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Dies ist ein Sonderdruck des Science Fiction-Magazins SOLARIS in Zusammenarbeit mit dem Science Fic tion Club Deutschland e. V.
DEUTSCHE
ERSTVERÖFFENTLICHUNG
Seit der Premiere 1968 gilt 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM als der wichtigste und größte Science Fiction-Film, der bisher gedreht wurde – ein Film, der einen Mythos schuf. Unzertrennlich damit ver bunden sind die Namen ARTHUR C. CLARKE und STANLEY KUBRICK. Wie unzertrennlich, das zeigt sich erst bei einem Blick auf die Entstehungs geschichte dieses Films. Zunächst sollte der Roman entstehen, und aus die sem wollten Clarke und Kubrick anschließend ge meinsam das Drehbuch entwickeln. Die Zusammen arbeit wurde jedoch bald so intensiv, daß Roman und Drehbuch im zweiten Teil praktisch gleichzeitig ent standen. Der Einfluß Kubricks war daher enorm. Das ging so weit, daß Teile des Romans von ihm verwor fen wurden, neu geschrieben werden mußten und im Endeffekt ganz anders herauskamen, als Clarke das vorgesehen hatte. Etwa drei verschiedene Fassungen existieren heute noch. Dort, wo sie vom endgültigen Roman und Film abweichen, lesen sich diese Urfas sungen wie selbständige Novellen. Es sind
DIE
VERLORENEN
WELTEN
VON 2001.
In der Fassung, die wir Ihnen hier vorstellen wollen, fliegt das Raumschiff DISCOVERY nicht zum Saturn, sondern zu Jupiter. Sechs Besatzungsmitglieder wa ren an Bord, von denen zwei mittlerweile nicht mehr am Leben sind. Die Auseinandersetzung mit dem Computer HAL ist in dieser Fassung nicht enthalten; hier heißt der Computer ATHENA und ist sozusagen harmlos. Die Astronauten erreichen Jupiter und des sen Mond Nr. V, und dort entdecken sie einen offen bar künstlich geschaffenen Abgrund.
Teil I Der letzte Umlauf Das war die Situation, die in der Einsatzbeschreibung angegeben war mit »Anzeichen für intelligentes Le ben – keine Aktivität«; wie darauf zu reagieren sei, war genau festgelegt worden. Sie sollten zehn Tage lang nichts anderes tun, als die Primzahlen 1 … 2 … 3 … 5 … 7 … 11 … 13 … 17 in Abständen von zwei Minuten auf einem breiten Band der Radiofrequenzen zu senden. Zum Glück wirkte sich der Verlust der Hauptantenne hier nicht aus; die leistungsschwachen Anlagen an Bord genügten dafür völlig. Sie riefen und lauschten auf allen möglichen Fre quenzen, aber es kam keine Antwort. Obwohl das vielerlei bedeuten konnte, setzte sich immer mehr der Eindruck durch, daß das winzige Möndchen verlas sen war. Schwer zu glauben, daß es je etwas anderes gewesen sein sollte als ein vorübergehender Halte punkt für eine Expedition – vom Jupiter selbst, oder von den Sternen? Kaminski brachte Stunden damit zu, Annäherungs bahnen zu erwägen; Athena berechnete sie in Sekun den. Das Manöver war sehr schwierig, weil die eige ne Gravitation von Jupiter V zwar sehr gering war, der Satellit aber tief im gigantischen Schwerefeld des Jupiter lag. Die »Discovery« würde die Geschwin digkeit in der Stunde um mehr als zwanzigtausend Meilen verändern müssen, um sich der Bahn anzu
passen und ein Rendezvous zu erreichen. Es war mit Mühe möglich – und die Ironie dabei war die, daß nur die früheren Katastrophen es zulie ßen. Das Schiff war gut eine Tonne leichter, als in diesem Stadium der Mission vorausberechnet wor den war, denn es hatte zwei Besatzungsmitglieder verloren, eine Raumkapsel und den Antennenkom plex. Das reichte aus, um ein Manöver auszuführen, das sonst kaum zu bewältigen gewesen wäre, nun aber sogar eine Sicherheitsmarge zuließ. Sobald die »Discovery« die Parkbahn um Jupiter V erreichte, konnte sie diese nicht mehr verlassen; ihre Antriebsreserven würden völlig aufgebraucht sein. Und obwohl das Rettungsschiff sie kaum hier zu fin den erwartete, würde es doch bald ihren Funkstrahl und die blitzenden Strobe-Lichter entdecken. Atom batterien würden sie zwanzig Jahre lang versorgen; ihre Peilungsreichweite betrug nur rund eine Million Meilen, aber das war mehr als ausreichend. Bowman vergeudete keine Zeit mehr, als die Be rechnungen feststanden. Die zehn Tage waren um; Jupiter V schwieg nach wie vor. In der Einsatzan weisung stand: »Vorsichtig Kontakt aufnehmen – im Falle von Feindseligkeiten Rückzug antreten.« Ausgezeichneter Rat – nur würde das nicht mehr möglich sein. Sobald sie ihre letzten Reserven ver braucht hatten, waren sie endgültig festgelegt. Nach mehr als fünfzig Umläufen um Jupiter V hat ten sie die ganze Oberfläche vermessen und inspi ziert; der größte Teil war mit einem Rauhreif aus ge
frorenem Ammoniak überzogen. Es gab keine Spu ren von Leben, keinen Hinweis auf Aktivität irgend welcher Art. Eine Suche nach Radioemissionen oder elektrischen Überlagerungen war nutzlos gewesen; der kleine Mond schien völlig tot zu sein. Man stellte die Theorie auf, es könnte sich um einen verlassenen Stützpunkt handeln, vielleicht sogar um eine aufge gebene Städte-Welt, die vor langer Zeit aus einem anderen Sternsystem hierhergekommen sei. Hunter war ihr Hauptverfechter; wenn man ihn fragte, wohin nach seiner Meinung die hypothetischen Sternbe wohner gegangen seien, sagte er: »Ich glaube, sie sind unsere Vorfahren gewesen.« Er meinte das mehr als nur halb ernst und ließ sich auch durch das Übermaß an anthropologischen und geologischen Einwänden nicht bekehren. Am vierten Tag setzten sie zwei weich landende Sonden ab – die eine auf Kimballs Ebene, die andere bei den Antipoden. Die zurückgefunkten Angaben ließen keine genauen Schlüsse zu. Die Seismogra phen konnten keine Beben entdecken, die empfindli chen Geophone kein Wispern innerlicher Geräusche. Was die Instrumente anging, war Jupiter V ein leblo ser Felsbrocken. Nachdem sie noch einmal zwei Tage gewartet hat ten, um festzustellen, ob sich durch die Sonden etwas ergab, traf Bowman seine Entscheidung. Die anderen hatten sie erwartet; von Zeit zu Zeit hatte jeder Bowman zu verstehen gegeben, er solle die erste Er kundung vornehmen.
Im Aufenthaltsraum des Karussells, wo ihnen frü her alles so eng erschienen war, während es nun mehr Platz gab, als sie brauchten, umriß er den Plan. »Wir haben nur zwei Kapseln«, begann Bowman, »und ich setze sie beide ein. Das halte ich für siche rer. Wenn die eine in Schwierigkeiten gerät, ist die andere zur Stelle und kann helfen. Zwei Kapseln fliegen hinunter auf die Oberfläche. Die eine bleibt am Rand des Abgrunds, die andere geht nicht weiter als tausend Meter hinein – weniger, sobald irgendeine Gefahr auftaucht. Ich nehme die vordere Kapsel, Jack gibt mir Deckung.« Kaminski und Hunter stöhnten vernehmlich; Bowman lächelte und schüttelte den Kopf. »Ihr müßt hierbleiben und euch um das Schiff kümmern. Wenn wir nicht zurückkommen, könnt ihr überhaupt nichts tun, um uns zu helfen. Ihr habt die Aufgabe, zu beobachten, aufzuzeichnen, was sich abspielt, und dafür zu sorgen, daß die Erde unterrich tet wird – und wenn das erst in fünf Jahren der Fall ist.« Er hörte geduldig zu, als Hunter und Kaminski ih re älteren Rechte geltend machten, aber sein Ent schluß stand fest. Sie waren alle gleichermaßen qua lifiziert, aber Kimball hatte diese Stelle entdeckt, und sie trug bereits seinen Namen. Es war nur gerecht, daß er als erster den Fuß darauf setzen sollte. Binnen einer Stunde öffneten sich die Schleusen tore, und die beiden kleinen Kapseln schwebten lang sam in den Raum hinaus. Nach einigen Sekunden
Bremsmanöver hatten sie ihre Orbitalgeschwindig keit verringert, und die »Discovery« zog mit ihren regelmäßigen zweihundert Meilen in der Stunde an ihnen vorbei. Sie fielen im schwachen Schwerefeld von Jupiter V hinab. Ihr Sturz von dreitausend Me tern hier entsprach einem solchen von weniger als dreißig Metern auf der Erde, so daß sie bis fast zum Erreichen der Oberfläche warten konnten, bevor sie abbremsten. Nachdem Bowman in dreihundert Meter Höhe ei ne Minute lang gewartet hatte, gab er das Signal für die Landung. Probleme gab es damit auf der völlig flachen Ebene nicht. Er hatte beschlossen, in einer Entfernung von nicht mehr als hundert Metern von der Grube niederzugehen. Ein letzter Zündvorgang stornierte die fünf oder sechs Pfund Gewicht der Kapsel, und er blieb noch einen Augenblick in der Schwebe, um Kimball den Vortritt der ersten Lan dung zu lassen, dann setzte er fast ohne Ruck auf. Er schaute zur Luke hinaus, sah, daß mit Kimball alles in Ordnung war, und rief das Schiff. »Bowman an ›Discovery‹. Sind auf Jupiter V ge landet. Könnt ihr mich verstehen?« Die Antwort wurde schon leiser, wie er vermutet hatte. In den wenigen Minuten ihres Sinkflugs hatte das Schiff schon den Horizont erreicht und begann, hinter dem Satelliten zu verschwinden. »›Discovery‹ an Bowman. Meldung verstanden, Signalstärke schon abgeschwächt. Viel Glück. Mel den uns in neunzig Minuten wieder.«
»Roger.« Das Raumschiff war verschwunden – noch keine zwanzig Meilen entfernt, aber schon außer Reichwei te. Es traf zu, daß sie nach den unerbittlichen Geset zen der Himmelsmechanik in genau eineinhalb Stun den wiederkommen und über dem gegenüberliegen den Horizont dieser Kleinwelt auftauchen würde. Dieses Wissen war eine Hilfe, wenn auch keine so große, wie sie es gerne gehabt hätten, zwei einsame Männer vor einem Rätsel, das drei Millionen Jahre alt war. Bowman stieg mit der Kapsel acht Meter über die Oberfläche und lenkte das kleine Raumfahrzeug auf das rechteckige Loch im Boden zu. Als er sich der dunklen, klaffenden Höhlung näherte, fiel ihm plötz lich ein Kindheitserlebnis ein. Als er etwa zehn Jahre alt gewesen war, hatte sein Vater ihn zum Grand Ca nyon mitgenommen, und der Schock beim ersten Anblick dieser ungeheuren Wunde im Antlitz der Erde hatte einen prägenden Eindruck in ihm hinter lassen. Der rechteckige Spalt, auf den er jetzt zu schwebte, war im Vergleich dazu winzig klein – aber in dieser Umgebung, auf dieser trostlosen Welt, den drohenden Halbmond des Jupiter für immer starr am tintigen Himmel über sich – erschien er so überwäl tigend wie der Grand Canyon, ja, noch mehr als die ser, weil er viel tiefer war und Bowman nicht wissen konnte, was er verbarg. Er brachte die Kapsel gut einen Meter vor dem Abgrund zum Stillstand und sah sich die glatten, po
lierten Wände an, die in die Tiefe stürzten. Die gege nüberliegenden Wände erstrahlten im Licht der Son ne, das in etwa hundertzwanzig Meter Tiefe an einer scharf abgegrenzten Schattenlinie aufhörte. Das schwächere Licht des Jupiter, das senkrecht in die Kluft hinableuchtete, schien in einer Entfernung, die Bowman nicht einmal zu schätzen vermochte, die Kraft zu verlieren. Von einem Boden war nichts zu erkennen; die Kluft wirkte wie ein klassisches Bei spiel zur Erklärung der Perspektive – alle Parallelen trafen in der Unendlichkeit zusammen. Er befestigte die kleine, tragbare Lampe, die man an der Raum kapsel außen einhängen konnte, an seiner Rettungs leine, und ließ sie die volle Länge von tausend Me tern hinunterfallen. Es dauerte drei unheimlich zeit lupenhafte Minuten, bis die Leine sich spannte, dann war die Lampe ein greller Stern tief unten an der Schattenwand. Sie war keinem Hindernis begegnet, hatte keine Reaktion hervorgerufen. Jupiter V hatte seine gewohnte Gleichgültigkeit bewiesen. Bowman kam plötzlich zu dem Schluß, daß er lange genug vorsichtig gewesen war. Nicht nur lief ihnen die Zeit davon, die Raumkapseln verfügten auch nur über beschränkte Treibstoffvorräte. Sie mußten jede Minute nützen. »Ich gehe rein«, teilte er Kimball mit. »Nicht wei ter als bis zum Ende der Leine. Holen Sie mich raus, wenn ich das Signal gebe – oder falls ich mich nicht melde, wenn Sie mich rufen.« Er hätte im freien Fall hinuntergehen und mit den
Düsen wieder heraufkommen können, aber es bestand keine Notwendigkeit, kostbaren Treibstoff zu vergeu den. Kimball konnte ihn ohne Mühe heraufwinden, weil die Rettungsleine nur ein scheinbares Gewicht von etwa fünf Pfund zu bewältigen haben würde. »Reden Sie aber dauernd was, Käpt’n«, sagte Kim ball. »Hier oben ist es ziemlich einsam.« Bowman war gern bereit, darauf einzugehen. Gleichgültig, wie sehr man sich an geringe Gravitati on gewöhnte, die eingewurzelten Reaktionen einer Million irdischer Vorfahren waren schwer zu über winden. Er mußte sich immer wieder vorsagen, daß diese Kluft, in der er baumelte, nicht ein meilentiefer Schacht auf der Erde war, in dem er dem Tod entge genstürzen würde, wenn die dünne Leine reißen soll te. Wenn hier Gefahr bestand, dann kam sie nicht von der Gravitation; er durfte die drängenden War nungen seiner Instinkte nicht beachten. »Ich bin jetzt wohl sechzig Meter tief«, sagte er zu Kimball. »Lassen Sie mich im gleichen Tempo her unter – zu sehen ist noch nichts, aber wenn ich aus dem Sonnenlicht herauskomme, wird es sicher besser gehen. Strahlungsmessung immer noch minimal. Da geht die Sonne hin – ich bin jetzt im Schatten, aber vom Jupiter kommt noch viel Licht. Von einem Bo den nach wie vor nichts zu sehen – das Ding muß mindestens fünf Meilen tief sein – ich komme mir vor wie eine Ameise, die durch einen Schornstein kriecht – MENSCH …!« Seine Stimme verstummte plötzlich.
»Was ist? Sehen Sie etwas?« rief Kimball. »Ja – ich glaube schon. Ich komme aus dem Grel len heraus, meine Augen passen sich an. Da unten ist ein Licht – ein sehr schwaches – sehr weit weg. Au genblick, ich hole nur das Teleskop heraus.« Aus Bowmans Kapsel, die jetzt fast eine halbe Meile unter der Oberfläche von Jupiter V hing, wa ren schwere Atemzüge und metallische Klopfgeräu sche zu hören. Vom Rand des Absturzes aus, wo sein eigenes winziges Raumfahrzeug stand, konnte Kim ball die andere Kapsel nur als eine Anordnung wei ßer und roter Positionslampen sehen. Er wartete mit wachsender Erregung und Ungeduld, während Bowman sich mit seinem Teleskop beschäftigte. Dann tönten von tief unten aus dem Lautsprecher der Funkanlage drei Worte herauf, die ihn bis ins Mark frösteln ließen. »O mein Gott …« sagte David Bowman ganz leise in einem Tonfall, der weder Angst noch Erschrecken verriet – nur fassungslose, ungläubige Überraschung. »Was ist?!« Kimball hörte Bowman tief einatmen und mit ei ner Stimme antworten, die er nicht erkannt hätte, obwohl sie völlig beherrscht klang. »Sie werden mir das nicht glauben, Jack. Das Licht dort unten – ich habe mich nicht getäuscht. Ich beobachte es durch das Teleskop – das Bild ist ganz deutlich. Ich kann das Ende des Schachts sehen. Und es ist voller Sterne.«
Die unbegreiflichen Sterne »Sagen Sie das noch einmal, Dave«, bat Kimball. »Ich habe Sie nicht richtig verstanden.« »Ich sagte, er ist voller Sterne.« »Verstehe ich richtig – sagten Sie ›Sterne‹?« »Ja – es sind Tausende. Wie ein Blick auf die Milchstraße.« »Hören Sie, Dave – ich hole Sie herauf und sehe mir das selbst an, ja?« Zu Kimballs Erstaunen war Bowman sofort ein verstanden. In der Regel war es sehr schwer, den Ka pitän von irgendeinem Vorgehen abzubringen, für das er sich entschieden hatte; er zitierte gern Napole ons »Befehl plus Gegenbefehl gleich Ordnungslosig keit.« Aber jetzt schien er zu einem Tausch nicht nur bereit zu sein, sondern ihn sogar zu wünschen. Die Leine kam mühelos herauf; Bowman leistete offenbar Unterstützung mit den Düsen. Als die Kap sel über den Rand heraufschwebte, starrte Kimball durch das Seitenfenster hinein und sah erleichtert, daß Bowman sein Lächeln erwiderte, wenn auch ein wenig betäubt. »Wirklich alles in Ordnung?« fragte er. Bowman nickte. »Sicher«, sagte er. »Gehen Sie hinunter und sehen Sie sich das selber an.« Als die makellos glatten Wände an ihm vorbeiglit ten, von keiner Markierung gezeichnet, vom Alter unbeeinflußt, fiel Kimball unwillkürlich der Sturz
von Alice im Wunderland durch das Kaninchenloch ein. Es war eine unbehagliche Erinnerung, denn jener sonderbare Absturz hatte in eine Unterwelt geführt, wo die Magie herrschte und die normalen Naturge setze nicht galten. Zum erstenmal stellte er sich die Frage, ob das auch hier so sein mochte. Von allem Anfang an hatten sie gewußt, daß sie es mit einer Wissenschaft zu tun hatte, gewaltiger als die des Menschen. Aber sie hatten nicht bezweifelt – nicht zu bezweifeln gewagt – daß es eine Wissen schaft sei, die sie zuletzt begreifen würden. Als das Licht unter ihm an Größe und Glanz zunahm, ver spürte Kimball die ersten, erschreckenden Ahnun gen, daß dem nicht so sein mochte. Ein Gedanke, den man lieber fernhielt, vor allem in einer Umgebung wie dieser. Er war bald am Ende der Rettungsleine und befand sich schon tief unter den letzten zurückgeworfenen Sonnenstrahlen. Er mußte sich innerlich einen Ruck geben, um das Fernglas an die Augen zu heben und den Blick auf das gleißende Ende des Tunnels zu richten. Bowman hatte recht! Es war, als sähe er die Milchstraße vor sich. Das ganze Gesichtsfeld war voller Sterne – Tausende, die im schwarzen Kern dieser winzigen, erstarrten Welt leuchteten. Manche Tatsachen sind so unfaßbar, daß man sie sofort glaubt, weil niemand sie erfunden haben kann. Kimball zweifelte keine Sekunde an dem, was er sah, und versuchte auch nicht, es zu verstehen. Er wollte nur zur Kenntnis nehmen.
Beinahe sofort fiel ihm auf, daß die Sterne in Be wegung waren. Auf der linken Seite verschwanden sie aus dem Gesichtsfeld, auf der rechten zogen neue heran. Er schien durch einen Schacht, mitten durch Jupiter V gebohrt, hinauszublicken und die Wirkung seiner Rotation zu erleben, die den Kleinmond alle zehn Stunden um seine Achse drehte. Aber das war natürlich unmöglich. Sie hatten die gesamte Oberfläche des Satelliten vermessen und aufgenommen, bewußt auf der Suche nach irgendei nem anderen Zugang, und nichts gefunden als nack tes Gestein und Ammoniakeis. Kimball war ganz si cher, daß es an den Antipoden kein Fenster gab, durch das Sterne hereinleuchten konnten. Und dann fiel ihm reichlich verspätet – schließlich war er Kommunikationstechniker und kein Astronom – etwas auf, das diese Theorie völlig zugrunderichtete. Die Sterne zogen vor ihm nach links; wenn die Be wegung mit der Drehung von Jupiter V zusammen hing, mußte die Bewegung fast im rechten Winkel dazu erfolgen. Die Rotation des kleinen Mondes hat te damit also nicht das Geringste zu tun … Das war vollauf genug für einen Menschen bei seinem ersten Besuch. »Ich komme rauf«, teilte er Bowman mit. »Wir müssen das unbedingt mit Vic besprechen – viel leicht hat er eine Erklärung dafür.« Als er zu Bowman an der Oberfläche des Satelli ten zurückgekehrt war, schien ihm der einst so un faßbare Anblick von Jupiter, der den Himmel füllte,
so vertraut und beruhigend wie eine stille Landschaft zu Hause auf der Erde. Den Jupiter verstanden sie – oder wo er noch Rätsel barg, waren sie nicht von sol cher Art, daß sie den Verstand lähmten. Aber das, was unter ihren Füßen vorging, trotzte aller Vernunft und Logik. Sie warteten stumm und hingen ihren eigenen Ge danken nach, bis die »Discovery« wieder über dem Horizont heraufkam. Zu ihrem Glück war sie ganz pünktlich; immer noch wortlos flogen sie zum Schiff hinauf und gingen zehn Minuten später durch die Schleuse. Astronauten sind oft zu harmlosen Scherzen auf gelegt; das ist eine ihrer Methoden, dem Universum, das keinen Humor hat, ihre Überlegenheit zu bekun den. Kaminski und Hunter mochten einen Augen blick lang gedacht haben, die beiden anderen wollten sie auf den Arm nehmen, aber ihre Zweifel hielten nur Sekunden an. Zwei Umläufe später flogen sie selbst hinunter und nahmen Kameras mit Teleobjektiven mit, um die Sternbilder unter dem Schacht aufzunehmen. Binnen Minuten gewann Kaminski eine zusätzliche Informa tion. Er berechnete den Lauf der Sterne vor der Öff nung und kam zu dem Resultat, daß eine komplette Umdrehung fünfzehn Stunden in Anspruch nahm – gegen die zehn von Jupiter V. Es hatte den Anschein, daß sie infolge irgendeiner Magie von Raum oder Zeit durch ein Fenster in einer Welt, die sich alle fünfzehn Stunden um ihre Achse drehte, in ein frem
des Universum blickten. Kaminski hing fast eine halbe Meile tief im Schacht, als mit erschreckender Plötzlichkeit das Fenster auf eine andere Szene hinausblickte. Mit dem Weltraum ist ernsthaft etwas nicht in Ord nung Hunter, der an der Oberfläche wartete, hörte alles und schnitt mit. »Ich versuche es mit langer Belichtung beim 1000 mm-Objektiv«, sagte Kaminski. »Ich gebe das un gern zu, aber ich mache zum erstenmal astronomi sche Fotografie … Holla!« »Was ist?« »Am Ende des Schachts wird es heller. Ja, kein Zweifel. An einer Seite entsteht ein ganz schwaches Leuchten. Das sieht aus wie – mein Gott – das ist es auch!« »Was denn, um Gottes willen?« »Sonnenaufgang! Sonnenaufgang! Lassen Sie mich in Ruhe – ich will zusehen!« Minutenlang blieb es quälend still. Hunter konnte nur Kaminskis schwere Atemzüge und ab und zu sur rende oder knackende Geräusche hören, wenn In strumente und Geräte bedient wurden. Endlich mel dete sich der andere wieder und sagte mit staunender Stimme: »Es ist wirklich eine Sonne. Und riesengroß – sie füllt alles aus. Wenn ich sie ganz im Blickfeld hätte, sähe sie so groß aus wie der Jupiter.
Und es ist keine G0-Sonne wie die unsrige. Sie ist sehr matt und rot – ich brauche am Teleskop nicht einmal Dunkelfilter. Muß ein Roter Riese sein wie Antares. Das ist übrigens eine Idee – vielleicht ist das Antares. Ah, da kommt ein Sonnenfleck – sieht ziemlich klein aus, könnte aber so groß sein wie un sere ganze Sonne …« Seine Stimme verklang, und wieder mußte Hunter sich in Geduld üben, bis Kaminski schließlich sagte: »Immer noch keine Veränderung – die Sonne ver sperrt nach wie vor die Sicht. Sie wird Stunden brau chen, bis sie Platz macht. Fliegen wir zum Schiff zu rück – ich will die Fotos studieren. Und ich möchte ein Experiment anstellen, wenn Dave sich dazu über reden läßt.« »Was für ein Experiment?« »Wir haben noch die meisten von unseren Instru mentensonden. Hier ist der richtige Ort, sie einzuset zen.« Bowman zögerte zunächst, als sie ins Schiff zu rückkamen. Wenn man etwas in den Schacht hinun terfallen lasse, könnte selbst die niedrige Schwerkraft dem Gegenstand eine Endgeschwindigkeit von mehr als hundert Meilen in der Stunde verleihen, meinte er. Niemand könne voraussagen, welchen Schaden das anrichten – oder welche Reaktionen es hervorru fen mochte. Kaminski widerlegte den Einwand schließlich mit dem Hinweis, die Konstrukteure dieser Anlage hät ten ihr Werk ganz gewiß gegen derart triviale Unfälle
geschützt. In Abständen von einigen Jahrhunderten mußten immer wieder große Meteore in die Kluft stürzen, und das mit viel höherer Geschwindigkeit als eine fallende Sonde. Als man sich zu dem Versuch entschlossen hatte, übernahm Kimball die Rolle des Bombenschützen. Da die kreisende »Discovery« die Sonde nur in den wenigen Sekunden nachsteuern konnte, in denen sie sich unmittelbar über der Öffnung befand, wurde die Raumkapsel »Alice« mit Empfangsgerät vollge stopft. Kimball ließ die Sonde genau in der Mitte der Schlucht hineinfallen, flog zum Rand und wartete an der Kante, während die Empfangsantennen der Kap sel über den Abgrund hinausragten. Zunächst fiel die Sonde mit der trägen Langsam keit, die im Schwerefeld von Jupiter V zu erwarten war. Ihre Instrumente registrierten einen ganz schwa chen Temperaturanstieg, sonst aber nichts von Be deutung. Es gab keine Radioaktivität, kein Magnet feld. Dann, nach fünf Meilen Fall, wurde sie schneller. Die Tonhöhe der Signale sank rasch ab und deutete damit auf eine Dopplerverschiebung von erstaunli chem Umfang. Kimball mußte den Empfänger stän dig einregeln, um die Signale verfolgen zu können, und das Radargerät begann unmögliche Entfernun gen und Beschleunigungen anzuzeigen. Nach weni gen Sekunden war die Sonde zweihundert Meilen entfernt – das bedeutete, wenn man es für bare Münze nahm, daß sie durch Jupiter V hindurchgeflogen und
auf der anderen Seite wieder herausgekommen war. Danach war sie immer schwerer zu orten und ent fernte sich rasch aus der Reichweite des Empfängers. Bei der letzten Anzeige war sie neuntausendundfünfzig Meilen in ein Loch hinabgeflogen, das unter keinen Umständen tiefer sein konnte als hundert Meilen – der Durchmesser des Kleinmondes. Das Radargerät funktionierte hundertprozentig; Kimball überprüfte es sorgfältig, als er ins Raum schiff zurückkam. Es mußte an Jupiter V liegen – und Hunter faßte knapp zusammen, was inzwischen alle zu argwöhnen begannen. »Ich fürchte«, sagte er, »mit dem Weltraum ist ernsthaft etwas nicht in Ordnung.« »Vor langer Zeit bin ich auf eine Bemerkung ge stoßen, die ich nie vergessen habe«, sagte Kaminski. »Ich weiß nur nicht mehr, von wem sie stammt. ›Jede hinlänglich hochstehende Zivilisation ist von Magie nicht zu unterscheiden.‹ Damit haben wir es hier zu tun. Unsere Laser und Mesotronen und Atom reaktoren und Neutrinoteleskope wären den besten Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts wie Zauberei erschienen. Aber sie hätten – mehr oder weniger – verstanden, wie sie funktionierten, wenn wir zur Stelle gewesen wären, um sie zu erklären.« »Ich wäre gern bereit, auf die Theorie zu verzich ten, wenn ich bloß begreifen könnte, was das ist – oder was es soll«, meinte Kimball. »Ich habe den Eindruck, daß es zwei Möglichkei ten gibt, die beide gleichermaßen unmöglich erschei
nen. Die erste ist die, daß Jupiter V hohl ist und sich da unten eine Art Mikro-Universum befindet. Eine ganze Galaxie mit hundert Meilen Durchmesser.« »Aber nach den Radarmessungen sind die Sonden Tausende von Meilen geflogen.« »Es könnte irgendeine Verzerrung geben. Ange nommen, die Sonden werden immer kleiner, wenn sie tiefer eindringen. Dann könnten sie den Eindruck erwecken, Tausende von Meilen entfernt zu sein, obwohl sie in Wirklichkeit noch ganz in der Nähe sind.« »Und das erinnert mich an ein anderes Wort – an eines von Niels Bohr. ›Ihre Theorie ist verrückt – aber nicht so verrückt, daß sie wahr wäre.‹« »Wissen Sie eine verrücktere?« fragte Hunter. »Ja. Ich glaube, die Sterne – und die Sonne – dar unter sind Teil unseres eigenen Universums, aber wir sehen sie durch eine neue Richtung des Raums.« »Sie meinen wohl die vierte Dimension.« »Ich bezweifle, ob es so einfach ist. Aber vermut lich geht es um höhere Dimensionen irgendeiner Art. Vielleicht um nichteuklidische. « »Verstehe. Wenn Sie durch das Loch da gehen, kommen Sie Hunderte oder Tausende von Lichtjah ren entfernt wieder heraus. Aber wie lange würde die Reise wirklich dauern?« »Wie weit ist die Reise von New York nach Wa shington? Zweihundert Meilen, wenn Sie nach Süden fliegen. Aber vierundzwanzigtausend, wenn Sie in die andere Richtung gehen, über den Nordpol. Beide
Richtungen sind gleichermaßen real.« »Ich scheine mich zu erinnern« sagte Bowman, »daß Sie mir zu Hause auf der Erde einmal erklärt ha ben, Abkürzungen durch das Raum-Zeit-Kontinuum wären wissenschaftlich Unsinn – reine Phantasievor stellungen.« »So?« sagte Kaminski unbeirrt. »Tja, ich habe es mir eben anders überlegt. Obwohl ich mir das Recht vorbehalte, erneut umzudenken, falls eine bessere Theorie auftaucht.« »Ich bin ein Ingenieur schlichter Gemütsart«, sagte Hunter scharf. »Ich sehe ein Loch in Jupiter V hineingehen und nirgends wieder herauskommen. Aber Sie sagen, es käme doch heraus. Wie denn?« Alle warteten hoffnungsvoll auf Kaminskis Ant wort. Er druckste ein bißchen herum, dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. »Ich kann das nur durch ein Beispiel erklären. Nehmen wir an, Sie sind ein Flachweltler, der Be wohner einer zweidimensionalen Welt wie eines Blatt Papiers. Sie sind nicht in der Lage, über oder unter diese Ebene zu gelangen. Wenn ich in Ihrer flachen Welt einen Kreis zeichne, in der Kreislinie aber eine kleine Lücke lasse, würden Sie sagen, daß die Lücke den einzigen Zugang in den Kreis ermög liche, ja?« »Stimmt.« »Wenn jemand in den Kreis hineinginge, käme er nur so wieder heraus?« »Darauf wollen Sie also hinaus. Der Kreis könnte
der Querschnitt einer Röhre sein, die durch die Flachwelt hindurchgeht. Wenn ich so schlau wäre, daß ich in der Röhre hoch kriechen würde, mich also in die dritte Dimension begebe, würde ich mein fla ches Universum völlig verlassen.« »Genau. Aber die Röhre könnte gebogen sein und wieder in die Flachwelt zurückführen, so daß Sie ir gendwo anders herauskämen. Ihre Freunde hätten den Eindruck, daß Sie von A nach B gelangt sind, ohne den Raum dazwischen zu durchqueren. Sie wä ren durch ein Loch nach unten verschwunden und aus einem völlig anderen wieder herausgekommen, das vielleicht Tausende von Meilen entfernt ist.« »Aber was hätte das für einen Vorteil? Sicherlich wäre doch in der Flachwelt selbst die gerade Linie immer noch die kürzeste Verbindung zwischen A und B.« »Nicht unbedingt. Das hängt davon ab, was Sie unter einer geraden Linie verstehen. Die Flachwelt könnte in Wahrheit gewellt sein, obwohl die Flach weltbewohner das nicht wahrnehmen könnten. Ich bin kein Topologe, aber ich kann mir vorstellen, daß es Linien geben könnte, die gerader sind als gerade, wenn sie teilweise durch andere Dimensionen verlau fen.« »Darüber können wir ewig diskutieren«, sagte Hunter. »Aber nehmen wir an, es sei wahr – was tun wir dann?« »Viel können wir nicht tun. Selbst wenn wir einen unbegrenzten Vorrat an Sauerstoff und Treibstoff
hätten, wäre es vielleicht Selbstmord, da hineinzuge hen. Es könnte zwar eine Abkürzung sein, aber auch eine verdammt lange. Nehmen wir an, sie kommt irgendwo in tausend Lichtjahren Entfernung heraus – das hilft uns nichts, wenn die Reise hundert Jahre dauert. Wir wüßten nicht zu schätzen, daß neunhun dert Jahre gespart werden.« Das war völlig richtig, und es mochte auch noch andere Gefahren geben, dem menschlichen Gehirn so unvorstellbar wie diese Anomalie im Raum selbst. Die »Discovery« war am Ende ihrer Reisen ange langt; sie mußte hier für immer in einer Umlaufbahn bleiben, nur wenige Meilen von einem Rätsel ent fernt, dem sie sich nie nähern konnte. Wie Moses beim Blick ins Gelobte Land mußten sie auf Wunder starren, die sie nicht erreichen konn ten. Baseball Nach einiger Zeit sprachen sie vom Sternentor; nie mand konnte genau sagen, wer den Ausdruck erfun den hatte. Und da der menschliche Geist alles akzep tieren kann, selbst wenn es noch so fremdartig ist, lag ihnen das Rätsel bald auch nicht mehr auf der Seele. Eines Tages würden sie vielleicht begreifen, wie es kam, daß dort unten am Grund der Kluft die Sterne leuchteten; dem Urmenschen mochte der nächtliche Himmel, widergespiegelt in einem stillen Teich, ebenso grandios erschienen sein.
Sie hatten nach zwanzig Tage Einsatzzeit, bevor sie in den Dauerschlaf gehen sollten, und für die Kapseln gab es noch genug Treibstoff, um noch fünfmal den Flug zur Oberfläche des Kleinmondes zu unternehmen. Bowman ließ drei Besuche in Ab ständen von je einer Woche zu und ließ die Raum kapseln dann voll ausgerüstet in den Schleusen, um auf alle Notfälle künftiger Art vorbereitet zu sein. Die Landungen erbrachten nicht viel mehr als das, was sie schon wußten. Sie beobachteten den regel mäßigen Durchgang der fremden Sterne und der ro ten Riesensonne, die mit der Präzision eines Uhrwerks hinter dem Sternentor vorbeizogen – nach wie vor in einer Richtung und mit einer Geschwindigkeit, die mit der Drehung von Jupiter V nichts zu tun hatten. Kaminski saß stundenlang über seinen Aufnahmen und versuchte, mit Hilfe der in Athena gespeicherten Sternkarten die Konstellationen zu bestimmen. Sein völliges Scheitern war für ihn weder eine Enttäu schung noch eine Überraschung. Wenn er wirklich durch ein Fenster auf einen fernen Teil der Galaxis hinausblickte, bestand keine Aussicht, etwas wieder zuerkennen. Einer dieser schwachleuchtenden Sterne mochte sogar die Sonne sein; erkennen konnte er sie nie. Aus einer Entfernung von einigen Dutzend Lichtjahren sind Sterne vom Typ G0 so wenig unter scheidbar wie ein Ei vom anderen. Die drei restlichen Instrumentensonden wurden im Abstand von je einer Woche hinabgelassen – die letzte kurz vor Beginn des Dauerschlafs. Alle ver
hielten sich gleich und entschwanden in unfaßbare Entfernungen, bevor die Signale sich verloren. Die Rekordtiefe – in dieser Welt von hundert Meilen Durchmesser! – erreichte elftausend Meilen … Danach hatten sie praktisch alles Menschenmögli che getan; ihre Vorräte waren beinahe erschöpft, und es wurde Zeit zum Schlafen. In einem Sinn war ihr Unternehmen ein Erfolg gewesen; sie hatten ent deckt, was zu finden sie ausgeschickt worden waren – auch wenn sie nicht wußten, was es war. Aber in einer anderen Beziehung war die Expedition geschei tert, weil man die Erkenntnisse nicht an die Erde übermitteln konnte. Alle Versuche Kimballs, mit provisorischen Antennen und überladenen Sende schaltungen die Verständigung wiederherzustellen, waren erfolglos geblieben. Die täglichen Berichte und Nachrichtensendungen gingen dagegen ein und waren zugleich ermutigend und frustrierend. Es war gut zu wissen, daß die Erde und ihre Freunde sie nicht vergessen hatten und die Vorbereitungen für ihre Rückkehr mit Hochdruck betrieben wurden. Aber es war peinigend, nicht antworten zu können und Hüter eines Geheimnisses zu sein, das die menschliche Gesellschaft bis in ihre Grundfesten er schüttern würde. Ebenso qualvoll war es, die Botschaften zu hören, die nach wie vor für Poole und Whitehead eintrafen, und die Gesichter ihrer Freunde und Verwandten zu sehen, als sie Männern Grüße entboten, die schon seit Monaten tot waren. Eine stete Erinnerung an ihre
eigene ungewisse Zukunft, da nun die Zeit für den Beginn des Dauerschlafs gekommen war. Es gab bessere Orte zum Schlafen, aber sie hatten kaum die Wahl. Sie konnten nur hoffen, Jupiter V werde sie weiterhin mit absoluter Gleichgültigkeit behandeln, während sie ihn alle neunzig Minuten umkreisten, bis in drei oder vier oder fünf Jahren das Bergungsschiff eintreffen würde. Während der letzten Tage überprüften sie das gan ze Schiff, legten still, was nicht gebraucht wurde, und versuchten, alles vorauszuberechnen, was schief gehen konnte. Der Schatten von Pooles Tod lag oft schwer auf ihren Gedanken, obwohl sie nie davon sprachen. Ob er nun auf ein zufälliges Versagen oder einen Toleranzverlust zurückzuführen sein mochte, man konnte daran nichts mehr ändern. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als wie geplant vorzugehen. Einer nach dem anderen verabschiedete sich, als die Arbeit getan war, bis am Ende nur noch der Ka pitän übrigblieb. Für Bowman wirkte das alles un heimlich vertraut; schon einmal hatte er dieselben Witzchen gemacht, sich – wie er hoffte – vorüberge hend verabschiedet und war im schlafenden Schiff alleingelassen worden. Er wollte zwei Tage warten, bevor er sich den an deren anschloß. Ein ganzer Tag würde ausreichen, um zu überprüfen, daß alles so lief, wie es sich ge hörte, der zweite sollte ihm allein gehören – er wollte das Abschlußspiel der amerikanischen Baseballmei sterschaft sehen.
Auf der Erde war er seltsamerweise keineswegs ein begeisterter Baseballfan gewesen, hatte aber wie alle anderen Besatzungsmitglieder ein leidenschaftli ches Interesse an den von der Erde übertragenen Sportveranstaltungen entwickelt. Ein Tag mehr oder weniger spielte für Bowman keine Rolle mehr, und er wollte unbedingt sehen, ob die New York Yankees nach den vielen Jahren ihrer Bedeutungslosigkeit zu einem Comeback imstande waren. Eigentlich zwei felte er daran; die Mets schienen unschlagbar zu sein. So nahm David Bowman im verlassenen Kontroll zentrum Abschied vom fremdartigsten Himmel, den je ein Mensch gesehen hatte. Die Hälfte davon wurde ausgefüllt durch die steil emporkurvende, ammoni akbedeckte Landschaft von Jupiter V; fast der ganze Rest vom Jupiter selbst. Als riesige, untergehende Sichel schrumpfte er beinahe sichtbar zusammen, als das Raumschiff in seinen Schatten fegte; die ferne Sonne würde bald dahinter verschwinden. Und wann, dachte Bowman, werde ich die Sonne wiedersehen? Der Solarglast hatte schon den Abendstern namens Erde verschluckt. Obwohl er die Welt der Menschen nicht sehen konnte, hallten ihre Stimmen aber durch das Schiff, und auf dem Monitorschirm des Kontroll zentrums spielte sich etwas ab, das zweifellos viele intelligente Außerirdische aufs Höchste verwundert hätte. Ein Wesen, das mit beiden Händen eine kurze Stange umklammerte, stand einem zweiten gegen über, das einen kleinen, kugelförmigen Gegenstand
festhielt. Sie standen beide auf einer flachen, dreiec kigen Bodenfläche, umgeben von rund einem Dut zend anderer Geschöpfe in gespannter, erwartungs voller Haltung. In größter Entfernung saßen Tausen de regungslos auf konzentrisch angeordneten Sitzrei hen. Das Wesen mit der Kugel begann mit zunehmen der Heftigkeit den Arm zu schwingen. Plötzlich, so schnell, daß das Auge fast nicht mitkam, entfloh die Kugel und schoß dem Wesen mit der Stange entge gen. Dieses Geschöpf befand sich offenkundig in großer Gefahr – aber das Projektil verfehlte das vor gesehene Ziel und fegte daran vorbei. Kurze Zeit herrschte reges Treiben, dann wurde die Kugel dem ersten Wesen zurückgegeben. Allem Anschein nach sollte alles noch einmal von vorn be ginnen … Diesmal jedoch konnte das Opfer sich besser ver teidigen. So winzig sein Schutzschild auch war, durch Glück oder Können gelang es ihm, das heran fliegende Geschoß abzuwehren – und es sogar über den Kopf des Quälgeists hinweg hoch hinaufzu schlagen. Während seine Feinde abgelenkt waren, vermochte es, die Flucht zu ergreifen … Aber Bowman erlebte nicht das Ende des HomeRuns von Malczinsky. In diesem Augenblick löste die wache und schlaflose Athena, die nach wie vor das Schiff hütete, den Kollisionsalarm aus. Das Bild von der Erde wurde vom Schirm ge wischt, als sei es nie gewesen, und durch die unper
sönlichen Ringe und Speichen der Radardarstellung ersetzt. Bowman begriff sofort – und wurde von ei nem Gefühl lähmender Einsamkeit befallen, wie es nicht einmal in ihm aufgetaucht war, als er Kelvin Poole hinter Peter Whitehead in den Weltraum hin ausgeschickt hatte. Zum zweitenmal war er der einzige wache Mensch im Schiff, dem im Augenblick der Krise niemand zur Seite stand. Und dies war wahrhaftig eine Krise; denn zwanzig Meilen voraus, unmittelbar vor seiner Flugbahn, stieg aus dem Sternentor etwas heraus. Die letzte Botschaft Eine Sekunde später hatte Bowman auf die hochauf lösende Anzeige umgeschaltet und erlebte eine zwei te Überraschung. Das Objekt war ganz klein – nur etwa zwei Meter lang. Viel zu groß für einen Meteor, aber auch viele zu klein, um ein Raumschiff sein zu können. Er wußte nicht, ob er enttäuscht oder er leichtert sein sollte. Er schaltete das optische Teleskop zu und starrte durch das Okular. Da war es, im Sonnenlicht fun kelnd – offenkundig metallisch, offenkundig künst lich. Dann schrie er vor Erstaunen auf – denn was da aus dem Abgrund heraufschoß, war eine der eigenen Sonden der »Discovery«, vor Tagen oder Wochen hineingeworfen in den Schlund von Jupiter V. Er schaltete das Funkgerät ein und suchte die Tele metrie-Frequenzen ab. Das Signal war sofort zur
Stelle, laut und deutlich. Die Sonden waren alle mit kurzlebiger Energieversorgung ausgestattet, damit sie, wenn sie ihre Arbeit getan hatten, das Frequenz spektrum nicht belasteten – aber diese sendete nach wie vor. Eine rasche Überprüfung der Frequenz be stätigte, was er schon vermutet hatte. Das war die allerletzte Sonde, die sie in das Ster nentor versenkt hatten. Sie war im Abgrund ver schwunden, elftausend Meilen »tief«, mit einer scheinbaren Geschwindigkeit, die höher war als die jedes Objektes von Menschenhand zuvor. Und trotz dem war sie jetzt wieder aufgetaucht und funktionier te noch in jeder Beziehung – aber zwei Tage später. Sie schwebte langsam hinauf zum Jupiter und ver schwand endlich vor der Riesenscheibe, aber er konnte sie immer noch hören, als sie munter piepste, während sie in eine Umlaufbahn eintrat, die stabil sein mochte oder nicht, aber – das stand für ihn fest – nur das Ergebnis bewußter Planung sein konnte. Dergleichen konnte weder durch Zufall noch durch das Wirken natürlicher Gesetze geschehen. Das Sternentor hatte ihr Geschenk zurückgegeben; dahinter konnte nur Absicht stecken. »Hier spricht David Bowman, Eintrag ins Log buch. Das Schiff ist völlig in Ordnung, und für mich ist geplant, daß ich mich jetzt Kaminski, Hunter und Kimball im Dauerschlaf anschließe. Das werde ich nicht tun. Stattdessen nehme ich eine der voll ausgerüsteten Kapseln und fliege zum Ster nentor hinunter.
Über die Risiken bin ich mir völlig im klaren, aber ich halte sie für akzeptabel. Die schadlose Rückkehr unserer Sonde nach nur zwei Tagen beweist, daß ein Objekt in einer kurzen Zeitspanne unbeschadet durch das Sternentor gelangen kann. Ich habe genug Sauer stoff wenigstens für den Hinflug und bin bereit, mich auf das zu verlassen, was mich am anderen Ende er wartet. Mir scheint das eine Einladung zu sein – vielleicht sogar eine Geste der Freundschaft. Ich bin ent schlossen, sie als solche zu behandeln. Wenn ich mich irre – nun, dann werde ich nicht der erste For scher sein, dem ein solcher Irrtum unterlaufen ist. Bill, Vic und Jack – falls wir uns nicht wiederse hen, wünsche ich euch viel Glück und hoffe, daß ihr zur Erde zurückkommt. Hier spricht Dave. Ende.« Allein schwebt Bowman in seiner zerbrechlichen Kapsel in das Sternentor hinein und findet sich in einem fremden Sonnensystem wieder – Gast einer uralten technischen Zivilisation.
Teil II Abgrund Nun wurde sein Blick von dem Planeten angezogen, der vor ihm den Himmel auszufüllen begann, und zum erstenmal erkannte er, daß er ganz von einem Meer bedeckt war. Auf der ihm zugekehrten sonnen beschienenen Halbkugel gab es keine Kontinente, ja, nicht einmal Inseln. Es gab nur eine glatte, ununter brochene Meeresfläche. Es war ein höchst merkwürdiger Ozean – an man chen Stellen strohgelb und dort, wo Bowman gewal tige Tiefen vermutete, rubinrot. In der Mitte der Scheibe, fast genau unter ihm, glitzerte im Sonnen licht Metallisches. Zum erstenmal wurden die Auswirkungen der At mosphäre bemerkbar. Um die Kapsel schien sich ein kaum erkennbares Ovoid gebildet zu haben, und sie zog eine flackernde Strahlungsspur hinter sich her. Bowman wußte es nicht genau, aber einen Augen blick lang glaubte er, das Heulen vorbeirasender Luft zu hören. Eines stand fest: Er wurde immer noch von den Kräften geschützt, die ihn zu den Sternen gezo gen hatten. Dieses Fahrzeug war nur für das Vakuum des Weltraums gedacht, und Wind von einigen Dut zend Meilen Stundengeschwindigkeit konnte es in Fetzen reißen. Aber an der zerbrechlichen Metallhül le fegte kein Wind vorbei; die Glutfurien des Wie
dereintritts wurden von einer unsichtbaren Abschir mung ferngehalten. Das Metallglitzern wurde stärker und nahm vor seinen Augen Form an. Er konnte jetzt erkennen, daß es aus einer Gruppe unfaßbar zerbrechlicher Türme bestand, die aus dem Ozean zwei oder drei Meilen hoch in die Atmosphäre hinaufragten. In den höheren Bereichen trugen sie Stapel matt schimmernder, kreisrunder Platten, durchscheinender grüner Kugeln und Labyrinthe von Anlagen, die ihm so unbegreif lich waren, wie dem Urmenschen eine Radarstation. Die Kapsel stürzte, etwa eine Meile davon ent fernt, neben dem Gebilde herab, und nun konnte er sehen, daß rings um den Sockel eine Vegetations masse ein riesiges, grellblaues Floß bildete und an scheinend auf der Oberfläche des Meeres schwamm. Manche Pflanzen kletterten am Turmgerüst fünfzig, sechzig Meter hoch, so, als strebten sie aus den licht losen Ozeantiefen der Sonne entgegen. Dieser Vegetationsausbruch erweckte nicht den Eindruck von Vernachlässigung oder Dahinfaulen; die Riesentürme, die aus dem Gewirr emporstiegen, blieben von der Üppigkeit zu ihren Füßen offensicht lich ganz unbeeinflußt. Auf dem rötlich-gelben Meer war das dunkle Blau der wuchernden Pflanzen ein erstaunlich starker Kontrast. Die Raumkapsel befand sich nur noch einen Meter über dem Meer, und Bowman konnte erkennen, daß es eine seltsam unbestimmte Beschaffenheit aufwies. Nichts von der deutlichen Darstellung einer Flüssig
keit; zum erstenmal fiel ihm ein, daß das auch ein schweres Gas sein mochte. Unmittelbar unter der Kapsel bildete sich eine konkave Wölbung, wie von einer unsichtbaren Ab schirmung hineingepreßt. Das Loch in der Flüssig keit – Bowman betrachtete sie nicht mehr als Wasser – wurde tiefer, dann schloß es sich über ihm. Wie eine Fliege in Bernstein war er gefangen in einer Luftblase von kristalliner Durchsichtigkeit; sie trug ihn hinunter in unbekannte Tiefen. Der Anblick war erstaunlich, vor allem für jeman den, der an Ausflüge unter Wasser bei Sichtweiten von nicht mehr als sechzig Metern gewöhnt war – wobei selbst diese nur ganz selten vorkamen. Er konnte mindestens eine Meile weit sehen und war jetzt überzeugt davon, daß er nicht in einer Flüssig keit, sondern in dichtem Gas unterwegs war. Der »Meeresboden« war tief unter ihm als ge sprenkelte, dunkle Verschwommenheit gerade noch sichtbar; auf ihr leuchteten runde Lichtflecke, in ge raden Linien bis zum dunstigen Horizont hinaus hin tereinander aufgereiht wie die Straßenlampen von Großstädten in leichtem Nebel. Nur eine halbe Meile entfernt konnte er die unteren Bereiche dieser in den Himmel hineinragenden Masten sehen; sie waren umwunden von gigantischen Wurzeln, dazwischen schwammen – oder flogen oder schwebten – Schwärme von kleinen Wesen. Obwohl er wußte, daß man irdische Begriffe hier nicht anwenden konn te, betrachtete er sie automatisch nicht als Fische,
sondern als Vögel – aber sie waren zu weit entfernt, als daß er sie deutlich hätte sehen können. Dann kam aus den Tiefen etwas zu ihm heraufge rauscht, das weder Fisch noch Vogel war. Es handel te sich um einen röhrenförmigen Gegenstand wie die Zelle eines früheren Düsenflugzeugs, mit klaffendem Einlaß an der Vorderseite und kleinen Flossen oder Finnen hinten. Bowman hielt es zunächst für eine Art Fahrzeug, aber als es nur noch einige Meter entfernt war, begriff er, daß er ein Tier vor sich hatte. Es trieb sich mit mächtigen Kontraktionen des biegsamen Schlauchs vorwärts, der durch seinen ganzen Körper verlief. Das Wesen schwebte vor dem Fenster der nun fast regungslosen Kapsel, und erst jetzt bemerkte Bowman, daß es einen Reiter trug. Einen Augenblick lang glaubte er, das, was unge fähr ein Drittel des Weges hinter der Einlaßöffnung zu sehen war, sei ein großer Parasit. Aber plötzlich löste sich die Erscheinung von dem Röhrentier und schwamm rasch auf die unsichtbare Luftblase um die Kapsel zu. Bowman sah ganz deutlich einen wunder bar windschlüpfrigen, torpedoförmigen Körper, sehr ähnlich dem eines Schild- oder Karpfenfisches, die sich mit ihren Saugorganen an Haien festmachen. Der Vergleich entsprach fast genau, weil er sogar die Saugnäpfe sehen konnte, mit deren Hilfe sich das Wesen an seinem Wirt festhielt. Dann sah er die vier großen, intelligenten Augen, die aus Vertiefungen seitlich am Körper ragten, wo hin sie sich vermutlich einzogen, wenn das Tier
schnell dahinflog. Hier war ein Geist, der ihn in Au genschein nahm. Der Saugfisch begann, an der schützenden Luft blase entlangzugleiten, offensichtlich in der Absicht, die Raumkapsel näher zu untersuchen. Das reiterlose Röhrentier wartete indessen, von Zeit zu Zeit schwach pulsierend. Nach einigen Minuten kehrte das zweite Wesen zu ihm zurück, und das Paar schoß davon. Gleichzeitig begann die Kapsel, wieder hin abzusinken; an einen Zufall konnte man kaum glau ben, und Bowman fragte sich, ob die Saugfische die Herren dieser Wasserwelt waren. Von Gliedmaßen hatte er jedoch nichts sehen können – und ohne Greiforgane war eine Zivilisation doch gewiß nicht aufzubauen. Der Meeresboden rückte deutlich näher. Unter sich sah er, was nach phosphoreszierenden Palmen aussah – aber er erkannte rasch die Unsinnigkeit, Begriffe der Erde hierher zu übertragen. Obwohl die Objekte ganz wie Palmen aussahen, hatten sie mit ihnen offensichtlich nichts gemein. Röhrenstengel von etwa sechs Meter Länge liefen in Federbüscheln von Wedeln aus, die unaufhörlich die Flüssigkeit ringsum peitschten, möglicherweise auf der Suche nach Nahrung. Einige der Wesen schienen ihn wahr zunehmen, als er über ihnen dahinglitt, weil sie sich vergeblich nach der Kapsel hochreckten. Die Pflanzung der leuchtenden Stengelwesen reichte meilenweit einen sanften Abhang hinunter, der schlagartig an einer fast senkrechten Klippe ab
brach. Als die Kapsel über den Rand des Plateaus schwebte und an der Klippe heruntersank, sah Bow man, daß diese mit einem Geflecht von Ranken überzogen war. Sie bildeten ein verschlungenes Ge wirr, das sich pausenlos wie eine gigantische, viel armige Qualle wand. Manchmal klaffte es auf und gab den Blick auf tie fe Höhlen frei, die stetig leuchteten, sinnlose Flecken Lichts. Hunderte Meter danach endete die Klippe an einer flachen Ebene, die vom herabsickernden Licht nur schwach erhellt wurde. Offenkundig war sie kulti viert worden – sie war aufgeteilt in riesige Quadrate und Rechtecke, im Unterwasserzwielicht von unter schiedlicher Rot- und Braunfärbung. Die ersten Pflanzen, die er aus der Nähe betrach ten konnte, sahen aus wie Dreibeine, die aus dem Meeresboden wuchsen; sie hatten drei schwarze Stengel oder Wurzeln, die etwa drei Meter über dem Boden zu einem Einzelstamm verschmolzen. Dieser ragte noch eineinhalb, zwei Meter empor und lief in einer großen, umgedrehten Schüssel aus. Es gab Tausende von diesen Dreibeinen, die hinausreichten bis zum Horizont. Bowman flog meilenweit in geringer Höhe über sie hinweg, bis er sah, daß dieses fremdartige Feld ebenso fremdartige Arbeiter hatte. Dreibeine, die derselben Art anzugehören schienen, aber von blei chem, fleischigem Weiß waren, schoben sich ganz langsam an den stehenden Reihen entlang. Erst als er
an mehreren vorbeigekommen war, konnte Bowman erkennen, wie sie sich bewegten. Ihre Wurzelbeine waren fest im Boden verankert; sie zogen eines hoch, schoben es mit Zeitlupenge schwindigkeit ein kurzes Stück vor und bohrten es wieder hinein, bevor sie das nächste bewegten. Er schätzte, daß ihre Geschwindigkeit nicht mehr als eine Meile in der Stunde betrug, aber für Pflanzen – wenn sie wirklich Pflanzen waren – konnte das als sehr beachtlich gelten … Immer wieder beugte ein weißes Dreibein sich zu einem stationären vor, und die beiden Glocken be rührten sich zu einer Art Blumenkuß oder Pflanzen kopulation. Nach einer Pause von einigen Sekunden trat etwas ganz Erstaunliches ein. Die Glocke der starren Pflanze brach vom Stengel ab und schwamm davon wie ein lebendiger Schirm – während der Rest des Wesens am Meeresgrund zu sammenbrach. Er sah mindestens ein Dutzend der losgelösten Glocken in der Ferne davontreiben und bemerkte, daß sie alle genau in dieselbe Richtung schwammen – an den Reihen ihrer »Eltern« entlang, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden waren. Dann kam meilenweit eine orangerote, unauffälli ge Moosart, die eine besondere Eigenschaft aufwies. Wie die Röhrenpflanzen, denen er vorher begegnet war, spürte es seine Gegenwart und reagierte mit Aufleuchten. Als die Kapsel über dieser Unterwas ser-Tundra dahinschoß, bildete sich darunter eine phosphoreszierende, V-förmige Kielspur, die etwa
hundert Meter hinter dem Heck langsam verblaßte. Dann sah er weit voraus einen milchweißen Strei fen, der auf dem lebenden Moos flackerte und tanzte. Er vermutete, daß irgend etwas eine Störung hervor gerufen hatte, und erkannte rasch, daß seine Vermu tung zutraf. Eine leuchtende rote Decke, die aus der Ferne wie eine Lavaschicht aussah, wälzte sich über das Moos. Sie war nur etwa fünfzehn Meter breit, näherte sich aber auf einer Front von mindestens einer Meile und hinterließ einen Streifen nackten, braunen Bodens. Sie kroch nicht bloß, sondern fraß sich vorwärts und verzehrte dabei das Moos. Trotzdem war ihr Sieg wertlos, weil auch sie beim Vordringen verzehrt wurde, und zwar so schnell, daß ihre Breite ungefähr gleichblieb. Am hinteren Rand klebten wie Riesenegel durchsichtige Larven von Mannsgröße; man konnte das ganze Geflecht ihrer inneren Organe sehen, das beim Fressen pulsierte und pochte. Und wer oder was verschlingt die Larven? dachte Bowman. Er erfuhr die Antwort nicht, bis die beun ruhigende Szene hinter ihm zurückgeblieben war. Nun hatte er das Ende der Farmflächen erreicht, wie er sie mangels eines besseren Ausdrucks noch immer nannte, und sah vor sich eine Kette felsiger Hügel auftauchen. Sie schienen durch eine erodie rende Naturkraft aus vielfarbigen Gesteinsschichten herausgemeißelt worden zu sein, die riesige Höhlen und Bogengänge von vierzig, fünfzig Metern Höhe
hinterlassen hatte. Aus der Dunkelheit einer dieser Höhlen ragte ein Gewirr von schwarzen, peitschenar tigen Fühlern oder Greifarmen; sie lagen bewegungs los auf einem sandigen Meeresboden, der vor kurzem wie mit einem Besen gefegt worden zu sein schien. Es fiel schwer, diese Greifarme nicht mit den Wisch spuren im Sand in Verbindung zu bringen, aber ob wohl Bowman sie scharf beobachtete, solange sie in Sichtweite waren, regten sie sich nicht. Die Kapsel flog parallel zu diesen Hügeln dahin, als Bowman zum erstenmal ein Geräusch aus der Welt außerhalb seines Schutzkokons wahrnahm. Es war ein fernes Brausen wie von einem fernen Sturm oder Wasserfall und wurde von Minute zu Minute lauter. Schließlich ruhte sein Blick, der roten und braunen und schwarzen Farbtöne ein wenig über drüssig, dankbar auf einer dünnen Säule grellen wei ßen Lichts, die sich senkrecht in den düsteren Him mel hinausreckte. Sie glich einem stark gebündelten Scheinwerfer strahl und schien an einem Punkt hoch in den Bergen zu entstehen. Obwohl ihre Farbe ihn an die Welt er innerte, die er kannte, erschrak er ein wenig; zum allererstenmal sah er ein Licht, das brüllte. Kosmopolis Der gleißende, dünne Lichtstrahl entsprang einem riesigen Metallnetz, über drei Felsspitzen gespannt, die an die hundert Meter hoch waren. Ringsum
herrschte zyklonartige Bewegung; Bowman hatte das Gefühl, vor einem stationären Tornado zu stehen, und zwar unbehaglich nah. Der spitz zulaufende Tornadotrichter ragte durch die Meilen Ozean über seinem Kopf hinauf, bis er dem Blick entschwand, und er war überzeugt davon, daß er emporreichte bis zum Weltraum. Irgendeine ungeheure Kraft hielt die Millionen Tonnen Flüssig keit rings um den gleißenden Strahl fern, aber zu welchem Zweck das geschah, konnte Bowman nur vermuten. Die Kapsel fegte weiter an den verwitterten Ber gen entlang, und das Gebrüll des Unterwassertorna dos blieb zurück. Bowman huschte mit großer Ge schwindigkeit über einer leeren Wüste dahin. Sie war durchzogen von undeutlichen weißen Linien, die in alle Richtungen wanderten, gleich den Spuren von Schnecken. Von den Wesen, die sie hinterlassen hat ten, war nichts zu sehen. Er vermochte nicht mehr zu schätzen, wie tief er unter der Oberfläche dieses sonderbaren Meeres war. Die letzten Sonnenstrahlen waren schon Meilen über ihm erloschen, aber trotzdem gab es hier überall Licht. Oben glitten lebende Kometen durch die Mee resatmosphäre und blinkten manchmal wie Neonre klame; einmal wirbelte ein großer Schwarm leuch tender Spiralen in allen Größen auf exakt parallel verlaufenden Bahnen vorbei. Aber nun wurde das Licht immer stärker, und schließlich konnte er erkennen, daß er sich ohne je
den Zweifel einer Stadt näherte. Sie war grell beleuchtet von künstlichen roten Sonnen am Himmel, die sich in beiden Richtungen am Horizont endlos erstreckten. In ihren schrägen Strahlen sah er ein Panorama, so fremdartig und schön, wie New York einem Neandertaler erschienen wäre. Es gab keine Straßen, nur riesige Gebäude in ei nem weiten Gitter auf einer Ebene aus einer Substanz von tiefdunkler, rubinroter Farbe, gelegentlich von Lichtblitzen durchzuckt. Manche der Bauwerke wa ren halbkugelförmig, andere glichen gigantischen Bienenkörben, einige sahen aus wie umgekippte Schiffe, deren Kiele zu schlanken Spitztürmen hoch gezogen waren. Obwohl viele kantig und unauffällig und auf wenigen Elementen zu beruhen schienen, wirkten andere so komplex wie gotische Dome oder kambodschanische Tempel; eine Gruppe von Bauten erinnerte Bowman sogar ein wenig an Angkor Wat. Die Bewohner entdeckte er erstmals aus einer Ent fernung von rund tausend Metern, als er die Vororte der Stadt erreichte. Eine Gruppe, bestehend aus ei nem halben Dutzend, war auf dem breiten Streifen, der die Bauwerke trennte, von einem Gebäude zum anderen unterwegs. Obwohl er ihre Größe noch nicht genau beurteilen konnte, sah er, daß sie zwei Arme und zwei Beine hatten und aufrecht gingen. Sogar aus der Ferne wirkten die Köpfe jedoch höchst ei genartig, und auch die Fortbewegungsweise war sonderbar. Die Wesen bewegten sich mit langsamer,
fließender Anmut – beinahe so, als schöben sie sich durch eine dicke Flüssigkeit. Verglichen mit diesen Geschöpfen waren die Menschen zuckende Glieder puppen. Bowman erkannte bald, daß es in der Stadt keinen Bodentransport gab; alle Fahrzeuge bewegten sich in einer schmalen Schicht von etwa fünfzehn Metern Dicke ungefähr dreißig Meter über dem Boden. Er konnte Dutzende davon sehen, in vielen Größen und Formen, die zwischen den Riesentürmen hin- und herschossen, und fragte sich, wie es ihnen gelang, Zusammenstöße zu vermeiden. Dann bemerkte er kaum sichtbare Lichtlinien, die ein farbiges Netz bildeten; es füllte die ganze Stadt aus und reichte weit darüber hinaus. Manche Linien waren scharlachrot, andere blau, und sie hingen in der Luft wie ein Gitter aus glühenden Drähten. Ganz eindeutig bestanden sie nicht aus festem Material, weil er durch sie hindurchsehen konnte. Entlang diesen körperlosen Fäden bewegte sich jedoch der ganze Verkehr in der Stadt mit großer Ge schwindigkeit, entweder von ihnen angetrieben oder durch sie gesteuert. Die häufigsten Fahrzeuge waren kleine Kugeln mit einem oder zwei Insassen; sie sa hen aus wie Seifenblasen, die von einem Sturm vor wärtsgepeitscht wurden, denn bis auf einen undurch lässigen Teil des Bodens waren sie völlig durchsich tig. Es gab zwei Sitze, die nach vorn blickten, und eine kleine, konisch zulaufende Säule, die vermutlich die Steuerung enthielt. Das war alles; aber Bowman
wußte, daß die Länder der Erde mit Freuden Milliar den für die Geheimnisse bezahlt hätten, die darin verborgen sein mußten. Ferner gab es erheblich größere, ovale Fahrzeuge, die bis zu zwanzig Passagiere beförderten, und ande re, die offenbar nur dem Frachttransport dienten. An einem der leuchtenden Fäden schossen, wie Regen tropfen an einem Spinnennetz hängend, aber mit gut hundert Meilen in der Stunde unterwegs, reihenweise Kugeln dahin, die nichts enthielten als rötliche Flüs sigkeit. Sie rasten in völlig gleichmäßigen Abständen an Bowman vorbei und verschwanden vor ihm in der Stadt. Er war schon an der ersten Häuserreihe vorbei, bevor er die Stadtbewohner auf der Nähe sah. Die Kapsel flog in einer Höhe von etwa einhundert Me tern an einem großen, geriffelten Kegel vorbei, der mit vielen kleinen Balkonen bestückt war. Und auf einem von Ihnen stand sein erster Außerirdischer in voller Größe. Bowmans erster Eindruck: Ein hochgewachsenes, extrem in die Länge gezogenes menschliches Wesen, das ein schimmerndes Metallgewand trug. Als er nä her kam, sah er, daß das nur teilweise richtig war. Das Wesen war fast zweieinhalb Meter groß, aber völlig unbekleidet. Das schimmernde Metall war seine Haut. Sie schien so biegsam zu sein wie ein Kettenhemd – oder die Schuppen einer Schlange, obschon durchaus kein reptilhafter Eindruck hervorgerufen wurde. Der Kopf
hatte gar nichts Menschliches; er verfügte über zwei riesengroße Facettenaugen und ein kleines, eingeroll tes Rüsselorgan an der Stelle, wo die Nase hätte sit zen sollen. Haare fehlten, aber dort, wo man Ohren erwartet hätte, wuchsen Federbüschel, nach Bow mans Vermutung Sinnesorgane. Er flog in einem Abstand von fünfzehn Metern an dem Wesen vorbei und verspürte trotz der anomalen, seltsam losgelösten Gemütsverfassung, in der er sich seit dem Verlassen des Jupiters befand, eine plötzli che Aufwallung von Erregung und Staunen – und von ungeheurem persönlichem Stolz. Er war der alle rerste Mensch, dessen Blick auf einen intelligenten Außerirdischen fiel – eine Ehre, die ihm niemand mehr nehmen konnte. Und er war im Gegensatz zu allem, was die pessimistischer gestimmten Exobiolo gen befürchtet hatten, weder entsetzt noch abgesto ßen. Dieses Wesen war zwar gewiß sehr fremdartig, aber keineswegs erschreckend. Wie alle lebenden Wesen besaß es vielmehr seine eigene innere Logik und Schönheit; selbst in Ruhe erweckte es einen Ein druck von Kraft und Anmut. Er war am Balkon schon vorbei, als ihm der Ge danke kam, daß das Verhalten des Fremdwesens sehr merkwürdig war. Selbst in einer Kosmopole wie die ser konnte es nicht jeden Tag vorkommen, daß ein fremdes Geschöpf am Fenster vorbeiflog; Bowman ging davon aus, daß er das allererste menschliche Wesen war, das irgend jemand auf diesem Planeten zu Gesicht bekam. Trotzdem hatte das Geschöpf ihn
überhaupt nicht beachtet. Er drehte den Kopf und sah gerade noch, daß er nicht unbeachtet geblieben war. Dieses Fremdwesen – nein, er war hier das fremde Wesen – hatte seine gleichgültige Haltung aufgegeben und blickte ihn nun direkt an. Es hielt sogar ein kleines Metallröhr chen ganz wie eine Lorgnette an ein Auge. Im ersten Augenblick nahm Bowman an, es handele sich um ein optisches Hilfsgerät, aber dann kam er zu dem Schluß, daß man eine Fotografie – oder etwas Ent sprechendes – von ihm gemacht hatte. Das Wesen ließ das Instrument sinken und duckte sich weg, als die Kapsel davonflog. Bowman konnte in seinem Ausdruck nicht das Mindeste lesen und begriff zum erstenmal, wieviel Erfahrung und Wis sen erforderlich war, um die Empfindungen auch nur eines anderen menschlichen Wesens richtig zu er kennen; die Gedanken eines Fremdgeschöpfs an sei nem Äußeren abzulesen, mochte niemals möglich sein. Der langerwartete erste Kontakt hatte auf eine Art und Weise stattgefunden, die zugleich eher enttäu schend und mehr als geheimnisvoll erschien; trotz dem bestand die Möglichkeit, daß das bei diesen Wesen als wilde, überschwengliche Begrüßung zu gelten hatte. Als er tiefer in die Stadt hineingeflogen war, wuchs seine Überzeugung, daß jedermann sich seiner Anwesenheit bewußt war und man ihn bewußt nicht beachtete. Zum Beispiel hatte sich mitten auf einem
Zwischenstreifen eine kleine Menge um eine senk rechte Fläche versammelt, die Ähnlichkeit mit einer Plakatwand oder einer Leuchttafel besaß. Die Fläche war bedeckt mit bewegten Mustern und Symbolen, die man mit großer Aufmerksamkeit verfolgte; Bowman fragte sich, ob sie Nachrichten übermittel ten, für Waschpulver warben, interstellare Börsen kurse durchgaben oder den Abflug von Kugelfahr zeugen nach fernen Orten mitteilten. Wie auch immer, er hätte es nicht für aufregender gehalten als den Vorbeiflug eines fremden Wesens aus dem Weltraum in einer Entfernung von nur drei ßig Metern – aber trotzdem beachteten ihn die Zu schauer nicht. Bowman blickte im Vorbeiflug jedoch in den Rückspiegel der Raumkapsel und sah, daß viele von ihnen ihn heimlich über die Schulter beo bachteten. Ein gewisses Interesse an ihm war also doch vorhanden; immerhin gab es eine ganze Anzahl von Wesen, die ihn keines Blickes würdigten, son dern gebannt auf die Anzeigefläche starrten. Er flog nun geradewegs über einem der Trenn streifen dahin; vor ihm reichten die seltsamen Kup pelgebäude in die Ferne, bis sie sich im rosigen Dunst des Horizonts verloren. Viele waren mit Leuchttafeln ausgestattet und funkelten wie vielfar bige Edelsteine. Andere waren mit unfaßbar ver schlungenen gemeißelten Bildwerken oder Zeich nungen bedeckt. Bowman konnte nicht umhin, sie mit den Glas- und Metallkästen seiner eigenen Welt zu vergleichen. Die Architekten auf diesem Planeten
schienen für Äonen zu bauen; die Stadt erweckte den Eindruck, abgeschlossen und fertig zu sein, weil man nirgends Anzeichen für Bau- oder Abrißtätigkeit er kennen konnte. Anfangs erstaunte ihn das, dann fiel ihm ein, daß alle Städte auf der Erde von vergängli chen, explodierenden Gesellschaften errichtet wor den waren und er hier wohl eine Kultur vor sich hat te, die von gänzlich anderer Art war. Ein weiterer Beweis dafür war die Weitläufigkeit der Stadt; hier gab es nichts von der grauenhaften Überfüllung, die alle Großstädte auf der Erde kenn zeichnete. Auch das war kein Wunder; jede wahrhaft langlebige Zivilisation mußte über absolute Bevölke rungskontrolle verfügen. Es mußte Tausende von Jahren her sein, seitdem diese Wesen ihre Gesell schaft auf einen stabilen Stand gebracht und ent schieden hatten, es sei besser, daß eine Million in Behaglichkeit lebe, als daß zehn Millionen im Elend zugrundegingen. Eine Lehre, die Bowmans eigene Welt nur mühsam gelernt hatte. Manchmal entdeckte er wie in einem Zerrspiegel offenkundige Entsprechungen zum Leben auf der Erde. Zwar gab es keine Verkehrsstauungen, ver zweifelte Autofahrer oder gehetzte Fußgänger, aber vor einem großen Kuppelbau sah er doch einmal eine lange Schlange von wartenden Wesen. Er fragte sich, ob das Premierenbesucher, Kauflustige oder Begei sterte für irgendeine nie zu erahnende Sache waren; es verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung, sich sagen zu können, daß es selbst in der am höchsten
stehenden Gesellschaft manchmal notwendig werden konnte, zu warten, bis man an die Reihe kam. Und einmal überflog er etwas, das ein Kindergar ten oder Spielplatz sein mochte. Er blickte gebannt hinunter, weil bislang alle Wesen, die er auf den Straßen gesehen hatte, Erwachsene gewesen waren; zum erstenmal empfand er es als merkwürdig, daß er kein einziges kindliches Wesen gesehen hatte. Aber da waren sie, zu Dutzenden – sie spielten ge nau wie Menschenkinder in einem kleinen Park auf dem Dach eines niedrigen, ovalen Gebäudes. Es war eine reizvolle, beinahe gemütliche Szene; da ein Hain, den man sich auch auf der Erde vorstellen konnte, dort eine Pflanze mit dem Aussehen einer Riesenorchidee, auf die das nicht zutraf, hier ein winziger See mit einer Wasserfontäne in der Mitte, ein paar geheimnisvolle Maschinen, die von kleinen, eifrigen Gestalten bedient wurden – und aus der Nä he sahen zwei Erwachsene zu. Die Kinder waren alle genau gleich groß; Bowman schätzte sie auf etwa eineinhalb Meter. Sie sahen aus, als wären sie alle aus einem Ei geschlüpft, und er fragte sich, wie diese Wesen sich fortpflanzen moch ten. Obwohl sie keine Kleidung trugen außer offen kundig reinen Nutzgurten, um Beutel, Taschen und gelegentlich Gerät zu tragen, hatte Bowman keine Anzeichen geschlechtlicher Unterscheidungen – oder auch geschlechtlicher Bestimmung erkennen können. Auch das gehörte zu den Tausenden von Fragen, die er aufschieben mußte, in der Hoffnung, eines Tages
die Antwort zu erfahren. Die Reaktion der Kinder auf sein Erscheinen war eine ganz andere als bei den Erwachsenen. Als die Kapsel über ihren Spielplatz hinwegflog, ließen sie alles stehen und liegen und starrten in unverkennba rer Aufregung zu ihm hinauf. Mehrere zeigten nach oben und winkten, und eines der kleinen Wesen schien mit einem Gegenstand zu zielen, der wie eine kleine Schußwaffe aussah. Bowman beäugte dieses Gerät mit Besorgnis. Es erinnerte ihn an die Spielzeug-»Strahlenpistolen« seiner Kindheit – und in einer Super-Zivilisation wie dieser mochte auch ein Spielzeug nahezu zu allem fähig sein … Er zuckte zusammen, als der Abzug durchgezogen wurde, weil ihm plötzlich der Gedanke gekommen war, er könnte hier für so unwichtig gehalten werden wie ein Kaninchen, auf das ein Junge mit dem ersten Luftgewehr seines Lebens schießt. Aber es geschah nicht mehr, als daß aus der Mündung ein funkelnder silberner Ring herausschoß, zur Kapsel hinaufflog und harmlos abprallte, während er sich immer noch in Ausdehnung befand. Auf dem Spielplatz herrschte plötzlich Aufregung. Die beiden Erwachsenen eilten auf den jungen Schützen zu und nahmen ihm sein Spielzeug weg. Etwas später kam Bowman an einem Einkaufszen trum vorbei – jedenfalls hielt er die Anlage dafür; einen besseren Namen wußte er nicht. Es war ein rie siges Gebäude von unregelmäßiger Form mit Dut
zenden von ausladenden Geschossen; mindestens fünfzig der leuchtenden Himmelsfäden führten zu den verschiedenen Stockwerken. An diesen Leitka beln bewegte sich eine unaufhörliche Folge der durchsichtigen Kugeln und eiförmigen Gebilde, die Güter aller Art beförderten. Es war sonderbar anzu sehen, daß deutlich als solche erkennbare Möbel stücke wie Tische und Stühle dahinsegelten, gefolgt von gänzlich fremdartigen Geräten oder Behältern mit leuchtenden, farbigen Gasen. Ins Gebäude hinein schien nichts zu wandern; es kamen nur Gegenstände heraus. Auch Kunden waren nirgends zu sehen, obwohl das nicht so sehr verwun dern konnte; sogar auf der rückständigen Erde wurde fast nur noch über den Fernsehschirm eingekauft. Die Einzelheiten, die er bei seinem raschen Flug durch die Stadt wahrnahm, wirkten auf ihn gleicher maßen verwirrend und aufschlußreich. Viele Gebäu de hatten große, durchsichtige Flächen, durch die er kurze Blicke auf die Bewohner werfen konnte, was sein Interesse immer mehr anregte. Einmal sah er eine große Gruppe um einen kreisrunden Trog voll rötlich rauchender Flüssigkeit stehen und mit den biegsamen Kleinrüsseln daraus trinken. Das war ver ständlich genug – aber was war der dichte grüne Ne bel, der über der unteren Zimmerhälfte lagerte? Und dann gab es noch ein Bauwerk, in dessen In neren die Gravitation außer Rand und Band geraten zu sein schien. Er konnte Ebenen von glitzerndem Material in der Art von schwach leuchtendem Glas
sehen, die sich in allen möglichen Winkeln durch drangen. Zwischen oder auf diesen Flächen gingen Gestalten, die keinerlei Rücksicht auf »oben« oder »unten« nahmen. Manche stiegen senkrecht hinauf, andere in einem Winkel von fünfundvierzig Grad, und oft wurde im rechten Winkel lässig umge schwenkt, wenn das private Gravitationsfeld kippte und eine Wand zum Boden wurde. Sogar für einen Astronauten, der an die Bedingungen der Schwerelo sigkeit gewöhnt war, wirkte dieser Anblick sehr be unruhigend. Ein Kuppelbau war völlig durchsichtig. Dort schien eine Art Demonstration, ein Spiel oder eine künstlerische Vorführung stattzufinden. Um eine kleine runde Fläche saßen einige hundert Zuschauer in Drehsesseln. Was sie verfolgten, war eine glei ßende – und für Bowman schwindelerregende – Dar bietung von Formen und Farben, als stelle ein wahnsinnig gewordener Geometer seine Einfälle aus. Scheinbar massive Gestalten tauchten auf, ver schmolzen miteinander, durchliefen Veränderungen der Perspektive, sausten ins Unendliche davon, wäh rend sie am selben Ort blieben. Manchmal war quä lend ungenau etwas zu erkennen, das beinahe eine andere Dimension sein mochte, ein andermal wurden Flächen, die konvex zu sein schienen, auf einmal konkav. Bei ein, zwei Gelegenheiten gerieten die Zu schauer in helle Aufregung und schwenkten die dün nen Arme, obwohl Bowman keinen Anlaß dafür er kennen konnte.
Die Stadt nahm einen anderen Charakter an; die Gebäude waren hier kleiner und standen weiter aus einander. Aber vor ihm, noch mehrere Meilen ent fernt und vom Lichtdunst noch halb verhüllt, stand ein gigantisches Bauwerk, das größte, das er bislang gesehen hatte. Von einer Mittelkuppel mit Spitzturm führten vier Hauptflügel hinaus, getrennt durch vier kleinere, so daß der Grundriß des Gebäudes ungefähr einer Kompaßrose oder einem riesenhaften Seestern entsprach. Der Durchmesser betrug nach Bowmans Schätzung mindestens eine Meile. Er flog gerade wegs darauf zu. Dann wurde er von einem anderen fremdartigen Anblick abgelenkt. Die Kapsel überflog, was eine breite Fläche aus glänzendem Metall zu sein schien – aber Bowman kannte kein Metall, durch das unauf hörlich Wellen liefen – falls es sich nicht gerade im Schmelzzustand befand. Er schien einen Quecksil bersee zu überfliegen. Die Wellen wurden hervorgerufen von kleinen, schildkrötenähnlichen Maschinen, die langsam und beharrlich auf der schimmernden Oberfläche dahin zogen; sie hinterließen breite, gerippte Furchen, die sich erst nach einigen Sekunden verliefen. In der Mitte des Sees entstand plötzlich eine gewaltige Wölbung, etwas in der Art eines U-Boots – oder ei nes Wals? – tauchte herauf und versank wieder in den Tiefen. Hinter dem See wurde endlich etwas sichtbar, das sich ganz und gar begreifen ließ. Dieser riesige Tor
pedo von rötlicher Bronzefarbe konnte nur ein Raumschiff sein, was wohl auch für die funkelnden Kristallkugeln und Ovoide in seiner Nähe galt. Klei ne Bodenfahrzeuge huschten hin und her, winzige Gestalten gingen herum, und es gab sogar einen Be obachtungsturm, bestückt mit blinkendem Dachlicht und sonderbaren Anlagen. Flughäfen für Raum- und Luftfahrt sahen wohl zu allen Zeiten und an allen Orten gleich aus, dachte Bowman, aber die Tatsache, daß diese Wesen ihre Raumschiffe innerhalb der Stadtgrenzen betrieben, zeigte, wie weit ihre Techno logie der irdischen voraus war. Als er vorbeiflog, stieg eine der Kristallkugeln in die Luft, mühe- und lautlos wie ein Luftballon. Sie schwebte mit gleichmäßiger Geschwindigkeit senk recht empor, bis sie am dunklen Himmel ver schwand. Bowmans Gedanken folgten ihr, und für Augenblicke überwältigte ihn das Heimweh nach der Erde. Das verging rasch, weil ihn jetzt andere Dinge be schäftigten. Das gigantische Gebäude in Sternform rückte nah heran. Prüfung Die Kapsel stieg nun wieder höher. Der Turm in der Mitte des Komplexes überragte ihn wie ein Berg, der mit dem Gipfel durch die Wolken stößt. Es war ein sehr sonderbarer Berg, denn er schien aus Glas oder Kristall zu sein und war durchzogen von zahllosen
dunklen Linien und Fäden; an vielen glitten winzige Lichtknoten dahin, manche langsam, andere mit ra sender Geschwindigkeit. Wie eine Schwalbe in ihr Nest hoch oben zwi schen den Kreuzbögen und Pfeilern eines mächtigen Doms hineingleitet, verschmolz die Kapsel mit dem Mittelturm. Was aus der Ferne bloß ein Detail der komplizierten Ornamentik gewesen zu sein schien, dehnte sich aus, bis es zu einem Rundtunnel von et wa drei Metern Durchmesser wurde. Der Platz war ein wenig knapp, aber die Kapsel raste mit unver minderter Geschwindigkeit hindurch, und zum er stenmal bemerkte Bowman eine Linie blauen Lichts, die in der Luft vor ihm schwach schimmerte und sei ner Führung zu dienen schien. Der Tunnel war in durchscheinendes Material hineingetrieben, so daß Bowman den Eindruck hatte, ins Innere eines Eis bergs hineinzurasen – wenn man sich einen Eisberg denken konnte, der nicht blau und grünlich schim merte, sondern hellrot und vergoldet. Er konnte in allen Richtungen andere Gebilde in Bewegung se hen, senkrecht und waagrecht, offenbar in benach barten Tunnels unterwegs, aber deutlich zu erkennen vermochte er sie nicht. Dann schoß er hinaus in eine ungeheure Höhle, die wie eine Luftblase im Eis aussah. Es war ein annä hernd halbkugelförmiges Gewölbe, etwa hundert Meter im Durchmesser, mit Wänden, deren Wölbung sich unaufhörlich veränderte, so daß sie manchmal konkav, dann wieder konvex erschienen. Er flog über
einer durchsichtigen Fläche ungefähr fünfzehn Meter über dem Boden dahin; über und unter ihm gab es andere, ebenso durchscheinende Flächen. Einige standen still, andere bewegten sich und tru gen seltsame kleine Gebilde und rätselhafte Maschi nenteile. Der Anblick war verwirrend und doch ge ordnet; und hier sah Bowman die ersten gänzlich nicht menschlichen Intelligenzen, von ihm getrennt durch die gleitenden Kristallböden. Über ihm waren in dichter Formation sechs ge drungene Kegel mit Dutzenden von winzigen, röh renartigen Beinen unterwegs. Sie glichen Seeanemo nen, die auf ihren Tentakeln gingen, und Bowman konnte von Sinnesorganen nirgends etwas entdecken. In der Mitte war jeder Kegel von einem weißen Gür tel umgeben, der aus Pelz zu bestehen schien und mit Metallplatten besetzt war, auf denen kantige Hiero glyphen zu sehen waren. Die Kapsel huschte an mehreren der schlangen schuppigen Humanoiden vorbei. Diese hier drehten sich um und starrten ihn mit unverhohlenem Interes se an. Dann bemerkte Bowman etwa zwei Etagen unter sich ein höchst eindrucksvolles Wesen, das ei ner riesigen Gottesanbeterin glich. Es war behängt mit edelsteinartigen Ornamenten oder Gerätschaften und schritt rasch davon, ohne seiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken. Die metallischen Gliedmaßen schimmerten in den Regenbogenfarben eines Brechungsgitters; Bowman hatte noch nie et was so Prachtvolles gesehen, ausgenommen einige
Tropenfische an Korallenriffen. Er flog ganz nah an einem Ding vorbei, das ein Roboter oder auch eine Kombination MaschineOrganismus, vielleicht sogar ein lebendiges Tier aus Metall sein mochte. Es sah aus wie eine elegante Sil berkrabbe und wurde getragen von vier Gelenkbei nen, die jeweils in einem kleinen, dicken Rad auslie fen; das Wesen konnte offenbar je nach Bedarf gehen oder rollen. Der Körper war eiförmig und schien vo rübergehend mehrere Gliedmaßen in sich aufge nommen zu haben, auf dem Ganzen saß ein Vieleck kopf; jede Facette trug ein tief eingelassenes Objek tiv. Es gab noch ein höchst beunruhigendes Wesen, bei dem er Schwierigkeiten zu haben schien, es scharf genug zu sehen – eine sanft pulsierende, gol dene Flamme, in deren Innerem drei grelle, niemals flackernde Sterne wie Rubinaugen leuchteten; wenn ihn seine Sinne nicht völlig täuschten, verschwand die Erscheinung in Abständen von wenigen Metern und tauchte immer wieder auf, geisterhafte Nachbil der hinterlassend, die erst nach einigen Sekunden ganz verschwanden. Er kam nicht an der Frage vor bei, ob er ein Wesen vor sich hatte, das zumindest teilweise in einer anderen Dimension von Raum oder Zeit existierte; ganz gewiß blieb kein Zweifel daran, daß diese Stadt der Treffpunkt vieler Welten war. Es gab sogar Wesen, die offenkundig pflanzlicher Art waren. Sie bewegten sich nicht aus eigener Kraft, sondern wurden getragen von kleinen Wannen oder
Töpfen, gefüllt mit einer glänzenden, schlammigen Substanz, aus der ihre Röhrenkörper sprossen. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Trauerweiden; ihre dünnen, gelben Ranken zitterten unaufhörlich, als litten sie an Schüttellähmung. Sie waren in Licht glast aus einem Ring greller Lampen um sie unter wegs, so daß sie, gleichgültig, wohin sie gingen, stets ihre Privatsonnen dabei hatten. Dann lag die große Höhlung hinter ihm, und er flog wieder durch einen Tunnel, der diesmal sehr kurz war. Er endete in einem Raum mit niedriger Decke, dessen Dach offenbar von sechs kreisförmig angeordneten Metallsäulen getragen wurde. Die Kapsel glitt zwischen ihnen hinein und sank genau im Mittelpunkt sanft zu Boden. Das ist also die Endstation, dachte Bowman mit beherrschter, aber wachsender Erregung. Irgend je mand oder irgend etwas hatte sich ungeheure Mühe gemacht, ihn hierherzubefördern – und zu welchem Zweck? In wenigen Minuten würde er es wissen. Beinahe augenblicklich hatte er das Gefühl, beo bachtet zu werden; es war so übermächtig, so unbe streitbar, daß er den Hals verrenkte und über die Schulter blickte. Aber da war außer den matt schim mernden Metallsäulen nichts zu sehen; er konnte nicht einmal den Tunnel finden, durch den er hinein gekommen war. Die Wand, die ihn umgab, war fu gen- und lückenlos; es gab keinen Zugang und kei nen Weg nach draußen. Dann drang etwas wie Nebel durch den Wald in
sein Gehirn, und er wußte sich in Gegenwart einer überwältigenden geistigen Kraft. Hinter der leiden schaftslosen Prüfung spürte er weder Furcht noch Hoffnung; alles Gefühl war weggesickert. Aus der Vergangenheit fluteten vergessene Erin nerungen zurück, als blättere man in einem Fotoal bum. Er konnte Szenen aus seiner Kindheit sehen und hören und riechen, als besitze er totale Rücker innerung. Gesichter, die er nicht einmal erkannte, zuckten an ihm vorbei, als alle die beiläufigen Be kannten und Erlebnisse eines ganzen Lebens an ihm vorbeirasten, nun so schnell, daß er keinen Versuch mehr unternahm, sie auseinanderzuhalten. Sein gan zes Leben spulte sich ab wie auf einem Tonbandge rät, dessen Laufgeschwindigkeit verhundertfacht worden ist. Plötzlich sah er die »Discovery« wie ein beleuch tetes Modell aus Glas – mit den feinsten Einzelhei ten, alle Venen und Arterien der elektrischen Verka belung, Treibstoffleitungen, Luft- und Hydrauliksy steme, Steuerschaltungen. Manche Bereiche waren scharf und deutlich erkennbar, andere verschwom men und vage. Er begriff, daß es sich bei den letzte ren um Bestandteile handelte, die er nicht so gut kannte; was er nicht wußte, konnte er nicht sehen. Es war, als hätte er sich aus einem unergründlichen An laß die Aufgabe gesetzt, das Schiff vor seinem gei stigen Auge vorüberziehen zu lassen – und das war ihm bis zu einem Maß gelungen, das seine normalen Fähigkeiten bei weitem überstieg. Aber auch das
mochte eine Illusion sein; vielleicht glaubte er nur, daß er das machte … Und dann kam etwas, das einfach nicht Wirklich keit sein konnte. Er befand sich nicht mehr in der Kapsel oder auch nur in seiner Kleidung. Er stand außerhalb, nackt, und blickte durch das Fenster auf seine erstarrte Gestalt an der Steuerung. Das war noch nicht alles. Obwohl er die Blickrich tung nicht ändern konnte, wußte er, daß er in einem leuchtenden, dreidimensionalen Gitter, einem dichten Netz dünner horizontaler und vertikaler Linien ge fangen war. Einen Augenblick kam er sich vor wie ein Tatverdächtiger in einem Polizeirevier vor einer Meßlatte. Dann verschwand der Eindruck so rasch, wie er gekommen war, und er saß wieder in der Raumkapsel. Im selben Augenblick wurde das Fahrzeug vom Boden hochgehoben und lautlos hinausgetragen, fort von dem Ring der Metallsäulen. Wieder huschte sie durch leuchtende Korridore, noch einmal sah Bow man die fremden Gestalten in den Gängen des riesi gen Bienenstocks – aber nun wirkten sie bei weitem nicht mehr so fremdartig. Bevor er noch begriff, wie ihm geschah, war er aus dem Bauwerk hinausgetra gen worden und stieg durch das schimmernde Unterwasser-Zwielicht senkrecht empor. Er sah noch einmal kurz die Stadt, die er durchflogen hatte, dann verschwand sie unter ihm im Nebel, während er wie der in den Himmel hinaufgetragen wurde.
Der fliegende Felsen Der leere Ozean wogte unter ihm, frei von Schiffen oder Inseln. Ein-, zweimal sah Bowman Unterwas serformen, die dichte Fischschwärme oder einzelne Meereswesen von erschreckender Größe sein moch ten, aber nirgends war ein Anzeichen dafür zu erken nen, daß diese Welt eine Zivilisation beherbergte. Er wartete geduldig, noch immer unter dem Einfluß der sonderbaren Euphorie, die ihn beim Verlassen von Jupiter V gepackt hatte; er verspürte weder Hunger noch Müdigkeit, nur ein grenzenloses, kindliches Staunen und die Bereitschaft, alles zu akzeptieren, was kommen mochte. Was als nächstes kam, war eine lange, tiefhängen de Wolke – die erste, die Bowman am klaren, leeren Himmel dieses Planeten gesehen hatte. Als sie sich vom Horizont abhob, begriff er jedoch, daß das gar keine Wolke war. Obwohl das Gebilde unregelmäßig begrenzte Ränder besaß, zeichneten sie sich scharf ab; Farbtöne in Grün und Braun und Schwarz waren sichtbar, während hier und dort einige Stellen in den nun fast waagrechten Strahlen der Sonne wie Glas glitzerten. Und genau in der Mitte schien es wie ein einbeiniger Tisch von einer einzigen, schlanken, blaugrünen Säule getragen zu werden. Es dauerte einige Zeit, bis Bowman, vom Wunder samen betäubt, erkannte, daß alles, was er jetzt sah, vollkommen vertraut war – aber auf unfaßbare Weise verschoben. Diese tiefstehende Wolke war eine Insel,
die an den Rändern dunklere Farben von Humus, Fels und Stein zeigte. Er nahm diese Tatsache dank bar auf; vielleicht würde er sich später den Kopf über das kleinere Problem zerbrechen, daß sie regungslos am Himmel stand, mit dem Meer darunter nur durch die zweifelhafte Stütze eines ewig hinabstürzenden Wasserfalls verbunden. Als er näher kam, wurden die Einzelheiten der fliegenden Insel deutlicher erkennbar. Er konnte er kennen, daß ein Großteil mit Vegetation bedeckt war, aus der in unregelmäßigen Abständen metal lisch aussehende Türme und Gebäude mit weißen Kuppeln ragten. Nicht weit vom Mittelpunkt gab es eine Kette niedriger Berge; aus einem kräuselte sich ein dünner Rauchfaden in den fast wolkenlosen Himmel hinauf. Im gleichen Augenblick nahm Bowman zwei an dere Dinge wahr. Zum einen zeigte der Wasserfall im Zentrum, wie er das provisorisch getauft hatte, keine Anzeichen von Bewegung. Zwar schien er aus Was ser zu bestehen, aber dieses Wasser war regungslos, eine erstarrte Flüssigkeitssäule, zwei oder drei Mei len hoch; und er ging ohne Aufspritzen in die glatte See über. Die zweite Tatsache war die, daß die fliegende In sel nicht allein war, sondern umgeben von Dutzen den kleiner Satelliten, die ebenso unverrückbar am Himmel standen. Nein – nicht ganz unverrückbar; manche trieben ganz langsam in verschiedene Rich tungen, wie Schiffe, die sich ihren Weg durch einen
überfüllten Hafen bahnen. Und nach kurzer Zeit konnte Bowman erkennen, daß sie klein nur durch ihren überwältigenden Hintergrund wirkten, denn er steuerte direkt auf einen zu, und er begann, seinen Himmel auszufüllen. Das Ding war ein riesiger Felsen oder entwurzelter Berg, etwa eine Meile lang und dreihundert Meter dick. Die abgeflachte Oberseite war kunstvoll zu Terrassen und Rasenflächen und Teichen und kleinen Hainen exotischer Bäume gestaltet, dazwischen gab es hier und dort weite, freie Flächen, wo rätselhafte Gestalten standen, die Statuen oder regungslose le bende Wesen oder sinnierende Maschinen sein mochten. An einer Stelle strömte ein Fluß bis zur Kante des Felsens – warf sich aber nicht hinaus in den Raum zum Ozean hinab, der meilenweit darun terlag. Stattdessen floß der Strom weiter hinunter unter die schroffe, unebene Oberfläche, als klebe er dort durch eine Kraft fest, die mehr Gewalt besaß als die Gravitation. Und eine solche Kraft mußte in der Tat hier am Werk sein – denn diese vielen Millionen Tonnen Ge stein hingen gänzlich ungestützt am Himmel. Dieser Mikrokosmos von Welt schwebte zwischen Meer und Weltraum, eine in einem Archipel von fliegen den Inseln. Himmel war darüber und darunter, ein sanfter Wind bewegte die Äste der fremdartigen Bäume, und doch schien dieser fliegende Felsen in der leeren Luft so fest verankert, als hätte er auf einem gigantischen
Berggipfel gelegen. Und die Raumkapsel sank auf sie hinab. Sie setzte auf einem großen, völlig glatten Rasen von etwa dreißig Meter Seitenlänge auf, umgeben von Bäumen, deren Laub aus flachen, kreisrunden Plättchen bestand, die aufeinandergestapeit waren. Der Rasen war von leuchtendem Grün und schien auf den ersten Blick Gras zu sein; in Wahrheit waren es winzige Pflänzchen, die Ähnlichkeit mit vielblättri gem Klee hatten. Bis Bowman solche Einzelheiten wahrnahm, ver ging jedoch einige Zeit, weil er Augen nur für das andere Fahrzeug hatte, das auf dieser flachen Lich tung zwischen den Bäumen lag. Schillernd, dem An schein nach aus Metall, ein glattes Projektil, an bei den Enden spitz zulaufend. Es gab keine Fenster, keine Anzeichen für eine Tür, kein Merkmal für ir gendeinen Antrieb – nur ein paar symmetrische Wöl bungen in gleichmäßigen Abständen an einem Rumpfende. Aber selbst im Ruhestand schien es sich zu den Sternen hinaufzuschwingen; Bowman ent deckte zu seiner Überraschung, daß seine Fähigkeit, zu staunen, noch immer nicht erlahmt war. Er spürte ein Prickeln am Körper, als er auf dies Symbol von Kraft und Schnelligkeit starrte. Es lag nur fünfzehn Meter von ihm entfernt, aber wie viele Jahrhunderte spannten sich dazwischen? Dann setzte sein Herz beinahe für einige Schläge aus, denn er sah, daß er aus dem Schatten der Bäume von Leuten beobachtet wurde.
Er zögerte nicht, sie Leute zu nennen, obwohl sie nach den Maßstäben der Erde unvorstellbar fremdar tig erschienen. Aber schon galten für ihn diese Maß stäbe nicht mehr; er hatte zu vieles gesehen und in zwischen begriffen, daß in der ganzen Geschichte des Universums die genetischen Würfel nur ein paarmal Duplikate des Menschen hervorgebracht ha ben konnten. In ihm festigte sich rasch der Verdacht – oder hatte ihm das jemand eingepflanzt? – daß er hierhergeschickt worden war, weil diese Wesen so wohl in der Erscheinung wie von der Kultur her die nächste Entsprechung für Homo sapiens waren, die man auf Anhieb hatte finden können. Es waren fünf, und da er keinen Größenvergleich anstellen konnte, dauerte es eine Weile, bis er be griff, daß sie außerordentlich groß waren – vielleicht zweieinhalb oder drei Meter lang. Ihre Körper waren sehr schlank und in der Proportion annähernd menschlich, aber zu den Einzelheiten ihrer Anatomie konnte er nicht einmal Vermutungen anstellen, weil sie vom Hals abwärts vollständig durch ein Geflecht phosphoreszierender Fäden bedeckt waren, die wie ein Sternenfeld glitzerten und funkelten. Man konnte nicht einmal als gegeben unterstellen, daß sie wirklich Hälse besaßen; Bowman erinnerte sich an die Diskussionen über den Vorteil fest fixier ter Köpfe mit Rundumsicht. Diese Wesen hier ent sprachen aber dem menschlichen Aufbau in der Be ziehung, daß sie nur zwei Augen hatten, eingelassen in sehr große ellipsenförmige Hülsen, die von dort
herabführten, wo die Nase hingehört hätte. Aber von einer Nase war nichts zu sehen; noch er staunlicher war freilich, daß es keinen Mund gab. Abgesehen von den beiden sehr schönen Augen, weit auseinanderstehend an einem etwas ovalen Kopf, dessen Längsachse nicht vertikal, sondern horizontal war, besaß das Gesicht keine Merkmale. Der Gesamteindruck, den die fünf Wesen erweck ten, war trotz ihrer Fremdheit nicht unattraktiv. Die herrliche Goldbronze ihrer Haut – wenn es Haut war – trug dazu bei, sie dem menschlichen Auge ange nehm zu machen. Bowman war auf weit Schlimme res gefaßt gewesen – ja, er hatte es schon gesehen. Er war überzeugt davon, keine Schwierigkeiten damit zu haben, sich an diese Wesen zu gewöhnen, und zwar so sehr, daß nach einer Weile der Anblick eines anderen Menschen Betroffenheit auslösen mochte. Was nun? fragte er sich. Soll ich warten, bis sie etwas unternehmen, oder warten sie auf mich? Sie schienen es ganz gewiß nicht eilig zu haben und hät ten ebensogut als Statuen hingehen können. Plötzlich ging beim größten der fünf Hominiden etwas Sonderbares vor. Die glitzernde Substanz, die seine linke Schulter bedeckte, wölbte und runzelte sich. Bowman begriff nach wenigen Augenblicken, daß dort ein kleines Lebewesen lag. Nachdem es sich geregt hatte, flog es hoch, wedelnd und flatternd wie ein winziger fliegender Teppich oder ein im Wind wehendes Taschentuch. Im Fliegen wechselte es die Farbe; als es aufflog, war es von dem glitzernden
Leuchten, wo es gelegen hatte, nicht zu unterschei den, aber binnen weniger Sekunden wurde es zu ei nem prachtvollen Gobelin von roten und goldenen Farbtönen. Obschon mutmaßlich zu klein und in den Bewegungen zu ruckhaft, um ein intelligentes Wesen zu sein, schien es doch zu wissen, wohin es wollte, und flatterte schließlich auf die Plastikkuppel der Raumkapsel nieder. Sogar aus solcher Nähe konnte Bowman, als er es am Fenster vorbeikriechen sah, das Wesen nirgends in der klassifizierten Tierwelt unterbringen; es war für ihn nur eine sich wellende Farbfläche. Er wartete weiterhin, bis mit der Kapsel eine ei genartige Veränderung vorging. Die Instrumente am kleinen Armaturenbrett drehten plötzlich durch, die Außenarme wurden gebeugt und gestreckt, als woll ten sie ihre Kräfte überprüfen, und sogar die Raketen zündeten kurz. Es war, als sei ein Gespenst in die Kapsel eingedrungen und hätte sie ausprobiert, um sie dann, überzeugt davon, alles darüber herausge funden zu haben, was es zu wissen gab, wie ein ver schlissenes Spielzeug liegenzulassen. Aber bevor das geschah, wurde noch eine letzte Schaltung in Betrieb genommen. Der kleine fliegende Teppich mußte gewußt ha ben, was nun kommen würde, denn er hob plötzlich ab und flatterte ein Stück davon. Sekunden später wurde die Notausstiegsluke aufgesprengt, und Bow man hörte zum erstenmal die Geräusche dieser frem den Welt.
Vielleicht wären sogar die vertrauten Geräusche der Erde nach den vielen Monaten im künstlichen Universum der »Discovery« unwirklich erschienen, schwer zu erkennen gewesen. Aber es gab ein Ge räusch, das kein Mensch jemals vergessen konnte, solange er lebte; es war das ferne Rauschen des Mee res – der ewige Dialog zwischen Geist und Welle. Es kam überall her – vom Ozean, der zwei oder drei Meilen unter ihm lag und diesen ganzen Plane ten bedeckte. Dieses Meer mußte sehr seicht sein, erkannte Bowman; selbst wenn es kein trockenes Land gab, mußten viele Riffe bis fast an die Oberflä che reichen, um dieses allgegenwärtige Rauschen zu erzeugen. Wenn er die Augen schloß, konnte er sich einbilden, an einem der fernen Meere der Erde zu stehen. Das war nicht das einzige Geräusch, wenngleich das bedeutsamste. Da war auch das leise Seufzen des Windes in den Bäumen – und von Zeit zu Zeit ein Dreiklang absteigender Glockentöne. Das kam ir gendwo aus dem kleinen Wald, der einen so großen Teil dieser fliegenden Insel bedeckte; obwohl es sehr viel Ähnlichkeit mit einem Vogelruf hatte, schien für einen solchen Ursprung doch zuviel Kraft darin zu liegen. Bowman schnupperte vorsichtig. Er war überzeugt davon, daß diese Wesen ihn ihrer Atmosphäre nicht ausgesetzt hätten, wenn sie nicht gewußt hätten, daß er diese Luft atmen konnte. Zu seiner Verblüffung konnte er keinerlei Veränderung feststellen; die Luft,
die er in sich hineinsog, war ganz die vertraute. Er konnte das ganze Spektrum der Gerüche in der Kap sel wahrnehmen, vom Ozon über das Öl bis zu Schweiß und Fichtennadel-Luftverbesserer. Dann wurde ihm klar, daß er immer noch von ei ner fast unsichtbaren Hülle umgeben war wie jener, die ihn während seiner Reise geschützt hatte. Er frag te sich, ob sie ihm das Verlassen der Kapsel erlauben würde; die Einladung war ergangen und er war nach den vielen Stunden in dieser Enge nur zu gern bereit, sie anzunehmen. Er öffnete die Gurte, stieg aus der Kapsel und reckte sich erleichtert, während der win zige fliegende Teppich über ihm flatterte und in of fenkundiger Aufregung um ihn herumflog. Die Schwerkraft schien völlig normal zu sein. Er ging einmal um die Kapsel herum, damit er die Steifheit in den Gelenken überwinden konnte, und genoß diese fast in Vergessenheit geratene Form der Fortbewegung; seit er sich zum letztenmal auf hori zontalem Boden bewegt hatte, war ein Jahr vergan gen; er wagte nicht einmal daran zu denken, wieviele Billionen Meilen das zurücklag. Er kam sich vor wie ein Invalide, der nach einer langen Krankheit endlich das Bett verlassen durfte – voller Freude über die wiedergewonnenen Kräfte, aber entschlossen, sich nicht zu überanstrengen. Die schwach schimmernde Schutzhülle, durchläs sig für Geräusche, aber nicht für Luft, umgab ihn bei jeder Bewegung und paßte sich seinem Umriß mit einigem Abstand an. Es war, als befände er sich im
Inneren einer riesigen Seifenblase, deren Haut er nie ganz erreichen oder auch nur deutlich erkennen konnte. Vermutlich gehörte das zur Entseuchungs prozedur, was die Frage aufwarf, ob er für diese Welt vielleicht eine größere Gefahr darstellte, als sie für ihn. Er blickte fragend zu den Wesen hinüber, die im mer noch unter den Bäumen standen, und zum er stenmal bewegte sich eines von ihnen. Es vollführte mit der Langsamkeit eines Traumgeschöpfs eine ein fache, unverwechselbare Geste, und Bowman be griff, daß sein Zeitmaß nicht das ihre war. Vielleicht sahen sie aber auch keinen Anlaß für Eile, vielleicht stand ihnen die Ewigkeit zu Gebot. Der größte der fünf Hominiden hob den rechten Arm. Das Geflecht der leuchtenden Fäden löste sich ab und zeigte eine biegsame goldene Röhre, die sich in eine Rosette von acht symmetrisch angeordneten Stengeln von etwa dreißig Zentimetern Länge auf teilte. Es war, als höre der Arm des Geschöpfs mit einer Seeanemone auf, und Bowman erinnerte sich ein wenig betroffen an die Argumente auf der Erde, wonach es die Hand überall geben müsse – oder je denfalls etwas ganz Ähnliches. In einem jener ein sichtsvollen Augenblicke, die dann eintreten, wenn man vor dem Augenscheinlichen steht, begriff er, wo diese Argumente sich völlig vergaloppiert hatten. Die menschliche Hand war eine großartige Kon struktion – aber auch ein Kompromiß. Sie war immer noch dazu da, schwere Lasten zu bewältigen, Kraft
und Druck auszuüben – mechanische Arbeit zu lei sten. Aber mehr und mehr wurden stattdessen Präzi sion und Feinabstimmung gebraucht. Selbst für den Menschen war die Zeit, Äste abzubrechen und Feu ersteine zu zerschlagen, seit langem vorüber; es war die Zeit gekommen, Knöpfe zu drücken und Tastatu ren zu bedienen. Hier also war der Entwicklungsendpunkt der Hand. Bowman betrachtete diese schmalen Greifor gane und war sich seiner eigenen kurzen und unge schickten Finger so deutlich bewußt, daß er unwill kürlich eine Faust machte, um sie zu verbergen. Dann begriff er, daß das Wesen auf etwas zeigte. Er drehte den Kopf in diese Richtung. Erschrocken und überrascht schien er zur Kenntnis nehmen zu müssen, daß es ihn von der Insel wies – daß es ihn aufforderte, über den Rand des schwebenden Felsen zu treten und meilentief in den endlosen Ozean hin abzustürzen. Wie um diesen Befehl Nachdruck zu verleihen, flatterte der kleine fliegende Teppich vor ihm her und führte ihn zum Rand des Abgrunds. Höchst son derbar, das Ganze, aber er konnte nach wie vor nicht glauben, daß man ihm Schaden zufügen wollte. Er folgte seinem farbenfrohen Führer zur Kante der In sel und blickte vorsichtig hinunter. Vor und unter ihm lag ein abfallender Felshang, der rasch so steil wurde wie ein Giebeldach, um dann völlig wegzukippen. Diesen Hang hinunter führte eine breite Straße aus einem glatten, grauen Material.
Sie begann nur wenige Meter von seinen Füßen ent fernt und folgte der Krümmung des Felsens, bis auch sie verschwand. Sie machte auf unverwechselbare Weise den Ein druck, neu zu sein, so, als sei sie eben erst gelegt worden. Bowman fragte sich, ob das eine Probe oder Prü fung sein mochte. Aber für einen Ort wie diesen schien das zu naiv und primitiv gedacht zu sein. Dann fiel ihm ein, daß er sich bei Wesen befand, die Herren über die Schwerkraft waren; vielleicht war diese abstürzende Straße nicht das, was sie vorstellte. Er ging ein paar zögernde Schritte auf ihr dahin, und der fliegende Teppich flatterte aufmunternd vor an. Solange er den Blick fest auf den Straßenbelag gerichtet hielt, fühlte er sich ganz sicher; aus diesem Grund ging er zehn, zwölf Schritte weiter. Er wußte, daß die Straße sich immer steiler hinab wölbte, und trotzdem teilten ihm seine Sinne mit, sie verlaufe völlig eben. Als er jedoch einen Blick nach rückwärts wagte, führte der Weg dort unzweifelhaft bergab. Keine Frage; die Gravitation kippte beim Gehen auf dieser kleinen Welt; wo er sich auch be fand, die Straße unter seinen Füßen verlief stets hori zontal. Er blickte nach vorn und wurde von starkem Schwindel befallen. Denn nun war der Planet, über dem er schwebte, aus der Normalität geraten; der Ozean, auf den er zuging, war in einem Winkel von 45 Grad zum Himmel hinauf geneigt. Mit einer star
ken Willensanstrengung mißachtete er die Illusion. Schließlich war er an solche Dinge aus dem Welt raum gewöhnt. So hatte die Erde ausgesehen, als er in einer nahen Umlaufbahn gewesen war. Aber einen grundlegenden Unterschied gab es doch. Damals war er schwerelos gewesen – es hatte für Gravitation keine Richtung gegeben. Hier wirkte Schwerkraft – und trotzte dem Verstand. Er richtete den Blick auf eine Stelle in nur weni gen Metern Entfernung und ging weiter. Die Bäume und Terrassenstufen auf dem oberen Teil der Insel waren jetzt völlig verschwunden, verborgen hinter der Felsenwölbung. Da er auf den Boden starrte, prallte er beinahe an das Gebäude, das seinen Weg versperrte. Es schien so neu zu sein wie die Straße, die direkt zu einer rechteckigen grünen Tür genau von der rich tigen Größe für einen Menschen führte. Abgesehen von diesem Eingang war die ihm zugewandte Seite vollkommen glatt, an die zehn Meter breit und fünf Meter hoch. Und dahinter, nun eine absolut senk rechte Wasserwand, die den Himmel ausfüllte, die Oberfläche des Meeres. Aus irgendeinem Grunde konnte er das jetzt leich ter akzeptieren. Horizontale oder vertikale Meere waren in Ordnung, nur die Zwischenzustände strapa zierten die Nerven. Aber er wollte hier nicht länger als notwendig bleiben, wie eine Fliege an einer senk recht abfallenden Felswand klebend. Sein Gehirn sagte ihm, daß die Kräfte, die hier wirkten, kaum Ge
fahr liefen, plötzlich zu versagen; eine Zivilisation würde gewiß nicht Behausungen am Himmel errich ten, wenn man sich nicht völlig sicher fühlen durfte. Seine Empfindungen waren aber noch immer die des Dschungelaffen, der Angst hatte, der Ast, an dem er hing, könnte abbrechen. Seine Rasse hatte noch keine unfehlbaren Maschi nen gebaut, deshalb konnte er nicht wirklich an sie glauben. Das Gebäude vor ihm bot Schutz für das Gemüt, weil es den Blick auf diesen unfaßbaren Himmel verstellen würde. An der Tür blieb er kurz stehen und überlegte, ob er in der Kapsel auf der Inseloberseite etwas verges sen hatte. Nein, da gab es nichts, was ihm hätte hel fen können; alle Hilfsmittel der Erde nutzten ihm hier nichts, wenn die Mächte dieser Welt seinen Un tergang beschlossen hatten. Er zögerte nicht mehr, sondern ging mit entschlossenen Schritten zur grünen Tür, die sich bei seiner Annäherung öffnete. Hier endet diese Fassung – was hinter dem Tor liegt, weiß nur Clarke allein. Als er soweit war, verlangte Kubrick eine Änderung und die Welt der eben gele senen Fassung ging verloren – bis Clarke sie für die ses Buch wieder ausgrub. (Lu) © »The lost Worlds of 2001« by Arthur C. Clarke and his agents Lindner AG, Zürich und Scott Meredith Literary Agency, New York, USA. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr, Vorabdruck der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des W. Goldmann Verlags, München.