Nr. 373
Die Verräter von Oth Magier auf dem Weg zur Macht von Marianne Sydow
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat...
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Nr. 373
Die Verräter von Oth Magier auf dem Weg zur Macht von Marianne Sydow
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Bran geln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrück ten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Während Atlan sich aus der Dimensionsschleppe den Weg zurück erkämpft und zur FESTUNG gelangt, wo er die Odinssöhne als Herren über Pthor ablöst, kommt es auch in der Großen Barriere von Oth, dem Reich der Magier, zu einer plötzlichen Machtverschiebung. Der Weltenmagier wird gefangengesetzt – es triumphieren DIE VERRÄTER VON OTH …
Die Verräter von Oth
3
Die Hautpersonen des Romans:
Gofruun und Heix - Copasalliors Abgesandte.
Atlan - Der Arkonide besucht das Land der Magier.
Copasallior - Der Weltenmagier und seine Gesinnungsfreunde werden unschädlich gemacht.
Jarsynthia und Wortz - Die beiden Magier melden Herrschaftsansprüche an.
1. »Dorstellarain?« fragte Atlan. »He, habt ihr Dorstellarain gesehen?« Niemand antwortete. Die Clanocs zogen an Atlan vorbei, eine erschöpfte, von Ent behrungen gezeichnete Schar, die Mühe hat te, sich noch auf den Beinen zu halten. Die meisten besaßen nur noch das, was sie auf dem Leib trugen. Andere schleppten Bündel mit sich. Viele Männer hatten sich ihre Bra ster-Lenker um die Hüften geschlungen. Sie hatten noch keine Zeit gehabt, zu begreifen, daß sie diese Seile auf Pthor nicht würden gebrauchen können – wenigstens nicht für den gewohnten Zweck. Der Arkonide starrte in den spärlich be leuchteten Gang. Dort hinten, außer Sichtweite, befand sich der Zugang zu jenen Anlagen, in der die »Seele« Pthors ihren Sitz hatte. Und dort existierte auch noch immer La'Mghor, in ei ner seltsamen, verzweigten Lebensform. Beide waren unerreichbar, seitdem ein Ener giefeld das ganze Gebiet gegen Eindringlin ge abschirmte. Eine Art Tunnel hatte sich zwischen dem Transmitter und der Außen welt befunden, solange die Verbindung zur Dimensionsschleppe noch bestand und die Clanocs in zahlreichen Gruppen und Grüpp chen herübergekommen waren. Der Transmitter arbeitete nicht mehr. We nigstens mußte Atlan das annehmen. Die Verbindung zur Dimensionsschleppe war abgerissen, und wahrscheinlich würde das ganze geisterhafte Gebilde sich von Pthor trennen. Was geschah nach der Trennung mit der fremden Welt? Konnte sie ohne Pthor über haupt existieren? Wenn ja, mußten nicht die unbekannten Herrscher der Schwarzen Gala
xis Verdacht schöpfen und die Dimensions schleppe zurückholen – wie sie es mit Pthor ja auch taten? »Vielleicht sehen wir uns bald wieder, Dorstellarain«, murmelte der Arkonide nachdenklich. Bald, das hieß, wenn diese Reise ihr nun mehr vorbestimmtes Ende fand. Sie würden keine Freude an ihrem Wiedersehen haben. Nicht in der Schwarzen Galaxis. Atlans Kenntnisse über dieses ferne Ziel waren denkbar dürftig. Er wußte nur eines: Die Schwarze Galaxis war eine Konzentration aller negativen Kräfte. Er wünschte, er hätte mehr Zeit, sich auf die Zukunft vorzuberei ten, aber er selbst hatte schließlich mitgehol fen, das gefälschte Steuerelement nach Pthor zu bringen. Die »Seele« und La'Mghor wa ren machtlos, es schien, als könne nichts und niemand den Dimensionsfahrstuhl noch ein mal irgendwo zum Stillstand bringen, bevor man die Schwarze Galaxis erreichte. Und nun war Dorstellarain verloren. Atlan machte sich nichts vor. Wenn der Clanoc noch lebte, so würde er zu den ersten gehören, die man über die Vorfälle dieser letzten Reise befragte. Und was dann mit Dorstellarain geschah, konnte man sich selbst bei einem totalen Mangel an Phantasie ausmalen. Der Schutzschirm hatte sich geschlossen, der Weg zum Transmitter war versperrt. Auch vorher hatte Atlan nicht mehr bis dort hin vordringen können. Er hatte es versucht. Nicht einmal das Goldene Vlies vermochte ihn zu schützen. Der Weg war nur nach ei ner Seite begehbar gewesen. Es schien, als hätte das geheimnisvolle Steuerelement mit Absicht die Clanocs entkommen lassen. Der Arkonide wandte sich um und holte die Flüchtlinge bald ein. Er sah jeden einzel nen an. Er sah ein paar bekannte Gesichter.
4 Aber niemand wußte anscheinend, warum ausgerechnet Dorstellarain zurückgeblieben war. Atlan, der die Clanocs ein wenig zu kennen glaubte, nahm an, daß sein hünen hafter Kampfgenosse sich für die anderen geopfert hatte. Das schien ihm die plausibel ste Erklärung für das beharrliche Schweigen der anderen zu sein. Sie hätten freiwillig nie mals gestanden, daß sie nur durch den Mut eines einzelnen hatten fliehen können. Ihre Mentalität verbot ihnen einen solchen Schritt. Deprimiert ließ er die Clanocs hinter sich. Er hatte schon zu viel Zeit hier unten verlo ren. Oben wartete Arbeit. Als er die Oberfläche erreichte, hatte sich dort nichts geändert. Auf Pthor herrschten weder Tag noch Nacht. Trostloses Dämmer licht löschte alle Farben aus und verzerrte die Entfernungen. Ein stetes Rauschen, wie von einem weit entfernten Wasserfall, be gleitete Pthor auf seiner Fahrt durch Zeit und Raum. Nebelfelder trieben über das Land und lagerten zwischen den Pyramiden der FESTUNG. Atlan ging langsam auf ur alten Wegen zwischen Sträuchern und Hecken hindurch. Von der Blütenpracht der FESTUNG sah man jetzt nichts, und die herrlichen, alten Bäume schienen sich unter dem schweren, grauen Himmel zu ducken. »Unsere ersten Parlamentarier kehren zu rück«, sagte Razamon, der Berserker, und trat Atlan in den Weg. »Willst du hören, was sie zu berichten haben?« »Mach's kurz«, bat Atlan niedergeschla gen. »Es scheint«, murmelte Razamon, »als hätten unsere Pthorer sich mittlerweile daran gewöhnt, Herrschaftsansprüche zu akzeptie ren. Es gibt nirgends Widerstand.« Der Arkonide lachte bitter auf. »Das ist mir klar. Hast du noch mehr Neuigkeiten?« Der Berserker sah den Unsterblichen nachdenklich an. »Was ist mit Dorstellarain?« fragte er. »Er hat es nicht geschafft, nicht wahr?« Atlan schwieg und schritt schneller aus. Er wollte nicht über Dorstellarain reden.
Marianne Sydow Wenigstens nicht jetzt. Der Clanoc war mehr als nur ein guter Kampfgefährte gewe sen. »Die einzigen, die sich überhaupt nicht melden, sind die Magier von Oth«, sagte Razamon nach einiger Zeit. »Thalia ist fest davon überzeugt, daß wir gerade bei ihnen Unterstützung finden«, überlegte der Arkonide, der dankbar war, daß der Berserker auf ein anderes Thema auswich. »Sie ist von einigen Magiern of fenbar sehr beeindruckt.« »Ich weiß«, Razamon lachte. »Besonders von dem, der sich als Stimmenmagier be zeichnet.« »Du wirst es mir nicht glauben wollen«, sagte Atlan ärgerlich, »aber diesen Burschen möchte ich selbst sehr gerne kennenlernen.« »Dem steht nichts im Wege. Warum nimmst du dir nicht einen Zugor und fliegst hin? Thalia wird dich sicher gerne begleiten und dir den Weg zeigen.« »Diese Art von Witzen steht dir nicht«, bemerkte der Arkonide trocken. »Abgesehen davon vergißt du den ›Steuermann‹. Wer weiß, wie er reagiert, wenn Thalia, die wie dererweckte Freundin seiner Einsamkeit, ihn im Stich läßt. Trotzdem – es ist keine schlechte Idee. Wenn die Magier nicht zu uns kommen …« »Es scheint fast, als könnten sie es gar nicht«, unterbrach Razamon den Arkoniden. »Die Dellos, die in die Große Barriere vor dringen sollten, mußten umkehren. Sie spür ten eine beginnende Lähmung.« »Du meinst, es gibt auch dort einen Able ger des VONTHARA?« »Man wird nicht ausgerechnet die Magier verschont haben. Wer weiß, sie haben viel leicht daran herumgebastelt, so daß ihr VONTHARA länger als alle anderen arbei tet.« Atlan dachte darüber nach. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe davon nichts. Magie – das Wort alleine ist mir schon verdächtig. Wir werden Beobachtungsposten einrichten müs sen. Sobald die Magier munter werden,
Die Verräter von Oth kümmere ich mich darum. Thalia glaubt, sie könnten sogar Pthor steuern, wenn sie es nur ernsthaft versuchten.« Razamon lachte. »Du machst Fortschritte«, stellte er fest. »Noch vor kurzem hast du die Magier für Taschenspieler und Scharlatane übelster Art gehalten.« »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie das nicht in Wirklichkeit auch sind«, murmelte der Arkonide zweifelnd. Der Berserker lächelte heimlich. Er glaub te den Arkoniden zu durchschauen: Atlan wollte kommenden Enttäuschungen vorbeu gen. Auch wenn er heimlich auf die Hilfe der Magier hoffte, würde er es nicht zuge ben. Sie erreichten ein Gebäude im inneren Fe stungsring. Vorübergehend, bis sie der Loyalität des »Steuermanns« sicher sein konnten, hatten sie sich außerhalb der Pyra miden-Schiffe eingerichtet. Der »Stumme« sah ihnen von der Tür aus entgegen. Raza mon nickte ihm zu. Der »Stumme« wandte sich ab und schritt voran bis in einen gemüt lich eingerichteten Raum. Hier waren sie un ter sich, und ein paar Dellos sorgten unauf fällig dafür, daß neugierige Besucher und die Abgesandten verschiedenster Völker nicht zu ihnen vordrangen. Sie hatten sich vergewissert, daß es an diesem Ort auch kei ne Überwachungsgeräte gab, mit denen man sie hätte belauschen können. Atlan wurde sich schmerzlich der Tatsa che bewußt, daß er – immerhin nach Odins Willen der neue König von Atlantis-Pthor – eine erschreckend kleine Gruppe von zuver lässigen Freunden um sich gesammelt hatte. Da war Thalia, die vor einem offenen Ka min saß und gedankenverloren in die Flam men starrte. Neben ihr stand Kolphyr, der Forscher aus dem Volk der Bera, wie eine geheimnisvolle Statue neben einem Tisch und musterte eine altertümlich anmutende Landkarte. Der »Stumme« trat neben ihn. Razamon hinkte zu einem Sessel und setzte sich so, daß er die Tür im Auge behalten konnte.
5 Und das war es dann auch schon. Daran bist du selbst schuld, bemerkte der Extrasinn kalt. Grizzard und Pama hast du gehen lassen, obwohl du ihre Hilfe hättest brauchen können. Und wo sind die anderen geblieben? Denke nur an Koy, den Tromm ler! Oder die Söhne Odins … Ich weiß! dachte Atlan ärgerlich. Um Koy tut es mir leid. Sobald ich etwas Zeit habe, werde ich versuchen, ihn aufzustöbern. Aber die Söhne Odins waren eher eine Last, das mußt du zugeben. Der Extrasinn gab keine Antwort. Der Ar konide widmete sich seufzend der Landkar te. Kolphyr hatte die Markierungen auf den neuesten Stand gebracht. Da waren die Städte von Pthor. Jede hatte ihr Schicksal, und die letzte Zeit hatte die ohnehin bestehenden Probleme noch ver schärft. In Panyxan litten die Guurpel nach wie vor unter dem Mangel an Wasser und artgerechter Nahrung. In Orxeya waren nicht einmal die geschäftstüchtigen Händler in der Lage, die Güter und Waren zu beschaffen und weiterzutransportieren, mit denen sich unter den herrschenden Bedingungen wert volle Quorks verdienen ließen. Am schlimmsten aber hatte es Moondrag getrof fen, die vielleicht stolzeste Stadt des Landes. Schnelle Hilfe für Pthor … Das Schlimmste war, daß Atlan genau wußte, was zu geschehen hatte. Die Händler von Orxeya mußten ihre Yassels mit Nahrungsmitteln beladen, statt mit den wenigen Luxusgütern, von denen sie sich Gewinn versprachen. Und sie durften Früchte und Fleisch dann nicht an die Rei chen zu hohen Preisen verkaufen. Wenn er den Händlern das sagte, würden sie ihn auslachen. Die Kelotten in Aghmonth konnten syn thetische Nahrung herstellen. Aber das lag anscheinend unter ihrer Würde. Die Technos von Zbahn, Zbohr und Donkmoon konnten diese künstlichen Lebensmittel mit Zugors transportieren und zur Verteilung bringen – nur standen die Technos auf dem Stand punkt, daß sie erstens keine Transportarbei
6 ter waren, und daß zweitens die anderen Völker tributpflichtig waren und somit ma terielle Unterstützung nicht erwarten durf ten. Die Valjaren bauten mehr Gemüse an, als sie selbst verbrauchten. Sie lieferten bereit willig – wie es der Tradition entsprach – alle Überschüsse in die FESTUNG. An die Leu te aus Moondrag verkauften sie so gut wie nichts. Die Piraten auf dem Xamyhr und dem Regenfluß kannten geheime, schnelle Wege in allen Teilen des Landes. Aber die stellten ihre Kenntnisse nicht in den Dienst der Notleidenden. Im Gegenteil: Dellos, die in den letzten Tagen von ihren Erkundungs flügen zurückgekehrt waren, wußten zu be richten, daß die Piraten mit Vorliebe halb verhungerte Einsiedler und ganze Pariagrup pen erschlugen, um an die letzte Habe der Unglücklichen zu gelangen. König von Atlantis! Atlan lächelte bitter, als ihm wieder ein mal bewußt wurde, wie wenig ein Titel be deuten konnte. »Wir werden uns den Magiern widmen«, sagte er. »Wenn sie nur die Hälfte von dem leisten können, was wir uns erhoffen, dann ist schon viel gewonnen. Ich brauche alle In formationen, die es über die Bewohner der Großen Barriere von Oth gibt.« »Gut gesprochen, Lordadmiral«, murmel te Razamon. »Nur – wir sind nicht auf Terra. Es gibt kein Archiv mit der Aufschrift ›Magier‹. Wir werden nichts finden als Sa gen und Vermutungen.« »Warten wir es ab«, empfahl Atlan aus druckslos. Er war fest entschlossen, sich die Fäden des Handelns nicht wieder so leicht aus den Händen nehmen zu lassen. Keine tollkühnen Flüge in ungewisse Abenteuer hinein, kein blindes Vertrauen in jenes Glück, das einen nur zu schnell im Stich ließ. Von jetzt an wollte er den Problemen mit den Mitteln der Vernunft und der Logik zu Leibe rücken. Das galt sogar für die Magier – oder beson ders für sie. Wenn er diesem Land helfen wollte, durfte er sich nicht länger seinen
Marianne Sydow seltsamen Gesetzen und Traditionen unter werfen. Du wirst dich wundern! versprach der Ex trasinn spöttisch. So? Nicht die Bewohner von Pthor haben die se Gesetze geschaffen, sondern die unbe kannten Erbauer dieses Landes. Und gegen die bist du völlig machtlos. Danke, daß du mich daran erinnerst, dachte Atlan sarkastisch. Ich hätte es sonst sicher vergessen.
2. In der Großen Barriere von Oth herrschte trügerischer Friede. Alles ringsumher sch lief. Kein Tier, kein Magier war imstande, sich von der Stelle zu rühren. Wären nicht der Wind und die Wolken gewesen, die zwi schen den Gipfeln der Berge dahertrieben, so hätte man meinen können, die Zeit wäre in diesem Land stehengeblieben. Obwohl die Bewohner der magischen Be zirke nicht mehr imstande waren, ihre per sönlichen Sperren aufrechtzuerhalten, blie ben die normalen Grenzen zum Glück beste hen. Die Magier hätten sonst wohl keine Chance gehabt, diese Tage der Lähmung zu überleben. Denn die meisten lebten schon seit so langer Zeit in eigenen Welten, daß sie an die natürlichen Umweltbedingungen gar nicht mehr gewöhnt waren. So gab es Täler, die von Eis und Schnee starrten, während keine zwei Kilometer weiter tropische Wäl der die steilen Felsen überzogen und im wie derum nächsten Revier trockenes Wüstenkli ma herrschte. Normalerweise störten sich die Magier überhaupt nicht daran, wie heiß oder kalt ih re Nachbarn es liebten, denn die Bewohner von Oth waren zum größten Teil echte Ein siedler. Wenn es sich aber als nötig erwies, den einen oder anderen Mitmagier zu besu chen, so traf man sich besser auf den neutra len Straßen oder an den Rastplätzen entlang dieser Wege. Kein Magier wäre auf die Idee gekommen, einfach schnurstracks geradeaus
Die Verräter von Oth zu marschieren, über die Grenzen hinweg, denn so etwas war lebensgefährlich. Gofruun und Heix wußten das. Trotzdem steckten sie bis zum Hals in Schwierigkei ten. Es hatte damit angefangen, daß im Tal der Schneeblume ein Ableger des VONTHARA erwachte und sein betäubendes Geheul fa brizierte. Die Magier fielen prompt in einen Zustand er Erstarrung. Nur Gofruun und Heix blieben wach, aber vorerst ahnten sie nichts davon, wie ungewöhnlich das war. Sie lebten still und friedlich in ihren Höhlen nahe dem Crallion und gingen dort ihren ge wohnten Beschäftigungen nach. In der Pra xis sah das so aus, daß Gofruun unermüdlich das dort lebende magische Plasma pflegte, wofür das teppichähnliche Gespinst sich mit der Absonderung von wohlschmeckenden Nektarknollen revanchierte. Heix kümmerte sich nicht um das Plasma. Ihn interessierten einzig und allein die Nektarknollen. Er war Meister in der fragwürdigen Kunst, mög lichst viele von den Dingern innerhalb kür zester Frist in sich hineinzustopfen. Gofruun hätte den Dicken längst aus seiner Höhle ge worfen, wäre es ihm nur möglich gewesen, in Abwesenheit des anderen das Plasma zu erzeugen. Außerdem waren beide miteinan der verwandt. Heix war Gofruuns Alteren kel. Keiner der beiden konnte genau sagen, was für eine Art von Verwandtschaft sich hinter dieser Bezeichnung verbarg. Inzwischen wünschten sich beide, sie wä ren in den Höhlen geblieben. Aber als der Boden zu vibrieren begann, daß die Höhlen wände nur so krachten, wurde es ihnen un heimlich, und sie krochen ans Licht. Da sahen sie die Bescherung. Die anderen schliefen tief und fest, kein einziger Magier war fähig, sein Eigentum zu verteidigen – und mit dieser Erkenntnis begann das ganze Übel. Denn Gofruun und Heix trugen ihr Bekenntnis zu Recht und Ordnung besten falls auf den Lippen, gewiß nicht in den Herzen. Ihnen bot sich die Illusion von Ge nuß ohne Reue, und sie griffen zu. Aber was sie auch stahlen, es brachte ihnen nur Un
7 glück ein, und bei einem Beutezug liefen sie zu allem Überfluß dem Budella über den Weg. Das Budella war ebenfalls ein Dieb. Lei der schleppte es nicht bloß magische Utensi lien davon. Es ging vielmehr geradewegs an die Quelle der Macht. Es beraubte einen Ma gier nach dem anderen seiner Kräfte und war somit auf dem besten Wege, sich zu dem mächtigsten Wesen zu entwickeln, das man im Lande Pthor je gekannt hatte. Gofru un und Heix sahen sich zu ihrem Ärger ge zwungen, etwas gegen diesen unverschäm ten Rivalen zu unternehmen, denn das Biest würde auch sie nicht verschonen. Zum Glück gehörte das Budella dem Weltenma gier Copasallior, der auch eine spezielle Waffe gegen seinen gefährlichen Schützling bereithielt. Der Sieg über das Budella erfüll te besonders Gofruun mit gewissem Stolz. Aber er fand wenig Zeit, dieses Gefühl zu genießen. Copasallior, der in einem Versteck des Knotenmagiers Glyndiszorn gegen die Wir kung des VONTHARA gefeit war, gab näm lich dem Bodenmagier und seinem Alteren kel den Auftrag, zur FESTUNG zu reisen und dort nach dem Rechten zu sehen. Die beiden traurigen Gestalten, die sich quer durch die Barriere quälten, wünschten Copasallior lautstark allerlei Plagen an den Hals – der Weltenmagier tat es ihnen in sei nem magischen Versteck gleich, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Während Gofru un und Heix es als glatte Zumutung betrach teten, daß sie sich strapazieren sollten, ver fluchte Copasallior jenen unglückseligen Zufall, der ihn zwang, sich auf zwei derart unzuverlässige Individuen zu stützen. Go fruun stand an der untersten Grenze dessen, was sich überhaupt als Magier bezeichnen durfte. Und Heix … Copasallior zwang seine Gedanken auf andere Wege, streckte sich in seinem un wirklichen Versteck aus und bemühte sich, wenigstens im Schlaf für kurze Zeit seine beiden Diplomaten zu vergessen. Diese hatten eben den Crallion umrundet.
8 Sie waren gezwungen, sich in Copasalliors Revier zu halten, denn dieses grenzte haar scharf an eine der für die Barriere typischen Schluchten. Im Süden, zum Tal der Schnee blume hin, gab es mehrere Wege, die vom Crallion wegführten, und genau nördlich existierte eine uralte Brücke, aber dazwi schen gab es keine einzige Verbindung zwi schen dem mächtigen Berg und der restli chen Barriere. Copasalliors Revier hätte jedem Terraner gefallen, denn bis zum Gipfel hinauf war der Crallion mit dichten Wäldern und blühenden Wiesen bedeckt. Sommerlich warme Winde umspielten den Berg, an dessen Hängen sich – normalerweise – Tiere von vielen fremden Welten tummelten. Für Gofruun und seinen Alterenkel war es nicht warm, sondern heiß, und der leichte Wind saugte ihnen die Feuchtigkeit aus den Poren. Wären sie nicht immer wieder auf Bäche und Seen gestoßen, so hätten sie am Ende doch in den gähnen den Schlund jenseits der Grenze ausweichen müssen – der schnelle Tod eines Sturzes über steile Felsen war dem des langsamen Vertrocknens sicher vorzuziehen. Aber sie erreichten endlich die Brücke und hielten bei ihr an, um sich zu verschnau fen. »Wir haben keine einzige Nektarknolle mitgenommen«, jammerte Heix. »Ich werde verhungern!« »Unsinn!« antwortete Gofruun grob. Vor der Brücke gab es eine mit flachen Steinen bedeckte Fläche, an deren Rändern Sträucher und Bäume wuchsen. Manche wurden von der Last ihrer Früchte fast zu Boden gedrückt. Gofruun riß ohne Umstän de sein Abendbrot von diesen Sträuchern ab und begann zu essen. Heix stöhnte und ächz te und sah den Bodenmagier dabei aus den Augenwinkeln an. Gofruun kümmerte sich nicht darum. Schließlich sah Heix ein, daß er wohl oder übel für sich selbst sorgen mußte. Er watschelte schwerfällig los. »Zum Skatha-Hir mit diesem Copasalli or!« knurrte er dabei vor sich hin. »In die Hölle sollte man ihn schicken. Was für eine
Marianne Sydow Sorte Weltenmagier ist es, die sich nicht selbst um das Schicksal der Magier küm mert? Sitzt in seinem Versteck …« Gofruun schrie entsetzt auf. Heix ver nahm es, aber der Schrei hörte sich an, als wäre Gofruun unterdessen über den Rand der Schlucht gekippt und befände sich auf einem rasenden Fall in die Tiefe. Heix drehte sich schwerfällig um. Gofruun war verschwunden. Ungläubig wälzte sich der dicke, blauhäu tige Mann bis an die Stelle, an der zwischen Gebüsch und niedrigen Felsbrocken eine dü stere Lücke klaffte. »Gofruun?« rief er zaghaft. Nichts. Heix schrak zusammen, als ein Windstoß kalten Nebel durch die Lücke trieb. Er wischte sich über die Stirn. Für einen Au genblick dämmerte ihm, daß etwas nicht stimmte. Wie kam der Nebel über die Gren ze? Sie hatten vorher nichts davon gespürt, daß Copasalliors Sperren durchlässig wur den. In der Tiefe hinter der Lücke polterte ein Stein. Heix preßte seinen wohlgerundeten Bauch gegen die Steine und schluckte krampfhaft, als er in bodenlose Tiefen blick te. »Gofruun! He, bist du da unten?« Der Bodenmagier antwortete nicht. »Er ist tot«, flüsterte Heix schaudernd und robbte rückwärts von der Stätte des Schreckens weg. Als er genug ebenen Bo den zwischen sich und dem Abgrund glaub te, um gegen das Schwindelgefühl gewapp net zu sein, richtete er sich zögernd auf. Sein Blick fiel auf saftige Früchte, und automa tisch riß er einige ab und begann zu kauen. Vielleicht saß bei Heix die Quelle menschli cher Gefühle im Magen – ja satter er wurde, desto stärker machte ihm tiefe Trauer zu schaffen. Das Ende vom Lied war, daß er sich auf die Steinplatten setzte und lauthals losheulte. »Gofruun!« jammerte er mit erstickter Stimme. »Ich will nicht, daß du tot bist! Ich will nach Hause!«
Die Verräter von Oth Pling! machte es, und Heix hielt mitten in einem Schluchzer inne. Fassungslos stierte er geradeaus. Dann richtete er sich vorsich tig auf. Er tastete sich zentimeterweise vorwärts. Dann stießen seine Hände gegen die Wand. Er krallte sich fest. Die weiche Masse unter seinen Fingern leuchtete beruhigend und sonderte süße Düfte ab. Heix leckte sich die Lippen. »Eine Nektarknolle!« sagte er flehend. »Nur eine Nektarknolle …« Und da war sie schon, groß, rund, gold braun – er riß sie ab, kaute auf beiden Ba cken und vergaß vor lauter Begeisterung, sich noch weiter festzuhalten. Aber das machte nichts, denn seine Umgebung war völlig real – er stand in den Höhlen des Bo denmagiers. »Zu Hause«, seufzte er glücklich, ließ sich zu Boden gleiten und sah schläfrig zu, wie die nächste Nektarknolle in bequemer Reichweite aus dem Plasma quoll. Aber irgendwo in seinem Gehirn hielt sich hartnäckig der Gedanke an Gofruun. Heix fragte sich, wie er es geschafft hatte, so einfach in die Höhlen zu gelangen. Es war ein Wunder. Oder nein, da war doch etwas … Der Faltenmagier! Und das Budella! Und seine Entdeckung, daß er mit Hilfe der Rie senblüte magische Kräfte auf sich zu über tragen vermochte, an denen er bei anderer Gelegenheit vermutlich den Verstand hätte verlieren müssen! Oh ja, er hatte auch Gofruun bestohlen. Gofruun, den Copasallior höchstpersönlich für den Kampf gegen das Budella mit zu sätzlichen Energien ausgestattet hatte. Und Copasallior beherrschte die Magie des Transports durch Zeit und Raum. Hatte er sich unbewußt dieser gestohlenen Kräfte bedient? Heix war der Ansicht gewe sen, daß die gestohlene Macht sich ganz von selbst innerhalb kurzer Zeit verlor. Aber jetzt … »Das werden wir gleich haben«, murmelte er und richtete sich schwerfällig auf. Er
9 dachte an den Platz vor der Brücke. Dann überkam ihn heftiger Hunger, und er holte sich die zweite Nektarknolle. Er zögerte. War es nicht besser, wenn er gleich hier blieb? Warum sollte er sich freiwillig in Ge fahr begeben? Für Gofruun konnte er doch nichts tun. Wenn der Bodenmagier dumm genug gewesen war, in die tiefe Schlucht zu stürzen, so ließ sich auch mit allen gestohle nen magischen Kräften zusammen nichts daran ändern. Während er daran dachte, überkam ihn er neut die Traurigkeit. Wie ein hämisches Un geheuer gähnte der Abgrund ihn an, und er wandte sich mit Grausen einer angenehme ren Erinnerung zu: Gofruun, der auf den Steinen saß, dürr und häßlich, mit einem Berg von Früchten vor sich. Armer Gofruun. Ich wollte, ich könnte dir helfen. Wenn ich bei dir wäre … Pling! Heix bekam einen solchen Schrecken, daß ihm der Schluckauf in die Kehle stieg. Er hatte sich ganz sicher geirrt. Das hatte mit Copasalliors Transmitterfähigkeiten überhaupt nichts zu tun. Er hatte Gift ge nommen, vielleicht eine berauschende Frucht gegessen, irgend etwas in der Art. Denn schließlich hatte noch kein lebendes Wesen je gehört, daß Copasallior sich selbst in die Welt der Toten katapultieren konnte. Dort saß Gofruun. Dürr und häßlich und doppelgesichtig wie immer, und vor ihm lag auch ein Haufen Früchte. Allerdings aß der Bodenmagier nicht davon. Er starrte viel mehr entgeistert seinen Alterenkel an. Heix bewegte vorsichtig die rechte Hand und hielt dabei den Atem an. Wenn Gofruun wirklich ein Geist war, so konnte er seinen Alterenkel vielleicht gar nicht sehen, und das bedeutete, daß Heix sich schleunigst aus dem Staube machen durfte, denn niemand konnte im Ernst von ihm verlangen, daß er gegen Geister kämpfte. Gofruun wollte gar nicht kämpfen. »Wo warst du!« fauchte er, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Ich …«, hob Heix stotternd an und ver
10 stummte hilflos, weil er nicht wußte, wie er dem Bodenmagier die Geschichte erklären sollte. Er verstand es ja selbst nicht. Gut, an genommen, er hatte tatsächlich Copasalliors Kräfte benutzt – das erklärte immer noch nicht, was inzwischen mit Gofruun gesche hen war. »Wie bist du da herausgekommen?« frag te er schließlich und deutete mit zitternder Hand auf einen Fleck im Gebüsch. Gofruun runzelte die Stirn. »Herausgekommen?« »Nun«, murmelte Heix verwirrt, »fliegen kannst du nicht, und wenn man da hinunter fällt …« »Ich bin nirgendwo hinuntergefallen!« rief Gofruun aufgebracht. »Aber du hast dir offenbar den Schädel so stark angeschlagen, daß du den Verstand verloren hast!« Er war aufgesprungen und nahe an seinen Alterenkel herangetreten. Er hielt inne und schnüffelte mißtrauisch. »Aha!« sagte er bissig. »Wo hast du das Zeug versteckt? Los, rück sie raus, oder ich prügele dich weich wie Regenseide!« »Was meinst du überhaupt?« fragte Heix kleinlaut. »Die Nektarknollen!« brüllte Gofruun mit voller Lautstärke. Heix ließ sich rückwärts auf den Boden plumpsen. Er blickte dahin, wo vorhin eine Lücke und der Abgrund gewesen waren – es gab einen schmalen Pfad zwischen den Sträuchern, aber dahinter ragten noch etliche Felsblöcke auf, und wer sich über den Rand der Schlucht stürzen wollte, hatte ausgerech net an dieser Stelle allerhand Schwierigkei ten zu bewältigen. Er drehte den Kopf und sah einen anderen Strauch als den, von dem er die Früchte gepflückt hatte. Konnten zwei Orte, die an ganz verschie denen Stellen der Barriere lagen, sich so ähnlich sein? Er erinnerte sich an den Windstoß und den Nebel und stöhnte laut auf. »Skatha-Hir«, flüsterte er. »Ich war am Skatha-Hir!« Gofruun setzte zu einer Antwort an, dann
Marianne Sydow erst begriff er, was Heix eben behauptet hat te. Allein der Name »Skatha-Hir« verschlug ihm die Sprache. Der Zwillingsberg, den die Magier so be zeichneten – sofern sie es überhaupt wagten, den Namen auszusprechen – war der wohl verruchteste Ort in der ganzen Barriere. Seit langer Zeit waren seine Hänge und Höhlen unbewohnt. Selbst die tollkühnsten Magier setzten keinen Fuß über die Grenzen des Skatha-Hir, und auch Parlzassels geflügelte Boten flogen niemals über die beiden Gipfel hinweg. Und jetzt behauptete Heix, am Ska tha-Hir gewesen zu sein? Gofruun taugte nicht viel, als Magier je denfalls, denn seine Kräfte waren gering. Aber er war deswegen noch lange nicht dumm. Auch er hatte geglaubt, daß die ge stohlenen Kräfte seinen Alterenkel bald ver lassen würden. Er kombinierte blitzschnell und kam zu dem Schluß, daß eher das Ge genteil eingetreten war. Er wußte nicht, wor an es lag, und er suchte auch nicht erst nach Gründen. Heix hatte im Zorn den Weltenmagier an die Pforten des Skatha-Hir gewünscht und war gleich darauf selbst an diesem verfluch ten Ort gelandet. Und er roch nach Nektar knollen – hätte Heix wirklich ein paar von diesen leckeren Dingern mitgeschleppt, so wäre er keineswegs fähig gewesen, der Ver suchung so lange standzuhalten. Also hatte er sich zwischendurch sogar in die Plas mahöhlen versetzt. Das hieß, daß Heix durchaus gezielt an weit entfernte Orte ge langen konnte. Und da er lebend den SkathaHir verlassen hatte, mußte auch etwas von fremder Schutzenergie in dem Dicken hän gengeblieben sein. Gofruun sah eine einmalige Chance. Er packte Heix am Arm und starrte den Dicken herausfordernd an. »Du wirst uns sofort in die FESTUNG bringen!« forderte er. »Denke einfach daran – aber paß auf, daß du mich nicht verlierst.« Heix wußte, was der Bodenmagier erwar tete, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung davon, wie sich diese Wünsche in die Praxis
Die Verräter von Oth umsetzen ließen. »Ich weiß nicht, wie die FESTUNG aus sieht«, beklagte sich Heix weinerlich. Gofruun schnaubte verächtlich. Das war typisch für diesen Fettwanst. Nichts wußte er, und wenn man ihm nicht alles genau er klärte, so beging er einen Fehler nach dem anderen. Manchmal fragte sich Gofruun, was wohl aus Heix werden sollte, wenn … Aber er war ja unsterblich. Ein Magier, auch wenn er noch so gering sein mochte, war gegen Alter und Krankheit geschützt. Gofruun hatte auch nicht die Absicht, seinen Hals zu riskieren und sich in Situationen zu begeben, in denen er einen Unfall heraufbe schwor. »Die FESTUNG ist riesengroß«, sagte er fest. Heix blickte ihn mißtrauisch an. Gofruun widerstand der Versuchung, den Dicken an zubrüllen, denn in Wirklichkeit wußte er auch nicht mehr als Heix. Aber er glaubte, mit ein bißchen Logik das Problem lösen zu können. »Sie ist das Größte, was es in Pthor gibt«, fuhr er fort und begeisterte sich plötzlich für die Bilder, die seine Phantasie ihm lieferte. »Hoch und mächtig und voller geheimnis voller Kräfte. Hell und schimmernd wie fri scher Schnee ragt sie fast bis an den Wölb mantel … Hiiilfeee!« Sie stürzten. Wolken quirlten an ihnen vorbei, eisiger Wind ließ den blauen Haar kranz um Gofruuns beide Gesichter flattern. Entsetzt klammerte er sich an Heix fest, oh ne recht zu merken, daß der Alterenkel mit ähnlicher Intensität den hageren Körper des Bodenmagiers umschlang. »Hilfe!« brüllte Gofruun abermals. Nichts geschah. Sie fielen in bodenlose Tiefen. Vergeblich starrte Gofruun die Wol ken an, immer noch vage hoffend, eine da von könnte sich als rettende Insel mitten in der Luft entpuppen. Einmal warf er zufällig einen Blick nach unten. Dort gab es nichts als düsteren Nebel – sie mußten sich wirk lich in schier unglaublicher Höhe befinden, daß sie die Oberfläche von Pthor nicht ein
11 mal sehen konnten. »Tu doch etwas!« kreischte Heix. »Wieso ich?« brüllte Gofruun. »Was hast du Narr angerichtet? Ist das hier etwa die FESTUNG? Wünsche uns zurück!« Heix versuchte es. Aber die. Angst schüt telte ihm die Gedanken aus dem Hirn, so daß die Bilder seiner Erinnerung mit dem Wind und den Wolken davontrieben. »Ich kann nicht!« jammerte er. »Gofruun, nie wieder will ich eine Nektarknolle …« »Still!« kreischte Gofruun in höchster Pa nik, denn wenn Heix in seinen Versprechun gen fortfuhr, konnte das seiner Meinung nach nur neues Unheil heraufbeschwören. Und plötzlich drang etwas aus dem Nebel, ein Geräusch, seltsam und fern. Es kam nä her. So ähnlich hörte es sich an, wenn die Tür zu Hragghs Hütte sich in ihren steiner nen Lagern drehte. Als es noch näher kam, mischte sich ein rhythmisches Pfeifen und Rauschen in dieses Knarren. Und plötzlich schien es, als nannten die Wolken selbst mit knirschender Stimme einen Namen. »Storrrmock. Rrrr.« Ein riesiger weißer Vogel stieß aus dem Nebel hervor. Das Tier entdeckte die beiden Magier und stellte die Schwingen auf. Rau schend schwang es um jene Gestalten her um, die nach seiner Erfahrung hier oben, weit über dem Gipfel des Taambergs, wirk lich nichts zu suchen hatten. »Geh weg!« quietschte Heix in atemlo sem Entsetzen. »Friß uns nicht auf! Wir tun dir auch nichts.« Der Geier umkreiste die Magier und be obachtete interessiert ihren Sturz in die Tie fe. Ab und zu legte er die Flügel an und schoß wie ein Pfeil nach unten – es schien, als wollte er sich keinen Augenblick des sel tenen Schauspiels entgehen lassen. Hilflos, wütend und von Furcht geschüttelt zugleich verfolgten die beiden Wesen aus der Großen Barriere die eleganten Flugmanöver ihres neugierigen Begleiters. »Warum hast du nicht Parlzassels Tierma gie geklaut!« heulte Gofruun laut auf. »Der Vogel ist stark. Er könnte mich nach unten
12 bringen …« Heix hörte nicht mehr hin. Er schloß die Augen. Unvermittelt stieß der Vogel erneut seinen Schrei aus, nach dem man den wei ßen Geiern ihren Namen gegeben hatte. Lag es daran, daß Gofruun den Tiermagier er wähnt hatte? Heix wußte es nicht. Aber in dem rauhen Ruf hörte er plötzlich mehr, als ein einzelnes Wort jemals auszudrücken ver mochte. Er sah vor seinem inneren Auge schnee bedeckte Gipfel und Täler, in denen düstere Wälder wie dunkle Teppiche lagen. Die Hänge und Matten wimmelten von Tieren aller Größen, und dazwischen bewegten sich kleine Gruppen von Menschen, hochge wachsene, hagere Gestalten, ärmlich geklei det, aber von unbeugsamem Stolz erfüllt. Und er entdeckte eine Höhle in einem Berg, in der es eine regelrechte Stadt gab, und auf den Plätzen zwischen den Behausungen lo derten wärmende Feuer. Er sah mehrere sol che weißen Geier, die vor dem Eingang der Höhle im Aufwind spielten, und Kinder, die die Vögel zu immer neuen Kunststücken an spornten. Er sah … Pling! Es war alles da. Dort gähnte das Loch im Felsen, und als Heix sich mißtrauisch um sah, entdeckte er auch die lodernden Feuer. Nur die weißen Geier spielten nicht im Son nenschein, denn den gab es nicht in Pthor, solange das Land sich noch auf seiner Reise befand. Die Vögel hockten auf den triefen den Felsen, hatten mißmutig die Köpfe tief herabgezogen, und ab und zu hackten sie warnend nach Kindern und Erwachsenen, die ihnen zu nahe kamen. »Ergreift sie!« schrie jemand in seltsam altertümlich klingendem Pthora. Ehe Heix und Gofruun es sich versahen, waren sie von hageren Männern umringt. Düstere Blicke nagelten sie regelrecht am Boden fest, glänzende Speerspitzen waren auf ihre Bäuche gerichtet. Die beiden Ma gier wagten es nicht, auch nur tief Luft zu holen. Sie hatten nicht einmal Zeit, sich über die Rettung aus höchster Not zu freuen. Vor-
Marianne Sydow erst waren sie nicht einmal überzeugt, daß dieser Vorgang für sie von Vorteil war. »Wo kommt ihr denn her?« fragte einer der Fremden. »Aus der Ba-ba-barriere von Oth«, stot terte Gofruun. Die Männer lachten. Es hörte sich nicht besonders lustig an. Gofruun begann zu zit tern. »Aha«, machte der Sprecher spöttisch und verbeugte sich, wobei er jedoch Heix ansah – den kaum eineinhalb Meter großen, dürren Gofruun nahm er offenbar nicht für voll. »Dann gehört ihr also zum mächtigen Volk der Magier?« »Wir sind Magier!« betonte Gofruun ge schmeichelt. Vielleicht war alles halb so schlimm. Sicher würden diese Wilden es nicht wagen, sich mit Magiern anzulegen – die Tatsache, daß sie über die Barriere von Oth Bescheid wußten, wirkte ermutigend. »Wir sind auf der Durchreise. Wir werden unseren Weg fortsetzen und euch nicht län ger belästigen.« »He!« sagte der Anführer der Hohläugi gen und stieß Gofruun mit der Speerspitze an. »Nicht so eilig, werter Magier. Wir ha ben nicht oft so hohen Besuch in unserer Stadt. Ihr werdet ein wenig bleiben müs sen.« Gofruuns Zuversicht schwand. »Warum?« fragte er trotzdem mit dem Mut der Verzweiflung. »Warum nicht?« versetzte der andere dreist. »Nimm einmal an, wir brauchten eure Hilfe.« »Wir Magier lassen uns nicht dazu zwin gen, unsere Kräfte für jeden Sterblichen zu entfalten«, mischte Heix sich mit überra schender Arroganz ein. »Laßt uns gehen, sonst könnte es geschehen, daß wir euch un seren Fluch zum Abschied hinterlassen.« »Das wäre fatal«, stimmte der Hagere ihm zu und lächelte spöttisch. »Eure Flüche müs sen entsetzliche Kraft besitzen. Am Ende bringen sie den ganzen Taamberg zum Ein sturz?« Gofruun fragte sich, ob die Schrecken der
Die Verräter von Oth letzten Minuten seinem Verstand geschadet hatten. Der Taamberg! Er hatte Gerüchte ge hört, über die letzten echten Berserker, die in einer verborgenen Stadt lebten, und jetzt wüßte er auch, was ihn an diesen hageren Männern störte: Nur Berserker konnten sol che Augen haben. Er wollte sich dazu aufraffen, diesen Ver femten zu versichern, daß er und Heix das Geheimnis ihrer Stadt wahren würden, aber dazu ließen ihm die Berserker keine Zeit. Die Unterhaltung hatte wohl nach ihrem Ge schmack lange genug gedauert. Der Ring der Speerspitzen öffnete sich. Heix quietsch te erschrocken, als die Männer ihn von hin ten mit ihren Waffen stupsten. So schnell ihn seine kurzen Beine tragen wollten, stol perte er zwischen den grinsenden Berserkern hindurch, und Gofruun beeilte sich, seinem Alterenkel zu folgen. Augenblicke später rutschten sie über einen glatten Stein in eine runde Höhle. Über ihnen schloß sich dumpf krachend eine Art Deckel – ihr Gefängnis erinnerte Gofru un schon wieder an den alten Hraggh. Der Steinmagier wurde mitunter von heftigen Gliederschmerzen geplagt, und nur die zer quetschten Leiber einer winzigen Käferart halfen dagegen. Hraggh fing die Tiere in tö nernen Flaschen, die er bis zum Hals im Bo den vergrub. Gofruun und Heix waren auf dem Grunde ihres Gefängnisses genauso hilflos wie die Käfer in Hragghs Fanggefä ßen. »Was werden sie mit uns machen?« über legte Gofruun, nachdem er sich vergewissert hatte, daß es keine geheimen Ausgänge in den steinernen Wänden gab. Heix antwortete nicht. Er hockte breit und schwerfällig auf dem Boden. Von oben drangen durch ein paar Ritzen zwischen Deckel und Wand schwache Lichtstrahlen herein. Sonst war es stockfinster. Gofruun blickte nach oben und fand seuf zend, daß es sinnlose Kraftverschwendung bedeutete, wenn sie versuchten, den Deckel zu erreichen. Keine der Ritzen war breit ge nug, um auch nur eine Hand hindurchzu
13 stecken. Und der Deckel – das erkannte er mit Hilfe des »guten« Gesichts auf seinem Hinterkopf – bestand aus hartem Fels. Sie hätten ihn vielleicht hochstemmen können, wäre da eine Gelegenheit gewesen, festen Stand an der richtigen Stelle zu finden. Au ßerdem warteten da oben die Berserker. Go fruun erkannte – wiederum mit Hilfe des »guten« Gesichts – daß drei von ihnen Stel lung um den Deckel herum bezogen hatten. Er wandte sich den Wänden zu. Auch wenn es keine Türen darin gab, mochte ein Hohlraum jenseits der scheinbar festen Wand liegen. Wenn er dann eine Ader von weicherem Gestein fand, ließ sich vielleicht etwas ausrichten. Aber auch diese Hoffnung erwies sich als unerfüllbar. Nur massiver Fels, der von er staunlich gleichmäßiger Beschaffenheit war, umschloß das Gefängnis. In einiger Entfer nung spürte Gofruun den freien Raum, weil dort die Schlucht begann, aber das nutzte ihm auch nichts. »Irgend etwas stimmt nicht«, murmelte er und gab Heix einen Stoß, damit dieser zur Seite rückte und ihm genug Platz ließ, sich auf dem halbwegs ebenen Grund des Raumes niederzusetzen. »Ich dachte, ganz Pthor würde schlafen.« Heix antwortete immer noch nicht. »Wir wissen, es ist der VONTHARA, der im Tal der Schneeblume erwachte«, überlegte Go fruun weiter. »Was sagte Copasallior noch gleich über den Wächter? Verflixt, ich erin nere mich kaum noch daran. Ist unser VONTHARA eine Ausnahme?« »Wenn ein VONTHARA zu singen be ginnt«, sagte Heix mit merkwürdig vibrie render Stimme, »so singen sie alle, und das Land mit allem, was darin lebt, versinkt in endlosem Schlaf.« Und nüchtern fügte er hinzu: »Wenn der VONTHARA in der Bar riere eine Ausnahme wäre, hätten wir Scha ren von Plünderern in den magischen Bezir ken getroffen.« Gofruun verzog das Gesicht. Manchmal war sein Alterenkel ihm unheimlich. Ab und zu schien es, als verfüge Heix über seltsame
14 Fähigkeiten. »Trotzdem sind diese Berserker wach«, brummte er. »Warum nicht? Der Geier war es ja auch.« Der Geier! Natürlich, wenn durch irgend einen Zufall der Taamberg nicht dem läh menden Einfluß der VONTHARA-Anlagen ausgesetzt sein sollte, so konnte sich das nur auf eine geringe Fläche beziehen. Der weiße Geier jedoch kam weit herum und hätte als bald in den unheilvollen Bann geraten müs sen. »Wir müssen von hier weg«, entschied Gofruun, der allmählich zu dem Schluß kam, daß dieses Rätsel zu schwierig für ihn war. Wenn sie sich draußen umsehen konn ten, würden sie die Lösung schon finden. Heix deutete mit einer mutlosen Geste auf den steinernen Deckel. »Der ist zu schwer für uns«, stellte er fest. Gofruun nickte unglücklich. Verzweifelt zerbrach er sich den Kopf, bis von oben Stimmen herabklangen. Entsetzt lauschten der Bodenmagier und sein Alterenkel. Die Berserker beratschlagten ungeniert darüber, welchen von den beiden Gefangenen sie zu erst schlachten und an die Kochfrauen ablie fern sollten. Es gab zwei Parteien. Die eine Gruppe wollte zuerst Gofruun in den Koch topf stecken und Heix für später aufbewah ren – sie meinten, der Dicke würde es bei seiner Leibesfülle eine ganze Weile ohne Nahrung aushalten und dann immer noch einen guten Braten abgeben. Die andere Par tei plädierte für die entgegengesetzte Lö sung. Ihr Hauptargument bezog sich darauf, daß man selten eine so fette Beute wie Heix vor die Speere bekäme. Beide Gruppen fanden ungefähr gleich viel Anhänger, und über den Köpfen der po tentiellen Opfer der hungrigen Berserker entbrannte ein regelrechter Streit um die Speisefolge der nächsten Tage. »Zur …«, hob Heix endlich wimmernd an, und Gofruun brachte ihn mit einem schmerzhaften Rippenstoß zum Schweigen. »Denke dir einen anderen Fluch aus!« flü-
Marianne Sydow sterte er flehend und schlang seine dürren Arme um den Alterenkel. »Verwünsche sie von mir aus in die Tiefen der FESTUNG!« Das hätte er nicht sagen sollen. Es machte ›Pling!‹, und sie befanden sich in einem ähnlich düsteren Raum wieder. Die Stimmen der Berserker waren verschwun den, aber Gofruun war nicht einmal fähig, mit Schadenfreude an die dummen Gesich ter der Verfemten zu denken, die diese beim Blick in die leere Speisekammer machen mußten. Denn direkt vor ihren Augen schau kelte ein bleiches Pflanzengewirr auf und ab und ließ dabei klirrend und klappernd zahl reiche sauber von Fleisch befreite Knochen fallen. Die Pflanze hatte es nicht sonderlich eilig. Der Raum, in dem Heix und Gofruun standen, war eine perfekte Falle. Hinter ih nen gab es eine Wand aus Metall, und in al len anderen Richtungen befand sich der blei che Gegner. Es war nur eine Frage von Minuten, wann sich die Pflanze von den unverdaulichen Re sten früherer Mahlzeiten getrennt und somit Platz für diese neue Beute geschaffen hatte.
3. Der VONTHARA im Tal der Schneeblu me verhielt sich ganz normal. Niemand, nicht einmal die Herren der FESTUNG selbst, hatten damit gerechnet, daß jemand es wagen könnte, an dem Wächter herumzu basteln. Als die Magier »ihren« VONTHA RA entdeckten, waren sie auch prompt so entsetzt über die möglichen Folgen ihres Forschungseifers, daß sie selbst das Wissen um die bloße Existenz des Wächters in fast allen Gehirnen rundherum löschten. Ein knappes Dutzend Magier blieb informiert. Später ereilte den einen oder anderen das Schicksal in Form von Unfällen oder magi schen Missetaten, die die Verbannung von Pthor nach sich zogen. Von denen, die noch in der Barriere lebten, waren es – außer Go fruun und Heix, die Copasallior notgedrun gen eingeweiht hatte – nur noch vier, die die Geschichte des VONTHARA kannten.
Die Verräter von Oth Diese vier waren: Copasallior, Weltenma gier und anerkanntes Oberhaupt der Bewoh ner von Oth; die Liebesmagierin Jarsynthia, die gerade eine schreckliche Niederlage er litten hatte, weil sie versuchte, Copasallior zu entmachten; der Lebensmagier Wortz, Jarsynthias mächtigster Verbündeter und zu gleich überzeugter Vertreter der negativen Magie; und Koratzo, der Rebell, der eine für die meisten Magier ziemlich undurchsichti ge Rolle in der Großen Barriere spielte. Copasallior saß in Glyndiszorns magi scher Nische fest. Der Knotenmagier mußte bei seinen Versuchen, die Zukunft zu erkun den, Verdacht geschöpft haben, denn warum sonst hätte er sich die Mühe gemacht, für Copasallior eine solche Nische zu schaffen? Copasallior, der Glyndiszorn gut kannte und wußte, daß der Knotenmagier keine halben Sachen machte, vermutete sogar, daß diese Nische in Wirklichkeit als Fluchttunnel zur Welt jenseits des Wölbmantels gedacht war. Leider war Pthor inzwischen gestartet, und es gab keine Verbindung mehr zum Planeten der Brangeln. Jedenfalls war Copasallior nach Gofruun und Heix der erste Magier, der aus der Lähmung erwachte. Das nützte ihm jedoch nichts, denn er durfte die Nische erst dann verlassen, wenn der VONTHARA zu arbeiten aufhörte. Und von seinem Ver steck aus hatte Copasallior nicht den gering sten Einfluß auf das, was jenseits der nebel haften Wände geschah. Koratzo, der Rebell, war noch schlechter dran, denn ihn schützte nichts und niemand vor der Lähmung. Dasselbe galt für Jarsyn thia und Wortz und alle anderen Bewohner des magischen Gebirges – wenigstens für die erste Zeit. Dann aber zeigte sich, daß ei nige Magier selbst durch den VONTHARA nicht auf die Dauer lahmzulegen waren. Sie kamen langsam aber sicher zu sich und stell ten – jeder für sich, aber mit völlig überein stimmendem Ergebnis – fest, daß sie sich in einer ganz eigenartigen Situation befanden. Worauf die unterschiedlichen Reaktionen auf den VONTHARA letztlich zurückzufüh ren waren, konnten jedoch nur Jarsynthia
15 und Wortz erraten. Der VONTHARA stand im Dienst der Schwarzen Galaxis. Und dort herrschten bö se Kräfte. Es gibt aber auch kaum etwas Be drohlicheres für Lebewesen aller Art, als ei ne Horde von negativ eingestellten Magiern. Es gab auf Pthor gewiß genug andere Bö sewichter. Aber diese konnten dem VONTHARA keine einzige Sekunde frühe ren Erwachens abtrotzen. Ein schlechter Charakter reichte an die Ausstrahlung der echten Magier noch lange nicht heran. Gewißheit gab es zu diesem Punkt auch später nicht. Aber es war die einzige Erklä rung, die der Liebesmagierin einfiel – und zugleich die einzige, die sie akzeptieren wollte. Denn wenn es stimmte, daß der VONTHARA Magier mit negativ getönter Aura vorzeitig aus seinem Bann entließ, dann bedeutete dies die Bestätigung dessen, wofür Jarsynthia mit allen Mitteln zu kämp fen bereit war: daß nämlich der Rebell Ko ratzo mit seinem Geschwätz über positive Magie radikal an der Wirklichkeit vorbeire dete. Zunächst hatte Jarsynthia nur vage Ver mutungen. Sie erwachte im Tal der Nebel, aus dem sie sich durch Copasalliors Bann nicht hatte entfernen können, obwohl die LORKI ihren Glanz verloren hatte und die Nebelwände nicht mehr von neugierigen Blicken zu schützen vermochten. Jarsynthia erwachte schnell und leicht, und auf den er sten Blick sah sie die ganze Misere, und die ohnmächtige Wut der vergangenen Tage stieg in ihr auf. Aber waren es wirklich Ta ge? Wie lange hatte sie bewußtlos hier gele gen? Sie schickte zögernd ihre, magischen Füh ler nach draußen. Verwundert fand sie über all schlafende Magier. Da begriff sie immer hin, daß sie für den Augenblick frei war. Kaum daß diese Erkenntnis in ihr Be wußtsein gedrungen war, schwang sie sich auch schon in der Gestalt eines Sturmvogels in die Lüfte und raste über die Berge hinweg nach Westen. Sie sah, daß Pthor sich wieder einmal in einem Dimensionskorridor befand,
16 aber das erschien ihr im Augenblick als ne bensächlich. Interessanter war das, was sich in den Tälern der Barriere abspielte. Denn dort erwachten immer mehr Magier aus der Erstarrung. Und alle, die sich taumelnd er hoben, zählten zu Jarsynthias Verbündeten! Die Liebesmagierin warf sich herum und jagte quer durch die düsteren Wolken zu rück, bis zum Hang der Töpferschnecke. Wortz schien sie zu erwarten. Mit glühenden Augen sah er ihr entgegen, als sie in der Gestalt des Sturmvogels wie ein Stein aus den Wolken stürzte, sich mit rauschenden Schwingen knapp über dem Boden abfing, direkt vor dem Lebensmagier landete und blitzschnell zu einer betörend schönen Frau wurde. »Es ist Zeit, daß wir uns für die Schmach rächen!« rief sie dem Lebensmagier zu. »Diesmal werden wir siegen!« Wortz nickte nur und gab den Weg in die Höhlen frei. Jarsynthia eilte an ihm vorbei. Sie platzte fast vor Tatkraft. »Daran haben Copasallior und Koratzo und all die anderen Narren natürlich nicht gedacht«, sagte sie triumphierend. »Die Schwarze Galaxis selbst hat sich auf unsere Seite gestellt. Wir durften früher als die Re bellen erwachen. Nur so können wir sie end lich in ihre Schranken verweisen.« »Wenn dies ein Werk der Schwarzen Ga laxis ist«, murmelte Wortz mit seiner unan genehm knirschenden Stimme, »so liegt den dort herrschenden Mächten das Wohl aller anderen Pthorer noch mehr am Herzen.« »Was meinst du damit?« »Nun«, erklärte Wortz bedächtig und wies auf eine Gruppe von Spionkristallen, »sie al le sind noch vor uns erwacht.« »Wer?« fragte Jarsynthia ungeduldig. »An welchen Orten hast du nachgesehen?« »An allen, zu denen ich noch Verbindung habe«, erwiderte Wortz trocken. »Für wie wichtig hältst du die Guurpel? Oder die Stämme des Blutdschungels?« »Sie sind schon erwacht?« »Sie und alle anderen. Wir kamen zuletzt an die Reihe.«
Marianne Sydow »Du vergißt jene Narren um Copasallior, die auch jetzt noch schlafen.« Wortz zuckte nur mit den schmalen Schultern. Jarsynthia dachte angestrengt nach und kam zu dem Schluß, daß es besser sei, sich um die diversen Völker von Pthor keine Ge danken zu machen. »Wirst du den Kampf aufnehmen?« fragte sie Wortz herausfordernd. »Oder hast du die Absicht, hier in deinen Höhlen zu warten, bis Copasallior seine lächerlichen Machtan sprüche geltend macht.« Wortz aktivierte eine Reihe von Kristallen und stellte fest, daß Copasallior sich nicht in seinen Höhlen am Crallion befand. Wo steckte der Weltenmagier? Er fragte Jarsyn thia. Sie lachte höhnisch und deutete auf die erlöschenden Kristalle. »Damit findest du ihn nie«, versicherte sie. »Glyndiszorn hat ihm ein Versteck hin terlassen. Er kann uns nicht entkommen. Er wagt es nicht, in die Wirklichkeit zurückzu kehren, solange er keinen Beweis dafür hat, daß der VONTHARA ihm nichts mehr an haben kann.« »Das erstbeste Tier, das in die Höhlen läuft, wird ihm die Wahrheit vor Augen füh ren.« »Wir holen ihn uns«, entschied Jarsyn thia. »Jetzt, sofort, als ersten von einer lan gen Reihe von Gefangenen.« Wortz schwieg. Mit Unbehagen dachte er an Copasalliors Macht. Seine Sperren konn ten einen unvorsichtigen Angreifer in Stücke reißen. Und auch wenn sie gemeinsam noch stärker waren als Copasallior – wie sollten sie ihn festhalten? Sie konnten nicht ständig bei ihm bleiben und aufpassen. Sobald sie ihm aber den Rücken kehrten, vermochte er sich im Bruchteil einer Sekunde an einen anderen Ort zu versetzen. Und ein zweitesmal ließ er seine Gegner sicher nicht nahe genug heran kommen, daß sie Hand an ihn legen konn ten. Jarsynthia, die die Gedanken des Lebens magiers verfolgte, lachte laut auf.
Die Verräter von Oth »Du vergißt das Verlies«, sagte sie see lenruhig. Wortz, der sicher nicht gerade feinfühlig war, bekam eine Gänsehaut. Sie konnte nur einen Ort meinen: den Skatha-Hir. Nur in den Höhlen der Verbannung war auch Copa sallior neutralisiert. Wer in die Felsenkam mern trat, dessen magische Fähigkeiten zählten nicht mehr. Es war das perfekteste Gefängnis, daß je ein Magier ersonnen hatte – und darum mied man seit langer Zeit den Zwillingsberg. Wer wußte in der Großen Barriere eigentlich noch, was dort geschehen war? Selbst Wortz hatte sich stets bemüht, jede Erinnerung an Kir Ban zu verdrängen. Kir Ban, der große Magier, dessen Kräfte unerschöpflich schienen, der fast die Macht in der Barriere übernommen hatte, damals, noch vor den Kämpfen um Rang und Na men. Bis man dem Geheimnis seiner stetig wachsenden Kraft auf die Schliche gekom men war. »Er war ein gefährlicher Narr, sonst nichts«, sagte Jarsynthia verächtlich. »Er holte unzählige Opfer zu sich«, mur melte Wortz, ohne sie anzusehen. »Es waren auch Magier darunter. Er raubte ihre Kräfte, ihre Fähigkeiten. Er konnte sie nicht einfach wegschicken, wenn er mit ihnen fertig war. Darum bestahl er sogar Glyndiszorn und er richtete den Verbannungsstrahl. Wir fanden noch ein paar von den armen Teufeln in den Höhlen. Sie waren nur noch leere Hüllen, vollständig ausgebrannt.« »Ich weiß«, wehrte Jarsynthia ungeduldig ab. »Wozu erzählst du mir das alles? Ich war schließlich auch dabei.« »Um die Spuren zu verwischen, schickte er seine Opfer auf alle möglichen Welten«, fuhr der Lebensmagier fort. »Und dadurch erfuhren sogar die Herren der FESTUNG von Kir Bans Verbrechen. Denn diese leer gesaugten Kreaturen vernichteten ganze Völkerscharen, indem sie versuchten, ihren Hunger nach eigener Seele und eigenem Geist zu stillen. Die Herren haben Kir Ban furchtbar genug bestraft.« Er sah Jarsynthia an. »Wir alle haben uns verpflichtet, den
17 Skatha-Hir für alle Zeiten zu bewachen, da mit niemals mehr ein lebendes Wesen in den Verbannungsstrahl gerät. Niemand konnte diese unheilvolle Verbindung auflösen. Es hätte leicht zur Vernichtung dieser Berge führen können. Wenn jemand erfährt …« »Niemand außer den Herren wußte et was«, unterbrach Jarsynthia den Lebensma gier. Ihre Augen funkelten drohend. »Das Geheimnis des Skatha-Hir ist längst in Ver gessenheit geraten. Wer soll uns also bestra fen?« Wortz schwieg. Er dachte darüber nach, ob er Jarsynthia gewähren lassen sollte. Er kannte die Motive, von denen die Lie besmagierin sich treiben ließ. Da gab es ein paar dunkle Punkte in der Vergangenheit. Jarsynthia lebte von ihrem Haß. Jahrtausen de hatten nicht gereicht, um sie die ver meintliche oder wirkliche Schmach verges sen zu lassen. Wer außer Wortz kannte ei gentlich noch den Grund für Jarsynthias un ermüdliches Streben nach Rache? Aber das war nur ein Aspekt. Wortz machte sich Sorgen. Nicht um Jarsynthia, auch nicht um die Magier, die ihrem Haß zum Opfer fallen würden. Er empfand nichts für diese Konkurrenten. Wortz wurde nicht von Haß und Rachsucht beherrscht. Er woll te die Macht um ihrer selbst willen. Und er fürchtete, daß Jarsynthia in ihrem Eifer das große Ziel gefährden könnte. »Ich habe nichts dagegen, daß wir den Skatha-Hir benutzen«, sagte er gedehnt. »Aber wir sollten auch die Gefahren nicht übersehen, die sich daraus ergeben.« »Gefahren!« stieß Jarsynthia höhnisch hervor. »Ich war dort, noch vor kurzem. Es ist alles nur dummes Gerede. Der Verban nungsstrahl existiert, und die Verliese sind so sicher wie zu Kir Bans Zeiten. Aber es gibt keinen Fluch, der über den Zwillings bergen liegt. Das alles ist längst versickert und verflogen. Ich habe Spuren gefunden. Wußtest du, daß Kir Ban sogar antimagische Mittel einsetzte, um sich abzusichern? Diese Fallen haben länger gearbeitet als alle magi schen Sperren, die es zwischen ihnen gab.
18 Aber inzwischen hat die Zeit auch die Anti magie besiegt. Der Weg ist frei, Wortz! Wenn wir die Gelegenheit nicht nutzen …« Sie brach ab und starrte den Lebensma gier ratlos an. Was soll ich tun, wenn er jetzt eigene We ge geht? dachte sie verwirrt. Alleine bekom me ich Copasallior nicht in diese Höhlen. Und wenn die anderen erfahren, daß Wortz mich nicht länger unterstützt, werden sie vorsichtig handeln. Soll ich mir alles durch diesen Narr verderben lassen? Wortz hielt den Blicken der Liebesmagie rin mühelos stand. Er sah so klein und hilf los aus, ein dürres, uraltes Männlein, aber. Jarsynthia erfaßte in diesen Sekunden viel leicht zum erstenmal, worauf sie sich einge lassen hatte, als sie Wortz zu ihrem Verbün deten wählte. Wenn sie unachtsam war und ihre Sperren vernachlässigte … »Keine Bange«, sagte Wortz spöttisch. »Was hätte ich davon, dir Jugend und Schönheit zu nehmen? Jarsynthia, ich will, daß du eines begreifst! Mir geht es nicht um die Barriere von Oth. Ich will alles. Wenn ich weniger bekomme, lasse ich lieber gleich die Finger davon. Und du wirst dich entscheiden, ob du diesen Weg mit mir bis ans Ende gehen willst. Überlege es dir gut. Ich überlasse dir das Feld, bis wir hier in der Barriere Klarheit geschaffen haben. Aber du mußt auf meine Warnungen hören, auch wenn dir deine Rache manchmal wichtiger sein mag. Über das, was danach kommt, werden wir uns leicht einigen. Das Problem liegt hier, und das weißt du ganz genau.« Jarsynthias spöttische Gelassenheit, die sie nach außen hin zur Schau getragen hatte, zerbrach für kurze Zeit. »Wie meinst du das?« fragte sie heiser. »Ich werde nicht zulassen, daß du die wirkliche Macht aufs Spiel setzt«, erklärte Wortz nüchtern, »nur um dich an drei Magi ern zu rächen.« Sie hätte damit rechnen müssen, daß Wortz die Geschichte kannte. Trotzdem ver schlug es ihr den Atem. Sie senkte den
Marianne Sydow Kopf, um zu verbergen, welche Wut in ihr aufstieg. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Für wie dumm hältst du mich?« fragte sie. »Sie werden für alles büßen – aber ich werde ihnen keine Sonderbehandlung zu kommen lassen. Und darum geht es doch wohl, oder?« Wortz betrachtete sie. Er nickte. »Dann laß uns beginnen«, murmelte er.
* Es war sehr still am Skatha-Hir. Wortz sah von dem Felsen, auf dem er angekom men war, in die Tiefe. Dort lagen die tiefen Schluchten mit ihren schwarzen Nebeln. Ge nau im Norden erhoben sich die sieben Gip fel der Tronx-Kette. Man konnte diese Ber ge in der trüben Dämmerung nicht sehen. Aber allein der Gedanke an sie und ihre Be wohner bereitete dem Lebensmagier grim mige Freude. »Diesmal werdet ihr mir nicht entkom men!« flüsterte er siegessicher. Er sah sich nach Jarsynthia um. Sie er schien etwas tiefer und winkte ihm ungedul dig zu. Ein Schritt durch das Nichts brachte den Lebensmagier an ihre Seite. Sie deutete auf verwitterte Stufen, die unter Moos und dürrem Gras kaum noch zu erkennen waren. »Das ist der Weg zu den Höhlen hinauf«, erklärte sie. Wortz registrierte mit stiller Schadenfreu de, daß sie sehr leise sprach. Also fühlte sie sich doch nicht so sicher. Die Angst vor Kir Bans Fluch saß tief. Er folgte dem uralten Pfad mit den Augen und suchte nach einem Anhaltspunkt. Jar synthia ergriff seine Hand, und im nächsten Moment standen sie vor einer düsteren Grot te. Wortz fröstelte in seinem dünnen Ge wand, aber das lag nicht am Wind, der kalt über den Sattel zwischen den Zwillingsgip feln pfiff. Dies war also der Platz, an dem Kir Ban die Gesetze der Magie so tief verletzt hatte, daß die Bewohner der Großen Barriere von
Die Verräter von Oth Oth ihn gebunden den Herren der FE STUNG überstellten. Wortz war nicht so kleinlich, daß er Kir Ban nicht zumindest teilweise verstehen konnte. Es gab auch jetzt Magier, die sich an fremdem Leben vergriffen. Aber Kir Ban hatte es zu weit getrieben. Vor allem: Er hat te seine Opfer überall auf Pthor gesucht und so viele Spuren hinterlassen, daß ein Blinder ihn hätte finden können. Die Magier hatten sich mit vielen, zum Teil überaus strengen Gesetzen beladen, von denen Wortz neun Zehntel für überflüssig hielt. Aber wenn ei ner aus der Gemeinschaft der Magier aus ei gensüchtigen Gründen die Existenz aller aufs Spiel setzte, dann kannte Wortz für die sen einen keine Gnade. Und während er das dachte, hoffte er, daß der Streich, den Jarsynthia und er planten, hundertprozentig gelingen möge. Ein einzi ger Fehler konnte sie genau an jenen Punkt bringen, der dem mächtigen Kir Ban zum Verhängnis geworden war. Er riß sich zusammen und ging weiter. Die Grotte begann einen halben Meter über dem Wasserspiegel eines unermeßlich tiefen Sees. Legenden sprachen davon, daß der Grund des Gewässers auf der Unterseite von Pthor lag. Niemand hatte das je nachge prüft. Aus diesem stillen Wasser stieg eine Felswand empor, die einen breiten Steg bil dete. Unter dem Felsband gluckste das Was ser in vielen Höhlungen. Nach etwa hundert Metern traf der Steg senkrecht auf die Wand mit dem gewölbten Eingang zur Grotte. Sie traten nebeneinander in diesen feuch ten Raum. Der Boden war spiegelblank, wie poliert. Kein Staubkorn lag darauf. Schon nach wenigen Schritten wurde es heller. In der Decke über ihnen gab es meh rere Öffnungen, die von Kristallen ver schlossen waren. Mächtige Linsen und Pris men sammelten das Licht über dem Gipfel und leiteten es in die Tiefe. Wenn draußen die Sonne schien, mußte es hier drin unvor stellbar hell sein. Jetzt reichte das spärliche Licht gerade aus, um die beiden Magier er kennen zu lassen, da die Grotte völlig leer
19 war. Alles, was von den Geräten und magi schen Utensilien Kir Bans hier zurückgelas sen worden war, hatte sich längst aufgelöst. Von ihnen war nicht einmal Staub übrigge blieben. Der einzige Einrichtungsgegenstand war ein steinerner Thron, der direkt unter ei nem Lichtschacht aus dem Boden hervor wuchs. Das dämmerige Licht hüllte den Thron in blasse Helligkeit. Das pechschwar ze Gestein mußte unvorstellbar hart sein. Die von Kir Ban zur Arbeit gepreßten Stein bildner hatten ein wahres Kunstwerk ge schaffen, und es hatte sich bis auf diesen Tag vollständig erhalten. »Dein Platz?« fragte Jarsynthia spöttisch und wies auf den Thron. Wortz wandte sich schweigend ab. Kir Ban war ein Hüne gewesen – der Lebensma gier hätte nur lächerlich ausgesehen auf die sem Thron. Im Hintergrund der Grotte lagen die Höh len der Verbannung. Es waren düstere Räu me, die ein regelrechtes Labyrinth bildeten. Die Gefangenen hatten sich dort drin frei be wegen können. Kir Ban ging damit kein Ri siko ein. In den Wänden saßen unter dicken Steinblenden Kugeln aus einem Material, dessen Geheimnis wohl nicht einmal Kir Ban selbst restlos gelöst hatte. Die Kugeln neutralisierten alle bekannten magischen Fä higkeiten. Sobald die Gitter vor den drei Haupteingängen sich schlossen, gab es – wenigstens für die Magier von Oth – kein Entrinnen mehr aus diesen Felsenkammern. Und normale Sterbliche hatten erst recht kei ne Chance, die Mauern zu durchstoßen oder die Gitter zu zerbrechen. »Unheimlich«, murmelte Wortz und sah sich mißtrauisch im Vorraum des mittleren Eingangs um. Da waren die Löcher in den Wänden, der Decke und im Boden, aus de nen sich blitzschnell die Gitterstäbe hervor schieben mußten, sobald man den uralten Mechanismus berührte. Der Lebensmagier legte probehalber die rechte Hand auf den betreffenden Stein – hastig zog er sich zu rück, als schimmernde Metallspitzen vor ihm aus dem Boden schossen. Er hörte leises
20 Lachen und fuhr herum. Jarsynthia starrte ihren Verbündeten belustigt an. »Glaubst du mir jetzt?« fragte sie heraus fordernd. »Ich sagte dir, daß es den Fluch des Kir Ban nicht mehr gibt!« Wortz nickte und kehrte in die Grotte zu rück. »Willst du dich nicht auch drinnen umse hen?« erkundigte sich die Liebesmagierin. »Es könnte sich ein Hinterausgang gebildet haben.« »Ich denke, du wirst das genau untersucht haben«, wehrte Wortz ab. »Wir sollten uns besser beeilen. Die Tiere werden munter – Copasallior darf Glyndiszorns Versteck nicht verlassen, bevor wir am Crallion ein treffen.« Jarsynthia schwieg. Sie fragte sich, ob Wortz ihr mißtraute. Sie hätte es nicht ge wagt, ihn in diese Höhlen zu sperren, denn erstens konnte sie es sich nicht leisten, ihn auf die Seite ihrer Gegner zu treiben – die Zahl derer, die nach der Schlacht im Tal der Nebel noch offen die Partei der Liebesma gierin ergriffen, war nicht gerade imponie rend hoch. Zweitens brauchte sie Wortz, um wenigstens Copasallior zu überwältigen. Die anderen Magier aus dem gegnerischen Lager hoffte sie noch im Schlaf zu überraschen. Jeder ging auf seine Weise zum Crallion. Wortz gab für einen winzigen Zeitraum sei ne materielle Existenz auf und verwandelte sich in einen konzentrierten Ball aus Le bensenergie. In dieser Form vermochte er sich in jede gewünschte Richtung zu bewe gen, indem er belebte Materie als tragendes Medium benutzte. Jarsynthia dagegen sandte einen magischen Fühler zum Crallion, ver ankerte ihn auf dem Plateau vor Copasalliors Wohnhöhlen und zog den Rest dessen, was ihre Existenz ausmachte zum Ankerpunkt hinüber. Beide erreichten das Plateau fast ohne Zeitverlust. Sie richteten sich auf, lauschten aufmerksam in sich hinein und sa hen sich triumphierend an. Copasallior war in die normale Welt noch nicht zurückgekehrt. Seine Sperren waren kaum spürbar.
Marianne Sydow Sie schritten nebeneinander über das Pla teau. Mühelos gelang es ihnen, bis in Copa salliors privates Reich vorzudringen. Der Weltenmagier sah sie kommen. Aber er war durch den langen Aufenthalt im Innern der Nische bereits leicht geschwächt. Ehe er die Bedeutung dieses Besuches erkannte, hatte Jarsynthia bereits einen ihrer Fühler ausge sandt. Copasalliors Abwehrschlag kam zu spät. Sie zerrten ihn aus dem Versteck. Copa sallior, der mittlerweile erkannte, daß er im Augenblick nichts unternehmen konnte, ver hielt sich passiv. Er reagierte auch nicht auf Jarsynthias höhnische Bemerkungen. Nach dem ersten Schrecken hatte er nur noch einen Gedanken: Er würde diesen beiden Magiern nicht den Gefallen tun, seine Be troffenheit auch nur in Form eines Protests zu zeigen. So ließ er sich schweigend nach draußen bringen. Jarsynthia und Wortz hatten alle sonstigen Aktivitäten zugunsten der magi schen Fesseln eingestellt, mit der sie Copa sallior daran hinderten, sich auf seine spezi elle Weise durch einen raschen Sprung zu befreien. Copasallior wußte, daß dies kein schlechter Scherz oder gar ein mäßig gefähr liches Spiel war. Die beiden meinten es bit ter ernst. Aber er vertraute darauf, daß sie ihn am Leben lassen mußten, da sie sonst sich selbst und das Gleichgewicht der Kräfte in Gefahr brachten. Erst als er in der Grotte Kir Bans stand, erkannte er, daß er die Liebesmagierin und ihren zwergenhaften Verbündeten trotzdem unterschätzt hatte. Da aber war es zu spät, noch irgendeinen Trick zu versuchen. Mit einer letzten, gewaltigen Anstrengung beförderten ihn Wortz und Jarsynthia über die Trennungslinie. Copasallior stolperte, als die Fesseln sich lösten, und gleichzeitig überkam ihn ein völlig ungewohntes Schwindelgefühl. Mühsam drehte er sich herum. Hinter dem schimmernden Gitter standen Wortz und die Liebesmagierin. Sie sahen ih ren ersten Gefangenen erschöpft, aber trium
Die Verräter von Oth phierend an. Copasallior betrachtete sie mit seltsamen Augen. Er bemerkte Jarsynthias Unruhe. Sie trat einen Schritt näher und suchte nach ei nem Zeichen dafür, daß Copasallior endlich doch Angst bekam. Der Weltenmagier lä chelte leicht. Dann wandte er sich schwei gend ab und ging davon, um sich in dem La byrinth der Verliese umzusehen. Als er nach einiger Zeit zurückkehrte, waren die beiden Magier verschwunden.
4. »Zum Ska …« Gofruun sah keine andere Möglichkeit, als seinem Alterenkel blitzschnell den Mund zuzuhalten. »Denk dir endlich mal etwas anderes aus!« zischte er wütend. »Schlimmer kann es doch sowieso nicht mehr werden!« protestierte Heix. »Wenigstens gibt es dort keine magierfres senden Pflanzen.« »Bist du sicher?« höhnte Gofruun, und dann hatte er endlich wieder einmal eine gu te Idee. Dieses bleiche Gewächs ähnelte ganz entfernt dem magischen Plasma in sei nen Heimathöhlen. Vielleicht ließ sich diese Pflanze sogar beeinflussen? Er versuchte es. Aber er spürte nichts, wonach er hätte greifen können. Genauso gut hätte er versuchen können, einer unter dem Wölbmantel treibende Wolke seinen Willen aufzuzwingen. Inzwischen hatte die Pflanze ihre Vorbe reitungen abgeschlossen. Die letzten Kno chen klapperten zu Boden. Ein feines Sirren drang aus dem Gewirr der Zweige. Verküm merte Blätter rieben sich aneinander. Gofru un fühlte sich unangenehm an ein Wesen er innert, daß sich in aller Ruhe zum Essen nie derläßt. Die Pflanze hegte offenbar nicht den leisesten Zweifel daran, daß ihr die Beute si cher war. Würde Heix auch diesmal im letzten Au genblick spontan einen Sprung tun, der sie aus dieser Kammer befreite? Aber was kam
21 danach? Wohin würde der Dicke sie als nächstes führen? Gofruun schien es, als würde Heix samt seinen gestohlenen Kräften von Orten ma gisch angezogen, an denen das Verderben die beiden Magier erwartete. »Versuch's mal mit unseren Höhlen«, bat er. »Stell dir einfach vor, das da wäre Plas ma, und du könntest dich gleich auf deine Bank setzen und frische Nektarknollen essen …« Ein dumpfes Grollen ließ ihn zusammen zucken. Erschrocken hielt er Ausschau nach der Bestie, die diesen Laut produziert hatte. Erst nach Sekunden begriff er, daß er ledig lich den knurrenden Magen seines Alteren kels gehört hatte. »Es tut mir leid«, jammerte Heix. »Aber ich habe solchen Hunger, daß mir alles vor den Augen verschwimmt.« »Mach nur so weiter!« schimpfte Gofru un. »Dann wirst du von deinem Hunger bald befreit sein – und zwar auf ewig. Gib dir ein bißchen Mühe, oder es ist aus mit uns.« »Immer ich!« klagte Heix. »Warum tust du nicht auch etwas?« »Hör auf, hier lange Reden zu halten!« brüllte Gofruun wütend. Aus dem Geflecht lösten sich einzelne Ranken, die gemächlich kamen. »Tu etwas!« Und er versetzte seinem Alterenkel einen gewaltigen Tritt, daß dieser zur Seite kippte und in den rasselnden Gebeinen landete. »Bei den Geistern von Grool!« heulte Heix auf. Der Bodenmagier warf sich der Länge nach auf den Dicken – gerade noch rechtzei tig, denn im nächsten Moment versank die Kammer mit der gefräßigen Pflanze. Gofru un spürte einen sengenden Schmerz in sei nem verlängerten Rückgrat, ließ Heix los und rollte über kühlen, glatten Metallboden. Er erwischte einen klebrigen Pflanzensten gel und zog mit aller Kraft daran – das Biest hatte sich bereits festgesaugt, löste sich aber nach ein paar Sekunden und wand sich auf dem Boden wie eine Schlange. Voller Abscheu betrachtete Gofruun jenen
22 Teil der hungrigen Pflanze, der durch den plötzlichen Ortswechsel mitgerissen worden war. Er hatte jetzt eine sehr deutliche Vor stellung davon, welch gräßliches Schicksal sie erwartet hätte, wären sie nur wenige Se kunden später aus der Kammer verschwun den. Er sah sich nach Heix um – und erstarrte. Der Dicke hockte an einem niedrigen Tisch aus grauem Metall und stopfte in ra sender Eile allerlei Früchte in sich hinein, die er aus einer Kristallschale nahm. Gofru uns erster Gedanke war, daß er sich beeilen mußte, wenn er noch etwas abbekommen wollte, denn der Berg von Früchten schrumpfte rasch, aber dann fiel ihm ein, welchen Namen Heix ausgestoßen hatte, ehe sie aus der Reichweite der Pflanze ver schwanden. Grool! Sollten sie wirklich mitten in dieser ge heimnisvollen Feste gelandet sein? Wenn ja, dann schien es ratsam, schleu nigst das Weite zu suchen. Es gab allerlei Gerüchte über den großen Unbekannten, der in der Feste Grool zu Hause war, und alle Geschichten hatten eines gemeinsam: Sie ließen keinen Zweifel daran offen, daß es für lebende Wesen aller Art besser war, einen weiten Bogen um die Feste Grool zu ma chen. Er wollte Heix eben auffordern, endlich die Finger von den Früchten zu nehmen, da glitt eine Tür auf. Gofruun sah den Dicken zusammenzucken und warf sich abermals auf ihn. Er sah nicht mehr, wer oder was kam, um die dreisten Diebe zu stellen, denn plötzlich schlug eiskaltes Wasser über sei nem Kopf zusammen. Als er prustend auftauchte, sah er sofort einen spitzen Gegenstand, der die um den kleinen See wachsenden Büsche weit über ragte, Gofruun brauchte ein paar Sekunden, um den Anblick zu verarbeiten. Aber dann stahl sich die Erinnerung an eine vergessen geglaubte Szene in sein Bewußtsein. Neben ihm kam Heix an die Oberfläche, noch ganz benommen und mit geschlosse-
Marianne Sydow nen Augen, als wage er nicht, der veränder ten Situation entgegenzutreten. »Du hast es geschafft!« schrie Gofruun begeistert. »Wir sind in der FESTUNG!« Heix machte die Augen auf. Er starrte Go fruun ausdruckslos an. Dann hob er die rech te Hand aus dem Wasser, betrachtete die Frucht, die er mitgenommen hatte, schwamm ans Ufer und setzte sich, um sein letztes Beutestück schnellstens dahin zu be fördern, wo Gofruun es nicht mehr erreichen konnte. Als auch der Bodenmagier triefend und zitternd vor Kälte aus dem Wasser stieg, raschelte es im Gebüsch und ein Mann trat vor sie hin. Als Gofruun das Gesicht des Fremden sah, verlor er das Bewußtsein. Razamon, der Berserker, betrachtete ver wundert die beiden Fremden. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie sie in die FESTUNG gelangt waren.
* Inzwischen war Atlan nicht mehr so zu versichtlich, daß es ihm gelingen möge, sich vor einem Besuch in der Barriere von Oth umfassend über die Magier zu informieren. Sicher hatte es genaue Berichte und Be schreibungen gegeben – die Herren der FE STUNG hatten den Magiern bestimmt nicht blind vertraut. Aber entweder war das alles inzwischen verlorengegangen, oder die In formationen, nach denen der Arkonide such te, waren an geheimen Orten versteckt wor den, ehe das Chaos von Ragnarök über die FESTUNG hereinbrach. Es schien, als kön ne allein Thalia ihm Genaues über die Ma gier erzählen. Leider war auch die Tochter Odins alles andere als umfassend informiert. Ihr Kontakt zu den Magiern hatte sich auf eine zahlen mäßig geringe Gruppe von Personen be schränkt. Sie kannte Koratzo, den man in der Barriere den Rebellen nannte, und einige seiner Freunde, dann einen Knotenmagier namens Glyndiszorn und ein paar andere skurrile Gestalten, von denen sie oft nur den Namen und die Bezeichnung zu nennen
Die Verräter von Oth wußte, die die Rebellen aus der Tronx-Kette ihr verraten hatten. Der wichtigste Magier von Oth schien Copasallior zu sein, der Weltenmagier. At lan hatte erfahren, daß dieser Mann schon früher in der FESTUNG aufgetaucht war: Die Söhne Odins hatten sich auf seine Un terstützung verlassen – bis dann der echte Odin auftauchte. Seither waren die drei auf die Magier nicht sonderlich gut zu sprechen, was sie aber wohlweislich nicht zugaben, da sie trotz allem die Rache derer von Oth fürchteten. Copasalliors Ausnahmestellung wurde durch viele Beobachtungen bestätigt. Andererseits berichtete Thalia, daß Copasal lior selbst dabei gewesen wäre, als man die Odinsmaske aus der Tronx-Kette brachte, damit andere Magier ihren Einfluß auf das rätselhafte Gebilde geltend machen konnten. Demnach war auch Copasallior gewissen Zwängen unterworfen. Er war nicht der un umschränkte Herrscher von Oth. Atlan fürchtete, daß er – wenn er in die Barriere reiste – niemals sicher sein konnte, welcher Magier überhaupt Entscheidungen fällen durfte, ohne vorher die Meinung aller anzu hören. Einerseits beruhigte ihn der bloße Gedan ke, es könne an einer Stelle in diesem Land einen Funken Demokratie an Stelle von Ge walt und Willkür geben, aber mit jeder Stun de, die man bei Verhandlungen aller Art ver lor, näherte sich Pthor der Schwarzen Gala xis – für Diskussionen blieb da wenig Zeit. Als einer der ausgesandten Beobachter mit der Nachricht zurückkehrte, man könne nunmehr ungefährdet die Grenze zur Barrie re überfliegen, erklärte Atlan die Vorberei tungen für abgeschlossen. »Endlich«, war Razamons Kommentar. »Wann fliegen wir los?« »Ich fliege allein in diese Berge«, erwi derte Atlan abweisend. »Ziemlich unge wöhnlich für den Herrscher eines großen Landes, daß er sich allein auf eine so gefähr liche Reise begibt, meinst du nicht auch?« »Von mir aus mag es noch so ungewöhn lich erscheinen. Die FESTUNG ist mir je
23 denfalls vorläufig zu wichtig, um auch nur das kleinste Risiko einzugehen.« »Was könnten wir schon tun, wenn es zu einem wirklichen Angriff käme? Das Gelän de ist viel zu groß und unübersichtlich. Ob einer von uns dich begleitet oder nicht, dar auf kommt es wohl kaum noch an.« »Vielleicht doch. Es muß jemand hier sein, der den Dellos sagt, was sie zu tun ha ben.« Er sah Razamon an und lehnte sich kopf schüttelnd zurück. »Gib es auf«, murmelte er erschöpft. »Du überredest mich diesmal nicht.« »Dann laß mich zu den Magiern gehen!« forderte Razamon. »Wenn wirklich etwas schiefgeht – mit mir können sie nicht viel anfangen. Wenn sie dagegen dich gefangen nehmen …« »Warum sollten sie so etwas tun?« fragte Atlan ärgerlich. »Um selbst die Macht zu erringen, zum Beispiel.« »Dazu brauchen sie mich nicht. Du hast Thalias Bericht gehört. Es wäre ein Kinder spiel für sie, die Pthorer auf ihre Seite zu bringen, mit oder ohne Gewalt. Darum halte ich es auch für besser, wenn ich alleine zu ihnen gehe. Wir müssen das Vertrauen und die Freundschaft der Magier erringen. Alles andere wäre auf lange Sicht nur gefährlich.« Razamon sah die anderen hilfesuchend an. »Koratzo wartet nur auf eine Gelegenheit, mit Atlan ins Gespräch zu kommen«, sagte Thalia zu ihm. »Und ich denke, daß Copa sallior einer Zusammenarbeit ebenfalls zu stimmen wird. Diese beiden sind vielleicht sogar enttäuscht, wenn einer von uns an At lans Stelle zu ihnen kommt.« »Wenn sie so wild darauf sind, ihn ken nenzulernen«, knurrte Razamon empört, »dann verstehe ich nicht, warum sie sich nicht bei uns blicken lassen.« Darauf wußte auch Thalia keine Antwort. Razamon blickte Atlan herausfordernd an. Aber er stellte fest, daß der Arkonide an sei nem Entschluß festhalten würde, komme
24 was da wolle. Resignierend wandte er sich ab. »Ich werde dafür sorgen, daß ein Zugor bereitsteht«, erklärte er und ging hinaus. Atlan seufzte und wandte sich erneut der Karte von Pthor zu. Die Barriere von Oth war das einzige echte Gebirge von Pthor. Das Reich der Magier lag im äußersten Sü den des Landes, war rund dreihundertvierzig Kilometer lang und neunzig Kilometer breit, umfaßte vierunddreißig Bergriesen und viele niedrigere Gipfel und reichte im Osten an Panyxan, die Stadt der Guurpel, heran. Das alles verriet die Karte. Sie zeigte auch die Umrisse einiger Berge. »Dort«, sagte Thalia und deutete auf einen Gipfel, der wie ein gestreckter Zeige finger aussah – die Karte enthielt viele sol che bildhaften Darstellungen, die es nicht gerade leicht machten, Entfernungen genauer zu bestimmten. »Das ist der Crallion, der Sitz des Weltenmagiers. Und hier, knapp östlich vom Crallion, liegt der Gnorden. Von dort aus hat dieser Knotenmagier den Tun nel errichtet, durch den man mich bis in die FESTUNG brachte. Die Tronx-Kette umfaßt diese Gipfel im Osten der Barriere, sie reicht bis an die Nordgrenze von Oth. Mehr kann ich dir leider auch nicht verraten.« Atlan musterte schweigend das Gewirr von Bergen und Tälern. Tiefe Schluchten waren eingezeichnet. Er erinnerte sich an die erste Begegnung mit einem Magier und un willkürlich schüttelte er sich. Der Steinerne – wie paßte ein solches Wesen in das Bild, das Thalia von den Magiern entworfen hat te? Was waren die Magier? Woher stammten sie? Wie waren sie in dieses Land gekom men? Und waren sie wirklich so mächtig, wie man allgemein behauptete? Vor allem – wenn sie so mächtig waren, warum hielten sie sich immer noch zurück? »Allmählich fange ich an, wie ein Pthorer zu denken«, murmelte er. Thalia sah ihn fragend an. »Ich finde es bereits verdächtig«, erklärte er widerstrebend, »wenn jemand nicht mit
Marianne Sydow allen Mitteln versucht, an die Macht zu kommen.« Das war der Augenblick, in dem Raza mon die Tür aufstieß und zwei tropfnasse Wesen in den Raum bugsierte. »Besuch für dich«, sagte Razamon lako nisch. Sie waren auf ihrer Irrfahrt in ganz Pthor herumgekommen. Atlan war sicher, daß in keinem der Landstriche, die er gesehen hat te, so seltsame Leute zu Hause waren. Es war kein Zweifel möglich: Er hatte zwei Magier vor sich.
* »Was ist denn mit dem los?« fragte der Berserker und deutete auf Gofruun. Heix verschluckte sich vor Schreck und mußte husten. Der Berserker klopfte ihm hilfsbereit den Rücken – die Folge war, daß Heix einen Erstickungsanfall bekam. End lich gelang es ihm, keuchend einzuatmen. »Bitte!« stotterte er und stierte Razamon mit hervorquellenden Augen an. »Bitte, nicht auffressen! Wir – wir …« Er verstummte entsetzt, weil der Berser ker sich zu ihm herabbeugte. »Ich verstehe kein Wort. Was soll ich nicht essen?« »Mich«, brachte Heix bebend hervor, raffte sich auf und deutete mit zitternder Hand auf Gofruun. »Nimm den. Er sieht nur so zäh aus …« Der Berserker lächelte, und in seinen Au gen glitzerte es. Gierig, wie es dem Alteren kel schien. »Aha. Um deine Haut zu retten, würdest du ihn wohl sogar mit eigener Hand schlach ten, wie? Steh auf und kümmere dich um deinen Freund, aber beeile dich. Ich habe nicht viel Zeit. Woher kommt ihr?« Heix gab keine Antwort. Er stürzte sich förmlich auf den Bodenmagier, in der vagen Hoffnung, der Berserker möge ihn in Ruhe lassen, wenn er seine Befehle befolgte. Tat sächlich stellte der Fremde keine weiteren Fragen, sondern sah zu, wie Heix den armen
Die Verräter von Oth Gofruun schüttelte und beklopfte. Heix merkte in seinem Eifer gar nicht, daß der Bodenmagier erwachte. Er knetete an ihm herum, bis Gofruun mit einem entsetzten Schrei auf die Füße sprang. Als Gofruun den Berserker sah, vergaß er die Beschimpfungen, die er seinem Alteren kel zugedacht hatte. Er schluckte einmal trocken, entdeckte dann im Hintergrund die ses spitze Gebäude, das es eigentlich nur im Bereich der FESTUNG geben sollte, und at mete tief durch. Er ärgerte sich über sich selbst. Natürlich hatte dieser Berserker nichts mit denen zu tun, die in ihrer verborgenen Stadt im Taam berg ihre absonderlichen Bräuche pflegten. »Wieder bei klarem Verstand?« fragte der Berserker spöttisch. »Ist dies hier die FESTUNG?« erkundigte sich Gofruun vorsichtig, und als der Fremde nickte, fuhr er fort: »Wir sind Gesandte aus der Großen Barriere von Oth.« Zufrieden sah er, daß der Blick des Ber serkers sich wandelte, und er richtete sich stolz zu seiner vollen Größe von eineinhalb Metern auf – da traf ihn ein eisiger Wasser strahl. Gofruun hüpfte entsetzt zur Seite. Er tropfte sowieso noch von dem unfreiwilligen Bad, aber das hier – er blickte nach oben und erstarrte. »Du verdammter Narr!« brüllte er und fuhr seinem Alterenkel mit einem gewalti gen Satz an die Kehle. »Wo hast du diesen Becher schon wieder her, he? Schaff das Ding sofort aus dem Weg!« Heix stolperte erschrocken rückwärts und wäre unweigerlich wieder in den See gefal len, hätte es ihn nicht im selben Augenblick davongerissen. Den Becher vergaß er mitzu nehmen. Gofruun hüpfte wütend auf der Stelle. Der Berserker sah ihm interessiert zu. Schließlich, als Gofruun bereits überlegte, ob er es wagen konnte, diesen merkwürdi gen Fremden ebenfalls anzubrüllen, griff der Berserker nach dem in der Luft schweben den Becher. Der Wasserstrahl versiegte.
25 »Danke«, keuchte Gofruun erschöpft. Den Becher hatte Heix in der Barriere von Oth gestohlen, und das Ding hatte in Gofruuns Höhlen bereits für eine Überschwemmung gesorgt. Er holte wütend aus, wagte es aber dann doch nicht, den Becher einfach im See zu versenken – wenn das Ding da drin im mer weiter Wasser produzierte, gab es am Ende noch mehr Ärger, und mit den Bewoh nern der FESTUNG wollte Gofruun sich nicht anlegen. »Wo ist dein Freund geblieben?« fragte der Berserker. »Oh«, murmelte Gofruun. »Das weiß ich auch nicht. Irgendwo muß er wieder zum Vorschein kommen. Ich werde jedenfalls seine verrückten Sprünge nicht länger mit machen. Soll er sehen, wie er mit diesen Kräften fertig wird. Niemand hat ihm befoh len, hilflose Magier zu bestehlen.« Der Berserker ging darauf nicht ein, son dern nannte seinen Namen und bot Gofruun an, daß er ihn zu einem Mann namens Atlan bringen könne. Gofruun nahm mit Gleich mut zur Kenntnis, daß Odin selbst diesen Atlan zum neuen Herrscher von Pthor er nannt habe. Er wußte natürlich, daß Odin schon vor langer Zeit verschwunden war, und er zweifelte auch daran, daß jemand an derer als die Herren der Schwarzen Galaxis über die Herrschenden in Pthor bestimmen dürfe, aber das ging ihn nichts weiter an – dachte er. Er ergriff die günstige Gelegenheit beim Schopf, denn je eher er seine Botschaft los wurde, desto früher konnte er auch in die Barriere von Oth zurückkehren. Da die Be wohner der FESTUNG gesund und munter waren, konnte Gofruun Copasalliors Anwei sung, sich genau umzusehen, getrost verges sen. Er atmete tief durch und setzte sich in Trab. Die Zukunft erschien ihm jetzt schon nicht mehr ganz so dunkel. Aber ehe er noch drei Schritte weit ge kommen war, tauchte Heix wieder auf. Das war ein schlechtes Omen. Zu allem Überfluß materialisierte der Dicke so nahe bei dem Bodenmagier, daß dieser das Gleichgewicht
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Marianne Sydow
verlor und Razamon anstieß, und der Berser ker stand auf nassem, glitschigem Grund, so daß nun auch er zu einem kühlen Bad im See kam. Sprachlos vor Wut und Entsetzen betrach tete Gofruun zuerst seinen Alterenkel, dann Razamon, der mit steinernem Gesicht ans Ufer kletterte. »Das wollte ich nicht«, murmelte Heix verwirrt. »Gehen wir«, sagte Razamon dumpf. Sie hinterließen eine nasse Spur, die bis an die Tür reichte, hinter der Atlan seine letzten Vorbereitungen für einen Flug in die Große Barriere traf.
5. Jarsynthia und Wortz verloren keine Se kunde in diesem ersten Teil ihres Unterneh mens. Sie hatten es allerdings auch bitter nö tig, sich zu beeilen, denn bis auch die positi ven Magier aus der Starre erwachten, muß ten sie wenigstens ihre mächtigsten Gegner fest und sicher in den Verliesen am SkathaHir untergebracht haben. Getrennt von ihren magischen Waffen und obendrein durch die rätselhaften Kugeln auf den Stand normaler Sterblicher gebracht, konnten sie keinen Wi derstand mehr leisten. Wenn aber nur einer der Liebesmagierin und ihrem Verbündeten zuvorkam, so war ein gefährlicher Kampf unvermeidlich. Aus diesen Überlegungen heraus verzich teten die beiden auch vorerst darauf, irgend welche Geräte oder sonstige Hilfsmittel zu stehlen. Damit konnten sie sich später in al ler Ruhe befassen. Jarsynthia und Wortz brauchten nicht lan ge zu überlegen, wen sie zu den Gegnern zu rechnen hatten. Die Fronten waren späte stens seit dem Kampf im Tal der Nebel ge klärt. Beide Magier mußten jedoch bis an den Rand totaler Erschöpfung arbeiten, um die Feinde vor Ablauf der selbst gesetzten Frist in die Zellen der Verbannung zu beför dern. Sie ersparten sich wahrhaftig nichts, als sie in höchster Eile von einem Ort zum
anderen hetzten, hemmungslos jene Kräfte einsetzend, die ihnen weite Reisen ohne Zeitverlust erlaubten. Sie holten Kolviss aus seiner Wolkenkup pel am Ko-Fomath und Glyndiszorn aus der Gondel der ORSAPAYA. Den Wetterma gier Breckonzorpf entführten sie samt dem Donnerwagen, aus dem sie die besinnungs losen Katzen entfernt hatten. In den Wagen wanderten Parlzassel und der Wächter der Tronx-Kette, Howath, der neben dem erlo schenen Feuer in seiner Grenzstation lag. Beim nächsten Flug holten sie Koratzo, Querllo, Opkul, Antharia und Haswahu. Da mit war die Tronx-Kette schon beinahe be siegt, und nach dem nächsten Transport konnten Wortz und Jarsynthia eine erste Verschnaufpause einlegen – das Schlimmste war geschafft. Die, die jetzt noch frei waren, konnten ihnen nicht gefährlich werden, es sei denn, man ließ ihnen Zeit, sich einen ge nauen Plan zurechtzulegen. Daran aber soll te es nicht liegen. Jarsynthia überließ es Wortz, weitere Magier mit dem Donnerwa gen einzusammeln. Sie begab sich in die Dunklen Täler. Ihr Treiben war den erwachten Magiern natürlich nicht verborgen geblieben. Sie hat ten sich bereits gesammelt, so daß die Lie besmagierin ohne Umschweife zur Sache kommen konnte. Die überall verstreuten restlichen Magier würden von den anderen erfahren, worum es jetzt ging. Im übrigen waren diese Leute auch ziemlich unwichtig. Nach ihrer Meinung brauchte Jarsynthia sich nicht zu richten. Ein berauschendes Gefühl überkam sie, als sie von einem Felsen auf die anderen hinabsah. Die Magier starrten sie erwar tungsvoll an. Es war totenstill. Sie hielt keine lange Rede. »Von jetzt an«, rief sie laut, »gehört die Große Barriere von Oth uns. Wir haben ge siegt!« Eigentlich hätten die Magier sich fragen müssen, was für eine Art von Sieg das war, denn niemand hatte etwas von einem Kampf bemerkt. Statt dessen sprang plötzlich Kars
Die Verräter von Oth
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janor, der Anführer der Leute aus den Dunklen Tälern, vor und schwang wild seine Schleuder über dem Kopf. »Wir haben gesiegt!« schrie er mit über schnappender Stimme. »Wir nehmen Ra che!« Die anderen fielen in diesen Ruf ein. Das Tal zu Jarsynthias Füßen verwandelte sich in einen Hexenkessel. Die Liebesmagierin lä chelte, und ihre Augen leuchteten. Begei stert blickte sie auf ihre Streitmacht hinab. Es waren vielleicht nicht so mächtige Ma gier wie die, die jetzt in den Verliesen am Skatha-Hir schmorten – aber sie waren be reit, im Kampf um die absolute Macht jedes Mittel einzusetzen.
* Anfangs untersuchte Copasallior jeden neuen Gefangenen. Er hoffte, daß sie schon erwacht waren und Neuigkeiten mitbrach ten, denn Wortz und Jarsynthia verrieten ihm mit keinem Wort, wie es draußen aus sah. Nachdem auch Koratzo und seine besten Freunde eingetroffen waren, gab der Wel tenmagier seine Bemühungen auf. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Bo den und wartete. Über die Lage in der Großen Barriere konnte es ohnehin kein Rät selraten mehr geben – Copasallior sah schließlich, wen die Rache Jarsynthias tref fen sollte. Hatte er anfangs noch darauf ge hofft, es möge ihr um die Befriedigung ural ter Rachegelüste gehen, so wurde er durch den bloßen Augenschein eines Besseren be lehrt. Mit einer Privatfehde hatte das hier nichts mehr zu tun. Es dauerte lange, bis die ersten anderen Gefangenen sich zu rühren begannen. Copa sallior beobachtete sie. Er sah, daß jeder für sich eine Phase hilflosen Entsetzens durch lebte. Er selbst hatte es ein wenig einfacher gehabt, denn er war vorbereitet gewesen. Die anderen jedoch wachten in einer unbe kannten Umgebung auf, und noch ehe sie diese Überraschung überwanden, mußten sie
feststellen, daß ihnen nichts von dem geblie ben war, was einen Magier ausmachte. Sie konnten die Elemente, die sonst wie Wachs in ihren Händen waren, nicht beein flussen. Magische Gesten, Laute oder sonsti ge Kunstgriffe versickerten im Nichts. Die Strömungen in den Felsen und Wasserläufen der Barriere machten einen Bogen um diese Höhlen. Man bekam keines der Kraftfelder mehr in den Griff, konnte keine belebende Energie heranziehen, um sich gegen feindli che Einflüsse zu schützen. Man konnte in diesem Verlies nicht ein mal mehr die einfachste magische Sperre er richten. Das war schlimm. Für die Magier war es, als hätte man sie nackt und bloß in einen fin steren Käfig gesperrt, hinter dessen Gitter wänden tausend Feinde bereit standen, um ihnen den Todesstoß zu versetzen. Copasal lior hatte sich bis jetzt nicht an diesen Zu stand gewöhnen können. Er ließ den anderen Zeit. Unterdessen waren Jarsynthia und Wortz nicht untätig. Neue Gefangene wurden ge bracht. Man schleuste sie durch ein System von Sicherheitskammern in die Verliese, oh ne den Gefangenen eine Gelegenheit zum Widerstand zu bieten. Immerhin schien sich jetzt auch draußen einiges zu verändern. Die meisten Gefangenen wachten kurz nach ih rer Ankunft auf, manche waren auch bereits bei Bewußtsein. Und dann tauchten andere Magier auf, die sich ungeniert jenseits der Gitter bewegten. Copasallior beobachtete diese Neuankömmlinge mit steinerner Mie ne. »Es war ein Fehler, Karsjanor am Leben zu lassen!« Copasallior brauchte sich nicht umzuse hen, um festzustellen, wer das gesagt hatte. Glyndiszorns keifende Stimme war unver kennbar. »Das kann jetzt jeder sagen«, murmelte Copasallior. »Und es ist auch nicht mehr so wichtig.« Glyndiszorn nickte grimmig. Natürlich, es war unsinnig, jetzt noch je
28 mandem Vorwürfe zu machen. Auch wenn dieser Jemand Koratzo hieß und anerkann terweise seit jeher zu denen gehörte, die ger ne in gewissen Situationen eine Milde wal ten ließen, die bei Leuten wie Karsjanor ein fach nicht angebracht war … Copasallior schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Nach einem kurzen Rundblick wußte Glyndiszorn, welche Ge danken den Weltenmagier bewegten. Malvenia fehlte. Glyndiszorn überlegte, ob es ratsam war, etwas zu dieser Angelegenheit zu sagen. Er kam zu dem Schluß, daß er Copasallior mit Worten nicht helfen konnte. Der Weltenma gier kannte Malvenia lange genug. Er mußte sich selbst sagen, daß die Kunstmagierin un möglich zu den Aufständischen um Jarsyn thia gehören konnte. Wahrscheinlicher schi en es da schon, daß man Malvenia als Druckmittel benutzen wollte. Dieser Gedanke brachte Glyndiszorn auf die berechtigte Frage, was Jarsynthia und Wortz mit ihren Gefangenen zu unterneh men gedachten. »Für immer werden sie uns nicht einmal hier festhalten können«, murmelte er und betrachtete die schwarzen Wände. Die Ku geln – Glyndiszorn kannte ihre Funktion selbstverständlich – waren nicht sichtbar. Aber auch wenn Kir Ban sie in bequemer Reichweite angebracht hätte, wäre damit niemandem geholfen gewesen. Wer sie ohne bestimmte Schutzvorkehrungen berührte, der starb binnen weniger Minuten. »Sie werden den Verbannungsstrahl auf uns richten«, erklärte Copasallior nüchtern. »Das ist ganz einfach. Vorhin haben sie sich darüber unterhalten. Sie sind sich ihrer Sa che völlig sicher.« »Aber wir sind zu viele«, gab Glyndis zorn zu bedenken, und er hätte Copasallior noch weiter an Dinge erinnert, die der Wel tenmagier längst wußte, hätte sich nicht eine Hand auf seine rechte Schulter gelegt. Glyn diszorn fuhr herum und sah Koratzo ver blüfft an. »Was soll das?« fragte er dann unwillig.
Marianne Sydow »Man könnte dich draußen hören«, erklär te der Stimmenmagier trocken. »Und das wäre schade. Du könntest unseren lieben Freunden den Spaß verderben.« Copasallior nickte erleichtert. »Kommt mit!« befahl er. »Ich hatte genug Zeit, mich hier umzusehen. Es gibt Räume, in denen niemand uns beobachten oder be lauschen kann. Diese Kugeln haben auch einen Vorteil – keine magische Macht durchdringt diese Mauern. Wortz wollte das offenbar nicht glauben«, setzte er spöttisch hinzu. »Ich fand seine Kristalle an verschie denen Orten. Sie sind stumpf und tot.« Einige Magier schlossen sich ihnen an. Die anderen blieben im vorderen Teil des Verlieses. Bevor sie in den düsteren Gängen zwischen den Kammern verschwanden, hör ten sie Karsjanors helle Stimme von jenseits der Gitterstäbe. »Wird der Große Rat gebraucht? Ich kann Jarsynthia und Wortz Bescheid sagen. Si cher werden sie gerne ein paar Minuten op fern, um an Koratzos Träumereien teilzu nehmen.« Niemand antwortete ihm. Der Stimmen magier, der sich beobachtet fühlte, zuckte nur mit den Schultern. Er hatte dem Kristall magier mehr als einmal das Leben ge schenkt. Falls er jedoch jetzt Bedauern des wegen empfand, so zeigte er es nicht. »Für die, die sich nicht mehr so genau daran erinnern«, begann Copasallior, als sie einen sicheren Platz gefunden hatten, »möchte ich ein paar Gegebenheiten deut lich machen, die ich für wichtig halte.« Er sah Glyndiszorn an. »Wir befinden uns in den Höhlen des Kir Ban. Aus eigener Kraft werden wir uns nicht befreien können. Unsere magischen Kräfte sind neutralisiert. Der von Kir Ban errichtete Verbannungsstrahl besteht nach wie vor und kann jederzeit auf das Innere dieser Höhlen gerichtet werden. Wenn das geschieht, wer den wir uns binnen kürzester Frist auf einer uns fremden Welt befinden. Da man uns vorher für immer von aller magischen Ener gie befreien wird, wäre diese Verbannung
Die Verräter von Oth endgültig. Kir Bans Waffe arbeitet nur in ei ne Richtung, und wir selbst werden nicht mehr fähig sein, nach Pthor zu suchen. Das sollte uns jedoch nicht zu sehr bekümmern, denn bis auf wenige Ausnahmen werden wir die Versetzung ohnehin nicht überleben.« »Wir können kämpfen. Sie müssen uns herausholen, um uns zu neutralisieren. So leicht mache ich es diesen Verrätern nicht. Ehe ich mir meine Kräfte nehmen lasse, sol len sie spüren, daß ich nicht nur mit meiner Magie umzugehen verstehe!« Glyndiszorn wandte sich um und sah On tra an, die aus einem kleinen Tal westlich vom Crallion kam. Die Augen der Magierin blitzten wütend, und sie bewegte aufgeregt die Hände – nur reagierte der Fels an diesem gespenstischen Ort nicht auf ihre Beschwö rungen. Ontras Magie war einfach, aber überaus wirksam, und das war wohl auch der Grund, weshalb Wortz und Jarsynthia sich die Mühe gemacht hatten, Ontra auf dem kräfteraubenden Weg der zeitlosen Versetzung ins Verlies zu bringen. Ontras Kunst beschränkte sich darauf, Gegenstände bis zur Größe eines Luftschiffs aus dem Griff der Schwerkraft zu befreien. Sie konn te gewöhnlichen Kieselsteinen die Ge schwindigkeit eines Skerzaalbolzens verlei hen, Lawinen auslösen, aber auch den scheinbar sicheren Boden unter den Füßen eines Magiers dazu bewegen, alle organi sche Materie von sich zu stoßen. Nur lebendes Gewebe war für Ontra nicht direkt greif bar – was vielleicht ein Glück war, denn an dernfalls wäre sie fähig gewesen, unvorstell bares Grauen zu verbreiten. »Sie brauchen uns nicht herauszuholen«, sagte Glyndiszorn erstaunlich sanft – Ontra gehörte zu seinen persönlichen Schützlin gen: Wenn sie auch nicht mit überragenden Fähigkeiten ausgestattet war, so beeindruck te Ontra doch jeden mit der ungeheuren Energie, die sie auf die Vervollkommnung ihrer Kunst verwendete. Und Ontra war dar über hinaus völlig immun gegen die Beein flussung durch Jarsynthia und ähnliche Leu te.
29 »Warum nicht?« Copasallior seufzte. »Kir Ban«, erklärte er und nickte Glyndis zorn beruhigend zu, »liebte das Risiko nicht. Dieser ganze Berg ist ein einziger Speicher für magische Energien aller Art. Was durch den Strahl der Verbannung geht, wird auto matisch seiner Energien beraubt. Der Schlüssel zur Macht ist ein schwarzer Thron – man kann ihn von dem einen Gitter aus se hen.« »Dann gibt es also nichts mehr, was Jar synthia und Wortz aufhalten könnte«, mur melte Ontra resignierend. »Vielleicht doch. Die Energie im SkathaHir wird solange festgehalten, bis es gelingt, das Geheimnis des Thrones zu lösen. Und ich hoffe, daß weder Jarsynthia noch Wortz genau wissen, wie man mit Kir Bans Spei cher umzugehen hat.« Die anderen sahen den Weltenmagier zweifelnd an. Nur Glyndiszorn und Koratzo lächelten schwach. Kolviss, der Traumma gier, wußte ebenfalls, worauf Copasallior sich bezog, aber das blaue Quallenwesen war zu menschlich anmutenden Gefühlsäu ßerungen nicht fähig. »Was Karsjanor und die anderen draußen von sich gegeben haben, hörte sich anders an«, murmelte Rischa aus der Tronx-Kette skeptisch. »Sie sind sehr von sich und ihrem Erfolg überzeugt.« »Das kann sein«, antwortete Koratzo. »Und dabei soll es auch bleiben.« »Was weißt du von der Sache?« fragte Ri scha sofort. »Kennst du die Lösung? Siehst du überhaupt, wohin das Ganze zielt?« »Sie werden sich selbst vernichten«, nick te der Stimmenmagier seelenruhig. Copasallior atmete tief durch. Er hatte sich davor gefürchtet, das auszusprechen. Eine Weile blieb es still. Eigentlich waren keine Erklärungen mehr nötig. Jeder hier wußte, welche Kräfte ins Spiel kamen, wenn die Speicher des SkathaHir geschlossen blieben. Die Magier lebten mit den Bergen von Oth wie in einer Symbiose. Im Lauf unge
30 zählter Jahre hatte sich ein kompliziertes Gleichgewicht gebildet. Die Berge boten Platz für viele Magier. Trotzdem gab es nie mehr als vierhundertfünfzig von ihnen. Starb einer, so übernahm jemand aus dem Revier der Sterblichen seinen Platz, und mit den nö tigen magischen Fähigkeiten gewann dieser eine auch die Unsterblichkeit. Jeder von ih nen produzierte im Durchschnitt mehr magi sche Energie, als er unter normalen Bedin gungen verbrauchte. Diesen Überschuß nahm die Barriere auf. Es bildete sich ein Reservoir, auf das die Magier im Notfall stets gerne zurückgriffen. Es lag an den besonderen Eigenarten die ser »Energie«, daß dieser Kräfteaustausch niemals unterbrochen werden durfte. Nicht nur die Magier brauchten die Berge – es funktionierte auch umgekehrt. Sie bildeten zwei Pole, zwischen denen ein genau ausge wogenes Spannungsverhältnis herrschen mußte. Wären zum Beispiel plötzlich ein paar hundert Magier zusätzlich nach Oth ge kommen, so wäre ein stärkeres Gefälle ent standen, und die Berge von Oth hätten sich noch mehr aufgeladen, als es ohnehin der Fall war. Dies hätte dazu geführt, daß den Magiern mehr Energie aus ihrer Umgebung zur Verfügung stand, wodurch sie förmlich gezwungen waren, ihre eigenen Kräfte in verstärktem Maße an alle möglichen Gegen stände abzugeben – und so weiter. Einmal, vor langer Zeit, hatten sämtliche Gipfel von Oth in unwirklichem Licht geleuchtet, und ganze Gruppen von Magiern waren in das Nichts geschleudert worden. Verschwanden aber jetzt auf einen Schlag zu viele Magier – und sie waren mittlerweile mehr als zweihundert Gefangene in den Höhlen am Skatha-Hir –, so kehrte der Vor gang sich um. Kein Magier konnte es ver hindern, daß er Kräfte aus seiner Umgebung sog, und wenn diese Energie nicht an ande rer Stelle ersetzt wurde, so sank das Potenti al der Berge schließlich bis auf einen Wert, der für die besonderen Sinne der Magier nicht mehr faßbar war. Und damit war das Ende aller verbleibenden Magier besiegelt.
Marianne Sydow Es würde eine Weile dauern, bis sich die Folgen von Jarsynthias und Wortz' Treiben bemerkbar machten, aber war der Vorgang erst einmal in Schwung gekommen, so konnte keine Macht der Welt ihn rückgängig machen. Es sei denn, man fand durch Zufall auf ir gendeiner fremden Welt neue Magier – was sehr unwahrscheinlich war –, oder die im Skatha-Hir gespeicherten Energien wurden so gelenkt, daß sie in einem stetigen, den na türlichen Bedingungen entsprechenden Strom in die Berge zurückflossen. Wurden sie auf einen Schlag freigesetzt, so würden die Gehirne aller magisch begab ten Wesen im Bereich der Barriere förmlich ausbrennen. »Das dürfen wir nicht zulassen«, murmel te Parlzassel nach langer Zeit. Niemand wußte, ob es ihm dabei um die Magier dort draußen ging, oder mehr um seine zahllosen Tiere, die er seine »Familie« nannte. »Wir haben keine andere Wahl«, sagte Glyndiszorn. »Außer denen da draußen wird niemand in Pthor Schaden nehmen. Und was uns betrifft – wir sind dann sowieso nicht mehr imstande, wahrzunehmen, was in der Barriere geschieht.« »Was nützt es uns, wenn Jarsynthia und die anderen nach unserem Tode unterge hen?« fragte Ontra bitter. »Wir hätten im Tal der Nebel mit ihnen abrechnen sollen, als sie geschlagen waren.« Sie sah Copasallior an, als gäbe sie ihm die Schuld daran, daß die Verbündeten der Liebesmagierin noch immer ihre Kräfte be saßen. »Kind«, sagte Glyndiszorn nachsichtig, »was wäre gewonnen worden, hätten wir uns mit ihren Kräften überladen?« »Aber wenn einer von euch doch sowieso das Geheimnis dieses Kir Ban kannte …« Der Knotenmagier brachte Ontra mit ei nem strengen Blick zum Schweigen. »Davon verstehst du nichts!« brummte er. Ontra wurde rot und sah sich hilfesuchend um. »Sie hat ein Recht, es zu erfahren, Kno
Die Verräter von Oth tenmagier«, sagte Howath düster. »Schließlich wird der Strahl der Verbannung auch sie nicht verschonen. Und es gibt noch ein paar Leute hier, die erst viel später in die Barriere gekommen sind und die Geschichte nicht kennen.« Glyndiszorn schüttelte abwehrend den Kopf und preßte demonstrativ die Lippen aufeinander. Copasalliors Augen schienen wie immer ins Leere zu starren. Die Magier warteten. »Also gut«, murmelte Koratzo schließ lich. »Obwohl es kein Risiko mehr bedeutet, denn Kir Bans Fluch existiert schon seit lan gem nicht mehr, und in diesen Höhlen ge nieße ich keinen besseren Schutz als ihr.« Er berichtete von Kir Ban und seinem Streben nach Macht, von seinen Untaten und der Entlarvung, die fast zu spät gekommen wäre. Damals waren sich die Herrscher von Pthor noch nicht so sicher, ob sie den ge heimnisvollen Magiern trauen durften. Die Magier aber wußten nicht, ob es inzwischen noch an einem anderen Ort ihresgleichen gab, oder ob sie die letzten Überlebenden waren. So taten sie alles, um ihre Existenz zu sichern, während Kir Ban es fast soweit brachte, daß man seinetwegen die Bewohner der Barriere vernichtete. Nach dem Tode Kir Bans erhielten die Magier den Auftrag, den Verbannungsstrahl am Skatha-Hir zu unterbrechen. Aber der Fluch des großen Magiers besaß damals noch seine volle Kraft. Zwar gelang es eini gen Magiern, in die Grotte zu gelangen, aber die Fallen schlossen sich hinter ihnen, und es dauerte Jahre, bis es gelang, sie zu befrei en. Diese Magier hatten in ihrer Verzweif lung versucht, selbst über den Verbannungs strahl ihrem Gefängnis zu entkommen. Ihrer Unwissenheit im Umgang mit Kir Bans Werken war es zu verdanken, daß man Kenntnis von dem Schicksal der Verbannten erhielt. Die meisten von ihnen hatten sich während des Transports durch das Nichts in wahre Ungeheuer verwandelt. »Sie wären wie Schwämme«, erklärte Ko ratzo, »unersättlich auf der Suche nach le
31 benden, möglichst intelligenten Wesen, de nen sie jede Kraft nahmen. Aber sie konnten die gestohlene Energie niemals lange genug festhalten. So waren sie zu immer neuen Un taten gezwungen. Aber nur die nicht ma gisch veranlagten Opfer erlitten dieses Schicksal. Die verbannten Magier landeten nahezu unversehrt. Sie besaßen nur noch einen Bruchteil ihrer Kräfte, und das waren jene Bestandteile, die wir hier als negativ einstufen.« Er schwieg für einen Augenblick, denn plötzlich erinnerte er sich an den Spercoiden Luscer, den sie in die Barriere geholt hatten, weil sie hofften, dadurch dem Fremden na mens Atlan helfen zu können. Auch Luscer war aller positiven Regungen beraubt wor den. Aber da gab es sicher keinen Zusam menhang, und der Tyrann Sperco, soviel schien sicher zu sein, war das Produkt seiner körperlichen Unzulänglichkeit, nicht das Er gebnis magischer Beeinflussung. »Diese Magier wurden die Herrscher der Entseelten«, fuhr er fort, »und es brauchte viel Zeit, bis die Natur Kir Bans Spuren auf den vielen Welten verwischte.« Er nickte Copasallior zu und lächelte flüchtig. »Das ist der Grund, warum wir gerade Jarsynthia und die anderen aus dem Tal der Nebel nicht in die Verbannung schicken konnten. Sie alle hätten den größten Teil ih rer Kräfte behalten. Das hätte sie befähigt, neue magische Bezirke zu errichten – vor ausgesetzt, sie wären in eine passende Um gebung geraten. Und, was die Speicher zu rückhalten können, wäre wahrscheinlich zu schwach gewesen, um das Gleichgewicht in der Barriere wiederherzustellen.« Er sah die anderen nachdenklich an. Wie lange mochte es dauern, bis sie begriffen, welches Schicksal ihnen bevorstand? Die meisten verwechselten magische Energie mit jener Kraft, die in jedem intelli genten Lebewesen steckte, ganz gleich, ob es mächtig war oder nicht. Kein Magier au ßer Kir Ban hatte diese Kraft jemals erfassen und sogar festhalten können. Niemand kann
32 te die letzten Geheimnisse dieser Höhlen. Jede Magie war zunächst völlig wertfrei. Es kam darauf an, wie man sie einsetzte. Koratzo war lange Zeit fest davon überzeugt gewesen, daß die Zeit für die positiven Ma gier arbeitete, und die Erfahrung schien ihm recht zu geben. Immer mehr Bewohner der Großen Barriere entschieden sich dafür, mit ihren Künsten anderen Wesen zu helfen, statt nur nach Macht zu streben und darüber alles andere zu vergessen. Solange die Her ren der FESTUNG über Pthor herrschten, war diese Entwicklung nur von wenigen überhaupt bemerkt worden, denn die Magier lebten für sich und hüteten sich, Gefühle und Einsichten zuzugeben, die man ihnen als Schwäche hätte auslegen können. Erst seit dem Kampf im Tal der Nebel war offenbar geworden, wie groß die Zahl derer mittler weile war, die Jarsynthias Ziele verabscheu ten. Sie alle würden durch den Strahl der Ver bannung gehen und dabei alles verlieren, was sie sich so mühsam erarbeitet hatten. Nicht nur ihre magischen Kräfte, sondern vor allem ihre Überzeugungen und alle die Gefühle, die nach Koratzos Überzeugung das Wertvollste waren, was ein intelligentes Wesen besitzen konnte. Wer würde überle ben? Er wagte nicht, es sich auszumalen. Er hatte die Geschichte so erzählt, wie sie es damals vereinbart hatten. Nur Kolviss, Co pasallior und Glyndiszorn hätten Koratzo unterbrechen und die Wahrheit eingestehen können. Nicht einmal Jarsynthia hatte jemals herausgefunden, was am Skatha-Hir wirk lich geschehen war. Kir Ban nämlich war nicht in der FE STUNG gestorben. Die Herren hatten seinen Verbannungsstrahl als willkommenes Werk zeug nutzen wollen. Kir Ban war zurückge kehrt – gerade als sie zu viert versuchten, den Fallen, die er zurückgelassen hatte, zu entrinnen. Er war vor ihnen durch den Strahl geflohen, und Copasallior hatte ihn einge holt und zurückgebracht. Kir Ban war zu ei ner Bestie geworden. Er war hier, in seinen
Marianne Sydow Verliesen, gestorben, vor so langer Zeit, daß es denen, die sich noch daran erinnerten, fast wie eine Sage vorkam. Der Fluch Kir Bans war ihre Erfindung. Niemand durfte diese teuflische Einrichtung studieren und damit Versuche anstellen. Sie hatten sogar die Herren der FESTUNG täu schen und dazu bewegen können, ein sol ches Verbot auszusprechen. Als sie es nach ihrer Rückkehr den anderen verkündeten, steckte den Magiern der Schrecken noch tief in den Knochen. Sie hatten es akzeptiert. Jetzt bestand die Gefahr, daß Wortz und die Liebesmagierin Kir Bans Geheimnis lös ten. Die vier sahen sich über die Köpfe der an deren hinweg an. Sie hatten Kir Ban gese hen, damals, nach seiner Flucht. Sie würden lieber sterben, als eine solche Verwandlung auf sich zu nehmen. Aber konnten die anderen das verstehen? »Wir werden trotzdem nicht die Hände in den Schoß legen«, sagte Antharia, die sich wie immer in Koratzos Nähe hielt. »Oder willst du einfach aufgeben?« Koratzo sah sie an und nickte nachdenk lich. »He!« schrie Karsjanor von weit her. »Wovor versteckt ihr euch? Kommt nur her, damit euch nichts entgeht. Ihr werdet euch wundern!«
6. Atlan nahm sich die Zeit, seine beiden seltsamen Gäste zu betrachten. Es war der Mühe wert. Gofruun, der sich als Bodenmagier be zeichnete, war ein kleinwüchsiger Humanoi de mit grauer Haut, zäh und dürr, und bis auf ein erdbraunes Tuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte, unbekleidet. Er war unglaublich häßlich. Sein Gesicht war voller Falten, Runzeln und Warzen, und sei ne giftgrünen Augen schienen tückisch zu glitzern. Aber auf dem Hinterkopf hatte er noch ein Gesicht. Es war unvollkommen, fast nur angedeutet, mit geschlossenen Au
Die Verräter von Oth gen. Es war ein schönes Gesicht, das mitun ter geheimnisvoll aufleuchtete. Die beiden Hälften des Kopfes wurden durch einen Kranz aus grellblauen, struppig abstehenden Haaren voneinander getrennt. Gofruun be zeichnete seinen Hinterkopf als sein »gutes« Gesicht. Er behauptete, mit den dort verbor genen Sinnen Hohlräume im Fels aufspüren zu können. Der Bodenmagier wirkte lebhaft, ein bißchen nervös, und er sprach schnell. Heix, den Gofruun als seinen Alterenkel bezeichnete, war in mancher Hinsicht das genaue Gegenteil des Bodenmagiers. Er war rund zwei Meter groß und unglaublich dick, hatte eine blaue Haut und überhaupt keine Haare, und seine winzigen, gelben Augen blickten ausgesprochen dümmlich in die Ge gend. Heix wirkte träge und gutmütig – ein Eindruck, der falsch war, wie Atlan schon nach wenigen Minuten herausfand. Denn wo man in Gofruun mit etwas gutem Willen noch Anzeichen für den berühmten guten Kern finden konnte, offenbarten sich bei Heix purer Egoismus, Streitsucht und – Ver fressenheit. Diese nahm Ausmaße an, daß der Arkonide sie als besondere Charakter schwäche einstufte. Und doch zeigte sich, daß man auch die sem Dicken ein paar gute Seiten abgewinnen konnte. Man mußte sich nur sehr dabei an strengen. Der erste Eindruck stürzte den Arkoniden in Verwirrung und Zweifel. Das waren Ma gier? Solche traurigen Gestalten schickte man als Gesandte in die FESTUNG? Er warf Thalia einen fragenden Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern. Sie kannte die beiden nicht. Aber Gofruun und Heix behaupteten, von Copasallior selbst den Auftrag erhalten zu haben, in die FESTUNG zu gehen, und At lan mußte ihnen wohl oder übel Glauben schenken. Er lud sie also ein, zu bleiben und seine Gäste zu sein, bis sie den langen Rück weg anzutreten wünschten. »Danke«, schnaufte Heix, kaum daß der Arkonide das letzte Wort über die Lippen gebracht hatte, und ließ sich in den bequem
33 sten Sessel fallen, den er erblicken konnte. Das Möbel ächzte unter dem Gewicht des Dicken. Heix erspähte die Reste einer Mahl zeit und griff blitzschnell zu. Ehe sich's einer versah, war alles aufgegessen, was sich noch auf Schalen und Tellern hatte finden lassen. Heix wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und lugte in alle Krüge hinein. Er fand nicht einmal einen Schluck Wasser. Träge drehte er sich herum und bemerkte, daß alle ihn ansahen. »Was ist los?« fragte er mürrisch. »Redet ruhig weiter, das stört mich nicht. Mich geht es ja auch nichts an. Gofruun, gib mir mei nen Becher!« Der Bodenmagier zerrte brummend den steinernen Becher aus den Falten des Len dentuchs und warf ihn Heix zu. Leider fing das Gefäß viel zu früh mit der Produktion von Eiswasser an. Diesmal war es Atlan, der einen kräftigen Guß abbekam. Heix fing sei nen Becher auf, stellte ihn gerade und ki cherte hämisch. »Vielen Dank!« sagte er dann übertrieben deutlich zu Gofruun. Der Bodenmagier war kurz vor einer Ex plosion angelangt, das konnte man mühelos erkennen, auch wenn man sich erst an seine Hautfarbe gewöhnen mußte. Heix verließ sich zu sehr darauf, daß Gofruun es in Ge genwart der neuen Herrscher von Pthor nicht wagen würde, Heix in der gebührenden Weise zu antworten. Atlan, der noch nicht wußte, was er über haupt sagen sollte, gewahrte Gofruun, der mit einem Hechtsprung durch die Luft segel te, um dem Dicken an die Gurgel zu fahren, und da machte der Arkonide einen Fehler. Er hatte noch nicht recht herausgefunden, wer von den beiden für den erwünschten friedlichen Kontakt mit den Magiern wichti ger war. Heix sagte so gut wie nichts, aber das mußte nicht bedeuten, daß Gofruun ihm überlegen war. Wie dem auch sein mochte – einen Streit dieser beiden seltsamen Männer wollte er verhindern. Er konnte, nebenbei bemerkt, nicht wissen, daß Gofruun weder Mann
34 noch Frau, sondern ein geschlechtsloses We sen war, das sich lediglich aus modischen Gründen dazu entschlossen hatte, einen mas kulinen Eindruck zu machen. Er fing Gofruun ab und hielt ihn fest, und da fast gleichzeitig Heix sich aus seinem Sessel schnellte, um dem Angriff des Bo denmagiers zu entgehen, landeten der Arko nide und Gofruun auf dem feisten Rücken des Dicken. Das war zu viel für den geplagten Alte renkel. Es machte ›Pling‹, und die staunen den Freunde des Arkoniden rieben sich die Augen, denn Atlan war samt den beiden Ma giern verschwunden. Der Becher lag auf dem Boden und bildete die Quelle eines munteren Bächleins, das sich zwischen Stuhlbeinen und Teppichkanten hindurch schlängelte. Razamon entsann sich seiner ersten Erleb nisse mit den Gästen aus Oth. Er hob hastig den Becher auf und stellte ihn sorgfältig hin. »Keine Angst«, sagte er dann. »Sie müs sen jeden Moment wieder bei uns eintref fen.« Wie auf ein Stichwort hörte man Gofruun vor der Tür schimpfen. »Du verdammter Narr!« schrie er und riß die Tür auf. Er stierte mit wilden Blicken nach drinnen, wirbelte herum und raste wie der davon. Atlan trat kopfschüttelnd ein, ließ sich in den Sessel fallen, aus dem es den Al terenkel gerade weggerissen hatte, und be trachtete mißtrauisch den seltsamen Besu cher. »Da steht uns noch einiges bevor«, mur melte er erschüttert. »Wo warst du?« fragte Razamon neugie rig. »Woher soll ich das wissen?« beschwerte sich der Arkonide. »Es gab einen Ruck, und dann hing ich in der Luft, und die beiden kreischten wie die Wahnsinnigen. Ich konn te kein Wort verstehen. Dann kam noch ein Ruck, und ich saß draußen auf dem Gang. Heix rannte weg, und Gofruun hinterher.« Razamon drehte sich wieder um und nick te grimmig.
Marianne Sydow »Ich bin gleich wieder da«, murmelte er. Er kehrte noch vor Gofruun und Heix zu rück und brachte einen gewaltigen Braten und drei Körbe Obst mit. Drei Dellos folgten ihm und schleppten schwere Krüge herein. »So«, sagte der ehemalige Berserker. »Hoffentlich überfrißt der Dicke sich daran so sehr, daß er für ein paar Tage das Bett hü ten muß.« »Was ist in den Krügen?« wollte Thalia wissen. »Kromyat«, antwortete Razamon. »Das sorgt für die nötige Bettschwere.« »Bringt das wieder weg und holt Was ser!« befahl die Tochter Odins den Dellos. Und zu Razamon sagte sie: »Bei dem Tem po merkt unser Gast sowieso nicht, was er da in sich hineingießt. Wein ist viel zu scha de für ihn.« Niemand konnte ahnen, was ihnen bevor gestanden hätte, wäre Thalia weniger hart mit dem Dicken umgesprungen. Nur Atlan bekam später einen kleinen Eindruck davon, was ein auch nur mäßig begabter Magier un ter Alkoholeinfluß alles anstellen konnte.
* Razamons Trick schien zu wirken. Heix saß kaum am Tisch, da gab er Ruhe. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, denn er stopfte sich den Mund so voll, daß er es aus rein praktischen Erwägungen her aus nicht wagen durfte, den Mund auch noch zum Sprechen zu öffnen. Atlan drehte sich um. Er konnte das nicht mitansehen. Man hätte annehmen sollen, daß Heix mindestens einmal pro Sekunde an einem Bissen er sticken mußte. Gofruun erfaßte ebenfalls die Gelegen heit, die ihm die erzwungene Schweigsam keit seines Alterenkels bot. In aller Eile er kundigte er sich nach all den Dingen, von denen er meinte, daß Copasallior darüber in formiert werden wollte. Er erfuhr vor allem, warum ganz Pthor immer wieder vibrierte und sich zu schütteln schien. Und damit war auch Atlan bei der Frage angelangt, die er
Die Verräter von Oth den Magiern schon seit langem hatte stellen wollen. »Wir treiben wahrscheinlich direkt auf die Schwarze Galaxis zu«, erklärte er. »Was uns dort erwartet, brauche ich dir wahrscheinlich nicht erst zu erklären – oder sind die Magier über das Ziel dieser Reise nicht informiert?« »Oh, doch«, antwortete Gofruun stolz. Razamon warf Atlan einen warnenden Blick zu. Konnte es sein, daß dieses aschen häutige Wesen die Schwarze Galaxis kann te? Wenn ja – war es ratsam, dieses Thema zu berühren? »Dann kannst du mir sicher auch einen Rat geben«, sagte der Arkonide diploma tisch. »Was können wir tun?« »Ihr solltet schleunigst den Kurs ändern«, erwiderte Gofruun prompt. »Und wenn wir das nicht können?« »Das wäre schlecht. Nicht nur für euch, obwohl – nun, ihr seid in der FESTUNG, und auch wenn ihr euch irgendwo versteckt, wird euch das nichts nützen. Man wird euch finden und euch bestrafen.« »Das ist uns allen klar. Aber, Gofruun, wir können mit der Steuerung dieses Landes nicht so gut umgehen. Wenn wir versuchen, den Kurs zu ändern, werden wir höchst wahrscheinlich den Tod finden. Und dann wird ganz Pthor vernichtet werden. Uns er wartet also der Tod, so oder so, und schlim mer …« »Man wird euch nicht töten!« Atlan starrte den Magier an. Als er seine Überraschung überwunden hatte, beugte er sich vor. »Was dann, Gofruun?« Der Bodenmagier setzte zum Sprechen an, dann senkte er resignierend den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Niemand weiß es, jedenfalls von denen, die hier auf Pthor leben und Auskunft geben könnten. Ich kann euch nur raten, alles zu versuchen, denn selbst der Tod ist besser als das, was die Bewohner dieses Landes in der Schwarzen Galaxis erwartet.« Atlan überlegte, wie er dem Magier trotz dem noch eine Information entlocken konn
35 te. Er sah zum erstenmal eine greifbare Chance, mehr über das Ziel zu erfahren, dem die Reisen dieses Landes dienten. Vergiß es, empfahl ihm sein Logiksektor. Er sagt die Wahrheit. Pthor ist seit so langer Zeit unterwegs, daß es sicher schon mehr mals an seinen Ausgangspunkt zurückkehren mußte. Wer immer das alles steuert, er war jedenfalls nicht daran interessiert, irgend welche Spuren zu hinterlassen. Entweder nahm man denen, die es miterlebten, jede Erinnerung an alles, was sie gesehen haben. Oder man gibt dem Land für jede Reise eine völlig neue Bevölkerung. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, dachte Atlan bedrückt. Ihm war plötzlich ei ne zunächst nebensächlich wirkende Bemer kung Thalias eingefallen. Bei ihrem ersten Zusammentreffen, am Beginn der Irrfahrt durch dieses Land, hatte sie erklärt, Orxeya wäre zur Zeit eine Stadt der Händler, und sie hatte hinzugefügt, daß ab und zu Völker spurlos verschwanden und andere an ihre Stelle traten. Pthor war eine geschlossene Lebensein heit, und warum sollte es nicht möglich sein, daß man hier, unter dem Wölbmantel, gar nichts von der Ankunft des Dimensionsfahr stuhls in der geheimnisvollen Schwarzen Galaxis merkte? Auch das ist möglich, gab der Extrasinn zu. Wenn auch etwas weniger wahrschein lich. Es paßt nicht ins Gesamtbild hinein. Atlan erkannte, daß diese Überlegungen ins Uferlose führten. »Eigentlich müßtet auch ihr Magier daran interessiert sein, ei nem solchen Schicksal zu entgehen«, wand te er sich wieder an Gofruun. »Ich versiche re dir, daß wir tatsächlich nichts tun können, um Pthor von seinem gegenwärtigen Kurs abzubringen. Wir brauchen jede Hilfe, egal, woher sie kommt. Es muß etwas geben, mit dem man die Richtung dieses Fluges beein flussen oder Pthor zum Sturz in irgendeine Dimension bewegen kann.« Gofruun nickte nachdenklich. Dieser Mann bediente sich fremd klingender Aus drücke, aber der Bodenmagier begriff unge
36 fähr, was Atlan meinte, und er gab ihm recht. Nur – wo lag der Schlüssel zur Macht? Wenn Atlan, der der neue König von Pthor sein wollte, es nicht wußte, wer sollte dann das Geheimnis kennen? »Wir haben zu wenig Zeit, um noch lange suchen zu können«, fuhr Atlan fort. »Von euch Magiern sagt man, daß ihr große Macht habt und viele Geheimnisse kennt. Wir brau chen eure Hilfe.« Der Bodenmagier nickte auch diesmal. »Ihr werdet uns also unterstützen?« fragte der Arkonide, ein wenig überrascht wegen des unerwartet schnellen Erfolgs. Gofruun leckte sich nervös die Lippen. »Nun«, sagte er, »warum sollten die Ma gier es unbedingt darauf anlegen, in die Schwarze Galaxis gebracht zu werden?« »Eine gute Frage.« Der Bodenmagier zuckte beim Klang von Razamons Stimme zusammen. Der ehemali ge Berserker stand dicht hinter dem Magier. Unsicher sah Gofruun Atlan an. Der Arkoni de kniff die Augen zusammen. Was wurde hier gespielt? Etwas stimmte ganz und gar nicht. »Du sagtest vorhin«, ließ Razamon sich wieder vernehmen, »dein gefräßiger Ver wandter hätte hilflose Magier bestohlen. Wann war das, Gofruun? Waren sie noch ohne Bewußtsein, als ihr losgezogen seid?« »Ja«, stotterte Gofruun verwirrt. »Natürlich, sie schliefen alle, außer Heix und mir.« »Und Copasallior? Wie konnte er dir einen Auftrag geben? Was ist in der Barriere los?« Gofruun schielte zu seinem Alterenkel hinüber. Heix kümmerte sich um nichts und niemanden. Der Bodenmagier riß sich zu sammen. Für kurze Zeit hatte er das Gefühl genossen, im Mittelpunkt zu stehen und Verantwortung zu tragen. Aber das war nicht die Rolle, die für ihn bestimmt war. Er war nicht berechtigt, Atlan irgendwelche Zusagen zu machen – und wenn er es wider besseres Wissen doch tat, so brachte er sich damit nur in Konflikt mit allen möglichen
Marianne Sydow Magiern. Er beschloß, die Sache zu bereinigen, und dies so schnell wie möglich. Er berichtete ausführlich genug, daß die anderen sich ein Bild von den Verhältnissen in der Großen Barriere machen konnten. Dann lehnte er sich aufatmend zurück. Er beobachtete Atlan und war sich dabei der Nähe des Berserkers unangenehm bewußt. Obwohl es schien, als wäre dieser Mann hier ganz friedlich, konnte Gofruun ein gewisses Mißtrauen nicht überwinden. »Copasallior ist also wach«, murmelte At lan nachdenklich. »Und eigentlich müßten mittlerweile auch die anderen Magier zu sich gekommen sein … Wir wissen, daß man von außen in die Barriere eindringen kann. Du kannst keine Entscheidung treffen, dein Alterenkel ist dazu noch weit weniger in der Lage. Hältst du es für sinnvoll, wenn wir mit dem Weltenmagier über die ganze Sache sprechen?« Gofruun nickte eifrig. »Diese Sprünge«, fuhr Atlan fort und deu tete mit dem Daumen auf Heix, der sich ge räuschvoll schmatzend über den ersten Obst korb hermachte – der Braten war bereits spurlos verschwunden. »Sie sind ungezielt, nicht wahr?« Gofruun war erstaunt. Dieser Fremde sprach über ein Phänomen, das in ganz Pthor tiefste Verwunderung hervorrufen mußte, als wäre Heix nicht durch das Nichts gereist, sondern statt dessen nur mal schnell über einen Bach gehüpft. Er konnte nicht wissen, daß Atlan seine erste Erfahrung mit dieser Art von Magie soeben mit den ihm bekann ten Fähigkeiten gewisser terranischer Mu tanten verglich. Der Arkonide hegte sogar den Verdacht, die ganze Magie könne sich auf so einfache Weise erklären lassen. »Dann sollten wir uns nicht ihm anver trauen, sondern besser einen Zugor benut zen«, entschied Atlan mit einem Blick auf Heix. Beunruhigt sah er, daß Gofruuns Alte renkel das frische Obst mit reichlich Wasser hinunterspülte. Hoffentlich kam kein Magier auf die Idee, Atlan verantwortlich dafür zu
Die Verräter von Oth machen, wenn dem Dicken diese Mahlzeit nicht bekam! »Oder besteht ein Verbot für Fremde, mit einem solchen Fahrzeug in das Gebirge einzudringen?« »Nicht daß ich wüßte«, murmelte Gofru un. Er überlegte angestrengt, konnte sich aber nicht daran erinnern, jemals von so ei nem Verbot gehört zu haben. Er hatte aller dings auch noch niemals einen Zugor in der Barriere von Oth gesehen. Da er jedoch den größten Teil seines Lebens in seinen Höhlen verbracht hatte, waren seine Erfahrungen auf diesem Gebiet spärlich. »Wir werden uns an die neutralen Straßen halten«, entschied er. »Dann kann uns nichts passieren. Sonst müssen wir durch mehrere Bezirke fliegen, und ich weiß nicht, wie wirksam die magischen Sperren inzwischen wieder sind. Du könntest Schaden nehmen.« »Zu rücksichtsvoll«, bemerkte Razamon. Atlan schüttelte verweisend den Kopf. Der ehemalige Berserker schien ihm diesmal zu mißtrauisch zu sein. Diese beiden seltsa men Gestalten meinten es sicher ehrlich. At lan konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, daß dies alles nur dem Zweck diente, ihn in eine Falle zu locken oder ihm einen anderen bösen Streich zu spielen. Genauer gesagt: Er hielt Gofruun und Heix nicht für intel ligent genug, um ein solches Täuschungsma növer konsequent durchzuführen. Wenig später startete er in Richtung Große Barriere von Oth. Gofruun und Heix nahm er mit. Der Alterenkel war durch die reichhaltige Mahlzeit ungewöhnlich fried lich gestimmt. Zwar wurde er ein paarmal durchscheinend und schien sich jeden Mo ment zu verflüchtigen, aber das hielt stets nur für kurze Zeit an. Leider kam es zu der artigen Zwischenfällen vorzugsweise dann, wenn Atlan die Gelegenheit nutzen wollte, sich mit eigenen Augen über die Verhältnis se an bestimmten Orten zu unterrichten. Er war dann gezwungen, sich auf Heix und die Steuerung des Zugors zu konzentrieren, denn in seiner flüchtigen Verfassung drohte der Alterenkel glatt davonzutreiben und au ßerhalb des Zugors zu materialisieren.
37 Atlan setzte zähneknirschend die Ge schwindigkeit herab und schwebte knapp über dem Boden dahin, bis die Gefahr je weils wieder für eine Weile gebannt war. Auch der verflixte Becher machte sich immer wieder bemerkbar, und Atlan wußte nie so recht, ob die mehrfachen kalten Du schen wirklich ein Werk des Zufalls waren, oder ob Heix nicht aus purer Bosheit seine beiden Reisegefährten immer aufs Neue mit dem Trinkgefäß kollidieren ließ. Gofruuns besorgte Mahnungen zu mehr Vorsicht blie ben ebenso unbeachtet wie einige Wutaus brüche des Bodenmagiers. Atlan blieb still. Er war fest entschlossen, auch diese Probe zu überstehen – falls es sich um einen Test der Magier handelte. Allmählich traute er diesen merkwürdigen Leuten so ziemlich al les zu. Der Himmel über Pthor veränderte sich in der ganzen Zeit nicht, und man konnte in der Dämmerung und bei dem eintönigen Rau schen leicht jedes Zeitgefühl verlieren. Selbst an das ferne Donnern und Schütteln, von dem diese Höllenfahrt eines ganzen Landes begleitet wurde, hatte der Arkonide sich inzwischen gewöhnt. Ein paarmal er tappte er sich dabei, daß er auf dem Instru mentenblock der Flugschale fast eingenickt wäre. Er atmete heimlich auf, als sich die schroffen Hänge der nördlichen Berge von Oth vor ihm aus dem grauen Dunst schälten. Wenigstens hatte er jetzt die Aussicht, bald von dem Alterenkel des Bodenmagiers befreit zu werden. Sein Bedarf an kalten Bä dern war fürs erste gedeckt. Gofruun wies ihm den Weg. Schon nach wenigen Minuten hatte Atlan keine Zeit mehr, sich wegen Heix zu ärgern oder über haupt seinen Gedanken nachzugehen. Es war dem Arkoniden ein Rätsel, wie es dem Bodenmagier gelungen sein mochte, sich so genau zu orientieren. Jedenfalls er reichten sie die Barriere nach seinen Aussa gen fast genau nördlich des Berges Gnorden. Atlan steuerte nach rechts, also nach We sten, und tatsächlich sah er ein paar Minuten später eine regelrechte Straße, die unvermit
38 telt im spärlichen Gras begann und sich zwi schen ein paar Felsnadeln hindurchwand. »Da hinein«, kommandierte Gofruun. Und zu Heix sagte er: »Wenn es dich wieder davonreißt, paß gefälligst auf, woran du ge rade denkst. Der Skatha-Hir ist nahe.« Die Straße war etwa sechs Meter breit und führte meistens zwischen steilen Wän den hindurch, so daß Atlan von den viel zi tierten magischen Bezirken fast nichts zu se hen bekam. Ein paarmal glaubte er, oben, am Rand der Schlucht, auf deren Grund der Zugor dahinschwebte, Wesen zu sehen, die ihn beobachteten. Wenn er genauer hinsah, war nur ein seltsam geformter Felsen zu se hen. Es war sehr still. Auf dem ersten Stück der Straße begegneten ihnen weder Tiere noch Magier. Dann plötzlich wichen die Felsen zurück, und Atlan hielt den Zugor unwillkürlich an. Die Straße führte in ein weites Tal hinab. Bewaldete Hügel, Wiesen, Wasserläufe – ein ungewohnt friedliches Bild, wenn man bedachte, was sich in der letzten Zeit in Pthor alles abgespielt hatte. »Da vorne ist der Weg, der zum Crallion führt«, sagte Gofruun leise. Die Nebelschwaden tauchten auch hier al les in einförmiges Grau. Von dem Berg, der – nach der Landkarte zu urteilen – beein druckend hoch sein mußte, war kaum etwas zu erkennen. Aber der Arkonide sagte sich, daß dies ein beeindruckendes Bild sein muß te, wenn erst wieder eine Sonne durch den Wölbmantel herabstrahlte. Ohne Vorwarnung erschien ein giganti sches Gerippe neben der Straße, das Kno chengerüst eines ausgewachsenen Sauriers, und das Ding beugte sich mit klappernden Rippen herab und sperrte knirschend die Kieferknochen auseinander. »Hilfe!« kreischte Heix. »Beim Mo …« Und dann war der Alterenkel verschwun den, und was er hatte sagen wollen, beka men weder Atlan noch Gofruun zu hören. Oben auf dem Saurierschädel kicherte es höhnisch. Atlan sah hin und entdeckte einen Mann, der so spindeldürr war, daß neben
Marianne Sydow ihm selbst Gofruun noch wohlbeleibt wirken mochte. »Dachtet ihr, ich würde eure Spuren nicht zu deuten verstehen?« knarrte der Dürre, und Gofruun duckte sich an den Rand des Zugors und starrte wie hypnotisiert auf das Knochenmaul des wandelnden Skeletts. »Nun, ich sehe, du hast Besuch mitgebracht, Gofruun. Das trifft sich gut. Unsere Abrech nung können wir wohl ein wenig verschie ben!« Atlan blinzelte erstaunt, als das Gerippe zischend zusammenschrumpfte. Es sah aus, als hätte man den Stöpsel aus einem aufge blasenen Gummitier gezogen. Der Dürre blieb ungerührt auf dem zum Boden sinken den Schädel sitzen, bis er mühelos herabstei gen konnte. Danach versank das Gerippe scheinbar im felsigen Boden. Der fremde Magier sprang mühelos die etwa fünf Meter hoch, die die Bordwand des Zugors vom Bo den trennten, zog sich in das Fahrzeug hin ein und sah sich neugierig um. »Du kommst aus der FESTUNG, eh?« fragte er Atlan. Der Arkonide runzelte die Stirn. Dafür, daß sie aus dem Mund eines Pthorers kam, klang diese Frage bemerkenswert respektlos. »Ja«, antwortete er knapp. »Aha«, sagte der Fremde. »Und was willst du in der Barriere von Oth?« Jetzt endlich wurde Gofruun munter. Die ser Knochenmagier stand im Rang knapp über ihm, nicht weit genug, um sich dem neuen Herrscher von Pthor gegenüber derart unverschämt zu verhalten. Abgesehen davon betrachtete Gofruun Atlan als seinen Schütz ling, und er würde ihn gegen alles verteidi gen, was andere Magier zu tun gedachten – solange sich nicht gerade die Mächtigen mit dem Arkoniden zu befassen geruhten. Wo kam man denn hin, wenn Narren wie dieser Fesler sich ungestraft solche Frech heiten herausnahmen! »Verschwinde!« fauchte Gofruun den Knochenmagier an. »Oha!« machte der Dürre amüsiert. »Ein Dieb – und dann so unbedacht in seinen Re
Die Verräter von Oth den?« Aber Gofruun achtete nicht auf ihn, son dern ergriff ihn bei den Armen und warf Fesler kurzerhand über Bord. Atlan sprang erschrocken hinzu, kam jedoch zu spät. Im übrigen hätte er sich nicht zu beeilen brau chen – der Knochenmagier landete wohlbe halten auf dem Boden. Er war gewandter als eine Katze. Drohend schwang er die Faust. »Weiter!« befahl Gofruun mit zusammen gebissenen Zähnen. Als der Zugor sich in Bewegung setzte, tauchte gerade wieder ein Gerippe jenseits der niedrigen Büsche auf, die den Rand der Straße säumten. Aber das Knochenwesen konnte offenbar den Zugor nicht erreichen. Gofruun lachte schadenfroh. »Die neutralen Straßen halten«, sagte er vergnügt. Dann drehte er sich um – und At lan stellte erstaunt fest, daß Heix wieder auf seinem Platz saß. Der Dicke hatte die Augen geschlossen. Es war kaum zu glauben, daß er gerade einen seiner unfreiwilligen Ausflü ge hinter sich hatte. Sie erreichten eine andere Straße, und Go fruun flüsterte Atlan ins Ohr: »Wenn dieser Anzug das ist, wonach er aussieht, solltest du jetzt allmählich anfan gen, die komischen Spangen und Haken zu schließen – du wirst es vielleicht nötig ha ben!« Er meinte das Goldene Vlies. Atlan folgte seinem Rat, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wieso er solche Vorsicht üben sollte, wenn doch Copasallior offenbar nur darauf wartete, mit den neuen Bewohnern der FE STUNG ins Gespräch zu kommen. Keine Minute später verstellte eine seltsa me Abordnung den Weg, der hier zum Cral lion abbog. Atlan hielt den Zugor an und wartete gespannt.
7. Gofruun hatte schon gespürt, daß etwas sich verändert hatte, als sie noch am Rand der Barriere entlangflogen. Er hatte nur nicht recht gewußt, was er von der Sache
39 halten sollte. Lag es daran, daß die Magier aus einer Betäubung erwachten, wie sie sie noch niemals erlebt hatten? Oder schliefen noch zu viele von denen, die in den umlie genden Bergen hausten? Sie drangen am unteren Westhang des Gnorden in die Barriere ein. Hier gab es einen Zugang zu den mittleren Tälern, und der Weg erschien dem Bodenmagier siche rer, als wenn sie über der Schlucht am Cral lion entlanggeschwebt wären. Glyndiszorn war ein Magier, vor dem Go fruun großen Respekt empfand. Immer wenn er seine Höhlen verließ, spürte er die Anwe senheit des Knotenmagiers, und er hatte sich daran gewöhnt. Es war beruhigend, mächti ge Nachbarn zu haben. Wenn es auch den Knotenmagier wohl kaum interessierte, was mit Gofruun geschah, so war Glyndiszorn doch darauf bedacht, daß in den Nachbarre vieren Ruhe herrschte, und das hielt Gofru un für eine Art von Versicherung gegen Be lästigungen aller Art. Und jetzt war er Glyndiszorn näher als je zuvor, und er spürte überhaupt nichts! Zunächst dachte er, daß der Knotenmagier eben noch sanft und tief schliefe, dann über legte er, daß Glyndiszorn ebensogut seinen rätselhaften Tätigkeiten nachgehen könne. Aber dann kamen sie an eine Stelle, an der die unsichtbare magische Grenze bis an die Straße heranreichte. Atlan sah und merkte nichts – es gab keine Markierungen der übli chen Art, und die entsprechenden Sinne, Glyndiszorns Sperren zu erfühlen, fehlten dem Arkoniden selbstverständlich. So geriet der Zugor für Sekunden zur Hälfte über die Grenze hinweg, und Gofruun, der gerade ei ne Warnung rufen wollte, hielt überrascht den Mund. Die Sperren waren praktisch nicht mehr vorhanden. Von jetzt an achtete er genauer auf das, was ihm die allgegenwärtigen magischen Strömungen zutrugen. Er fühlte, daß auch andere Bezirke verwaist waren. Noch immer schloß er die Möglichkeit nicht aus, daß eben doch der VONTHARA im Tal der
40 Schneeblume gewisse Besonderheiten auf wies. Aber sollten diese darin bestehen, daß gerade eine ganz bestimmte Kategorie von Magiern länger als normal zur Starre ver dammt waren? Da tauchte Fesler auf. Gofruun hatte ihn niemals leiden können. Fesler erweckte uralte Gebeine zu gespensti schem Leben, Gofruun befaßte sich mit ei ner speziellen Sorte von Plasma – beides ge hörte zu der geachteten Disziplin der Le bensmagie. Gofruun hielt Feslers Kunst für widerwärtig und überflüssig. Sein Plasma produzierte immerhin Nektarknollen, ver mochte trinkbares Wasser aus dem Fels zu saugen und versorgte Gofruun und Heix mit Wärme, frischer Luft und vielem anderen – was waren dagegen ein paar wandelnde Ge rippe, die nichts weiter fertig brachten, als laut mit den Knochen zu rasseln? Trotzdem stand Fesler im Rang über Gofruun. Und das ärgerte den Bodenmagier. Ausgerechnet Fesler also war wach! Gofruun begann etwas zu ahnen, und das war so ungeheuerlich, daß er gar nicht erst wagte, darüber zu sprechen. Nach dem er sten Schrecken wurde ihm zu allem Über fluß bewußt, wen er da in die Barriere mit brachte. Dieser seltsame, goldschimmernde Anzug … Gofruun kannte die Gerüchte und Ge schichten der Magier, und da hatte sich im Lauf der Zeit vieles angesammelt – und noch mehr verzerrt. Trotzdem. Der Boden magier haßte Risiken. Für den Fall, daß die ser Atlan sich als so mächtig erwies, wie man es eigentlich vom neuen Herrn der FE STUNG erwartete, warnte er ihn. Er bat At lan, den Anzug zu schließen. Und der Arko nide gehorchte. Wenn er den weiteren Inhalt der Warnung nicht verstand, war das Gofru uns Schuld? Heix saß ganz still da, mit düsterer Miene, und manchmal glitzerte es in den winzigen Äuglein. Gofruun hatte genug zu tun, Atlan und seinen Alterenkel im Auge zu behalten. Er fürchtete, Heix könne ausgerechnet jetzt
Marianne Sydow eine seiner tiefsinnigen Bemerkungen vom Stapel lassen, bei denen man sich niemals des Eindrucks erwehren konnte, daß der Al terenkel auf seine Weise den Dingen direkt auf den Grund ging. In dieser kurzen Frist, die ihm noch blieb, focht Gofruun einen Kampf mit sich selbst aus. Als er Jarsynthia und die anderen auf der Straße stehen sah, hatte er seine Entschei dung getroffen. Was auch geschah, und wie sehr sich die Lage in diesen Bergen auch verändert haben mochte – er würde sich und Heix aus allem heraushalten. Er redete sich ein, daß er vor allem Zeit gewinnen müsse. Wem nützte es, wenn er sich Hals über Kopf auf die falsche Seite schlug? Da standen Jarsynthias Ver bündete, und Gofruun kannte ihre Namen und ihre Bedeutung nur zu gut. Stumm war tete er, bis Atlan den Zugor auf der Straße anhielt. Er gab Heix verstohlen ein Zeichen. Der Alterenkel nickte kaum sichtbar.
* Atlan wußte nicht viel über die Magier. Aber daß Copasallior nicht bei dieser Grup pe war, sah selbst er. Thalia hatte ihm er zählt, der Weltenmagier habe sechs Arme. Da die Magier keine Anstalten trafen, dem Arkoniden entgegenzugehen oder auch nur das Wort an ihn zu richten, blieb Atlan kurzerhand auf der Bordwand des Zugors sitzen. Die Sturheit dieser Leute ärgerte ihn. Er brauchte ihre Hilfe. Aber er hatte nicht die Absicht, auf den Knien um Unterstüt zung zu betteln. Nach Thalias Schilderung hatte er außerdem angenommen, die Magier wären bisweilen sonderbare, im Kern aber durchaus vernünftige Leute. Die sechs da vorne verströmten eine kaum erträgliche Arroganz. Er wartete. Die Magier rührten sich nicht. Er beobachtete sie unter halb gesenkten Au genlidern. Alle sechs waren humanoid. In der Mitte standen eine atemberaubend schöne Frau und ein uralter, fast zwergenhafter Mann.
Die Verräter von Oth Dann gab es noch eine Frau, die aber die Statur eines fettleibigen Riesen aufzuweisen hatte und ihren kolossalen Körper in ein hemdartiges Gewand aus Federn gehüllt hat te. Zwischen den Federn blitzten zahllose kleine, scharfe Messer. Neben ihr stand ein junger Mann, fast noch ein Kind, wie es schien – Atlan erinnerte sich plötzlich an ei ne Begebenheit, die Thalia ihm geschildert hatte. Er hätte wetten mögen, daß dies dort Karsjanor war, der Kristallmagier. Auf der anderen Seite lümmelte sich ein grob schlächtiger Mann mittleren Alters neben dem Alten auf einem Bündel aus Fellen. Das wirkte besonders merkwürdig, da keiner der anderen Magier irgendein Gepäckstück bei sich hatte. Der sechste der Gruppe schließ lich war untersetzt und breit gebaut und hat te rotes Haar und einen geflochtenen Bart. Er sah aus wie ein typischer Händler aus Or xeya. »Wer schickt dich?« fragte endlich die Frau in der Mitte. »Niemand«, antwortete Atlan lakonisch. »Wer bist du?« »Mein Name ist Atlan.« Die Frau schien überrascht zu sein. Sie warf ihren Begleitern blitzschnelle und – wie es dem Arkoniden schien – warnende Blicke zu. »Atlan«, wiederholte sie gedehnt. »Nun, ich nehme an, du überbringst eine Botschaft für die Magier von Oth?« »Allerdings.« »So sprich. Ich höre.« »Ich nahm nicht an, daß du taub seist«, er widerte Atlan friedfertig. »Nur fürchte ich, daß meine Botschaft die falschen Ohren er reichen könnte. Ich suche den Weltenmagier Copasallior.« Er behielt die Magierin im Auge. Er sah, wie sie zusammenzuckte, als er seinen ver steckten Verdacht äußerte, und wie ihre Au gen gefährlich aufflammten. Aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt, und als der Arkonide von Copasallior sprach, glitt ein höhnisches Lächeln über ihr Gesicht. Das sah nicht schön aus. Es paßte nicht zu dem
41 glänzenden Äußeren dieser Fremden. »Du wirst vergeblich suchen«, sagte sie, und verhaltener Triumph schwang in ihrer Stimme. »Copasallior verlor inzwischen sei ne Stimme im Rat der Magier. Ich habe sei nen Platz eingenommen.« »Dann bitte ich dich«, sagte Atlan über aus höflich, blieb aber immer noch unge rührt auf dem Rand des Zugors sitzen, »mir deinen Namen zu nennen damit ich meinen Freunden in der FESTUNG von diesen Ver änderungen berichten kann.« Sie schien ihm für einen Augenblick unsi cher zu sein. Warum? Durchschaute sie ihn, spürte sie, daß seine Freundlichkeit gespielt war? »Ich bin Jarsynthia«, sagte sie nach kurz em Zögern. »Und jetzt laß mich die Bot schaft aus der FESTUNG hören.« »Hier? An diesem Ort, mitten auf der Straße?« »Wir sind keine Sterblichen, Fremder«, antwortete sie hochfahrend. »Uns belauscht niemand. Wir sind die Herren von Oth. Sprich! Ich habe wenig Zeit!« Atlan hütete sich, sich nach Gofruun und Heix umzusehen, obwohl er für sein Leben gerne gesehen hätte, was für Gesichter die beiden machten. Er brauchte nicht einmal die Stimme seines Extrasinns. Man konnte förmlich riechen, daß etwas nicht stimmte. Was war los? Warum galt Copasallior plötzlich nichts mehr, nachdem er sich doch auch den Söhnen Odins als der Wortführer der Magier zu erkennen gegeben hatte? ›Wir sind keine Sterblichen‹ – nun, der Arkonide hatte immerhin auch ein langes Leben hinter sich. Es war nur fraglich, wie er seine reichen Erfahrungen auf diese selt same Situation anwenden sollte. Mit Magi ern hatte er noch niemals etwas zu tun ge habt. Er konnte sich darauf versteifen, Copasal lior wenigstens sehen zu wollen. Aber wenn der Weltenmagier wirklich wegen irgend welcher Fehler, die er begangen hatte, abge setzt worden war, so verscherzte Atlan sich mit seiner Sturheit womöglich das Wohl
42 wollen der anderen. Er kam zu dem Schluß, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als Jar synthia als das zu nehmen, was zu sein sie behauptete – wenigstens vorerst, bis er mehr über die Verhältnisse in der Großen Barriere wußte. Vielleicht trog ihn seine Ahnung tat sächlich nicht, und es hatte einen Aufstand unter den Magiern gegeben. Was aber ging ihn das an? Er wußte zu wenig über das, was Copasallior und die anderen zu treiben pflegten. Er brauchte Hilfe bei der Suche nach ei ner Möglichkeit, den Dimensionsfahrstuhl namens Pthor anzuhalten oder in einen neuen Kurs zu zwingen. Alles andere war ne bensächlich – dachte er. Er machte sich also daran, diesen sechs Fremden das Problem zu erklären. Anfangs war er nicht sehr zuversichtlich, aber es schien, als wüßten die Magier recht gut, wo von er sprach und warum es mit der Steue rung Pthors überhaupt Probleme gab. Daß die Magier auffallend gut informiert waren, begriff er spätestens dann, als der kleine Al te mit dem wehenden Gewand plötzlich fragte, warum eigentlich der Steuermann noch immer nicht fähig sei, seinen Aufgaben nachzukommen. Dem Arkoniden verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Woher wußte die ser Mann eigentlich, daß mit dem Steuer mann etwas nicht stimmte? Der Fremde, er nannte sich Wortz, hielt Atlans Schweigen anscheinend für ein Zei chen von Unwissenheit. Er bewies noch ganz andere Kenntnisse, indem er blitz schnell und konzentriert zusammenfaßte, wie es zum Ausfall des Steuermanns gekom men sei und was dieses rätselhafte Wesen inzwischen getan hatte. Atlan sah den Zwerg nachdenklich an. »Das Befinden des Steuermanns hat sich gebessert«, sagte er. »Wir hoffen, daß er bald wieder seine Arbeit aufnehmen kann. Aber wir wissen nicht, ob uns noch Zeit bleibt, darauf zu warten.« Wortz lächelte kalt. »Da ihr euch vor der Schwarzen Galaxis
Marianne Sydow fürchtet«, sagte Jarsynthia, »habt ihr euch si cher schon überlegt, wohin ihr Pthor steuern werdet – falls es euch gelingen sollte, die Kontrolle zu erlangen.« Etwas warnte den Arkoniden. Mißtrauisch musterte er die sechs Magier. Sie gefielen ihm nicht. Es lag etwas in ihren Blicken und in ihren Stimmen, etwas – er zögerte, dann formulierte er den Gedanken doch: etwas Böses. Er schalt sich einen Narren. Das da waren keine Arkoniden oder Ter raner, denen er die Gefühle an den Augen ablesen konnte. Woher auch immer die Ma gier nach Oth gekommen sein mochten, At lan war sich sicher, Leute dieser Art nie zu vor gesehen zu haben. Sie waren äußerlich durchaus den Menschen ähnlich. Trotzdem mußte er sie so behandeln, als wären sie völ lig unbekannte, fremdartige Lebewesen. Und das bedeutete, daß er sich nicht auf un bewußte Vorurteile stützen durfte. Er rief sich selbst zur Vernunft und bemühte sich, die gefühlsmäßige Abneigung den Magiern gegenüber zu unterdrücken. »Mein Ziel ist es«, sagte er langsam, »Pthor zu einem Werkzeug des Friedens zu machen. Sobald das Land unter meiner Kon trolle steht, soll es nicht mehr der Vernich tung intelligenten Lebens dienen, sondern denen Hilfe bringen, die in der Vergangen heit durch die Horden der Nacht und die un menschlichen Befehle der Herren der FE STUNG unermeßliches Leid erdulden muß ten.« »Was für ein Ziel!« sagte der blonde Jun ge verwundert. Atlan hörte den spöttischen Unterton in der Stimme des Kristallmagiers. »Wie willst du diesen Plan in die Tat um setzen?« erkundigte sich Jarsynthia. »Pthor ist selbst in einem erbärmlichen Zustand. Das Land braucht erst einmal selbst viel Ru he und Zeit, sich zu erholen, ehe es anderen Welten Hilfe bringen kann. Aber auch wenn es dir gelingt, Frieden zwischen den Völkern von Pthor zu stiften – denen jenseits des Wölbmantels ist damit noch längst nicht ge
Die Verräter von Oth holfen. Wie willst du ganze Welten heilen? Weißt du überhaupt, welche Spuren Pthor hinterläßt?« Atlan dachte an die Erde und die gewalti gen Schutzschirme, die die Katastrophe ver hindert hatten. Und dann erinnerte er sich an die Horden der Nacht, die vom Wasser des Dämmersees zu unermeßlicher Mordgier an gestachelt wurden, an die Berserker, die schon einmal vor langer Zeit über Terra her gefallen waren und sich in Sagen und Mär chen über Jahrtausende hinweg in der Erin nerung der Menschen hatten halten können … Aber er war kein Pthorer, der sein Leben unter dem Wölbmantel verbracht hatte, son dern ein unsterblicher Arkonide, der schon gelernt hatte, in planetaren Maßstäben zu denken, als Razamon noch der Familie Knyr angehörte. »Ich werde mein Ziel erreichen«, sagte er ruhig. »Vielleicht nicht im ersten Anlauf, aber das macht nichts. Natürlich brauche ich Hilfe, und der erste Schritt zur Verwirkli chung meines Planes muß es nun einmal sein, Pthor abzubremsen und dem direkten Zugriff der Beherrscher der Schwarzen Ga laxis zu entziehen.« »Das sagtest du schon«, murmelte Jarsyn thia und musterte Atlan kalt. Sie drehte sich um und deutete auf einen Felsen. Wie an einem unsichtbaren Zügel gezogen, trabte ein Yassel auf die Straße und hielt vor Jarsynthia an. Die Magierin be rührte den Hals des Tieres, und Atlan sah winzige blaue Lichtfunken, die auf das wei ße Fell des Yassels übersprangen. »Lunnater«, wandte sie sich an den Ma gier auf dem Fellbündel. »Der rechte Au genblick ist jetzt gekommen. Du kannst dei nen Auftrag erfüllen. Dieses Tier wird dich durch ganz Pthor tragen, und es wird nicht anhalten, ehe die Nachricht nicht jeden Be wohner dieses Landes erreicht hat.« Sie holte tief Luft. »Und dies ist die Botschaft, die du ver breiten sollst: Der Lebensmagier Wortz ist der neue König von Pthor, und die Liebes
43 magierin Jarsynthia seine Königin. Die Ma gier von Oth treten das Erbe der Herren der FESTUNG an.« Sie hatte Atlan genau beobachtet. Jetzt wartete sie auf seine Reaktion. Aber der Ar konide schwieg, und die Blicke der Liebes magierin erwiderte er scheinbar gelassen. Jarsynthia lächelte kalt. »Mehr«, sagte sie nüchtern, »brauchst du den Pthorern nicht zu verkünden, Lunnater. Jeder da draußen wird erkennen, daß jeder Widerstand zwecklos ist. Dieser Mann be hauptet, Odin hätte ihn zum Herrscher ge macht – aber wie wir alle gehört haben, ist der Fremde überhaupt nicht fähig, die Ge schicke der Pthorer zu lenken. Er hat selbst zugegeben, daß er nicht einmal das Geheim nis der FESTUNG kennt und Pthor zu steu ern versteht.« Atlan schwieg immer noch. Er beobachte te nur. Es entging ihm nicht, daß Wortz für einen Augenblick höhnisch lächelte, als Jar synthia vom Geheimnis der FESTUNG sprach, und er zog seine eigenen Schlüsse daraus. Zweifellos waren sich selbst diese Magier untereinander nicht so einig, wie sie gerne scheinen mochten. Zweifellos würde jeder für sich die Macht beanspruchen. Es mußte triftige Gründe geben, die sie zwan gen, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Sobald die Magier jedoch die dringlich sten Probleme gelöst hätten, würden sie ein ander in die Haare geraten. Atlan stellte sich lieber nicht vor, welche Folgen das für die Bewohner von Pthor haben mochte. Es galt für ihn jedoch noch eines zu er kunden: Was gedachten die Magier um Jar synthia und Wortz mit Pthor zu tun? Seinen Kurs mußten sie auf jeden Fall än dern, denn ihre Herrschaft mußte denen in der Schwarzen Galaxis zwangsläufig ein Dorn im Auge sein. Es war also zu erwarten, daß die Magier in die FESTUNG kamen, um sich mit der Steuerung zu befassen. Aber was geschah danach? Welche Art von Herr schaft gedachten sie zu errichten? »Es macht mir nicht viel aus, die Macht an euch abzutreten«, sagte er daher. »Wie
44 ihr wißt, bin ich ein Fremder in diesem Land, und früher oder später werde ich einen Weg finden, der mich in meine Heimat zu rückführt, ich werde euch keine Steine in den Weg rollen – vorausgesetzt, ich kann si chergehen, daß ihr nicht neues Unglück über Pthor und viele andere Welten bringt.« Jarsynthia kicherte, und Karsjanor be trachtete Atlan mit mildem Erstaunen. »Ihr Sterblichen liebt leere Worte«, mur melte Wortz spöttisch. »Deine Pläne, Frem der, sind naiv und lächerlich. Wiedergutma chung! Das hört sich so schön an, nicht wahr! Ich will dir etwas verraten: Es gab auch bei uns Narren, die solches Geschwätz von sich gaben. Ihre Zeit ist abgelaufen, und du wirst ihr Schicksal teilen, samt deinen seltsamen Freunden, wenn ihr euch nicht schleunigst darauf besinnt, daß ihr nicht mehr als niederes Gewürm seid. Du willst Sicherheit – hier hast du sie!« Atlan zuckte zusammen, als ein flammender Blick aus den uralten Augen ihn traf. Er hörte hinter sich Heix erschrocken quiet schen, und für einen Augenblick schien es, als geriete der Zugor aus dem Gleichge wicht. Dann taumelte Wortz, nur für eine Sekunde. Als der Greis sich wieder gefan gen hatte, stand in seinem Gesicht blanker Haß. »Kehre in die FESTUNG zurück!« befahl er. Seine Stimme war ein wenig schriller ge worden. »Sag deinen Freunden, daß du dei ne Träume begraben wirst. Ihr alle habt eine Woche Zeit. Dann kommen wir und nehmen uns, was uns gehört. Wir sind die Mächtigen in Pthor, und das sind keine leeren Worte. Es wäre gut für dich, mir zu glauben.« Er wirbelte ungeduldig herum und deutete mit beiden Händen auf das Yassel. Das Tier flog förmlich davon, und Lunnater, der neu gierig und gebannt zugehört hatte, wurde fast aus dem Sattel geschleudert. Atlan meinte, in Haltung und Bewegungen des Le bensmagiers eine unvorstellbare Wut erken nen zu können, aber im nächsten Augen blick war Wortz verschwunden, so spurlos, als hätte der Boden ihn verschluckt – und
Marianne Sydow sogar unauffälliger, als es einem Teleporter möglich gewesen wäre. Er sah die Liebesmagierin an, denn er er wartete, daß sie auch noch etwas zu sagen hatte. Er hatte sich nicht geirrt. »Du hast die Botschaft vernommen«, sag te sie nachdenklich. Sie musterte Atlan. Der Arkonide fand in ihren Augen etwas, das ihn abstieß und gleichzeitig in ihren Bann zu schlagen drohte. Er runzelte die Stirn – da war die Faszination bereits verflogen. Er mußte plötzlich daran denken, wie sie sich bezeichnet hatte. Liebesmagierin. Nun, fand er, weit konnte es mit den vielgerühmten magischen Fähigkeiten nicht her sein. Sonst wäre es doch wohl diesen Leuten längst ge lungen, ihn hier, in ihrem eigenen Reich, das Gruseln zu lehren. Bisher war er nur mäßig beeindruckt. Er nahm aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung wahr. Instinktiv ließ er sich fallen. Etwas zwitscherte dicht an ihm vorbei und schlug in den Boden ein. »Laß das!« rief Jarsynthia wütend. Atlan blickte vorsichtig unter den Armen hervor, die er schützend vor sein Gesicht gehoben hatte. Da stand Karsjanor, eine dünne, fun kelnde Schnur in der Hand. »Willst du ihn wirklich gehen lassen?« fragte der Kristallmagier erstaunt. Jarsynthia zögerte, dann lachte sie. Atlan bekam eine Gänsehaut, und gleichzeitig wußte er, daß ihn in diesem Fall der erste Eindruck nicht getäuscht hatte. Hatte Jarsynthia sich bisher hinter ihrer Schönheit noch notdürftig verbergen kön nen, so verriet sie sich mit diesem Gelächter. Es lag so viel Bosheit darin, daß es den Ar koniden schauderte. »Narr!« sagte sie schließlich, und sie schi en Karsjanor und Atlan gleichzeitig damit zu meinen. »Was ist schon Macht, wenn sie ei nem in den Schoß fällt? Laß ihn in die FE STUNG gehen. Die Art seiner Träume ken ne ich nur zu gut, er wird sich nicht so schnell von ihnen trennen wollen. Er und seine Freunde werden eine Woche verbrin
Die Verräter von Oth gen, die voller Ängste steckt – vielleicht ist das heilsam.« Sie sah Atlan an und lachte wieder, und der Arkonide glaubte plötzlich, etwas vom Wesen dieser Magier erfaßt zu haben. Er versteifte sich innerlich. Was auch geschah – er würde alles tun, um Pthor vor der Herr schaft dieser Wesen zu bewahren. Wenn Jar synthia und Wortz in die FESTUNG zogen, so würde bald der Zeitpunkt gekommen sein, an dem sich die leidgewohnten Bewoh ner des Landes die alten Herren zurück wünschten. Auch die Magier konnten nicht gänzlich unverwundbar sein, und ihrer Macht waren Grenzen gesetzt. Oder irrte er sich? Jarsynthia löste sich mitten in ihrem Ge lächter auf und war verschwunden wie zuvor der Lebensmagier, und die drei, die jetzt noch da waren, musterten Atlan voll heimli chem Vergnügen. Dann wandten sie sich ab und waren Augenblicke später hinter Bü schen und Felsen verschwunden. Atlan drehte sich langsam um. Er erstarr te. Der Zugor war leer. »Gofruun?« rief er. Niemand antwortete. Dafür sah er etwas glitzern, dicht neben dem Zugor, und er erinnerte sich an Karsja nors Angriff – oder war auch das nur ein Spiel gewesen, ein Versuch, den Fremden zu beeindrucken? Er bückte sich und strich mit der Hand über den Boden. Unter den Fingern spürte er unzählige scharfkantige Kristalle, die sich bröckelnd zu Staub auflösten. Atlan nickte nachdenklich. Das war also die Wirkung ei ner magischen Waffe. Nicht außergewöhn lich, wie es den technisch unbedarften Ptho rern scheinen mochte. Aber dafür hatte Karsjanor ja auch keinen besonderen Auf wand treiben müssen, und ob dieser Kristal lisationsprozeß mit Hilfe einer komplizierten Energiewaffe oder einer glitzernden Schnur bewirkt wurde, konnte dem, der einem sol chen Angriff zum Opfer fiel, ziemlich egal sein. Atlan kletterte in den Zugor und kehrte
45 auf die Straße, die Gofruun ihm gezeigt hat te, zurück. Als die Berge hinter ihm zurück blieben, stellte er fest, daß Jarsynthias Bote sein Handwerk verstand. Leuchtende Wolken bildeten sich über dem Land. Erst bei genauerem Hinsehen er kannte Atlan, daß diese Flächen nur deshalb so hell erschienen, weil dunkle Rauchstrei fen sie gegen die Nebelschwaden abgrenz ten. Und darin erschienen in den seltsamen Schriftzeichen von Pthor die Sätze, mit de nen Jarsynthia und Wortz ihre Ansprüche auf ihre Herrschaft in Pthor anmeldeten. At lan beschleunigte den Zugor und jagte zu rück zur FESTUNG. Schon bald, daran gab es keinen Zweifel, würde ganz Pthor wissen, daß schon wieder jemand die Nachfolge der toten Herren anzutreten wünschte. Und zweifellos hatten die Magier die bisher größ ten Chancen, sich durchzusetzen. Sie hatten einen unschätzbaren Vorteil auf ihrer Seite: Sie waren schon jetzt überall gefürchtet. Und das war auf Pthor viel wert.
8. Gofruuns Verdacht wurde zur Gewißheit: Was niemand mehr für möglich halten woll te, war eingetreten. Die Rolle der Magier war es stets gewesen, ihren Forschungen nachzugehen und sich sonst um nichts zu kümmern. Nicht die Gesetze der FESTUNG zwangen sie zum Stillhalten – obwohl sie selbstverständlich großen Einfluß auf das Leben in der Barriere hatten –, sondern eine Reihe von selbstauferlegten Regeln. Wenn Jarsynthia und Wortz mit den Tra ditionen brachen, so mußten sie sich sehr si cher fühlen, daß der Verrat nicht zum Bume rang werden könne. Noch hatte Gofruun kei ne Ahnung, was im einzelnen geschehen war, aber er zog es vor, keine indiskreten Fragen zu stellen. Als Karsjanor seine Kristallschleuder schwang, hielt Gofruun den Zeitpunkt für gekommen, sich unauffällig von diesem ge fährlichen Ort zu entfernen. Er gab Heix ein Zeichen und ließ sich lautlos über die Bord
46 wand des Zugors kippen. Geschickt landete er im Gras neben der Straße. Zum Glück be fand er sich hier ganz in der Nähe des Ein gangs zu seinen Höhlen. Er sah sich nach Heix um. Der Dicke eilte bereits vom Zugor weg. »Endlich zu Hause!« ächzte Heix, kaum daß sie auf dem Grund des ersten Schachtes standen, und watschelte geradewegs auf eine Stelle zu, an der das Plasma sich zu beson ders dicken Nektarknollen verdichtet hatte. Er streckte die Arme aus. Da fiel etwas zu Boden, was er unter den Falten seines Ge wandes verborgen hatte. »He!« rief Gofruun empört. »Wo hast du das her?« Heix bückte sich erschrocken. Er versuch te, den Gegenstand mit seinen fleischigen Händen vor den Blicken des Bodenmagiers zu schützen. Dazu war es zu spät. Gofruun gab seinem Alterenkel einen derben Stoß und hob einen mehrfachen Ring aus gold glänzendem Metall auf. Verblüfft strich er mit den Fingern über die offenen Flächen in nerhalb der Ringe. Irgend etwas befand sich dort, was er nicht durchdringen konnte. »Ein Behälter«, murmelte er. »Aber es scheint, als wäre nichts darin!« »Gib her!« forderte Heix ungeduldig. Gofruun hörte gar nicht hin. Er drehte den Ring hin und her und versuchte, im matten Licht der Plasmafladen etwas zu erkennen. Aber obwohl der vom Ring umschlossene Raum völlig durchsichtig zu sein schien, konnte er nichts von dem zweifellos vorhan denen Inhalt entdecken. Leer aber durfte der Behälter einfach nicht sein. Kein Magier, der seine Sinne beieinander hatte, ver schwendete auch nur ein Quentchen seiner Energie auf einen leeren Behälter. Und ei ner, der unvernünftig genug wäre, es doch zu tun, bewahrte normalerweise keine so kostbaren Dinge in seiner Nähe auf. »Woher hast du das?« fragte Gofruun. »Keine Ahnung«, brummte Heix schlecht gelaunt. »Gib es mir, dann erzähle ich dir al les.« »Erst erzählst du, dann bekommst du den
Marianne Sydow Ring«, beharrte Gofruun auf seinem Vor recht – schließlich war er der Magier hier und darüber hinaus Herr über das Plasma, dem Heix seine heißgeliebten Nektarknollen verdankte. Heix seufzte. »Es war wegen Fesler«, begann er schwerfällig. »Ich dachte, er würde mich diesem Gerippe zum Fraß vorwerfen.« »Du weißt, daß das nicht geht!« »Wenn du mich unterbrichst, vergesse ich die Hälfte!« »Also gut«, nickte Gofruun und setzte sich seufzend auf den Boden. »Ich war schon wieder am Skatha-Hir«, sagte Heix und machte eine Pause, um dem Bodenmagier Gelegenheit zu einem Kom mentar zu geben. Gofruun schwieg eisern. »Da ist allerhand los«, fuhr Heix ent täuscht fort. »Es laufen jede Menge Magier herum, lauter Narren aus den Dunklen Tä lern und ähnlichen Revieren. Ich hörte sie von einem gewissen Kir Ban reden und ei nem Fluch, aber sie scheinen keinen großen Respekt davor zu haben, daß ein Bann sie treffen könnte. Es gibt am Skatha-Hir ein Gefängnis, wußtest du das? Ich hörte, daß nicht einmal Copasallior aus diesem Verlies ausbrechen könne. Das klingt unglaublich, nicht wahr?« »Auch nicht unglaublicher als Jarsynthias Behauptung, von jetzt an über Pthor herr schen zu können«, murmelte Gofruun. »Sag nur noch, daß Copasallior der Gefangene ist, den man am Skatha-Hir bewacht.« »Copasallior?« Heix lachte höhnisch. »Alle sind sie da, die Mächtigen von Oth!« »Hast du Namen gehört?« »Einige, aber die haben mir gereicht. Glyndiszorn und Kolviss und Koratzo – mehr als zweihundert Gefangene, und es kommen immer noch welche hinzu.« Gofruun schloß unwillkürlich die Augen. Darum also hatte er nichts von der Anwe senheit des Knotenmagiers gespürt! Und jetzt begriff er auch, warum Jarsynthia sich so sicher fühlte. Sie konnte es sich wahrhaf tig erlauben, den Fremden namens Atlan laufen zu lassen, damit er seine Freunde
Die Verräter von Oth warnte. Sie durfte sogar darüber hinwegse hen, daß an Atlan die ersten tastenden Ver suche, ihn in magische Fänge zu treiben, ge scheitert waren. Atlan würde ihr nicht ent kommen. Niemand konnte Jarsynthia noch aufhalten, nachdem all jene, die ihr ebenbür tig waren, in Verliesen steckten. Gofruun wußte jetzt auch, warum Wortz und Jarsynthia den Pthorern noch eine Frist ließen. Sie konnten die gefangenen Magier nicht so einfach umbringen. Von den Geheimnis sen des Skatha-Hir hatte Gofruun noch nicht viel vernommen, aber er traute es der Lie besmagierin zu, daß sie einen Weg gefunden hatte, die magischen Energien der anderen auf sich und ihre Verbündeten zu übertra gen. Mit solchen Kräften ausgestattet, schloß Gofruun, waren diese Leute absolut un schlagbar. Der Gedanke war ihm unange nehm. Seine eigene Magie war zu gering, als daß er sich jemals hätte den Kopf darüber zerbrechen müssen, ob er sie nicht anders und effektiver gegen irgendwelche Lebewe sen einsetzen könne. Er gehörte zu denen, die kaum Waffen besaßen. Das zwang ihn, sich unter den Schutz der höheren Magier zu stellen. Glyndiszorn war sein Nachbar, aber er war ihm nicht direkt verpflichtet, denn der Rat der Magier hatte noch bis vor kurzem die Entscheidungen für alle Bewohner von Oth getroffen. Wie würden diese Entscheidungen aber ausfallen, wenn nur noch Jarsynthia und Wortz den Rat leiteten, und Leute wie Kars janor und Srika und der Rauchmagier Lun nater das große Wort führten. Sie suchten zwar ständig Verbündete gerade unter den schwächeren Magiern, aber Gofruun erkann te ziemlich klar, daß gerade er und seines gleichen den gehobenen Machtansprüchen gewisser Leute zum Opfer fallen mußten. »Du hast den Ring schon ganz verges sen«, sagte Heix vorwurfsvoll. »Tut mir leid«, murmelte Gofruun. »Was ist damit?« »Es ist eine komische Geschichte«, be
47 hauptete Heix. »Als ich von Koratzo hörte, kam gerade Ognor in der Nähe vorbei, und ich fühlte etwas – also, ich weiß nicht, was es war. Jedenfalls konnte ich auf einmal in einen Raum sehen, der war ganz hell. Dann stand ich zwischen komischen Möbeln her um, und direkt vor mir lag dieser Ring auf einem Tisch. Ich glaube, ich war im Revier des Stimmenmagiers.« Gofruun, der schon von den extrem star ken Sperren gehört hatte, die die Tronx-Ket te umgaben verzog das Gesicht. Er hielt die Schilderung seines Alterenkels für glatte Aufschneiderei. Heix wollte sich nur wieder einmal wichtig machen. Andererseits … »Wer könnte etwas gegen Jarsynthia und den Lebensmagier unternehmen?« fragte er nachdenklich. »Es muß doch etwas auf Pthor geben, dem sie nicht auf Anhieb ge wachsen sind.« »Wie meinst du das?« fragte Heix miß trauisch. »Willst du, daß sie uns auch ein sperren?« »Sie haben dem Fremden eine Woche Zeit gegeben«, fuhr Gofruun unbeeindruckt fort. »Bis dahin wollen sie wahrscheinlich den anderen alle magische Kraft genommen haben. Erst dann können sie es wagen, sich auch mit den Geräten und vor allem den ma gischen Speichern der Gegner zu befassen …« »Die Übertragung so großer Kräfte ist nicht möglich!« sagte Heix da mit veränder ter Stimme. »Die Lösung ist an anderer Stel le zu suchen. Der natürliche Gegenpol der Magier in Pthor sind die Robotbürger von Wolterhaven. Eine Kontaktaufnahme ist un umgänglich.« Gofruun starrte den Dicken mit offenem Mund an. Heix blinzelte – und war wieder der übergewichtige Alterenkel, wie Gofruun ihn kannte. Aber etwas stimmte immer noch nicht, denn Heix richtete sich plötzlich auf. Ohne zwingenden Grund, ohne Stöhnen und Ächzen! »Wir werden etwas unternehmen«, sagte er nüchtern. »Aber es bleibt uns nichts ande res übrig, als vorläufig so zu tun, als würden
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Marianne Sydow
wir auf Jarsynthias Seite stehen. Bleibe in den Höhlen, bis ich zurückkehre, und wenn die anderen nach dir rufen, dann versichere ihnen, daß du zum Skatha-Hir kommen wirst, sobald du die Vorbereitungen abge schlossen hast.« »Was für Vorbereitungen?« fragte Gofru un verblüfft. Heix legte den Kopf schräg. »Vergiß es«, murmelte er. »Ich habe mich in der Zeit geirrt. Warte, und rühre dich nicht vom Fleck.« Damit verschwand er. Gofruun blieb restlos verwirrt auf dem harten Boden sitzen. Er verstand überhaupt nichts mehr. Nur langsam kam ihm zu Be wußtsein, daß Heix die Initiative übernom men und eine Entscheidung getroffen hatte, die man sich eigentlich besser hätte überle gen sollen. Gofruun war sich nämlich noch längst nicht darüber im klaren, ob er wirklich etwas gegen die negativen Magier zu tun wünsch te. Auch wenn er einige Gefahren unge wöhnlich klar kommen sah, überwog vorerst noch die Furcht, sich nichts als Unannehm lichkeiten aufzuhalsen, ohne irgend etwas zu erreichen. Denn eines schien klar: Weder Heix noch Gofruun hatten auch nur die lei seste Chance, etwas an den Verhältnissen in der Barriere von Oth zu verändern. Und die Robotbürger von Wolterhaven …
* Heix verstand sich selbst nicht mehr. Ir gend etwas ging in ihm vor und zwang ihn, Dinge zu tun, an die er früher nicht einmal zu denken gewagt hätte. Er wußte, daß in dem Ring etwas lag, das wertvoll war. Was er damit machen sollte, war ihm ebenfalls klar. Und er wußte sogar, welchem Zweck das alles diente. Er fragte sich, ob er – ohne es jemals be merkt zu haben – das Werkzeug einiger mächtiger Magier war. Aber andererseits war es gerade zu diesem Zeitpunkt unmög lich, daß jemand ihn in dieser Weise beein-
flußte. Die Magier, die die Macht hatten, je manden auch auf weite Entfernung wie eine Marionette zu bewegen, saßen entweder in den Verliesen des Skatha-Hir fest, oder sie wären gerade im Gegenteil bemüht gewesen, Heix von den Robotbürgern fernzuhalten. Zu allem Überfluß glaubte der Alterenkel selbst nicht daran, daß die Bewohner der Stadt Wolterhaven auch nur den geringsten Einfluß auf das Geschehen im Reich der Magier ausüben könnten. Das Tollste aber war, daß Heix sich all das durch den Kopf gehen ließ und trotzdem imstande war, sich auf Wolterhaven und sein Ziel zu konzentrieren. Einen Augenblick später stand er bis zu den Knien in zähem, stinkenden Schlamm. Er brummte wütend vor sich hin und be mühte sich, die Beine aus dem Morast zu ziehen. Es blubberte um ihn herum, aber so sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht frei. Für einen Moment wich dieses Fremde aus seinen Gedanken, und er schimpfte laut vor sich hin, verfluchte sämtliche Magier bis in die fernste aller Dimensionen und die Ro botbürger gleich hinterher, holte aus, um den Ring, dem er die Schuld an seinem Pech gab, in den Schlamm zu schleudern – und rief statt dessen einen Namen an, den er vor her nicht einmal gedacht hatte. »Leondagan!« gellte seine Stimme durch den Raum unter den stählernen Plattformen von Wolterhaven. »Leondagan, Quorkmei ster, schicke deine Diener!« Kaum waren die Worte heraus, da klappte Heix entsetzt den Mund zu. Er fragte sich, was ihn da in einem so festen Griff hielt, daß es ihn nach einem Robotbürger rufen ließ, der bekanntermaßen am laufenden Band mit Jarsynthia Handel trieb. Aber da schwebte schon leise summend ein eiförmiger Robotdiener herbei. »Ah!« machte die Maschine und umrun dete Heix geschäftig. »Du ahnst nicht, wie wohl mir dieser Anblick tut« Heix starrte die Maschine verblüfft an. Seit wann konnte ein Robotdiener mit ma schinellem Innenleben irgend etwas als
Die Verräter von Oth Wohltat empfinden? »Wer bist du?« fragte der Alterenkel. »Liwo, würdiger Arbeiter des Herrn Leondagan, Quorkmeister in Wolterhaven.« »Bringe mich zu deinem Herrn!« Die Maschine namens Liwo produzierte ein Klicken. Es hörte sich tatsächlich spöt tisch an! Dabei flog sie immer noch um Heix herum, der bei dem Bemühen, den würdigen Arbeiter trotz gewisser Schwierig keiten im Auge zu behalten, beinahe der Länge nach in den Morast gefallen wäre. »Du kommst aus der Barriere«, stellte der Diener fest. »Bist wohl selbst ein Magier, wie?« »Ja«, wollte Heix antworten, aber seine Lippen verweigerten ihm den Dienst. Voller Staunen hörte er sich sagen: »Nein, ich bin nur ihr Gesandter. Ich bringe eine Ware für Leondagan. Bringe mich endlich zu ihm.« »Der Herr Leondagan wünscht dich aber nicht zu sehen.« Der ursprüngliche Heix hätte längst die Geduld verloren und entweder wüste Be schimpfungen ausgestoßen oder aber ver sucht, sich mit seien neuen Kräften aus die ser ungemütlichen Lage zu befreien. »Gib dem Herrn Leondagan endlich Be scheid, daß ich eingetroffen bin«, forderte der Alterenkel statt dessen. Ein Teil seines Ichs war fest davon überzeugt, daß dieser würdige Arbeiter namens Liwo ein eigen mächtiges Spiel trieb, mit dem der Quork meister unmöglich einverstanden sein konn te. »Sonst gehe ich selbst zu ihm und berich te ihm, in welcher Weise du mich aufgehal ten hast.« Der Robotdiener hielt an, streckte zwei Arme aus und ergriff den dicken Heix. Wäh rend Liwo den Alterenkel aus dem Morast zog, zeigte er ihm mehrmals einige beschä digte Gliedmaßen und allerlei andere Schä den, die er angeblich dem Wirken eines an deren Magiers namens Tonkuhn verdankte, der ebenfalls eine Ware für Leondagan ge bracht hatte – eine Ware, die eine regelrech te Todesfalle für würdige Arbeiter zu sein schien.
49 Heix hörte sich schweigend an, was diese Maschine an Beschimpfungen zu produzie ren wußte. Er sagte auch dann kein Wort, als Liwo ihn in viel zu hohem Tempo zu einer Plattform hinauftrug und ihn dort auf den Boden stellte, daß Heix meinte, der Robot diener wollte ihn auf die Hälfte seiner nor malen Körpergröße zusammenstauchen. »Dies ist die Ware«, sagte er, obwohl er viel lieber ein paar Worte über die entschie den zu rauhe Behandlung verloren hätte. »Prüfe sie.« Der würdige Arbeiter wich ruckartig eini ge Meter zurück. Es sah beinahe aus, als empfinde dieser merkwürdige Roboter Angst. »Oh, nein«, widersprach er. »Das werde ich nicht. Diesmal soll der Herr Leondagan selbst in den Genuß dessen kommen, was die Magier ihm zugedacht haben.« Heix stand für ein paar Sekunden ganz still da, dann gab etwas in ihm mit leisem Klicken nach. Er umspannte den Ring mit beiden Händen. Das magische Siegel brach. Jetzt konnte er sehen, was in dem Behälter verborgen gewesen war. Er blickte auf einen faustgroßen Klumpen aus winzigen, unregelmäßigen Brocken ver schiedener Materialien. Da waren Perlen aus Holz und Knochen, Würfel aus Stein und Metall und Splitter von Kristallen – Heix konnte überhaupt nichts damit anfangen, und auch jener Teil seines Ichs, der vorher das Siegel so spielerisch leicht zerbrochen hatte, schien keine Informationen über Zweck und Anwendungsweise des Klum pens zu besitzen. Es erfüllte Heix jedoch mit der Gewißheit, etwas unvorstellbar Wertvol les in der Hand zu halten. Das Benehmen des Robotdieners schien das zu bestätigen. Liwo war plötzlich neben Heix, und er hob sich vom Boden ab, um seine Linsen möglichst nahe an den Klumpen heranzu bringen. Dabei gab er zirpende, aufgeregt klingende Laute von sich. Heix ahnte Schlimmes und wollte die Hände um den Klumpen schließen, aber da zog sich der
50 würdige Arbeiter schnell ein wenig zurück. Verwundert sah der Alterenkel, daß der Ro botdiener zusätzliche Arme ausfuhr, von ir gendwoher Lappen und Putzzeug hervor brachte und eifrig begann, die Beine des Al terenkels von den Resten des unfreiwilligen Moorbads zu befreien. Kaum war das zur Zufriedenheit des Dieners gelungen, da bat er Heix mit unverkennbarem Respekt, ihm zu folgen. Kurz darauf stand Heix in der Kuppel, die die Kugeln beherbergte, aus denen der Quorkmeister Leondagan bestand. Er wunderte sich mittlerweile über gar nichts mehr. Man bat ihn, den Klumpen auf eine matt glimmende Platte zu legen. Heix gehorchte. Im Augenblick war er wieder fast vollstän dig er selbst, und nur ein Rest dieser seltsa men Kraft war in ihm und verhinderte, daß er angesichts der unverständlichen Ereignis se der jüngsten Vergangenheit in Panik ge riet. Heix erinnerte sich an alles, an jedes Wort, das er gesagt hatte, und je mehr Zeit er fand, darüber nachzudenken, desto rätsel hafter wurde ihm das Ganze. Er sah auch überhaupt nicht ein, warum ausgerechnet er sich in die Gefahr begeben sollte, sich als Gegner der derzeitigen Herrscher von Oth zu profilieren und damit früher oder später reif für einen Aufenthalt in den Verliesen des Kir Ban zu werden. Er wollte zurück in die Höhlen und zu Gofruun, und das Schicksal der Magier und aller anderen Bewohner von Pthor interes sierte ihn herzlich wenig. Dennoch blieb er stehen. Schließlich ver schwand der rätselhafte Klumpen aus dem magischen Ring in einer Vertiefung neben der Untersuchungsplatte. »Der Herr Leondagan ist sehr zufrieden«, behauptete der würdige Arbeiter Liwo. »Diese Ware wird angenommen, der Handel ist anerkannt.« »Was für ein Handel?« fragte Heix. »Aufgrund einiger besonderer Gründe«, antwortete Liwo gestelzt, »sieht der Herr Leondagan sich veranlaßt, in die Auseinan-
Marianne Sydow dersetzung der Magier einzugreifen.« Heix wunderte sich im stillen darüber, daß der Herr Leondagan überhaupt etwas von einer Auseinandersetzung wußte – und daß er ausgerechnet gegen Jarsynthia arbei ten wollte, die doch bisher seine Handels partnerin gewesen war. Hatte sie etwa auch dem Robotbürger ihre berüchtigten Streiche gespielt? Aber die Liebesmagierin war gegen sol che Maschinen wohl doch machtlos. »Es ist auch mein Verdienst, daß du hier Hilfe findest«, setzte Liwo recht unbeschei den seinen Vortrag fort. »Aber das kannst du jetzt nicht verstehen. Ich übermittele dir hiermit den Befehl, alles zu berichten, was du im Reich der Magier erfahren hast.« Heix sprach, bis ihm die Augen zufielen. Er war so müde, daß er im Stehen einge schlafen wäre. Der würdige Arbeiter drückte ihn in ein seltsames Möbel. Kaum erwachte Heix, da ging das Verhör weiter. Zur selben Zeit saß Gofruun immer noch auf dem Boden in seiner Höhle, und obwohl er sich mehrmals sagte, es sei Zeit, aufzuste hen und etwas zu tun, konnte er sich dann doch nicht dazu aufraffen, sich auch nur um wenige Zentimeter vom Fleck zu rühren. In der FESTUNG machten sich heimlich still und leise die Gesandten aus verschiede nen Teilen von Pthor auf den Heimweg, oh ne die bereits vereinbarten Beratungen mit Atlan zu führen. Wenn man auf die Land karte sah, konnte man leicht erkennen, wie das Unheil vorwärtsschritt: Je weiter Lunna ter die Botschaft der Magier ins Land trug, desto mehr Gesandte verließen die FE STUNG. Und Lunnaters Yassel lief schnell. Aber nicht einmal in der Barriere von Oth wurde bekannt, was der Herr Leondagan dem Alterenkel Heix am Schluß des Verhörs mitteilte: »Ich werde einen Plan ausarbeiten, der zur Befreiung der Gefangenen im SkathaHir und zum Untergang der negativen Ma gier von Oth führen wird. Du bist mein Bote und mein Verbündeter. Ich muß noch vieles wissen. Kehre jetzt in die Berge der Magier
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zurück.« Heix wollte weder Bote noch Verbündeter sein. Trotzdem sagte er: »Ich werde neue Informationen besorgen und mich wieder hier einfinden.« Und dann kehrte er tatsächlich zurück, in einem einzigen Sprung, ohne sich zu verir ren. Er war so sehr im Bann der Ereignisse gefangen, daß ihm das Besondere der Situa tion gar nicht zu Bewußtsein kam. Die Robotbürger von Wolterhaven näm lich waren Maschinen, und Maschinen gal ten seit jeher als Produkte der Antimagie. So
gesehen, hätte man meinen sollen, daß der Herr Leondagan und sein würdiger Arbeiter Liwo von Anfang an nicht die leiseste Chan ce hatten, den Kampf für sich zu entschei den. Denn was mochte wohl die seelenlose Antimagie gegen die Kräfte derer von Oth auszurichten?
E N D E
ENDE