ihm einen Techniker namens Brian Goren. Dunhill war erstaunt, wie schnell es diesem vierundzwanzigjährigen Computergenie gelang, auf elektronischem Weg in Pelkys Büro zu spazieren, Dateien, die als »streng geheim« gekennzeichnet und mit mehreren Warnhinweisen versehen waren, zu öffnen und keine Spuren zu hinterlassen. Unglaublich! Was Dunhill jedoch nicht ahnte, war, dass man seine eigenen Sicherheitsvorkehrungen ebenso leicht überwinden konnte. Das Heimatschutzministerium war immer noch in seinem angeblich nur einstweiligen Hauptquartier untergebracht, der ehemaligen Fernmeldeschutzanlage der Marine im Nordwesten von Washington. Die Installationen dort waren alt, und es fehlte an dem ausgefeilten Computernetzwerk, das die Heimatschutzbehörde brauchte. Deshalb bastelten Techniker wie Goren behelfsmäßige Verbindungen zusammen. Gleichzeitig wurde der Heimatschutz an das Intelink der Geheimdienste angeschlossen, das Hacker für nahezu undurchdringlich halten. Einige der behelfsmäßigen Verbindungen blieben bestehen, auch nach der Installation sichererer, ausgereifterer Netzwerke. Teischer hatte vermutet, dass der Heimatschutz das schwache Glied im Intelink sein würde. Er hatte seine 391
Vermutung lange vor Elenas Bitte bestätigt gefunden, und heute Nacht war nicht das erste Mal, dass er in Dateien der CIA nach Daten über Aktivitäten des Geheimdienstes suchte. Aber er musste ihr ja nicht auf die Nase binden, wie leicht es war. Es kostete ihn nur ein paar Tastaturbefehle, um durch Dunhills Hintertür mitten in Pelkys Büro zu spazieren. Sobald er hatte, was Elena wollte, lud er es von seinem PC auf eine Diskette, die er in einen gewöhnlich aussehenden Laptop schob. Er holte die Information auf den Schirm und drückte die Taste Print Scrn, dann öffnete er ein zweites Fenster in Word, kopierte das Bild des ersten Fensters in dieses und drückte Datei drucken. Ein Drucker summte und warf ein einzelnes Blatt Papier aus. Teischer wiederholte das Verfahren noch dreimal und antwortete jedes Mal mit Nein, wenn er gefragt wurde, ob er den Inhalt des Fensters speichern wollte. Von keinem dieser Bilder würde eine Spur bleiben, da sie nicht als Datei existierten. Die Diskette und die vier Seiten Papier für Elena waren der einzige Nachweis seiner Arbeit. Er legte die Diskette in ein Gerät von der Größe eines Mikrowellenherdes, das sie entmagnetisierte und dann zu einem formlosen Klumpen verschmolz. Elena lief im Zimmer auf und ab, als er wieder auftauchte und die Tür hinter sich schloss. »Ich glaube, das sind die Informationen, die du haben wolltest«, sagte er. »Pelky wird ausrasten, wenn er merkt, dass jemand in sein supertolles Intelink eingedrungen ist.« »Und es lässt sich nicht zurückverfolgen?« »O doch, es lässt sich zurückverfolgen. Ich habe beschlossen, das Konto heute Nacht zu schließen. Sie werden sowieso ein neues System anlegen, und ich alter Knochen muss wohl noch ein paar neue Tricks lernen.« 392
»Aber wenn sich dein Eindringen verfolgen lässt …« »Keine Angst. Ich habe eine Bombenfalle in die Superdatenbank des Heimatschutzministeriums eingebaut. Ein Doppelklicken auf irgendeine beliebige Mouse dort sendet den Befehl aus, die Geheimdienstdaten des Heimatschutzes mit einer Geschwindigkeit von dreißig Megabytes pro Sekunde zu löschen. Wenn die Notfallteams von CIA und Heimatschutz herauszufinden versuchen, was passiert ist, entdecken sie einen Hinweis, dass Eindringen und Datenzerstörung das Werk eines Technikfritzen beim Heimatschutz waren. Er heißt Brian Goren. Ich habe ihn kennen gelernt, als ich vor ungefähr zehn Jahren bei irgend so einem Treffen als Hacker auftrat. Er war damals noch ein halbes Kind. Komischerweise habe ich ihn nie gemocht. Ich beschloss in letzter Minute, ihm die Sache anzuhängen. Erst hatte ich ja den Nationalen Sicherheitsrat im Sinn. Irgendwer greift von dort Pelkys Dateien ziemlich heftig an. Vielleicht versuche ich herauszufinden, wer es ist. Könnte sich eines Tages als nützlich erweisen. Wie die angezapften Leitungen in Watergate, als Monica dort wohnte.« Elena hörte geduldig zu, dann bat sie um einen weiteren Gefallen. Teischer seufzte, als er sie sagen hörte: »… vor sechs Uhr früh.«
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40 PEKING Im Hintergrund erklang leise Musik, was Li sichtlich verärgerte. Dreimal hatten die Tontechniker schalldämmende Wandverkleidungen aus Taiwan installiert, und dreimal hatte es nichts genutzt. Aber egal, sagte sich Li, bald werde ich dieses Versteck nicht mehr brauchen. Und bald wird es solche Orte überhaupt nicht mehr geben. »Alles geht nun sehr rasch voran«, sagte er, als die anderen vor ihm Platz genommen hatten. »Die Uhr tickt. Ein nordkoreanischer General – Kim Dae Park, einige von Ihnen kennen ihn – hat soeben die schwedische Botschaft in Peking betreten und gibt an überzulaufen. Man wird ihm glauben, denn wir haben dafür gesorgt, dass Schweden und Amerikaner Kenntnis von seinen Handygesprächen mit echten Dissidenten in Nordkorea erhielten. Man wird ihm auch seine falsche Geschichte glauben. Er wird die Schweden davon überzeugen, dass Nordkorea beabsichtigt, das übliche Frühjahrsmanöver als Tarnung für einen Präventivschlag gegen Südkorea zu benutzen. Schweden, ein so genanntes neutrales Land, das genauso gut zur NATO gehören könnte, wird umgehend den Leiter des CIA-Außenpostens in der amerikanischen Botschaft alarmieren. Er wird einen Eilbericht an das CIA-Hauptquartier schicken, und dieser wird eine panische Reaktion in Washington auslösen. Analytiker des Nationalen Sicherheitsrats haben, um ihrem Chef Praeger zu liefern, was er hören wollte, exakt dieses Szenario vorhergesagt. Amerika wird beginnen, den größten Teil seiner 394
Ressourcen in Richtung Südkorea umzulenken. Es wird außerdem eine zweite falsche Geschichte geben. Sie wurde einem Agenten unterbreitet, der für Mainichi Shimbun, Japans einflussreichste Zeitung, schreibt. Er wird berichten – und gut gefälschte Beweise dafür vorlegen –, dass die Vereinigten Staaten seit vielen Jahren taktische Nuklearwaffen auf mehreren Stützpunkten in Japan lagern, die für den Einsatz gegen Nordkorea bestimmt sind. Die meisten Japaner werden diese Geschichte wegen einer wahren Geschichte glauben, die vor einiger Zeit aufgedeckt wurde. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass auf einer Schießanlage auf Okinawa Tausende Schuss Spezialmunition verfeuert wurden, die aus abgeschwächtem Uran hergestellt worden war. Auch wir haben Projektile aus abgeschwächtem Uran als Anti-Panzerwaffen geprüft. Sie sind wirkungsvoll, aber man befürchtet, dass der Staub des explodierten Geschosses gefährlich ist. Proben des Staubs haben gezeigt, dass er schwache Spuren von Plutonium und anderen radioaktiven Stoffen enthielt, was Ängste vor Leukämie und Krebs auslöst. Die Wissenschaftler streiten das natürlich ab, aber kaum jemand glaubt ihnen. All das wird wieder ans Licht gezerrt werden, wenn der falsche Artikel heute erscheint. Die Geschichte wird einen politischen Sturm im japanischen Parlament entfachen. Man wird die Vereinigten Staaten auffordern, ihre Truppen aus Japan abzuziehen. Wir werden dann einen Blitzschlag gegen Taiwan führen. Dabei wird unsere neue U-Boot-Flotte zum Einsatz kommen, dazu ballistische Raketen und amphibische Ausrüstung, die wir vor der Satellitenüberwachung versteckt haben. Mit Hilfe elektromagnetischer Impulse werden wir Taiwans Kommando- und Kontrollsysteme lahmlegen. Mit Beginn des Schlags machen wir außerdem 395
die Satelliten der Vereinigten Staaten vorübergehend blind. Taiwan wird rasch fallen. Die USA werden vollkommen überrumpelt sein und keine andere Wahl haben, als die Niederlage einzugestehen oder einen Krieg gegen China zu führen. Bevor sie eine solche Entscheidung treffen, werden wir enthüllen, dass China über mehr als fünfzig Interkontinentalraketen verfügt, statt der läppischen zwanzig, die häufig in CIA-Berichten auftauchen.« »Und in der Washington Post«, sagte Oberst Zho Zhenzen lachend. Li hatte ihm im Vertrauen erzählt, dass er in Kürze seinen ersten Generalsstern erhalten werde. Die Neuigkeit hatte ihm Mut gemacht, frei zu sprechen. »Sie werden es nicht wagen, uns anzugreifen«, fuhr Li fort, »und niemand sonst schert sich einen feuchten Dreck um Taiwan. Niemand wird Amerikas eifriges Bemühen um Taiwans kleines Experiment mit der Demokratie unterstützen.« Er spie die Worte förmlich heraus. »Gibt es denn überhaupt kein Risiko?«, fragte Wang Gui ängstlich. »Doch. Aber das größere Risiko besteht darin, nichts zu tun. Darauf zu warten, dass Amerika und seine Marionetten uns einkreisen, chinesischen Geschäftsleuten Dollarscheine in den Rachen stopfen, uns mit ihrer kapitalistischen Gier verderben. Nein, wir müssen jetzt handeln, solange unsere Hebelwirkung am größten ist und die Amerikaner weiter im Irak, in Afghanistan und bald auch in Korea feststecken.« »Was, glauben Sie, wird Präsident Chi tun, wenn er von dem Angriff erfährt?«, fragte Zho. Li sah ihn an, als hätte er es mit einem Schwachsinnigen zu tun. »Es wird zu spät für ihn sein, noch irgendetwas zu tun oder zu sagen. Denken Sie, er könnte zugeben, dass das Militär ohne seine Erlaubnis gehandelt hat? Dass der 396
Große Steuermann am Ruder geschlafen hat, während eine Meuterei im Gange war? Was für eine Botschaft an die Welt wäre das? Glauben Sie vielleicht, er würde eine Pressekonferenz abhalten und erklären, das Ganze sei ein furchtbarer Irrtum gewesen, und er werde Taiwan zurückgeben?« Li konnte seine Verachtung für den bloßen Gedanken kaum zügeln. »Nein. Er wird es sich vollständig als sein Verdienst anrechnen lassen und behaupten, dass es seine Idee war. Dass seine Geduld mit Taiwans unverhülltem Trotz erschöpft gewesen sei. Dass die Vereinigten Staaten ein teuflisches Spiel spielten, indem sie uns langsam dazu führen, Taiwans Unabhängigkeit anzuerkennen – das, was die Diplomaten ein Fait accompli nennen. Seien Sie unbesorgt. Chi wird als kühner – und siegreicher – Führer gepriesen werden. Wir werden die Amerikaner an einem von Mr. Praegers bevorzugten lateinischen Zitaten würgen lassen: Oderint dum metuant.« Li konnte sich die schlaue Bemerkung nicht verkneifen, die ihm General Zhou einmal beigebracht hatte. Zhou hatte ihn auch die richtige Aussprache gelehrt, so dass Li den Eindruck vermitteln konnte, viel gebildeter als seine Untergebenen zu sein. Das war natürlich, bevor er Zhou auf dem Platz des Himmlischen Frieden an einem Laternenpfahl als Verräter hatte aufhängen lassen. Li fühlte sich verpflichtet, das Latein für die Versammelten zu übersetzen: »Sollen sie uns hassen, solange sie uns fürchten.«
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41 WASHINGTON Santini war endlich eingeschlafen. Aber sein Schlaf war so leicht und unruhig, dass ihn das Summen des Faxgeräts weckte. Wer zum Teufel schickt mir ein Fax? Ich bekomme hier nie Faxe, außer diese gottverdammten Angebote für Karibikkreuzfahrten. Er schaltete das Schlafzimmerlicht ein und ging in seine Büronische. Oben auf dem Fax fand sich ein Ausschnitt aus der Washington Post: Sohn des Landwirtschaftsministers kommt auf tragische Weise ums Leben Robert Orly, der 17-jährige Sohn von Landwirtschaftsminister Thomas Orly, wurde in einer Straße in Georgetown erschossen. Einem Augenzeugen zufolge, bei dem es sich um den mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Journalisten Randall Hartley von der Post handelt, tauchte ein schwarzer BMW neben Orly auf, als dieser mit seinem Skateboard die 32. Straße auf Höhe von Dunbarton Oaks entlangfuhr, eine der exklusivsten Wohnstraßen in Georgetown. Hartley, der in der Nachbarschaft wohnt, sagte, in dem Wagen haben drei Männer gesessen. Einer habe mit einer kleinen Automatikwaffe mit Schalldämpfer auf Orly gezielt und ihm mehrmals in Brust und Kopf geschossen. Das Skateboard des Jugendlichen brachte Hartley zu Fall, der hinter ein geparktes Auto stürzte und unverletzt blieb. Laut Polizei war Orly ein schwieriger Jugendlicher, der 398
bereits wegen Drogenmissbrauchs aufgefallen war. Die Ermittler schließen nicht aus, dass der Mord mit Drogen zu tun hatte. Falls dies zutrifft, wäre es das erste Mal, dass die Drogengewalt ihren mörderischen Zugriff über die Todesviertel im Nordosten Washingtons hinaus ausdehnt. Am unteren Ende der Seite stand: Starbucks ist ein sicheres Heilmittel für Ihr Kopfweh. Die Nachricht war mit E. unterschrieben. Drei Minuten vor sechs verließ Santini seine Wohnung und ging zu dem wartenden Wagen. »Einen Moment noch, Curtis«, sagte er. »Ich gehe rasch Kaffee kaufen.« »Ist gut, Sir. Ich kurve um den Block und hole Sie ab.« Santini trabte zum Ende des Blocks, überquerte die Straße und betrat das Starbucks. Sechs Kaffeetrinker saßen auf Hockern an einer Fensterseite. Weitere warteten auf ihre Bestellung. Santini versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich umschaute. Er erkannte niemanden, aber ihm war, als hätte ihn einer der Kaffeetrinker, ein Mann in einem alten, verknitterten Regenmantel kurz angestarrt. Das passierte zu häufig, als dass es sich jedes Mal um einen Agenten des Mossad handeln konnte. Aber der Mann stand auf und stellte sich hinter Santini, als dieser an die Theke trat. »Diese Jamaica-MountainMischung ist meine Lieblingssorte«, sagte der Mann. »Ob Sie es glauben oder nicht, sie hilft gegen Kopfweh.« Als Santini Jamaica Mountain bestellte, blickte die Angestellte an seinem Kopf vorbei und lächelte dem Mann hinter ihm zu. Santini zahlte und beobachtete, wie die Angestellte ein Pfundpäckchen nahm, das näher bei ihm stand als bei ihr. Sie gab ihm das Wechselgeld und lächelte wieder. Vermutlich dachte sie, der Mann, der sie 399
für das Ganze bezahlt hatte, würde mit Dope handeln. Curtis parkte am Gehsteig. »Danke, Curtis«, sagte Santini und nahm auf dem Rücksitz Platz. Er öffnete das Päckchen, und das Aroma von Kaffee wehte durch den Wagen. »Sie können es wohl nicht erwarten, Sir? Wollen Sie ihn kauen?« »Es ist eine neue Mischung. Ich glaube, ich mache noch ein kleines Nickerchen.« Santini drückte auf den Knopf, der eine undurchsichtige Scheibe aus kugelsicherem Glas hinter den Vordersitzen in die Höhe fahren ließ. Curtis war überrascht. Er konnte sich nicht erinnern, wann Santini zuletzt die Trennscheibe hochgefahren hatte. Santini griff in das Kaffeepäckchen und fand vier klein zusammengefaltete Blätter Papier. Für Generalstabschef George Whittier und seinen Vize, General Hector Ramirez, hielt die Sitzung der Top Vier heute eine Überraschung bereit. Dasselbe galt für Sam Towers, Santinis Stellvertreter, der als Betriebschef des Verteidigungsministeriums fungierte und damit die größte Firma der Welt leitete. Tatsächlich waren die drei komplett verwirrt. Der Minister hatte während ihrer täglichen Zusammenkünfte noch nie eine andere Person im Raum geduldet. Das war nicht nur eine Verletzung protokollarischer Gepflogenheiten, sondern auch eine Verletzung der Sicherheit. Und doch liefen während der heutigen Sitzung drei völlig Fremde im Raum umher, trugen offenbar hochkomplizierte elektronische Geräte bei sich und verständigten sich mit Handzeichen. Santini hatte die Sitzung mit einem Bericht über einige der grausigeren Aspekte der jüngsten Heckenschützenattacken in Michigan eröffnet. Fünf muslimische Frauen 400
waren in ebenso vielen Tagen erschossen worden. Nach einer Jagd, die sich auf den ganzen Bundesstaat ausdehnte, konnte die dortige Polizei den Schützen mit Hilfe eines FBI-Profilers und eines Hellsehers fassen. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine »Sie« handelte – Sara Dresner, eine prominente Bürgerrechtsanwältin, deren einzige Tochter während ihrer Flitterwochen auf Bali von einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt worden war. Das Gericht hatte eine psychiatrische Untersuchung zur Feststellung ihres Geisteszustands angeordnet. Ein Radiomoderator hatte eine informelle Umfrage durchgeführt. Mehr als fünfundachtzig Prozent der Anrufer unterstützten Dresner. Nach nur fünf Minuten verließen die anonymen Techniker lautlos den Raum. Augenblicke später trat Scott O’Neill ein und steckte Santini einen Zettel zu. Santini nickte, und O’Neill ging wieder hinaus, ohne ein Wort zu sagen. General Whittier sah Ramirez an und runzelte die Stirn. »Meine Herren«, begann Santini, und der feierliche Ernst in seiner Stimme löste das nachdenkliche Bedauern ab, das er Augenblicke zuvor noch vermittelt hatte. »Was ich Ihnen nun sage, behandeln Sie bitte mit äußerster Vertraulichkeit.« Alle drei nickten gleichzeitig und hielten die Bitte erkennbar für überflüssig. »Nichts davon darf, zumindest fürs Erste, diesen Raum verlassen.« Wieder erhielt Santini Zustimmung, diesmal jedoch mit einer Spur Unwillen auf den Mienen der drei bewährtesten Mitglieder seines Machtzirkels. Santini erzählte ihnen nun, was er aufgedeckt hatte und erläuterte detailliert, welche Informationen er am Morgen von Elena erhalten hatte, darunter, dass man Li als Anführer einer Bande von Schurken identifiziert hatte, die einen Putsch planten. General Whittier ließ den Blick erst zu Ramirez, dann zu 401
Towers wandern. Wovon in aller Welt sprach Santini da? Ein Maulwurf der CIA sollte den russischen Präsidenten ermordet haben? Ein abtrünniger chinesischer General führte einen Putschversuch an? Und es handelte sich um ein und denselben Mann, der damals die Folterung Santinis in Vietnam überwacht hatte? Die drei fragten sich, ob ihr Chef den Verstand verloren hatte. Spielte sich hier eine Art verzögertes posttraumatisches Stresssyndrom auf Kosten der nationalen Sicherheit ab? War das Ganze nicht ein Fall für die CIA? Wieso zum Teufel erzählte ihnen Santini das alles, wenn sie es niemandem sagen durften? Und wieso hatte er diesen Kopfverband? Es war einfach zu grotesk.
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42 Chas arbeitete gern für die Schurken. Er war selbst einer. Unmittelbar nach dem College war er zur CIA gegangen und hatte sich freiwillig zu der paramilitärischen Gruppe gemeldet, die 1990 in den Irak eingeschleust wurde. Aber seine Chefs hielten ihn für psychisch instabil, und nach der vertuschten Untersuchung eines stümperhaften Plans, den Ehemann einer Frau zu ermorden, mit der er ein Verhältnis hatte, warf man ihn hinaus. Es verschlug ihn in die Halbwelt der Söldner – Südafrika, Paraguay, Pakistan – wo ihn die Schurken entdeckten. Sie statteten ihn mit einer neuen Identität aus, verordneten ihm ein wenig Training, und schon verdiente er einen Haufen Geld, ohne viel dabei zu riskieren … Er setzte sich unter Deck an ein Schaltpult, das sich aus der Theke klappen ließ. Das Gespräch in Santinis Büro war zu Ende und musste sofort nach Peking übermittelt werden. Chas streifte seine Kopfhörer ab und schaltete den digitalisierten Audiostrom auf den Impulstransmitter. Automatisch auf den chinesischen Satelliten ausgerichtet, wandelte der Transmitter das abgefangene Gespräch in eine auf wenige Sekunden komprimierte Nachricht um. Chas löste den Laserstrahlempfänger aus seiner Halterung und wollte ihn eben verstauen, als ein rotes Licht zu blinken begann. Jemand hatte das Zielobjekt mit einem leistungsstarken Detektor geflutet. Sie hatten ihn aufgespürt. Ruhig spulte er das eingeübte Verfahren ab. Er drückte die Paniktaste, die der Impulsübermittlung die Worte Entdeckt, Notschließung hinzufügte. Dann legte er den auf dreißig Sekunden eingestellten Zeitschalter um, mit dem 403
er eine Thermitladung zündete, die seine Audiodateien und die Ausrüstung vernichten würde. Er lief hinauf an Deck und spurtete den Pier hinab zu einem Bootshaus. Im Laufen öffnete er die Tür des Bootshauses mit einer Fernbedienung. Er kannte den üblichen Kurs der Hubschrauber vom und zum Landeplatz des Pentagon, der nur einige Hundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Hafenbeckens lag. Nun kam einer von der anderen Flussseite herüber, vom Luftwaffenstützpunkt Boiling, und er sah die Seile herabhängen, als die Maschine tiefer ging und sein Segelboot ansteuerte. Er lief ins Bootshaus und sprang in sein Rennboot, ein Gefährt mit flachem Rumpf und scharf geschnittenem Bug. Er ließ den Motor aufheulen und ließ es hinausgleiten. Während es Geschwindigkeit aufnahm, brandeten unruhige Wellen durch den Yachthafen, rüttelten an den Landungsstegen und schwappten in die Segelboote. Er steuerte auf den Potomac hinaus, in Richtung Süden, zur Woodrow-Wilson-Bridge. Die Ruderinnen der University of Virginia hatten drei Regattaboote im Wasser, sie trainierten für das alljährliche George-Washington-Rennen. In jedem Boot saßen acht Ruderinnen und eine Steuerfrau. Eines der Boote kreuzte Chas’ Kurs. Er schnitt es in zwei Teile und spießte dabei eine der jungen Frauen an seinem Bug auf. Ein zweites Mädchen verschwand, tödlich verletzt, in einem Wirbel aus Bootstrümmern und Rudern. Im Kielwasser von Chas’ Renngerät liefen die anderen Boote voll. Er konnte den Hubschrauber hinter sich hören. Er raste vor ihm her. Wenn er es bis zur Brücke schaffte, würde es dem Hubschrauber schwer fallen, sich über ihn zu platzieren. Chas kannte sich gut aus auf dem Fluss. Er würde es niemals bis zur Chesapeake Bay hinaus schaffen. Aber er konnte ein Stück weiter unten an Land gehen, ein 404
Auto zum Anhalten zwingen, den Fahrer als Geisel nehmen und auf diese Weise entkommen. Zwanzig Meter vor ihm spritzte etwas auf. Als er durch die Gischt gefahren war, sah er ein Boot der USKüstenwache auf gleicher Höhe mit ihm; es war auf Kollisionskurs. Er wendete scharf nach Steuerbord. Wieder spritzte es. Die Küstenwache schoss Raketen auf ihn ab. Er wendete noch einmal, und in diesem Moment schlug eine Rakete in seinen Rumpf ein. Das Boot erzitterte, schoss vorwärts und tauchte wie ein U-Boot in den Fluss. Chas wurde ins Wasser geschleudert, krachte auf ein Wrackteil und brach sich die Schulter. Als er unter Wasser sank, donnerte der Hubschrauber über ihn hinweg. Ein Rettungsschwimmer sprang in den Fluss, tauchte und holte Chas nach oben. Das Boot der Küstenwache kam längsseits. Die Kommandeurin ließ ihre M 16 sinken und half Chas und dem Rettungsschwimmer ins Boot. »Ich weiß nicht, warum die Jungs von der SWAT hinter Ihnen her waren, aber wir haben Sie dran, weil Sie zwei unschuldige Ruderinnen auf dem Gewissen haben, Sie erbärmlicher Schweinehund. Ich wünschte bei Gott, ich könnte Sie einfach wieder in den Fluss werfen.« Nicht ganz zwei Stunden nachdem die Sitzung in Santinis Büro zu Ende gegangen war, winkte O’Neill seinen Chef auf den Flur hinaus. »Sie hatten Recht damit, dass der Raum abgehört wurde. Wir müssen alle den IQ von Fruchtfliegen haben. Ich meine, wie hatten wir so dumm sein können und …« Santini war an O’Neills Selbstgeißelung nicht interessiert. »Was haben die Techniker im Raum gefunden?« »Es war nicht im Raum. Es war der Raum selbst.« 405
»Will heißen?« »Kurz gefasst, braucht es für einen Lauschangriff per Laser eine Laserquelle außerhalb der anvisierten Einrichtung, ein Ziel innerhalb der Einrichtung oder an der Einrichtung befestigt und einen lasergestützten Empfänger-Demodulator …« »Scott, Sie reden wie ein Luftwaffenoffizier. Halten Sie mir um Himmels willen keine Physikvorlesung, sondern erklären Sie es in verständlichen Worten.« »Tut mir Leid, Sir«, sagte O’Neill verlegen. »Was die Jungs entdeckt haben, war im Wesentlichen, dass jemand einen Laserstrahl auf Ihre Fenster gerichtet hat. Objekte wie weiße oder hell getönte Trockenmauern – besonders wenn sie einen Hochglanzanstrich haben wie Ihre –, gerahmte Kunstwerke oder etwas so Harmloses wie eine braune Lunchtüte, übermitteln alle offene Audiofrequenzen. Der Kerl, der den Laser bedient, fängt mit einem leistungsstarken Teleskop das Streulicht ein. Wenn die Laserquelle mit dem Licht in Beziehung gesetzt wird, das vom Teleskop zurückkommt, lässt sich durch Interferenzanalyse das Audiosignal erfassen.« »Ist gut, das reicht, Scott. Ich hab’s verstanden«, sagte Santini und hob die Hand. Sein Blick ging kurz zu dem mächtigen Porträt von Joshua Lawrence Chamberlain, dem Bürgerkriegshelden, dessen Mut und Führungsstärke auf dem Schlachtfeld in den Fluren des Pentagon Legende war. Konnte das Bild dieses prächtigen Mannes eine Rolle in der Gefährdung von Amerikas Sicherheit gespielt haben? Der bloße Gedanke empörte Santini. »Wir haben dem Hurensohn noch genügend Zeit gelassen, die Unterhaltung zu übermitteln, die er aufgefangen hat. Unsere Ninjas sind ihm im Yachthafen hinterher, aber festgenagelt hat ihn dann ein Boot der 406
Küstenwache, das routinemäßig auf Antiterrorpatrouille war. Der Kerl hat zwei junge Frauen in einem Ruderboot getötet. Ich hoffe nur, der Justizminister beantragt die Todesstrafe. Aber erst mal singt er nach Aussage der DIA wie ein Vögelchen, und das dürfte ihn eine Weile am Leben halten.«
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43 PEKING Als Li seinen Putsch zu planen begann, operierte er von der schäbigen Disko aus, die der Volksbefreiungsarmee gehörte. Inzwischen – drei Tage, nachdem er dem engsten Kreis von Mitverschwörern seine Pläne enthüllt hatte – hatte er seine Kommandozentrale im Hauptquartier der VBA in Peking eingerichtet. Auf dem Papier kontrollierte das Zentralkomitee der Partei die VBA mittels der Zentralen Militärkommission. Aber Parteimitglieder, die mit Li sympathisierten, hatten ihm geholfen, die Kommission mit handverlesenen Regionalkommandeuren und Li-treuen stellvertretenden Truppenchefs zu besetzen. Die Zivilisten im Zentralkomitee konzentrierten sich auf Wirtschaftsfragen und überließen die Alltagsbelange der Armee der Militärkommission. Li hatte sich diesen Mangel an ziviler Kontrolle zunutze gemacht, um im Großen und Ganzen selbst die Kontrolle der Kommission zu übernehmen und sie heimlich in einen Generalsstab zu verwandeln, der sich ihm gegenüber verantworten musste. »Chinesische Schachteln« nannte es sein Stab: Lis Kommando hatte sich, nach außen unsichtbar, in der Kommission eingenistet. Der praktische Nutzen dieses Arrangements war, dass Li nun Zugang zu Kommunikationseinrichtungen der VBA und zu Geheimdienstdaten des Ministeriums für Staatssicherheit besaß. In diesem Ministerium hatte Hauptmann Chang K.Y. 408
Yew, der Offizier, der einmal als Lis Dolmetscher fungiert hatte, chinesische Schachteln installiert und so der Schurkenfraktion Zugang zu unbegrenzten Mitteln verschafft. Wegen seiner Verbindung zu Li verfügte Chang trotz seines niedrigen Rangs über sehr viel Macht. Chang hatte auch ein Spionagenetzwerk für Li in den Vereinigten Staaten aufgebaut, beginnend mit An Sing Li, einer wunderschönen chinesischen Studentin, die er persönlich rekrutiert hatte, bevor sie Peking verließ, um die George Washington University zu besuchen. Noch in ihrem letzten Studienjahr hatte sie einen Teilzeitjob als Übersetzerin nichtgeheimer Dokumente an der National Defense University erhalten, die nicht weit von ihrer Wohnung im Südosten Washingtons entfernt lag. Dann bekam sie die Freigabe, an chinesischsprachigem Material zu arbeiten, das US-Geheimdienste zur Analyse an das Nahost-Südasien-Zentrum für Strategische Studien derselben Universität lieferten. Nach Abschluss ihres Studiums wurde sie in diesem Zentrum angestellt. Es gelang ihr, sich eine Position zu sichern, in der sie als Übersetzerin chinesischer Dokumente für den Nationalen Sicherheitsrat tätig war. Ironischerweise wurde Joe Praeger wegen ihrer ursprünglich untergeordneten Position nie auf sie aufmerksam. Ihre Unbedenklichkeitsbescheinigung wurde erweitert, so dass sie Zugang zu sensibleren Informationen erhielt. Beförderung und Ausweitung der Unbedenklichkeitsbescheinigung verdankten sich eher reinem Glück als irgendwelchen Machenschaften von Chang oder An Sing Li. Aber Chang ließ es sich anrechnen, sie eingeschleust zu haben. Der vornehmliche Wert des von ihr beschafften Geheimdienstmaterials bestand allerdings darin, General Lis Ruhm zu mehren, weil er sogar Einsicht in die geheimen Aktivitäten des Nationalen Sicherheitsrats der USA hatte. 409
Lis Tag begann mit einem dringlichen Anruf von Chang, der um ein sofortiges Treffen bat. Kurz darauf betrat Chang das geräumige Büro Lis mit einem bangen Gefühl. Schlechte Nachrichten erzürnten Li, und er brachte schlechte Nachrichten. Li forderte Chang nicht auf, Platz zu nehmen. Der Hauptmann stand steif in Habachtstellung vor seinem General. »Der Anschlag auf Santini ist fehlgeschlagen«, sagte Chang. »Ich sehe Ihrem Gesicht an, dass das noch nicht alles ist«, erwiderte Li kühl. »Jawohl, General. Da ist noch etwas«, sagte Chang und händigte Li eine Mappe aus. »Sagen Sie es mir mündlich«, verlangte dieser. »Ihre Berichte haben zu viele Worte.« »Der Agent namens Chas hat seine letzte Botschaft geschickt. Sie ist sehr interessant.« »Seine letzte? Wieso das?« »Er wurde gefasst.« »Verrat! Er muss verraten worden sein!« »Das glaube ich nicht, General. Wir hatten ein Codewort für ›ich bin entdeckt‹ – und das kam am Ende seines Berichts. Wie es aussieht, wurde er überrascht. Ich glaube nicht, dass Verrat im Spiel war. Theoretisch waren seine Nachrichtenwege immer verwundbar. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf das lenken, was er vor seiner Gefangennahme gesendet hat, General. Das ist nämlich wichtig.« »Sie überschreiten Ihre Befugnisse, Chang. Untergeordnete Offiziere erteilen Generälen keine Ratschläge«, sagte Li und lächelte über Changs Angst. »Das ist nicht 410
der Weg, der zu einem höheren Rang führt. Aber meinetwegen. Die Botschaft, bitte.« Chang berichtete, was Chas in Santinis Büro erlauscht hatte. Er begann mit Santinis Beschreibung des Plans für ein »neues Rapallo«, den Berzin und Wagner entwickelt hatten. Er gab auch die Meldung weiter, dass Berzin wahrscheinlich die Tötung Gruschkows befohlen hatte. Und mit einer sehr bösen Vorahnung enthüllte er, dass Berzin früher einmal ein Spion der CIA gewesen war. Li brach in eine seiner gefürchteten Tiraden aus. »Er hat für die CIA spioniert? Wissen Sie, was das bedeutet, Sie Narr? Berzin hat uns wahrscheinlich Waffen verkauft, die von den Amerikanern manipuliert wurden. Oder er hat ihnen Konstruktionszeichnungen und Dokumente gegeben, die ihnen erlauben, die Systeme nutzlos zu machen oder sogar so umzuprogrammieren, dass sie sich im Falle einer Schlacht gegen uns richten! Und Sie wagen zu behaupten, dass Ihr Mr. Chas nicht verraten wurde!«, schrie er. »Und was ist mit dieser süßen Kleinen, die Sie gebumst haben? Wo ist sie jetzt? Haben wir noch irgendwen in Amerika, dem wir trauen können?« Li setzte zu einer altbekannten Litanei von Verrat an. Er begann mit Generalmajor Zhou und zählte dann die Namen anderer auf, von denen viele nicht mehr lebten. Sobald der General damit zu Ende gekommen war, holte Chang tief Luft und sagte: »Ich habe wegen der Gefangennahme von Agent Chas nicht versucht, mit Agentin An Kontakt aufzunehmen. Ich bin überzeugt, Chas wird ihren Namen nicht nennen.« »Nicht nennen? Glauben Sie im Ernst, er wird den Amerikanern nicht alles erzählen, was er weiß? Nein, ich fürchte, Ihr kleines Geheimdienstnetz in den Staaten existiert nicht mehr, Hauptmann Chang.« 411
»Ich bedauere die Gefangennahme von Agent Chas sehr, General Li. Aber es gibt noch weitere Ressourcen, die von Agentin An erreicht und gelenkt werden können.« »Solche wie diese hirnlosen Schläger, die den Anschlag auf Santini verpfuscht haben?« »Diese Männer hat uns … äh, Berzin zur Verfügung gestellt, General.« »Berzin! Berzin, der große Verräter! Sie sagen, er schmiedet ein Komplott mit … mit diesem Deutschen? Ich will ihn tot sehen! Tot!« »Das lässt sich machen. Die Staatssicherheit hat zuverlässige Leute in Russland.« »Russland! Ich will das Wort nie wieder hören!« Li nahm die Mappe zur Hand, las kurz in dem Bericht und warf sie wieder auf den Schreibtisch. Dann sah er zu Chang auf und sagte, als wäre es ihm eben erst eingefallen: »Sorgen Sie dafür, dass er stirbt. Das wäre dann alles.« Chang gratulierte sich zu dem Entschluss, Li nichts davon zu erzählen, dass Santini offenbar Einzelheiten von Lis Putschplänen kannte. Er hatte keine Lust, einen Laternenpfahl zu zieren. »Danke, General. Sie haben die Lage fest im Griff Ihrer starken Hand.« Schmeicheleien störten Li grundsätzlich nicht; sie waren seiner Ansicht nach ein Preis, den Führer zu zahlen hatten. Eine Stunde später rief er seine wichtigsten Berater zu sich, darunter Wang Gui und Zho Zhenzen. Sie besaßen genügend Selbstvertrauen, um auf solchen Zusammenkünften offen zu sprechen. Li akzeptierte es, da er sie als seine klügsten Untergebenen anerkannte. Er sah sie als Soldaten, als Krieger. In seiner militärischen Denkweise 412
war Hauptmann Chang ein Geheimdienstbeamter, kein Soldat. Ordonnanzen trugen Tabletts mit Tee in den Raum. Li bedeutete seinen Vertrauten, in Sesseln Platz zu nehmen, die im Halbkreis vor seinem Schreibtisch standen. Wie üblich eröffnete er die Sitzung ohne Vorspiel. »Wir hatten es mit Verrätern zu tun, mit Männern, die dachten, sie wären schlauer als wir. Männer wie …« »Der Russe?«, fragte Zho Zhenzen. Li nickte und runzelte leicht die Stirn. Wie, fragte er sich, hatte Zhenzen das erraten? Nun, er war ein kluger Mensch. »Ja«, antwortete Li. »Berzin. Ein Spion! Er hat mit einem Deutschen gemeinsame Sache gemacht, um Deutschland und Russland zu vereinen.« Li legte die Handflächen aneinander, als würde er etwas zermalmen. »Es wird bald keinen Berzin mehr geben.«
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44 WASHINGTON Um 15.30 Uhr erhielt Santini einen Anruf vom Weißen Haus: eine Krisensitzung in zwanzig Minuten. Präsident Jefferson und Praeger waren spät in der Nacht aus Europa zurückgekehrt; sie verlieren keine Zeit, dachte Santini. Er nahm an, dass sich Jefferson Praegers Druck gebeugt hatte und seinen Rücktritt verlangen würde. Santini war bereit, die Brocken hinzuschmeißen. Praeger hatte ihm von Anfang an bei jedem Schritt Knüppel zwischen die Beine geworfen. Santini war so lange geblieben, weil er immer ein guter Soldat gewesen war, gewillt, den Befehlen des Oberkommandierenden zu gehorchen. Der Oberkommandierende musste mehr sein als eine Marionette an einer Schnur. Jefferson war klug und der Aufgabe durchaus gewachsen. Aber er war im Lauf der Zeit ausgehöhlt worden, reduziert zu kaum mehr als einem Männchen, das die Worte seiner Redenschreiber aufsagte. Er war ein virtueller Präsident geworden, dessen Hologramm während sorgfältig inszenierter Politikveranstaltungen durch den Äther geschickt wurde. Nein, Santini war bereit, den Posten aufzugeben, egal, ob Jefferson ihn darum bat oder nicht. Aber natürlich würde Jefferson ihn nicht direkt angreifen. Santini hatte noch immer zu viele Freunde im Kongress und im Pressekorps und die würden ihm vorwerfen, den Verteidigungsminister zum Sündenbock zu machen. Das würde seine Chancen auf eine Wiederwahl gefährden. Und seine Wiederwahl schien Jeffersons einziger Leitstern zu sein. Es würde also Santinis Entscheidung sein müssen, die er in 414
patriotischer Gesinnung »zum Besten der Nation« anbot. Als Santini das Oval Office durch den Privateingang betrat, sah er auf den ersten Blick, dass die Tagesordnung dieser Sitzung eine andere war, als er erwartet hatte. Außenminister Douglas Palmer war da, zusammen mit Pelky und natürlich Praeger. Alle sahen Santini an, als hätte er keinen Verband am Kopf. Die Holzscheite im Kamin hinter dem Sessel des Präsidenten knisterten und verliehen einem ansonsten nüchternen Rahmen etwas Wärme. Unmittelbar hinter Santini traf Generalstabschef Whittier ein. Er hatte ein dickes Notizbuch bei sich und offenbar einige zusammengerollte und mit Gummibändern festgehaltene Landkarten. Während General Whittier neben Santini Platz nahm, trank Jefferson von seinem Kaffee. Anschließend räusperte sich der Präsident theatralisch, um die Bedeutung des Augenblicks zu unterstreichen. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, meine Herren«, stimmte er an. »Direktor Pelky hat mich von einer ernsten Angelegenheit unterrichtet. Er verfügt über zuverlässige Informationen, wonach Nordkorea möglicherweise einen Überraschungsangriff auf das mit uns verbündete Südkorea plant. Offenbar ist beabsichtigt, das reguläre Frühjahrsmanöver als Tarnung für das Unternehmen zu benutzen. Wenn das Land diese Pläne tatsächlich durchführt, wird es wahrscheinlich zu Millionen von Opfern kommen. Wie wir alle wissen, hat Nordkorea chemische und biologische Waffen entwickelt, und wir glauben, dass es inzwischen mindestens sieben oder acht Atombomben besitzt, die das Land abfeuern könnte, wenn es sieht, dass wir mit Truppenverstärkung oder Vergeltung zu reagieren versuchen. Die ganze Sache, meine Herren, könnte zum 415
dritten Weltkrieg führen. Wir können uns also nicht einfach zurücklehnen und nichts tun. Ich habe General Whittier gebeten, einen Plan vorzubereiten, der uns erlauben würde, einen eng begrenzten, präventiven Enthauptungsschlag gegen die nordkoreanische Führung und ausgewählte Armeeeinheiten zu führen.« Santini war wie betäubt. Er konnte nicht länger schweigen. »Verzeihen Sie, Mr. President, aber General Whittier hat mir gegenüber nichts von irgendwelchen Kriegsplänen gesagt.« »Ich sollte sie eigentlich nicht daran erinnern müssen«, warf Praeger rasch ein, »dass der General Stabschef als oberster militärischer Berater des Präsidenten fungiert.« »Und ebenso als meiner. Sie wissen – oder sollten es jedenfalls wissen –, dass sich der Generalstabschef im Gegensatz zu mir nicht innerhalb der Befehlskette befindet«, gab Santini zurück. »Und ich muss hoffentlich nicht hinzufügen, dass Sie ebenfalls außerhalb dieser Befehlskette stehen!« »Genug, meine Herren. Dieses Treffen dient nur der Beratung, Michael«, bemühte sich Jefferson, Santini zu beschwichtigen. »Ich habe Sie um Ihr Erscheinen gebeten, damit Sie genau hören, welche Möglichkeiten mir als Oberkommandierendem offen stehen, um auf eine Krisensituation zu reagieren, die eine ernste Bedrohung unserer nationalen Sicherheit darstellt. Nachdem General Whittier von unseren militärischen Optionen berichtet hat, erwarte ich, Ihre Empfehlungen für oder gegen ein militärisches Handeln zu hören.« Santini nutzte die Gelegenheit. »Ich glaube, Direktor Pelky sollte uns erst einmal darüber aufklären, welcher Art 416
die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse sind, die er bekommen hat, und für wie verlässlich er sie hält, bevor wir gegen Nordkorea in den Krieg ziehen.« »Ein gutes Argument, Michael«, sagte Jefferson. Nach einem vorsichtigen Blick in Richtung Praeger nickte er Pelky zu fortzufahren. »Die Information kam am Wochenende herein«, begann Pelky. »Ein hochrangiger nordkoreanischer General ist übergelaufen und hat in der schwedischen Botschaft in Peking Zuflucht gesucht. Irgendwie gelang es ihnen, Einwände der chinesischen Regierung zu überwinden und ihn aufzunehmen. Die Schweden riefen unsere Leute in der amerikanischen Botschaft an und haben uns brühwarm alles erzählt, was Kim Song Jo im Schilde führt. Die Schweden glauben, dass der Kerl glaubwürdig ist, und wir neigen dazu, ihn als Quelle zu akzeptieren.« »Jack«, sagte Santini aufgebracht, »willst behaupten, du hast eine einzige unbestätigte Quelle und kaufst die ganze Geschichte, ohne mehr in der Hand zu haben?« »Nein, Michael, das ist nicht alles, worauf wir uns stützen. Du weißt, wir beobachten die Nordkoreaner sehr genau. Wenn sie eine Gallone zusätzlichen Sprit in einen ihrer Panzer oder Truppentransporter schütten, dann wissen wir, ob es Normalbenzin oder Super ist. Es hat in letzter Zeit noch näher an der entmilitarisierten Zone als üblich Bewegungen ihrer schweren Artillerie gegeben. Und sie haben mehr von ihren Nodong-Raketen aus den Depots gezerrt als bei früheren Übungen. Im Augenblick ist das alles noch nicht eindeutig, aber wenn man es mit der Geschichte des Überläufers zusammennimmt, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.« »Aber wenn wir jetzt irgendetwas unternehmen, das wie ein Vorspiel zu einem Präventivschlag aussieht, könnten 417
wir eine sich selbst erfüllende Prophezeiung bewirken«, konterte Santini. »Wir müssen uns das genau überlegen, Mr. President. Ich habe noch nie gehört, dass die Dienste die Aufrichtigkeit eines einzelnen Überläufers akzeptieren, ohne sich um sehr viel mehr Bestätigung zu bemühen.« Praeger konnte nicht widerstehen, sich in den Kampf zu stürzen. »Die Dienste haben seinerzeit diese Flugzeuge nicht in die Twin Towers und ins Pentagon fliegen sehen«, sagte er mit schriller Stimme. »Müssen wir warten, bis Nordkorea das Zentrum von Seoul in Schutt und Asche legt, ehe wir handeln? Wie oft müssen uns diese Schweinehunde noch reinlegen, bis wir sie zu Fall bringen?« »Wollen Sie ein paar Millionen Südkoreaner gleich mit zu Fall bringen?«, fragte Santini. »Jetzt fangen Sie schon wieder mit diesem Gewinsel an und halten Frauen und Kinder als Schutzschilde hoch. Verdammt noch mal!«, explodierte Praeger. »Wir hätten sie schon längst zwingen sollen, Farbe zu bekennen. Die Chinesen verarschen uns die ganze Zeit und behaupten, sie hätten kaum einen Einfluss auf den ›Großen Führer‹. Das ist purer Bockmist, und Sie wissen es. Sie könnten ihm in wenigen Tagen ein Ende machen. Nein, sie haben die Hand im Spiel, und es ist Zeit, dass wir sie dazu bringen, ihre Karten auf den Tisch zu legen.« »Ich fürchte, Joe hat Recht, Michael«, sagte Jefferson und nickte zustimmend. »Wenn wir Zeichen von Schwäche zeigen, wenn wir zögern, dann werden sie den nächsten Schritt tun. Und unsere südkoreanischen Freunde, von unseren eigenen Truppen dort ganz zu schweigen, werden genau das Schicksal erleiden, das Ihnen Sorge macht.« Jefferson hob beide Hände, wie um eine Feuerpause auszurufen. »Okay, Joe. Lassen wir jetzt General Whittier 418
zu Wort kommen. Ich möchte von ihm hören, wie wir die Nordkoreaner am besten davon abbringen, eine derart bodenlose Dummheit zu begehen.« »Ja, Mr. President«, sagte Praeger, redete jedoch unbeirrt weiter. »Ich finde nur, wir sollten aufhören, uns wie ein Haufen Jammerlappen zu benehmen, die sich von Pausenhoftyrannen einschüchtern lassen.« »Ich sagte, es reicht, Joe«, mahnte Jefferson und erlaubte sich ausnahmsweise einen zürnenden Blick. »General Whittier, bitte.« Praeger ordnete die Papiere auf seinem Schoß neu, zufrieden, weil er das letzte Wort gehabt hatte. »Wie Sie wissen, Mr. President, haben wir ungefähr siebenunddreißigtausend US-Soldaten in Südkorea stationiert. Zusammen mit den Truppen der Republik Korea, die sich auf insgesamt eine halbe Million Mann belaufen, ergeben sie eine ziemlich furchteinflößende Streitmacht. Aber Nordkorea hat sage und schreibe achthunderttausend Mann unmittelbar nördlich der entmilitarisierten Zone stehen, mit etwa elftausend auf uns gerichteten Artilleriegeschützen. Wir müssen annehmen, dass sie viele dieser Artilleriegeschosse mit chemischen und biologischen Kampfstoffen bestückt haben. Das kann sehr ungemütlich für uns werden.« Santini sah Whittier an und krümmte sich innerlich. Der Generalstabschef hatte in Vietnam und fast jeder Schlacht seither gekämpft, und er trug die Narben und Prothesen, die es bewiesen. Wie die meisten Menschen, die den Krieg aus nächster Nähe erlebt haben, widerstrebte es ihm, Leute in die Schlacht zu schicken, wenn es nicht einen verdammt guten Grund dafür gab. Aber wie die meisten Berufssoldaten seiner Generation neigte er auch dazu, die Schrecken herunterzuspielen, mit denen man es zu tun hat, 419
wenn Kugeln fliegen und Bomben fallen. »Sie könnten zur Abschreckung erwägen, einen weiteren Flugzeugträger in die Region zu entsenden«, fuhr Whittier fort. »Ich habe gestern Abend mit Admiral Stockdale gesprochen, und er sagte, er könnte einen Flugzeugträgerverband wahrscheinlich in wenigen Tagen in die Gewässer vor Korea schaffen.« »Aber dafür wird eventuell nicht genügend Zeit sein, General«, sagte Jefferson. »Wenn sich die Nordkoreaner entschließen, in den nächsten vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden zu handeln, hilft uns dieser Flugzeugträger rein gar nichts.« Jefferson war eindeutig von Praeger dahingehend präpariert worden, dass Nordkorea auf jeden Fall angreifen werde, und zwar bald. »Richtig, Sir. Aber wenn Sie Ihre Entscheidung öffentlich verkünden und dann noch einen Amphibienverband der Marines aus Okinawa zusammen mit einem Dutzend Geschwader F-16-Jagdflugzeugen nach Misawa schicken, könnte das ihren Tatendrang ein wenig abkühlen. Und zufällig befinden sich noch ein paar UBoote in der Region. Sie sind mit TomahawkMarschflugkörpern bestückt. Wenn sie in Kims Hinterhof auftauchten, würde er wahrscheinlich verstehen, dass er ernsthaft Probleme bekommt, falls er etwas gegen den Süden unternimmt. Und wir können die B-52- und die Tarnkappenbomber startklar machen, damit sie wissen, dass eine Menge Stahl auf sie runterkommen wird. Vielleicht reicht es nicht, um sie abzuschrecken, aber es wird ihnen auf jeden Fall deutlich machen, dass sie einen verdammt hohen Preis zahlen werden.« »Und ist es nicht außerdem so«, schaltete sich Santini ein, »dass der Präsident eine Mobilmachung der Reserve verkünden muss, wenn wir in den Krieg ziehen, und es viel besser ist, dies lange vor einem Gefecht mit den 420
Nordkoreanern zu tun als hinterher?« »Absolut«, stimmte Whittier zu. »Unsere Leute sind jetzt schon überbeansprucht, und wir werden einige Zeit brauchen, sie auszubilden und auf die Schlacht vorzubereiten. Wir wollen bestimmt nicht unsere Fehler aus den ersten Tagen des Koreakrieges in den Fünfzigerjahren wiederholen.« »Aber stimmt es nicht auch«, warf Praeger ein, »dass wir Kim mit einigen von unseren Trident-U-Booten abgefeuerten Atomraketen außer Gefecht setzen könnten?« »Sicher, das könnten wir, aber wir würden damit ein Schwelle überschreiten, die zu einer allgemeinen Verdammung durch die internationale Gemeinschaft einladen würde.« »Was zur Verdammung einladen würde, General, ist, sich geschlagen zu geben«, schoss Praeger zurück. »Das ist keine Option für uns.« »Dem stimme ich zu«, sagte Whittier und sah sich nach jemandem um, der ihm Praeger vom Hals schaffte. »Mr. President«, meldete sich Doug Palmer schließlich in seinem professoralen Ton, »ich denke, es wäre klug, mit Präsident Chi über den heißen Draht Kontakt aufzunehmen, bevor Sie eine Entscheidung …« Ehe Palmer weiterreden konnte, hob Praeger die Hand. »Mr. President, das wäre ein Fehler. Chi wird leugnen, dass die Nordkoreaner etwas vorhaben. Oder er wird uns hinhalten, bis es zu spät ist, um Kim noch zu stoppen. Nein, warten Sie, bis unsere Truppen in Stellung sind, und rufen Sie ihn dann an.« Santini wartete mit seiner Antwort nicht, bis er aufgefordert wurde. »Es ist ausgeschlossen, dass Kim nicht erfährt, dass unsere Truppen unterwegs sind. Er wird überzeugt sein, wir hätten die Entscheidung getroffen, ihn 421
und sein Regime zu erledigen, und er wird glauben, dass er nichts mehr zu verlieren hat.« Jefferson wandte sich an seinen CIA-Direktor. »Was meinen Sie, Jack?« Pelky, der für gewöhnlich eine ruhige und allwissende Haltung wahrte, wirkte erschrocken. »Wie Sie wissen, Mr. President, bin ich kein Politiker …« »Ja, schon klar«, erwiderte Jefferson ungeduldig. »Das war nicht meine Frage. Aber was glauben Sie, wie Kim Song Jo reagieren wird, wenn er unsere Truppen an seine Tür klopfen hört.« Pelky zögerte und legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Das lässt sich schwer vorhersehen. Es steht fifty-fifty, wie er reagieren wird …« »Ach, komm, Jack«, brauste Santini auf. »Um Gottes willen, was soll hier fifty-fifty stehen? Ich habe die Profile über Kim gelesen. Fremdenfeindlich, impulsiv, von Wahnvorstellungen besessen. Glaubst du im Ernst, wenn wir unsere Kriegsschiffe vor seine Küste schicken, wird ihn ein plötzlicher Anfall von Vernunft ereilen?« Praeger sah, dass Pelky im Begriff war, Santinis Argument zuzustimmen und zog seine rhetorische Trumpfkarte. »Das Einzige, was Kim versteht, ist Stärke. Wir können es uns nicht leisten, im Umgang mit ihm schwach oder unschlüssig zu erscheinen. Wenn wir das tun, werden unsere Verbündeten uns nicht trauen und unsere Feinde uns nicht fürchten. Mr. President, dies ist ein entscheidender Augenblick für Amerika.« Jefferson nickte feierlich, sichtlich bewegt von Praegers letztem Hinweis. »Danke, meine Herren«, sagte er, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich schätze mich glücklich, von Ihren Überlegungen profitieren zu dürfen. Ich muss mir die Angelegenheit noch etwas durch den 422
Kopf gehen lassen, werde aber in Kürze eine Entscheidung treffen.« Während die Mitglieder von Jeffersons Sicherheitsrat der Reihe nach langsam aus dem Oval Office spazierten, wandte sich der Präsident an Generalstabschef Whittier. »Ich werde direkt mit Ihnen Kontakt aufnehmen, General, sobald ich entschieden habe, wie wir am besten vorgehen.« Jeffersons letzte Bemerkung traf Santini mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Die Entscheidung, Kim Song Jo herauszufordern, war bereits getroffen worden. Die Sitzung im Oval Office war eine Farce gewesen. Nichts als Schönfärberei, damit die Presse erfuhr, alle hätten Gelegenheit gehabt, sich zu äußern. Präsident Jefferson musste Härte zeigen. Dafür hatte man ihn gewählt, und das erwartete das amerikanische Volk von ihm. Santini sah den PR-Apparat des Weißen Hauses schon in Betrieb. Und Jefferson hatte mehr als deutlich gemacht, dass er als Oberkommandierender Santini übergehen und direkt mit dem Generalsstabschef verhandeln würde. Santini wurde aus der Befehlskette hinauskatapultiert! Als er das Oval Office verließ, brachten es alle anderen fertig, ihn irgendwie nicht anzusehen. Sie verstanden genau, was gerade stattgefunden hatte. Draußen vor dem Weißen Haus nahm Santini auf den Rücksitz seiner Limousine Platz und drückte den Knopf, der die Trennscheibe nach oben fahren ließ. Seine Gefühle waren in heftigem Aufruhr, und er wollte im Augenblick niemanden sehen und mit niemandem reden. Curtis verstand und trat aufs Gaspedal des Cadillac. Santini konnte einfach nicht fassen, was er gerade im Oval Office erlebt hatte. »Entscheidender Augenblick, dass ich nicht lache«, murmelte er vor sich hin. Hunderttausende Menschenleben standen auf dem Spiel, 423
und im Weißen Haus ließen sie die Würfel rollen. Es war fahrlässig, ein reines Glücksspiel. Wieso, fragte er sich, hatte Douglas Palmer nicht einen Mordskrach geschlagen? Sogar mit seinem armseligen Ansinnen, den heißen Draht zu bemühen, hatte er noch klein beigegeben. Und Pelky, der den Kopf bei der Frage einzog, was Kim Song Jo voraussichtlich tun würde, wenn er eine Armada auf sich zukommen sah. Großer Gott! Das alles ergab keinen Sinn. Der Präsident war im Begriff, einen schweren Fehler zu machen. Santini musste ihn aufhalten. Und er hatte nicht viel Zeit. Die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs vergraben, stand Präsident Jefferson vor den kugelsicheren Fenstern des Oval Office und blickte auf den ordentlich gestutzten Rasen hinaus. »Santini war ziemlich aufgebracht, als er ging«, sagte er und klang erkennbar besorgt. »Was, glauben Sie, wird er tun, Joe?« »Er steht in Ihren Diensten, Mr. President. Entweder er zieht die Sache mit durch, oder er steigt aus.« »Denken Sie, er wird zurücktreten?« »Er wird es nicht wagen, in einer solchen Zeit aufzugeben. Er wird eine Weile schlecht gelaunt sein und schmollen, aber letzten Endes bleibt ihm nichts anderes übrig, als Sie zu unterstützen. Helden bekommen in Krisenzeiten keine weichen Knie. Jedenfalls echte Helden nicht.« »Hoffentlich haben Sie Recht, Joe«, sagte Jefferson und klang nicht sehr überzeugt. »Hoffentlich haben Sie Recht.«
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Sofort nachdem Santini sein Büro im Pentagon betreten hatte, zog er das Palm-Pilot-Handy hervor, das er immer in der Innentasche seines Sakkos stecken hatte. Aber er kam rasch zu dem Entschluss, dass es keinen Sinn hatte, wenn er versuchte, Minister Xu über das Verteidigungsministerium zu erreichen. Die chinesische Bürokratie konnte es an Kompliziertheit mit Rubiks Würfel aufnehmen. Und selbst wenn er am Telefon durchkäme, würden Lis Leute das Gespräch wahrscheinlich abfangen. Dann fiel ihm ein, dass er ja eine private Nummer von Xu besaß. Er holte die Karte hervor, die ihm Xu an jenem Abend beim Empfang im Außenministerium gegeben hatte. Er ging an das Telefon auf seinem Schreibtisch, tippte die Zahlen ein, die von Hand geschrieben auf der Karte standen, und wartete. Der erste Versuch führte nur zu einem Besetztzeichen. Beim zweiten bat ihn eine Tonbandstimme, eine Nachricht zu hinterlassen. Er griff erneut zu seinem Palm Pilot. Mit einem Stift tippte er die Buchstaben Xu ein. Xus E-Mail-Adresse erschien sofort auf dem kleinen beleuchteten Schirm. Xu. SOS. Dringend. Erbitte umgehend Antwort. Santini. Er wartete. Minuten vergingen. Nichts. Er drückte noch einmal auf Senden. Wieder kam keine Antwort. Frustriert tippte er die Buchstaben H-a-r ein. Sofort erschien der Name Hartley, Randall auf dem Schirm, dazu Hartleys private Telefonnummer. »Ich entnehme der Zeitung, dass Sie knapp davongekommen sind, Randy.« »Aufgeschürfte Knie und eine zerrissene Hose«, antwortete Hartley. »Danke für die Anteilnahme.« »Ich muss mit Ihnen reden, Randy. Es hat sich etwas ergeben, wozu ich Ihre … Ihren Scharfblick brauche.« Santini sprach über eine offene Leitung, und irgendwer 425
überwachte seine Gespräche immer. »Sie wissen ja, ich bin stets gern zu Diensten. Muss wohl sehr ernst sein.« Das war Hartleys Methode, möglichst schon zu Beginn des Gesprächs möglichst viele Informationen herauszukitzeln. Die beiden Männer hatten sich seit dem Flug nach München vor fast einem Monat nicht mehr gesprochen. »Das ist es, Randy. Haben Sie Zeit für ein Treffen?« »Für Sie? Immer. Wo?« »Ich kann in einer Viertelstunde bei Ihnen sein.« »Dann mal los. Ich setze inzwischen Kaffee auf.« General Whittier war nicht glücklich. Er war kaum eine halbe Stunde lang wieder in seinem Büro gewesen, als Präsident Jefferson anrief und ihn aufforderte, mit dem Abschreckungsplan loszulegen, den sie diskutiert hatten. Whittier lehnte sich in dem Ledersessel zurück, den ihm seine Frau zum Abschluss seiner Anstellung am Special Operations Command geschenkt hatte, und empfand alles andere als Stolz. Er war überrascht gewesen, als ihn Jefferson am Vormittag angerufen und gebeten hatte, sämtlich Operationskonzepte gegen Nordkorea abzustauben und ins Weiße Haus zu bringen. Es kam ihm ungewöhnlich vor, weil sich die nordkoreanische Führung in letzter Zeit nicht sichtbar aufgespielt hatte und ihm auch keine Geheimdienstberichte bekannt waren, die auf das Gegenteil schließen ließen. Aber bei den Nordkoreanern konnte man nie wissen. An einem Tag drohten sie damit, Südkorea in ein »Flammenmeer« zu verwandeln, am nächsten boten sie an, direkte Handelsbeziehungen mit ihren fehlgeleiteten, 426
aber geliebten Brüdern zu eröffnen. Wie einen üblen Virus wurde man sie nicht los, ob es einem nun gefiel oder nicht. Bis heute Vormittag war es Whittier nie in den Sinn gekommen, dass Santini von den wesentlichen Entscheidungen abgeschnitten sein könnte. Aber so war es offenbar. Schlimmer noch, Jefferson hatte deutlich gemacht, dass er das Vertrauen in seinen Verteidigungsminister verloren hatte. Santini war zu stolz, um im Amt zu bleiben. Man hatte ihm übel mitgespielt. Und es bestand kein Zweifel, dass Praeger seine Hände im Spiel hatte. Whittier verfluchte sich, weil er unwissentlich zum Mitwirkenden in dem Komplott geworden war. Er hätte merken müssen, dass etwas im Busch war, hätte bei Santini nachfragen und mit ihm absprechen müssen, was sie bei der Sitzung sagen würden. Jetzt war es zu spät. Jefferson, der Oberkommandierende, war sein Boss. Der Mann, der ihn zum Generalstabschef ernannt hatte. Und Santini, ein Mann mit Kriegserfahrung wie er selbst, war derjenige, auf den er zählte, wenn es darum ging, das Weiße Haus von riskanten Abenteuern abzuhalten. Widerwillig schwenkte Whittier zu der Konsole hinter seinem Schreibtisch herum und nahm den Hörer seines abhörsicheren Telefons. Er drückte den Knopf, der ihn direkt mit Admiral Carl Blackstone verband, dem Befehlshaber des Pazifikkommandos. Blackstone war nach dem zweiten Läuten am Apparat. Die Anruferidentifikation zeigte ihm, dass Whittier in der Leitung war. »Hier Blackstone, Sir.« Mit einer nüchternen Ruhe, nach der ihm eigentlich nicht zumute war, schickte Whittier ein paar Höflichkeitsfloskeln voraus, ehe er sagte: »Carl, Sie müssen mit den beiden 688ern Kontakt aufnehmen, die bei der Operation 427
Bonanza im Einsatz sind. Geben Sie ihnen Anweisung, zur Küste von Krypton vorzurücken. Funkstille bis zu weiteren Instruktionen.« Blackstone zögerte einen Moment, als wartete er auf genauere Ausführungen. Als keine kamen, sagte er: »Verstanden.« Anschließend rief Whittier General Pete Perkins, den Kommandeur der auf Okinawa stationierten Marines an. »Pete«, sagte Whittier ohne Einleitung, »ich brauche einen Amphibienverband, der sich auf den Weg nach Krypton macht. Nennen Sie es ›Übung Goldband‹.« »Showtime?« »Weiß ich noch nicht. Bleiben Sie auf Empfang.« Als er auflegte, fiel sein Blick auf das Buch, das immer auf seinem Schreibtisch lag, direkt neben der Bibel, die er von seinem Vater geerbt hatte. Der Titel des Buches lautete Pflichtvergessenheit. Es beschrieb, wie Amerikas militärische Führer ihr Urteilsvermögen von Politikern verzerren und manipulieren ließen. Wie in den Korridoren der Macht in Washington die Wahrheit zum ersten Kriegsopfer geworden war. In den Kämpfen, die darauf folgten, hatten mehr als achtundfünfzigtausend Mann ihr Leben gelassen. Wie Mark Twain beobachtet hatte, wiederholte sich die Geschichte nicht immer, aber sie neigte dazu, einen Reim zu ergeben. Falls die Geschichte des Überläufers stimmte, dann konnte es Kim Song Jo tatsächlich von einer Dummheit abhalten, wenn Amerika nun handelte. Aber wenn sie falsch war, brachen die USA womöglich einen Krieg vom Zaun, der weiß Gott wie viele Menschenleben kostete. Die Kriegsfurien waren los – die Frage war nur, welche 428
Richtung sie einschlugen. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde er die Antwort kennen. Curtis schaffte es, Santini in knapp zwölf Minuten über die Key Bridge und durch den Verkehr von Georgetown zu befördern. Santini befürchtete immer, Curtis würde mit diesem zwei Tonnen schweren Panzer eines Tages durch ein Straßencafé pflügen und Dutzende von Menschen töten. Aber Curtis kannte die Limousine in- und auswendig und war mit jedem Quadratmeter Asphalt in Washington vertraut. Er hätte mit dem Fahrzeug an einem Indianapolis-Rennen teilnehmen können und wäre ohne Kratzer rausgekommen. In seinen acht Monaten im Pentagon hatte sich Santini nur einmal verspätet, damals, als ihn Joe Praeger im Weißen Haus aufgehalten hatte, so dass er Xu bei dessen Ankunft im Außenministerium nicht begrüßen konnte. Hartley begrüßte Santini an der Haustür. Er war leger gekleidet, mit ausgebeulter Kordhose, burgunderrotem Rundkragenpullover und Tennisschuhen. Er lächelte breit, als er Santini die Hand schüttelte. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als er das Stirnrunzeln auf Santinis Gesicht sah. »Ja, sicher. Aber wie steht es mit Ihnen? Sie sind ein paar Kugeln ziemlich nahe gekommen.« »Die gingen alle daneben. Was mich angeht, meine ich. Was ist denn nun der Grund für Ihren Besuch?« »Ich muss unter vier Augen mit Ihnen reden.« »Ich freue mich immer auf ein Schwätzchen allein mit Ihnen«, erwiderte Hartley mit einem Anflug von Ironie. Die Privatgespräche, die er im Lauf der Jahre mit Santini 429
geführt hatte, konnte er an einer Hand abzählen. »Kommen Sie, wir gehen nach oben.« Die beiden Männer tauschten Belanglosigkeiten aus, während sie drei Treppenfluchten bis zum Büro des Hausherrn hinaufstiegen. Santini vermutete, dass die Treppe für Hartleys einzige regelmäßige Bewegung sorgte. Er war erst einmal im Büro des Journalisten gewesen. Damals hatte es ihn überrascht, dass Hartley mindestens zwei oder drei Vollzeitangestellte hatte, die Anrufe entgegennahmen, an Computern tippten und umfangreiche Unterlagen in Dutzende von Aktenschränken an den Wänden stopften. Heute Nachmittag jedoch waren die beiden Männer allein, abgesehen von Hoover, Hartleys Malteserhündchen. Santini war sich nicht sicher, ob der Name auf J. Edgar Hoover anspielte – da das FBI häufig die Zielscheibe von Hartleys Recherchen gewesen war –, oder ob der Hund wie ein Staubsauger einfach alles in sich hineinfraß, was er fand. Hartley reichte Santini eine Washington-Post-Tasse mit dampfend heißem Kaffee, und sie ließen sich auf einer weichen Ledercouch nieder. »Also, was kann ich für Sie tun, Mr. Secretary?« »Was ich Ihnen jetzt sagen werde, Randy, ist noch in hohem Maße geheim. Wir beide haben ja schon gelegentlich erörtert, wie es mir damit geht, Ihnen Informationen zukommen zu lassen, seien sie geheim oder nicht.« Hartley nickte, sagte aber nichts. »Es hat sich etwas ergeben, das ich mit Ihnen diskutieren muss, aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie es weder an die Post noch an irgendwen sonst weiterreichen.« Hartley stellte seine Kaffeetasse auf dem Couchtisch ab. »Sie haben Recht, wir hatten diese Diskussion bereits. Und 430
Sie erinnern sich vielleicht, dass ich ein solches Versprechen nicht geben kann. Ich kann lediglich versprechen, dass ich alle Bedenken, die Sie bezüglich der nationalen Sicherheit haben, berücksichtigen werde. Wenn ich glaube, dass andernfalls Menschenleben gefährdet werden oder das Land irgendwie Schaden nimmt, dann bleibt die Sache unter uns. Aber mehr kann ich nicht zusichern.« Santini zögerte, es beunruhigte ihn, dass er Hartley diese Information ohne das Versprechen absoluter Vertraulichkeit enthüllen musste. »Okay«, sagte er schließlich. »Wie die CIA von den Schweden erfahren hat, behauptet ein nordkoreanischer Überläufer felsenfest, dass Kim Song Jo im Begriff sei, einen Überraschungsangriff auf den Süden zu starten. Jefferson erwägt, die Marines und ein paar UBoote in die Region zu schicken. Das könnte China, vielleicht auch Russland auf den Plan rufen.« »Was halten Sie von der Geschichte des Überläufers?«, fragte Hartley unaufgeregt. »Ich weiß nicht. Ehrlich gesagt kam sie völlig aus heiterem Himmel. Ich verstehe nur nicht, wieso Pelky sie ohne weiteres kauft.« »Alle sind nervös und bereit, beim kleinsten Anlass loszuballern«, sagte Hartley. »Niemand will sich vorwerfen lassen, gewartet zu haben, bis wir angegriffen werden, oder die Punkte nicht miteinander verbunden zu haben. Pelky befürchtet wahrscheinlich, dass man ihn vor den Kongress zerrt und kreuzigt, wenn er den Bericht nicht akzeptiert. Das ist eine der tragischsten Auswirkungen des 11. September. Legt an und Feuer. Es kommt heute nicht mehr darauf an, Recht zu haben, sondern schneller zu sein.« »Aber wir könnten einen Weltkrieg aufgrund einer totalen Fehlinformation auslösen.« 431
»Ganz genau. Und das ist ein Grund, warum die Post eine Enthüllungsgeschichte über exakt dieses Thema vorbereitet.« »Aber sagten Sie nicht gerade …«, begann Santini, erschüttert, wie schnell Hartley seine Bedenken über Bord warf. »Nur die Ruhe, Mr. Secretary. Einer meiner Informanten bei der CIA hat die Story vor ein paar Tagen einem früheren Arbeitskollegen bei der Post erzählt. Ich habe lange bevor Sie gekommen sind alle Quellen abgeklappert. Sie haben mir nichts gesagt, was ich nicht schon wusste.« »Was halten Sie davon?« »Ich glaube, die Geschichte ist erfunden«, antwortete Hartley. »Kim Song Jo mag ja glauben, er könne die USA nervös machen. Vielleicht will er die Japaner erschrecken, oder er versucht, einen Hebel für die bevorstehenden Verhandlungen in die Hand zu bekommen. Aber es ergibt absolut keinen Sinn für den ›Großen Führer‹, einen militärischen Angriff zu starten.« »Bestimmt nicht. Der Kerl müsste ja völlig bekloppt sein, so etwas zu tun«, sagte Santini. »Aber vielleicht hat er ja vor zu erklären, er sei von Gerüchten provoziert worden, wonach Jefferson einen ›Enthauptungsschlag‹ plane. Oder er denkt, er könne einen raschen Schlag führen und sich dann darauf verlassen, dass ihm seine Freunde bei den Vereinten Nationen zu Hilfe eilen und seinen Arsch retten, ehe wir ihn vom Angesicht der Erde tilgen.« »Nein. Er hat zu viel zu verlieren. Und im Augenblick entwickeln sich die Dinge in die richtige Richtung für ihn. Ich bin überzeugt, es handelt sich um Desinformation, und dieser Ansicht sind auch die Leute, mit denen ich gesprochen habe, darunter Leute in der CIA. Es sieht aus, 432
als würde Pelky von Praeger platt gemacht. Ein Rätsel gibt es allerdings: Wer setzt die Geschichte in die Welt? Und zu welchem Zweck? Ich habe noch nicht ganz herausgefunden, wer im Hintergrund die Fäden zieht, aber ich hoffe, bald so weit zu sein.« »Wie bald wird die Post mit der Überläufergeschichte herauskommen?«, fragte Santini. »In den nächsten Tagen, vermute ich. Wie Sie wissen, bin ich nicht mehr im Reportagegeschäft, aber ich bin mir sicher, Don Graham wird in dieser Sache sehr vorsichtig zu Werke gehen. Es steht eine Menge auf dem Spiel, falls sich die Post irrt.« »Ja, und genau so viel, wenn Ihre Einschätzung zutrifft, dass wir auf einen Fall von Desinformation reagieren.« Santini trank seinen Kaffee aus, dankte Hartley für das Gespräch und machte sich auf den Weg zur Treppe. Hartley hielt ihn auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Noch etwas, Mr. Secretary. Ein Korrespondent der Post in Tokio hat eine Sache aufgeschnappt, die Sie interessieren könnte.« Hartley machte eine kleine Pause, um die Dramatik zu erhöhen, ehe er fortfuhr. »Er hat gehört, dass die japanische Presse eine Geschichte verfolgt, wonach die USA heimlich taktische Nuklearwaffen auf einem unserer Stützpunkte dort gelagert haben, die gegen China eingesetzt werden sollen, falls die Chinesen jemals Taiwan angreifen. Das würde ja wohl einen ziemlichen Sturm der Entrüstung gegen Premier Yakashita entfachen. Vielleicht sollten Sie die Sache überprüfen.« Santini schüttelte nur den Kopf, teils zur Verneinung, teils aus Ekel. Großer Gott, wenn diese Lügengeschichte gedruckt wurde, konnte die Regierung von Premier Yakashita stürzen. Oder er würde verlangen, dass Amerika 433
alle seine Operationsbasen in Japan schloss. »Und da ist noch etwas«, sagte Hartley nach einer weiteren Pause. »Meine Freunde beim FBI sagen, dass heute Morgen bei Hains Point drei frisch erschossene Männer gefunden wurden.« »Nichts Ungewöhnliches für D.C. heutzutage«, erwiderte Santini vorsichtig. »Zwei von ihnen waren Tschetschenen und trugen Tätowierungen – ein Wolfsymbol und ihren Namen. Einer der Namen war Tago.« »Tago«, sagte Santini und legte nun seinerseits die Hand auf Hartleys Schulter. »Sie sind knapper davongekommen, als Sie glauben, Randy.« Hartley nickte. »Ich weiß, Mr. Secretary. Einen schönen Tag noch.« Dann schloss er die Tür hinter Santini.
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45 Zurück im Pentagon, rannte Santini die Treppe hinauf, die in den Eisenhowerkorridor führte, und schlüpfte durch die Hintertür in sein Büro. Erneut versuchte er, Xu zu erreichen. Und abermals hatte er über das Telefon kein Glück. Diesmal tippte er auf seinem Palm Pilot eine verschlüsselte Nachricht: Weißes Haus glaubt fälschlich, Nordkorea will Süden angreifen. Unmittelbar drohende Kriegsgefahr. Erbitte schnellstmöglich Kontakt! Wieder kam keine Antwort. »Scott, ich muss nach Peking«, sagte Santini. »Kein Problem, Sir. Ich lasse eine Boeing 757 auftanken und startklar machen. Dann sage ich der Protokollabteilung Bescheid und trommle die übliche Schar Presseleute zusammen.« »Nein, ich muss allein reisen. Keine Presse. Niemand. Und ich muss in weniger als zwölf Stunden dort sein.« O’Neill hob erstaunt den Kopf. Was Santini verlangte, war unmöglich. »Wir behaupten ja gerne, dass Unmögliches sofort erledigt wird und Wunder etwas länger dauern, aber das ist zu viel des Guten. Es ist ausgeschlossen, Sie in weniger als sechzehn bis achtzehn Stunden nach Peking zu bringen. Noch hat unsere Forschungsabteilung nicht herausgefunden, wie die Sache mit dem Beamen funktioniert.« Er schürzte die Lippen und atmete aus, als wollte er einen Luftballon aufblasen. »Darf ich fragen, Sir, wen Sie treffen wollen und warum Sie es so eilig haben?« »Der Präsident ist im Begriff, einen Amphibienverband 435
der Marines und ein paar 688er-U-Boote vor die Küste Nordkoreas zu schicken.« »Wie bitte?« »Die CIA behauptet, sie wüssten von einem nordkoreanischen Überläufer, dass Kim Song Jo jeden Moment einen Militärschlag gegen den Süden führen wird, und der Präsident will Kim auf diese Weise eine Botschaft übermitteln.« »Du meine Güte! Wie verlässlich ist der Überläufer? Hatte irgendwer von unseren Leuten Gelegenheit, seinen Bericht anzuhören und den Mann zu überprüfen?« »Nein. Sie verlassen sich auf die Schweden. Ich verstehe nicht, was zum Teufel da vor sich geht. Pelky steht unter ständigem Druck von Praeger. Aber das ist unverantwortlich. Kein Job ist eine solche Verrücktheit wert. China könnte die Sache im Handumdrehen weiter eskalieren lassen. Und Russland hat ein Sicherheitsabkommen mit Kim. Das Ganze kann zu einem Flächenbrand werden, wenn wir es nicht stoppen.« »Lassen Sie mich kurz den Advocatus Diaboli spielen. Was, wenn Pelky Recht hat? Falls unsere Jungs in Südkorea ohne Warnung angegriffen werden, machen die Hackfleisch aus ihnen.« »Das wird nicht passieren, Scott. Es handelt sich um Desinformation. Um eine List. General Li, der Fanatiker von der VBA, der hinter Holloman und dem Gasangriff steckt, will uns hereinlegen. Ich bin überzeugt, sie greifen Taiwan an, während unsere Aufmerksamkeit und unsere Truppen auf die Verteidigung Südkoreas konzentriert sind.« O’Neill blickte zutiefst skeptisch drein. »Unsere nachrichtendienstlichen Erkenntnisse zeigen keinerlei Vorbereitungen Chinas zu einem Angriff auf Taiwan.« 436
»Genau, Scott. Sie haben alle ihre Mittelstreckenraketen bereits in den letzten Jahren auf Angriffsdistanz verlegt. Sie haben im Januar in der Straße von Taiwan kombinierte Manöver der verschiedenen Waffengattungen durchgeführt. Sie wissen, dass sie jederzeit losschlagen können. Und die Taiwanesen haben nicht das Geringste getan, um sich auf einen Krieg vorzubereiten. Die haben sich ja sogar geweigert, wichtige Kommandozentralen zu verstärken. Wenn sie angegriffen werden, klappen sie zusammen wie ein Billigzelt im Sturm. Vierundzwanzig, höchstens achtundvierzig Stunden und es ist vorbei.« »Warum werfen ihre politischen Führer dann verbale Bomben und behaupten, sie wollen über die Unabhängigkeit vom Festland abstimmen lassen?« »Weil sie nicht glauben, dass die Chinesen es wagen werden, sie anzugreifen. China ist Gastgeber der Olympischen Spiele 2008, und Präsident Chi wird keine internationale Reaktion auf eine militärische Aggression riskieren. Außerdem sind sie fest überzeugt, dass ihnen Uncle Sam immer zu Hilfe kommen wird. Ich sage Ihnen, Scott, wir werden hereingelegt. Die älteste Kriegslist, die es gibt. Links antäuschen, rechts schlagen. Das war mein wirkungsvollstes Manöver in meiner Zeit im Boxring. Kurzer linker Haken, rechter Cross.« »Darf ich vorschlagen, Sir, dass Sie in diesem Fall den chinesischen Verteidigungsminister anrufen? Ein Telefonat mit Xu geht, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, sehr viel schneller, als hinzufliegen und direkt mit ihm zu reden.« »Ich habe versucht, ihn anzurufen. Keine Antwort. Abgesehen davon sind meine Informationen hochbrisant. Ich muss mich direkt mit dem chinesischen Präsidenten treffen. Wir müssen Xu natürlich weiter anrufen und sehen, ob er ein Treffen für mich arrangieren kann, aber 437
ich muss die Sache persönlich erledigen. Es ist ausgeschlossen, dass man ein Unterfangen, das im Kern auf einen Militärputsch hinausläuft, mit einem Telefongespräch aufhält. Sie werden mir nie glauben, wenn ich es ihnen nicht direkt darlegen kann.« »Ich bin wirklich ungern so negativ, Mr. Secretary, aber da haben wir verdammt noch mal Pech. Es gibt schlicht und ergreifend keine Möglichkeit, wie ich Sie rechtzeitig nach Peking befördern kann.« Santini lief vor den großen Erkerfenstern seines Büros auf und ab. »Was ist mit der Blackbird?« »Die SR-71 Blackbird? Hat der Kongress das Programm nicht Ende der Achtziger gestrichen?« »Hat er. Haben wir. Ein großer Fehler. 1995 ist es uns gelungen, dreihundert Millionen Dollar wieder in den Haushalt einzustellen, um drei Stück von ihnen zu reaktivieren. Ich glaube, die NASA experimentiert seitdem auf ihrem Dryden Flight Research Center mit ihnen herum. Sie erforschen die Auswirkungen des Überschallknalls, den Einsatz von UV-Videokameras und lasergestützte Systeme zum Sammeln von Funkdaten.« »Ehrlich gesagt hatte ich dieses Flugzeug völlig vergessen. Es hat der Luftwaffe gehört, und die war nicht gewillt, es mit uns Sterblichen zu teilen.« »Es könnte mich rechtzeitig hinbringen, oder?« »Ja. Es fliegt in einer Stunde quer über Amerika. Natürlich kann es ein paar Stunden dauern, bis wir die NASA so weit haben, dass sie ihren Arsch bewegt und das Ding nach Andrews fliegt. Aber wenn es erst mal da ist, bringt es Sie in ein paar Stunden schnurstracks nach Peking. Das Auftanken ist noch ein Problem, das könnte ein bisschen knifflig werden, aber ich mache mich auf der Stelle an die Arbeit.« 438
Plötzlich wie neu belebt, machte sich O’Neill auf den Weg zur Tür. »Hoffen wir, dass die Babys noch in Betrieb sind. Ich rufe Frank Gunter bei der NASA an und hole die Führungsetage mit ins Boot. Er wird nicht alle Einzelheiten kennen, aber er kann die Leute auf der Edwards Air Base sicherlich dazu bringen, dass sie sich anstrengen und nur darauf konzentrieren, was in einem engen Zeitrahmen machbar ist. Und ich kenne einen früheren U-2-Piloten namens Chuck Smith, der beim Generalstab in der Abteilung für Aufklärungsoperationen arbeitet. Er sollte mir helfen können herauszufinden, was wir bis morgen früh für Sie tun können. Die unternehmen ständig irgendwelche heiklen Missionen ohne Vorlaufzeit.« Kaum hatte O’Neill nach seinem Gespräch mit Chuck Smith aufgelegt, startete er eine Reihe von Anrufen nach dem Motto: »Stellen Sie mir keine Fragen«, in denen er Tankflugzeuge von den Luftwaffenstützpunkten Travis in Kalifornien und Fairchild in Washington anforderte. O’Neills Anrufe bei Gunter und Smith zeigten Wirkung, weil er es verstand, Dringlichkeit und Not zu vermitteln, ohne dabei in Details zu gehen. Man vertraute ihm und akzeptierte seine Bitten, auch wenn man keinen Grund dafür erfuhr. Es funktionierte nicht immer, aber oft genug, um O’Neill zu einer Legende im Pentagon werden zu lassen. Als Nächstes rief er einen alten Fliegerkumpel namens Buz Murphy an, Lieutenant Colonel im Ruhestand. Murphy war Pilot und später Ausbilder für die SR-71 gewesen und zur NASA gegangen, als die Air Force Ende der Neunzigerjahre den Flugbetrieb der SR-71 einstellte. Er wohnte in der Nähe der Edwards Air Force Base. 439
»Pass auf, es geht um Folgendes«, sagte O’Neill zu Murphy. »Ich möchte, dass du den Verteidigungsminister nonstop nach China fliegst. Das Unternehmen ist von niemandem genehmigt außer vom Minister selbst. Es ist so geheim, dass es keinen Namen für die Geheimhaltungsstufe gibt.« »Okay«, sagte Murphy. »Und jetzt die Einzelheiten.« Gut eine Stunde nachdem Santini O’Neill angewiesen hatte, den Flug in die Wege zu leiten, stand der Admiral vor dem Schreibtisch des Ministers. »Um 21.00 Uhr beginnen wir mit einem Briefing für den morgigen Ablauf. Inzwischen können wir Xu veranlassen, sich auf geheimen Kanälen an Präsident Chi zu wenden, um Ihr Treffen mit ihm am nächsten Morgen vorzubereiten. Ich schlage vor, Sie bringen in Erfahrung, wo ihm Ihre Landung am genehmsten wäre, damit er die Sache geheim halten kann.« Punkt 21.00 Uhr instruierte O’Neill seinen Chef über den Ablauf des Unternehmens. »In diesem Augenblick, Mr. Secretary, hebt eine SR-71 Blackbird vom Luftwaffenstützpunkt Edwards in Kalifornien ab. Sie wird von Buz Murphy geflogen, einem unserer erfahrensten Piloten. Er wird morgen auch Ihr Pilot für den Flug nach China sein. Wie es ein glücklicher Zufall wollte, hatte die NASA diese Maschine für einen Checkflug vorbereitet, der morgen stattfinden sollte. Der Check wird jetzt heute Abend auf dem Weg nach Andrews durchgeführt. Ein KC-10-Tankflugzeug mit Spezialtreibstoff und allem nötigen Zubehör und Personal wird in etwa zwei Stunden starten und gegen 5.00 Uhr morgens auf dem Stützpunkt Andrews eintreffen. Sie werden mit der Flugzeugkennung Aspen Special von Andrews starten. Alle Flugleitzentralen wissen Bescheid, dass damit eine SR-71 gemeint ist, die bevorzugt 440
behandelt werden muss. Ein Wiederauftanken wird südlich von Seattle durch zwei Tankflugzeuge erfolgen. Eine KC-10 ist unterwegs zum Stützpunkt Fairchild im Bundesstaat Washington, um dort Treibstoff an Bord zu nehmen. Sie wird rechtzeitig losfliegen, um Sie nach rund dreieinhalb Stunden Flugzeit südlich der Insel Attu in den Aleuten ein zweites Mal wiederaufzutanken. Ein drittes Mal werden Sie im japanischen Meer von einem Paar alter Tankflugzeuge des Typ Q neuen Treibstoff aufnehmen. Sie kommen vom Stützpunkt Kadena auf Okinawa, dort lagert noch immer JP-7Treibstoff für nationale Notfälle wie diesen. Es wird auch ein wenig Unterstützung durch eine Eskorte geben, die von der Misawa Air Force Base aufsteigt, für den Fall, dass irgendwas schief geht. Wahrscheinlich werden Sie die Jungs nicht brauchen, aber es ist nett zu wissen, dass ein paar von ihnen in der Nähe sind, falls es zu dem kommt, was Piloten gern eine Wasserlandung nennen. Sie werden Südkorea in Überschallgeschwindigkeit überqueren und über dem Gelben Meer nach Norden schwenken, um sich Peking von Süden zu nähern. Diese Route vermeidet alle Probleme mit russischen oder nordkoreanischen Überflugrechten. Ihre Reisezeit beträgt rund sechs Stunden, und Sie werden um etwa 5.00 Uhr Ortszeit in Peking eintreffen. Ich habe Ihre Konfektions- und Schuhgröße sowie Ihr Gewicht an Edwards durchgegeben. An Bord des Tankflugzeugs, das gegen 5.00 Uhr auf Andrews eintreffen soll, werden sich zwei Raumanzüge befinden. In der Höhenkammer in Andrews wird für Ihren Raumanzug Maß genommen. Es wird dann noch eine rasche Probe in der Kammer geben, um zu sehen, ob der Anzug passt und dicht ist, und um Ihnen beizubringen, wie Sie den Schutzanzug während des Fluges benutzen. Sie 441
bekommen eine rasche Einführung, was man als Passagier einer Blackbird wissen muss, ehe Sie an Bord gehen.« Nach dem Briefing tippte Santini eine weitere Nachricht an Xu: »Treffen mit Ihnen und Präsident Chi lebenswichtig. Es geht um alles. Eintreffe Peking Freitag 05.00 mit SR-71. Halten Sie Luftraum frei. Santini.« Er hoffte, dass die Nachricht diesmal durchkam. Santini und O’Neill verbrachten die Nacht im Pentagon. O’Neill schlief unruhig auf einem mitgebrachten aufblasbaren Kissen, während Santini in einem Schrankbett schlummerte, das er sich in einer kleinen Leseecke seines Büros hatte einrichten lassen. Santini hinterließ Margie eine Notiz, in der er sie bat, ihm möglichst lange Rückendeckung zu geben. »Kann nicht sagen, wohin ich reise. Geben Sie notfalls an, ich sei mit ›unbekanntem Ziel‹ unterwegs.« O’Neill mobilisierte Curtis und wies ihn an, Santini um 4.45 Uhr abzuholen. »Wir werden nach Andrews fahren, Curtis«, sagte er. »Aber es wird keinen Verfolgungswagen geben, und Sie werden das Ziel des Ministers nicht kennen. Manchmal ist es eben so, dass alle den Mund halten müssen.« »Von mir erfährt niemand ein Wort, Admiral«, entgegnete Curtis.
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46 ANDREWS AIR FORCE BASE Das Tankflugzeug vom Stützpunkt Edwards traf planmäßig ein. Ein Team vom Physiological Support brachte die G-Anzüge in die Höhenkammer. Ein Offizier der Testabteilung für Aufklärungssysteme bereitete einen Schnellkurs darüber vor, was ein Nichtflieger über die Rücksitzausstattung einer SR-71 wissen musste. Das Flugzeug selbst war in einen riesigen Hangar gerollt, dessen Tore man geschlossen hatte. Nur wenige Leute auf Andrews wussten überhaupt, dass es angekommen war. Im Hangar wurden die Tanks der Maschine mit JP-7 gefüllt. Navigatoren begannen, die Astro-InertialNavigation für den Flugplan nach China auszurichten. Das System würde das Flugzeug mit einer Abweichung von weniger als hundert Metern auf Kurs halten, ohne dass Navigationshilfen nötig waren. Als Santinis Wagen am Haupttor von Andrews eintraf, bremste Curtis für die Einlasskontrolle ab, wurde jedoch sofort durchgewunken. Um kein Aufhebens um den Besuch des Verteidigungsminister zu machen, gab es keine Sicherheitseskorte, keinen Papierkram. Der für die Höhenkammer verantwortliche Offizier begrüßte Santini und führte ihn eilig in den Trainingsraum. »Es gab noch nie einen tödlichen Unfall mit der SR-71, Mr. Secretary«, sagte der Offizier. »Und diese Bilanz wollen wir uns auf keinen Fall ruinieren.« »Da bin ich ganz Ihrer Ansicht, Major«, erwiderte 443
Santini. Zwei Sergeants tauchten auf und halfen Santini in seinen Raumanzug und den Helm. Alles passte perfekt. Dann brachten sie ihn in die Kammer. Sie setzten ihn in einen Sitz, der exakt dem echten entsprach, in dem er gleich Platz nehmen würde, und dann wurde er auf eine simulierte Höhe von neuntausend Metern gebracht. »So wird es während der Mission in der Kabine sein, Mr. Secretary«, sagte der Techniker, der die Höhenkammer bediente, durch die Sprechanlage. Für Santini hörte es sich an, als befände sich der Mann mit ihm im Helm. Fünfzehn Minuten später ertönte die Stimme erneut. »Machen Sie sich bitte für eine Notfallsimulation bereit. Kein Grund zur Unruhe. Sie werden gleich erleben, wie es wäre, wenn die Kabine plötzlich Druck verlieren würde.« Mit einem Zischen, das wie ein Wirbelsturm klang, rauschte die Luft aus der Kammer, die nun zwanzigtausend Meter Höhe simulierte. Santinis G-Anzug blies sich voll auf. Er geriet für einen kurzen Moment in Panik, weil sich seine Arme und Beine anfühlten, als gehörten sie nicht zu ihm. Die Panik verging aber wieder, als er merkte, dass er sich bewegen konnte, wenn auch seltsam ungelenk. »Ich komme mir vor wie das MichelinMännchen«, sagte er. »Sie machen das wunderbar, Mr. Secretary. Wir bringen Sie jetzt wieder auf neuntausend Meter herunter. Sie werden noch knapp eine Stunde hier drin sein.« Als die Akklimatisierung vorüber war, brachte man Santini, im Raumanzug und mit dem Helm unterm Arm, in eine kleine Caféteria, wo er Buz Murphy kennen lernte. Die beiden Männer bekamen Steaks und Eier serviert. »Wir werden in etwa acht Stunden in Peking sein«, sagte Murphy. »Ihr Einsatzname ist ›Boss‹, und wenn Sie nichts 444
dagegen haben, werde ich Sie so nennen. Mein Einsatzname ist ›Irish‹, also werden Sie mich so ansprechen. Ich möchte Ihnen sagen, dass das mein bester Einsatz seit Jahren ist. Und ich hatte ein paar von dieser Art, Einsätze, von denen ich nie werde erzählen können.« Murphy tunkte mit einem Stück Toast den letzten Rest Ei von seinem Teller auf. »Wir sehen uns im Flugzeug … Boss«, sagte er und zeigte den erhobenen Daumen. Santini war kein Pilot. Er hatte den Umgang mit GKräften oder Schleudertechniken nie trainiert. Während er noch darüber nachdachte, kam ein Sergeant auf ihn zu. Er begleitete Santini in einen kleinen, kahlen Raum, wo er in lang gezogenem Texas-Slang die Einführung für SR-71Passagiere gab, die O’Neill versprochen hatte. »Ihr Platz wird im hinteren Sitz sein«, sagte er. »Dort sitzt normalerweise der Beobachter und hat eine Menge Aufgaben zu erfüllen. Sie, Sir, müssen nichts weiter tun, als dort zu sitzen. Vor Ihnen wird sich eine spezielle Karte befinden, die für Sie zusammengestellt wird. Sie erkennen darauf, wie die Notfallprozeduren aussehen und was Sie gegebenenfalls zu tun haben, falls Ihnen der Pilot entsprechende Anweisungen gibt. Der Pilot ist, bei allem Respekt, derjenige, der die Befehle gibt.« Der Sergeant band Santini einen kleinen Beutel um die Taille. »Ihr Survival Kit. Es wird mit Ihnen rausgeschleudert.« Dann schnallte er Santini einen Schulterhalfter um und gab ihm eine 9-mm-Sig-Sauer. »Gehört ebenfalls zur Überlebensausrüstung. Sie sind berechtigt, die Waffe zu führen, ich habe in Ihren Papieren nachgesehen. Das machen wir routinemäßig bei allen Passagieren. Sie sind als sehr erfahren in puncto Waffen eingestuft.« Santini schob die Sig-Sauer in den Halfter. »Admiral O’Neill sorgt dafür, dass ich immer gewissenhaft zum Schießstand gehe.« 445
Als Nächstes erschienen Sanitäter und ließen Santini, in voller Montur, reinen Sauerstoff einatmen, bis sie fanden, dass er gründlich mit Sauerstoff versorgt war. Schließlich wurden alle anderen Gase aus seinem Körper herausgefiltert, und man brachte ihn zu einem Van. O’Neill wartete in dem Fahrzeug auf ihn. Santini watschelte mit dem Helm unter dem Arm in den Wagen. Genau dieselben Anzüge und Helme, hatte man ihm erklärt, trugen auch die Besatzungen der Space Shuttles. Der Wagen hielt vor der SR-71, die vor dem Hangar stand. Die Blackbird war ein nadelförmiges Flugzeug, etwa von der Größe einer Boeing 727. Trotz ihres Alters war sie immer noch das schnellste und am höchsten fliegende Serienflugzeug der Welt; sie erreichte eine Geschwindigkeit von mehr als Mach 3, mehr als dreitausend Kilometer in der Stunde und konnte in einer Höhe von sechsundzwanzigtausend Metern oder darüber fliegen. »Der Vogel lässt alles stehen außer einer Tankstelle«, sagte O’Neill mit einem Blick auf das Flugzeug. »Sehen Sie sich diese Motoren an. Jeder hat zweiunddreißigtausend PS Schub. Genug, um die Queen Elizabeth II. anzutreiben. Sie muss mit sehr leichter Treibstoffladung starten und sich dann an eine KC-135Q als fliegende Tankstelle hängen. Sie werden ein paar von diesen mobilen Zapfsäulen zu Gesicht bekommen, bis Sie in Peking eintreffen. Die gute Nachricht ist, dass die SR-71 bis zu viertausend Kilometer ohne Auftanken fliegen kann. Die schlechte ist, dass sie alle neunzig Minuten fünfundvierzigtausend Liter Treibstoff verbraucht.« »Besser, wir sehen zu, dass das Öl der Saudis immer schön sprudelt«, scherzte Santini, dem jetzt wieder einfiel, warum die Kritiker des Flugzeugs es seinerzeit auf den Schrottplatz verbannt hatten. Eine blaue Air-Force-Limousine fuhr vor, und ein 446
Lieutenant Colonel mit einem Clipboard in der Hand stieg aus. »Entschuldigen Sie, Mr. Secretary. Vor dem Start müssen Pilot und Kopilot gründlich ärztlich untersucht werden. Ich habe Freistellungen vorbereitet.« Er gab Santini das Brett, der es unbeholfen mit seinen dicken Handschuhen festhielt. »Sie müssen von einem verantwortlichen Offizier unterschrieben werden«, stammelte der Colonel verlegen. »Meinetwegen«, sagte Santini. Er unterschrieb als Verteidigungsminister und reichte das Clipboard zurück. »Ich hoffe, damit hat sich der Papierkram erledigt.« Santini kletterte auf den hinteren Sitz der Maschine und wartete geduldig, während die Bodencrew die Motoren startete und dann einen rund fünfundzwanzigminütigen Check absolvierte. Ein Wagen hatte bereits die Startbahn und den Rollweg zu ihr nach Metallgegenständen abgesucht, die Reifen oder Turbinen des Flugzeugs beschädigen könnten. Er gab nun grünes Licht, dass die Blackbird rollen durfte. Das schlanke, schwarze Flugzeug bewegte sich mit kraftvoller Anmut. Unmittelbar vor der Startbahn hielt »Aspen Special« und wartete auf das grüne Licht vom Tower, das den Start freigab. »Zwei Minuten bis zum Start … Nun mach schon, Tower«, murmelte Buz Murphy. Als Murphy das traditionelle Zeichen mit dem erhobenen Daumen machte, fühlte Santini einen vertrauten Adrenalinstoß. Klar zum Gefecht. Er war wieder Krieger. Rasch zeigte er O’Neill den erhobenen Daumen. Grünes Licht vom Tower. Schnell noch ein letzter Systemcheck. Santini drehte den oberen, rechten Knopf des akustischen Signalmelders für das Radar auf normal. Die Bremsen wurden gelöst. 447
Der doppelte Nachbrenner zündete und drückte Santini in den Sitz. Die Zeit schien komprimiert zu werden, während das Flugzeug in zwanzig Sekunden auf mehr als vierhundert Stundenkilometer beschleunigte. Santini hatte das Gefühl, in einem durchgehenden Güterzug zu fahren, der niemals sicher ankommen würde. Dann, im scheinbar letzten Moment, hob die Maschine elegant ab. Sie waren in der Luft. Die Flugüberwachung Washington stellte Radarkontakt her und übermittelte: »Aspen Special planmäßig gestartet.« Sie erhielt keine Antwort und erwartete auch keine. Santini betete, dass sie es rechtzeitig schafften. Er hatte damals in den Schützenlöchern in Vietnam nicht viele Atheisten gekannt. Als sie nun zu dem blauen Auge Gottes emporschossen, dachte er, dass er hier oben auch nicht viele finden würde.
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47 WASHINGTON Es war erst sechs Uhr morgens, aber Joseph Praeger arbeitete bereits in seinem Büro. Als er im Nordwesten einen lauten Überschallknall hörte, dachte er, es handelte sich nur wieder um eine dieser verdammten Militärübungen. Sein Büro im Westflügel des Weißen Hauses verleugnete seine Macht. Es war zwar ein Eckbüro, aber gerade mal groß genug für einen kleinen Konferenztisch, einen Schreibtisch samt Sessel und eine Couch, auf der ganze zwei Leute Platz fanden. Die Wände zierten abstrakte Ölgemälde, Originale – ein Geschenk von Premier Herzog anlässlich Jeffersons erster Israelreise. Zu Praegers Bedauern hatte ihn die Rechtsabteilung des Weißen Hauses dahingehend belehrt, dass sie nach seinem Ausscheiden aus dem Amt Eigentum der US-Regierung bleiben würden, es sei denn, er sei bereit, den vollen Marktpreis dafür zu bezahlen. Vielleicht würde Jefferson die Bilder für ihn kaufen. Warum auch nicht? Jefferson verdankte ihm alles. Aber so bescheiden sich das Büro von der Größe her ausnahm, in seine vier Wände strömte praktisch die gesamte politische Energie des Landes. Hier befand sich das Nervenzentrum des Weißen Hauses, nicht im Oval Office. Er, Praeger, war der Mann, der das Sagen hatte. Mit einem Gefühl der Zufriedenheit, weil er Jefferson überredet hatte, zwei Flugzeugträgerverbände und einen 449
Amphibienverband loszuschicken, um Kim Song Jo klar zu machen, dass er sich mit den Falschen anlegte, ließ sich Praeger zu einer Besprechung nieder. Draußen im Vorzimmer wartete bereits Jack Pelky auf seinen Termin. Pelky hatte sich gestern in Anwesenheit des Präsidenten für Preager stark gemacht. Er würde das nicht vergessen, wenn die Posten für Jeffersons zweite Amtszeit neu besetzt wurden. Das lästige Summen der Sprechanlage riss ihn aus seiner momentanen Träumerei. »Ich dachte, ich hätte Sie gebeten, vorläufig keine Gespräche durchzustellen, Charlotte.« »Ich weiß, Mr. Praeger, aber General Milstar ist in der Leitung. Er sagt, es sei sehr wichtig, und er müsse unbedingt mit Ihnen …« Praeger schnitt ihr das Wort ab. »Ja, ja, schon gut. Stellen Sie ihn durch. Und sagen Sie Pelky, dass ich in ein paar Minuten bei ihm bin. Bieten Sie ihm einen Kaffee an.« »Ja, Sir«, sagte sie, froh, dass es anscheinend nicht zu einem von Praegers gefürchteten Wutausbrüchen kam. Praeger griff zu dem Telefon, das für sichere Gespräche reserviert war. Tom Milstar, Vier-Sterne-General der Air Force, leitete die National Security Agency, einem früher so geheimen Arm der Regierung, dass es den alten Witz gab, die Abkürzung NSA stünde für »No Such Agency«. Die Behörde war Uncle Sams riesiges Ohr. Mit ihren gigantischen Radarschirmen und den Satelliten konnte sie praktisch jede Kommunikation in der Atmosphäre wie ein Staubsauger aufnehmen – und sie tat es auch. Parallel geschaltete Computer luden die Informationen in Lichtgeschwindigkeit herunter und knackten Kodes, die naiverweise für nicht entschlüsselbar gehalten wurden. Obwohl Milstar verpflichtet war, über die Befehlskette direkt Santini Bericht zu erstatten, hatte er eine geheime 450
Leitung zu Praeger eröffnet. Dafür war ihm eine Beförderung zum stellvertretenden CIA-Direktor versprochen worden. Und das konnte ihm eines Tages durchaus eine Chance auf den Chefsessel eröffnen. Dazu müsste er vielleicht erst seinen Abschied bei der Luftwaffe nehmen, aber Teufel, alles war möglich. Jedenfalls hatte Praeger so etwas angedeutet. »Entschuldigen Sie die Störung, Sir, aber wir haben letzte Nacht eine heiße Meldung aufgeschnappt, und ich dachte, Sie sollten Bescheid wissen.« »Kein Problem, General«, sagte Praeger mit einem Anflug von Verärgerung in der Stimme, die ausdrückte, dass die Sache hoffentlich wirklich wichtig war. »Verteidigungsminister Santini hat von einem drahtlosen Computer – einem dieser Dinger, die man in der Hand hält – eine verschlüsselte Nachricht an den chinesischen Verteidigungsminister Xu geschickt.« »Und was steht drin?«, fragte Praeger, dessen Neugier sofort voll entbrannt war. »Dass er direkt mit dem chinesischen Präsidenten sprechen muss. Etwas in dem Sinn, das Weiße Haus habe die Schritte Nordkoreas missverstanden. Es war nicht völlig klar.« Praeger konnte seine Wut kaum bezähmen. Der amerikanische Verteidigungsminister erzählt einem verfluchten Kommunisten, dass der Präsident ein Trottel sei und nicht verstehe, was Chinas Speichellecker im Schilde führten! Verdammt noch mal! Wenn das nicht Insubordination war. Wenn das nicht dem Feind in die Hände arbeitete. »Das ist noch nicht alles, Sir. Der Minister hat eine SR71 Blackbird von der NASA angefordert und ist …« »Blackbird? Was ist denn das für ein Ding?« 451
»Es ist das, was einer Rakete am nächsten kommt. Schneller als eine Kugel. Und er ist bereits auf dem Weg nach Peking damit.« Milstar erklärte nicht, wie es die NSA fertig brachte, Inlandsgespräche aufzuzeichnen, wozu sie nicht berechtigt war. Aber er wusste, dass das in Praegers Augen Spitzfindigkeiten waren, die er nicht erklären musste. »Großer Gott!«, brach es aus Praeger hervor. »Wo ist er jetzt? Wann wird er in Peking eintreffen?« »Das kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Wir werden seinen Aufenthaltsort wahrscheinlich erst bestimmen können, wenn sein Pilot das nächste Mal in der Luft auftankt und mit dem Tankflugzeug kommuniziert. Aber Sie könnten das nordamerikanische Luftverteidigungskommando NORAD anrufen. Die müssten in der Lage sein, die Blackbird rasch zu lokalisieren.« »Danke, General. Das ist eine sehr wichtige Information. Danke, dass Sie mich auf dem Laufenden halten. Melden Sie sich sofort wieder, wenn Sie genau wissen, was Santini den Chinesen mitgeteilt hat.« »Ja, Mr. Praeger. Roger und Ende.« Warum mussten diese Typen immer diese kindischen Soldatenspiele spielen? Roger und Ende. Warum konnten sie nicht einfach sagen »Geht in Ordnung« und auflegen? Praeger riss den Hörer von seiner Sprechanlage: »Charlotte, sagen Sie Direktor Pelky, dass etwas dazwischen gekommen ist und ich den Termin streichen muss. Dann rufen Sie die Sekretärin des Präsidenten an und sagen ihr, ich sei auf dem Weg nach unten. Ich muss ihn sprechen. Sofort!« Augenblicke später stürmte Praeger an den Wachleuten des Secret Service vorbei, die vor dem Oval Office 452
postiert waren. Dort war Präsident Jefferson wie üblich eine Stunde zuvor eingetroffen. Er musste auf das Arbeitsfrühstück vorbereitet werden, das er am Vormittag mit einer Delegation des Rates für Auswärtige Angelegenheiten hatte. Man würde ihm den Pete Peterson Award für seine Führungsleistungen verleihen. Jefferson sah sofort, dass Praeger wütend war, aber das war an sich noch nicht ungewöhnlich. »Mr. President«, schnaubte Praeger, während sich Jefferson in dem hohen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch niederließ und einen Stapel Post durchsah, die er unterschreiben sollte. »Wir haben ein Problem. Ihr Freund, der einsame Cowboy aus dem Pentagon, ist auf dem Weg nach Peking, um sich mit Ihrem Pendant dort zu treffen. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Verteidigungsminister treffen sich nicht mit Staatsoberhäuptern – nicht ohne Ihre Erlaubnis. Er maßt sich Ihre Machtbefugnisse an. Er wird dem chinesischen Präsidenten erzählen, dass Sie nicht wissen, was Sie tun. Dass Sie überfordert sind.« Jefferson nickte ernst. Das war nun wirklich eine unangenehme Geschichte. Trotz allem, was während seiner Amtszeit im Pentagon vorgefallen war, wurde Santini vom Pressekorps immer noch gefeiert. Santinis Ernennung war die einzige Entscheidung gewesen, bei der er Praeger überstimmt hatte, und nun musste er eine bittere Kröte schlucken. »Okay, Joe, ich bin Ihrer Ansicht. Er ist zu weit gegangen. Sie haben Recht. Das bringt das Fass zum Überlaufen. Ich will, dass Sie dieses Treffen verhindern. Und bringen Sie Santini möglichst rasch ans Telefon, damit ich ihn feuern kann.« »Mit Vergnügen, Mr. President«, sagte Praeger trium453
phierend. »Ich weiß, das ist keine leichte Entscheidung für Sie, aber man wird es als einen Akt wahrer Führungsstärke ansehen, das verspreche ich Ihnen. Wahre Führungsstärke.« Praeger eilte zu dem Telefon auf der Arbeitsfläche hinter Jeffersons Schreibtisch. Auf der weißen Konsole gab es ein gutes Dutzend Schnellwahltasten. Praeger drückte den, der Jefferson mit General George Whittier verband. »General«, begann Jefferson und senkte die Stimme merklich, »wenn ich recht verstehe, ist Verteidigungsminister Santini auf dem Weg nach Peking, und zwar in einem Ding namens Blackbird.« Jefferson wartete auf eine Bestätigung von Whittier, erntete jedoch nur Schweigen. »Haben Sie gehört, was ich eben gesagt habe?«, fragte Jefferson, erkennbar verärgert. »Ja, Mr. President, es ist nur so, dass ich von einer solchen Reise des Ministers nichts wusste. Er hat mir gegenüber nie etwas davon gesagt. Und offen gestanden, wäre ich mehr als überrascht, wenn er mit einer SR-71 fliegen würde. Dazu bedürfte es …« »Er sitzt in diesem Augenblick in dem verdammten Flugzeug, General«, brauste Jefferson auf. »Was ich von Ihnen will, ist, dass Sie anrufen, wen Sie in einer solchen Situation anrufen müssen, und mir dann genau mitteilen, wo sich Santini im Moment befindet. Meines Wissens sind Sie dazu in der Lage. Ist das richtig?« »Ja, Sir. Wird gemacht.« »Und noch etwas, General. Es ist mir egal, wie Sie es anstellen, aber dieses Flugzeug darf Peking nicht erreichen. Habe ich mich klar ausgedrückt? Es handelt sich um eine Frage der nationalen Sicherheit. Santini hat eine große Pflichtverletzung begangen.« Dann fügte Jefferson, belebt von dem Befehlston in seiner Stimme, 454
hinzu: »Es ist durchaus möglich, dass Santini den chinesischen Interessen dient statt unseren.« Praeger sah Jefferson an, erfreut darüber, welche Wut und Entschlossenheit dieser an den Tag legte. »Ich wiederhole, General Whittier, es ist mir gleichgültig, was Sie tun oder wie Sie es tun, aber weder Santini noch dieses Flugzeug dürfen in China landen. Wenn Sie sich nicht imstande sehen, die Sache zu erledigen, setze ich jemanden in Ihr Büro, der es kann.« Bevor Whittier antworten konnte, hatte Jefferson die Verbindung unterbrochen. »Gut gemacht, Mr. President«, sagte Praeger und eilte hinaus.
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48 MADRID Baron Erich von Heltsinger liebte sein Gestüt, die reinrassigen Pferde, die auf den hundertsechzig Hektar Hügelland zwischen Teichen mit natürlichem Quellwasser herumtollten. Hier, nicht weit vom Landgut König Juan Carlos’ vor den Toren Madrids, konnte er sich in völliger Abgeschiedenheit erholen und neu auftanken, so dass man ihm seine sechsundsiebzig Jahre wahrlich nicht ansah. Es gab keine Störungen, kein permanentes Telefonklingeln und unerlässliche Treffen mit Leuten, die ihn um Gefälligkeiten anflehten. Hier sah er die Dinge im richtigen Verhältnis, wenn er am Bouquet eines Chateau Margaux schnupperte, während die Sonne hinter den Horizont sank und den Himmel in ein spektakuläres Farbspiel aus Rot und Gold verwandelte. Es war das Werk Gottes, keine Frage. Kein kosmischer Zufall, keine zufällige Ballung von atomaren Teilchen konnte einen derartig prächtigen Anblick erklären. Er hatte sich eine Woche lang geschäftlich in Marokko aufgehalten und war dann hierher gekommen. Nachdem er zwei Tage lang Raufußhühner gejagt hatte, wandten sich seine Gedanken nun dem Treffen zu, das er an jenem Abend mit Wolfgang Wagner und Wladimir Berzin in München gehabt hatte. Die Idee eines neuen Rapallo faszinierte ihn immer noch. Die Vereinigten Staaten wandten sich von Deutsch456
land ab. Russland entwickelte sich zu einem starken, neuen Kraftzentrum. Dort wuchs eine wohlhabende Mittelschicht heran, geistiges Kapital gab es im Überfluss, und natürlich besaß Russland Atomwaffen. Zwar grassierte auch die Korruption, und noch immer lag ein Hauch von Wildwest über dem Land, aber das würde vorübergehen. Die Herrschaft des Rechts würde zweifellos Fuß fassen, und dann würden sich andere Nationen überstürzen, ihr Kapital dort zu investieren. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber der Gedanke an Berzin beunruhigte von Heltsinger nach wie vor. Er machte sich Sorgen, wie weit der Ehrgeiz des Mannes ging. Russland hatte gute Fortschritte bei der Entwicklung demokratischer Institutionen gemacht. Aber der vorzeitige Tod von Präsident Gruschkow hatte ein Vakuum in der Führung des Landes hinterlassen. Berzin hatte eine radikale Abkehr von Gruschkows Zukunftsvision im Sinn. Vielleicht war es ja richtig, den Kurs zu ändern, eine starke Allianz mit Deutschland einzugehen. Aber war Berzin tatsächlich so korrupt, wie ihn der BND hinstellte? »Soll ich den Anruf jetzt durchstellen, Herr Baron?«, fragte Frederick im Ton des bescheidenen Dieners. »Ja«, sagte von Heltsinger. Er hatte beschlossen, seinen alten Freund Wasili Jurchenko anzurufen, der vor kurzem als russischer Verteidigungsminister zurückgetreten war und letztes Jahr an der Konferenz des Barons teilgenommen hatte. Während von Heltsinger auf seiner Terrasse den Sonnenuntergang betrachtete, brachte ihm Frederick ein schnurloses Telefon. Nach dem Austausch von Begrüßungen und einigen Worten Smalltalk sagte der Baron: »Erzählen Sie mir von 457
Wladimir Berzin. Ich muss alles über ihn erfahren, was Sie wissen.« Als Jurchenko zu Ende geredet hatte, war von Heltsinger schockiert. »Sind Sie sicher? Mord? Gruschkow …?« Er legte auf, unschlüssig, was er tun sollte. Jurchenko konnte es nicht beweisen, aber er war überzeugt, dass Berzin Gruschkows Hubschrauber abschießen ließ, als Vergeltung für Gruschkows entschiedenes Vorgehen gegen die Oligarchen. Jurchenko war damals Verteidigungsminister gewesen und hatte die Verantwortung für die Geschehnisse übernommen. Wenn Berzin zuzutrauen war, dass er einen Präsidenten ermordete, dann war Wolfgang in Gefahr, wenn er sich mit diesem Mann einließ. Er musste ihn warnen.
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49 MOSKAU Die gecharterte Dornier 328, die Wolfgang Wagner nach Moskau brachte, begann ihren Landeanflug auf denselben verlassenen Flughafen, auf dem er den Geldflieger und den Mord an dessen Passagier gesehen hatte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Kaum zu glauben, dass das alles erst wenige Wochen her war. Er blickte aus dem Fenster in einen strahlend blauen Aprilhimmel, lehnte sich zurück und freute sich an dem Gedanken, dass die Sache nun zu einem Ende kam. Berzin und ein Mann mit gemeißelten Gesichtszügen warteten am Fuß der Gangway. Wagner erkannte ihn als Anatol Churkin, den jungen General, der von seinem Posten zurückgetreten war, damit er bei Berzins Wahlkampf mitarbeiten konnte. Churkin hatte in Russland beinahe den Status eines Rockstars erlangt, als er eine Kompanie Soldaten, die sich auf einer Friedensmission in Afghanistan befanden, aus einem Hinterhalt rettete. »Willkommen in Moskau«, sagte Berzin herzlich und umarmte Wagner. Er nickte in Richtung Churkin, der einen Schritt vortrat. »Erlaube mir, dass ich dir General Churkin vorstelle«, fuhr er fort. »Er wird gleich vorausfahren. Ich wollte ihn dir nur schon vorstellen, weil er dich begleiten wird, wenn ich mich mit meinen Leuten treffen muss.« »Und Sie, General, haben keinen Wahlkampfauftritt?«, erkundigte sich Wagner höflich. 459
Ehe Churkin antworten konnte, sagte Berzin: »Meine Leute wollen mich sehen, nicht irgendeinen Ersatz.« »Ich fürchte, das stimmt«, sagte Churkin und lächelte verkniffen. »Ich bin ein Krieger, ein Mann der Schlacht. Wir sehen uns in der Datscha.« Er verneigte sich leicht und ging zu einem schwarzen Mercedes, der losfuhr, sobald er eingestiegen war. Neben dem Mercedes stand ein längerer schwarzer Wagen, den Wagner nicht kannte. »Es gibt ohnehin kaum Grund, Wahlkampf zu machen«, sagte Berzin und legte Wagner den Arm um die Schulter. »Glaub mir, ich gewinne mit Sicherheit.« Berzin hatte seinen Freund eingeladen, die letzten Tage des Wahlkampfs und den Wahlabend, dessen üppige Inszenierung er in allen Einzelheiten beschrieben hatte, mit ihm zu verbringen. Es schien Wagner, als sei die Feier irgendwie wichtiger als der vorausgesagte Sieg. Das war der echte Berzin, der Machtmensch, der Mann, der alles unter Kontrolle hatte, der die Spielregeln bestimmte. Diesmal war das Spiel eine Wahl, und es hatte bereits Todesopfer gefordert. »Wie hat man in Deutschland auf die Rede reagiert, die ich letzte Woche vor dem Russischen Wirtschaftsrat über die Notwendigkeit einer engeren wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit unserer beiden Länder gehalten habe?«, fragte Berzin, während sie zu dem wartenden Wagen gingen. »Ausgesprochen positiv.« »Und ist es dir gelungen, etwas über das ›neue Rapallo‹ durchsickern zu lassen?« »Natürlich.« »Ausgezeichnet!«, rief Berzin. »Meine Medien verbrei460
ten die Nachricht heute in Russland. Alles läuft genau so, wie ich es wollte. Russland bekommt eine Zukunft und eine Vergangenheit gleichzeitig. Ich bin ein Genie!« Berzin lachte. Vielleicht macht er sich über sich selbst lustig, dachte Wagner. Vielleicht hält er sich aber auch wirklich für ein Genie. Es war, als würde er vor Wagners Augen wachsen. »Gefällt dir mein neues Auto?«, fragte Berzin. Der Fahrer öffnete die linke hintere Tür. Wagner stieg ein. Ein stämmiger Mann stieg auf der Beifahrerseite aus und öffnete die rechte, hintere Tür für Berzin. Wagner hatte erwartet, diesen Tago zu sehen. Aber er fragte nicht nach ihm. Berzin entledigte sich auf vielerlei Weise seiner Leute, und es war nicht klug, Fragen zu stellen. Es gab zwei mit kastanienbraunem Leder bezogene Rücksitze. Jeder hatte etwa die Größe eines Erste-KlasseSitzes in einem Flugzeug. Zwischen ihnen war ein breites Fach. Berzin ließ sich in seinem Sitz nieder und klappte ein Tablett aus. Dann holte er eine Flasche Champagner und zwei Gläser aus einem Kühlfach, die er auf Wagners Tablett abstellte. Er drückte einen Knopf, und aus dem Rückenteil des Sitzes vor ihm senkte sich ein schlanker Laptop. Ein zweiter Knopfdruck ließ die nur von hinten durchsichtige Glastrennscheibe zwischen Vordersitzen und Fond nach oben fahren. Der Wagen näherte sich dem Tor. Berzin entkorkte den Champagner und füllte die beiden Gläser. »Einem Präsidenten angemessen«, sagte er mit einer ausladenden Geste. »Ein Stretch-Mercedes, in der Weise gepanzert, wie es der Secret Service der Amerikaner mit seinen Fahrzeugen tut.« Er beugte sich vor, um in den Computermonitor zu schauen, dann klappte er ihn zu und drückte auf einen Knopf. Der Rechner verschwand. Sie bogen von der schmalen Flughafenzufahrt auf die Autobahn ein, die ins Zentrum von Moskau führte. 461
»Ich muss leider noch ein paar wichtige Leute treffen – ein paar sehr reiche Leute – und sehe dich später«, sagte Berzin. »Ich setze dich bei der Datscha ab. Churkin wird sich um dich kümmern.« »Du behandelst ihn wie einen Diener«, sagte Wagner. »Er ist ein Diener, ein Diener der Revolution.« »Du nimmst eine Pose ein, Wladimir. Du benimmst dich eher wie ein Diktator als wie ein Präsident. Du solltest Ignazio Silone lesen.« Berzin lachte. »Wieder eine von deinen langweiligen literarischen Anspielungen. Wolfgang, der Intellektuelle, der jedes Wort gelesen hat, das Lenin je schrieb. Und alles geglaubt hat.« »Was immer an Weisheit einen Weg in deinen Kopf gefunden haben mag, das hast du mir zu verdanken«, entgegnete Wagner. »Auch ein Genie muss gelegentlich in ein Buch schauen statt in einen Spiegel. Silone war ein italienischer Schriftsteller – mit richtigem Namen hieß er Secondo Tranquilli –, der von Mussolinis Faschisten verfolgt wurde. Er schrieb über italienische Kleinbauern. Er war ein guter Mann, Wladimir, ein sehr guter Mann.« »Und warum redest du hier und jetzt über ihn?« »Silone schrieb einmal, der Faschismus sei eine Konterrevolution gegen eine Revolution, die nie stattfand. Du erzählst mir, dass Russland eine Art Opfer ist, ein Land, das stark wäre, wenn nur, wenn … Du sagst, wir würden eine deutsch-russische Allianz schaffen, weil die Welt irgendwie Russlands Geschichte unterbrochen und ihm seine Bestimmung verweigert habe. Du willst eine Gegenrevolution gegen eine Revolution, die nie stattgefunden hat.« Berzin schenkte sich noch ein Glas Champagner ein, schlug Wagner auf die Schulter und sagte: »Ich will Macht, Wolfgang. Und ich habe Macht. Was deine 462
Weisheiten angeht …« Es läutete. Berzin griff in eine seiner Armlehnen und zog ein Telefon hervor. »Ja.« Er sah verärgert aus. Er hatte sein Büro gebeten, keine Gespräche in den Wagen durchzustellen. »Stirb, Russenschwein«, sagte eine heisere Stimme. »Wer zum Teufel …« In diesem Moment flog eine Aufklärungsdrohne über den Wagen. Unterboden und Rumpf des Mercedes waren schwer gepanzert. Das Dach nicht. Die Drohne war in Israel gebaut, China als Verkaufsmodell überlassen und ausrangiert worden, als die Chinesen größere und bessere unbemannte Flugzeuge zu bauen begannen. Hauptmann Chang hatte sie nach einem eiligen Gespräch mit der Materialabteilung der Staatsicherheit in Tschetschenien ausfindig gemacht. Er ließ die Drohne in einer chinesischen Militärmaschine, die Nachschub für die chinesische Botschaft lieferte, nach Moskau fliegen. Dann wurde sie per Lastwagen zu einem Lagerhaus nahe des großartigen Gebäudes aus dem 19. Jahrhundert transportiert, in dem die Sandunovskije-Bäder untergebracht waren. Dort rüstete sie ein tschetschenischer Ingenieur mit einer hochexplosiven Bombe aus und ließ sie vom Dach des Lagerhauses abheben. Nun saß der Ingenieur auf einer Kiste im dunklen Obergeschoss und beobachtete die Bewegungen eines Punktes auf einem Computerschirm. Der Punkt verschwand, als die Drohne, vom Telefon in ihr Ziel gelenkt, in das Dach des Wagens einschlug. Eine gewaltige Explosion beendete das Leben und die Pläne von Wladimir Berzin und Wolfgang Wagner. Auf dem Monitor hinter Scott O’Neills Schreibtisch flimmerte ständig CNN, ohne Ton. Dieselbe Fähigkeit zum 463
peripheren Sehen, die ihn zu einem beachtlichen Basketballspieler und zum Kampfpiloten gemacht hatte, ließ ihn erkennen, wann der Schriftzug Eilmeldung auf dem Schirm erschien, ohne dass er tatsächlich hinsah. Wenn der Schriftzug erschien, wandte er immer kurz den Kopf und entschied, ob die Meldung eine Reaktion seinerseits erforderlich machte. Wenn nicht, arbeitete er einfach weiter. Heute aber ließ ihn die Eilmeldung aufblicken und zuhören – und hielt seine Aufmerksamkeit gefangen. »Wir berichten live von einem Bombenanschlag, der soeben in Moskau stattgefunden hat!«, verkündete ein aufgeregter Wolf Blitzer. »Erste Meldungen deuten darauf hin, dass der russische Präsidentschaftskandidat Wladimir Berzin und ein bislang nicht identifizierter Begleiter getötet wurden, als eine Explosion das Fahrzeug Berzins zerstörte. Es herrscht noch einige Verwirrung darüber, was genau passiert ist. Ein Augenzeuge behauptet, das Auto sei von einer Granate getroffen worden. Ein anderer spricht von einer tief fliegenden Rakete. Bisher hat niemand die Verantwortung für die Tat übernommen …« O’Neill hätte fast zum Hörer gegriffen und den Knopf für die Direktleitung zu Santini gedrückt. Aber heute Morgen konnte er seinen Chef unmöglich erreichen. Er sah auf die Uhr. Santini musste inzwischen in der Nähe von Seattle sein. Funkstille war von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Unternehmung. Die Eilmeldung würde einfach warten müssen.
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50 Unterwegs nach Peking Aspen Special befand sich vierhundert Seemeilen östlich der Auftankzone an der Westküste. »Achtung, Boss«, sagte Murphy. Seine Stimme aus dem Helmlautsprecher schien direkt in Santinis Gehirn einzudringen. »Ich werde jetzt fünf Zahlen aufrufen. Bitte überprüfen Sie die Zahlen, wenn sie auf dem UKWFunkgerät vor Ihnen erscheinen. Sieben … acht … acht … zwei … null.« »Stimmt«, sagte Santini. Seine Instruktionskarte erklärte, dass die Zahlen dazu dienten, die Flugbahn zu bestätigen, um Entfernung und Peilung des Tankflugzeugs zu der sich schnell nähernden Position der SR-71 zu bestimmen. Das Unternehmen lief bisher fehlerfrei. Nun spürte Santini, wie das Flugzeug abbremste und in den Sinkflug ging. Die Sonne war soeben über der Westküste aufgegangen. Santini sah die beiden Tankflugzeuge in einiger Entfernung voraus. Ihre Flügel glitzerten vor dem sich aufhellenden Himmel. Als sich die SR-71 unter dem Tankflugzeug einhakte, sah Santini dessen Flügel schräg oberhalb von sich. Er hatte ein Gefühl absoluter Bewegungslosigkeit. »Ich werde über eine Direktleitung, die mit dem Tankausleger kommt, reden«, sagte Murphy. »Außerhalb dieser Verbindung kann niemand etwas hören.« »Guten Morgen, Irish«, sagte der Kommandeur des Tankers und klärte rasch die Einzelheiten des Auftankvorgangs. Dann fügte er an: »Es ist toll, wieder einmal bei 465
einem echten Einsatz dabei zu sein.« Mehr wurde über das Unternehmen nicht gesagt. Weder der Kommandeur noch seine Mannschaft würden jemals Fragen über einen Spezialeinsatz stellen. Nachdem das erste Tankflugzeug den Tankausleger gelöst und sich entfernt hatte, näherte sich das zweite und begann genau dieselbe Prozedur. Santini wusste, dass zum Wiederauftanken in der Luft die Präzision eines Uhrwerks nötig war, aber als er den Vorgang nun aus nächster Nähe beobachtete, staunte er dennoch. Nach den besten Wünschen zum Abschied folgte das zweite Tankflugzeug dem ersten und verschwand rasch aus dem Blick, während die SR-71 beschleunigte und ostwärts raste, auf einen Punkt südlich der Insel Attu zu. Sie flogen nun schneller, als die Sonne stiegen, und bald hüllte sie Dunkelheit ein.
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51 WASHINGTON Seit Luftwaffengeneral George Whittier Chef des Generalstabs war, hielt er sich zugute, sich nicht in die Belange der Politik einzumischen. Sein Vorgänger hatte ihn gewarnt, der Job würde zwangsläufig politische Verwicklungen mit sich bringen. Aber Whittier hatte darauf beharrt, er könne den Präsidenten professionell beraten, ohne seine militärische Ehre zu beschädigen. Heute aber begann er zu zweifeln. Er hatte alle Termine bis auf weiteres abgesagt und niemandem von seinem Stab gesagt, was vor sich ging. Jetzt widmete er sich allein einer politischen Angelegenheit: Was genau warf der Präsident dem Verteidigungsminister vor? Fehleinschätzung der Lage? Verrat? Hochverrat? Whittier kochte vor Wut. Er schleuderte seinen Lieblingskugelschreiber durchs Zimmer und traf einen kleinen Kristalladler, den ihm der Verband der Luftwaffenoffiziere vor Jahren verliehen hatte. Whittier telefonierte über eine sichere Leitung mit General Frank G. Holtzer, dem Kommandeur des North American Aerospace Defense Command, NORAD. Whittier hatte früher neben Holtzer bei NORAD Dienst getan. Sie hatten an Schaltpulten in einer unterirdischen Gefechtszentrale tief im Cheyenne Mountain, nicht weit von Colorado Springs gesessen, zwei junge Offiziere, die nach dem ersten Anzeichen Ausschau hielten, dass die Welt gleich in Stücke fliegen würde. Es war die Zeit des Kalten Krieges gewesen, als Amerika zu verteidigen hieß, 467
ein Auge auf die Russkis zu haben. Heute konnte jeder der Feind sein. Whittier hatte Holtzer vorsichtshalber nur gesagt, dass er eine Ortung für eine SR-71 brauchte, die den Verteidigungsminister an Bord hatte. Holtzer wusste, dass es weit mehr zu erzählen gäbe, aber er wusste auch, dass man manchmal keine Fragen stellte. »Hier ist das Zeug, das du brauchst, George«, sagte Holtzer. »Eine KC-10 kreist zur Zeit südlich der Insel Attu und wartet darauf, Aspen Special das nächste Mal aufzutanken, was in etwa einer Stunde der Fall sein wird. Und vom Stützpunkt Kadena in Japan sind Tankflugzeuge für ein drittes Wiederauftanken im Japanischen Meer aufgestiegen. Ich kann dir Kopien der Genehmigungen für alles per EMail schicken. Es sieht irgendwie nicht ganz …« »Negativ, Frank«, sagte Whittier. »Ich will keinen Papierkram. Ich wollte mir nur einen Überblick verschaffen. Ich sage dir, was ich brauche: Du befiehlst der KC-10 bei Attu in meinem Namen, die SR-71 auf den Luftwaffenstützpunkt Elmendorf in Anchorage zu dirigieren. Dann ruf nach Kadena durch und hol diese Tankflugzeuge zurück. Ich rufe Aspen Special über Kurzwelle und erkläre ihnen, dass ihr Unternehmen ausfällt.« »Roger, George. Aber wenn Aspen Special nicht reagiert, könnten sie im Pazifik landen.« »Das ist mir sehr wohl bewusst, Frank. Ende.« Whittier drückte einen neuen Knopf an seinem Pult und befahl dem Offizier vom Dienst im National Military Command Center, ihn per Kurzwellenfunk mit der SR-71 zu verbinden.
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52 Über dem Nordpazifik Buz Murphys Kurzwellenempfänger knisterte. Er hörte das Rufsignal für Aspen Special, dann »Denim Midnight«, die Codewörter, die bedeuteten, dass er die Funkstille für eine wichtige Mitteilung unterbrechen sollte. Im hinteren Sitz hörte Santini Murphys Stimme im Bordfunk. »Eine dringende Meldung kommt gerade rein. Stellen Sie sicher, dass der KW-Knopf auf Ihrem Fernmeldegerät linker Hand herausgezogen ist, damit Sie die Nachricht hören können.« Murphy drückte auf seinen Mikroknopf. »Roger, Big Voice. Fahren Sie fort mit Ihrer Nachricht für Aspen Special. Ich kann bei Bedarf aufzeichnen.« »Minister Santini, hier spricht General Whittier. Der Präsident weiß von Ihrem Vorhaben. Er hat mich angewiesen, Ihr Unternehmen zu beenden. Ich hebe Ihre gesamte Unterstützung durch Tankflugzeuge auf. Pilot, folgen Sie dem Tankflugzeug zurück zum Stützpunkt Elmendorf in Anchorage. Wenn Sie diesem Befehl nicht Folge leisten, wird Ihnen der Treibstoff ausgehen, höchstwahrscheinlich über dem Nordpazifik, bevor Sie eine alternative Landebahn erreichen können.« Murphy unterbrach den Funkkontakt und meldete sich über die Bordanlage: »Irgendwelche Anweisungen, Sir?« »Welche Optionen haben wir?« »Ohne Tanker landen wir todsicher im Wasser. 469
Vielleicht könnte ich es mit äußerster Sparsamkeit noch zu einem Flugplatz auf den Aleuten schaffen oder zur Landebahn der Navy auf Adak Island. Und es gibt noch eine Möglichkeit – aber die ist knifflig.« »Schießen Sie los.« »Wir könnten sie eventuell austricksen. Die Mannschaften dieser Tankflugzeuge tanken nicht allzu oft eine Blackbird auf. Vielleicht können wir sie über unseren wahren Treibstoffbedarf täuschen. Wir erzählen Ihnen, wir seien so knapp mit Treibstoff, dass wir welchen brauchen, um ihnen nach Elmendorf zu folgen. Wenn ich genügend Treibstoff ergattere, schaffen wir es bis zum Japanischen Meer, und Sie können über Funk versuchen, uns ein anderes Tankflugzeug als Ersatz zu organisieren. Beim gegenwärtigen Alarmzustand der DEFCON in Fernost müsste ein Tankflieger zur ständigen Unterstützung der Kampfjets auf Misawa in Bereitschaft stehen oder über dem Japanischen Meer kreisen. Wenn ich einen finde, können wir bis Peking weiterfliegen, allerdings langsamer – falls man Mach 1,5 als langsam bezeichnen will –, da diese Tankflugzeuge wahrscheinlich kein JP-7 für uns haben. Ohne Wiederauftanken könnten wir es bis zum Stützpunkt Misawa im nördlichen Teil der japanischen Insel Honshu schaffen. Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten Sie dann von dort aus haben.« Santini dankte stillschweigend dem gütigen Geschick, das Buz Murphy zum Piloten gemacht hatte, und sagte dann: »Irish, rufen Sie zurück, und sagen Sie, wir gehorchen. Dann wollen wir mal sehen, ob wir das Tankflugzeug austricksen können.« »Jawohl, Sir. Während ich das tue – und mir eine Geschichte über unsere Treibstoffknappheit ausdenke –, stellen Sie bitte den UKW-Funk auf Dauerbetrieb. Das setzt erneut die Flugbahnbestimmung der Tanker in Gang 470
und lässt uns erkennen, ob über den Aleuten tatsächlich ein Tankflugzeug auf uns wartet.« Ein Zahlenstrom ergoss sich in Santinis Ohr. Die Kontaktzone und die Peilungsziffern wurden nach wie vor übertragen. »Anscheinend sind sie immer noch da draußen und warten auf uns. Wir fallen also nicht ins große Wasser«, meldete Santini über die Bordanlage. »Da wäre ich mir noch nicht so sicher, Sir. Whittier hat bereits seine Befehle an den Tankflieger aus Elmendorf gegeben. Sie wissen also, dass etwas im Busch ist. Und wir müssen schnell überlegen. Da ist er schon, genau in unserer Bahn.« Vor ihnen tauchte in der Dunkelheit etwas auf, das wie eine hell erleuchtete, fliegende Stadt aussah, ein Tankflugzeug so viel größer als die KC-135, dass sich die SR-71 dagegen winzig ausnahm. Santini fiel plötzlich ein Schild ein, das über O’Neills Schreibtisch hing, angeblich ein irisches Fischergebet: Lieber Gott, sei gut zu mir. Das Meer ist so weit, und mein Boot ist so klein. »Wir haken uns jetzt gleich ein, mal sehen, welche Anweisungen die Tankermannschaft uns gibt«, sagte Murphy. Der Tankausleger der KC-10 koppelte an die Blackbird an, und auf Murphys Armaturenbrett leuchtete ein grünes Licht auf. »Murphy«, sagte eine mühsam beherrschte Stimme über die Direktleitung, »hier spricht Lieutenant Colonel Cantrel, der Kommandant des Tankflugzeugs. Ich habe Anweisung, Sie nur aufzutanken, wenn Sie sich einverstanden erklären, uns nach Elmendorf zu folgen. Ich habe bereits einen nordöstlichen Kurs eingeschlagen. Ich werde Sie nicht wiederauftanken, wenn Sie diese Bedingungen, wie vom Chef des Generalstabs angewiesen, nicht akzeptieren. 471
Haben Sie die Bedingungen verstanden?« »Roger, Colonel«, antwortete Murphy. »Wir werden nicht mit Ihnen streiten. Da mein besonderer Passagier nicht dafür ausgebildet ist, mir zu helfen, muss ich mich auf Ihre Navigation verlassen, um uns nach Elmendorf zu führen. Ich kann nämlich den eingegebenen Plan im Computer vom vorderen Cockpit aus nicht ändern.« »Ich habe noch nie eines von euren Dingern aufgetankt«, sagte Cantrel. »Gibt es irgendwelche besonderen Verfahren?« Murphys rechter Arm schoss mit ausgestrecktem Daumen in die Höhe. »Sieht gut aus«, teilte er Santini über die Bordanlage mit. »Die haben nicht viel Ahnung.« Dann wechselte er wieder auf die Tankdirektleitung und schlug einen klagenden Ton an. »Könnt ihr sofort anfangen mit dem Auftanken? Ich bin sehr knapp mit Treibstoff.« »Wie viel brauchen Sie bis Elmendorf?«, fragte Cantrel. »Ich gebe Ihnen gleich eine Zahl durch. Bitte fangen Sie inzwischen schon mal an. Bei diesen Geschwindigkeiten fliege ich nicht sehr wirtschaftlich.« Vor dem Wiederauftanken berichtete der Kopilot des Tankflugzeugs dem NMCC, dass sich Aspen Special zur Kursänderung bereit erklärt hatte und dass sie in schätzungsweise drei Stunden auf dem Luftwaffenstützpunkt Elmendorf eintreffen würden. Murphy meldete sich wieder beim Tankerkommandanten. »Ich schätze, ich werde fünfunddreißigtausend Liter Treibstoff brauchen. Da ist bereits eine Reserve für eine witterungsbedingte Kursänderung eingerechnet. Wie wär’s, wenn ihr jetzt anfangen würdet? Dann folge ich euch für den restlichen Flug am rechten Flügel.« 472
»Wenn Sie während des Auftankens irgendwelche krummen Touren versuchen, hänge ich Sie sofort ab, Murphy. Ist das klar?« »Roger, Colonel.« Cantrel hielt die Leitung offen, so dass Murphy hörte, wie er mit einem Mann namens Boom sprach, der das Auftanken leitete. »Geben Sie ihm nicht einen – ich wiederhole: nicht einen – Liter mehr, als er benötigt. Und, Boom, haben Sie ein wachsames Auge auf alles, was passiert. Murphy, wir sind jetzt stabil auf unserem Nordostkurs, Sie werden also während des Auftankens mit keinen Kursänderungen mehr zu kämpfen haben.« »Roger, Colonel«, erwiderte Murphy, dann sagte er über Bordfunk zu Santini: »Es funktioniert. Ich kriege den Treibstoff, und dann koppeln wir ab. Junge, werden die sauer sein, wenn sie merken, dass wir nach Westen abschwirren! Überlegen Sie, wie Sie uns ein weiteres Tankflugzeug organisieren könnten. Mit einem Tankflieger bringe ich uns nach China.« »Was für ein fantastisches Flugzeug!«, rief Boom aus, als das Wiederauftanken begann. »Liegt absolut ruhig.« Nach einigen Minuten verkündete Murphy über die Direktleitung. »Benötigter Treibstoff transferiert; warten auf Abkoppeln.« »Abkoppeln erfolgt«, antwortete Boom. Einen Augenblick später sagte der Kopilot über Bordfunk: »Kopilot an Boom. Ich sehe sie nicht an unserem rechten Flügel heraufkommen.« »Ich schaue nach«, erwiderte Boom schnell. »Ich habe sie im Dunkeln verloren. Moment mal! Himmel! Er hat die Nachbrenner gezündet und saust wie der Teufel nach Westen!« 473
»Scheiße!«, sagte Cantrel. »Sie haben uns verarscht. Die Schweinehunde sind abgehauen. Ich sehe ihre Nachbrenner im Westen lodern, sie steigen.« Er legte einen Schalter um und schrie in sein Mikrofon. »Aspen Special! Aspen Special.« Er bekam keine Antwort. Cantrel schaltete auf den NMCC-Kanal um.
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53 WASHINGTON »Der Pilot des Tankflugzeugs ist in der Leitung und sagt etwas über die Abfangaktion«, meldete der Offizier aus dem NMCC. Whittier hatte ein Telefon mit einer Verbindung zu Praeger in der Hand, deshalb nickte er nur und machte ein Zeichen, dass er übernehmen wollte. Er hatte sich ein Headset aufgesetzt, hielt die rechte Hand über das Mundstück des Telefons und sagte: »Colonel Cantrel, General Whittier hier. Was gibt es?« »Er hat sein Wort gebrochen, Sir. Er … Der Hurensohn hat Treibstoff bekommen. Dann hat er abgekoppelt und ist davongebraust. Er ist jetzt schon außer Sicht, in westlicher Richtung.« »Okay, Colonel. Sie haben getan, was Sie konnten. Kehren Sie nach Elmendorf zurück, und lassen Sie wegtreten. Der ganze Einsatz ist streng geheim. Nichts Schriftliches darüber, keine Besprechung. Sagen Sie Ihrer Mannschaft, das Ganze hat nie stattgefunden. Alles klar?« »Ja, Sir.« »Roger und Ende.« Whittier nahm die Hand vom Mundstück des Telefons und hörte ein Zischen und Spucken. »Was zum Teufel geht da vor, Whittier. Ich weiß, dass irgendetwas schief läuft. Niemand lässt mich so in der Leitung hängen. Was ist passiert, verdammt noch mal? Hat das Verteidigungsministerium schon wieder Mist gebaut?« 475
»Ich habe eine bedauerliche Nachricht zu vermelden, Mr. Praeger«, sagte Whittier in einem Tonfall, als würde er im Pentagon die Presse informieren. Über einem theatralischen Stirnrunzeln erschien ein schwaches Lächeln. »Minister Santini hat einen sehr findigen Piloten. Er hat unser Tankflugzeug mit einem Trick dazu gebracht, ihn aufzutanken und ist dann nach Westen geflogen. Wir haben derzeit keinen Kontakt mit ihnen.« »Was soll das heißen, keinen Kontakt? Wie kann das Pentagon keinen Kontakt mit einem seiner Flugzeuge haben?« »Kommunikationen dieser Art sind außerordentlich schwierig, Mr. Praeger, vor allem, wenn der Pilot das Funkgerät ausschaltet. Wenn Sie an den Einzelheiten interessiert sind, kann ich Ihnen einen qualifizierten Fernmeldeoffizier schicken, der …« »Hören Sie endlich mit dieser Scheiße auf, General. Ich will nicht, dass mir einer Ihrer Hiwis erklärt, warum Sie die Sache wieder verpfuscht haben. Ich will, dass Sie tun, was ich … was der Oberkommandierende befohlen hat. Holen Sie Santini auf die Erde – oder sorgen Sie dafür, dass er absäuft. Er darf nicht nach China weiterfliegen.« »Wir verfolgen seine Spur, Mr. Praeger, und ich bekomme die Daten von NORAD übermittelt. Er hält Kurs auf das Japanische Meer, was sein ursprünglicher Plan zu sein scheint. Dort wartet aber kein Tankflugzeug auf sie, und sie werden in Japan landen oder über dem Wasser abspringen müssen.« Praeger konnte seine Wut kaum bezähmen. »Also, Sie – da stelle ich Ihnen eine kleine Aufgabe, und Ihre Leute vermasseln alles. Besser, Sie lassen sich was einfallen, wie Sie dieses Flugzeug vom Himmel holen, sonst gehe ich zum Präsidenten und verlange, dass er Sie wegen Ihrer 476
unglaublichen Unfähigkeit absetzt. Haben Sie mich verstanden? Sie haben noch eine letzte Chance, oder Sie sind ein für allemal erledigt!« Praeger knallte den Hörer auf die Gabel. Whittier war ein entschlossener Befürworter ziviler Oberhoheit über das Militär. Er war allerdings auch der Überzeugung, zivile Führung müsse von Leuten ausgeübt werden, die das Interesse des Landes in den Mittelpunkt stellten und nicht persönliches Machtstreben. Whittier wandte sich an den Fernmeldeoffizier vom Dienst, der noch nie eine Schicht wie diese erlebt hatte. »Verbinden Sie mich mit General Holtzer. Ich nehme das Gespräch im ›Tank‹ entgegen.« So wurde der Konferenzraum des Generalstabs genannt. Whittier stand auf, er sah müde aus. Er griff nach dem Schreibblock, auf dem er die ganze Zeit gekritzelt hatte, schrieb ein paar Worte darauf und gab ihn dem Offizier. »Ich habe gerade alles, was mit dieser Sache zusammenhängt, mit einem Kodewort belegt«, sagte er. »Das Kodewort ist ›Reibung‹. Sie dürfen nicht über ›Reibung‹ sprechen, und Sie dürfen kein Wort von dem, was in den letzten Stunden hier passiert ist, irgendwie aufzeichnen. Ist das klar?« »Ja, Sir.« »Ich lege dieses Dokument über die Operation ›Reibung‹ in den Safe des Generalstabs. Falls Ihnen je eine übergeordnete Person Fragen über die Vorgänge der letzten Stunde stellt, sagen Sie, es ist mit einem Kodewort belegt und verweisen den Betreffenden direkt an mich. Oder« – Whittier zögerte kurz – »an meinen Nachfolger, den ich unterrichten werde.« »Ja, Sir«, sagte der Offizier, während Whittier in Richtung ›Tank‹ marschierte. Hinter den bewachten Türen des Konferenzraums griff 477
Whittier nach einem Telefon. »Frank. Ich bin froh, dass du noch da bist.« Holtzer lachte. »Bis zum Ende, George.« »Das könnte durchaus eine prophetische Feststellung sein. Ich muss wissen, wo sich die Blackbird befindet.« »Ja. Ich dachte mir schon, dass du das wissen willst. Wir haben die Maschine entdeckt. Sie befindet sich etwa tausend Kilometer vor China und wird bald dort sein.« »Wir müssen uns unterhalten, Frank. Und zwar schnell.«
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54 Über dem Nordpazifik Murphy überprüfte sein Steigprofil und nickte für sich. Die kältere Luft hatte den Treibstoffverbrauch reduziert. Es gab eine vage Chance, dass es die Blackbird bis China schaffte, wenn er die Route änderte – und sein Leben und das seines Passagiers aufs Spiel setzte. Er fand, dass er das nicht tun durfte, ohne ein paar Worte zu wechseln. Er drückte den Bordfunkknopf. »Lassen Sie mich die Lage erklären, Boss. Unsere geplante Route hätte uns um Russland und Nordkorea herumgeführt. Aber es gibt ein schmales Gebiet an der russisch-nordkoreanischen Grenze, wo die Gefahr, von modernen Boden-Luft-Raketen beschossen zu werden, geringer ist. Ein rascher Überflug und man ist in China, ehe eines der beiden Länder reagieren kann. Auch dann wird es mit dem Treibstoff noch äußerst knapp. Aber wenn wir aussteigen müssen, befinden wir uns immerhin über China und nicht über dem weiten, blauen Meer.« »Wenn Sie glauben, wir schaffen es, dann nur zu«, sagte Santini. »Sie könnten uns aber auch eine Versicherungspolice besorgen, Boss. Wenn der Generalstabschef die Landung in Elmendorf befohlen hat, können wir verdammt sicher sein, dass sie das letzte Wiederauftanken gestrichen und die Tankflugzeuge nach Kadena zurückgeholt haben. Und sie wissen, dass wir keinem Befehl zur Kursänderung folgen.« 479
»Richtig. Was kann ich tun?« »George Whittier anrufen. Ich muss Sie allerdings warnen. Wenn wir die Funkstille unterbrechen, werden eine Menge feindlicher Horchposten aufwachen. Die russische, chinesische und nordkoreanische Luftverteidigung wird noch mehr über uns im Bilde sein, als sie es ohnehin schon ist.« Santini begriff, dass Murphy den Generalstabschef mit Namen bezeichnete, weil er wollte, dass Santini die Sache von Mann zu Mann regelte. »Er steht fürchterlich unter Druck«, sagte er. »Es geht um seinen Job, seine ganze Karriere. Das Weiße Haus. Na ja, auf die Einzelheiten kommt es nicht an. Trotzdem ist es einen Versuch wert. Verwenden Sie meinen Kodenamen: Road Runner.« Als sie bei einer Geschwindigkeit von 3,2 Mach auf ihrer Reisehöhe in den Horizontalflug gingen, schaltete Murphy auf das verschlüsselte, globale Kurzwellennetzwerk namens Big Voice und sagte: »Big Voice, hier ist Aspen Special mit Road Runner. Benötigen Kontakt mit Generalstabschef Whittier im NMCC. Verbinden Sie uns.« Begleitet von statischem Rauschen antwortete eine Stimme: »Hier Big Voice. Bitte wiederholen Sie Kennung und Bitte.« Murphy wiederholte die Anfrage und wies Santini über Bordfunk an, auf Kurzwellenempfang zu schalten. Eine neue Stimme kam durch das Rauschen, laut und deutlich. »Aspen Special, hier spricht Brigadegeneral Ralph Ebbits, NMCC. Bestätigen Road Runner muss mit dem Generalstabschef sprechen.« »Positiv, General«, sagte Santini. »Hier spricht Road Runner.« »Bleiben Sie auf Empfang für General Whittier, Road Runner.« 480
»Grüße Sie, Road Runner. Ich habe eine Nachricht für Sie. Sie lautet: ›Ich wusste immer, sollte ich je in Schwierigkeiten sein, würden Sie mir beistehen, wenn Sie noch leben.‹ Oder anders ausgedrückt: Praeger kann mich mal.« »Verstanden, Sherman!«, sagte Santini. »Ich möchte, dass Sie die Tankflugzeuge aus Kadena bekommen«, fuhr Whittier fort. »Aber ich habe sie bereits zurückbeordert. Ich weiß nicht, ob es nicht schon zu spät ist.« »Reden Sie mit Murphy«, sagte Santini. Murphy schaltete sich ein. »Wenn Sie mir Kennung und Position des Tankflugzeugs geben können, Sir, dann kann ich es wahrscheinlich finden. Und wenn es ein alter QTanker ist, dann sollen sie ihren COMNAV-50 UKWFunk auf Rendezvous-Kode sechs-vier-eins-sieben-zwei einstellen. Dann ist die Sache relativ einfach.« »Bestätige, Murphy. Habe früher selbst mal von einem Q-Tanker genuckelt, als ich noch geflogen bin. Habe die Kodeziffern. Mache mich an die Arbeit. Ende.« Murphy schaltete auf Bordfunk. »Sieht gut aus, Mr. Secretary. Aber was hatte die Sache mit Sherman zu bedeuten, wenn ich fragen darf?« »Als ich Verteidigungsminister wurde, wollte mir General Whittier zu verstehen geben, dass ich auf ihn zählen kann. Er ist aber ein wenig schüchtern, kein Mann großer Worte. Deshalb hat er mir eine kleine Messingplakette mit einem Zitat von General William Tecumseh Sherman an General Grant geschenkt. Und dieses Zitat hat er gerade wiederholt.« Immer noch im ›Tank‹, ließ sich Whittier direkt mit Admiral Jesse Stockdale verbinden, dem Oberbefehls481
haber des Pazifikkommandos. »Jesse, hier ist George. Ich muss gleich zur Sache kommen. Ich habe einen Notfall für ein Wiederauftanken im Japanischen Meer. Wie ist der aktuelle Status unserer Tanker während dieser Verteidigungsbereitschaft? Kreisen welche in dem Gebiet? Ich muss wissen, ob Maschinen von dem alten Typ Q dabei sind. Außerdem wurden ein paar Qs vor rund einer Stunde zurückgerufen. Sie waren nicht über die Sache informiert – und seien Sie bloß froh. Ich brauche diese Tankflugzeuge so schnell wie möglich wieder an Ort und Stelle.« »Hört sich ja nach einer wilden Geschichte an. Okay. Bleiben Sie dran, bis ich den aktuellen Stand ermittelt habe. Ich lasse den Dienst habenden Leitoffizier nachsehen. Aber ich dachte immer, Admiräle und Generäle müssen sich nicht um die Einzelheiten kümmern.« »Der Teufel steckt in diesen Details, Jesse, glauben Sie mir. Also, legen wir los.«
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55 Auf dem Weg nach Peking Murphy hatte gerade ausgerechnet, dass ihnen noch neunzehn Minuten Flugzeit blieben, als er die Tragflächenbeleuchtung des Q-Tankers sah. »Wir bringen Sie nach Peking, Boss«, sagte er. »Jetzt sind wir alle Sorgen los.« Noch nicht ganz, dachte Santini. Aber das Gröbste ist geschafft, wenn ich erst mal dort bin. Er sah zu, wie sich Murphy gekonnt erst an ein Tankflugzeug ankoppelte, dann an das zweite. Mit seiner ruhigen und überzeugenden Stimme lenkte er die Flugzeugbesatzungen, von denen bisher noch keine eine SR-71 aufgetankt hatte. Aber sie reagierten fehlerfrei auf Murphys Anweisungen. »Gut gemacht«, gab Murphy an den Kapitän durch, kurz bevor sich das zweite Tankflugzeug abkoppelte. »Ihre Jungs seid echte Profis.« »Der Profi sind Sie, Irish. Alles Gute noch.« In der nächtlichen Schwärze über dem Meer tauchten Lichtpunkte auf, als die Blackbird die Küste Koreas überflog. Murphy holte jedes Quäntchen Geschwindigkeit aus der Maschine, solange sie im koreanischen und russischen Luftraum flogen. »Ich weiß eigentlich genau, dass sie uns nichts anhaben können«, sagte er über Bordfunk. »Aber sie merken garantiert, dass irgendetwas vorbeizischt. Da unten werden sich jetzt einige Luftraumüberwacher am Hinterkopf kratzen.« 483
»Wann sagen wir Peking Bescheid, dass wir runterkommen?« »Das habe ich mir schon überlegt, Boss. Wir gehen als Verkehrsflugzeug runter. Englisch ist weltweit die Sprache der Luftüberwachung, ich musste also kein Chinesisch lernen. Wir werden etwa in fünfzehn Minuten im Kontrollbereich von Pekings Internationalem Flughafen sein. Ich bin empfangsbereit auf ihrer Frequenz. Dann können wir nur noch hoffen, dass ein Begrüßungskomitee auf uns wartet und nicht ein paar Boden-Luft-Raketen. Schalten Sie auf Kurzwelle, dann kriegen Sie alles mit.« Die nächste Stimme, die Santini hörte, war die eines Pekinger Fluglotsen. Dann kam Murphys kühle Stimme, und ein technischer Dialog folgte. Santini sah lange Lichterreihen in der morgendlichen Dunkelheit und spürte, wie Murphy das Flugzeug abbremste und zum Landeanflug einschwenkte. Er landete so glatt, wie er acht Stunden zuvor gestartet war. Sobald sich das Dach der Pilotenkanzel öffnete, schälte sich Santini aus dem Sitzgurt, legte Helm und Handschuhe ab und kletterte unbeholfen auf eine Tragfläche. Beim Sprung auf die Rollbahn knickten ihm kurz die Beine weg. Er richtete sich auf und sah, wie Murphy einen eleganten Ausstieg hinlegte. »Danke, Buz – jetzt kann ich Sie ja so nennen. Vielen Dank. Eines Tages bekommen Sie dafür eine Medaille.« Eine lange, schwarze Limousine – ein individuell gefertigter Maybach – hielt neben dem Flugzeug. Sie waren weit entfernt vom Terminal gelandet, in einem VIPBereich, wie Santini annahm. Der Fahrer öffnete eine Tür im Fond. 484
Verteidigungsminister Xu stieg aus, hob die rechte Hand zum Gruß und sagte: »Willkommen …« Gewehrfeuer übertönte Xus Stimme, es strich über die gesamte Länge des Maybach und schlug Löcher in die schwer gepanzerten Türen. Die Kugeln wurden zu Scheiben von der Größe eines Silberdollars platt gedrückt. Die letzte Kugel der Salve drang durch Buz Murphys rechtes Auge ein und riss ihm den Hinterkopf weg, so dass sich Knochensplitter und Hirnmasse auf dem Rumpf der Blackbird verteilten. Betonsplitter aus der Rollbahn durchschlugen Santinis Astronautenanzug, ein Splitter verfehlte nur knapp seine Stirn. Die Kugel, die Xus ausgestreckten Arm traf, ließ ihn herumwirbeln wie eine Puppe. Er presste die Hand an den nahezu abgetrennten Arm und bemühte sich verzweifelt, das Blut zu stillen, das aus einer zerfetzten Arterie schoss. Die Leibwächter in seinem Begleitfahrzeug waren vollkommen überrascht worden. Da sie die Quelle des Gewehrfeuers nicht ausmachen konnten, gerieten sie in Panik. Zwei von ihnen wurden niedergemäht, die 50-mmPatronen rissen ihnen die Eingeweide auf. Drei andere feuerten wild aus Automatikwaffen in der Hoffnung, ihre unsichtbaren Angreifer zu treffen. Santini wäre um ein Haar ihr Opfer geworden. Er stieß Xu zurück auf den Rücksitz der Limousine, brüllte dem Fahrer zu loszufahren und fuchtelte mit dem Arm. Es war eine Geste, die keiner Übersetzung bedurfte. Dann sprang er neben Xu in den Wagen und wickelte sein Halstuch als Druckverband um die Schulter des Verteidigungsministers. Ein zweiter Mercedes raste über die Rollbahn und setzte sich vor den Wagen mit Santini und Xu. Santini riss die Sig-Sauer aus dem Halfter. Aber im nächsten Moment erkannte er, dass es sich um ein Fahrzeug der Sicherheitsmannschaft handelte, das zwar 485
schnell zur Stelle war, aber zu spät, um noch viel Sicherheit zu bieten. Am Horizont brach die Morgendämmerung an. Santini erkannte kaum den ausgedehnten Baumbestand zu beiden Seiten der Straße, die zur Autobahn nach Peking führte. Der Tachometer kletterte auf 140 km/h. Santini schätzte, dass sie den Tiananmen bei dieser Geschwindigkeit in weniger als einer halben Stunde erreichen konnten. Präsident Chi Zhiqiang wartete in der Großen Halle des Volkes auf sie. Mit ein wenig Glück würde es ihm gelingen, seinen Freund zu retten. Ein dünner Nebelschleier hatte sich auf die Autobahn gelegt und hüllte das vorausfahrende Fahrzeug fast vollständig ein. Plötzlich zerriss ein greller Blitz den Nebel, und Santini sah in einem Sekundenbruchteil, wie der Wagen der Sicherheitsmannschaft von den Straße abhob, explodierte und sich überschlug. Xus Fahrer trat auf die Bremse und brachte den Wagen schlitternd zum Stehen. Santini klopfte ihm auf die Schulter und schrie: »Weiter! Los!« Sein alter Dschungelkämpferinstinkt hatte ihn noch nicht verlassen. Er erkannte einen Hinterhalt, wenn er einen sah. Ihr Wagen war eine leichte Beute für die Angreifer, die offenbar das falsche Fahrzeug in die Luft gejagt hatten. Oder doch nicht? Der Fahrer drehte sich blitzschnell um, eine Pistole in der Hand. Santini packte ihn am Arm. Ein Schuss aus der Waffe schlug im Wagendach ein und zertrümmerte eine Lampe. Santini hielt mit der Linken das Handgelenk des Fahrers umklammert, hob die Sig-Sauer und schoss dem Mann mitten ins Gesicht. Dann kletterte er auf den Vordersitz, öffnete die Fahrertür und stieß die Leiche hinaus, ehe er sich hinter das Lenkrad quetschte und das Gaspedal durchdrückte. Aus dem Wald rechter Hand fielen Schüsse. Kugel schlugen in die Panzerung ein. 486
Im Rückspiegel sah Santini den Rauchbogen einer Granate, die zehn Meter hinter ihm explodierte. Wenn er früher als offizieller Besucher über diese Autobahn gefahren war, hatte er bemerkt, dass alle Kreuzungen für die Wagenkolonne der prominenten Gäste gesperrt gewesen waren. Der Maybach schoss mit einer Geschwindigkeit über die Strecke, bei der es keinen Spielraum für Fehler gab. Alle paar Minuten rief Santini nach hinten zu Xu, der sich mühsam aufgesetzt und den Kopf in die gepolsterte Nackenstütze gelegt hatte. »Wir sind fast da. Halten Sie durch! Nur noch ein paar Minuten!« Wir sind fast wo?, rief eine innere Stimme zurück. Wie hatte er sich nur in diese Bredouille bringen können? Wie sollte er da wieder herausfinden? Als sie die Außenbezirke Pekings erreichten, bremste ihn der zunehmende Verkehr. Santini kam aus Nordost, und er wusste, dass die Einfallstraße zum Platz des Himmlischen Friedens führte. Bei der Fahrt durch das Geschäftsviertel der Stadt erkannte er einige markante Bauwerke wieder. Ein kleines Stück weiter rechts entdeckte er das Holiday Inn Crown Plaza. Bald würde er das International Hotel sehen. Dort musste er rechts auf die Jianguo Lu einbiegen, eine von Pekings Hauptverkehrsadern. Entlang des Boulevards sah er nun Massen von älteren Chinesen ihr allmorgendliches Tai Chi vollführen, anmutige Kampfsportbewegungen, die ihre dünnen Muskeln geschmeidig hielten. Santini trat erneut aufs Gaspedal, als er den weiten Platz sah, der einst während eines kurzen Aufstands von Menschenrechtsaktivisten die Welt erstarren ließ. Er schreckte einen Polizisten auf, der in seiner weißen Tonne den Kreisverkehr regelte, als er um die Kurve schlitterte, 487
über einen Bordstein setzte und auf den Platz raste. Vor sich entdeckte er die lang gestreckte, niedrige Silhouette der Großen Halle des Volkes, eines gigantischen Säulenbaus, der keinen Anspruch auf Schönheit erhob – nur auf Macht. In einer Minute … Der Hubschrauber schwebte von links in sein Gesichtsfeld. Santini erkannte ihn fast sofort. Plötzlich hatte er eine Seite aus einer Briefingmappe vor Augen, das Diagramm des Wuzhuang Zhisheng-9. Der WZ-9 war Chinas erster eigener Kampfhubschrauber. Eine fiese Tötungsmaschine: 23-mm-Kanonen, Raketenwerfer, Maschinengewehre, funkgelenkte Panzerabwehrraketen. Santini steuerte auf den Hubschrauber zu, um die Besatzung zu überraschen. Wenn der WZ-9 einen Vorteil für ihn hatte, dann den, dass die Besatzung nur aus einem Mann bestand, und der war möglicherweise etwas nervös angesichts des Befehls, mitten auf dem Tiananmen seinen Verteidigungsminister zu beschießen. Aber was waren das für Gedanken? Nur einer! Einer reichte völlig aus, um einen kleinen Panzerkonvoi zu zerlegen. Und vielleicht hatte der Putsch bereits begonnen, und dem Typ da oben gefiel die Vorstellung, den Verteidigungsminister zu töten. Aber wenn es ihm gelang, den Piloten irgendwie abzulenken, schaffte er es vielleicht bis zur Großen Halle. Der WZ-9 feuerte aus der Bordkanone und aus den Maschinengewehren. Aber da Wagen und Hubschrauber schnell aufeinander zurasten, schoss die Kanone über ihr Ziel hinaus und riss zehn Meter hinter dem Auto einen kleinen Krater ins Pflaster, während die Maschinengewehrsalven ein Lochmuster in das Mausoleum Mao Zedongs stanzten und mehrere Pilger schwer verletzten, die vor dem Grabmahl Schlange standen. Santini gab Gas, riss den Wagen herum und schlitterte direkt auf die breite, 488
steile Treppe der Großen Halle zu. Er hielt am Fuß der Treppe, sprang aus dem Fahrzeug und hob Xu vorsichtig auf das Pflaster. Die jungen Wachsoldaten am Eingang des Gebäudes sahen verwirrt aus. Xu war ernsthaft verwundet. Er wurde von einem Fremden getragen – einem Europäer oder vielleicht einem Amerikaner. Wo war die Leibwache des Ministers? Wer war dieser Mann? Sollten sie auf ihn schießen oder ihm zu Hilfe eilen? Santini erkannte nun, dass sie beide verloren waren. Sinnloserweise fragte er sich, welche Waffe der WZ-9Pilot wählen würde. Er blickte sich hektisch um. Und dann sah er es. Ein Außenspiegelgehäuse des Maybach hing lose herab; der Spiegel selbst war noch heil. Santini riss ihn ab und hielt ihn so, dass er die Sonne einfing, die inzwischen aufgegangen war. Die große Halle des Volkes befand sich auf der Westseite des Platzes. Der Pilot hatte sie im Rücken. Der Spiegel war eine mehr als vage Chance. Vielleicht verfügte der Helm des Piloten über ein Sonnenschutzvisier. Vielleicht würde das automatische Feuerkontrollsystem des WZ-9 ohne menschlichen Eingriff feuern. Aber vielleicht … Der WZ-9 flog im Fünfundvierzig-Grad-Winkel einen weiten Bogen, ging dann in den Horizontalflug über und hielt direkt auf Santini und den Maybach zu. Er stoppte in einigem Abstand, feuerte eine Maschinengewehrsalve ab, die Santini knapp verfehlte und verharrte dann für den tödlichen Schuss im Schwebeflug. Eine Rakete traf den Wagen, hob ihn vom Boden weg und ließ ihn in Flammen aufgehen. Die Detonation traf Santini wie ein Vorschlaghammer und schleuderte ihn und 489
Xu auf die scharfkantigen Stufen. Instinktiv drehte sich Santini so, dass Xu auf ihm landete und der zerfetzte Arm beim Aufprall geschont wurde. Panik trat an Stelle des Schmerzes, der Santini für einen kurzen Moment beherrscht hatte. Er und Xu waren völlig schutzlos. Es gab weit und breit keine Zuflucht, kein Versteck. Sie waren wie Truthähne bei einem Truthahnschießen. Nein. Das durfte nicht das Ende sein. Santini wackelte erneut mit dem Spiegel und lenkte die Strahlen auf eine Stelle, von der hoffte, dass sich dahinter die Augen des Piloten befanden. Der WZ-9 bewegte sich leicht. Ob geblendet oder nicht, der Pilot hatte jedenfalls einen Moment gezögert. Eine 9-mm-Pistole ist eine Seitenwaffe, zur Selbstverteidigung gedacht. Sie eignet sich gut für kurze Entfernungen und echten Nahkampf. Auf fünfzig Meter trifft man damit vielleicht noch eine Scheunenwand. Aber genauso wirkte der WZ-9 jetzt auf Santini. Er war so nahe, dass er ihn fast berühren konnte. Er umklammerte die Sig-Sauer mit beiden Händen, zielte und feuerte sämtliche Kugeln ab, die sich noch im Magazin befanden. Er blieb einfach auf dem Abzug und bemühte sich, die Schüsse in einem engen Radius zu platzieren. Wenn er es richtig machte, wenn er Glück hatte, konnte er ein Loch in den Treibstofftank hämmern und dieses Arschloch da oben in einen riesigen Leuchtkäfer verwandeln. Bam. Bam. Bam. Bam. Bam. Bingo! Das Heck des Hubschraubers brach in Flammen aus. Sekunden später ließ ihn eine Folgeexplosion wilde Pirouetten drehen. Er schlug hart auf den Boden auf und kippte dann zur Seite. Die Rotorblätter brachen, als sie sich ins Pflaster bohrten. Der Pilot kämpfte verzweifelt mit dem Gurtgeschirr, das 490
ihn in dem brennenden Wrack festhielt. Seine Schreie wurden schnell von Rauch und Flammen erstickt. Dann ging unmittelbar hinter dem Cockpit eine Tür auf, und ein Offizier in Uniform krabbelte heraus. Aus einer Wunde über dem Nasenrücken floss Blut. Der linke Arm baumelte schlaff an der Seite herab. Santini starrte den Mann ungläubig an. Es war Li! Und er rannte, eine Uzi schwingend, auf Santini zu. Santini zielte als Erster und feuerte. Klick. Klick. Klick. Er hatte keine Kugeln mehr, sein Glück hatte ihn endgültig verlassen. Li brachte mit dem gesunden Arm die Uzi in Anschlag und schoss. Im selben Moment hechtete Santini nach vorn und riss ihm die Waffe aus der Hand. Li schaute sich hektisch nach Beistand um und rief den Wachleuten zu, die immer noch vor dem Eingang der Großen Halle standen. Sie waren wie gelähmt von dem Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte. Sie erkannten Li natürlich, er war einer der mächtigsten Männer im Militärapparat. Aber sie sahen auch, dass er Xu zu töten versucht hatte, ihren Verteidigungsminister. Sie riefen Li etwas zu, machten aber keine Anstalten, ihm beizustehen. Santini schleuderte die Uzi zur Seite und versetzte Li einen Hieb, der ihm die Nase brach und ihn auf den Rücken warf. Dann beugte er sich hinab und zerrte ihn wieder auf die Beine. Li verdrehte den Oberkörper und zog eine lange Klinge aus einer Scheide an seinem Gürtel. Der fein geschliffene Stahl glänzte in der Morgensonne. Santini packte Li am Handgelenk und bog ihm die Hand mit dem Messer in Richtung der eigenen Kehle. Als die Spitze die Haut ritzte, ließ Li das Messer fallen. Ein gewaltiger Hass durchflutete Santini. Beim Anblick Lis erinnerte er sich an die Ratte von Offizier, die seine Folter 491
überwacht hatte. Der Mann hatte zugesehen, wie die Vietkong ihm die Knochen brachen, wie sie ihn an den Rand des Wahnsinns brachten, wie einige seiner Mitgefangenen wie Hunde verreckten. Die Wut brach aus ihm wie aus einem Vulkan. Er trat Li mit voller Wucht in die Leiste, was den Chinesen heulend zu Boden gehen ließ, die rechte Hand an die Hoden gepresst. Li war am Ende. Santini nicht. Er ging in die Hocke, packte Li an den Haaren und riss ihm den Kopf hoch, so dass sich ihre Blicke trafen. »Du verdammtes Dreckschwein«, schrie er ein ums andere Mal und landete Schlag auf Schlag, zertrümmerte Lis Kiefer und prügelte ihn unbarmherzig in eine Bewusstlosigkeit, aus der er nicht mehr erwachen sollte.
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56 Als Chis Wagenkolonne auf den gewaltigen Platz einbog, sah seine kleine Leibgarde die brennende Hülle von General Lis Hubschrauber. Instinktiv brüllten die Männer dem Fahrer Befehle zu. »Weg hier! Weg!« Das abrupte Wendemanöver überraschte Chi und schleuderte ihn auf den Boden des Fahrzeugs. Als er sich wieder aufrappelte, konnte er das Hubschrauberwrack durch das Heckfenster sehen. »Halt!«, rief er. »Wir fahren wie geplant zur Großen Halle.« Seine vier Begleitfahrzeuge wendeten ebenfalls und bildeten einen gepanzerten Kokon um den Präsidentenwagen. Mit heulenden Sirenen rasten sie zur Treppe der Großen Halle. Sekunden später waren sie angekommen, zehn Männer quollen aus den Autos, drehten sich im Kreis und schwenkten ihre Automatikwaffen. Präsident Chi sprang aus dem Wagen und eilte zu Santini, der ein wenig Druck von dem Verband nahm, den er an Xus Arm angelegt hatte. Auch wenn Chis Wachmannschaft klein war, begleitete ihn immer ein Leibarzt für medizinische Notfälle. Der Arzt folgte Chi, um sich um Minister Xu zu kümmern. Er untersuchte ihn rasch und prüfte seinen Blutdruck. »Er ist schwer verletzt«, stellte der Mediziner fest, »aber nicht tödlich. Er hat eine Menge Blut verloren und steht unter Schock. Wir müssen ihn sofort in ein Krankenhaus schaffen.« Chi nickte zum Zeichen des Einverständnisses. Zwei 493
Leibwächter hoben Xu in eines der Begleitfahrzeuge und brausten davon. Nun hakte sich Chi bei Santini ein – eine Geste der Freundschaft, die er höchst selten gewährte – und führte ihn zur Großen Halle des Volkes hinauf. Als die beiden Männer den gewaltigen Korridor entlangschritten, wirkten sie überaus winzig, beinahe puppenhaft. Der Bau war im Jahr 1959 errichtet worden, um den Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg zu feiern. Er enthielt einen zentralen Saal, in dem Tausende von Menschen Platz fanden, dazu eine Reihe kleinerer, aber immer noch stattlicher Versammlungsräume, die nach den einzelnen Provinzen Chinas benannt waren. Präsident Chi führte Santini in den Fujian-Saal. Fujian ist die Provinz, die direkt gegenüber von Taiwan liegt. Falls mit der Wahl des Raums eine symbolische Bedeutung verbunden war, entging sie Santini in diesem Augenblick. Chi ließ sich in einem Stuhl mit hoher Lehne nieder, der durch die schiere Größe des Raums zwergenhaft erschien. Er bot Santini eine Zigarette an, die dieser höflich ablehnte. Chi zündete sich selbst eine an, sog den Rauch tief ein und blies ihn als dünnen Strahl wieder aus. Dann machte er einem Diener ein Zeichen, Tee zu bringen. Santini betrachtete den chinesischen Führer eingehend. Chi hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht, mit Augen, die zugleich intensiv und doch irgendwie ruhig blickten. So gelassen und selbstgewiss er wirkte, hatte er etwas Katzenhaftes, Sprungbereites an sich. »Herr Verteidigungsminister«, wandte er sich über seinen Dolmetscher an Santini, »ich muss sagen, was hier vorgefallen ist, stellt ein großes Rätsel für mich dar.« Santini hielt den Blick auf den Präsidenten gerichtet, während er sorgfältig jedem Wort des Dolmetschers 494
lauschte. »Letzte Nacht«, fuhr Chi fort, »hat sich Minister Xu bei mir gemeldet und mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie beabsichtigen, nach Peking zu reisen und darauf bestehen, mich zu treffen.« Erneute Pause für den Dolmetscher. »Dann erhielt ich einen Notruf von Präsident Jefferson, der mich bedrängte, mich nicht mit einem Mann zu treffen, der sein Land verraten hat.« Santini versuchte nicht, Chi zu unterbrechen oder etwas zu erklären. »Beide Bitten waren sehr außergewöhnlich. Ich hatte keine Ahnung, dass Ihre Ankunft so … dramatisch ausfallen würde.« »Ich auch nicht, Präsident Chi«, beeilte sich Santini zu versichern. Chi zog erneut an seiner Zigarette, die inzwischen zu einem Stummel heruntergebrannt war. »Bitte erzählen Sie mir, warum Sie gekommen sind. Was genau geht vor sich? In Ihrer Nachricht war von einem bevorstehenden Krieg die Rede. Welcher Krieg?« Santini hatte sich nun wieder im Griff, die Adrenalinflut war abgeebbt. In den nächsten zehn Minuten berichtete er von der Beziehung zwischen General Li und Wladimir Berzin. Er beschrieb, wie Li für den Mord an Verteidigungsminister Koestler und die Anschläge auf die Deutschen in Holloman und Grafenwöhr verantwortlich war. Wie er geplant hatte, Taiwan anzugreifen, nachdem er amerikanische Streitkräfte mit einem Ablenkungsmanöver zur koreanischen Halbinsel gelockt hatte … Chi hörte die ganze Zeit regungslos zu, und als Santini zu Ende gesprochen hatte, nickte er zum Zeichen, dass er 495
verstanden hatte, wie bedrohlich all diese Vorgänge waren. »Sie haben mein Wort, Minister Santini. Ich werde sofort veranlassen, dass man sich um alle Beteiligten an diesem Verrat kümmert.« Santini zweifelte nicht daran, dass Chinas Führer ein Mann war, der sein Wort hielt.
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57 MOSKAU, BERLIN, PEKING, WASHINGTON Die Menschen in Russland standen unter Schock, ihr politisches System war in seinen Grundfesten erschüttert. Erst war Präsident Gruschkow beim Abschuss seines Hubschraubers ums Leben gekommen, und nun war sein vermeintlicher Nachfolger Wladimir Berzin bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wie die Ermittlungen ergaben, war daran eine hoch explosive, in der Luft detonierende Minirakete schuld gewesen, die von einem unbemannten Fluggerät abgefeuert worden war. Was war los in Russland? Die Medien verbreiteten unablässig verwirrende Berichte. Gerüchte kursierten, Berzins Ermordung sei eine Blutrache von Kreisen gewesen, die glaubten, dass er bei Gruschkows gewaltsamem Ende die Hände im Spiel gehabt hatte. Aber russische Geheimdienstoffiziere – alle früher beim KGB, und jetzt mit Verbindungen zum Garten – setzten rasch Geschichten in Umlauf, wonach sowohl Gruschkow als auch Berzin Opfer tschetschenischer Terroristen geworden waren. Michail Zirinsky, der rechtsnationale Politiker, der für seinen bösartigen Antisemitismus bekannt war, behauptete, das Fluggerät, das die Rakete abgefeuert hatte, sei in Israel hergestellt worden und der Mossad habe Berzin wegen seiner Geschäftsverbindungen zu einem 497
deutschen Industriellen eliminiert, der seinerseits Kontakte zu deutschen Neonazis hatte. Die Menschen in Russland wussten nicht, wem oder was sie glauben sollten. Sie waren durcheinander und verängstigt. Die meisten politischen Experten gingen davon aus, dass Premierminister Dimitri Solokow, der als Übergangspräsident fungierte, automatisch die Präsidentschaft zufallen würde. Aber in der Folge von Berzins Tod verkündete Solokow, nicht näher bezeichnete gesundheitliche Gründe würden ihn davon abhalten, nach dem höchsten Staatsamt zu streben. Nach Beratungen mit politischen Führern in der Duma, dem russischen Parlament, ordnete Solokow eine Verschiebung der Wahl um zwei Monate an. Mehrere neue Gesichter tauchten plötzlich auf der politischen Bühne auf, eines gehörte Anatol Churkin, dem kürzlich zurückgetretenen General. Er legte Papiere vor, die ihn als den Kandidaten der Demokratischen Volkspartei auswiesen. Er versprach die Ausrottung bürokratischer Inkompetenz und ein Ende der Sonderbehandlung für Reiche. Außerdem wollte er das organisierte Verbrechen bekämpfen und dem russischen Volk seine Macht zurückgeben. Seine kurze Verbindung mit Wladimir Berzin, einem von ebenjenen reichen Oligarchen, die er auszuschalten versprach, schien seiner Bewunderung durch die Öffentlichkeit keinen Abbruch zu tun. Immerhin war er ein echter Kriegsheld. Und dass er außerdem mit einer der schönsten und begabtesten Ballerinen von ganz Russland verheiratet war, regte die Presse nur dazu an, das Paar mit den amerikanischen Kennedys zu vergleichen. Die Menschen in Russland waren offenbar bereit für ihr Camelot. 498
»Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, ich stehe heute voll Trauer und zugleich voller Entschlossenheit vor Ihnen«, begann Klaus Kiepler. Dann machte er eine kurze Pause, um dem Augenblick mehr Dramatik zu verleihen, und ließ den Blick über den riesigen Saal schweifen, in dem sich sämtliche sechshundertdrei Abgeordnete des Deutschen Bundestages versammelt hatten. »Deutschland hat einen prominenten Bürger verloren, einen Mann, den viele von Ihnen gut kannten. Wolfgang Wagner wurde ein Opfer des Terrors, dieser Geißel, der wir schon viel zu lange ausgesetzt sind. Die Identität derer, die sein Leben ausgelöscht haben, ist weiterhin unbekannt. Alle Indizien weisen jedoch darauf hin, dass die Mörder Wolfgang Wagners auch für die Tragödie auf dem Luftwaffenstützpunkt Holloman in New Mexico und für den furchtbaren Angriff auf unser Volk in Grafenwöhr verantwortlich sind. Ich kann Ihnen heute versichern, dass die Bundesregierung nicht ruhen wird, bis diese Saboteure und feigen Mörder ihrer gerechten Strafe zugeführt sind!« Über alle Parteigrenzen hinweg drückten die Abgeordneten ihre Zustimmung durch lang anhaltenden Applaus aus und zwangen Kiepler zu einer neuerlichen, dieses Mal unfreiwilligen Pause. Allen, einschließlich Kiepler selbst, entging die Ironie seiner Aussage. Die »Saboteure« waren bereits bestraft. Wladimir Berzin war selbst Opfer eines Mordanschlags geworden, und General Li war unter Michael Santinis Schlägen zur Hölle gefahren. Seine Leute hatte man auf Befehl von Präsident Chi vor Gericht gestellt und hingerichtet. Soweit Kiepler wusste, war Berzin entweder einem 499
persönlichen Racheakt oder einer Art Vendetta zum Opfer gefallen, ausgeführt von Leuten, die den vermeintlich kommenden Präsidenten Russlands hassten. Wagner war demnach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Er hatte die schlechte Entscheidung getroffen, sich einen Bösewicht zum Freund zu wählen, einen Bandenchef zum Geschäftspartner. In ihrem Streben nach einem Selbstbedienungs-Rapallo hatten die beiden den Tod gefunden. »Es steht außer Frage, dass wir dem Terrorismus niemals nachgeben dürfen«, fuhr Kiepler vor einem nun wieder ruhigen Bundestag fort. »Genauso wenig dürfen wir aber aus der Angst Kapital schlagen oder hemmungslos auf jene einschlagen, die wir nicht mögen oder denen wir nicht trauen.« Wieder machte er eine Pause, diesmal weil er das Thema wechselte und zu einer Aussage kam, die ihm wenig Applaus einbringen würde. »Amerika war und ist unser Freund. Wir werden mit dem amerikanischen Volk daran arbeiten, unsere Freiheiten zu schützen.« Er vollführte mit dem rechten Arm eine Geste, die alle Abgeordneten einschloss. »Aber wir werden es im Einklang mit unseren Werten, unseren Interessen und unseren Gesetzen tun. Wir glauben an die Stärke des Rechts, nicht an das Recht des Stärkeren.« Wieder brandete Applaus durch das Parlament. Christdemokraten, Sozialdemokraten und Grüne – sie alle klatschten. Kiepler wandte den Blick zur Regierungsbank, von der ihm Verteidigungsminister Günther Joffe entgegenstrahlte. Joffe erhob sich, und das gesamte Haus tat es ihm gleich. Die chinesische Justiz stand im Ruf, nicht lange zu fackeln. Und in diesem Fall wurde sie ihrem Ruf 500
zweifellos gerecht. Präsident Chi ließ alle Offiziere aus Lis Schurkenfraktion aufspüren, und nach einer raschen Anhörung unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden sie der Subversion für schuldig befunden und sofort hingerichtet. Chi machte die Aktivierung chinesischer Raketen rückgängig, die auf Taiwan gerichtet werden sollten, dann appellierte er an den nordkoreanischen Präsidenten Kim Song Jo, die Frühjahrsmanöver seines Militärs abzusagen. Es bedurfte nicht vieler Überredung. Kims Geheimpolizei hob alle bekannten Komplizen des falschen Überläufers General Kim Dae Park aus und ließ sie hängen. Der General selbst schlug sich schließlich ins kanadische Vancouver durch. Präsident Jefferson befahl eine sofortige Herabstufung der Alarmbereitschaft für die amerikanischen Streitkräfte und stoppte den Amphibienverband und zwei U-Boote, die auf seinen ausdrücklichen Befehl in nordkoreanische Gewässer unterwegs waren. Ein Krieg, der möglicherweise Millionen von Menschenleben gefordert hätte, war knapp vermieden worden. Armageddon war auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Aber die gesamte Affäre war zu groß, als dass man sie vollständig vertuschen konnte. Zum Beispiel war ein amerikanischer Zivilist, der zufällig früher SR-71-Pilot gewesen war, von Angehörigen der chinesischen Volksbefreiungsarmee erschossen worden. Einer Presseverlautbarung des Weißen Hauses zufolge handelte es sich bei der ganzen Angelegenheit um ein kolossales Missverständnis, das leicht zu erklären war. Vereidigungsminister Santini, der dafür bekannt war, unbedingt über jedes Detail bei umstrittenen Entscheidungen Bescheid wissen zu wollen, hatte einen Testflug mit der letzten noch einsatzfähigen SR-71 erwirkt. Er 501
wollte sich selbst und hartnäckige Kritiker im Kongress davon überzeugen, dass die Technologie des Flugzeugs tatsächlich keinen Nutzen mehr für die veränderten Ziele des Pentagon haben konnte. Während des Flugs traten nahe der chinesischen Grenze Schwierigkeiten mit der Mechanik und der Treibstoffversorgung der Maschine auf, so dass sie auf dem Internationalen Flughafen Peking notlanden musste. Obwohl Mr. Murphy der Ansicht war, er hätte eine entsprechende Genehmigung zur Landung auf chinesischem Boden erhalten, war diese Nachricht nicht bis zur VBA durchgedrungen, die den Flughafen gegen mögliche Terrorgefahren schützte. Junge Wehrpflichtige hatten dann ohne Erlaubnis tödliche Gewalt angewendet. Präsident Chi entschuldigte sich öffentlich beim amerikanischen Volk und verhinderte auf diese Weise eine ernsthafte Gegenreaktion. In einer vom Fernsehen ausgestrahlten Rede erklärte er, dass sich am selben Morgen ein weiterer schrecklicher Unfall auf dem Tiananmen ereignet habe, als ein chinesischer Hubschrauber bei einem routinemäßigen Überflug abstürzte und ausbrannte. Der Pilot sowie der stellvertretende Verteidigungsminister Chinas, General Li Kangshen seien dabei ums Leben gekommen. Glücklicherweise sei der Platz um diese frühe Stunde nahezu menschenleer gewesen, so dass es keine weiteren Opfer gegeben habe. Und kaum Zeugen, dachte Santini. Eine ziemlich dürftige Geschichte. Aber sie würde allen Beteiligten ein wenig Zeit verschaffen. Irgendwann würde aus dem Pentagon oder Weißen Haus schließlich etwas durchsickern. Zu viele Leute kannten Bruchstücke das des wahren Geschehens. Irgendwer würde sie zu einem Ganzen zusammensetzen. Jemand wie Randall Hartley. Aber man konnte ja nie wissen. Vielleicht würde die 502
ganze Geschichte einfach von künftigen Ereignissen überrollt werden. Ein Pockenausbruch irgendwo auf der Welt. Ein Kurswechsel Indiens und Pakistans, der die verbesserten Beziehung zwischen den beiden Ländern wieder zunichte machte und sie einem Krieg wegen der Region Kaschmir erneut näher rücken ließ. Die Erklärung des Iran, zum ständig größer werdenden Klub der Atomwaffenmächte gestoßen zu sein, nachdem das Land zuvor noch Inspektionen durch die Internationale Atomenergiebehörde zugestimmt hatte. Verhängung des Kriegsrechts in Venezuela. Neues Gemetzel im Nahen Osten. Oder aber Israelis und Palästinenser hörten endlich auf damit, Gräber auszuheben, und verständigten sich darauf, uralte Wunden heilen zu lassen. Präsident Jefferson feuerte Praeger, weil dieser beinahe einen Krieg angefangen hätte. Es war zu wenig und kam zu spät, um Santini zufrieden zu stellen. Jefferson flehte ihn zwar an, im Amt zu bleiben, aber Santini ließ keinen Zweifel daran, dass er ihm nicht länger dienen konnte. Er trat zurück und gab eine kurze Presseerklärung heraus, dass er an die Wall Street zurückkehren wollte. Die Entscheidung erfolgte zu abrupt, um glaubwürdig zu sein, aber das kümmerte Santini nicht im Geringsten. Seine Abschiedsfeier in Fort Myers fand mit wehenden Fahnen, Marschkappelle und Defilee statt. Santini stand zum Empfang bereit und begrüßte sie alle: Xu, der den rechten Arm in einer Schlinge trug, Christoph Stiller, den neu ernannten Direktor des BND, Arthur Wu, der gehetzt aussah, weil er gerade vom Gericht kam, wo er vor einer Anklagejury ausgesagt hatte; angeklagt war eine chinesische Übersetzerin des Nationalen Sicherheitsrats namens An Sing Li, General Whittier, der noch immer Generalstabschef war, nachdem er ein Verfahren vor dem 503
Kriegsgericht riskiert hatte, FBI-Agentin Leslie Knowles, die ihm einen Blick zuwarf, der ausdrückte: Hinter der Sache steckt doch nicht Berzin allein. Und zuletzt Santinis Nachfolger Jack Pelky, der ihm etwas ins Ohr flüsterte und dann laut und vernehmlich sagte: »Ich bin zufrieden, wenn ich meine Sache halb so gut mache wie du, Michael.« Santini hielt Pelky für gar keine schlechte Wahl. Alles in allem hatte er als CIA-Direktor anständige Arbeit geleistet. Ein bisschen zu sehr darauf bedacht, es dem Präsidenten recht zu machen, für Santinis Geschmack, aber vielleicht brachte die Aufgabe das einfach mit sich. Wer fehlte, war Santinis alter Freund, Baron Eric von Heltsinger. Als der Baron von Wolfgang Wagners gewaltsamem Tod in Moskau erfuhr, hatte er auf seinem Landsitz in Spanien einen tödlichen Herzanfall erlitten. In Berlin war ein Gedenkgottesdienst angekündigt, bei dem die deutsche Politik die Lebensleistung von Heltsingers würdigen wollte. Santini war fast in Versuchung gewesen, sein Schweigen zu brechen, als in der Washington Post Gerüchte auftauchten, Jefferson habe ihn aus dem Amt gedrängt, weil er ihn für eine zu große Belastung hielt. Seine CowboyEskapaden, hieß es, hätten um ein Haar die Beziehungen Amerikas zu China irreparabel geschädigt, ganz zu schweigen von dem Schaden, den das Pentagon unter seiner Ägide den deutsch-amerikanischen Beziehungen zugefügt habe. Praeger mochte nicht mehr da sein, aber das Presseamt des Weißen Hauses verfolgte weiter die Linie, notfalls jeden über Bord zu werfen, um den Präsidenten zu schützen. Die Fingerabdrücke des Weißen Hauses waren überall auf der verlogenen Geschichte, mit der es die eigene Haut retten wollte. Vielleicht würde Santini der Welt eines Tages erzählen, wie es sich wirklich abgespielt hatte. 504
Epilog Tag der Amtseinführung. Aufgrund der vorausgegangenen Ereignisse stieß die Amtseinführung des neuen russischen Präsidenten auf ein starkes Interesse in der amerikanischen Öffentlichkeit. NBC übertrug die Zeremonie, die zur Frühstückszeit an der Ostküste stattfand, live. Santini und Elena saßen vor dem großen Fernseher in dem Raum, den Santini seine »Bude« nannte, Kaffee und Bagels auf einem Tisch vor ihnen. Im Augenblick war Santini nichts so wichtig wie die Frau, die mit angezogenen Beinen neben ihm kauerte. Elena hatte David Ben-Dar davon in Kenntnis gesetzt, dass ihre berufliche Laufbahn endgültig zu Ende war. Sie hatte zu viel Tod gesehen, zu viel selbst getötet. Sie wollte ein anderes Leben führen, einen Neubeginn wagen. Vielleicht war es unmöglich. Vielleicht fand Ben-Dar einen Weg, sie zurückzuholen. Es gab keine Garantien. Die TV-Experten nutzten die Zeit bis zur Amtseinführung, um die überraschende Wahl von Anatol Churkin zu analysieren, dem Chefberater des verstorbenen Wladimir Berzin und wegen seiner Tapferkeit auf dem Schlachtfeld ein Held für Millionen von Russen. Churkin hatte mit seinem Versprechen einer sauberen Regierung und seiner Verpflichtung, Russlands militärische Macht und sein Ansehen wiederherzustellen, die Menschen für sich eingenommen. Er würde den Privilegien einer kleinen, skandalös reichen Schicht ein Ende machen. Das 505
russische Volk sollte weiterhin die Früchte und Freiheiten der Demokratie genießen, aber es hatte auch ein Recht darauf, ein Gefühl für die eigene Größe wiederzuerlangen. Sobald Churkin vereidigt war, zeigte NBC Bilder der jubelnden Menge auf dem Roten Platz. Kurz vor Churkins Rede schaltete der Sender dann in die prächtige Basiliuskathedrale, wo sich Prominenz aus aller Welt zum großen Festakt versammelt hatte. »Was hältst du von Churkin?«, fragte Elena und massierte Santinis Nacken. Santini zögerte und trank vorsichtig von seinem Kaffee. »Ich weiß nicht viel über ihn. Hoffentlich ist er so gut, wie ihn die russische Presse darstellt. Jung, dynamisch, mit einer kühnen Vision für das russische Volk. Sie könnten es weiß Gott gebrauchen.« Wie viele Amerikaner sahen sich Santini und Elena in den nächsten Stunden die prunkvolle Feier an. Behaglich in ein Plüschsofa geschmiegt, schlürften sie dazu heißen Kaffee – Jamaica Mountain, der zu beider Lieblingsmarke geworden war. »Es gibt da etwas, was mich immer beschäftigt hat«, sagte Santini, während er Elena im Nacken kraulte. »Etwas, was wir nie aufgelöst haben.« »Wir?«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. »Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem wir uns in der National Art Gallery zum ersten Mal begegnet sind, als du mit dem mexikanischen Botschafter dort warst?« »Mmh«, sagte sie lächelnd. »Wie könnte ich es je vergessen.« Sie stieß Santini leicht in die Rippen. »Du warst an diesem Abend ganz schön angriffslustig, muss ich sagen.« »War das reiner Zufall? Unsere Begegnung. Ich meine, 506
hat Ben-Dar dich angewiesen, mit mir Kontakt aufzunehmen?« »Ach, Liebling«, antwortete Elena. »Ich hatte eine Liste aller wichtigen Leute, die ich bei diesem Essen eventuell treffen würde. Unser Auswärtiges Amt hat dafür gesorgt, dass ich gut vorbereitet war.« Sie lächelte schelmisch. »Aber die Sitzordnung hatten wir nicht in der Hand.« Dann stellte sie die Kaffeetasse ab und umarmte Santini. »Es war deine Art, die alles in Gang gebracht hat, Michael. Nicht einmal der Mossad hätte das planen können.« Santini lachte. »Danke. Das musste ich einfach wissen.« Als sie sich wieder den Festlichkeiten auf dem Bildschirm zuwandten, spielte das Moskauer Symphonieorchester gerade Russlands Nationalhymne und der neu gewählte Präsident und seine Frau, die Starballerina, winkten fröhlich in die Menge, die ihnen tosend applaudierte. »Sieht aus, als wären glücklichere Zeiten angebrochen«, sagte Santini. »Ich hoffe es für die Menschen in Russland. Sie haben ein besseres Leben verdient, als sie es unter den Zaren und den Kommunisten hatten.« Aber einige düstere Gedanken wollten Santini nicht aus dem Kopf gehen. Sie hingen mit einer Bemerkung zusammen, die Jack Pelky bei dem Empfang anlässlich seiner Verabschiedung gemacht hatte. Er hatte Santini die Hand geschüttelt und ihm ins Ohr geflüstert. »Anatol Churkin wird gut für Russland sein. Und gut für uns.« Die Bemerkung war Santini damals seltsam und unangebracht vorgekommen. Was meinte er mit gut für uns? Und warum sagte er es ausgerechnet in diesem Augenblick? Lobte er nur die Perspektive, die Churkin dem russischen Volk bot, oder wollte er andeuten, dass Churkin, genau wie sein Mentor, auf der Gehaltsliste der CIA gestanden hatte? Und hatte der Geheimdienst in dem 507
Präsidenten einen Aktivposten gewonnen? Fand dort auf dem Roten Platz wirklich ein Neuanfang statt, oder handelte es sich nur um eine Neuauflage der alten Intrigen und Täuschungen? Santini sah Elena von der Seite an und verwarf alle grüblerischen Gedanken. Er zog sie fest an sich. Sollte sich jemand anders über das Morgen den Kopf zerbrechen. Er hielt die Frau, die er liebte, in den Armen. Was immer sonst passieren mochte, für ihn war es ein Neubeginn. Als er Elena gerade küssen wollte, läutete zu seiner Verärgerung das Telefon neben dem Sofa. »Verdammt«, murmelte er. Er griff nach dem Apparat, um die Verbindung zu trennen. Dabei fiel sein Blick auf die Anruferidentifizierung im Display. Randall Hartley stand dort …
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Danksagung Ich schulde vielen Leuten Dank, die mir geholfen haben, diese Geschichte zu erzählen. Zunächst danke ich dem Filmproduzenten Thomas Schüly und dem Anwalt Wolfgang Seybold, langjährige Freunde, die mich ermutigt haben, einen Roman zu schreiben, der sich mit den Belastungen und Spannungen heutiger Weltpolitik auseinander setzt. Ich hoffe, die Schösslinge, die ihr gepflanzt habt, sind zu dem Wald herangewachsen, den ihr euch vorgestellt hattet. Zweitens gilt mein tief empfundener Dank dem Autorenkollegen, alten Freund und häufigen Mitarbeiter Thomas B. Allen. Tom hat mich mit den Sitten der Uiguren und den Machenschaften der russischen Mafiya bekannt gemacht. Er war ein steter Quell der Inspiration und Hilfe. Ein besonderer Dank geht an Colonel Buz Carpenter, Offizier der Luftwaffe im Ruhestand. Buz war früher Pilot einer SR-71 Blackbird, einer der besten Amerikas, und hat mich virtuell im Cockpit eines dieser Technikwunder Platz nehmen lassen. Ich habe die ganze Flugstrecke bis nach Peking genossen! Dank schulde ich dem Herausgeber George Lucas für seine vielen Vorschläge zu Umbau und Straffung der Romanhandlung. Dem Strafverteidiger und Bestsellerautor Richard North Patterson bin ich dankbar, weil er mich beharrlich zu den Quellen der Kreativität zurückführte, an denen er Hof hält. Ich danke der Lektorin Maria Dürig, die das Auge einer Archäologin oder eines Juweliers hat. Maria drehte jeden 509
Stein um, prüfte jede Facette und ließ nicht zu, dass sich die Fantasie zu weit von der Realität entfernte. Meinem Kollegen H.K. Park bin ich dankbar für Hinweise, wo ich ein paar Spione oder Anthraxsporen finden könnte! Zu großem Dank verpflichtet bin ich dem Wunderkind Jarad S. Caplan, der meine Worte bei zahllosen Gelegenheiten aus dem Cyberspace gerettet und mir als tadellos gebundene Manuskripte zurückgegeben hat. Er ist ein außerordentlich begabter junger Mann, der mich mit viel Zuversicht in die Zukunft blicken lässt Zu guter Letzt ist meine Frau Janet Langhart Cohen zu nennen, Schriftstellerin, Fernsehschaffende und überzeugte Patriotin. Ich bin dir ewig dankbar, weil du bereitwillig so viele Stunden der Einsamkeit mit solcher Geduld ertragen hast, während ich der Arbeit an Die Verschwörer nachging.
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