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BUCH: In der Abgeschiedenheit seines Ehebettes gibt sich Henry Miles einer merkwürdigen Leidenschaft hin: Er läßt s...
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BUCH: In der Abgeschiedenheit seines Ehebettes gibt sich Henry Miles einer merkwürdigen Leidenschaft hin: Er läßt sich von seiner Frau June die Zähne mit Zahnseide reinigen. Doch dies ist nicht die einzige Marotte, die Henrys Leben kompliziert macht und seine Beziehung zur Welt und zu den Menschen immer wieder auf eine harte Probe stellt. Ein bizarrer und komischer Roman über einen besonders traumatischen Tag im Leben des Henry Miles und ein unvergeßlicher Ausflug in die Welt des Absurden! »Ein hervorragender Autor, der alle möglichen Metalle in Gold zu verwandeln weiß.« Vogue
AUTOR: Jon Cohen lebt in Swarthmore, Pennsylvania, wo er als Drehbuchautor und Romanschriftsteller arbeitet. Er hat bereits zwei Romane veröffentlicht.
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Von Jon Cohen ist außerdem erschienen: Das Fenster zum Leben (Band 3264)
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Deutsche Erstausgabe Juli 1996 © 1996 für die deutschsprachige Ausgabe Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Titel der Originalausgabe »Dentist Man« Copyright © 1993 by Jon Cohen Originalverlag Gollancz, London Umschlaggestaltung: Andrea Schmidt, München Satz: Franzis-Druck, München Druck und Bindung: brodard & taupin Printed in France ISBN 3-426-60365-9 2 4 5 3 1 Scanner & K-Leser: RedY
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Jon Cohen
Die verkehrte Welt des Henry Miles Roman
Aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf Kollektiv Druck-Reif
Knaur® 5
Für Peggy und Bevo
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Mein Dank gilt drei großartigen Zahnärzten — Dennis Hoffman, Robert Chideckel und Lester Levin. Außerdem danke ich Joseph Gangemi und, wie immer, Mary Hasbrouck.
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Kapitel 1 Krieg, Hunger, Seuchen, Kehlkopfkrebs, die Abholzung des Regenwaldes, Daddy in einem Pflegeheim, das Ozonloch, die nationale Verschuldung, Schwangerschaften bei Minderjährigen, die Alzheimersche Krankheit, Obdachlosigkeit, Ölteppiche, der Verfall der Städte, der Moral, der Zähne... Zumindest gegen das Letztgenannte, den Zahnverfall, konnte Henry Miles, Doktor der Zahnheilkunde, etwas tun. Sicher, es war nicht dasselbe, ob man ein Loch in einem Unterkieferbackenzahn oder in der Ozonschicht flickte. Aber es war doch immerhin etwas, oder nicht? Mein kleiner Beitrag, dachte Henry: Ich mache die Welt zu einem sichereren Platz für Zähne. Henry schlug die Augen auf. Ein neuer Tag. Er starrte an die Schlafzimmerdecke, die weiß getüncht war wie ein polierter Schneidezahn, und fragte sich, ob jeder auf diese Art aufwachte: voller Schrecken und Verzweiflung. Die Liste, so nannte er es inzwischen, Krieg/Hunger/Daddy/usw., war das erste, was ihm jeden Morgen durch den Kopf schoß. Und Henry hatte gelernt, daß er die unmittelbar einsetzende Panik am besten niederkämpfte, indem er sofort die Augen aufschlug und an die Decke starrte. Ihr Weiß besänftigte seine Zahnarztseele. Weiß ist Hoffnung, überlegte Henry. Gesundheit und Hoffnung. Weiß, weiß. Hoffnung, Hoffnung, skandierte er gegen die Liste an. Krieg und Hunger sind besiegt, wenn Henry Backenzähne flickt. »Henry, um Himmels willen.« Seine Frau June stützte sich auf den Ellenbogen und starrte ihn an. »Du erschreckst einen ja zu Tode, so wie du daliegst. Was für ein entsetzlicher Anblick am frühen Morgen!«
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Doch Henry starrte weiter mit aufgerissenen Augen an die Decke und focht seinen Zweikampf gegen die Liste. »Du siehst aus wie tot«, sagte sie. »Wie eine Leiche.« Weiß, weiß, dachte Henry beschwörend. »Blinzle wenigstens mal«, sagte June und stupste ihn an. Er blinzelte mehrmals, schnell hintereinander. SOS — SOS. June, komm und rette mich! »Sag doch was, Henry.« »Wuff«, erwiderte er. »Was bist du doch für ein sonderbarer Mann«, meinte June. »Ich teile mein Bett mit einem bellenden Leichnam.« Henry drehte sich zu ihr und lächelte sie an. Die Liste verflüchtigte sich. Er hatte gewonnen. Dentist Man war wieder Sieger. »Liebst du deinen Zahnarzt?« fragte er. »Nicht, wenn er sich sonderbar benimmt«, schmollte June. »Nicht, wenn er in Trance verfällt. Das machst du ziemlich oft, Henry.« »Ich fange den Tag eben nachdenklich an.« »Du fängst den Tag sehr sonderbar an.« »June«, Henrys Lächeln war plötzlich verschwunden, »sag mir, woran denkst du beim Aufwachen als erstes?« »Ach, Henry, keine Ahnung«, antwortete sie und ließ sich zurück aufs Kissen fallen. Aber sie wußte es genau. Und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, wie ihr überall heiß wurde, und sie drehte sich von Henry weg, damit er es nicht bemerkte. Denn seit einem Monat erwachte sie jeden Morgen verträumt mit Jeffrey Lyons' T-Shirts vor Augen. Jeffrey war der achtzehnjährige Nachbarsjunge, zwanzig Jahre jünger als sie, und seine T-Shirts spannten sich prachtvoll über seinen Muskeln. Seit einem Monat hatte sie nun schon Visionen, wie sie sich in Jeffreys Hinterhof durch ein buntes Meer von T-Shirts wühlte, die auf endlosen Wäscheleinen in der Sommersonne trockneten. Und gerade heute morgen war noch ein erregendes Detail dazuge-
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kommen: Mitten auf einer der imaginären Wäscheleinen hatte June etwas Neues zwischen den T-Shirts entdeckt — ein Paar knallrote Boxer-Shorts. »Irgendwas muß dir doch in den Sinn kommen«, meinte Henry. »Ach, weißt du, eigentlich nur Gedanken im Halbschlaf. Nichts Bestimmtes.« »Wie zum Beispiel...?« »Wie, na ja, Frühstück, die Kinder, die Geräusche im Haus.« T-Shirts und rote Boxer-Shorts. Neidisch sah Henry sie an. Warum schaffe ich das nicht? fragte er sich. Sie liegt da und denkt an Waffeln und Vollkornflocken mit Rosinen, während ich mir über den Hunger in der Welt gräme. »June«, fragte er und rückte näher zu ihr. »Hast du beim Aufwachen nie entsetzliche Angst?« Sie starrte ihn an. »Was für eine Angst, Henry?« »Gibt es verschiedene Formen? Na, weißt du, absolut lähmende, alles durchdringende Angst.« Sie musterte ihn leicht beunruhigt. »Henry«, meinte sie schließlich. »Das klingt aber gar nicht gut.« Sie zog ihn an sich und strich ihm übers Haar. »Deshalb starrst du also an die Decke, nicht wahr? Und bellst wie ein Hund?« »Ja«, gab er zu. »Ich glaube, das ist der Grund.« »Möchte Dentist Man denn vielleicht, daß seine JuniJune etwas ganz Besonderes für ihn macht?« gurrte sie ihm ins Ohr. »Etwas, das seine böse Angst im Nu verschwinden läßt?« Henry rieb seine Nase an ihr. Er liebte es, wenn sie seinen Geheimnamen gebrauchte. »Ja«, flüsterte er. Sie tippte ihm mit dem Finger auf die Nasenspitze und zwinkerte ihm zu. »Warte, rühr dich nicht vom Fleck.« Und sie durchquerte das Zimmer in Richtung Bad. Henry lehnte sich zurück und beobachtete, wie ihr Hinterteil im Badezimmer verschwand. Es war noch immer ein
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prachtvoller Hintern, ein Hintern, dem er mehr Gedanken widmen sollte, als er es tat. Morgen früh wollte er als erstes an ihren Hintern denken anstatt an die Liste. Als June gleich darauf zurückkam, hielt sie etwas in der Hand. Henry erkannte es und begann, vor Vorfreude zu erschauern. Mit aufreizender Langsamkeit bewegte sie sich auf ihn zu und setzte sich auf die Bettkante. Nahezu unwillkürlich öffneten sich Henrys Lippen. June beugte sich über ihn, ihr dünnes Nachthemd spannte über ihrem Busen. Dabei zeigte sie ihm, was sie in Händen hielt, und zog den grünen Faden straff. »Pfefferminz«, flüsterte sie. »Gewachst.« Henry hielt es fast nicht mehr aus. »Bist du bereit, Dentist Man?« »Geh ran«, erwiderte er. Und das tat sie. Für ein paar kurze Augenblicke waren sie in dem morgendlichen Schlafzimmer so glücklich, wie ein Ehepaar es nur sein konnte. Keine Ängste, keine T-ShirtTräume. June bearbeitete Henry mit der Zahnseide, bis er es nicht mehr aushielt. »Morgen, Dad.« »Morgen, Dad.« Henry — noch immer im Pyjama und mit leicht schmerzendem Zahnfleisch — stand in der Küchentür und musterte seine Zwillingssöhne, Frederick und Edward, dreizehn Jahre alt. »Morgen, Jungs«, sagte er und lächelte sie strahlend an. Hier, Ed, ein Lächeln für dich, und hier, Fred, ein Lächeln für dich. Oder hatte er zuerst Fred angelächelt, Fred, der jetzt seine Cheerios aß und Henry nicht weiter beachtete? Oder war Fred, verdammt noch mal, der mit den SchokoCrispies vor sich und Ed der mit den Cheerios? Wer war welcher? Er hatte es noch nie gewußt, schon vom ersten
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Tag an nicht, als sie aus dem Krankenhaus gekommen waren. Vom Scheitel bis zu den winzigen Zehenspitzen glichen sie sich so vollkommen wie ein Ei dem anderen. Er hätte gleich am Anfang einem das Ohr einkerben sollen, wie man das bei Rindern machte, oder sie noch im Kreißsaal vom Arzt tätowieren lassen. Mit großen Buchstaben auf der Stirn. ED. FRED. »Rück ein Stück, Ed, damit dein Vater sich setzen kann«, sagte June, die noch vor Henry in die Küche gekommen war. Also war Ed der mit den Cheerios. Nach welchem System ging June vor? Mußte wohl dieser Mutterinstinkt sein, der Frauen unfehlbar ihre Kinder erkennen ließ. Ungerechte Welt. »Na, Fred«, wandte sich Henry an den, der gerade Schoko-Crispies mampfte und den Sportteil der Zeitung las. »Wie steht's um die Phils?« Fred sah auf. »Wie soll's um sie stehen?« In Henrys Magen gluckerte es gefährlich. Fred wurde bereits aufsässig! Nicht grob, aber es war eindeutig ein Vorgeschmack auf die Teenagerjahre, die dieses Haus bald heimsuchen würden. Und zwar als doppelte Heimsuchung! Vollgedröhnt mit Testosteron würden Ed und Fred gnadenlos über ihn herfallen. »Nun ja«, meinte Henry beschwichtigend, »Läufe, Punkte, Home-runs und all das, du weißt schon.« »Dad, du interessierst dich nicht für Baseball. Du interessierst dich doch überhaupt nicht für Sport.« »Das ist nicht wahr«, entgegnete er. »Hufeisenwerfen finde ich toll.« »Dad«, mischte sich Ed jetzt ein. »Hufeisenwerfen ist kein Sport, es ist ein Zeitvertreib.« »Nenn es, wie du willst. Auf jeden Fall bin ich darin nicht zu schlagen, von euch beiden jedenfalls nicht. Wie
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wär's mit einer Runde, jetzt gleich, noch vor dem Frühstück. Ed? Fred?« Die Zwillinge sahen sich an und verdrehten die Augen. »Sicher, Dad«, erwiderten sie wie aus einem Mund. »Na klar.« »Sei kein alter Brummbär, Henry. Hier ist dein Kaffee.« June stellte ihm einen großen überschwappenden Becher hin. »Willst du heute morgen Würstchen oder Schinken?« Auf der Stelle faßten sich Ed und Fred an die Brust und imitierten einen Herzinfarkt, dann verzehrten sie weiter ihr Frühstück, als ob nichts geschehen wäre. Jeden Morgen das gleiche — nie ließen ihn die Zwillinge ungestört seine Fettration vertilgen! Henry war cholesterinsüchtig, mittlerweile ein anstößigeres Laster als Alkoholismus. »Gibt es vielleicht Vollkorn-Muffins?« fragte Ed. »Ich hätte gern Vollkornflocken, wenn noch welche da sind, Mom«, ergänzte Fred. »Laßt euren Vater in Ruhe, Jungs«, sagte June. »Er kann nichts dafür, daß er so ist.« Henry drehte sich zu ihr um. »Und wie bin ich, bitte sehr, mein Schatz? Triefe ich vor Schmalz?« Die Zwillinge kicherten. »Na ja, du könntest schon versuchen, ein wenig vernünftiger zu essen, Henry.« »Hast du je gesehen, daß auch nur ein Zuckerkörnchen über meine Lippen kam?« »Nein. Aber du bist ja auch Zahnarzt.« »Und wenn ich Kardiologe wäre, würdest du mich nie ein Würstchen essen sehen. Aber so hätte ich gerne drei — nein, vier —, und laßt mich in Ruhe, Herrgott noch mal.« Sie hatten natürlich recht. Verdammt recht sogar. Cholesterin stand mit ganz oben auf der Liste. Bei den Ölteppichen. Cholesterinlachen, schmierige Pfützen, die gegen die Hauptschlagadern schwappten. Der Teller mit den Würst-
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chen, den June vor ihn hinschob — das Todesurteil. Die Zwillinge grinsten ihn herausfordernd an. Henry spießte eines der Würstchen auf die Gabel. Das heraussickernde Fett erinnerte ihn an Schweißtropfen. Mach schon, lockte das Würstchen, du bist doch wohl Manns genug, mich zu verdrücken? Henry sah auf. June und die Zwillinge beobachteten ihn. Ebenso wie das Würstchen. Also hob Henry es an den Mund und stählte sich, um ihm den kleinen Kopf abzubeißen. »Tu es«, flüsterten die Zwillinge im Chor. »Tu es, tu es, tu es.« Mit Todesverachtung preßte Henry das Würstchen gegen die Lippen, aber sie waren wie versiegelt. Mach schon, flüsterte das Würstchen auf der Gabel, tu es, tu es. Henry ließ die Gabel fallen wie eine brennende Lunte, scheppernd fiel sie auf den Teller. Das Würstchen hüpfte über den Tisch und dann auf den Fußboden, auf das gewienerte Linoleum, wo es eklig und deplaziert wirkte — wie ein Haufen Hundedreck. »Iiih, Dad«, sagte Ed. »Schau, was Dad auf den Boden gemacht hat«, sagte Fred und zeigte darauf. Selbst June kam ihm nicht wie sonst zu Hilfe. Sieh mal an, wie befremdet sie meine Schweinerei auf ihrem Linoleum beäugt! Zuerst bellte er wie ein Hund, und nun schon das zweite hündische Fehlverhalten. Halb rechnete er damit, daß sie die Zeitung zusammenrollen und ihm damit eines auf die Nase geben würde. Ed sprang auf, schnappte sich das Würstchen und wedelte damit vor Freds Nase herum. »Ich krieg dich noch«, sagte er. »Irgendwann wirst du mich essen!« »Mom!« Schützend hielt Fred den Sportteil vor sich, während er Ed auswich. »Sag ihm, er soll aufhören.« Die Zwillinge lachten und kreischten und jagten hinter-
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einander her, sie stießen gegen Stühle und Küchengeräte, Als sie an June vorbeirannten, packte diese sie am Schlafittchen. »Ed, leg das Würstchen hin! Fred, hör auf, ihn zu hauen!« Henry sackte auf seinem Stuhl zusammen und betrachtete mit düsterer Miene den Tumult. Morgen, nahm er sich vor, morgen esse ich Schinken. Ed, Fred und June sausten aus der Küche und waren verschwunden. Er starrte einen Augenblick lang auf die Würstchen, die Seit' an Seit' auf seinem Teller lagen, dann schob er sie weg. Wie schnell war ihm heute die Kontrolle entglitten! Hatte mein Vater auch solche Schwierigkeiten, alles im Griff zu behalten? Wie hatte Stu es geschafft? Henry stand auf und sah aus dem Küchenfenster über der Spüle. War es möglich, daß in den Küchen der Häuser, die er von hier aus sah, und in weiteren Häusern, die er sich vorstellte, Familien friedlich beim Frühstück saßen, in Toastscheiben bissen und Orangensaft tranken? Hatte es das in seiner eigenen Familie je gegeben? Nur in seinen Träumen. Du Ed, reichst du mir bitte mal den Toast? Möchtest du noch etwas Orangensaft, Fred? Sag mal, June, du trägst ja einen neuen Morgenrock. Gesteppt, ja, das sehe ich. Er sieht so warm und kuschelig aus. Ach, und Liebes, könntest du mir bitte die Kleieflocken reichen, ich glaube, ich nehme mir noch eine Schüssel voll — doch zuerst möchte ich den Segen des Herrn für uns und alle anderen erbitten. Von oben erklang ein durchdringender Schrei. Hatte Ed es gerade geschafft, Fred das Würstchen in den Mund zu stopfen? Oder umgekehrt? Wer konnte das schon wissen? Noch ein Schrei, dann Gelächter. Henry wandte den Blick von der Zimmerdecke ab. Er nahm sich einen angebissenen Toast von irgendeinem Teller und begann zu kauen. Kauen war so eine tröstliche Beschäftigung. All seine Kauwerkzeuge arbeiteten in perfekt abgestimmter Harmonie. Wie
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schön mußte das erst von innen aussehen — das Marmorgebirge der Zähne zermalmte den Toast und knetete ihn durch, die muskulöse rosafarbene Zunge steuerte die Masse von den Zähnen zum Pharynx, die sechs Speicheldrüsen spülten alles hinunter wie eine Autowaschanlage, und dann der orgastische Moment des Schluckens. Gott! Es war ein Wunder, daß er nicht drei Zentner wog. Aber er wußte nun mal, daß Essen ein falscher Freund war. Schließlich schärfte er seinen Patienten ein, daß Menschen, die in ein glasiertes Donut bissen, ebensogut mit Batteriesäure gurgeln konnten. Man mußte sie ein bißchen erschrecken, vor allem die jüngeren. Bei seinen älteren Patienten legte er eine andere Platte auf, und vor allem den Damen schien es zu gefallen. Während er ihre fülligen Oberarme tätschelte, spornte er sie mit einem seiner Reime an: »Putzen und bürsten, spülen und spucken, dann sind die Perlzähnchen noch lang anzugucken!« June erschien in der Tür, ihre Laune war nicht gerade die beste: »Na, du bist mir ja eine große Hilfe!« »Es sah so aus, als ob du alles im Griff hättest«, murmelte er und mied dabei ihren Blick. »Außerdem kommst du im großen und ganzen besser mit ihnen zurecht.« Verdammt, dachte er, zumindest kannst du sie auseinanderhalten. »Ich fang sie schneller, willst du wohl damit sagen.« Über die Schulter rief sie: »He, ihr zwei, der Schulbus kommt in fünf Minuten. Aufhören mit dem Blödsinn und Beeilung!« »Da, so was zum Beispiel«, meinte Henry. »Das kannst du besser.« »Ihnen nachjagen und sie anbrüllen. Wie reizend, daß du das findest, Henry. Es macht so unbeschreiblich weiblich.« Auweh!, dachte Henry. »Kinderaufzucht hat nichts mit weiblichen Reizen zu tun.«
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»Eben«, antwortete sie mit Eiseskälte und fegte mit einem Teil des Frühstücksgeschirrs in der Hand hinter im vorbei, das sie unsanft in die Spüle stellte. Von nebenan erklang jäh ein Knattern und dann das tiefe Brummen eines startenden Motorrads. June, am Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie umklammerte das Spülbecken. Wrumm, wrumm, brummte sie leise mit. Jeffrey Lyons, ich sehe dich. O Gott, du trägst ja ein T-Shirt, extra für mich! Er trägt immer ein T-Shirt, aber das war ja egal, völlig egal. Jeffrey gab Gas, und unter dem dünnen Stoff zeichnete sich das Spiel seiner Rückenmuskeln ab. June atmete tief durch. »Schatz?« Henrys Stimme drang kaum zu ihr durch. Denn sie war weit weg und brauste rittlings auf Jeffreys Motorrad den Highway ihrer Träume entlang: eng an ihn geklammert, die Wange an seinen starken Rücken gepreßt, während die pulsierende Kraft von achthundert Pfund vibrierendem Stahl ihren Körper erbeben ließ. Sie wimmerte leise. »June?« Hatte sie einen Anfall oder so was? Wie sie zitterte! Henry faßte sie an der Schulter, worauf sie sich sofort umdrehte, sein Gesicht in die Hände nahm und ihn an sich zog. »Küß mich«, hauchte sie. »Mmppf«, knurrte Henry, als sie ihm praktisch die Lippen vom Gesicht biß. »Iiih«, hörte man die Zwillinge unisono von der Küchentür. Henry machte einen Satz weg von June. »Treibt ihr's jetzt, oder was?« fragte Fred. »Wir sind nämlich erst dreizehn«, meinte Ed. »Da sollten wir so was noch nicht zu sehen kriegen.« »Eigentlich überhaupt nie«, ergänzte Fred. June streckte ihnen ihre Lunchpakete entgegen. »Mütter und Väter küssen sich nun mal«, erwiderte sie. »Gewöhnt euch dran.«
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»Es ist unnatürlich«, sagte Ed und schnappte seine Tüte. »Irgendwie krankhaft«, echote Fred. Nun, zumindest verblüffend, mußte Henry zugeben, als er den Jungs, die zum Schulbus rannten, nachwinkte, was aber beide nicht zur Kenntnis nahmen. Er ging ins Wohnzimmer, um mitanzusehen, wie der Metallschlund des Busses sich öffnete, um seine Kinder zu verschlingen. Wem hatte er sie heute anvertraut? Die Fahrer schienen wöchentlich zu wechseln: Liliputaner, ehemalige Sträflinge, Achtzigjährige, Drogensüchtige, Kinderschänder — oder zumindest kam es Henry so vor. Fred und Ed erklommen die schwarzen Stufen und gingen nach hinten durch. Der Fahrer starrte durch die große Windschutzscheibe stur geradeaus. War das derselbe Bursche wie gestern? Henry konnte es nicht genau erkennen. Langsam und ruckartig begannen sich die Türen zu schließen. Der Fahrer drehte sich um und zeigte sich Henry — in dieser letzten halben Sekunde, bevor sich die Türen endgültig schlössen. Ein Totenschädel! Als der Bus losfuhr, preßte Henry Nase und beide Hände gegen das Panoramafenster. Die leeren Augenhöhlen, dieses grinsende Gebiß voller Zahnlücken — seine zwei Jungen fuhr Gevatter Tod zur Schule! »Henry, ich habe dieses Fenster erst gestern geputzt«, erklang Junes Stimme hinter ihm. Blaß, mit Schweißtröpfchen auf der Oberlippe, wirbelte er herum. »He, Schatz?« June näherte sich ihm vorsichtig. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.« »Das habe ich! Genau das, einen Geist. Oder ein Skelett. Jedenfalls irgendwas sehr Totes, und zwar auf dem Busfahrersitz!« »Aber Henry, um Himmels willen! Wie kannst du so etwas sagen? Das war der Mann von Millie Robinson. Du weißt doch, Lyle, er hat diese Krankheit. Armer Bursche.
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Wurde im Frühling von Boeing in Rente geschickt und dachte, er könne vielleicht ein bißchen Teilzeit arbeiten und den Schulbus fahren, um nicht einzurosten. Und dann hat er diese Krankheit bekommen, du weißt schon, bei der man sich ganz wohl fühlt, aber völlig vom Fleisch fällt. Wie heißt sie noch mal?« Von fern hörte Henry das Busgetriebe knirschen. »Wieviel Fleisch hat er denn überhaupt noch? Ich finde, er ist schon ziemlich an der Grenze.« Dann spitzte er die Ohren, lauschte auf weitere Busgeräusche. »Was passiert, wenn er am Steuer ohnmächtig wird? Zufällig sitzen unsere Jungs in dem Bus, falls du dich daran erinnerst.« »Es kann nichts passieren. Sie würden ihn nicht fahren lassen, wenn so etwas passieren könnte.« »Machst du Witze? Heutzutage kann doch jeder Schulbusfahrer werden! Erst vor zwei Wochen habe ich eine Frau mit Augenklappe gesehen, verdammt noch mal.« »Ach, Henry.« »Hör mal, ich arbeite im Gesundheitswesen. Es ist meine Aufgabe, mich um kranke Leute zu kümmern.« »Du bist Zahnarzt. Kümmere dich um die Zähne.« »Das ist noch so etwas. Die Beißerchen vom alten Lyle sind anscheinend auch nicht mehr die besten.« »Und deshalb soll er keinen Bus fahren dürfen?« »Schon gut.« Henry drückte sich an ihr vorbei und eilte die Treppe hinauf. »Wenn sie anrufen, mußt schließlich du ans Telefon gehen.« »Wenn wer anruft?« Henry antwortete aus dem Schlafzimmer: »Die Leute, die dir mitteilen, daß Lyle Robinson einen vollbesetzten Schulbus in den Crum Creek gesteuert hat und zwei der verunglückten Kinder deine sind!« Heilige Mutter Gottes, wie liebte er seinen neuen Ford-
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Taurus-Kombi. Henry saß noch eine Minute da, bevor er den Zündschlüssel drehte. Dabei langte er nach vorn und streichelte das gepolsterte Rechteck in der Mitte des Lenkrads. Denn dieses Rechteck beherbergte das Detail, das er an seinem Taurus am meisten liebte: den Airbag. Nirgendwo auf der Welt fühlte sich Henry sicherer als in seiner Garagenzufahrt, von dem Gehäuse seines neuen Wagens umschlossen und von seinem Airbag beschützt. Hier konnte ihm nichts passieren. Er würde einfach aussteigen und alles hinter sich lassen, wie Mario Andretti, als er dem Autowrack entstieg und einer begeisterten Menge unbekümmert zuwinkte. Zu gern hätte er einmal gesehen, wie sich der Airbag auslöste, wie er aussah und wie er sich anfühlte. Sie erzählen einem, daß er bei einem Aufprall im Bruchteil einer Sekunde in dein Gesicht springt. Plopp! Wie ein Champagnerkorken, zur Feier deines Überlebens, während man den anderen ohne Airbag von der Windschutzscheibe abkratzen kann. Immer wenn June — ohne Airbag auf dem Beifahrersitz — mit ihm fuhr, nagten Schuldgefühle an Henry. Wie bei der langen Bergstrecke vor drei Wochen, als sein Fuß schon ganz taub und er offensichtlich kurz eingenickt war, sich aber immer noch weigerte, sie ans Steuer zu lassen. »Aber Henry, du wirst uns alle umbringen«, hatte sie erklärt. Nein, nicht alle, hatte er gedacht und mit dem Daumen verstohlen den Rand des gepolsterten Rechtecks gestreichelt. »Ich fahr mal seitlich ran und trink noch eine Tasse Kaffee. Nur mal kurz die Glieder strecken, dann geht's schon wieder.« »Ich verstehe nicht, daß du so stur bist! Du warst doch früher kein so begeisterter Autofahrer.« »Ach, das hängt wohl damit zusammen, daß der Wagen neu ist. In ein, zwei Monaten hat sich das bestimmt gelegt«, log er.
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Henry startete den Wagen. Verdammt, eigentlich war es die Schuld von denen in Detroit, daß man zwischen sich und seinen Liebsten die Entscheidung treffen mußte, weil sie nämlich nur einen Airbag einbauten. Nachdenklich fuhr er rückwärts aus der Einfahrt. Bin ich wirklich so ein Monster, daß ich ständig nur darüber nachdenke, wie ich meinen eigenen Hals rette? Er seufzte. Der Fluch der modernen Technik. Mit dem alten Honda Accord war das Leben sehr viel einfacher, damals hätte es bei einem Autounfall garantiert uns alle erwischt. Er kam drei Kreuzungen weit, bevor der erste Patient dieses Tages vor ihm auftauchte. Henry schaffte es beinahe nie bis zu seinem Arbeitsplatz, ohne daß jemand einen kostenlosen zahnärztlichen Rat von ihm wollte. Heute morgen war es Lotty Daniels, die an der Ecke zwischen Park und Cedar Lane stand, ihre körperliche Fülle in einen Jogginganzug gequetscht, dessen Nähte bereits spannten. Er hätte sie übersehen, in die andere Richtung schauen sollen. Aber nein, verdammt, sie winkte ihm bereits und trat auf die Fahrbahn, so daß er bremsen mußte. Andererseits: Wenn er jetzt Gas geben würde, gäbe es einen Aufprall, und er würde seinen Airbag in Aktion erleben. Henry hielt an und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, während er darauf wartete, daß sie an sein Fenster kam. Was sie aber nicht tat, weil sie statt dessen die Beifahrertür öffnete und sich in seinen funkelnagelneuen Ford Taurus zwängte! Der Wagen neigte sich nach ihrer Seite, und Henry spürte, wie er zu ihr hinüberzurutschen begann. »Oh, Dr. Miles, vielen, vielen Dank«, fing Lotty an. »Ich weiß gar nicht, was ich gemacht hätte, wenn sie nicht gehalten hätten.« Vielleicht einen Termin in meiner Praxis vereinbart? Henry versuchte, gegen das Gesetz der Schwerkraft anzukämpfen und Abstand zu halten.
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»Nun, Lotty«, meinte er, »Zahnschmerzen?« Er bemühte sich um einen freundlichen Ton. »Fürchterliche. Ganz, ganz fürchterliche.« Ihre Finger pulten in ihrem Mund und entblößten gelbe Zähne sowie Zahnfleisch, das irgendwie ähnlich fleischig und übergewichtig aussah wie die übrige Lotty. »Die ganze Nacht«, drang es undeutlich zwischen den fetten Fingern hindurch, »hier, genau hier ist der Schmerz, an diesem Zahn, als ob immer wieder eine glühend heiße Stricknadel hineinsticht, wie Funken von explodierenden weißen Blitzen. Oh, Doktor, dieser Schmerz, er ist einfach entsetzlich.« Henry lauschte verträumt. Schon oft hatte er daran gedacht, eine zahnärztliche Lyrikzeitschrift herauszugeben, in der er die Beschreibungen der dentalen Leiden seiner Patienten veröffentlichen wollte. Er würde sie Stoßzahn nennen. Glühend heiße Nadeln, die stechen, Funken weißer Blitze. Oh, Doktor, dieser Schmerz. Oder gestern. Da hatte ihm der arme leidende Mr. Lyman ein paar brauchbare Zeilen hinterlassen: Nimm sie, nimm sie alle, Sie verrotten, Sie stinken. Dies sind nicht Die Zähne meiner Jugend. Nimm sie nur. Beim nächsten Zahnärztekongreß würde er die Idee seinen
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Kollegen vortragen. »Können Sie etwas sehen, Dr. Miles?« ließ Lotty nicht locker und lenkte damit seine Aufmerksamkeit wieder auf ihre Person. »Es ist dieser Zahn, gleich der da hinten.« Was will sie von mir, soll ich den Rückspiegel runterreißen und sie damit untersuchen? »Mmmh, Lotty, schwer zu sagen.« »Bitte, Doktor, schauen Sie doch.« Ihre Augen wurden feucht. »Ich schau ja schon.« Unversehens packte Lotty seine Hand und stopfte einen seiner Finger in ihren Mund. In sicherer Erwartung, daß sie ihn abbeißen würde, kniff Henry die Augen zusammen. Würde er mit nur drei Fingern und Daumen noch einen Bohrer bedienen können? Doch zu seiner Erleichterung stupste sie seinen Zeigefinger lediglich gegen einen Bakkenzahn. Lotty lag jetzt praktisch auf ihm und quetschte ihn, das rosafarbene Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, gegen das Lenkrad. Und sie sonderte an diesem Maimorgen eine Menge Hitze ab. Henry versuchte, mit der freien Hand hinter sich zu fassen und das Seitenfenster herunterzukurbeln. Ein roter Kleinbus hupte. Henry blockierte die Kreuzung. Als der Wagen an ihm vorbeifuhr, konnte Henry aus den Augenwinkeln heraus gerade noch sehen, wie die Frau aus dem Kleinbus herüberstarrte und beim Vorbeifahren den Kopf schüttelte. O Gott, sie denkt... mit der sich windenden Lotty auf mir, denkt sie bestimmt, daß wir es gerade tun! Hat sie mich erkannt? »Seh'n Sie was?« fragte Lotty, dann schrie sie auf: »Auu, genau hier«, und benetzte mit ihrer feuchten Aussprache seinen Handrücken. »Hier?« tastete Henry. »Auu.«
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»Oder hier?« »Auu-AUU!« Henry war versucht, nochmal dranzuklopfen, damit sich das Bild seines Wageninneren und das Gefühl von schneidendem Schmerz in ihrem Unterbewußtsein unauslöschlich miteinander verbanden. Keinesfalls wollte er, daß sich herumsprach, sein Taurus-Kombi diene auch als mobile Zahnarztpraxis. »Lotty?« »Ja, Herr Doktor.« Mit weit aufgerissenen Augen und fest zusammengekniffenen Lippen wappnete sie sich für die Neuigkeiten. Was für ein Augenblick. Die Zahnmedizin schmerzt immer zweimal: das erste Mal, wenn man die Diagnose hört; das zweite Mal bei der Behandlung selbst. Wie leicht könnte ich dir deinen Tag ruinieren, Lotty! Du hast Glück, daß ich nicht grausam bin. Nicht einmal, wenn man mich ständig belästigt. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. »Ihr Zahnfleisch ist ein bißchen entzündet, das ist alles. Sonst fehlt Ihnen nichts.« »Das kann nicht sein.« Sie rückte von ihm ab, ihre Augen wurden zu Schlitzen. »Aber es ist alles in Ordnung.« »Was ist mit den Schmerzen? Jetzt ist es nicht mehr so schlimm, aber heute nacht...« »Sie haben zuviel mit Zahnseide daran gerieben.« »Ich benutze keine Zahnseide.« »Dann haben Sie zu fest gebürstet.« Henry tippte auf seine Uhr. »Wirklich.« »Ich benutze eine Munddusche, Dr. Miles. Wie Sie mir geraten haben.« Ist sie jetzt sauer, weil ihr Zahn nicht gezogen werden muß? »Lotty, hören Sie. Ihr Zahnfleisch hat wirklich nicht sehr gut ausgesehen« (sieh nur, wie ihr Gesicht aufleuch-
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tet), »und da habe ich eine ganz neue Technik angewendet.« »Ja?« »Ja. Eine Wurzelhaut-Akupressur.« »Es ist besser geworden«, räumte sie ein und rieb sich die Backe. »Klar doch«, erwiderte Henry. »Und jetzt muß ich wirklich los, ich komm sowieso schon zu spät.« Sie wuchtete ihren Körper aus dem Auto, und Henry spürte, wie die Stoßdämpfer förmlich aufatmeten. »Oh, vielen, vielen Dank. Sie sind ein wunderbarer Mann, Dr. Miles. Wirklich, jeder sagt, daß sie einfach der Beste sind.« Henry wünschte, daß Fred und Ed auf dem Rücksitz säßen und mithörten. Schau, was Dad auf den Boden gemacht hat. »Wenn noch was ist, rufen Sie in der Praxis an, Lotty. Bis dann.« Mit einem Winken war er auf und davon. Henry Miles. Dentist Man. Der Beste. Welche Wohltat, geliebt zu werden. Während Henry die vertrauten Straßen entlangfuhr, fühlte er sich eins mit sich und der Welt. Ich bin wichtig. Ich zähle. Ich stürze nicht in ein gähnend schwarzes Loch. Ich bin gesund. Ich habe gute Zähne. Und ich bin vergleichsweise jung. Ich habe meinen Taurus, meine liebe June, die Zwillinge. Zwar habe ich meinen Vater in ein Pflegeheim gebracht, aber es ist ein gutes Pflegeheim. Ich bin ein fähiger Arzt. Ein Heilkundiger. Und ich bin gut im Bett. Bin ich das? Henry bog in den MacDade Boulevard. Seine gute Laune verflüchtigte sich, als er das schwarze Loch erahnte. Warum dieses Wechselbad der Gefühle? Warum konnte er nicht den ganzen Tag Dentist Man sein, und die ganze Nacht dazu? Heute morgen war es mit June ziemlich gut gelaufen, doch ehrlich gesagt war es in letzter Zeit reichlich fade geworden. Aber schließlich bin ich zweiund-
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vierzig, und sie ist achtunddreißig, da knistert es nicht mehr vor erotischer Spannung. Hatte es je geknistert? Kannte er überhaupt auch nur ein Paar, bei dem es knisterte? Es war doch nichts weiter als eine große Lüge, die im Fernsehen und in der Werbung verbreitet wurde. Oder vielleicht doch nicht. Vielleicht ließ man es ja in jedem Schlafzimmer im Land so richtig fachmännisch knistern und funken, und er war der einzige, dessen Frau nicht vor Leidenschaft schrie! Das höchste der Gefühle war, daß er June einmal zu einer Art Schluckauf-Seufzer gebracht hatte. Warum konnte man die Orgasmen der Frauen nur so schwer feststellen und einordnen? Hatte sie sie regelmäßig? Oder überhaupt nie? Ich meine, sie könnte am Frühstückstisch einen Orgasmus nach dem anderen haben, und ich würde es nie erfahren. Außerdem machten sie nie irgendwas Unanständiges. Nun, vielleicht das mit der Zahnseide, aber das war eigentlich mehr ein nützlicher Spaß, der der Zahnpflege diente. June fuhr ihm nie mit den Fingernägeln den Rücken entlang und knurrte dazu. Wollte er das denn? Henry fuhr auf seinen Parkplatz direkt vor der Praxis. Und lächelte. Der Anblick dieser, seiner eigenen Praxis jeden Morgen gab ihm ein überschwengliches... ja, ein orgiastisches Gefühl. Nicht in der Hose; seinen ganzen Körper durchrieselte das Gefühl tiefer Befriedigung. Die Praxis war für Henry mehr als ein zweites Zuhause, sie war seine Burg. Er stieg aus dem Kombi und inspizierte sein Reich, das aus einem asphaltierten Parkplatz für sechs Wagen (sein eigener Stellplatz nicht inbegriffen, auf dem mit fetten Buchstaben DR. MILES aufgemalt war), einem knapp zehn Quadratmeter großen, sehr gepflegten Rasenstück, von einer kniehohen Eibenhecke umgeben, und der Praxis selbst bestand: ein einstöckiger, weiß verputzter Bau, gekrönt von einem großen rechteckigen Schild: HENRY MILES, Dr. med. dent. — ZAHNARZTPRAXIS. Das Schild
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leuchtete vierundzwanzig Stunden am Tag. Vielleicht etwas aufdringlich, aber es lockte Patienten an. Neben seiner Praxis lauerte das Reich des Bösen: ein Dreami-Donuts-Backwarenladen. Sie teilten sich die Zufahrt. Gerade eben schlichen zwei Wagen an seiner Praxis vorbei und parkten auf dem Dreami-Donuts-Platz. Ja ja, fahrt nur vorbei, ich kriege euch noch früh genug. Futtert nur dieses zuckrige Gewabbel, na los! Er ging zu seiner Hecke hinüber, aus der er mehrere weggeworfene DonutsTüten klaubte. Jeden verdammten Morgen das gleiche. Dieser Laden brachte Verderben und Fäulnis. Aber auch Umsatz. Schließlich ist Fäulnis dein Geschäft, Henry. Marty Marks, Geschäftsführer des Dreami Donuts, winkte von seinem gläsernen Zuckerpalast zu Henry hinüber. Henry winkte mit den zusammengeknüllten Tüten zurück. Da streckte Marty den Kopf aus der Tür. Mit der DreamiDonuts-Kappe ähnelte der Bursche, der mindestens so alt war wie Henry, einem schwachsinnigen Teenager, »'tschuldigung, Dr. Miles. Ist ein bißchen Müll rübergeflogen? Da haben sich wohl die Hunde am Container zu schaffen gemacht.« Hunde mit Sprungfedern an den Füßen, du Idiot? »Kommt aber ziemlich regelmäßig vor, Marty«, rief Henry quer über den Platz. »Was halten Sie von einer Schachtel Leckerhäppchen, Doc? Für Sie und Ihre Mannschaft. Achtundvierzig in der Schachtel. Na, läuft Ihnen da nicht das Wasser im Mund zusammen?« »Ich esse keine Donuts, Marty.« »Das sind keine richtigen Donuts. Nur die Mitte davon.« »Nein.« »Nicht mal für die Mädels?« »Nein. Hören Sie mal, Marty, diese Tüten. Wenn Sie Ihren Abfall vielleicht auf Ihrem Grund und Boden behalten
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würden?« Marty senkte den Blick. »Diese Tüten erfüllen eine wichtige hygienische Funktion. Dr. Miles. Sie geben dem Kunden ein gutes Gefühl.« »Vielleicht auf Ihrem Grundstück, aber wenn sie auf meine Seite herübergeblasen werden, erzeugen sie ein ziemlich ungutes Gefühl. Okay?« Marty wurde rot, und er zog sich zurück. Doch noch bevor Henry sich umgedreht hatte, schoß er wieder heraus. »Sagen Sie mal, Doc.« Seine Hand machte eine Geste in Richtung Mund, die Henry nur allzu vertraut war. »Meine Krone, die hier oben«, er steckte einen Finger in den Mund und zog die Backe auseinander, als ob Henry von seinem gegenwärtigen Standort aus hineinsehen könnte. »Sie lokkert sich. Sie wissen schon, die, die Sie letztes Mal gerichtet haben.« Hoben Frauen auf Parkplätzen ihre Röcke, wenn sie zufällig ihrem Gynäkologen begegneten? Und erst die Proktologen — weiß der Himmel, was für einen Anblick ihnen ihre Patienten in Supermarktgängen boten! Diese Körper verfolgen uns unablässig! »Klar doch, Marty«, meinte Henry müde. »Rufen Sie Rita an. Ich sag ihr, sie soll Sie einschieben, falls jemand absagt.« Noch bevor Marty seine Dankbarkeit in Form eines weiteren Angebots von klebrigen Krankmachern zeigen konnte, stürmte Henry in seine Praxis. Als Henry hereinkam, wuchtete Rita Hoops, seine betagte Empfangsdame, mühsam ihren Körper aus dem Stuhl. »Lassen Sie das, Rita, ich bin doch kein General. Bleiben Sie sitzen, wenn ich komme.« Er sagte das, völlig fruchtlos, jeden Morgen wieder. Sie brauchte geraume Zeit, bis sie sich hochgerappelt hatte, und so war Henry gezwungen, höflich lächelnd vor ih-
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rem Schreibtisch stehenzubleiben und die Beendigung ihres Manövers abzuwarten. Normalerweise verbrachte er die Zeitspanne damit, die kahlen Stellen auf ihrer räudigen Perücke zu bewundern. Trug sie sie heute nicht verkehrt herum? Waren das nicht die Ponysträhnen, die ihr in den Nakken hingen? Eines Tages würde sie noch die Innenseite außen tragen! Zweifellos könnte sie sich von dem Gehalt, das er ihr zahlte, eine neue leisten. Aber vielleicht hielten sie sentimentale Gründe davon ab — war es, sagen wir in den fünfziger Jahren, das Lieblingsstück des verstorbenen Mr. Hoops gewesen? Wenn sie die Perücke korrekt, das heißt mit dem Pony nach vorne, trug, ähnelte sie entfernt Mamie Eisenhower. Steht sie deshalb immer auf, wenn ich hereinkomme — hält sie mich wirklich für einen General? Ah, endlich. Sie steht. »Guten Morgen, Dr. Miles«, sagte sie mit ihrer hinreißenden Samtstimme. Was für eine Stimme! Als ob der Alterungsprozeß ihre Stimmbänder großzügig übergangen hätte — die letzte Bastion der Jugend, pure Sinnlichkeit, eingesperrt im Gefängnis des Verfalls. Tief und dunkel wie Lauren Bacall, ein Ohrenschmaus! Henry hatte Patienten eintreten sehen, junge Kerle, alle scharf darauf, die Empfangsdame kennenzulernen, mit der sie den Termin vereinbart hatten. Die beim Klang ihrer Stimme gedacht hatten, sie sei eine zur Erde herabgestiegene Göttin des Telefonsex! Und dann, peng, sahen sie Rita, die mottenzerfressene Perücke verkehrt herum auf dem Kopf und älter als ihre Omas. »Danke. Guten Morgen, Rita. Wen haben wir denn heute als erstes?« »Er sitzt schon auf dem Stuhl. Charlie Carnes.« Rita ließ sich langsam wieder auf ihrem Schreibtischstuhl nieder. Den sie bis zur Mittagspause um halb eins nicht mehr verlassen würde. Denn sie war mit Leib und Seele bei der Ar-
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beit. »Ah, gut.« Novocain-Carnes. »Ein Eingriff. Sie haben vier Behandlungen heute vormittag, zwei Vorsorgeuntersuchungen. Am Nachmittag Kronen und Brücken. Ein durchschnittlicher Tag, würde ich sagen, Herr Doktor«, und aus ihrem Munde klang das höchst verlockend. Rita war das Gehirn seines Unternehmens, sein organisatorisches Nervenzentrum. Den ganzen Tag über hörte Henry, wie sie mit ihrer verführerischen Telefonstimme Patiententermine vereinbarte und verschob, Material bestellte und die Mysterien der Versicherungsbürokratie enträtselte. Hinter ihm ein Rascheln, und ein betörender Duft. Henry drehte sich um, und sofort hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Wenn Rita das Gehirn war, so war Jennifer der hinreißende Körper. Jennifer Olmstead, seine zwanzigjährige Zahnarzthelferin, mit einem Hintern wie ein Napfkuchen und Brustwarzen wie Fruchtdrops — acht Stunden lang, fünf Tage pro Woche, in appetitlicher Reichweite. Ein wunderbares Arrangement von Körperteilen, wie verlangte ihn nach ihr! Henry lächelte sie an und zeigte ihr dabei sein vollkommenes weißes Gebiß und sein gesundes rosafarbenes Zahnfleisch, seine edelsten Teile, und betete dabei — wie jeden Morgen — zu Gott, er möge sie mit Stummheit schlagen. »Hi, Doc«, sagte sie mit ihrer leblos monotonen Stimme. »Patient ist da. Ich hab ihn in Raum 2 gesetzt.« Henry nickte traurig. »Gut. Sehr gut. Sagen Sie ihm, ich bin sofort da.« »Okay, Doc«, zuckte sie die Achseln und verschwand. Denn wenn du nie etwas sagen würdest, dachte er und versicherte sich, daß Rita ihn nicht beobachtete, bevor er den Blick auf Jennifers verschwindendes Hinterteil richtete; denn wenn du nie etwas sagen würdest, dann bliebe der
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Welt und deinem Chef deine entsetzliche Beschränktheit verborgen. Sie war nicht dumm; sie tat ihre Arbeit, mechanisch, aber zufriedenstellend. Doch während ihr Körper Atemberaubendes verhieß, strotzte ihr Verstand vor gähnender Langeweile. Wieviel Anstrengung es ihn doch kostete, eine Unterhaltung mit ihr in Gang zu bringen. Doch was blieb ihm anderes übrig? Er konnte sie schließlich nicht den ganzen Tag nur anstarren. Sagen Sie, Jennifer, fragte er beispielsweise, während er sich über einen x-beliebigen Mund beugte. Haben Sie gestern abend den Bericht über diesen Flugzeugabsturz gesehen ? Krachen die doch mitten in ein Einkaufszentrum. Was für ein schrecklicher Tod, hmm? Jaah, glaub schon, antwortete sie beim Speichelabsaugen. Weiß nicht genau. Da war doch Roseanne. Hab lieber das geguckt. Sagen Sie, Jennifer, diese Bosnien-Krise ist schon ein ganz schöner Schlamassel, hmm? Na ja, wissen Sie, es ist schon komisch, finde ich. Daß die Leute sich umbringen und so. Was machen Sie denn in Ihrer Freizeit, Jennifer? Hmm, ich sehe gern fern. Die eine oder andere Show. Und dann koche ich auch, mit der Mikrowelle. Mein Freund mag seine Pizza aus der Mikrowelle. Ja, hauptsächlich sehen wir wohl fern, würde ich sagen. Und dann eben noch das Kochen mit der Mikrowelle. Was für eine einzigartige Folter du doch bist, Fruchtdrops-Jenny, du außergewöhnlich wohlproportionierte Androide! Diese armen Kerle, die sich nach Rita verzehren, wenn sie hier reinkommen, die zwei- oder dreimal ihren Termin verschoben haben, allein um ihre Stimme zu hören, und dann mit prallen Lenden die Praxis betreten, nur um festzustellen, daß die Stimme von einem alten Weib mit einer Art Rattenfell auf dem Kopf stammt. Sie lassen den
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Kopf hängen — und wenn sie wieder aufschauen, sehen sie, wie du sie mit gekrümmtem Finger in den Behandlungsraum lockst. Boing — sie sind wieder ganz bei der Sache! Wie sie sich ins Zeug legen, dich zu gewinnen, sie werfen dir glühende Blicke zu, schäkern hoffnungsvoll mit dir, nehmen mich gar nicht mehr wahr, während sie mit dir plaudern, auch wenn ich ihnen Wattebäusche und Absaugpumpen oder Untersuchungsinstrumente in den Mund stopfe. So abgelenkt sind sie, daß ich mir sogar die örtliche Betäubung sparen kann. Himmel, ich könnte ihnen mit einem rostigen Eispickel einen impaktierten Weisheitszahn rausstemmen, ohne daß sie es merken! Und du, Jennifer, stehst nur gelangweilt da und saugst ihnen den Sabber weg, den sie bei deinem Anblick in Unmengen produzieren; geistesabwesend saugst du, während sie in anderen Sphären schweben. Wie Nachrichten über Flugzeugabstürze und Kriege in fremden Ländern nimmst du sie kaum wahr. Und in welcher Trance verlassen sie die Praxis, von dir und Rita in tiefste Verwirrung gestürzt. Nur ich enttäusche sie nicht, aber das wissen sie erst abends, wenn sie vor dem Spiegel die Zähne putzen und feststellen, wie kompetent ich mich um ihr eigentliches Anliegen gekümmert habe. Henry ging in sein Büro, um sich umzuziehen. Das winzige Hinterzimmer diente ihm ausschließlich dazu, Mantel oder Pullover abzulegen und den weißen Zahnarztkittel überzuziehen. Zwar hatte er einen riesigen Eichenschreibtisch hier hereingequetscht wie der Obermufti einer großen Firma, aber er hatte keine Veranlassung, sich dahinter zu zwängen, denn schließlich erledigte Rita fast den ganzen Papierkram. Na ja, ein Mann hatte schließlich das Recht auf ein oder zwei Statussymbole, schon um Weib und Kinder zu beeindrucken. Als die Zwillinge noch Windeln trugen, waren sie so beeindruckt, daß sie sich einen seiner frisch geschärften Zahnsteinschaber schnappten und Zickzacklini-
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en in den Lack kratzten. Und June war exakt ein einziges Mal hiergewesen — als sie ihm half, eine Tapete auszusuchen. Ehe er sich seinem ersten Patienten widmete, durchquerte er den Vorraum und ging, wie immer, egal ob er mußte oder nicht, zur Toilette. Denn was er partout nicht leiden konnte, war so etwas Unprofessionelles wie eine volle Blase, während er Patienten behandelte. Sie erwarteten, daß man voll und ganz für sie da war, nicht daß man sich zwischendrin überlegte, wann man endlich zum Klo flitzen konnte. Henry beobachtete den dünnen Strahl, der langsam versiegte und dann noch einmal nachtröpfelte. Nicht mehr soviel Kraft dahinter wie früher. Und dieses Tröpfeln am Schluß, das jetzt immer häufiger den klaren Abschluß ersetzte! Na klar, ich bin jetzt zweiundvierzig. Ich komme in die Prostata-Jahre. Großartig. Er warf einen Blick in den Spiegel des Arzneischränkchens: Haar soweit in Ordnung, nichts zwischen den Zähnen. Warum hatte er eigentlich ein Arzneischränkchen hier hängen? Er hatte es noch nie benutzt; ja, er konnte sich nicht einmal erinnern, es jemals geöffnet zu haben. Also öffnete er es jetzt. O lala, sieh dir das an! Slipeinlagen, sechsunddreißig Stück pro Schachtel. Jennifers Slipeinlagen. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Die Schachtel war offen. Sie hat sie geöffnet. Sie benutzt sie. Wie alt bist du, Henry, zwölf? Stell die Schachtel zurück, stell sie — Ein stakkatoartiges Klopfen an der Badezimmertür, und die Schachtel rutschte Henry aus der Hand. Slipeinlagen flatterten durch den Raum. »Doc?« hörte er Jennifers Stimme. »Dr. Miles, Ihre Frau ist am Telefon. Woll'n Sie sie zurückrufen, oder was?« Die letzte Slipeinlage landete auf dem Boden. »Ja, ja! Legen Sie sie auf Warteschleife, ich komm gleich«, rief Henry durch die Tür.
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»Alles in Ordnung da drin, Doc?« »Bestens. Absolut großartig. Legen Sie sie auf Warteschleife. Bin sofort da.« Auf allen vieren klaubte Henry die Slipeinlagen hinter der Toilette, von den Wasserrohren unter dem Waschbecken und aus der Ecke hervor, wo ein ganzer Haufen zusammengeweht worden war. Himmel, mehr als fünfhundert pro Schachtel! Hatte er sie alle erwischt? Er hob den Kopf und schlug sich die Stirn am Waschbecken an. Tränen trübten ihm die Sicht, während er die Slipeinlagen ordentlich in die Schachtel zurückzupakken versuchte. Er stellte sie auf das zweite Bord (oder hatte sie auf dem dritten gestanden?) und benetzte dann die anschwellende Beule mit kaltem Wasser aus dem Hahn. Während er in den Flur trat, atmete er tief durch. Jennifer stand neben dem Schreibtisch und unterhielt sich mit Rita, die zu ihm hochblickte und auf das Telefon zeigte, wo das wartende Gespräch blinkte. Dabei runzelte sie die Stirn. Sie war nicht erbaut, wenn er ihr Telefon mit Privatanrufen blockierte. Jennifer musterte seine Stirn. »Was ist denn da passiert?« Er betastete die Schramme. Durchdringender Schmerz. »Bin in einer Lache ausgerutscht. Wahrscheinlich ein undichtes Rohr. Seien Sie vorsichtig da drin, Sie beide.« Und er nahm den Hörer auf. »Hallo, June. Arbeitest du denn heute nicht?« »Henry! Ich hab schon gedacht, du wärst da drin umgekommen.« Junes Stimme sprang ihn förmlich an. »Heute ist Dienstag. Du weißt doch, daß ich dienstags nie im Einkaufszentrum bin.« »Stimmt.« Und dann argwöhnisch: »Wo drin umgekommen?« »Jennifer hat gesagt, du wärst im Bad.« Henry warf einen Blick auf Jennifer. »Eigenliich hat sie gesagt: ›Er hockt auf dem Klo.‹ Eine ordinäre Göre, Henry.«
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June konnte Jennifer nicht leiden. Ihre Schönheit, ihre Jugend, ihre Jugend, ihre Schönheit. Rita konnte June nicht leiden. June rief in der Praxis an und blockierte das Telefon. June hingegen mochte Rita. Denn Rita war weder schön noch jung. Rita mochte Jennifer. Weil Jennifer ihre Arbeit ordentlich tat? Na, und Jennifer, du lieber Himmel, ihr waren June und Rita so egal wie alles andere auch. »Also, June«, sagte Henry, »was gibt's?« »Nun ja«, ihre Stimme schmachtete ihn an, »ich wollte dir eigentlich nur sagen...«, abrupt hielt sie inne. »Steht Jennifer daneben?« Jennifer stand neben ihm, nur ein, zwei SlipeinlagenLängen entfernt. Seine Stirn pochte. »Nein«, log er. »Nun sag schon.« »Heute morgen, Henry.« »Ja.« Er konnte sehen, wie Charlie Carnes in Behandlungsraum 2 auf seinem Stuhl hin und her rutschte. »Erinnerst du dich?« Erinnern? An was? »Na?« Sie ließ nicht locker. »Natürlich.« »Es war sehr schön für mich. Für dich auch?« »Ja, es war...«, er dämpfte die Stimme zu einem Flüstern, »... schön.« »Laß deiner Phantasie heute freien Lauf«, hauchte sie ins Telefon. »Und was auch immer du dir vorstellst, wir werden es heute abend tun. Okay?« Rita und Jennifer starrten ihn an. Im Nebenzimmer hüstelte Charlie Carnes. Henry wandte ihnen allen den Rükken zu. »Ähm, ja gut, June«, sagte er so geschäftsmäßig und neutral wie möglich, »das ist eine interessante Aussicht. Ich werde sie mir durch den Kopf gehen lassen.« »Versprochen?« gurrte June. Henry zuckte zusammen und straffte die Telefonschnur, um sich so weit wie möglich vom Schreibtisch entfernen zu
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können. »Das erscheint mir durchaus im Bereich des Machbaren.« »Es erscheint dir nur so? Kannst du es denn nicht fest zusagen?« »Gut. Ich bring ein Dutzend Eier und ein Brot mit«, sagte er laut und streifte Rita und Jennifer über die Schulter hinweg mit einem flüchtigen Blick. »Henry?« »Ja, und Hühnerbrüstchen auch«, ergänzte er. »Tschüs, mein Schatz, dann bis zum Abendessen.« Rasch legte er auf und drehte sich wieder zum Schreibtisch um. »Fährt June nicht Auto?« fragte Jennifer. »Doch, schon. Aber das Auto fährt nicht.« Stimmt nicht, das Auto ist völlig in Ordnung, aber bei der Ehefrau sind ein paar Schrauben locker. Henry marschierte zum Behandlungsraum 2. »Na, was meinen Sie, Jennifer, sollen wir unser Tagwerk beginnen?« Er konnte sehen, wie Charlie Carnes die Muskeln anspannte, seine Körpersprache signalisierte Angst. Henry lächelte. Letztlich schien er den Tag doch noch in den Griff zu bekommen.
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Kapitel 2 June hielt den Telefonhörer in der Hand, bis das Piepen in ihrem Ohr dröhnte. Ohne den Blick vom Schlafzimmerfenster abzuwenden, legte sie auf. Henry, dachte sie, du hast nicht gehört, wie dringlich ich nach dir gerufen habe. Draußen, in der Auffahrt unter Junes Fenster, erhob sich Jeffrey Lyons vor seinem halb zerlegten Motorrad und streckte sich in der Sonne. Er zog sein T-Shirt über den Kopf und warf es ins Gras. Panikartig griff June zum Hörer und wählte abermals die Nummer von Henrys Praxis. Doch als Rita sich meldete, legte sie schnell auf. Dann eilte sie ins Badezimmer, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Unterdessen hörte sie das metallische Klappern von Werkzeug und ein ächzendes Grunzen, als Jeffrey etwas Schweres hochstemmte. Sie ging wieder ins Schlafzimmer, um hinauszuschauen. Denk nach, June. Wenn du dich an diesen Jungen heranmachst, wird sich die Erde auftun und dich verschlingen, der Blitzschlag wird dich treffen, Streifenwagen der Sittenpolizei werden dich mit Blaulicht umzingeln. Henry wird die Zwillinge einladen, die Wohnungseinrichtung samt deinem neuen Ledersofa, und alles fortschaffen. Denk nach, June, halt dir die negativen Folgen vor Augen. Das wird deine Ehe retten. Also: Zurückweisung — dieser Junge wird dir ins Gesicht lachen, wenn du auch nur den kleinsten Annäherungsversuch wagst. Verzweiflung — wenn er dich verschmäht. Verlust deiner sorglosen Existenz — wenn er dich nicht verschmäht, aber Henry danach nichts mehr von dir wissen will. Schmach — wenn er dich zurückweist oder auch nicht und die ganze Stadt davon erfährt. Was garantiert der Fall sein wird. Hörst du, Juni-June? Alle werden's
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erfahren. Und Krankheiten — man hört doch immer in den Nachrichten, daß inzwischen jeder infiziert ist. Keine kostenlosen Zahnbehandlungen, kein Zahnarzt mehr — ja, wir reden von Henry, deinem Ehemann und Lebensgefährten. Mit einem Seufzer ließ June die Jalousie herunter. Manchmal, wenn sie mit Henry zusammen war, schien es kein Ende nehmen zu wollen. Er war oft so rücksichtslos, wenn er über ihr thronte und — schaudernd dachte sie daran — mit seinem Bohrer zugange war. Nein, June, das ist nicht gerecht, er kann nichts dafür, daß er... ein bißchen methodisch vorgeht, und er ist nun mal Zahnarzt. Also, worum geht es eigentlich, um seine Qualitäten als Zahnarzt oder als Liebhaber? Machte das irgendeinen Unterschied? Aha, wir sind also wieder soweit. June ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die weiße Decke — wie Henry vorhin, als er den Tag damit begonnen hatte, seine morgendliche Panikattacke niederzuringen. Bilder schössen ihr durch den Kopf. Jeffrey Lyons im T-Shirt, seiner zweiten Haut. Henry in seinem Arztkittel aus Polyester. Jeffrey, wie er einen metrischen Steckschlüssel schwang. Henry mit einem Bohrer in der Hand. Jeffrey, wie er einen Reifen von seinem Motorrad hochwuchtete. Der Schwimmreifen um Henrys schlaffe Taille. Das Muskelspiel von Jeffreys Armen. Einen Moment lang geriet June ins Stocken: Sie konnte sich tatsächlich nicht an Henrys Arme erinnern, nicht einmal, sie überhaupt je angesehen zu haben. Dann ging sie zu anderen Körperteilen über. Jeffreys Ding. Hmm. Sie lächelte und genoß das prickelnde Gefühl bei diesem Gedanken. Henrys Ding. Tja, was hielt sie eigentlich davon? Es war wohl okay, vermutete sie, nach dem bißchen, was sie davon gesehen hatte. Er machte immer so ein Geheimnis daraus, selbst nach all den Jahren noch. Stürzte förmlich aus dem Bad, wenn er nackt war und seinen Bademantel vergessen hatte. Und knipste das Licht aus,
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bevor sie miteinander schliefen. Es war wie eine rosa Fledermaus, die sich in der Unterhose verborgen hielt und nur in der sicheren Dunkelheit hinauswagte. Männer sollten sich nicht soviel auf ihre Geschlechtsteile einbilden, man sollte ihnen etwas von ihrem geheimnisumwobenen Zauber nehmen. Menstruierende Männer, das wär's! Ein paar Babys, die zwischen ihren Beinen herauskommen, während die Arzte und die ganze Welt zuschauen. Ob Jeffrey Lyons genauso schamhaft wäre und sie nie richtig hingucken ließe? Na ja, June, man kann nie wissen. T-Shirts, die in einer eingebildeten Brise flattern — ach, das sind Wunschphantasien. Als sie die Augen schloß, wandelte sie zwischen Wäscheleinen hindurch, an denen seine frisch gewaschenen T-Shirts hingen, der weiche Stoff streichelte sanft ihre Haut, baumwollene Küsse. Es klingelte an der Tür. Sie stand auf, starrte einen Augenblick lang auf das Bett, als hätte sie hier mehr als nur einen Tagtraum erlebt, und rannte die Treppe hinunter. Als sie die Tür öffnete, war sie geblendet von der Morgensonne, die ihr plötzlich direkt ins Gesicht schien. »Mrs. Miles?« Erst nahm sie nur die Stimme wahr, als würde das gleißende Licht selbst zu ihr sprechen. Nach einer Weile erkannte sie blinzelnd eine Gestalt, die Umrisse eines Menschen. Und dann stand Jeffrey Lyons vor ihr, umrahmt von dem strahlenden goldenen Licht der Maimorgensonne. »Ist alles in Ordnung, Mrs. Miles?« Jeffrey machte einen Schritt auf sie zu. June wich zurück. »Jeffrey?« »Habe ich Sie geweckt? Dann komme ich lieber später noch mal.« Er zupfte am Saum seines T-Shirts. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, und sie suchte am Türgriff Halt. Er hatte ihre Gedanken gelesen! Ihre schlüpfrigen Gedanken hatten sich selbständig gemacht, waren aus dem Schlafzimmer getänzelt. Ihr Sirenengesang
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dem Schlafzimmer getänzelt. Ihr Sirenengesang hatte sich in die Lüfte erhoben, auf Jeffrey Lyons herabgesenkt, war in seine schutzlosen Ohren gedrungen. Oder war es hormonbedingt? Unsichtbare Spuren von Sexualhormonen, die ihr aus allen Poren strömten, die die Hauswände durchdrangen und Jeffrey trafen wie tausend mikroskopisch kleine Pfeile der Lust? Dann sind wir beide Opfer, Jeffrey, unschuldige Opfer unserer animalischen Instinkte, Körper, die sich vor Leidenschaft verzehren. Komm, Kleiner, laß uns Reibung erzeugen. Oder laß mich wenigstens dein T-Shirt waschen, zusammen mit meinen Slips und BHs, rein in die Maschine, plitsch-platsch, wie das schleudert und schäumt! Das würde dir doch gefallen, stimmt's? June befürchtete, der Türgriff würde abbrechen, wenn sie nur noch ein bißchen fester zupackte. »Nein, nein, Jeffrey«, brachte sie hervor, »du hast mich nicht geweckt. Bitte komm rein.« Lauf weg, Jeffrey, rette uns beide! »Danke, Mrs. Miles.« June zuckte zusammen. Mrs. Miles. Es entstand ein peinlicher Moment, als Jeffrey wartete, bis sie beiseite trat und den Eingang freigab. Nach einem zögerlichen Schritt blieb sie unverhofft stehen, so daß er gegen sie prallte und mit dem Ellbogen ihren linken Busen streifte. Jeffrey wurde rot. »Entschuldigen Sie, Mrs. Miles. Wie ungeschickt von mir.« »Meine Schuld, Jeffrey«, erwiderte sie und führte ihn ins Wohnzimmer. Dann sah sie ihm ins Gesicht. »Nun?« sagte sie, womit sie meinte: Na los, Kleiner, du hast's doch sicher auch auf meinen rechten Busen abgesehen, stimmt's? »Nun«, echote Jeffrey mit leerem Blick. Dann schien er sich zu erinnern und lächelte. »Ach ja. Warum ich komme, Mrs. Miles. Dr. Miles hat doch einen Schraubenschlüsselsatz, den er mir schon mal geliehen hat. Und da wollte ich
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fragen, ob...« »Werkzeug«, seufzte June. »Du willst dir Werkzeug borgen.« »Genau, Schraubenschlüssel. Natürlich nur, wenn Ihnen das recht ist.« Jeffrey, ich bin eine Frau und du ein Mann, wir stehen hier auf dem weichsten, flauschigsten Teppich, den man sich nur vorstellen kann und auf dem ich mich gerne für dich ausstrecken möchte, wenn du es mit mir tun willst. Bist du dir wirklich sicher, daß du wegen Schraubenschlüsseln gekommen bist? »Und du meinst, Henry hat so einen Schraubenschlüsselsatz?« sagte sie. »Er ist nämlich nicht sonderlich geschickt, wenn du weißt, was ich meine. Sein... Gerät ist nicht gerade toll.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Oh, aber so was hat er«, antwortete Jeffrey. »Ich erinnere mich, wie er gesagt hat, daß Sie ihm das letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt haben. Und daß es erstklassig ist.« »Weihnachten, sagst du?« meinte June. »Na ja, kann schon sein. Er wünscht sich ständig Werkzeug, ich weiß auch nicht, warum. Für ihn sind das doch nur Spielsachen. Ich habe noch nie erlebt, daß er mit all seinem Werkzeug irgendwas hat reparieren können.« Jeffrey trat von einem Bein aufs andere. »Na ja, die einen können eben besser damit umgehen als die anderen.« »Du kannst es ziemlich gut, stimmt's?« Wieder zupfte er an seinem T-Shirt. »Dr. Miles ist dafür gut in seinem Fach«, erklärte er. »Ich meine, mit seinem speziellen Werkzeug, seinen Zahnarztinstrumenten. Ich spüre kaum etwas, wenn er mich behandelt.« Dito, dachte June. Ich spüre bei ihm auch kaum was. Warum glaubt der Junge eigentlich, meinen Mann verteidigen zu müssen? Weil ich ihm unheimlich bin. Er hat gemerkt, daß ich es auf ihn abgesehen habe. Entspann dich.
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Gib ihm seine verdammten Schraubenschlüssel und laß ihn ziehen. »Sollen wir uns in den Keller wagen, Jeffrey? Dort bewahrt er alles auf.« Ein oder zwei vielsagende Herzschläge lang schwieg er, dann antwortete er: »Gut, Mrs. Miles.« Während sie ihn durchs nächste Zimmer führte, meinte sie, nach hinten gewandt: »Hast du Angst vor Kellern?« »Äh, eigentlich nicht«, erwiderte er, wieder nach einer beredten Schweigesekunde. Ihre Hand war an der Klinke der Kellertür. »Vor mir?« Er räusperte sich. »Also, äh, Mrs. Miles, wenn ich gerade ungelegen komme, kann ich ja...« June, mein Gott, unternimm etwas! Warnsignale überall! Du verdirbst alles, Mädchen! Sie verzog das Gesicht und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mmm, oh, mein Kopf schon wieder.« »Mrs. Miles?« »Migräne. Jeffrey. Sie quält mich schon den ganzen Vormittag. Ach, ich...«, sie setzte eine möglichst leidende Miene auf und wandte sich von ihm ab, »... ich glaube, ich muß mich einen Moment setzen.« Jeffrey nahm sie am Arm und führte sie zum Ledersofa, während sie den verschwitzten und dennoch frischen Geruch seines T-Shirts einatmete. »Geht's?« erkundigte er sich. »Sicher«, sagte sie. Mit geschlossenen Augen, aber geblähten Nasenflügeln sog sie seinen Geruch ein. »Ich werde immer ganz sonderbar, wenn meine Migräne anfängt. Dann habe ich mich einfach nicht recht im Griff.« Sie öffnete ein Auge und sah seinen besorgten, aber erleichterten Ausdruck. Mrs. Miles hatte sich wegen ihrer Migräne nicht ganz im Griff. »Ich muß mich nur kurz hinlegen. Es überfallt mich vielleicht einmal im Monat, dann ist's wieder vorbei.«
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»Meinen Sie wirklich?« »Hol dir nur deine Schraubenschlüssel, Jeffrey. Seine Werkbank ist unten links. Nimm dir einfach, was du brauchst, ich ruhe mich hier aus.« »Ich kann auch ein andermal wiederkommen.« »Ach, Unsinn. Hol dir die Sachen, und hinaus findest du ja allein. Ich muß mich einfach ausruhen. Mmm, ja, jetzt fühle ich mich schon besser. Geh nur.« Jeffrey eilte die Treppe hinunter, kramte eine Weile herum und tauchte dann geräuschlos wieder auf, den Schraubenschlüsselsatz unter den Arm geklemmt. »Mrs. Miles, ich gehe dann«, flüsterte er. »Ich sag meiner Mom, daß sie später mal nach Ihnen schauen soll.« Mit geschlossenen Augen und einer leichten Handbewegung verabschiedete June den Jungen. Als die Haustür leise zugezogen wurde, packte sie Schüttelfrost. Zitternd wand sie sich auf dem Sofa hin und her; jetzt hatte sie tatsächlich Kopfschmerzen, ein pochendes Hämmern. Ich sag's meiner Mom, hatte er gesagt. Oh, Scheiße, June, das war knapp. Verdammt knapp. Als du damals zwanzig warst und deine Jungfräulichkeit verlorst, war Jeffrey Lyons noch ein Fötus! Verglichen mit dir ist er das immer noch! Was wäre gewesen, wenn du dich an ihm vergriffen hättest? Er hätte es seiner Mom erzählt. Und die hätte es allen anderen Müttern weitererzählt. Und Oprah und Phil würden dich in ihre Seelenstriptease-Show einladen. »Mrs. Miles, Ihre Schwäche waren Nachbarsjungen, nicht wahr?« würden sie in vertraulichem Ton in ihre Mikrophone säuseln. »Sie konnten die Finger nicht von ihnen lassen, stimmt's?« Und eine ganze Fernsehnation von Müttern würde mit schreckgeweiteten Augen zusehen. June rollte sich auf dem Sofa zusammen. Ach, Phil, ach, Oprah, ich glaube, es ist eigentlich keine Schwäche, sondern Wollust. Nun öffnete sie die Augen und setzte sich
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auf. Draußen heulte kurz ein Motorrad auf, dann verhallte das Geräusch. Sie sah sich im Wohnzimmer um, die vertrauten Gegenstände um sie herum schienen irgendwie weit weg — Museumsstücke eines Lebens. Ihres Lebens? Tief in ihrem Inneren, unter dem Busen, den Jeffrey nicht angerührt hatte, heulte ebenfalls etwas kurz auf und verhallte dann. Seufzend ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Hier war sie geborgen. Auf der Kirschholzkonsole des riesigen Fernsehers stand ein gerahmtes Foto von den Zwillingen und ein weiteres von Henry mit seinem hübschen Zahnpastalächeln. Henry, du wirst mich beschützen, ja? Ich weiß, daß ich in deinen Armen immer vor Wollust sicher bin. »Charlie, Charlie, Charlie. Was soll ich nur mit Ihnen anfangen?« seufzte Henry. Charlies Kiefer waren so fest zusammengepreßt wie die Backen eines Schraubstocks, die Fingernägel hatte er tief in die gepolsterten Vinylarmlehnen des Behandlungsstuhls gegraben. Sein keuchender Atem ging stoßweise, das kreidebleiche Gesicht war schweißnaß. »Charlie«, sagte Henry. »Die Valiumtabletten, die ich Ihnen verschrieben habe — haben Sie eine davon genommen?« »Zwei«, stieß Charlie zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe nicht zwei verordnet, sondern eine«, entgegnete Henry streng. »Schließlich bin ich der mit dem ›Dr.‹ vor dem Namen, nicht Sie.« »Meine Hände haben so gezittert«, erklärte Charlie, »daß zwei rausgekommen sind, und ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich sie schon im Mund.« Henry sah ihn an. »Na, Charlie, wenn Sie Ihren Mund zum Tablettenschlucken so leicht aufkriegen, dann machen Sie ihn doch auch mal für mich auf.«
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»Wozu?« Damit ich dir mit einer rotglühenden Zange deine vorderen Backenzähne reißen kann und dabei wie ein Verrückter sabbere und gackere. Damit ich dir deine Zähne zu Markstümpfen kaputtbohren und dir Nadeln, dick und lang wie Bleistifte, ins Zahnfleisch rammen kann. »Nun, Charlie, damit ich kurz einen Blick darauf werfen kann.« »Wird es so schlimm werden wie das letztemal?« wimmerte Charlie. »Das letztemal habe ich doch gar nichts gemacht.« »Also wird's diesmal schlimmer.« »Charlie, wir haben ein Loch in einem Zahn entdeckt, das wissen Sie. Deshalb sind Sie doch wieder zu mir gekommen, nicht wahr?« Es herrschte Schweigen, abgesehen von Charlies rasendem Herzschlag, den Henry tatsächlich zu hören meinte. Himmel, wenn Charlie hier, in diesem Stuhl, einen Herzinfarkt kriegte, das würde mir gerade noch fehlen. Habe ich die Prämie für die Versicherung bei Kunstfehlern bezahlt? Das muß Rita gleich nachher überprüfen. Charlie tot in meinem Stuhl — Junge, das wäre ein schwerer Schlag fürs Geschäft, was? Henry empfand das plötzliche Bedürfnis, ihm eine runterzuhauen. Im Krieg müßte ich das tun, ihm eine runterhauen, damit er seinen Mut zusammennimmt, nicht wahr? Sei ein Mann, du Memme. Es ist nur Schmerz. Und Schmerz ist Leben. »Schmerz ist Leben, Charlie.« Charlie riß die Augen auf. Blasser als er nun war konnte er nicht mehr werden. »Das ist etwas Positives. Schmerz ist nichts Schlechtes, glauben Sie mir, Charlie.« Charlie schnappte nach Luft wie ein Fisch. Nachdem Henry ihm einem Klaps auf die Schulter gegeben hatte, fuhr er fort: »Keinen Schmerz zu empfinden ist
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aus zahnmedizinischer Sicht das Schlimmste, was einem passieren kann. Schauen Sie. Ich möchte Ihnen nicht mit Religion daherkommen, aber finden Sie es nicht auch bemerkenswert, daß Gott in Seiner unendlichen Weisheit den Zahn mit der empfindlichsten Nervenstruktur des ganzen menschlichen Körpers ausgestattet hat? Diesen extremsten Zustand sinnlicher Wahrnehmung nennen wir — Schmerz. Und da wir nur durch unsere Sinne wissen, daß wir leben, ist Schmerz meiner Meinung nach die höchste Stufe und der Inbegriff des Lebens. Schmerz ist Leben, Charlie. Das Leben ist eine gute Sache, also ist auch der Schmerz gut. Können Sie mir folgen?« »O mein Gott, o mein Gott«, stieß Charlie hervor und japste. »Wenn ich Schmerzen betäube, habe ich immer ein bißchen das Gefühl, ich würde dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen. Aber, wie gesagt, ich möchte Ihnen nicht mit Glaubensfragen auf die Nerven gehen. Lassen Sie mich nur noch anmerken, daß Gott den Menschen und der Mensch die Betäubungsmittel geschaffen hat, so daß sich die ganze Sache wieder aufhebt.« Wie hübsch, wie wohldurchdacht. Henry strahlte Charlie an, der aber anscheinend die Ästhetik dieses fein strukturierten Gedankengebäudes nicht zu schätzen wußte. »Sagen Sie nichts mehr«, meinte Charlie. »Sogar Ihre Worte tun weh. Alles in dieser Praxis tut weh.« He, du Blödmann, dachte Henry, ist das vielleicht meine Schuld? Wenn du dir deine vergammelten Zähne ab und zu putzen würdest, müßtest du nicht hier sitzen. Wenn du nicht ständig zu Dreami Donuts hinüberschleichen würdest — glaub nicht, daß mir das entgangen ist! —, vergammelten, müßtest du nicht meine schmerzenden Fähigkeiten in Anspruch nehmen. Was ist das nur für ein lausiger Beruf! Du undankbarer, zeitraubender, karieszerfressener Trottel!
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Schau, du schwitzt meinen nagelneu bezogenen Stuhl durch. Helfen Sie mir, aber tun Sie mir nicht weh! Bin ich vielleicht ein Wunderheiler? Heute ist der Tag der Abrechnung, mein guter Charlie. Nach dem Zuckerbrot die Peitsche. Die Uhr tickt, die Pflicht ruft, also sperr das Maul auf, Kumpel, jetzt kommt Dentist Man. »Jennifer«, rief Henry, »ich brauche gleich den Absauger.« Henry rollte seinen Stuhl näher und brachte Charlies Kopf in die richtige Lage. »Jetzt gehen wir's aber endlich an, Charlie.« Da schnellte Charlies Rechte vor und packte Henrys Hand. »Bitte, halten Sie meine Hand, nur für einen Augenblick«, flehte er mit schwacher Stimme. Jennifer erschien, und mit unverändertem Gesichtsausdruck (nicht, daß ihr Gesicht überhaupt je so etwas wie, einen Ausdruck hatte) schob sie ihren Schemel auf die andere Seite des Behandlungsstuhls. »He, Mr. Carnes, wie wär's, wenn ich Ihre Hand halte? Dr. Miles braucht nun mal beide Hände zum Arbeiten. Einverstanden?« »Ja«, erwiderte er dankbar. Gesegnet seist du, Jennifer, du effizientes, nüchternes Ding. Was man von dir auch verlangt, du tust es. Du sorgst dafür, daß der Patientenstrom stetig fließt. Henry blinzelte ihr zu, und sie antwortete mit einem Achselzucken. Schließlich brachte er sich knapp über Charlies rechter Schulter in Position. »Mund auf«, befahl er mit unmißverständlicher zahnärztlicher Autorität. »Ist das Xylocain mit Epi?« wandte er sich an Jennifer und hielt die Spritze hoch. »Ohne Epi.« Charlie öffnete zögerlich den Mund. Die Augen hatte er fest zusammengekniffen. »Charlie, Sie wissen, wie es abläuft. Erst kommt die Betäubung, dann mache ich ein bißchen sauber und fülle das Loch wieder auf. Ist wirklich nur eine Kleinigkeit.«
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Loch wieder auf. Ist wirklich nur eine Kleinigkeit.« Henry hielt das Röntgenbild, das bei Charlies letztem Besuch gemacht wurde, gegen die Behandlungslampe und warf einen kritischen Blick darauf. Der Mann könnte seinen Überbiß zum Flaschenöffnen benutzen! »Ja, da haben wir ihn schon. Backenzahn Nummer siebzehn. Ein bißchen Karies um eine alte Füllung. Kaum der Rede wert.« »Für Sie nicht«, meinte Charlie. »Haha.« Henry gab ein gezwungenes Lachen von sich. »Nein, für mich nicht, da haben Sie recht.« Aber schließlich habe ich ja auch nicht meine Zähne mit Zuckerguß überzogen, oder? »Jetzt wird es ein bißchen pieksen, dann spüren Sie nichts mehr.« Charlie riß die Augen auf und klappte den Mund zu. »Schauen Sie nicht auf die Nadel, Charlie. Sie wissen doch, daß Sie das nicht vertragen.« »Ich kann nichts dagegen tun.« Henry versteckte die Spritze hinter dem Rücken. »Ich muß sie sehen«, drängte Charlie. »Nein.« »Bitte.« »Nein.« »Ich will wissen, was auf mich zukommt.« »Die gleiche Nadel wie in den letzten fünfzehn Jahren, seit Sie zum ersten Mal auf diesem Stuhl gesessen haben, Charlie.« »Ich möchte sie nur ganz kurz sehen.« »In Gottes Namen. Hier.« Henry ließ ihn einen flüchtigen Blick auf die Spritze werfen, dann verbarg er sie wieder. »Sehen Sie?« »Sie ist größer! Sie haben diesmal eine größere Nadel!« Charlie fuhr hoch. Jennifer hielt seinen Arm fest, und Henry drückte ihn in den Stuhl zurück. »Es ist die gleiche verdammte Nadel,
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Charlie. Die kleinste, die überhaupt hergestellt wird, so dünn, daß sie praktisch unsichtbar ist.« »Wenn sie unsichtbar wäre, würde ich sie nicht spüren.« »Mund auf«, kommandierte Henry. »Mr. Carnes«, meinte Jennifer, »würde es Ihnen vielleicht helfen, wenn ich Ihnen beide Hände halte?« Henry sah, wie er seine Möglichkeiten abwog. Für einen unscheinbaren, einsamen Dreiundfünfzigjährigen mußte das Händchenhalten mit einer knackigen Zahnarzthelferin der siebte Himmel sein. Würde sich ihm eine solche Gelegenheit je wieder bieten? Und hatte sie sich ihm überhaupt schon einmal geboten? Würde er sich für ein bißchen Handerotik die Spritze geben lassen? Charlie griff nach Jennifers Händen, und sein Mund ging so weit auf wie ein Scheunentor. »Fangen Sie an«, sagte er. Mißbilligend zog Henry eine Augenbraue hoch. Charlie Carnes, du ausgekochtes Schlitzohr! So läuft der Hase also. Versucht's auf die Mitleidstour, damit er ein paar Streicheleinheiten kriegt — wenn man es so nennen will, daß er Jennifers Finger knetet. Und er macht sich ja wirklich ziemlich an sie ran! Gerade als Henry sagen wollte, Charlie solle sich ein wenig entspannen, fiel ihm bei Jennifer, die sonst keine Miene verzog, eine merkwürdige Veränderung auf. Ein Gesichtsausdruck! Ein Lächeln! Er war verblüfft. »Jennifer?« Sie lächelte ihn an. »Ja, Dr. Miles?« »Alles... in Ordnung?« »Sicher, warum nicht?« »Es ist nur, weil...« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Charlie, der mit offenem Mund und geschlossenen Augen dasaß. Da beugte sie sich über Charlie und flüsterte Henry zu: »Das ist schon in Ordnung.« »Nein.«
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»Doch. Irgendwie gefällt es mir.« Henry hielt abwehrend die Hand hoch. Sprich nicht weiter, Jennifer, wer immer du auch sein magst. Deine Vorlieben sind deine Sache, diese Abgründe möchte ich nicht erforschen. Allein die Vorstellung, wozu du imstande sein könntest, bereitet mir Kopfschmerzen. Charlie öffnete ein Auge. »Was flüstert ihr beiden da?« »Nichts. Drehen Sie bitte den Kopf zu mir.« Mit seinem aufgerissenen Mund, den Körper zu Jennifer, den Kopf in die andere Richtung gewandt, sah Charlie aus wie der Elefantenmensch. »Jetzt kommt der kleine Pieks«, erklärte Henry und fuhr mit der Nadel in den Mund, »so, ja, gut... hm hm, ja, sehr schön, Sie machen das sehr schön, jetzt noch mal, und... jawohl, das war's.« Als die Nadel eindrang, zuckte Charlie kurz zusammen, doch gleich darauf sackte er in den Stuhl, als hätte Henry ihm irgendein Mittel gespritzt, das die Knochen auflöst. Etwas beunruhigt musterte Henry ihn. »Hören Sie mich, Charlie?« Charlie lächelte verzückt und mit einem halb geöffneten Auge. »Klar«, sagte er und ließ seinen breiten Mund offenstehen. Dabei rieb er seine Daumen an Jennifers Handrükken. Hmmm, überlegte Henry. Habe ich vielleicht den perfekten Patientencocktail entdeckt? Zwei Valium, ein Schuß Xylocain und dazu ein Händedruck von Jennifer — genaugenommen sogar zwei. Tatsächlich schien Jennifer die wichtigste Zutat zu sein. Henry ließ den Bohrer neben Charlies Ohr aufheulen, doch dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper. Schau sich einer diesen blöde lächelnden Trottel mit seinem weit aufgerissenen Maul an! Ich lasse Jennifer jetzt mit jedem Patienten Händchen halten. Nein, für die Damen werde ich so einen jungen Schönling einstellen.
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Und draußen lasse ich ein neues Schild anbringen: DR. HENRYS ZAHNARZTPRAXIS MIT DEN HEILENDEN HÄNDEN. »So, Charlie, jetzt fange ich an«, sagte er. »Nur zu«, erwiderte Charlie und sperrte den Mund noch weiter auf. Als Henry den kreischenden Bohrer an den Backenzahn ansetzte, zuckten Charlies Lider kurz, doch das war alles. Erstaunlich — diesmal mußte man ihn nicht von der Decke abkratzen. Henry verstärkte den Druck und kniff die Augen zusammen, während ihm aus Charlies Mund Wasserpartikel und zermahlener Zahnschmelz entgegenflogen. Tiefer und tiefer drang er vor, bis die Bohrerspitze den winzigen, verborgenen Fäulnisherd erreichte. Ein kaum wahrnehmbares Plopp, das man nicht hörte, sondern nur spürte. Henry war ein Bergarbeiter, nur daß er das entgegengesetzte Ziel verfolgte: Seine Aufgabe bestand darin, sich durch kostbaren Zahnschmelz zu graben, bis er auf wertlosen Dreck stieß. Der durch die Reibungshitze erzeugte Gestank verschmorter organischer Materie drang Henry in die Nase. Es tut mir leid, flüsterte er dem Zahn unhörbar zu, es tut mir so leid, daß ich einen Teil von dir töten muß, damit der Rest weiterleben kann. Charlie zerstört dich, und ich zerstöre dich weiter, immer und immerfort. Hätte er dich nur nicht so zukkersüß behandelt, dann hättest du all die Jahre seines Lebens unversehrt bleiben können, ja sogar noch Jahrhunderte später hättest du denen, die dich vielleicht zutage fördern, aus dem Grab entgegenlächeln können! Vergib uns, Zahn. Henry seufzte. »So, dann wollen wir Sie mal wieder zusammenflicken, Charlie.« »Jetzt schon?« meinte Charlie und öffnete verträumt die Augen. Nun sieh sich mal einer Jennifer an, noch immer lächelt sie und umklammert seine haarigen Pranken. »Tja, tut mir leid, wenn ich euch beide trennen muß«, meinte er (ha,
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ha!), »aber, Jennifer, könnten Sie den Amalgammischer einschalten?« »Natürlich.« Er sah, wie Jennifer und Charlie sich einen Moment lang tief in die Augen blickten. Denk nicht darüber nach, Henry, denk an was anderes, sonst platzt dir der Schädel. »Und ich brauche den Spatel, er ist nicht auf dem Tablett.« »Wird gerade sterilisiert.« Sie stellte das Mischgerät an und verließ den Raum. Charlie wandte den Kopf nach ihr um, doch Henry packte ihn am Kinn und brachte ihn in die Ausgangsstellung zurück. »Muß noch einen Matrizenspanner reindrehen«, erklärte er. »Aufmachen, bitte.« Der arme Backenzahn sah aus wie eine Abraumhalde. Jennifer kehrte zurück, setzte sich auf ihren Hocker und reichte ihm den Amalgamträger, dann den Spatel. »Geben Sie mir noch mal die doppelte Menge, es ist ein ziemlich großes Loch«, befahl er. Charlie wollte etwas sagen, doch Henry kam ihm zuvor. »Nicht sprechen, und am besten gar nicht bewegen.« Wenn die Patienten das Bohren hinter sich hatten, wurden sie immer recht geschwätzig. Sie waren im Endorphin-Rausch, selig, weil sie überlebt hatten. Henry beeilte sich immer, fertigzuwerden, damit ihnen Rita draußen die Rechnung präsentieren konnte, ehe die Euphorie nachließ. Kratzend und spachtelnd paßte er die neue silberfarbene Füllung an. »Beißen Sie jetzt die Zähne leicht zusammen, damit ich Ihren Biß überprüfen kann.« Auweh, dieser Flaschenöffner-Überbiß — Charlie, wo warst du, als die Spangen ausgegeben wurden? »Sieht gut aus, sehr gut. Sie dürfen diese Seite heute aber nicht beanspruchen, ja?« Henry nahm Charlie den Papierlatz ab und brachte ihn mit einem Druck auf den Fußschalter in eine aufrechte Position. »So, Charlie, nun haben Sie es wieder überstanden. Sie waren
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heute wirklich sehr, sehr tapfer.« Er faßte ihn am Arm und half ihm aufstehen. »Okay, Charlie, und denken Sie daran: nicht auf der linken Seite kauen. Und bevor Sie gehen, schauen Sie bitte noch bei Rita vorbei. Alles Gute, und geben Sie jetzt mehr auf Ihre Zähne acht, ja?« Er klopfte Charlie auf den Rücken und ließ ihn von Jennifer zu Ritas Empfangstisch führen. Meine Güte, er grapscht schon wieder nach ihrer Hand. Nicht hinsehen — aber er konnte nicht anders. Jennifer flirtete. Waren jetzt alle verrückt geworden? Henry zog sich in Raum 2 zurück, um Hände und Gesicht zu waschen. Bei der Arbeit an Charlie war er ein wenig ins Schwitzen geraten. Er hatte schon bemerkt, daß er immer schwitzte, wenn er einen Patienten behandelte. Nicht stark, aber immerhin. Was hatte es zu bedeuten, dieses Schwitzen? Als er jung war, sich auf dem Sportplatz oder an Sommertagen draußen herumtrieb, war es nicht unangenehm gewesen. Doch jetzt, mit zweiundvierzig, war es eine weitere Körperflüssigkeit, die ihm Sorgen bereitete — wie sein zu fettes Blut. Oder wie neulich, als er solche Schwierigkeiten beim Pissen hatte. Darüber hatte er sich früher nie den Kopf zerbrochen — er hatte es einfach laufenlassen. Und jetzt diese Schwitzerei. Hing es mit dem Herzen zusammen, mit seinen Ängsten? Oder war es schlicht eine Veränderung des Körpers, übermäßige Schweißabsonderung als eine der demütigenden Erscheinungen des nahenden Greisenalters? Schwitzte sein Vater, der alte Stu, auch so? Wenn er an Stu im Pflegeheim dachte, brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Himmel, er schwitzte schon, wenn er nur ans Schwitzen dachte! Abermals spritzte er sich Wasser ins Gesicht, woraufhin die Beule, die von dem Zwischenfall mit den Slipeinlagen herrührte, zu schmerzen begann. Das erinnerte ihn daran, wie er in der Toilette hatte pissen wollen, es aber kaum mehr als ein Tröpfeln gewesen
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war. Seine Körperflüssigkeiten machten, was sie wollten, Blut, Schweiß, Pisse, Schweiß, Pisse, Blut... — aaaaaah, nichts wie raus hier, ich kümmere mich lieber um meinen nächsten Patienten, bevor ich in meinen Körpersäften ertrinke. Tief durchatmen, es geht dir prima, du bist Dentist Man, der Herr des Bohrers. Zack, zack!, mein Junge, rein in Raum 1, auf zum nächsten Patienten. Ja, es sind die Patienten, die schwitzen, nicht der Zahnarzt, ich fühle mich prächtig, jawohl, einfach prächtig!
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Kapitel 3 »June?« »Mmmh?« antwortete June benommen. Sie war auf dem Sofa eingenickt, wo sie den Migräneanfall vorgetäuscht hatte. Jetzt hielt sie den Telefonhörer in der Hand und öffnete langsam ein Auge, um einen Blick auf die Armbanduhr zu werfen. Elf Uhr vormittags. Sie hatte mehr als eine Stunde geschlafen. »June?« sagte die Stimme noch einmal. »Hier ist Margo Zimmerman.« Zögern. »Störe ich? Sie klingen etwas...?« June setzte sich langsam auf. »Entschuldigung, Margo. Ich bin ein bißchen angeschlagen. Hab mich wohl mit meinem neuen Aerobic-Video übernommen, mußte mich eine Minute hinlegen, um Luft zu schnappen. Kennen Sie das neue von Susie? Mein Gott, sie hetzt einen ja in unglaublichem Tempo durch die Beinschwünge.« Warum plapperte sie so eine blöde Lüge daher? Um Jeffrey Lyons aus dem Gedächtnis zu tilgen, natürlich. Um sich selbst einzureden, daß sie so etwas Vernünftiges wie Aerobic getrieben hatte und ihre neue Hausfrauengymnastik nicht etwa darin bestand, Achtzehnjährigen nachzulaufen. »June?« Warum wiederholte Margo unentwegt ihren Namen? Allmählich kam ihr das sonderbar vor. »Ich bin hier, Margo.« Tiefes Luftholen, dann: »Ich sollte Ihnen das wirklich besser persönlich sagen, June.« Die Zeit der Vergeltung. Kaum pirschte man sich mal an einen Achtzehnjährigen heran, schon stürzten die schwarzen Vögel des Unheils auf die Missetäterin herab. War dies der Anruf, den Henry heute morgen prophezeit hatte? War
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Lyle Robinson mit dem Schulbus in den Crum Creek gestürzt? Oder war es Henry? Er hatte es nicht bis zur Praxis geschafft, sie haben ihn während meines Nickerchens aus dem Wrack des Ford Taurus gezogen! June wollte sprechen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie räusperte sich, um etwas zu sagen. Doch Margo fuhr fort: »Aber ich habe nicht den Mut. Ich will nicht Ihr Gesicht sehen müssen, wenn Sie es erfahren. Das könnte ich nicht ertragen.« Das Gesicht ist nicht das Problem, Margo, sondern dieses Ding im Hals. Noch einmal räusperte sich June. Oder ist es eher um meinen Hals, schnüren mir deine unheilverkündenden Worte die Kehle zu? Um Himmels willen, Margo, sag mir, was los ist, bevor ich umkippe, du sadistisches Weib. Ach, wie mußt du es auskosten, wahrscheinlich hast du sie angefleht, die Hiobsbotschaft überbringen zu dürfen! Weiteres Räuspern. Du hattest schon immer eine Schwäche für schlechte Nachrichten, Margo, aber wer hat das nicht? Ich hätte dich ebenfalls mit Freuden angerufen. Mit Freuden. »Alles in Ordnung, June?« Zumindest konnte June jetzt ein paar Worte krächzen: »Sagen Sie's mir.« »Henry.« Verletzt, im Sterben, tot. Diese drei Möglichkeiten schössen ihr durch den Kopf. Aus welchem Grund auch immer waren ihr die Spielregeln völlig klar: Wenn sie eines der Worte aussprach, blieb Henry eben dieses Schicksal erspart. Die Götter waren streng, aber sie gaben ihr eine Chance. Während sich der Druck um ihren Hals verstärkte, brachte sie es gerade noch heraus: »Tot?« Schweigen. Bis Margo sich einen Ruck gab und sagte: »Vielleicht wäre es Ihnen lieber.« So schwerverletzt, daß ich ihm den Tod wünsche? O Henry, und du hast dich so
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auf deinen Airbag verlassen! Rede endlich, Margo, ich halte das nicht länger aus! Und sie stöhnte ins Telefon, daß Margo weitersprechen solle. Doch Margo brauchte gar keine Aufforderung. »Also denn. Ich bin ja so froh, daß ich Ihnen dabei nicht ins Gesicht sehen muß. Als ich heute morgen auf dem Weg zur Arbeit war, bin ich in die Cedar Lane eingebogen, um zur MacDade zu kommen. Manchmal fährt Henry ja den gleichen Weg, und heute morgen an der Ecke Cedar und Park, ja, da hab ich ihn erwischt.« Da also ist es passiert. Margo ist Henry in den Taurus gefahren, June sah es ganz deutlich vor sich, bevor Blaulicht vor ihren Augen aufflammte, dazwischen Männer in Uniform, Polizisten, Sanitäter, Feuerwehrmänner, alle beugten sich über Henry, mußten ihn mit der Unfallschere aus dem zerquetschten Metall von Armaturenbrett und Lenksäule befreien, Henry mit blutigem Gesicht auf dem nicht ausgelösten Airbag. »Sie werden nicht glauben, was ich gesehen habe«, fuhr Margo fort. O doch, ich glaube dir. Welche Ehefrau hat sich nicht schon tausendmal ausgemalt, wie ihre Lieben hilflos und verwundet in einem Autowrack liegen. Natürlich glaube ich dir. Diese Katastrophe lauert seit dem Tag meiner Eheschließung vor der Tür, sie lauert vor unser aller Türen, und dein Anruf hat lediglich die Tür aufgestoßen und sie eingelassen. »Weiter«, stöhnte sie. »Seien Sie tapfer, June.« Sie umklammerte den Hörer, daß er sich beinahe verbog; ihre Muskeln waren so angespannt, daß die Sofalehne knarrte und sich das Polster verschob, weil sie die Knie so fest dagegen preßte. »Ich habe also gesehen — oh, June, ihr Gesicht jetzt — also, während ich mit dem Auto an der Ecke Cedar und
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Park vorbeifuhr, habe ich Henry und Lotty Daniels in einer eindeutig erotischen Position auf dem Vordersitz von Henrys Wagen ertappt.« June entfuhr ein Lacher, er entschlüpfte ihr einfach. Die würgenden Klauen des Unheils ließen sie plötzlich los, und Erleichterung durchströmte sie. Ihr eben noch verkrampfter Körper fiel zurück aufs Sofa, und sie lachte weiter. Henry war unversehrt! Die Sache mit Lotty hatte ihr überhitztes Hirn noch nicht zur Kenntnis genommen. Henry lebte! »June?« Jetzt konnte sie wieder sprechen. »Margo — Sie haben ihn nicht wirklich erwischt, oder?« Verwirrtes Schweigen. »Doch. Es war zweifellos Henry«, antwortete sie. »Sie haben ihn gesehen, aber Sie haben ihn nicht erwischt. Mit Ihrem Wagen.« »Sie meinen einen Unfall?« »Ja.« »Sie haben gedacht...?« »Ja.« »June, Sie haben eine morbide Ader. Ich habe mich schon gewundert, als Sie ›tot‹ sagten.« Einen Moment war Margo still, bevor sie mit hoffnungsvollem Unterton fragte: »Aber jetzt sind Sie doch richtig fassungslos, nicht wahr?« »Weshalb?« »Weshalb?« Margos Stimme schlug Purzelbäume. »Weil Ihr Ehemann am hellichten Tag und auf offener Straße sexuelle Kontakte mit Lotty Daniels pflegt! Mit XXXLargeLotty!« setzte sie nachdrücklich hinzu. Nachdem June die Tatsache verdaut hatte, daß Henry unverletzt war, wandte sie sich nun der Sache mit Lotty zu. Margo hat sich schon einmal falsch ausgedrückt, überlegte June. Sie hat mich glauben lassen, daß Henry zerschmettert in einem Autowrack liegt, vielleicht nicht mit Worten, aber
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ihr Tonfall hat zweifelsfrei suggeriert, daß ihm etwas Entsetzliches zugestoßen ist. Wenn sie also das falsch rübergebracht hat, drückt sie sich vielleicht auch jetzt unklar aus; Margo war nicht gerade ein heller Kopf, und ihre Klatschgeschichten waren mit Vorsicht zu genießen. Also geh es lieber ganz ruhig an, June. Sieh zu, daß du die Sachlage richtig verstehst, und mach sie auch Margo klar, denn sobald du aufgelegt hast, wird sie die ganze Stadt von A bis Z durchtelefonieren — falls sie es nicht schon getan hat. Kann gut sein, daß sie mich nur angerufen hat, weil sie inzwischen bei M angelangt ist und weil ich jetzt eben an der Reihe bin zu erfahren, daß Henry Miles an der Ecke Cedar und Park Lotty Daniels bumst. »Aha«, sagte sie vorsichtig. »Sie meinen also gesehen zu haben, wie Lotty heute morgen mit Henry sprach?« »Sprach? June, wenn das ein Gespräch war, muß Henry auf beiden Ohren taub sein, denn sie lag in seinem Wagen auf ihm.« »Sie war im Wagen?« Das war allerdings merkwürdig. Natürlich immer vorausgesetzt, daß Margo sich nicht geirrt hatte. »Ja, im Wagen. Und ich habe gesehen, wie das Auto gewackelt hat, June. Deshalb habe ich überhaupt abgebremst und hingeschaut. Ich dachte, Henry hätte vielleicht einen Anfall oder etwas Ähnliches, so wie das Auto gewippt hat.« »Gewippt.« »Gewippt, und zwar rhythmisch«, wurde Margo jetzt deutlicher. June konnte beinahe hören, wie Margo sich genüßlich mit der Zunge über die Lippen leckte, und sie versuchte, sich die Szene im Auto vor Augen zu führen. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht einmal vorstellen, daß Lotty ihren Größe-sechsundvierzig-Hintern in den Taurus quetschen konnte. Und Sex mit Henry auf dem Vorder-
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sitz? Schon von der Figur her unmöglich. »Erzählen Sie mir mehr, Margo. Einzelheiten.« »Das meinen Sie nicht im Ernst, June. Das können Sie doch nicht wollen!« Warum hast du sonst angerufen, du miese kleine Schlampe, wenn nicht, um mich mit ekligen Details zu quälen? Ach, Margo, wie beneide ich dich, welchen Genuß muß es dir verschaffen, mir diese Neuigkeit überbringen zu können! Es ist doch so viel angenehmer auszuteilen als einzustecken, nicht wahr? Und irgendwie glaubst du auch, daß es dich schützt. Eine Hiobsbotschaft, die dich nun nicht mehr betrifft. Doch um Margos Sicherheit willen mußte June geopfert werden. Das Gesetz des Dschungels, Auge um Auge, Zahn um Zahn. »Na, machen Sie schon, Margo«, sagte sie matt. »Nun denn«, Margo unterdrückte ein Schnauben. »Tut gut, hmmh?« meinte June. »Sie nehmen das so gelassen hin, June. Was sind Sie doch für eine starke Frau.« »Ich bin ein wandelndes Wunder. Also erzählen Sie schon weiter. Los.« »Na gut. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie mich dazu aufgefordert haben.« June schwieg. »Okay, okay. Ich bin also mit meinem Wagen vorbeigefahren, und Henry hatte mir den Rücken zugekehrt — er saß auf dem Fahrersitz und war mit Lotty auf dem Beifahrersitz beschäftigt —, ich konnte ihn also nicht genau sehen, nur daß er sich ziemlich heftig bewegt hat. Ziemlich heftig. Aber Lotty, die konnte ich sehen. Die hatte sich vorgebeugt, lag halb auf ihm, und ihr Kopf ging immer hin und her und auf und nieder.« June stockte der Atem. Als Margo ihre telefonische Schilderung fortsetzte, stand ihr die Szene im Auto immer deut-
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deutlicher vor Augen. »Und das gibt Ihnen den Rest«, Margos Worte stürmten auf sie ein. »Gerade als ich vorbeigefahren bin, hat Lotty noch mal den Kopf gehoben, und sie hat mit weit aufgerissenem Mund nach Henry geschnappt. Sie hat sich etwas in den Mund geschoben, Gott ist mein Zeuge, June. Und sie hatte ihn so weit aufgerissen, daß man hätte meinen können, sie wollte Henry verschlingen!« June knallte den Hörer auf die Gabel und hoffte, daß das Geräusch Margos Trommelfell platzen ließ. Lotty und Henry an der Ecke Cedar und Park. Henry sollte sie betrügen? Am hellichten Tag? In einem Auto, während andere Autos vorbeifuhren? Henry sollte zulassen, daß jemand seinen kostbaren Penis zu sehen bekam, ein Privileg, daß er ihr, seiner ihm seit vierzehn Jahren angetrauten Gattin, fast nie gewährte? Sie mußte immer in der Dunkelheit rumfummeln. Aber Lotty Daniels, der hielt er ihn direkt unter die Nase, damit sie sich nach Belieben damit beschäftigen konnte. Lotty Daniels? Das war doch verrückt. Hatte Henry bereits all die Jahre heimlich für übergewichtige Frauen geschwärmt? Und fand er mich um so abstoßender, je mehr ich gefastet und Aerobic betrieben habe? War ich dir nicht mehr genug, Henry, im wahrsten Sinn des Wortes? June erhob sich vom Sofa und wanderte auf dem Wohnzimmerteppich hin und her. Allmählich erkannte sie die Symmetrie der morgendlichen Ereignisse und die unterschiedlichen Wege, die sie und Henry schließlich eingeschlagen hatten. Uns wurde beiden die Möglichkeit geboten, unsere sexuellen Phantasien auszuleben, mir mit Jeffrey Lyons, und dir, so schwer es auch zu glauben ist, mit Lotty Daniels. Wir haben beide unseren Traumpartner in die Intimsphäre der Familie eingelassen, Jeffrey kam zu uns nach Hause, Lotty in unseren Wagen, und wir waren bereit, uns über alle Regeln des ehelichen und familiären Anstands
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hinwegzusetzen! June bemühte sich, die Situation rational, objektiv zu erfassen, damit jede mögliche Gegenmaßnahme ihrerseits unter allen Umständen, auch vor Gericht, nur als vernünftig und angemessen angesehen werden konnte. Damit der Richter, wenn ich Henry in seinem gottverdammten Taurus mit einem Dumdum-Geschoß erlege, Verständnis und Nachsicht zeigt. Sie durchquerte den Raum wie ein Anwalt vor den Geschworenen, alles Frauen mittleren Alters, die bei ihrer Schilderung mitfühlend nickten. Also sind wir beide Ehebrecher, überlegte sie weiter, denn wir haben beide unseren Traumpartner in den geheiligten Intimbereich der Familie eindringen lassen, wir beide, meine Damen Geschworenen, haben vorsätzlich und willentlich sexuelle Annäherungsversuche unternommen — June blieb wie angewurzelt stehen und kniff die Augen zusammen, während sie sich das Treiben auf dem Vordersitz des Taurus ausmalte —, doch ich widerstand der Versuchung, während Henry willig den Hosenschlitz öffnete und der Untreue frönte. Ich habe den Akt nicht vollzogen, er hingegen schon. Ich habe es nicht getan, Henry; und jetzt standen ihr Tränen in den Augen, so daß alles um sie herum verschwamm. Im Gegensatz zu dir habe ich mich nicht an einem Fremden vergriffen. Durch ihren Tränenschleier hindurch sah sie Henry und Lotty aufeinander zuschwimmen, als wären sie allein an einem abgelegenen Strand und nicht in einem Kombi an der Ecke Cedar Lane und Park. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und kniete sich auf den Teppich. O Henry, was hast du getan? Es ist so untypisch für dich, ich hätte nie gedacht, daß du dir aus Sex tatsächlich etwas machst! Aber vielleicht ist es ja auch typisch für dich, möglicherweise hat dich der Zahnarzt in dir dazu getrieben: der Zwang, etwas in anderer Leute Münder zu stecken! Ja. Junes Tränenfluß versiegte, als ihre Gedanken sich vom Gerichtssaal entfernten und in das Reich der
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Psyche schweiften. Dental. Sexual. Oral. Mein Gott, es ist jedesmal fast das gleiche Wort! Ihr Mund war staubtrocken, und so schleppte sie sich in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Sie füllte ein Glas und setzte es an die Lippen. Doch dann ließ sie es wieder sinken, ohne getrunken zu haben, und starrte auf das Linoleum. Heute morgen beim Frühstück. Dieses Würstchen. Wir haben beobachtet, wie er es zu essen versuchte, aber er schaffte es einfach nicht. Sein Gesichtsausdruck war ganz komisch dabei, er begann zu zittern, und das Würstchen ist ihm praktisch von der Gabel gehüpft. Henry konnte das Würstchen nicht in den Mund nehmen! Münder, Würstchen, Lotty: Ja, sein Unterbewußtsein hatte sich bereits gemeldet, es sprach ihn schuldig, schuldig, schuldig, nach Freudschem Gesetz. Draußen wurde ein Motorrad gestartet. June schlenderte zum Fenster über der Küchenspüle und stellte sich langsam auf die Zehenspitzen. Es war der Tag der telefonischen Hiobsbotschaften. Henry erhielt seinen Anruf direkt vor der Mittagspause. Er hatte sich durch den vormittäglichen Patientenmix gekämpft: die Ängstlichen, die Übelriechenden, die Mißtrauischen und die Undankbaren. Ein Patient, der nicht mindestens eine dieser Eigenschaften aufwies, war selten; die meisten Patienten vereinten alle in sich. Ja, er fühlte sich beinahe wohl, er hatte den Tag soweit im Griff, als er die letzte Patientin des Vormittags wieder in die Vertikale beförderte und ihr den Papierlatz abnahm. Rio's Grill drüben in Morton wäre für den Mittagsimbiß genau das richtige, überlegte er, sie frittierten die Pommes noch in richtigem Schmalz, nicht in diesem neumodischen Pflanzenöl wie sonst überall. Himmlisch, die Zähne ins knusprige Braun zu senken, eine warme, fettige Kartoffel zu zer-
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matschen. Man konnte seine Zähne in Fett baden und würde dennoch nie Karies bekommen. Wie gesundheitsgefährdend konnte das also schon sein? Und außerdem war er heute morgen um seine Würstchen gekommen, er hatte also noch eine Dosis Cholesterin gut. Eigentlich stand ihm sehr viel mehr zu als nur eine Portion Pommes frites, nach all dem Ärger, den er heute schon gehabt hatte. Henry wusch sich die Hände und betastete, wie schon mehrmals an diesem Vormittag, die Beule an seiner Stirn. Bombardiert mit Slipeinlagen, im Nahkampf mit widerspenstigen Patienten — ein Zahnarzt stand in vorderster Front, auch wenn die Leute das nicht zu schätzen wußten. Okay, vielleicht habe ich das mit den Slipeinlagen selbst verschuldet, aber trotzdem schwebe ich ständig in Gefahr, sobald ich die Praxis betrete. Und wenn ich Pommes essen will, verdammt noch mal, dann esse ich eben Pommes. Und trinke ein großes Diät-Cola dazu, mit viel Eis. Er lächelte schuldbewußt, weil er seine Patienten immer davor warnte, Eis zu kauen, während er sich durch ganze Kühltruhenladungen nagte und biß. Diese Befriedigung, mit den Zähnen einen festen Brocken zu zermalmen: die Bestätigung für ein absolut gesundes Gebiß. Wie in prähistorischen Zeiten, als man mit den Zähnen noch Knochen zerbeißen konnte. Ja, er fühlte sich fast so stark wie ein Neandertaler, als der Anruf kam. »Dr. Miles«, rief Rita ihn über die Sprechanlage. Nicht, daß er in den Behandlungsräumen tatsächlich eine Sprechanlage gebraucht hätte: Rita am Empfangstisch saß keine fünf Meter entfernt. Aber es gefiel ihm, wenn sein Name ausgerufen wurde wie der eines Arztes im Städtischen Krankenhaus. Und außerdem machte es bestimmt Eindruck auf die Patienten. Er drückte einen Knopf. »Ja, Rita?« Er konnte sie an ihrem Schreibtisch sehen, ebenso wie sie ihn. Ein bißchen erinnerten sie an Kinder, die sich per Dosentelefon unter-
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hielten. »Ein Anruf für Sie auf Leitung eins. Ein Privatgespräch«, sagte sie voller Mißbilligung. »Man besteht darauf, Sie persönlich zu sprechen.« »Danke, Rita, stellen Sie durch.« Beeilung bitte. Denn da wartet schon sehnsüchtig eine Portion Pommes frites auf mich. Henry hob den Hörer des Nebenanschlusses ans Ohr. Klicken, eine kurze Pause, dann ein weiteres Klicken. »Hallo, hier Dr. Miles.« Gegrillter Speck und Käse wären auch nicht schlecht. »Henry Miles?« fragte laut eine weibliche Stimme. »Ja, hier Dr. Miles.« Also bitte — wenn Sie mich schon in der Praxis anrufen, heißt es Doktor Miles. »Mr. Miles, hier ist Betty Speers, Oberschwester in Fox Glen.« Daddy! Henry mußte sich gegen die Wand lehnen. Fox Glen, das Pflegeheim. Er erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, wie er vor einem Jahr die Papiere für die Einweisung seines Vaters ausgefüllt hatte. Das bedrohliche Kästchen in der Ecke: »Bei einem Notfall zu benachrichtigen — privat, Büro.« Er hätte ihnen nie seine Telefonnummer geben dürfen. Kaum gibt man ihnen eine Nummer, schon machen sie Gebrauch davon! »Mr. Miles?« Aber ich bin Doktor Miles. Vielleicht ist es ja eine Verwechslung. Nein, sie hatte Henry Miles gesagt, oder? »Ja?« erwiderte er schwach. »Mr. Miles — ah, ich sehe gerade auf dem Formular, daß Sie Doktor sind, stimmt's? Ah ja, Sie sind Zahnarzt.« Richtig, also wohl leider kein Irrtum, oder? Bei einem Notfall bin ich zu benachrichtigen. Wann habe ich dich zuletzt besucht, Daddy? Vor zwei Wochen? Vor einer Woche? Henry wurde schwindlig. Er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, was für ein Tag heute war. Dienstag?
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Mittwoch? Die Zeit raste dahin, dann wieder schlich sie mit quälender Langsamkeit. Aber es schien Daddy gut zu gehen, als ich ihn das letzte Mal sah... oder nicht? Dreiundachtzig, und er nahm immer noch feste Nahrung zu sich, spazierte mit seiner Gehhilfe herum. Das meiste, was er sagte, hatte Hand und Fuß — zum Teufel, mehr Sinn jedenfalls als das, was June oder die Zwillinge von sich gaben. Daddy... tot? Bei seinem nächsten Gedanken bekam Henry weiche Knie. Daddy gestorben; ich bin der nächste. Betty Speers sprach weiter. »Eigentlich trifft es sich sehr gut, daß Sie Zahnarzt sind«, meinte sie. »Denn wir stehen hier sozusagen vor einem zahnärztlichen Problem. Sie müssen uns helfen, Dr. Miles. Kommen Sie bitte und sehen Sie nach Ihrem Vater. Wenn irgend möglich, sofort.« Daddy ist nicht gestorben. Henry blinzelte und versuchte zu begreifen. Daddy ist nicht gestorben. Ich bin nicht der nächste. Ein zahnärztliches Problem. Kommen Sie bitte sofort. Keine Pommes. »Sie wollen, daß ich komme, weil mein Vater Probleme mit seinen Zähnen hat?« »Ja, genau.« »Miss Speers.« »Mrs.« »Mrs. Speers, entschuldigen Sie, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Mein Vater kann keine Probleme mit den Zähnen haben, weil er gar keine Zähne mehr hat. Er trägt eine Prothese.« »Nein, Dr. Miles, das tut er eben nicht.« »Hat er sie verloren? Oder zerbrochen? Warum soll ich so schnell wie möglich kommen?« Hallo, Pommes frites! Und vielleicht genehmige ich mir noch einen Cheesburger mit Speck. »Weder verloren noch zerbrochen. Viel schlimmer.« »Schlimmer?« Mrs. Speers verharrte in unheilvollem Schweigen, dann:
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»Ihr Vater weigert sich, seine Prothese einzusetzen.« »Das kann nicht sein«, gab Henry ohne Zögern zurück. Einen Augenblick schien sich alles um ihn herum zu drehen, dann standen die Wände wieder gerade. »Doch, er weigert sich, Dr. Miles. Die Jungs, unsere Pfleger, sind mächtig ins Schwitzen gekommen. Sie sind auch jetzt noch bei ihm.« »Sind Sie ganz sicher, daß Sie meinen Vater meinen? Stu, Stuart Miles? Tragen die Leute bei Ihnen Namensschildchen oder so? Hat jemand nachgeschaut?« »Es gehört zu meiner Arbeit, alle Bewohner von Fox Glen zu kennen«, entgegnete Mrs. Speers eisig. Henry hob die Hand. Er konnte sehen, wie die Finger zitterten. »Ja, natürlich, Mrs. Speers. Entschuldigung. Aber verstehen Sie, mein Vater ist so ein ordentlicher Mensch. So gewissenhaft. Wenn er seine Prothese nicht tragen will, das ist irgendwie, als wenn er ohne Hosen draußen rumlaufen würde.« »Ich wäre nicht überrascht, wenn er das als nächstes täte.« »Was?« »Wenn's erst mal bergab geht mit ihnen, sind sie zu allem fähig.« Bergab geht? Noch vor eineinhalb Wochen hatte Daddy voller Elan mit den Schwestern geschäkert und wie ein Scheunendrescher gefuttert, und jetzt sollte er anfangen, nackt und zahnlos herumzuschlurfen? »Wenn das so weitergeht, sehen wir uns eventuell gezwungen, ihn zu fixieren. Oder ihm Beruhigungsmittel zu verabreichen.« »Weil er seine Zähne nicht einsetzt? Wegen so etwas fesseln Sie alte Leute und pumpen sie mit Drogen voll, Mrs. Speers? Um Himmels willen, was stellen Sie erst mit ihnen an, wenn sie Ihnen zu widersprechen wagen: Werden sie
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dann an die Wand gestellt und erschossen?« »Brüllen Sie mich nicht so an, Dr. Miles! Genau deshalb habe ich Sie ja angerufen. Er tut weiß Gott mehr als nur widersprechen. Zwei Pfleger, zwei große, kräftige Männer, sind bei ihm im Zimmer und versuchen, ihn zu beruhigen. Und Ihr Vater hat seine Hände bereits mit Blut befleckt.« »Was hat er gemacht? Zahnlos nach ihnen geschnappt?« »Er hat einem der Jungs das Essenstablett über den Schädel gehauen. Und entweder kommen Sie jetzt her, oder wir müssen zu härteren Maßnahmen greifen.« »Also gut, aber bleiben Sie ihm mit Ihren Spritzen und Fesseln vom Hals, verstanden? Sagen Sie ihm, daß ich in einer Viertelstunde da bin. Reicht das, Mrs. Speers?« »Ich hoffe, Dr. Miles.« Henry legte auf. In seinem Magen gluckerte es unangenehm. Na wunderbar. »Rita?« Großartig, einfach großartig. Daddy in den Klauen von Schwester Schreckschraube und zwei ihrer Gorillas. Henry rannte zu Ritas Tisch. »Sagen Sie alle meine Nachmittagstermine ab. Bei meinem Vater sind ein paar Sicherungen durchgebrannt, ich muß nach Fox Glen und die Sache wieder ins Lot bringen.« Als Rita zu ihm aufsah, rutschte ihre Perücke noch ein Stück nach hinten und entblößte weitere zehn Zentimeter runzliger Stirn. »Grüßen Sie ihn herzlich von mir«, sagte sie, »er ist so ein freundlicher alter Herr.« Henry durchquerte im Eilschritt den Vorraum und versuchte, noch im Gehen den Zahnarztkittel abzustreifen. »Heute nicht ganz so freundlich, nach dem, was ich gehört habe«, rief er aus seinem Büro. Er warf den Kittel auf den großen Eichenschreibtisch und zog sich die SeersuckerJacke über. Beim Weg zurück zum Eingang warf er einen Blick auf die Badezimmertür. Sie war verschlossen, und er hörte drinnen jemanden rumoren. Jennifer natürlich. Beim Zählen ihrer
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Slipeinlagen. Wahrscheinlich konnte sie seine Fingerabdrücke darauf riechen. Er ging schneller. »Also, Rita, sagen Sie alle Termine ab, weil ich nicht weiß, was mich draußen in Fox Glen erwartet. Dann machen Sie hier Schluß — Sie und Jennifer haben heute nachmittag frei.« Er blickte auf sie hinunter und bemühte sich dabei, das Rutschen ihrer Perücke zu ignorieren. Diese kroch langsam, aber stetig Ritas Nacken hinunter wie ein scheues Wiesel. Was, wenn sie zu Boden fällt, noch während ich hier stehe? Soll ich darauf reagieren? Was sagt »Der gute Ton« dazu? »Dr. Miles?« »Ja, Rita?« Bitte, laß mich gehen. Bevor deine Haare zu Boden fallen, bevor Jennifer aus dem Badezimmer kommt, bevor mein nackter, zahnloser und blutrünstiger Vater aus dem Pflegeheim entfleucht. Ihm flimmerte es kurz vor den Augen, und er sah eine wilde Jagd über den hügeligen, grünen Rasen von Fox Glen. Eine Verfolgungsjagd, er an der Spitze, alle anderen hinter ihm her: Daddy, der sein speicheltriefendes Zahnfleisch fletschte; Jennifer, die wütend mit einer Handvoll Slipeinlagen herumfuchtelte; Rita, die die Hand an die Perücke preßte; Charlie Carnes und Lotty Daniels; Marty Marks, der ihn mit Leckerhäppchen bewarf; die spottenden Zwillinge; June, mit einem Teller glänzender Würstchen; und zum Schluß Lyle Robinson als Sensenmann, der das Gaspedal des gelben Schulbusses durchdrückte und übers grüne Gras brauste. Wenn das mein Vormittag war, überlegte er und blickte noch einmal forschend auf Rita, besteht da die leiseste Chance, daß ich den Nachmittag überstehe? »Ähm, Doktor«, meinte Rita. »Haben Sie schon mal an Hobbys gedacht?« »Hobbys?« fragte er. Natürlich, das war's. Er sollte die Leere seiner sorglosen Vormittage vielleicht mit Amateurfunk oder dem Bau von Modellflugzeugen füllen! Rita, bist
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du nicht ganz bei Trost? »Für Ihren Vater. Ein Hobby könnte ihm zu mehr Ausgeglichenheit verhelfen. Und würde ihn geistig fordern.« Henry stellte sich vor, was gegenwärtig in Fox Glen los war. Sein Vater, der irren Blicks zwei bestürzte Pfleger mit einem herrenlosen Gebiß in der Hand bedrohte. Was für ein Hobby konnte den Geist eines solchen Mannes wohl rege halten? »Na ja, Rita, ich danke Ihnen für den Vorschlag, aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß mein Vater über das Stadium hinaus ist, wo ein Hobby von Nutzen wäre. So, wie Schwester Speers ihn beschrieben hat, scheint er wirklich nicht in Stimmung für eine geruhsame Beschäftigung.« »Ich kann nur sagen, wenn ich selbst mal nicht ganz auf der Höhe bin und mich dann meinen Usambaraveilchen widme oder die Hummel-Figuren umgruppiere, hilft mir das enorm.« Henry warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Nochmals vielen Dank, Rita, ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht, es mir zu sagen.« Er hörte, wie Jennifer am Ende des Ganges die Badezimmertür öffnete. »Ich muß mich jetzt wirklich sputen, Rita.« Was er auch tat, raus aus der Praxis und rüber auf den Parkplatz. Ob Jennifer ihn, die geschändete Splipeinlagenschachtel in der Hand, mit seiner Untat hatte konfrontieren wollen, würde er nie erfahren. Henry startete den Taurus und tätschelte, wie so oft, das Lenkrad mit dem darin verborgenen Airbag, als wäre es ein Talisman. Wenn man an den bisherigen Verlauf des Tages dachte, kam diese Geste wohl etwas spät. Er fuhr aus der Parklücke und in die Zufahrt, die er sich mit dem Dreami Donuts teilte. Im Vorbeifahren warf er einen Blick hinüber und sah, wie Marty Marks, die Hand gegen die Backe gepreßt, zur Glastür
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rannte. Doch als Henry aufs Gaspedal treten wollte, um Marty in einer Staubwolke hinter sich zu lassen, verschwor sich ein weiteres Mal das Schicksal gegen ihn. Zum ersten Mal in den sechsundzwanzig Jahren, die er schon Auto fuhr, verwechselte sein Fuß das Gaspedal mit der Bremse. Der Taurus kam jäh zum Stehen, und Henrys Kopf schnellte vor und knallte aufs Lenkrad. Es war nur ein harmloser Aufprall, aber an einer heimtückischen Stelle: Denn Henry schlug genau mit der Beule auf, die er sich vorhin im Badezimmer zugezogen hatte. Durchdringender, glühender Schmerz. »Autsch, verdammt noch mal«, brüllte er und hielt mühsam die Tränen zurück. Klopf, klopf, hörte er Martys Knöchel am Seitenfenster. Waren es Tränen des Schmerzes, Tränen des Zorns, Tränen für Daddy? Oder vielleicht einfach nur Tränen in Erwartung dessen, was alles noch kommen würde — er öffnete die Augen und blickte durchs Fenster auf Marty. Klopf, klopf, klopf. Wieder stiegen Henry Tränen in die Augen, und er wandte sich kurz ab, um sich zu fassen, bevor er das Fenster herunterkurbelte und Martys Stimme gestattete, ins heilige Innere seines Taurus zu dringen. Schon einmal hatte sich heute die Außenwelt — in Gestalt Lotty Daniels — störend in seinem Allerheiligsten breitgemacht. »Dr. Miles«, sagte Marty mit kläglicher Stimme. »Sie fahren weg und kommen heute nicht wieder. Ich habe gerade mit Rita telefoniert, und sie hat mir gesagt, daß Sie heute nicht mehr zurückkommen.« »Ja, Marty, das stimmt.« »Aber meine Krone fängt an, sich zu lockern. Es tut weh. Sie haben gesagt, Sie würden mich heute einschieben.« »Nun, Marty, das hatte ich auch vor.« Henrys Finger berührte sacht seine Stirn, die Stelle, die ihm weh tat. »Und jetzt fahren Sie weg«, sagte Marty. »Und kommen
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heute nicht mehr zurück«, wiederholte er in ungläubigem Ton. Nur heute nicht? Hat Rita das gesagt, Marty? Hat sie nicht eher gesagt, nie wieder? Denn so ist es. Ich kehre nie, nie mehr zurück. Dein armer Zahn wird pochen, das Zahnfleisch wird anschwellen und ihn vielleicht zum Platzen bringen. Denk darüber nach, Marty, wie es ist, wenn ein Zahn nach dem anderen aufplatzt wie Popcorn in einer heißen Pfanne, plopp, plopp. »Tja, Marty«, Henry zuckte die Achseln. »Sie können nicht fahren.« Marty wollte nach dem Türgriff fassen. Henry konnte die Tür gerade noch verriegeln. »Doch, Marty, und zwar jetzt.« »Aber das ist ein Notfall.« »Ich bin unterwegs zu einem anderen Notfall.« »Ein Hausbesuch? Zahnärzte machen gar keine Hausbesuche. Das haben Sie erfunden. Sie wollen mich einfach nur nicht behandeln.« Er rieb sich traurig das Kinn. »Ich wette, Sie verstoßen damit gegen irgendeinen hippokratischen Zahnarzt-Eid. Ich wette, daß Sie gesetzlich verpflichtet sind, mich zu behandeln, wenn es ein Notfall ist.« »Werden Sie nicht hysterisch, Marty. Nehmen Sie ein paar Tylenol. Morgen bin ich wieder da und kümmere mich gleich als erstes um Sie.« »Jetzt!« Er rüttelte und zog an der Tür. Was hat er vor? Will er mich aus dem Auto zerren und mit vorgehaltener Pistole zwingen, hier auf dem Parkplatz seine Krone zu reparieren? »Marty, beherrschen Sie sich. Es sind doch nur Schmerzen. Sie sterben nicht daran, Sie haben nur Schmerzen, und vom zahnärztlichen Gesichtspunkt aus sind Schmerzen oft ein Maßstab für die Gesundheit. Also weiden Sie sich an Ihrem Schmerz, denn er ist ein Zeichen Ihrer Vitalität. Sie haben Glück, Marty, ja, Sie
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sind ein richtiger Glückspilz.« »Sie Schweinehund«, zischte Marty und zuckte zusammen, als seine Zunge an die Krone fuhr. »Sadistisches Arschloch! Sie hassen mich. Deshalb tun Sie mir das an. Sie hassen mich, haben mich schon immer gehaßt und werden mich immer hassen.« Donnerwetter! Haß — gestern, heute und morgen. Das ist eine ganze Menge Haß. Und er hat recht. Ich kann ihn tatsächlich nicht ausstehen. »Aber, Marty, ich hasse Sie doch nicht.« Henry schielte auf die Uhr. Ticktack, ticktack. Er konnte beinahe hören, wie die Zeitbomben tickten: sein zahnloser Vater im Begriff, ein weiteres Mal auf die Pfleger loszugehen; Marty, der gerade überlegte, ob er ihn aus dem Auto zerren und ermorden sollte; und all die anderen Bomben, von denen er noch nicht einmal etwas ahnte, ticktack, ticktack. Henry dachte an June und fragte sich, wie ihr Vormittag wohl aussah. Zweifellos verlebte sie heitere Stunden. Für sie tickten keine Bomben. Und da fragte sie sich, warum er immer so abgespannt von der Arbeit nach Hause kam, warum er jeden Tag damit begann, ängstlich über der Liste zu brüten. »Doch, Sie hassen mich, jawohl, und ich sage Ihnen auch, warum.« Marty deutete mit dem Daumen hinter sich auf das in Pink und Kastanienbraun gehaltene Dreami Donuts. »Weil ich da arbeite.« »Leute müssen nun mal arbeiten. Ich mache niemandem einen Vorwurf, wenn er arbeiten geht.« »Ja, aber ich arbeite da!« Marty, du bist nicht so dumm, wie ich dachte. Ja, ich hasse dich, weil du der Kommandant dieses Todeslagers für Zähne bist. Aber es ist nicht allein das. Ich hasse dich auch, weil du, ein Mann mittleren Alters, ein Papierkäppi mit dem Dreami-Donuts-Logo trägst. Und dabei stört mich nicht nur die Kappe, sondern auch, wie keck du sie aufge-
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setzt hast. Denn das heißt, daß die Arbeit mehr für dich ist als nur ein Job, sie ist deine Berufung. Du tust deine Arbeit gern, mit verschwörerischem Augenzwinkern handelst du in Zucker, belieferst du ernährungsbehinderte Zuckersüchtige! Du bist, um einen gängigen Begriff zu gebrauchen, ein Dealer mit zuckerweißer Weste. Und da wagst du es, mich mit deinen Nöten zu behelligen, mit deiner Dornenkrone?« Henrys Zeh tastete nach dem Gaspedal. Diesmal würde er es nicht verfehlen. »Ich verkaufe also Donuts. Ist das so ein Verbrechen?« Das größte, das es gibt, dachte Henry. »Das müssen Sie schon für sich selbst entscheiden, Marty.« »Klar doch. Ich weiß, was Sie wirklich denken.« Die Verzweiflung in Martys Stimme war nicht mehr zu überhören. »Und ich verstehe Sie. Ich akzeptiere Ihre Einstellung. Sie haben Grund, mich zu hassen. Okay.« Henrys Zeh tippte aufs Gaspedal, und der Taurus schob sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Marty hielt Schritt, den Kopf weiterhin auf Höhe des Autofensters. »Okay«, fuhr er fort. »Aber selbst wenn Sie mich hassen, sind wir doch beide Profis. Ich habe auch Kunden, die ich nicht leiden kann. Soll ich sie deshalb etwa nicht bedienen?« Henry drückte eine Nuance stärker aufs Gas. »Natürlich bediene ich sie.« Marty ging in einer Art Hüpfschritt neben dem Auto her; wahrscheinlich war ihm gar nicht bewußt, daß er sich vorwärtsbewegte. »Ich meine, was ich manchmal von den Kunden einstecken muß, Sie würden es nicht glauben. Aber egal, ob ich sie liebe oder hasse, ich bin ein Profi, und ein Profi erledigt seinen Job.« Inzwischen fuhr Henry schon fünfzehn, zwanzig Stundenkilometer. Er hatte die Straße erreicht und stand im Begriff, in den MacDade Boulevard einzuscheren. Marty, hasst du sie nicht mehr alle, daß du immer noch neben mir
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herläufst? Entweder das, oder es war der Schmerz, der ihn vorantrieb. Jedenfalls rannte er jetzt im Laufschritt neben dem Wagen her, seine dünnen Beine flogen förmlich durch die Luft. Das Dreami-Donuts-Käppi war ihm vom Kopf gerutscht und flatterte über die Straße. Autos hupten. »Also haben auch Sie Ihren Job zu erledigen, Sie Hundesohn von einem Zahnarzt! Haß gilt nicht. Schließlich leben Sie von Leuten wie mir!« Henry drückte das Gaspedal durch und ließ Marty schließlich hinter sich. Wenn ich von Leuten wie dir leben müßte, dachte Henry und betrachtete im Rückspiegel, wie Marty wild mit den Armen fuchtelte, dann würde ich endgültig durchdrehen. Er brauste den MacDade Boulevard entlang und nahm die an ihm vorbeirauschende Landschaft kaum wahr. Landschaft, war das das richtige Wort? Gehörten zu einer Landschaft nicht Wälder, Berge und Seen? Dagegen dieser Ramsch! Normalerweise mochte er die Läden in diesem Bereich der Einkaufsmeile, die schon bessere Tage gesehen hatten, ihren schnellen, aufdringlichen Wechsel. Imbißstuben und Eisenwarenhandlungen, Schuhläden und Metzgereien. Es amüsierte ihn, wie viele Varianten die Menschen doch entwickelten, sich zu beschäftigen und anderen nützlich zu sein. Marty nannte sich Profi. Betrachteten sich alle diese Ladenbesitzer als Profis? Hallo, schönen guten Tag, ich bin Frank Jones, professioneller Sandwichbeleger. Diese absurd aufgeblasenen Egos! Ja doch, ich bin auch ein bißchen überheblich, aber ich bin schließlich Zahnarzt und nicht irgendein Typ, der Hamburger wendet, oder so ein Arschloch, das eine Donuts-Filiale leitet. Scheiß-Marty-Marks. An einer roten Ampel, die er erst in letzter Sekunde bemerkte, kam er, nur Millimeter von der Stoßstange eines Lieferwagens entfernt, mit kreischenden Bremsen zum Ste-
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hen. Sein Herz raste, Schweißperlen krochen ihm den Rükken hinunter wie Insekten. Er sackte nach vorne und legte den Kopf auf die gepolsterte Mitte des Lenkrads. Bloß nicht hier sterben, ging ihm durch den Kopf, nicht hier auf dem MacDade Boulevard, zwischen Imbißbuden und Schuhläden. Ein Auto hupte, dann noch eins. Er sah hoch und das grüne Licht. Ich sterbe nicht — ich halte den Verkehr auf. Henry fuhr ruckartig an. Was macht es schon, wenn ich schwitze, überlegte er. Schweißausbrüche sind nicht unbedingt Anzeichen des nahen Todes. Ebenso wie Schmerz zeigen sie, daß der Körper arbeitet. Und Schmerz gehört zum Leben, ist ein Zeichen, daß man lebendig ist, jawohl. Genau wie Schweiß. Also steigere dich nicht so hinein. Immer mit der Ruhe. Jetzt runter vom MacDade und rein in die Riverview. Ah ja, viel besser. Wohnungen, keine Läden. Dann von der Riverview in die Hillborn. Er fuhr langsamer. Eine Junior Highschool, Teenager, wohin das Auge blickte. Offenbar Mittagspause. Henrys Magen knurrte. Schau sie dir nur an. Sie sitzen auf den Stufen, auf den Autos, auf den Bäumen, lehnen am Zaun. Und dieses ständige Kommen und Gehen, hinein in diese, hinaus aus jener Gruppe, sie teilten sich und verschmolzen wie Zellen einer gefährlich aktiven Krankheit. Langsam fuhr er vorbei. Wieviel Zeit wohl seit dem Anruf wegen Daddy vergangen war? Und da trödelte er hier vor einem Schulhof herum. Gerade als er beschleunigen wollte, fiel sein Blick auf einen der Zwillinge, er hockte mit einer Gruppe Gleichaltriger neben dem Zaun. Henry bekam eine Gänsehaut. Nachdem er den Wagen genau gegenüber am Straßenrand geparkt hatte, preßte er die Nase gegen das Seitenfenster. Die Kids sahen aus wie in einem AntiDrogen-Werbespot. Alle trugen Bomberjacken, und sie
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steckten die Köpfe zusammen. Verstohlen reichten sie untereinander etwas weiter, er konnte nicht erkennen, was. Ganz ruhig, Henry. Welcher von den Zwillingen war es? Welchen seiner Söhne mußte er in einem Rehabilitationszentrum zur Entziehungskur anmelden, sobald er sich um Daddy gekümmert hatte? Ob Fred? Oder Ed? Die Generationen vor und nach mir machen schlapp, aber ich will nicht wöchentlich zur Familientherapie ins Rehabilitationszentrum! Ich will nicht zu meinem Vater und ihn zwingen, die Prothese einzusetzen! Klopf, klopf, klopf. Henry erstarrte. Hatte Marty Marks ihn tatsächlich eingeholt? Klopf, klopf, klopf. Langsam wandte er den Kopf zum rechten Seitenfenster. Sein Sohn! Sein anderer Sohn, nicht der aus dem DrogenSpot auf der anderen Straßenseite. Sein guter Sohn. Die Frage war nun lediglich, ob Fred oder Ed. Henry beugte sich rüber und öffnete die Beifahrertür. Der Sohn setzte sich rein. »Was tust du hier, Dad? Ist was mit Mom nicht in Ordnung?« »Doch, natürlich. Warum?« Ed seufzte erleichtert auf. »Puh. Ich war ganz sicher, daß du uns abholst, um zu ihr ins Krankenhaus zu fahren oder was in der Art. Eltern kommen nie so früh hierher, außer wenn der andere Elternteil tot ist oder so. Buddy Iozzi ist das letzte Woche passiert. Seine Mom kam in der Mittagspause, weil sein Vater in der Arbeit den Löffel abgegeben hat.« Henry starrte Ed an — Ed? Himmel noch mal, ich muß ihn irgendwie anreden — also, er starrte ihn an und dachte, o Gott, eine kleinere Ausgabe von mir. Ich habe einen kleinen Henry gezeugt, habe mein angstzerfressenes Erbgut an
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die nächste Generation weitergegeben. Furcht und Sorge werden im Stammbaum der Miles für immer weiterleben. Ed hat seine eigene Version der Liste, na klar. Ich frage mich, was draufsteht: die Eltern tot, Akne, Zahnspangen, Geometrie, Hausaufgaben, Stimmbruch, wenn er ein Mädchen anspricht, der nukleare Holocaust, der falsche Haarschnitt. Verdammt, ich würde meinen Eckzahn hergeben, um noch einmal so eine Liste zu haben! »Nein, nein, Mom geht es gut, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Ed nickte. »Und du? Alles okay?« Dabei musterte er seinen Vater. »Ich? Ich bin hundertprozentig in Ordnung. Zweihundertprozentig«, sagte Henry viel zu laut. »Gut, Dad. Das ist toll.« Henrys Blick wanderte zum Schulhofzaun. Dort war sein anderer Sohn noch immer mit diesen Jungs in MilitaryKlamotten zugange. Schon der Haarschnitt von dem einen — stellenweise kahlrasiert, und dann an der Seite so etwas wie eine glatte Ponysträhne. Wie pervers. Zu seiner Zeit hatte man die Wahl: kurz oder lang. Eine klare Sache. Doch hier dieser abartige Mix. »Ist das dein Bruder dort? Da am Zaun, ist das Fred?« »Das ist Ed, Dad. Ich bin Fred.« Henry wurde rot. »Ja, natürlich, ich meinte ja auch Ed. Hab ich Fred gesagt?« Der Junge schüttelte den Kopf und lächelte. »Hey, Dad, das war doch nur ein Witz. Ich bin Ed.« Er konnte seinem Sohn nicht ins Gesicht sehen. Mühsam zwang Henry sich zum Lachen. »Haha. Jetzt hab ich dich, Ed. Oder soll ich lieber sagen, Fred?« Hör auf, du Trottel, solange du noch in Führung liegst. Er schaut dich schon an, als hättest du den Verstand verloren. »Na, jedenfalls ist das dein Bruder dort drüben.« Eds Miene verhärtete sich. »Ja, und?«
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Er denkt, daß ich seinem Bruder nachspioniere. Ich spioniere ihm ja auch nach, aber ich will nicht, daß er das von mir denkt. »Ein paar Schulkameraden dort bei ihm, hmmh?« »Dad, ich muß zurück. In fünf Minuten ist wieder Unterricht.« Er faßte nach dem Türgriff. »Nur eine Minute noch, bitte. Du tust ja, als hätte ich hier nichts verloren.« »Na ja, Dad, ich meine, das hast du ja auch nicht. In der Mittagspause kommen Eltern nicht her.« »Ich bin auf dem Weg zu Opa Stu. Da fahre ich an der Highschool vorbei. Ich habe Fred gesehen, und da wollte ich hallo sagen.« »Warum bist du dann nicht zu ihm hin und hast hallo gesagt? Warum sitzt du hier und beobachtest ihn?« Spionierst ihm nach, meinst du. »Er hat so beschäftigt ausgesehen.« »Er ist nicht beschäftigt, er ist nur mit ein paar Jungs zusammen.« »Mit was für Jungs? Sind das auch deine Freunde?« »Ein paar.« »Nette Burschen, oder? Der mit den Haaren dort, ist er auch nett?« »Sie haben alle Haare, Dad.« »Aber der eine — du weißt schon, wen ich meine.« Ed schwieg. »Na ja, ist ja egal. Sind bestimmt alles nette Burschen.« Nach einem kurzen Zögern fügte Henry dann so beiläufig wie möglich hinzu: »Wenn sie auch ziemlich beschäftigt aussehen.« »Wie du meinst. Ich muß jetzt gehen, Dad.« »Aber womit beschäftigt, frage ich mich?« Henry legte Ed sanft die Hand aufs Knie, um ihn zurückzuhalten. »Weiß nicht. Machen wahrscheinlich Geschäfte. In der
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Mittagspause wird immer ziemlich viel gedealt.« Etwas schnürte Henry die Luft ab, stieg aus seinem Brustkorb in seinen Kopf — und stellte ihm die Haare auf. Warum hatte Ed ihn nicht einfach angelogen? Das war die heutige Zeit! Wir bringen uns noch gegenseitig um mit dieser Offenheit. Fred dealt und wird auf dem Spielplatz angefixt. Oder Crack? Hasch? Speed? Da muß ich mir, angesichts dieser neuen Offenheit, nicht mehr lange das Gehirn zermartern — Ed kann's ja gar nicht erwarten, mir's zu erzählen. Aber ich will es nicht hören. Ich will, daß es wieder Morgen ist, Frühstückszeit, Daddy ist noch bei Sinnen, und ich weiß noch nicht, daß mein geliebter Sohn dealt, mit... »Baseballer-Karten.« »Wie bitte?« »Sie dealen mit Baseballer-Karten. Tauschen sie und so. Ich bin da nicht so dabei, aber Fred. Und Jackie Brickson erst, das ist der mit den Haaren. Du müßtest seine Sammlung sehen, total cool. Er hat sogar eine von Ted Williams, aber da läßt er keinen ran.« Danke, danke, mein Sohn, danke. Henry strahlte Ed an. Er hatte das dringende Bedürfnis, ihn an sich zu drücken, ihn dankbar in seine Arme zu schließen. Aber er wagte es nicht. Statt dessen tätschelte er Eds Knie und rückte dann schnell von ihm ab, die Faust geballt wie um diesen kurzen und kostbaren Moment der Berührung darin festzuhalten. »Baseballer-Karten«, sagte er. »Ja, so was habe ich mir schon gedacht. Als ich in seinem Alter war, habe ich auch den einen oder anderen guten Deal gemacht, die Karten müssen sogar noch irgendwo sein.« Deal, dealen, das Wort hüpfte ihm geradezu von der Zunge. »Und warum bist du auf dem Weg zu Opa Stu?« fragte Ed. »Fehlt ihm was?« Henry wollte in Hochstimmung bleiben — er wollte nicht an Opa Stu und die Katastrophe denken, die ihn in Fox
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Glen erwartete. Einfach hier sitzen bleiben und mit seinem Jungen reden. Himmel, vielleicht sollte er Ed an diesem Nachmittag Schule schwänzen lassen und einfach mit ihm ins Blaue fahren. »Dad?« »Ja, Ed.« »Wie kommt es, daß du immer wieder so wegdriftest?« »Wie bitte?« »Du bist immer ganz abwesend. Ist irgendwie komisch.« »Tatsächlich?« »Siehst du, du merkst es nicht einmal. Ich frage dich nach Opa Stu, und du schaust hinaus und bist irgendwie weg.« »Oh, nein, Ed, ich bin nicht weg. Ich muß nur... na ja, man wird älter und hat alles mögliche im Kopf — Sachen, die einen völlig in Anspruch nehmen. Ich meine, von Mann zu Mann gesprochen, mein Vormittag war die Hölle. Aber ich bin nicht weg. Dein Dad ist immer für dich da.« Während er sprach, rutschte er näher zu Ed, doch Ed wich aus. »Okay, Dad, kein Problem. Ich wollte es nur mal gesagt haben. Es ist nicht wichtig oder so.« Mit einem Ausdruck, der ungeteilte Aufmerksamkeit signalisieren sollte, betrachtete Henry den Jungen. Ich bin ganz Ohr, mein Sohn. Nicht weg. Ich taumle nicht haltlos am Rand des schwarzen Lochs. »Nun, um dir eine klare Antwort auf deine Frage zu geben, die eine gute und berechtigte Frage ist: Ich fahre zu deinem Großvater, weil er eine Art Zahnproblem hat und ich gebeten wurde zu helfen.« Na also. Glaubst du mir jetzt, daß ich ganz da bin? Falls Ed die Antwort seines Vaters in irgendeiner Weise beruhigte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er musterte Henry nur einen Augenblick und fragte dann: »Mache ich dich irgendwie nervös, Dad?« Verdammt, hat nicht geklappt. »Nein, natürlich nicht!« Ich hab den Bogen überspannt. Ich hab ja selbst gemerkt,
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daß ich übertreibe, aber ich konnte mich einfach nicht bremsen; dieses Kind macht mich so wahnsinnig nervös, daß ich nicht mehr weiß, was ich sage. Egal, was ich tue, er nagelt mich fest. Willst du nun ungeteilte Aufmerksamkeit oder daß ich wegdrifte? Entscheide dich, und ich halte mich ans Script. »Es liegt daran, daß wir Zwillinge sind, stimmt's?« meinte Ed. »Damit kommst du nicht klar.« »Ihr seid für mich keine Zwillinge, sondern eigenständige Individuen.« Ed starrte auf den Schulhof hinaus, der sich zu leeren begann. Auch Freds kleine Gruppe löste sich auf und strebte zum Schulgebäude zurück. »Okay, Dad.« Jetzt tätschelte er Henrys Knie, dann öffnete er die Tür und stieg aus. An Henrys offenem Fenster hielt er inne. »Noch etwas«, sagte er. »Ja?« meinte Henry und streichelte die Stelle am Knie. »In Wirklichkeit bin ich Fred.« Henry zuckte zusammen. »Ich mach nur Spaß.« Der Junge lächelte und ging in Richtung Schule. »He, Fred«, rief Henry. Als der Junge stehenblieb und sich umdrehte, zwinkerte Henry ihm zu. »Jetzt hab ich dich!« rief er fröhlich, dann trat er aufs Gas und raste davon, so schnell er konnte. Ach, er ist ein guter Junge, egal, welcher zum Teufel er nun ist, dachte Henry. Beide sind gute Jungs. Wahrscheinlich ist jeder Junge auf dieser Schule ein guter Junge! Während er dahinbrauste, genoß er dieses seltene, lebensbejahende Gefühl. Gute Jungs in einer guten Schule in einer guten kleinen Stadt. Gute Menschen in dieser Stadt, das auch. Er dachte kurz darüber nach. Bis auf Marty Marks. Der ist nicht gut. Der ist ein blödes Arschloch. Ein Schwanz, mit Zuckerguß überzogen. Wahrscheinlich fickt er die Löcher
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in seine Donuts. Na, na, Henry, das ist aber kein lebensbejahender Gedanke. Er fuhr weiter, doch wo er eigentlich hätte rechts abbiegen sollen, fuhr er links; er hielt, wenn die Ampel auf Gelb schaltete, obwohl er normalerweise durchgebraust wäre; er trödelte herum und zögerte seine Ankunft in Fox Glen hinaus. Noch etwas, was nicht gut ist — das, was mich dort erwartet. Denn das ging über ein Zahnproblem hinaus. Henry fühlte sich nicht gewappnet für Probleme, die mehr als das Gebiß betrafen. Warum konnte das Pflegeheim so etwas nicht ohne ihn in den Griff bekommen? Ihm fiel ein, wie sie dort, Mrs. Speers Worten nach, solchen Problemen zu Leibe rückten, mit Spritzen und Fesseln, und rasch bog er nach rechts ab, wo er nach rechts abbiegen mußte, und brauste noch bei Gelborange über die Kreuzungen, bis er Fox Glen erreichte. Keuchend, als sei er gerannt und nicht gefahren, fuhr er auf den Parkplatz. Himmel, was für ein verkommener Ort! In Wirklichkeit war Fox Glen ganz und gar nicht verkommen, sondern wirkte ausgesprochen tröstlich und dabei effizient, mit den in die natürliche Umgebung eingepaßten Außenanlagen, den frisch gestrichenen Gebäuden, der überall augenfälligen Sorgfalt. Okay, es sieht gut aus, aber es ist trotzdem verkommen. Henry verließ das schützende Gehäuse seines Ford Taurus und runzelte die Stirn angesichts dessen, was er um sich herum sah: Rollstuhlrampen; Geländer; drinnen waren alle Schilder, das wußte er von früheren Besuchen, mit sehr großen Buchstaben beschriftet. Der ganze Ort orientierte sich zu sehr am Körper, am Körper im Verfall. Das war auch sein Sinn und Zweck, aber trotzdem. Mit gespitzten Ohren versuchte er, Schreie oder das Krachen zersplitternden Mobiliars wahrzunehmen, Indizien, daß sein Vater sich immer noch gegen die beiden Pfleger zur Wehr setzte. Stille. Kein gutes Zeichen. Die Pfleger hat-
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ten wohl gesiegt. Vor seinem geistigen Auge sah er seinen Vater, wie eine Mumie in Fesseln gelegt und mit Spritzen gespickt, kaltgestellt und schnarchend, im offenen Mund die Prothese. Immer noch Stille. Da, von hinten ein Räuspern. »Ähem.« Henry machte einen Satz, wirbelte herum und sah zuerst gar nichts, bis er hinunterschaute und das ihm entgegengereckte Gesicht eines kleinen, weißhaarigen Lebewesens in einem Rollstuhl entdeckte. Ein alter Mann wahrscheinlich, dachte Henry, aber er hätte nicht darauf wetten mögen. Er sah noch einmal hin und entschied, daß es sich um eine alte Frau im Männerhemd und Hosen handelte. So alt, daß die Geschlechtsmerkmale verkümmert waren. Seine oder ihre. Warum durfte so etwas Ururaltes unbeaufsichtigt auf dem Parkplatz herumrollen und sich an Besucher heranmachen? »Ronnie«, krächzte das weißhaarige Geschöpf. »Nein, Sir«, sagte Henry. Und murmelte dann: »Nein, Ma'am.« Da streckte sich Henry eine Hand aus dem Rollstuhl entgegen. »Nein, Sir? Nein, Ma'am? Was soll das? Ich bin Ronnie. Ronald D. James. Na, geben Sie mir schon die Hand«, quäkte er. »So alt, wie ich bin, fällt sie mir vielleicht noch ab, wenn ich sie zu lange hebe.« Henry nahm Ronnies Hand, ließ sie aber gleich wieder los, für den Fall, daß sie wirklich kurz vor dem Abfallen war. »Dr. Henry Miles«, sagte er. »Zahnarzt.« Ronnies Haut fühlte sich kalt und glitschig an, als wäre sie mit Silikon überzogen. »Zahnarzt Henry, wie geht's?« »Gut, Ronnie, gut.« Wie bist du so winzig geworden, Ronnie? Warst du schon immer so klein, oder bist du im Lauf der Jahre geschrumpft wie deine Geschlechtsmerkmale? Wie klein und geschlechtslos werden wir alle enden, wenn uns die Wissenschaftler erst bis hundertfünfzig am
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Leben erhalten? Ronnies Füße reichten nicht einmal bis zur Fußstütze seines Rollstuhls. Und er sah beileibe nicht kräftig genug aus, diese riesigen Räder in Bewegung zu setzen. Allerdings hatte er eine kräftige Stimme. Vielleicht lenkte man, wenn man erst mal so alt war wie Ronnie, seine gesamte Energie in einen einzigen Körperteil. Und Ronnie hatte sich anscheinend die Stimmbänder ausgesucht. »Ziehen Sie gerade ein in das Hotel?« fragte Ronnie. Sehe ich aus, als ob ich hier einziehe? Die Frage ist doch eher, Ronnie, wann ziehst du hier aus? Auf der Suche nach einem Pfleger ließ Henry den Blick umherschweifen. Waren sie alle bei seinem Vater, damit beschäftigt, den alten Mann zusammenzuschlagen, so daß keiner Zeit hatte, Ronnie im Auge zu behalten? Wie viele Ausreißer gab es hier wohl am Tag? »Nun, Ronnie, eigentlich bin ich gekommen, um meinen Vater zu besuchen. Stuart Miles, Zimmer 414 D. Kennen Sie ihn?« »Ein älterer Bursche mit weißen Haaren?« fragte Ronnie mit seiner glockenhellen Koboldstimme. »Ja, genau, das ist er«, nickte Henry. Ronnie gluckste. »Das sind wir alle, mein Sohn. Ich hab Sie nur auf den Arm genommen.« Wieder nickte Henry und bemühte sich zu lächeln. Vom Runterschauen wurde ihm allmählich der Nacken steif. Was für ein seltsamer Kauz, dieser Ronnie. Wird dieses Schicksal dereinst auch Dentist Man ereilen? Nun, ich werde nicht ewig leben. Wie lange habe ich noch, bevor ich mich in einen Ronnie verwandle? Dreißig Jahre? Was ist denn nur los mit seinen Unterlidern, warum hängen sie runter wie bei einem Bluthund? Und warum sind seine Ohrläppchen so lang? Und dann noch diese grauen Knoten, die ihm da am Hals wachsen. Das Greisenalter kann mir gestohlen bleiben! Deshalb komme ich auch so ungern her, denn hier kriege ich es jedesmal mit der Angst zu tun — und dabei
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war ich noch nicht einmal drinnen bei Daddy. Henry seufzte laut auf. »Was ist los, Henry? Sie klingen irgendwie geschlaucht. Machen Sie deshalb einen Abstecher zu diesem Ruhesitz? Hihihi«, gluckste der Alte wieder. Der Bursche hat seit mindestens zehn Jahren nicht mehr in den Spiegel geschaut, sonst könnte er nicht mehr so lachen! Ach was, ich sollte dem Alten seinen Spaß gönnen. Und ihm geht's sicher ganz gut. Obwohl es mir lieber wäre, wenn er nicht so viele von diesen grauen Knoten am Hals hätte. »Um die Wahrheit zu sagen, Ronnie, ich bin ziemlich geschlaucht. Der Tag war die Hölle.« »Dann können Sie von Glück reden, Henry. Ich kann fast nichts mehr tun, mir ist der Luxus nicht mehr vergönnt, geschlaucht zu sein. Ob ich wach bin oder schlafe, es ist alles ein und dasselbe. Immer der gleiche Trott, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Sagen Sie mal, Ronnie«, Henry sah sich um und entdeckte immer noch niemanden, »die nehmen's hier wohl nicht so genau? Lassen einen so ziemlich machen, was man will?« »Was haben Sie vor?« fragte Ronnie im Verschwörerton und rollte näher heran. Er schien zu jeder Schandtat bereit. »Nein, nein. Ich meine nur, lassen sie Sie immer einfach allein durch die Gegend streifen wie jetzt?« Wieder gab Ronnie sein silberhelles Koboldglucksen von sich. Noch überraschend gute Zähne, fiel Henry auf. Wenngleich man an der Brücke ein wenig nacharbeiten müßte! »Ja, natürlich«, erwiderte Ronnie, »mich lassen sie immer allein herumfahren.« Dann zeigte er mit dem Daumen aufs Hauptgebäude. »Daß sie allerdings die dort allein herumspazieren lassen, möchte ich doch sehr bezweifeln.« Nicht mehr da. Klang zwar noch ganz bei Sinnen, aber wahrscheinlich zählt er zu den alten Burschen, die mal ganz
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da sind und dann wieder völlig weg. Hoffentlich schlägt mir das nicht zu sehr aufs Gemüt. Ich habe noch nie gewußt, wie man mit Altersschwachsinnigen umgeht. Henry sprach etwas lauter und in einer Art Babysprache wie zu einem kleinen Hund: »Ja, ja, Ronnie, du gehörst nicht dazu, du nicht, Kumpel, was?« »Um Himmels willen, nein!« Bei diesen Worten hüpfte der Alte aus dem Rollstuhl und gab Henry einen spielerischen Klaps auf den Arm. Dazu mußte er ziemlich weit nach oben langen, denn er war wirklich sehr klein. »Ich bin doch keiner von den Insassen hier, Henry«, lachte er. »Ich habe meine Mutter besucht.« Henry merkte, daß ihm der Mund offen stand. Er schloß ihn, dann öffnete er ihn wieder: »Ihre Mutter?« »Einhundertundzwei. Ich bin erst einundachtzig. Ich habe noch ein paar Jahre, bevor ich hier ende.« »Und was ist mit dem Rollstuhl?« »Geklaut, als ich rausgegangen bin. Hat riesigen Spaß gemacht, darin rumzukurven.« Er schob ihn Henry zu. »Da. Setzen Sie sich mal rein und probieren Sie's. Ein Heidenspaß!« Er zog Henry in den Stuhl. »Aber...« Ronnie wedelte mit einem Autoschlüssel vor Henrys Nase herum. »Also, Henry, war schön, Sie kennenzulernen, aber jetzt muß ich los.« Er warf kurz einen Blick über Henrys Kopf hinweg. »Wird wirklich Zeit.« Und schon hüpfte er über den Parkplatz zu einer blauen Buick-Limousine und ließ den Motor an. »He!« rief eine Stimme aus der Ferne. Noch immer im Rollstuhl drehte Henry sich samt seinem Gefährt um und sah, wie eine undeutliche weiße Woge, eine Gruppe von Schwestern und Pflegern, aus der Glastür des Hauptgebäudes stürzte. »He! He, Mr. James! Ronald, steigen Sie sofort aus!« schrien sie.
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Aber Ronnie, dessen kleiner weißer Kopf kaum über das Lenkrad reichte, hatte schon den Gang eingelegt. »Mister!« riefen sie jetzt Henry zu. »Er ist einer unserer Patienten. Halten Sie ihn auf, er will den Wagen stehlen!« Doch noch bevor Henry sich aus seinem rollenden Untersatz befreien konnte, war Ronnie aus der Parklücke ausgeschert und jagte die lange, baumbestandene Auffahrt entlang. Ronnie war draußen. Mehrere der Schwestern und Pfleger rannten zu Henry und blieben dort stehen. Ein paar stolperten noch weiter bis zu dem Platz, wo der Buick gestanden hatte, und sahen zu, wie Ronnie in dem gestohlenen Auto am Horizont verschwand. Als Henry aus dem Rollstuhl aufblickte, starrten ihn alle wütend an. Eine Schwester funkelte besonders aufgebracht, er las das Namensschildchen an ihrer Schwesterntracht: ›Mrs. B. Speers — Oberschwester.‹ Henry mußte schlucken. Und dieser Frau gegenüber hatte sein Vater sich geweigert, die Prothese einzusetzen? Wenn man bei jemandem keine Mätzchen machen konnte, dann bei Oberschwester B. Speers. Er lächelte matt zu ihr hoch. »Sie haben ihn fahren lassen«, knurrte sie. »Sie sind schuld.« »Bin ich nicht!« Henry bemühte sich vergeblich um einen selbstsicheren Tonfall. »Sie haben ihn in meinem Wagen wegfahren lassen.« Da spürte Henry, wie Hoffnung in ihm aufkeimte: Vor ihm stand jemand, dessen Tag keinen Deut besser verlief als seiner. Wenn Ronnie meinen Taurus gestohlen hätte, ich hätte mich ihm vor die Räder geworfen, um ihn aufzuhalten. Ein Leben ohne Airbag war nicht lebenswert. »Na ja«, meinte er. »Er schien doch ein ganz guter Autofahrer. Bestimmt wird alles bestens...« »Ronald James«, unterbrach sie ihn und beugte sich herunter, bis ihr rotes Gesicht nur wenige Zentimeter von sei-
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nem entfernt war, »ist dreiundneunzig Jahre alt, verkalkt und trägt ein Glasauge.« »Ach was«, meinte Henry. »Welches denn? Wer ihm das angepaßt hat, verstand was von seiner Arbeit.« Wenn doch nur meine Kronen so unauffällig wären, dachte er mit einem kurzen Anflug von Neid. Doch Mrs. Speers zischte nur etwas und wandte sich dann an ihre Mannschaft, wobei sie in die Hände klatschte. »Also gut, alle zurück an die Arbeit. Cindy«, sie nahm eine verängstigte junge Schwester ins Visier, die offenbar am liebsten im Boden versunken wäre, »Ronald war heute Ihnen zugeteilt, glaube ich?« »Ja, Mrs. Speers.« »Warten Sie in meinem Büro auf mich. Sobald ich die Polizei verständigt habe, befasse ich mich mit Ihnen. Denken Sie darüber nach, was das heißt, Cindy, und was für Auswirkungen es für Ihre berufliche Zukunft haben wird.« Hoppla. Wenn sie so mit mir umspringt, setze ich mich sofort wieder in den Taurus und haue ab. Henry beobachtete, wie die anderen Schwestern und Pfleger die beinahe leblose Cindy stützten und zurück ins Haus brachten. Langsam wandte Mrs. Speers sich nun zu ihm um. »Wer sind Sie bitte, und was machen Sie in diesem Rollstuhl?« Henry beschloß, in die Offensive zu gehen, da er kaum etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen wußte. »Ich bin Henry Miles und wurde soeben von einem Ihrer Patienten, einem unbeaufsichtigten Patienten, tätlich angegriffen, was in meinen Augen eine sehr interessante juristische Frage aufwirft, Mrs. Speers. Und von meinem potentiellen rechtliehen Standpunkt aus gesehen denke ich, daß Sie und die Gesellschaft, der Fox Glen gehört, sich glücklich schätzen können, wenn dieser verrückte Alte nur Ihren Buick in Mitleidenschaft zieht.« Mrs. Speers Unterlippe zitterte. »Mein Buick«, flüsterte
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sie und starrte in die Ferne. Henry erhob sich. Himmel, das war ein bißchen grob. Ihren Buick ins Spiel zu bringen war ein Schlag unter die Gürtellinie. »Hat er einen Airbag?« fragte er sanft. »Ja«, erwiderte sie. »Und ich hatte noch nie Gelegenheit, ihn zu nutzen.« »Oh, ich bin sicher, daß Sie noch Gelegenheit bekommen«, beschwichtigte er sie. »Bestimmt bringt die Polizei Ihren Buick und Ronnie unversehrt zurück.« Sie nickte stumm, dann standen sie beide nebeneinander und blickten in die Ferne, als ob es dort etwas zu sehen gäbe. »Ja«, meinte Mrs. Speers schließlich, »die Polizei. Ich sollte wohl besser anrufen.« Nun schien ihr etwas zu dämmern, und sie musterte Henry mit scharfem Blick. »Henry Miles, haben Sie gesagt. Der Sohn von Stuart Miles?« Mit letzter Kraft brachte Henry ein Nicken zustande.
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Kapitel 4 Es war gar nicht Junes Absicht gewesen, zu Henrys Praxis zu fahren und ihn zur Rede zu stellen. Nachdem sie das Gespräch mit Margo so jäh beendet hatte, war ihr erster Gedanke, schnurstracks zu Jeffrey Lyons hinauszugehen, ihn am T-Shirt zu packen und ins Haus zu zerren, wo sie dann lang und ausgiebig auf dem Wohnzimmerteppich mit ihm vögeln wollte. Sie war sogar schon bis zum Ende ihres Hofs gelangt und sah, wie Jeffrey gerade in seiner Einfahrt an seinem Motorrad bastelte. Schau ihn dir an, die reinste Unschuld im weißen T-Shirt! Dann sah sie ihn mit Henrys Augen, ein Bild, das sich ihr durch das jahrelange Zusammenleben mit einem Zahnarzt aufdrängte. Der junge Jeffrey in Weiß wirkte so sauber und gesund wie ein Milchzahn. Hier und da wölbten sich Muskeln wie die Höcker und Furchen eines Backenzahns. Und sie selbst, die sie in ihrem Hof auf der Lauer lag, kam sich wie eine angriffslustige Mundbakterienkultur vor. Da wandte sie sich ab. Ich will nicht an der Zerstörung dieses Jungen schuld sein. Mit so etwas kann ich Henry, meinem faulen Zahn von Ehemann, nicht beikommen. Aber was macht man mit einem hoffnungslos verfaulten Zahn? Man zieht ihn. Und genau das werde ich tun, dachte sie, als sie ins Haus eilte, um ihre Autoschlüssel zu holen. Ich werde Henry aus seiner netten, gemütlichen Praxis zerren und ihm die Hölle heiß machen. June ließ ihren Nissan an, und das Motorengeräusch veranlaßte Jeffrey in der Nebeneinfahrt, den Kopf zu heben und ihr fröhlich zuzuwinken. Wenn du wüßtest, wie knapp du davongekommen bist, dachte June. Zu schade. Es hätte so schön sein können. Jedenfalls schöner als der Liebesdienst, den Lotty Daniels Henry auf dem Vordersitz des Ford er-
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wiesen hat. Es ist einfach ungerecht. Henry ist ihr verfallen, und ich bin gerade gut genug, ihn mit der Zahnseide zu verwöhnen! Jeffrey rief ihr etwas zu, während er winkte. Sie kurbelte das Fenster herunter. Ich gebe mir die größte Mühe, keinen Fehler zu machen, Junge, also führe mich nicht in Versuchung. Wenn du mir auch nur die geringsten Avancen machst, springe ich aus dem Wagen und zerre dich hinein auf meinen Teppich. Ich bin eine gefährliche Frau in einem inneren Konflikt. »Entschuldige, Jeffrey, was hast du gesagt?« Als ihr bewußt wurde, daß sie sich die Lippen leckte, hörte sie sofort damit auf. Jeffrey kam ein paar Schritte näher. »Ich sagte, schön, daß Sie wieder so gut aussehen.« Wieder fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Ungläubig lächelte sie ihn an. Na gut, dann treibe ich's eben mit Jeffrey Lyons auf dem Teppich. Das ist moralisch unbedenklich, oder? Der Junge will es, und ich will es. Ich brauche es. Es ist ein rein zufälliger Seitensprung, der mit dem schäbigen Verhalten meines Mannes und Lotty Daniels nicht das Geringste zu tun hat. Unsere Begierde ist etwas Reines, Intimes, nichts Groteskes, in aller Öffentlichkeit Ausgelebtes. Und Jeffrey will mich verführen. Er weiß, was ich brauche und nicht bekommen habe. Ich bin ja nicht Henry, der es sich von seinen Schlampen im Auto besorgen läßt. Zugegeben, ich sitze zwar auch gerade im Auto, aber das ist auch schon alles, die einzige Gemeinsamkeit zwischen Henry und mir. Als sie sich diesmal die Lippen leckte, geschah es aus Nervosität. »Ich sehe gut aus? Wie meinst du das, Jeffrey?« Wie meinst'n das? Ihre Stimme hatte einen leichten Südstaatenakzent, Vivian Leigh beim Flirten mit Marion Brando. Der sah in T-Shirts auch klasse aus. Hmmm. Vivian war in dem Film allerdings nicht so gut weggekommen. Hatte man sie
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nicht sogar weggebracht und eingesperrt? Junes Fuß tastete nach dem Gaspedal. »Besser, meine ich.« Mit einem großen Schraubenschlüssel in der Hand stand Jeffrey am Ende der Einfahrt. Hinter ihm sein Motorrad. Ein Poster, mit dem zwölfjährige Mädchen ihre Zimmerwände tapezieren. Oder die Phantasie einer in Bälde geschiedenen Frau von Ende Dreißig. Aber Moment mal — »besser« hatte er gesagt. Nicht »gut«, sondern »besser«. Das war auf dem Thermometer der Leidenschaft schon ein oder zwei Grad kühler, oder? »Entschuldige, Jeffrey, ich kann dir nicht ganz folgen«, rief sie ihm zu. »Als heute morgen.« Er tippte sich an den Kopf. »Ihre Migräne.« Ein plötzlicher Temperatursturz bis zum Gefrierpunkt. Leidenschaft gleich null. Als sie sich diesmal die Lippen benetzen wollte, blieb ihre trockene Zunge an den Lippen kleben, die nun gar nichts mehr von einem Schmollmund hatten. Ach, ja. Die Migräne: mein erstes erfolgloses Rendezvous mit Jeffrey. Und jetzt schon der zweite Korb. »Ist beinahe weg, danke«, erwiderte sie schwach. »Wollte gerade zur Apotheke fahren, um mir noch ein paar Excedrin zu besorgen, falls der Schmerz wieder losgeht, man weiß ja nie.« Ihre Schläfen pochten heftig. Zwei gescheiterte Versuche des Ehebruchs; Henry läßt sich Ecke Cedar und Park einen blasen, wodurch er mich zwingt, ihn umzubringen; keine Ahnung, was ich den Zwillingen zum Abendessen vorsetzen soll, aber sie werden sich garantiert nicht zum dritten Mal hintereinander mit Fleischklößchen abspeisen lassen. Tja, schätze, die Migräne ist schon wieder im Anmarsch. »Vielleicht sollten Sie sich lieber ein paar extrastarke Mittel besorgen, Mrs. Miles, denn vorhin im Haus haben
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Sie wirklich nicht gerade toll ausgesehen.« Schon gut, Jeffrey. Streu nur Salz in meine Wunden. »Danke für dein Mitgefühl Jeffrey. Tschüs.« Sie kurbelte das Fenster hoch und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Ich bin eine achtunddreißigjährige betrogene Ehefrau und Mutter von zwei Kindern und sehe nicht gerade toll aus. Sie schaute in den Rückspiegel. Hat Henry es deshalb getan? Bin ich ihm nicht toll genug? Bring ich ihn nicht auf Touren? Aber Lotty mit ihrem abartigen Riesenschlund, die schafft's, wie? Die stillt seinen Appetit. Und ihren. Muß ziemlich ausgehungert sein, wenn sie am hellichten Tag in einem Ford über ihn herfällt. An der Ecke Cedar und Park. Genau dort, wo June sich unversehens befand. Am Schauplatz des Verbrechens. Sie fuhr an den Straßenrand, hielt an und stieg zitternd aus. Was hoffte sie hier zu finden? Einen Beweis, der Margos telefonische Zeugenaussage erhärtete. Margos Worte allein genügten jedenfalls nicht, um Henry schuldig zu sprechen. Margo, die Klatschkoryphäe, Weltmeisterin im Hörensagen und in übler Nachrede. Was für Beweise konnte es geben? Sicher keine Höschen, die in der Hitze des Augenblicks aus dem Auto geworfen worden waren, denn Höschenwerfen paßte nicht zu dem von Margo beschriebenen Vorgang. June sah sich um, die Arme verschränkt: eine gewöhnliche Straße, ein Stoppschild, ein Briefkasten, eine Straßenlaterne. Und sonst? Sie stand neben ihrem Wagen und begutachtete den Asphalt. Vielleicht verräterische Reifenspuren von dem Taurus — sagte Margo nicht, daß das Auto gewackelt hatte? Und mit Lottys zusätzlichem Gewicht... keine Spuren. Natürlich nicht. June stieg wieder ins Auto und umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. Was hatte sie eigentlich vor, wenn sie in seiner Praxis angekommen war? Sie ließ den Motor an und fuhr Schrittempo, während sie überlegte. Will ich ihm eine Szene ma-
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chen? Henry kann Szenen nicht ausstehen. Also soll er sie haben, vor all seinen Patienten, vor Rita und Jennifer. Jennifer. June trat etwas fester aufs Gas. Wenn, dann hätte Henry es doch mit Jennifer treiben müssen, oder? Ich meine, wenn Zahnärzte fremdgehen, dann doch für gewöhnlich mit ihren süßen Zahnarzthelferinnen! Das hätte June sich ja noch eingehen lassen — aber nicht diese Geschichte mit Lotty auf dem Vordersitz eines Wagens. Jennifer hätte ich zumindest den Kampf ansagen können, sie wäre eine Bedrohung, mit der ich umgehen könnte. Aber Lotty? Einfach verrückt. Und mit Verrückten kann man nicht kämpfen. Sie bog in die Yale Avenue, dann in die Morton. Während sie erst schnell, dann langsam, dann wieder schnell fuhr, dachte sie nach. Einem Typen in einem BMW gelang es endlich, sie zu überholen; er zeigte ihr den Stinkefinger. Sie lächelte. Nicht wegen des BMW-Fahrers, den sie nur am Rande wahrnahm, sondern weil sie plötzlich ein hoffnungsvoller Gedanke durchzuckte. Konnte es nicht sein, daß diese Geschichte mit Lotty im Grunde keine sexuelle Handlung, sondern ein Hilfeschrei war? Warum hätte er sich sonst eine so plumpe und auffällige Frau wie Lotty ausgesucht? Er wollte gesehen werden. Er wollte erwischt werden. Henry hat Probleme. Das muß es sein. Mit quietschenden Reifen bog June in den MacDade Boulevard ein. Ich komme, Henry, mein Liebster. Juni-June wird dich retten. Sie schoß an einer roten Ampel vorbei. Es ging ihm heute morgen nicht gut, warum habe ich das nicht bemerkt? Als er aufwachte, war er in diesem gespenstischen Trancezustand, in den er manchmal verfällt... Was hat er gesagt? »Hast du nie entsetzliche Angst June?« Waren das nicht seine Worte gewesen? Angst. Armer Henry, ich eile zu dir! Wovor fürchtest du dich? Die nächste rote Ampel übersah sie nicht. In der Ferne
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konnte sie bereits Henrys Praxis mit seinem Schild darüber sehen, das sogar tagsüber erleuchtet war. Es leuchtet für mich, ein Leuchtturm, der mir den Weg zu dir weist, Henry. Eine blaue Buick-Limousine kam auf der Spur links vor ihr abrupt zum Stehen. June warf einen flüchtigen Blick hinüber, dann schaute sie noch einmal hin. Es war kein Fahrer in dem Wagen. Doch, Moment, da bewegte sich etwas, aber weil das Glas so spiegelte, war es schwer auszumachen. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte sie schließlich einen sehr kleinen Menschen. Einen winzig kleinen, uralten Mann. Ruckartig wie ein Spatz drehte er den Kopf und erwiderte ihren Blick. Dann sprang er erstaunlich behende vom Fahrer- auf den Beifahrersitz, preßte seine kleine Nase an die Scheibe und grinste June an, während er anzüglich die weißen Augenbrauen hob. Und keine Sekunde später saß er schon wieder am Lenkrad, gerade als die Ampel auf Grün schaltete. Er ließ den Motor aufheulen wie ein Teenager bei einem Autorennen, winkte ihr kurz zu und raste davon. Habe ich das eben geträumt? fragte sich June. Hinter ihr hupte ein rotes Auto. Der Buick war schon weit weg. Sie sah ihm nach, bis er hinter Henrys Praxisgebäude verschwunden war, dann blieb ihr starrer Blick an dem Haus haften. Ihr Hintermann hupte erneut, und sie fuhr weiter. Ich muß mich auf Henry konzentrieren, er braucht mich, er kann mir die Sache mit Lotty bestimmt erklären. Und dann kann ich in den Schutz meines Heims zurückkehren, wo mir keine kleinen Männer in blauen Autos lüsterne Blicke zuwerfen. June fuhr auf den asphaltierten Parkplatz, den sich Henry und Dreami Donuts teilten. Auf der Dreami-Seite herrschte Hochbetrieb, doch vor der Praxis stand nur ein einziges Auto, und es war nicht Henrys. Seltsam. Es ist noch nicht Mittagszeit, und Henry geht sonst nie so früh zum Essen. Nie.
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Ist das nicht Jennifers kleiner Mazda? Warum geht sie schon vor Mittag? Und wo ist Ritas alter Chevy Nova? Jennifer ließ ihren Mazda an, manövrierte ihn aus der Parklükke und hielt plötzlich an. Lachend gab sie dem Mann, der neben ihr saß, einen Klaps auf den Arm, dann lachte sie abermals. June konnte es nicht fassen. Sie steuerte ihren Wagen auf den vordersten Parkplatz, Jennifer setzte wieder zurück. Gerade als June die Wagentür öffnete, fuhr Jennifer vorbei und winkte ihr fröhlich zu, ohne anzuhalten. Hat sie mich überhaupt erkannt? Nein, sie war viel zu sehr mit Lachen und Schäkern beschäftigt. Jennifer und Flirten? Sie hatte in ihrem Auto etwas Unanständiges vor, da war June ganz sicher. Als sie zu der offensichtlich menschenleeren Praxis ging, fragte sie sich, warum sich heute alles um Autos und Sex drehte. Sie rüttelte an der verschlossenen Glastür. Jennifer in ihrem Mazda beim Vorspiel und Henry — ohne Vorspiel. Sie trat gegen den eisernen Türrahmen. Nein. Nein, Henry hat sich ohne Vorspiel gleich einen blasen lassen. Wieder trat sie zu, denn nun wußte sie, daß Margo die Wahrheit gesagt hatte. Überall um sie herum trieben es die Leute in ihren Autos! Sie drehte sich um und starrte auf die Autos, die eins neben dem anderen vor dem Dreami Donuts parkten. Sie kamen ihr vor wie eine Bettenreihe, die nackte Leiber zur Unzucht einlud. An Henrys Praxistür klebte ein handgeschriebener Zettel: »Heute geschlossen«. Ein letztes Mal trat June dagegen, und das Glas zerbrach. Zwischen den aufgemalten Worten »Miles« und »Dr. med. dent.« klaffte ein dünner, gezackter Sprung. »Heute geschlossen, was, Henry?« zischte June. Damit du den ganzen Nachmittag herumkurven und Frauen an den Straßenecken auflesen kannst, was? Damit du ihre Zungenfertigkeit prüfen kannst, ja? Und nach einem solchen Tag meinst du, Henry, du könntest einfach so zu mir nach Hause kommen? June lehnte sich mit verschränkten Armen an
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die zerbrochene Tür und starrte mit leerem Blick zu Dreami Donuts hinüber. Unser Zusammenleben war doch immer so problemlos, warum tust du mir das an? Nicht um des Sex willen, nein, du doch nicht, Henry. Und auch noch mit Fremden? Nein, dazu bist du viel zu gehemmt. Sex mit Fremden ist schmutzig, aufregend und gefährlich. Dazu gehört Leidenschaft, und dabei könnten deine Kleider verknittern, und womöglich würdest du überall nach Moschusparfüm riechen. Lassen sie dich nach dem Sex auch gleich unter die Dusche rennen, Henry? Das hast du bei mir immer gemacht. Und wenn du danach mit rosiger Haut und zufriedenem Lächeln aus der Dusche kommst, erweisen sie dir dann auch diesen letzten Dienst — was ich immer für dich tue, was du mir beigebracht hast? Ach, Henry, machen sie sich dann mit der Zahnseide über dich her? June preßte eine geballte Faust an ihre Lippen und unterdrückte ein Schluchzen. Blieb nur noch eine letzte quälende Frage: Nahmen sie die gewachste Zahnseide mit Pfefferminzgeschmack? Während June noch die Hand vor den Mund hielt, bemerkte sie im Schatten neben dem Dreami Donuts eine Bewegung. In der Nähe der Mülltonnen. Dort war etwas, ein Mann. Ihr wurde bewußt, daß er schon die ganze Zeit dort gestanden und sie beobachtet haben mußte. Irgendein Penner, der in den Mülltonnen herumwühlt? Haben wir denn Penner in unserer Stadt? Obdachlose, meine ich. Jeder, den sie kannte, hatte ein Zuhause, sogar zwei, wenn man die Ferienwohnungen mitzählte. Die Sonne blendete sie. Der Mann trug eine Art Hut, wie es schien. Aber heutzutage tragen Männer doch keine Hüte. Jedenfalls keine normalen Männer. Was macht er da? Er kommt auf mich zu und winkt. Und kommt noch näher. Gerade war sie im Begriff, sich zu ihrem Nissan Sentra zu flüchten, als der Mann sie rief.
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»Mrs. Miles!« June blieb wie erstarrt stehen. Als er aus dem Schatten heraustrat, erkannte sie ihn. Marty Marks. Der Zuckerpapst. So nannte Henry ihn immer. Aber zu mir war er immer recht nett, wenn wir uns mal unterhalten haben. Hat er mir nicht sogar vor ein oder zwei Jahren Donuts geschenkt? Ja, als ich Henry einmal zum Mittagessen abgeholt habe. Er hat sie mir als Werbegeschenk überreicht und ist deswegen eigens von seinem Geschäft zu Henrys Parkplatz herübergegangen, obwohl er gewußt hat, wer ich bin und mit wem ich verheiratet bin — aber nicht mehr lange, denn mein Ehestand hängt momentan wohl an einem seidenen Faden. Sie winkte und lächelte Marty zu. »Hallo, Marty«, rief sie. »Sie haben mich ein bißchen erschreckt, wie sie da drüben im Schatten standen.« Wie er aussieht mit seinem Dreami-Donuts-Käppi! Ein albernes Ding. Erfordert bestimmt einigen Mut, so etwas aufzusetzen. Marty stand vor Henrys halbmeterhoher Eibenhecke. »Ich wollte Ihnen keinen Schreck einjagen, Mrs. Miles, entschuldigen Sie.« Er trat ein, zwei Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang über die Hecke. Dabei rutschte ihm sein Papierkäppi über die Augen, er rückte es rasch wieder zurecht. An wen erinnert er mich, überlegte June. Ah, jetzt weiß ich's — Dabney Coleman. Eine Mischung aus Dabney Coleman und G. Gordon Liddy. Aber ein sympathischer G. Gordon Liddy. Kräftiger, dichter Schnurrbart. Henry wollte sich im Urlaub auch mal einen wachsen lassen, aber er stand ihm nicht, ließ ihn so pedantisch wirken, den kleinen Tugendbold. Marty stand nun vor ihr und meinte: »Habe Sie von drüben gesehen.« Sein Lächeln verzog sich plötzlich zu einer Grimasse, und er faßte sich an die Backe. »Zahnschmerzen.
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Eine wacklige Krone. Genau genommen mehr als wacklig, sie ist gar nicht mehr vorhanden. Der Spalt ist so groß, daß die ganze Zunge dazwischenpaßt, Sie verstehen?« »Ein ziemlich großer Spalt.« »Ja, genau. Tut verdammt weh.« »Hm, kann ich mir denken«, erwiderte June. Aus der Nähe betrachtet sah Marty zerzaust und ein wenig verschwitzt aus. Hatte er zu viele altbackene Donuts in den Müll werfen müssen? »Ihr Mann hat mich eben sitzenlassen«, sagte er plötzlich mit finsterer Miene. June starrte ihn an. Zerzaust und verschwitzt. Hatte Henry in seiner sexuellen Raserei auch ein schnelles Abenteuer mit Marty gesucht? Wie viele seiner Opfer würden ihr heute noch begegnen? War Henry bisexuell? So potent war er doch nicht, daß er gleich zwei Geschlechter beglücken konnte! Oder doch? Wer war dieser Mann, mit dem sie sechzehn Jahre lang Tisch und Bett geteilt hatte? Tagsüber ein langweiliger Zahnarzt, nachts... nein, es war gerade andersrum. Tagsüber eine hinterhältige Sexmaschine und nachts, bei ihr, ein langweiliger Zahnarzt! Marty brannte anscheinend darauf, sich über die schmutzigen Details auszulassen. Na, erzähl sie doch meiner Freundin Margo, die hat immer ein offenes Ohr für Klatsch. »Tja, Marty«, meinte sie und wandte sich ihrem Wagen zu, »mein Mann macht sich heute offenbar ein Vergnügen daraus, Leute sitzenzulassen. Vielleicht sollten wir einen Club gründen.« Verdutzt sah Marty sie an. »Einen Club?« »Einen Club. Nun, ich bin seine Frau, mich hat er als erste sitzenlassen, also werde ich wohl Vorsitzende. Was wollen Sie werden? Zweiter Vorsitzender? Kassierer? Ich bin gespannt auf die anderen Mitglieder, Sie nicht auch?« Mittlerweile stand June neben der Wagentür. Marty bemüh-
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te sich, ihren Worten zu folgen. »Ich verstehe nicht ganz, was Sie mit diesem Club meinen, Mrs. Miles«, meinte er dann. »Ich rede von meinen Zahnbeschwerden, von meiner Krone. Dr. Miles hat es abgelehnt, mich zu behandeln. Ist einfach in seinen Wagen gestiegen, vor nicht mal einer halben Stunde, und davongerast. Ich bin ihm nachgerannt, aber er hat mich einfach stehenlassen. Schauen Sie mich an. Ich bin am Ende.« »Davongerast?« Marty war also nicht von seinem Liebhaber, sondern von seinem Zahnarzt sitzengelassen worden. »Genau. Und jetzt stehe ich da.« »Hat er gesagt, warum er Sie nicht behandeln wollte?« Ich meine abgesehen davon, daß er dich abgrundtief haßt, weil du ein Zucker-Dealer bist. »Wegen einem Notfall, hat er behauptet.« Wegen einem Notfall. Notfälle kamen zu Henry, nicht umgekehrt. »Äh, hat er gesagt, um was für einen Notfall es sich handelt?« Sicher um einen Notfall im Unterleib. »Offen gestanden, ich habe ihm nicht geglaubt. Und das habe ich ihm auch gesagt.« Hast ihm Bescheid gestoßen. Bravo, Marty! Bist ein ganzer Kerl. Ganze Kerle findet man selten. June spürte, wie eine eigenartige Empfindung durch ihren Körper lief. »Ich habe Sie vorhin beobachtet«, fuhr Marty fort, »wie Sie gegen die Tür Ihres Mannes getreten haben. Sie haben sie zerbrochen. Das wird ihn eine ganze Menge kosten.« Worauf du dich verlassen kannst, dachte June. »Macht es Ihnen Spaß, heimlich Frauen zu beobachten, Marty?« Ihre Stimme klang ein wenig rauh. »Oh, nein, keineswegs. Ich meine, nicht was Sie jetzt denken. Ich war nur gerade hinten, wissen Sie«, er deutete auf seinen Dreami-Donuts-Laden, »und wollte ein bißchen verschnaufen, nachdem ich Dr. Miles hinterhergerannt war.«
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June tippte gegen seinen Arm, dann zog sie ihren Finger langsam zurück. »Es ist anstrengend, Dr. Miles hinterherzurennen, nicht wahr?« Die Worte sprudelten förmlich aus Marty hervor: »Mrs. Miles, entschuldigen Sie, ich versuche nur, zwei und zwei zusammenzuzählen. Vielleicht sehe ich das Ganze ja falsch, aber schauen Sie, erst braust Ihr Mann auf und davon und läßt mich auf der Straße stehen, dann sehe ich, wie Sie herfahren, aussteigen und die Tür seiner Praxis eintreten. Und dann sagen Sie, Ihr Mann macht sich heute ein Vergnügen daraus, Leute sitzenzulassen.« Er hielt inne. »Ich meine: Liege ich richtig mit dem, was ich jetzt denke?« Du hast es erfaßt. June Miles ist derzeit willens, sich mit dem erstbesten Mann einzulassen, der ihr über den Weg läuft, und das bist du, Marty. Nein, eigentlich war Jeffrey der erste Mann. Vielmehr der erste Junge. Aber da June es nicht mit Jungs treiben darf, werde ich wohl mit dir vorliebnehmen. Hast du schon dein Tageshoroskop gelesen, Marty? Lautete es: »Heute ist die Gelegenheit, wenn Sie der Frau Ihres Zahnarztes etwas Süßes anbieten wollen«? Sie lächelte. Ja, natürlich. Er war goldrichtig. Er war die Inkarnation des Zuckers. »Marty, ich versichere Ihnen, daß es sich genau so verhält.« Martys Juchzer klang wie das Jaulen eines Welpen. »Er gibt also wirklich seine Praxis auf! Entschuldigen Sie, Mrs. Miles, für Sie muß das sehr hart sein, aber für mich geht mein Dreami-Donuts-Traum in Erfüllung! Jetzt kann ich endlich mein Geschäft vergrößern: Wenn ich Dr. Miles' Praxis kaufe, habe ich ein zusätzliches Gebäude und noch mehr Parkplätze. Mein Unternehmen wird das größte im Viertel sein! Am Ende bringt's doch auch der kleine Mann zu was.« Marty war außer sich vor Freude. »Oh, Mrs. Miles, darf ich Ihnen zur Feier des Tages einen kostenlosen Sechserpack anbieten? Welche mit Gelee? Oder Zimtzau-
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ber? Oder Schlecker-Schoko?« June schüttelte den Kopf. »Nein, Marty.« »Nein? Wer kann denn nein zu Donuts sagen? Außer Ihrem Mann natürlich. Aber jetzt, da er seine Zahnarztpraxis nicht mehr hat, will er vielleicht auch...« »Nein, nein«, wiederholte June. Offenbar hatte Marty heute morgen, als er die Löcher in seine Donuts bohrte, versehentlich auch seinen Kopf erwischt. Henry und die Praxis aufgeben! Sie lachte laut auf. Marty lächelte unsicher. Ihr Mann schmeißt von einem Tag auf den anderen seine Arbeit hin — sie wird hysterisch. Am besten gibt man ihr schnell eine ordentliche Dosis Donuts. »Mrs. Miles, wie wär's...« »Nein, nein, nein«, fiel ihm June ins Wort. »Henry würde seine Praxis niemals aufgeben.« Martys Stimme überschlug sich und blieb in der oberen Tonlage hängen. »Aber Sie haben doch gesagt... daß er aufhört! Sie haben es gesagt!« »Das haben Sie mißverstanden.« Meine Güte, was für ein Gesicht er machte! »Aber er ist doch abgehauen, in seinem Wagen«, stammelte Marty. »Und Sie haben seine Tür eingetreten...« »Marty, Sie werden doch nicht weinen?« Sie machte ein, zwei Schritte auf ihn zu. Marty konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Ich fürchte«, erwiderte er. »Entschuldigen Sie.« Schniefend fuhr er sich mit der Hand über die Augen. »Es ist nur wegen dem Zahn. Und daß Ihr Mann einfach wegfährt und mich im Stich läßt. Und daß mein Traum von der Geschäftsvergrößerung beinahe wahr geworden wäre. Mein Dreami-Traum«, flüsterte er. June legte ihm die Hand auf den Arm. »Es tut mir leid«, sagte sie, »für Ihren Zahn und Ihren Traum und überhaupt
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für alles.« »Sie können ja nichts dafür«, antwortete er leise und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Einen Augenblick lang sahen sie einander an, und plötzlich wußten sie Bescheid. Bedächtig legte Marty seine Hand auf Junes Hand. June hörte ein leises metallisches Klicken, als Martys Ehering ihren Diamantring berührte. Wir können nichts dafür. Es ist seine Schuld. Henry hat uns beide sitzenlassen. Marty zitterte. »Das hätte er nicht tun sollen«, sagte er. »Nein, das hätte er nicht tun sollen«, wiederholte June. »Ich hätte größte Lust, mich an ihm zu rächen«, flüsterte Marty, nur eine Handbreit von ihrem Ohr entfernt. »Ich bin bereit«, erwiderte June, öffnete die Wagentür und zog ihn hinein.
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Kapitel 5 Es schien Henry, als wären Jahre vergangen, seit er mit Mrs. Speers zum ersten Mal telefoniert hatte. Und er wünschte, es lägen tatsächlich Jahre dazwischen. Doch jetzt stand die Auseinandersetzung mit seinem Vater unmittelbar bevor, mit Stuart Miles, mit Daddy. Im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte hätte Daddy sich niemals ohne sein künstliches Gebiß erwischen lassen, ohne diese strahlend weiße, minzfrische und gut sitzende Prothese. Er pflegte sie wie andere Leute ihren Oldtimer. Er weichte sie ein, untersuchte, putzte, weißte, rubbelte und polierte sie. Niemals war es dem Alten peinlich gewesen, daß er eine Prothese trug. Im Gegenteil, er war begeistert davon. Mit einem doppelt so breiten Lächeln wie früher stellte er stolz seine »Dritten« zur Schau, seine Lippen teilten sich wie ein fleischiger rosafarbener Vorhang, um der Welt seine kostbaren Beißerchen zu enthüllen. Und jetzt versuchte man mit gutem Zureden, Drohungen und sogar Medikamenten, eben diesen Mann dazu zu bewegen, sie einzusetzen? Zugegeben, mit Daddy ging es bergab, und Henry wollte es nicht mit ansehen. Ein schlecht verheilter Hüftbruch hatte seinen Umzug nach Fox Glen erforderlich gemacht. Aber sein Hüftleiden hatte ihn nicht von Grund auf verändert, ebensowenig wie der Tod von Lucy Miles, seiner Frau, vor zwei Jahren. Nein, steil bergab ging es mit Daddy erst seit diesem Morgen, als er seine Prothese nicht einsetzen wollte, die in einem mit zwei Polident-Tabletten in frisches Blau gefärbten Glas Wasser neben seinem Bett lagen. An diesem Morgen gefiel es Daddy, nicht frisch und munter zu sein. »Ja«, antwortete Henry leise auf Mrs. Speers' Frage, und
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seine Schultern sackten herunter. »Ich bin der Sohn von Stuart Miles.« Doch dann hellte sich seine Miene auf. Was, wenn er seine Zahnprothese einfach nur unbequem fand, wenn sie ihm plötzlich nicht mehr paßte? Darüber beklagten sich ja viele Prothesenträger häufig. Natürlich! Wahrscheinlich hatte er das aus unbekannten Gründen den Pflegern nicht mitteilen können, und da waren sie über den armen alten Mann hergefallen. Ja, ja! Womöglich gibt es für all das eine einfache Erklärung. Einen Ausweg! Daddy bleibt Daddy, obenauf wie eh und je, nichts da mit bergab! Okay. Bringen wir die Sache in Ordnung, und Friede, Freude, Eierkuchen. Mensch, vielleicht habe ich danach sogar noch Zeit für eine Portion Pommes in Morton! »Wie bitte?« Mrs. Speers sah ihn verwundert an. »Pommes?« »Was?« »Ich dachte, Sie hätten eben etwas von Pommes gemurmelt.« Henrys hungriger Magen grummelte ein Schuldgeständnis. »Nein«, erwiderte er, »das kann nicht sein. Ich esse nie Pommes frites. Wegen des Cholesterins, wissen Sie.« Mit mehrmaligem lauten Räuspern versuchte er, ein erneutes Magenknurren zu übertönen. »Ja, ich war immer schon der Meinung, daß sie das reinste Gift sind. Am liebsten würde ich jeden McDonald's und jeden Burger King in diesem unserem fettgesättigten Lande in Schutt und Asche legen!« Jawohl. Und ich fackle alle Dreami Donuts ab. Sie und ich, Mrs. Speers, säubern die Zähne und Blutgefäße Amerikas. Macht kaputt, was euch kaputtmacht! Ein Kreuzzug für die Gesundheit und gegen falsche Ernährung. Machen wir da weiter, wo Jane Fonda aufgehört hat. Springen wir doch gleich in meinen Wagen und fangen an, was halten Sie da-
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von, Mrs. Speers? Daddy kann warten. »Aber was Ihren Vater betrifft«, meinte Mrs. Speers abrupt, »so hatte ich gehofft, wir könnten die Sache im Keim ersticken. Deshalb habe ich Sie vor über einer Stunde angerufen.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich wurde aufgehalten«, verteidigte sich Henry. »Eine Stunde«, wiederholte Mrs. Speers. »Eine Stunde, in der ich meine ganze Energie auf Ihren Vater verwenden mußte und mich kaum um andere Patienten kümmern konnte.« Patienten. Wie das schon klang. »Etwa um Ronald James«, fügte sie als Wink mit dem Zaunpfahl hinzu. Ist es etwa meine Schuld, daß dieser greise Sträfling aus Ihrem jämmerlichen Knast ausgebrochen ist, Wärterin Speers? »Wenn Sie in fünfzehn Minuten dagewesen wären, wie Sie es versprochen hatten, wäre mir nicht der ganze Vormittag verdorben worden«, fuhr sie fort. »Jetzt der«, sie machte eine Geste in die Richtung, in die Ronnie verschwunden war, »und der.« Dabei deutete sie auf den Komplex weißverputzter Ziegelgebäude, in denen sich der Unruhestifter Stuart Miles befand. He, denken Sie, Sie sind die einzige, die heute morgen hat einstecken müssen? Liegen Sie mir bloß nicht mit der Leier vom versauten Vormittag in den Ohren! »Ich habe mich bemüht, früher dazusein, wirklich«, sagte Henry und verachtete sich für seine Worte. »Na ja, passiert ist passiert«, gab sie verärgert zurück und führte ihn zu den weißen Ziegelgebäuden. Er trottete neben ihr her wie ein kleiner Hund, der sich Schritt zu halten mühte. »Was ist passiert? Was meinen Sie damit?« Etliche Schweißtropfen krochen wie Spinnen seinen Rücken hinunter.
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»Ich meine damit, daß Ihr Vater jetzt ruhiger ist.« Spritzen. Fesseln. Kräftige Pfleger. »Von selbst?« fragte Henry verzagt. Mrs. Speers schob sich durch eine Reihe von Glastüren, und Henry schlüpfte hinter ihr herein. »Was von selbst?« fragte sie, halb umgewandt. Der süßliche Geruch der Flure des Pflegeheims stieg ihm in die Nase — Unmengen von Raumspray mit Blumenaroma, der den Gestank fäkaler Inkontinenz unterdrücken sollte. Diese Mischung aus Scheiße und Blumen kann nicht im Sinne des Herrn gewesen sein. Henry wiederholte seine Frage: »Hat er sich von selbst beruhigt?« Er glaubte, ein spöttisches, kaum unterdrücktes Schnauben zu hören. »Schwerlich.« Ach, Daddy, es tut mir so leid, daß ich damals die Papiere für deine Aufnahme unterschrieben habe! In Wahrheit hatte er sie aber gar nicht unterschrieben. Stuart, strotzend vor geistiger Klarheit, hatte sie selbst und aus freien Stücken unterzeichnet. »Ich brauche mehr Pflege, als ihr mir geben könnt«, hatte er nüchtern bemerkt. »Außerdem will ich mir die Hintern der Schwestern angucken.« Henry und June waren unvorstellbar erleichtert gewesen. »Was haben Sie getan?« fragte er Mrs. Speers. Nein, wenn ich jetzt auch noch mit dem Finger auf sie deute, bringe ich sie nur gegen mich und Daddy auf. »Welche Maßnahmen mußten ergriffen werden?« Diese Frau hatte schließlich tagein, tagaus Daddys Wohlergehen in der Hand. Verscherze es dir nicht mit jemandem, der ihm eine Überdosis verpassen kann! »Um es ganz offen zu sagen, nachdem Sie sich nicht blikken ließen, schien es mir erforderlich, ihn von den Jungs fixieren zu lassen. Und dann spritzte ich ihm ein Beruhigungsmittel.« Spritzen. Fesseln. Kräftige Pfleger. Ist mir heute nicht
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mal eine einzige kleine Pause vergönnt? Wird alles, was ich befürchte, auch wahr? Henry spürte seine Körpersäfte in sich aufsteigen. Über der Lippe, unter den Achseln und im Schritt brach ihm der Schweiß aus. Seine Magensäure blubberte und zischte. Im Mund sammelte sich Speichel, seine Augen tränten, und er mußte pissen. Seine Poren, Schließmuskeln und Drüsen öffneten und schlössen sich, als hätte ein Betrunkener die Kontrolle über ihre Funktion übernommen. Unfähig, mit Mrs. Speers' raschem, zielstrebigem Gang Schritt zu halten, zockelte Henry hinter ihr die Korridore entlang. Am liebsten hätte er sich in eines der Zimmer geschlichen, in ein Bett gelegt und die Decke über den Kopf gezogen. Die Türen sämtlicher Zimmer standen offen — hier konnte man ja nicht mal furzen, ohne daß es die Nachbarn mitbekamen! Das mußte ja ein Heidenspaß sein. Er nickte und winkte Senioren zu, die sich mittels Gehhilfen oder in Rollstühlen über den Flur bewegten oder sich mit beiden Händen am Wandgeländer festklammerten, als befänden sie sich an Deck eines heftig schlingernden Ozeandampfers. Jedem und jeder schenkte er ein Lächeln, in der Hoffnung, etwas Positives zurückzubekommen, etwas, das seine zunehmend düsteren Vorahnungen zerstreute. Ihr Menschen, wollte er rufen, ihr Menschen, bringt mir frohe Kunde, gebt mir etwas, das ich meinem Vater weitergeben kann! Nennt mir einen Grund, warum er sein Gebiß einsetzen soll, heute und morgen und jeden Tag. Wie als Antwort auf seinen stummen Hilferuf trat ein besonders alter Mann wackligen Schritts auf ihn zu. Henry verharrte in nervöser Spannung. Kannst du es mir sagen, ehrwürdiger Alter? Kannst du mir einen Grund nennen, mit dem ich meinen Vater dazu bewege, seine Beißerchen einzusetzen und in die Welt der Lebenden zurückzukehren? Noch nie hatte Henry einen Mann gesehen, der ihm so wei-
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se erschien; seine Augen waren trüb, doch sprühend vor Intelligenz, der weiße Haarkranz umsäumte seinen Schädel wie die Krone Salomons. Henry beugte sich vor, um die Worte des Greises zu vernehmen. »Wiener mit Kraut.« »Was?« fragte Henry. »Wiener mit Kraut«, wiederholte der Alte seine Worte der Weisheit. »Mein Lieblingsessen. Das gibt's heute zu Mittag.« Er wackelte an Henry vorbei. »Entschuldige, Kumpel. Möchte heute nicht zu spät zum Essen kommen.« Henry sah ihm nach, wie er den Flur entlangschlurfte und sich an den anderen vorbei zum Speisesaal drängte. Also, spielte Henry das Gespräch mit seinem Vater durch, letztlich geht es um Wiener mit Kraut, Daddy. Du mußt dein Gebiß einsetzen, denn ohne deine Zähne kannst du nicht Wiener mit Kraut essen. Wie sich nämlich herausgestellt hat, Daddy, sind Wiener mit Kraut die Essenz des Daseins, der Grund für unsere Existenz. Am Ende des Flurs wartete Mrs. Speers, bis er aufgeholt hatte. Sie stand vor 414 D, dem Zimmer seines Vaters. Langsam näherte er sich ihr, während er immer wieder sein Mantra ›Wiener mit Kraut‹ vor sich hin murmelte. Vor der Tür hielt Mrs. Speers inne und wandte sich an ihn. »Ich bedaure, daß das Verhalten Ihres Vaters bestimmte Schritte erforderlich gemacht hat. Aber ich habe nach den medizinischen und pflegerischen Richtlinien gehandelt, die der Sicherheit der Patienten unseres Pflegeheims dienen.« Wiener mit Kraut. Sie fuhr fort: »Wenn jemand mit Essenstabletts und Vasen schmeißt und Nachttische umwirft, kann man das — wie Sie mir gewiß beipflichten — nicht zulassen. Aber was mich noch mehr in Sorge versetzt, ist die Ursache für sein unannehmbares Verhalten. Bis heute morgen, als wir Mr. Miles nicht dazu bringen konnten, sein Gebiß einzusetzen,
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habe ich ihn als ausgesprochen angenehmen und berechenbaren Patienten gekannt. Er war immer freundlich und sauber und hatte stets ein munteres Wort auf den Lippen. Das hat sich heute morgen schlagartig geändert. Als Zahnarzt wissen Sie, wie wichtig das Selbstbild für einen Menschen ist, besonders für die Prothesenträger unter uns. Im Lauf der Jahre habe ich festgestellt, daß ein Patient, der sein Gebiß nicht mehr tragen will oder plötzlich mit einer wichtigen Gewohnheit bricht, seines Lebens überdrüssig ist.« »Zähne sind Leben«, erwiderte Henry aufgeregt. Mein Gott, dachte er, sie weiß es, sie versteht es! Am liebsten hätte er Mrs. Speers umarmt. Und mehr als das. Er wollte es mit dieser Frau hier und jetzt, auf dem Flur vor dem Zimmer seines Vaters, treiben. Er wollte an ihr nagen und knabbern, an ihrer Scham kauen und schmatzen, ihr einfach zeigen, wie sehr Zähne zum Leben gehören. Er trat einen Schritt näher. Sie faßte ihn scharf ins Auge. »Ich weiß, das ist für Sie als Angehörigen sehr schwer.« Bei diesen Worten wich sie fast unmerklich zurück. »Zähne sind Leben«, wiederholte Henry, bereit, sich auf sie zu stürzen. »Zähne sind Scheiße«, murmelte da jemand hinter der halboffenen Tür von Zimmer 414 D. Daddy? Natürlich Daddy. Und ich wollte praktisch vor seinen Augen über eine fremde Frau herfallen. Schuldbewußt blickte er auf Mrs. Speers. Sie funkelte ihn an, dann marschierte sie wortlos an ihm vorbei ins Zimmer. Henry schlurfte hinterher. Am Fußende des Bettes seines Vaters angelangt, schloß er die Augen — ein letzter verzweifelter Versuch, das Unvermeidliche hinauszuzögern. So konnte er noch eine Weile das Bild von Daddy aufrechterhalten, wie er ihn immer vor sich gesehen hatte: ordentlich, gepflegt und im Vollbesitz seiner Zähne.
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Stuart Miles, in aufrechter Lage fixiert und ruhiggestellt, saß in seinem Bett und hielt ebenfalls die Augen geschlossen. Pfleger wurden hier nicht mehr benötigt. »Zähne«, murmelte Stuart erneut, »Scheiße.« »Dr. Miles«, sagte Mrs. Speers ungeduldig. »Machen Sie bitte die Augen auf.« »Ich bin kein Doktor«, nuschelte Stuart, gehandicapt durch Zahnlosigkeit und Drogen. »Ich habe mit Ihrem Sohn gesprochen.« »Was Sie nicht sagen.« Stuart entblößte grinsend sein Zahnfleisch. »Hat man Ihnen auch was gespritzt?« »Dr. Miles, machen Sie bitte die Augen auf und tun Sie etwas, damit diese Posse ein Ende hat.« Henry war nicht nur unfähig, die Augen zu öffnen, auch die Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Wie zur Salzsäule erstarrt verharrte er am Fußende des Bettes. Daddy gefesselt. Nein, für diesen Anblick war er nicht gewappnet. Mrs. Speers trat von einem Bein aufs andere, dann beugte sie sich über Stuart und sagte: »Na schön, Mr. Miles, dann öffnen Sie doch bitte die Augen, ja?« »Aha«, meinte Stuart und kniff die Augen zum Trotz noch fester zusammen, »jetzt auf einmal ›Mister‹? Sie können sich wohl nicht entscheiden, wie?« »Sie stehlen mir meine Zeit«, stieß Mrs. Speers laut hervor und wandte sich zur Tür. »Sie haben mich schon den ganzen Vormittag gekostet!« Sie rauschte davon. »Schön!« Stuart versuchte in Richtung der verhallenden Stimme zu spucken, doch da er unter Drogeneinfluß stand und keine Zähne hatte, reichte seine Spucke nicht weit genug und landete klatschend auf Henrys Schuhspitze. Henry spürte den Aufprall des Batzens, was ihn darin bestätigte, daß es immer noch kein günstiger Zeitpunkt war, die Augen zu öffnen. Während er die Schuhspitze an der dünnen Auslegeware rieb, sinnierte er über das freudlose
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Dasein von Pflegeheimteppichböden. »Wer kratzt denn da herum? Ich höre Sie, bilden Sie sich da nur nichts ein!« rief Henrys Vater und spitzte den Mund zu einer erneuten Spuckattacke. »Daddy«, flüsterte Henry. »Ich bin's.« Zwei Männer, die die Gesichter einander zugewandt hielten, ohne sich zu sehen. »Mein Sohn?« Mutig mühte sich Stuart, die Augen aufzuschlagen. Eine Sekunde lang zuckten und hoben sich seine Augenlider, dann klappten sie wieder runter. »Mit Drogen vollgepumpt«, sagte er. »Bis obenhin. Aber das siehst du ja wohl selbst. Ziemlich übler Anblick, was?« »Eigentlich, Daddy...«, setzte Henry an. Los, du Waschlappen, riskier einen Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde öffnete er die Augen, das grelle Neonlicht im Raum blendete ihn wie ein Kamerablitz. Ein weißes Viereck, Überbleibsel von der Netzhautabbildung des Bettes, tanzte leuchtend hinter Henrys geschlossenen Lidern. Das Bett schien auf einer endlosen Reise durchs Weltall davonzufliegen. Daddy fährt in seinem Bett gen Himmel Da Henry auf. zu lange schwieg, rief sein Vater noch einmal seinen Namen. »Henry? Schaust du mich an? Du schaust mich nicht an, stimmt's?« Daddy kannte ihn. »Tust du das immer noch, hmm?« Seine Stimme versagte, dann gewann sie wieder an Kraft. »Als Kind hast du das ständig getan. Hast die Augen zugemacht, wenn du Angst bekommen hast. Es tut mir leid wegen all dem hier.« Er zerrte an den Fesseln. »Sie haben mich in Ketten gelegt wie King-Kong. Aber an die Filmszene kannst du dich natürlich nicht erinnern, du hattest ja die Augen zu.« Glucksend fuhr er sich mit der Zunge über das nackte Zahnfleisch. Dann verstummte er, und sein Atem ging tief und gleichmäßig, als wäre er eingeschlafen.
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Aber hier hat es mit der Angst eine besondere Bewandtnis, dachte Henry. In diesem Fall hatte sein Vater nicht ganz recht — er hatte die Augen zwar den größten Teil des Films über geschlossen gehabt, aber irrtümlicherweise gedacht, die Gefahr sei vorüber, als King-Kong in Ketten lag und auf der Bühne vorgeführt wurde. Die Szene erwies sich als beängstigend in einer Art und Weise, die Henry nicht vermutet hatte — das gefesselte Ungeheuer wirkte mitleiderregend. Und es erschreckte ihn, wie rasch sich Dinge verändern konnten: eben noch der König des Dschungels, und nun ein gefesselter Daddy im Bett. Zumindest hatte KingKong seine Zähne behalten. Nichts auf der Welt war beängstigender als ein zahnloser Daddy. »Henry!« rief der Alte. »Bist du da?« Ich will's versuchen, Daddy. Er öffnete ein Auge und hielt es offen. »Ich bin da, ich bin da.« Immerhin zu fünfzig Prozent. Einäugig trat er neben das Bett, um dem alten Mann einen tröstenden Klaps zu geben. Da ihm aber sein räumliches Sehvermögen fehlte, landete seine Hand irgendwo auf Daddys Unterleib. Wo sein Pimmel sein mußte. O Gott. Henry wollte die Hand schon von der Decke ziehen, doch seine tastenden Finger verrieten ihm, daß sich zwischen den Beinen seines Vaters ein außerordentliches Ding befinden mußte. Henry stöberte im Aktenschrank seiner Erinnerung nach einer Akte mit der Aufschrift »Pimmel: Vater-Sohn-Erlebnisse«, bis er einen bemerkenswert dünnen Ordner fand. Das hing zum einen mit Daddys Zimperlichkeit in körperlichen Dingen zusammen (den Weg zum oder aus dem Badezimmer legte er niemals nackt zurück), zum anderen mit Klein-Henrys typischer Angst, Scham und Verwirrung, was Geschlechtlichkeit betraf. Und aus guten Gründen, wie sich nun herausstellte! Was war das für ein Ding unter der Decke? Henry erinnerte sich an einen lange zurückliegenden Campingurlaub; in der Abgeschie-
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denheit der Wälder und weit weg von Mom hatten sie sich an einer Kiefer erleichtert, und dabei hatte er das Gehänge seines Vaters betrachtet. Sicher, es war groß, aber von einer durchaus normalen Größe, die Henry Zuversicht und Hoffnung gab, daß er in der fernen postpubertären Zukunft würde mithalten können. »Henry?« Aber dies war beinahe monströs, dieses Ding. Dick wie ein Baseballschläger und fest und hart. Nicht von fleischiger Steife wie bei einer normalen Erektion. Es hätte besser zu King-Kong gepaßt. Kein Wunder, daß sein Vater übergeschnappt war. Wie war es dazu gekommen? Durch den Alterungsprozeß? Durch irgendwelche Hormone, die man ihnen ins Essen mischte? Machten sie hier in Fox Glen Experimente mit den Patienten? Klar, warum auch nicht — ein endloser Nachschub an Versuchskaninchen. Daddy, verzeih mir, ich werde dich auf der Stelle hier rausholen, deine Ketten sprengen und dich auf den Armen zu meinem Auto tragen. Aber laß uns nicht unbesonnen handeln, sagte er sich. Prüfen wir die Sache lieber noch einmal, ehe wir hier eine Szene machen. Ich kann Szenen partout nicht ausstehen. Womöglich drehe ich langsam durch. Er atmete tief durch und griff abermals beherzt zu. »Herrgott noch mal, Henry! Was machst du denn mit meiner Urinflasche?« Der Alte wand sich in seinem Bett. »Schöne Bescherung.« Urinflasche. Du fummelst an Urinflaschen rum, mach die Augen auf, Blödmann. Was er schließlich auch tat und stammelte: »Daddy, entschuldige... weißt du, ich wollte...« »Normalerweise schüttelt ein Sohn seinem Vater die Hand.« Diese Gelegenheit hätte er Daddy niemals geben sollen. Sogar unter Drogen wußte er sie zu nutzen. Das wird er mir ewig vorhalten, für den Rest seines... Henry betrachtete seinen Vater nun zum ersten Mal genau. Wie lange würde der Rest seines Lebens noch sein? Ohne seine Zähne sah Stuart
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Miles völlig eingefallen aus. Nicht nur sein Gesicht und seine Wangen, alles an ihm schien hohl und eingesunken, als würde der Rest seines Lebens längstens noch bis morgen währen. Wie kam es, daß seine Haut so pergamentartig und blaß, das Haar so dünn geworden war? Und diesen Mann mußte man mit Drogen und Zwangsjacke ruhigstellen? Nun fühlte sich auch Henry wie betäubt und gefesselt. Daddy hob den Kopf und ließ ihn aufs Kissen zurückfallen. Die widerliche, vor der Brust verschnürte Jacke ließ ihm nur wenig Bewegungsfreiheit. Henry eilte seinem Vater zu Hilfe, doch er konnte nicht mehr tun als die Kissen aufschütteln und zurechtrücken. Jetzt hatten sie Daddy da, wo sie ihn haben wollten. Matt sah er Henry an und seufzte. »Weißt du, wie oft ich in meinem Leben gezwungen war, eine Urinflasche zu benutzen? Ich sag's dir. Noch nie. Bis jetzt habe ich noch nicht mal eine aus der Nähe gesehen. Manche Männer hier benutzen sie regelmäßig, aber ich nicht. Ich pisse doch nicht, wenn andere es für mich ausleeren müssen.« »Ich weiß, Daddy.« Henry schluckte. »Und dann fesseln sie einen, und man hat gar keine andere Wahl. Eine der hübschen kleinen Demütigungen des Hauses. Urinflaschen, Herrgott!« Henry bemerkte neben Daddys Kopf auf dem Kissen einen eingetrockneten roten Fleck. Und einen weiteren am Rand des Bettlakens. Hatte Schwester Speers nicht gesagt, daß er einen Pfleger mit einem Essenstablett geschlagen hatte? Donnerwetter. Eine Szene. Dabei hatten er und sein Vater eine ausgeprägte Abneigung gegen Szenen, weil das so vulgär und chaotisch war. Und obendrein noch gefährlich. Daddy, ein pensionierter College-Bibliothekar, war nicht der Typ, der Konflikte mit körperlicher Gewalt löste. Der gewalttätigste Akt, den Henry je bei ihm erlebte, hatte darin bestanden, daß Daddy während der Feier zu Bushs
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Amtseinführung ein dickes Nachschlagewerk in Richtung Fernseher warf. Daddy, der mit einem Essenstablett um sein Leben kämpfte und sich der eindringenden Horden erwehrte. Aber warum nur? Für das Recht, seine Zahnprothese, mit der er jahrelang so glücklich gewesen war, nicht mehr tragen zu müssen? Was hatte Schwester Speers über die plötzliche Unberechenbarkeit seines Verhaltens gesagt? Daddy blinzelte mehrmals, dann blickte er Henry direkt in die Augen. »Mein Sohn«, erklärte er, »ich möchte nach Disney World.« Henry hielt sich am Bettpfosten fest. Das war nicht nur eine plötzliche Unberechenbarkeit des Verhaltens, das war dämonische Besessenheit. Disney World: die homogenisierte Kacke der heutigen Zivilisation, um Daddy wörtlich zu zitieren. Und er ging mit schmutzigen Wörtern nicht leichtfertig um. Henry sah deutlich vor sich, wie er Daddy, aus dessen grauem Haupt wie Geschwülste schwarze Micky-Ohren aus Plastik wuchsen, im Rollstuhl durch das Land von Pluto und Schneewittchen schob. Sein Leben lang hatte er sich durch die Bücherstapel der akademischen Welt gelesen, und nun wollte er Goofy kennenlernen. Warum? Daddy schien Henry die unausgesprochene Frage von der Stirn abgelesen zu haben. »Weil ich im Sterben liege.« Hat mir jemand einen Eimer Wasser übergeschüttet, fragte sich Henry, um den herum sich alles drehte. Nein, die unablässig tröpfelnden Schweißperlen, Frucht meiner latent vorhandenen Ängste, schwellen an zu einem Strom der Todesangst, der Angst vor meinem Tod und dem Tod meiner Lieben. Nein, Daddy, nein. »Und in diesem unserem prächtigen Lande«, fuhr Daddy fort, »fahren die Sterbenden nach Disney World.« »Nur die sterbenden Kinder.« »Nun, im Herzen bin ich immer Kind geblieben. Du wirst einem kleinen, todkranken Jungen doch nicht seinen letzten
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Wunsch abschlagen?« »Du bist nicht todkrank.« »Jetzt hast du ja beide Augen auf, Henry. Was siehst du?« »Ich bin wegen der Zahnprothese gekommen, Daddy, nicht wegen Lebensüberdruß.« »Tja, da staunst du, was?« »Aber ich hab dich doch nicht zum Sterben hergebracht!« platzte Henry heraus. »Ach, nein?« »Ich weiß, ich weiß. Ich meine, ich weiß, was hier los ist, aber du bist nur wegen deiner Hüfte hier. Weil du im Moment mehr Pflege brauchst. Ich werde das mit deinem Gebiß in Ordnung bringen, und alles wird gut. Man stirbt nicht, nur weil man Probleme mit der Zahnprothese hat, Daddy. Wir passen sie neu an, dann buchen wir den nächsten Flug nach Süden, nach Disney World. Auch ins Epcot Center, wenn du willst.« »Henry.« »Da gibt es jetzt auch einen neuen Park mit Filmmotiven und eine Art Riesenaquarium, mit Sehenswürdigkeiten aus der Welt der Meere. Da fahren wir hin, du, ich, June und die Zwillinge. Es wird prima!« Alles drehte sich Henry vor Augen, und die Knie wurden ihm weich. »Henry. Setz dich und steck den Kopf zwischen die Knie. Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.« »Gut.« Er ließ sich auf den Stuhl neben dem Bett fallen und schnappte nach Luft. Einen Moment lang musterte Daddy schweigend seinen Sohn. Er hatte die Augen jetzt weiter geöffnet und wirkte wacher. »Eigentlich will ich gar nicht nach Disney World.« Henry blickte auf. »Heißt das, daß du...?« »Doch, ich liege im Sterben. Aber ich möchte nicht nach Disney World. Das habe ich nur gesagt, damit du mir deine
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Aufmerksamkeit schenkst. Es war immer schon schwer, deine Aufmerksamkeit zu bekommen, Henry, auch als du noch ein Kind warst.« Er sprach die Worte langsam und sorgsam artikuliert, da ihm die Zähne fehlten. »Ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten.« Er hielt inne. »Hörst du mir zu, mein Junge?« Nein, Daddy, eigentlich nicht. Henry sah durch das Fenster auf die Grünanlagen hinaus, die die niedrigen Ziegelgebäude des Fox Glen umgaben. Er fühlte sich plötzlich unsäglich müde. Am liebsten würde er sich auf diesen grünen Rasen legen, die Augen schließen und wegdämmern... Schließlich sagte er: »Ich höre dir zu, Daddy. Du willst also nicht nach Disney World.« Jetzt kam es Henry allerdings vor, als wäre er in Disney World, auf irgendeiner wilden Fahrt, bei der einem der Daddy wegstarb, die Patienten nachjagten und das Mittagessen vorenthalten wurde. Gott, wie sehr er sich nach Pommes frites sehnte, und doch würde er sie niemals bekommen. »Henry«, meinte Daddy, während er wieder an seinen Fesseln zerrte. »Könntest du die Dinger bitte etwas lokkern? Es ist ausgesprochen unbequem.« Henry riß die Augen auf und setzte sich gerade hin. »Äh, Daddy, es gibt hier ziemlich strenge Vorschriften, weißt du, fundierte medizinische Gründe, und da, äh, möchte ich mich nicht einmischen.« »Na, aber du bist doch selbst Mediziner, oder nicht? Läßt du dich in deiner Praxis nicht mit Dr. Miles anreden? Ich bin ja gewissermaßen unter deiner Obhut, solange du in diesem Raum bist.« Daddy schnalzte mit der Zunge und nickte bedeutsam, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Ach, ja. Natürlich. Du bist ja gar kein richtiger Arzt, nur ein Zahnklempner.« Dentist Man warf seinem Vater einen bitteren Blick zu. »Du nennst dich zwar Doktor, aber so wie ich diesen Be-
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ruf verstehe, bist du gar kein Arzt«, fuhr Daddy fort. Dentist Man gab ein anhaltendes Zischen von sich, wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. »Im Sinne von Dr. med., meine ich«, setzte Daddy noch eins drauf. »Da du fachlich ja bereits überfordert bist, wenn du diese Riemen einen Zentimeter lockern sollst, verstehst du ja wohl nicht allzuviel von Medizin.« Laß dich nicht provozieren. Er ist ein verzweifelter, mit Drogen vollgepumpter alter Mann in den letzten Zügen. Du bist etwas Besseres als er, Dentist Man. Henry sann ein paar Sekunden nach. Als er sprach, versuchte er, nicht wie ein weinerlicher Junge zu klingen. »Daddy, ich hab dir im Lauf der Jahre schon x-mal gesagt, daß Zahnmedizin ein Zweig der Medizin ist. So wie es Fachärzte für die Augen oder die Knochen gibt, gibt es auch welche für die Zähne.« »So? Wo warst du denn, als sie dir den Doktortitel verliehen haben? In der Ecke bei den Pediküren, nehme ich an. Entschuldige, ich meine, bei den Fußärzten.« »Okay, Daddy, du hast gewonnen, ich bin also kein Arzt. Zufrieden?« »Nein, überhaupt nicht. Ich liege hier gefesselt wie Schlachtvieh und habe gehofft, mein Sohn würde etwas dagegen tun. Aber ich habe mich wohl geirrt. Und schau, wie ich ohne meine Zähne beim Reden rumspucke, das ist doch erbärmlich.« Henry erhob sich. »Ich hole Schwester Speers.« Mit den Fingern — den einzigen Körperteilen, die er frei bewegen konnte — bedeutete Daddy ihm, sitzen zu bleiben. »Verdammt, Henry, nein. Sie ist doch der Feind! Sie hat die beiden Schläger auf mich gehetzt.« Er funkelte Henry an. »Sie hat schon getan, was sie wollte. Und deshalb stellt sich die Frage: Was wirst du tun?« Tun? Tun. Tun oder nicht tun. Henry setzte sich auf seine Handflächen, Henry rutschte auf dem Stuhl hin und her.
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Wenn ich diese Riemen löse, wird es eine Szene geben, und ich bekomme Ärger. Vielleicht klagt man mich sogar der unerlaubten Ausübung des Heilberufs an. Aber ich habe doch eine Erlaubnis, eine Approbation als Arzt, egal, was Daddy davon hält. Ich habe sogar mehr als das, eine Lizenz zum Dentist Man! Ja, das bin ich, das ist mein Beruf und meine Berufung. Was ich tun werde? Ist doch sonnenklar: Ich repariere seine Prothese! Seine Brust schwoll an, seine Muskeln strafften sich. Doktor der Zahnmedizin, und darauf bin ich stolz. Verdammt, hätte ich nur meinen weißen Kittel dabei! Er erhob sich von seinem Stuhl und blaffte seinen Vater an: »Dein Gebiß. Sag mir, wo es ist, ich bringe es in Ordnung. Das werde ich tun!« »Henry, du Trottel, laß mich zufrieden.« Daddy drehte den Kopf auf die andere Seite, während Henry, ein Knie aufs Bett gestützt, versuchte, ihm in den Mund zu sehen. »Daddy, willst du bitte stillhalten, ja?« Zu schade, daß sie ihm nicht auch den Kopf festgeschnallt haben, wo sie doch schon dabei waren! Jetzt könnte ich Jennifers Hilfe gebrauchen. »Ich will nur mal kurz nachschauen, ob du irgendwelche Druckstellen oder Entzündungen am Zahnfleisch hast. Dann können Zahnprothesen nämlich schmerz... Daddy!« Daddy klappte seine zahnlosen Kiefer zu und biß entschlossen in Henrys tastenden Zeigefinger. Hätte er seine Prothese im Mund gehabt, er hätte Henrys Finger bis zum Knochen durchgebissen. Henry wurde blaß und wimmerte, doch Daddy ließ den Finger nicht los, dem — abgesehen von einer starken Quetschung — keine größere Gefahr drohte. Henry verharrte völlig bewegungslos, bis Daddy schließlich den Finger ausspuckte wie eine schlechte Zigarre. Tränen der Erleichterung traten Henry in die Augen — er würde künftig also nicht mit vier Fingern praktizieren müssen! Er führte die
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schmerzende Fingerspitze an die Lippen und küßte sie zärtlich. »Was ist nur los mit euch Kurpfuschern?« knurrte Daddy ihn an. »Ständig kommt ihr daher und fummelt und grapscht an mir herum, als hättet ihr das Recht dazu. Ihr macht mich krank, ihr alle.« »Entschuldige, ich wollte nur...« »Helfen, ja, ich weiß, verdammt noch mal. Ihr wollt alle immer nur das Beste für mich. Aber ist euch je in den Sinn gekommen, daß ich selbst am besten weiß, was gut für mich ist?« »Aber«, entgegnete Henry, »ich bin Fachmann für Zähne, Daddy. Du hast mich während meines Studiums unterstützt, damit ich es werden konnte, erinnerst du dich? Und ich...« Seine Kehle war mit einemmal wie zugeschnürt — wegen dem Schmerz im Finger, wegen seiner Unfähigkeit, Daddy zu helfen, obwohl er es doch wirklich wollte, wegen des nicht enden wollenden Fiaskos dieses Tages. »Das sollte nur eine kleine Gegenleistung sein.« »Henry, mein Junge, hier geht es nicht um Gebisse, verstehst du? Um auf den Gefallen zurückzukommen, um den ich...« Henry schnitt ihm das Wort ab. »Aber du warst doch so zufrieden damit. Du warst richtig stolz darauf. Und jetzt — das.« Er deutete auf die Fesseln. »Ich bin noch immer damit zufrieden, Henry. Du hast sie wirklich ganz prima gemacht. Sie passen traumhaft.« »Aber warum...?« Daddy schloß für einen Moment die Augen und öffnete sie dann langsam wieder. Es schien eine Weile zu dauern, ehe er Henry ins Auge fassen konnte. »Wenn man sein Gebiß nicht drin hat«, erklärte er, »ist es schwerer, eine Mundzu-Mund-Beatmung durchzuführen, um mich wiederzubeleben. Verstehst du?«
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»Wieso? Wieso willst du das erschweren?« »Selbstmord«, erwiderte Daddy. »Sie haben mich zurückgehalten, noch ehe ich richtig anfangen konnte. Sie sind wie du, sie glauben, ich hätte Probleme mit der Prothese. Wie geht dieser Witz? ›Operation gelungen, Patient tot.‹ Tja, und sie glauben, daß sie mich ans Bett gefesselt haben, sei so was wie eine gelungene Operation. Aber ich verspreche dir, der Patient wird trotzdem einen Weg finden zu sterben.« »Sterben? Selbstmord?« stieß Henry panisch hervor und vergewisserte sich mit einem Blick, daß Daddys Gurte fest und straff saßen. »Noch vor zwei Wochen hast du den Schwestern schöne Augen gemacht und von dem Essen hier geschwärmt. Und jetzt redest du auf einmal von Selbstmord?« »Was soll ich sagen? Die Dinge haben sich eben geändert.« »Was für Dinge? Was hat sich in zwei Wochen geändert? Die Schwestern? Das Essen?« »Meine Einstellung, Henry.« »In zwei Wochen?« »Ich bin dreiundachtzig, es mußte irgendwann geschehen. Irgendwann ist die Zeit gekommen.« »Woher willst du wissen, daß die Zeit gekommen ist? Wer sagt dir das? Deine innere Stimme?« »Du hast Angst, Henry. Ich sehe dir an, daß du die Augen schließen möchtest.« King-Kong will sich umbringen... Ja, du hast verdammt recht, ich habe Angst, dachte Henry. Ich fand es schon beängstigend, daß er sich fesseln ließ. Und jetzt will er sich vor laufender Kamera in die ewigen Jagdgründe befördern? »Es sollte dir zu denken geben, wenn ich Angst habe«, sagte Henry. »Ich habe das Leben satt.«
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»Würdest du gefälligst aufhören, so etwas zu sagen? Woher willst du das wissen?« »Du weißt doch auch, wenn du hungrig bist, nicht wahr? Oder wenn du kacken mußt. Nun, ich bin dreiundachtzig, und seit zwei Wochen weiß ich es. Das sagt mir mein Körper.« »Wieso sagt er's dir? Warum den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen?« Hatten sie bei seinem letzten Besuch nicht über Baseball oder so etwas gesprochen? Er hätte gleich, als er hereinkam, den Verlauf des Gesprächs in die Hand nehmen müssen. Und er hätte Ed oder Fred mitnehmen sollen. Daddy hätte sich gehütet, sie mit so morbidem Zeug vollzuquatschen. Sicher wäre es möglich gewesen, all dies zu vermeiden. »Wenn man Glück hat, dann stirbt man einfach so, Henry. Leonard Haines, drüben in 426, hatte beim Essen letzte Woche einen Schlaganfall und starb mit einer Gabel Kartoffelgratin in der Hand.« Kartoffeln. Pommes frites. Henrys Magen ließ ein erbärmliches Knurren hören. Immer wenn er sich aufregte, bekam er Hunger. Da entdeckte er eine halbe Banane, die in Plastik eingewickelt auf Daddys Kommode lag. Wie konnte er an sie rankommen? Und eine weitere Frage ging ihm durch den Kopf: Wozu hob Daddy Bananen vom Frühstück auf, wenn er um die Mittagszeit schon tot sein wollte? Daddy fuhr fort: »Und da habe ich angefangen nachzudenken. Was ist, wenn es bei mir nicht so schnell geht wie bei Leonard? Wenn es einen Monat dauert, bis ich tot bin? Sie würden mich ins Bezirkskrankenhaus verfrachten, das tun sie immer, und weiß der Himmel, wieviel länger es dann noch dauert, wie viele Schläuche sie mir in die Arme und in den Hintern stecken würden. Ohne mich, Henry. Ohne mich.« »Das würde ich gar nicht zulassen, Daddy.«
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»Du würdest in Panik geraten, mein Junge, das geht den meisten Leuten so. Und dann heißt es doch Schläuche und Apparate.« Henry flüsterte: »Aber was weißt du denn über Selbstmord? Wer hat dir gesagt, daß du das Gebiß rausnehmen sollst?« Nach einem raschen Blick zur Tür erwiderte Daddy, ebenfalls flüsternd: »Du sagst es niemandem?« Sein Lächeln und seine hochgezogene Augenbraue verrieten, daß er Henry in eine Verschwörung einweihen wollte. »Der Feind«, er deutete mit dem Kopf zur Tür, »darf nichts davon erfahren.« Der Feind. Sie hatten Daddy gefesselt und mit Drogen vollgepumpt, natürlich stand Henry auf der Seite des Alten. Wirklich? Henry schielte nach der Banane. Wenn er nur ein Häppchen zu essen bekäme! Nur zur Magenberuhigung. Wie zufällig schlenderte er in Richtung Kommode, während er sprach: »Dem Feind etwas verraten? Ich?« »Mußt du pinkeln, Henry? Ständig tigerst du hin und her. Das hast du schon als kleiner Junge getan. Bist immer hin und her gelaufen, wenn du pinkeln mußtest.« Einen Moment schloß Daddy die Augen. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Glaub nicht, daß ich es nicht bemerkt hätte.« Henry schnappte sich die Banane, als Daddy gerade nicht hersah. »Vielleicht sollte ich nichts davon wissen«, sagte er, halb nach hinten gewandt. »Vielleicht liegt das jenseits des Normalen und Vernünftigen, wie soll ich sagen, eben jenseits des sicheren Terrains, auf dem ich mich sonst bewege.« Er drehte sich um und blickte seinen Vater an. Die Banane befand sich in Henrys Jackentasche. Klammheimlich versuchte er, die Plastikfolie zu entfernen, was mit einer Hand nicht einfach war. Jetzt. Fast geschafft. »Um ehrlich zu sein, Daddy, all das ist gerade ein bißchen viel für
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mich.« Daddy trommelte mit den Fingern aufs Bett, ohne seinen Sohn anzusehen. »Klar. Natürlich. Du bist nun mal ein schwächlicher Junge, Henry. Das bist du immer schon gewesen, und du wirst es immer sein. Aber du bist der einzige, der mir diesen Gefallen tun kann.« Dentist Man ist nicht schwächlich. Aber Daddy weiß nicht, was es bedeutet, Dentist Man zu sein, wie mächtig ich in meiner Praxis bin, in meinem Reich, wo ich die Befehle erteile, während die Welt um mich herum spült und spuckt. »Oh, ich bin härter, als du denkst, Daddy«, log er. Jedenfalls manchmal. Vielleicht. »Also los, erzähl mir von dieser Selbstmordgeschichte.« Was ist das nur für ein Gefallen, um den er mich dauernd bitten und von dem ich nichts hören will? Henry fühlte sich wie ein schwächlicher Junge. Daddy nickte. »Okay«, flüsterte er wieder, »es gibt da ein Buch. Wir haben es gerade erst in die Hände bekommen.« »Ein Buch?« »Und wir haben es untereinander weitergereicht, unter uns, den Heimbewohnern.« Er lachte leise. »Ein praktischer Ratgeber. Es heißt Die Selbsterlösung.« Ein tödlicher Ratgeber kursierte unter den Insassen! Henrys Magen rebellierte, er schwitzte vor Todesangst, und wenn er nicht auf der Stelle etwas zu essen bekam... Er wandte sich ab und bückte sich, während er sich ein abgebrochenes Stück Banane in den Mund schob und es gierig zerkaute. Vielleicht klebte sogar noch ein Stückchen Plastikfolie daran, aber das kümmerte ihn nicht. Gerade wollte er den Bissen hinunterschlucken, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, warum Daddy die Banane aufgehoben hatte, obwohl er zur Mittagszeit doch schon tot sein wollte. Die Banane! Damit wollte Daddy Selbstmord begehen! Er hatte sie mit irgend etwas behandelt, mit einem Pulver aus
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gestohlenen Pillen; oder die anderen Bewohner hatten sie für ihn präpariert, entsprechend der Anleitung aus diesem Buch. Erster Schritt: Nehmen Sie Ihre Zahnprothese heraus. Zweiter Schritt: Würzen Sie eine schöne, weiche Banane mit einer tödlichen Dosis und futtern Sie sich damit in die himmlischen Gefilde. Und ich habe davon abgebissen, der Tod steckt mir schon im Schlund, der SelbsterlösungsBananensplit, ade, Henry, wenn du nur ein klein wenig schluckst, hast du das Gift im Magen und im Blut! O weh! Kurzzeitig hatte Henry bereits das Gefühl, seinen Körper zu verlassen. Er dachte über seine Aussichten nach. Hatte er nicht immer geglaubt, er würde eines häßlichen, gewaltsamen und zufälligen Todes sterben? Durch einen Autounfall, einen Brand, ein Verbrechen oder was sonst noch Schreckliches auf seiner Liste stand? Tod durch Banane. So einfach war das. Einfach? Es war soweit! Keine schmerzlichen Vorbereitungen, seine Zeit war gekommen — die kleinste Muskelbewegung, ein winziges Zucken der Speiseröhre, und dann gute Nacht. Tschüs, Daddy, mit dessen Tod ich nichts zu tun haben will; lebt wohl, meine karieszerfressenen Patienten mit dem üblen Mundgeruch; lebt wohl, June und Ed und Fred und Rita und Jennifer und ihr alle, ich denke an euch, und das bedrückt und quält mich so sehr, daß ich ganz schläfrig werde. Schläfrig, ja todmüde, vielleicht hat sich etwas von dem Sedativum in der Banane schon gelöst, ach Gott, wie einfach es doch ist. Bald bin ich aller Sorgen ledig, zum ersten Mal an diesem Morgen, zum ersten Mal seit meiner Geburt, so ruhig und friedlich, lebt wohl, lebt wohl, Dentist Man winkt euch zum Abschied... Herrgott! In einer Panikattacke würgte er den schleimigen Bananenklumpen hoch, höher, höher und raus, Henry hustete und spuckte in seine zitternde Hand. Sterben? Ich? Jetzt? Kriege ich auch alles raus? Er spuckte in seine bereits randvolle Hand, bis sein Speichel bananenfrei war. Laß
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mich leben und nicht an toxisch bedingten Nervenschädigungen leiden, und ich schwöre dir, Allmächtiger, daß ich einen Samstag im Monat kostenlos in einer Zahnklinik arbeiten und mich dort um die Armen und Entrechteten kümmern werde. Na ja, das vielleicht nicht gerade, aber ich will versuchen, meine Honorare in diesem Steuerjahr nur um die etwa zehn Prozent der Inflationsrate anzuheben. Und ich lasse June ab und zu mit meinem Taurus fahren, damit sie auch mal was vom Airbag hat. Und ich werde mich von den Zwillingen nicht mehr so nerven lassen wie bisher. Sein Herz klopfte beängstigend, doch seine Lebensgeister schienen die Oberhand zu gewinnen. Ich werde ein guter Mensch sein, danke, daß du mir diese zweite Chance gibst. Ich werde meine fettreiche Ernährung einschränken. Ich werde mir jeden Abend mit Zahnseide die Zähne reinigen — ach, das tue ich ohnehin schon. Ich werde... »Was ist denn los mit dir, Henry? Hast du Haare in den Mund gekriegt? So ein Röcheln und Würgen hab ich ja noch nie erlebt. Klingt wie eine sterbende Katze.« Sterben? Ich nicht. Wie werde ich jetzt dieses giftige Zeug los? Durch seine Finger begann bereits Bananenschleim zu triefen. Gibt es hier in der Nähe eine Toilette? Vorsicht, Daddy sieht her. »Henry? Alles in Ordnung?« Entgegen all seiner Grundsätze zur ordnungsgemäßen Entsorgung oraler Abfälle entleerte Henry seine Hand in die Jackentasche. Ihn überkam Übelkeit, die von Schuldgefühlen, Ekel und womöglich auch einer Spur Bananengift herrührte. »Du bist ein bißchen grün um die Nase. Was Falsches gegessen?« Moment mal. Daddy macht einen allzu besorgten Eindruck. Was Falsches gegessen? Er weiß genau, was ich gegessen habe. Er hat es extra für mich aufgehoben. Eine Fal-
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le. Henry riß die Augen auf, und diesmal wurde ihm schlecht vor Angst. Daddy hat versucht, mich umzubringen! Der kleine Streich mit der Prothese war nur ein Trick, ein Vorwand, um mich hierherzulotsen, in die Nähe der Banane, die ich, wie er wußte, verschlingen würde, weil er mich absichtlich vom Mittagessen abgehalten hat, und er weiß, wie unruhig ich werde, wenn ich mittags nichts esse. Der hinterhältige alte Trottel, schau ihn dir an in seiner Zwangsjacke, die ich ihm noch fester schnüren werde, damit er garantiert nicht freikommt! Daddy, du bringst mich um. Zumindest hast du es versucht, stimmt's? Sein eigen Fleisch und Blut — gibt es ein abscheulicheres Verbrechen? Vater und Sohn betrachteten einander. Henry schluckte. Warum nur, Daddy? War ich nicht ein braver Junge? Ich habe dir doch niemals Ärger gemacht. War als Kind selten ungezogen, als Jugendlicher kaum jemals aufsässig, bin auf ein bezahlbares staatliches College gegangen, um die Kosten niedrig zu halten. Dann der Abschluß in Zahnmedizin, Heirat, Enkelkinder (na schön, du kannst sie auch nicht auseinanderhalten, aber ist das etwa meine Schuld?) und schließlich dieses nette Pflegeheim. Mein Leben lang habe ich mich für dich geopfert. Und du lohnst es mir mit einer tödlichen Banane? Er sah zu seiner Jackentasche hinab, wo die klebrige Masse allmählich durch den Stoff sickerte. Hätte doch meinen Polyester-Arztkittel anlassen sollen. Zum Teufel. Und zum Teufel mit Daddy. Ich bin also kein anständiger Arzt geworden. Jeder andere Vater in diesem Lande würde sich mordsmäßig über einen Zahnarzt als Sohn freuen, aber er hat einen Zahnarzt als Sohn und will ihn mordsmäßig ins Jenseits befördern! »Warum, Daddy?« würgte Henry schließlich die Frage heraus. »Warum was?«
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»Warum die Banane? Warum ich?« Daddy musterte ihn. »Ist das Sokrates oder Aristoteles? Philosophie war nie meine Stärke.« »Findest du das komisch?« »Na ja, jedenfalls merkwürdig«, antwortete Daddy. »Daddy, wir reden über Mord!« »Nein, mein Sohn, wir reden über Selbstmord, soweit ich mich erinnere. Bis zu deinem Hustenanfall — du solltest mal zu einem Arzt gehen — ging es... ja, um Selbstmord. Und laß uns lieber schnell machen, denn der Feind kann jeden Moment zurückkommen. Sie lassen einen nie in Ruhe.« Er winkte Henry mit gekrümmtem Finger heran. »Komm näher«, sagte er. »Es steht alles in dem Buch. Erstens: Nehmen Sie Ihre Zahnprothesen heraus. Zweitens: Vergewissern Sie sich, daß Ihre Tüte kein Loch hat.« Henry hob die Hand. »Warte, warte. Tüte? Was für eine Tüte? Wovon redest du?« »Die Tüte«, flüsterte Daddy, »ist das Entscheidende. Man macht es mit einer großen Plastiktüte.« »Ich dachte, mit der Banane?« »Hast du auch so ein Buch? Die Bananenmethode kenne ich nicht. Wie funktioniert die? Na, ist ja egal. Ich war ganz angetan von der Tütenmethode, bei der man angeblich ruhig und sanft entschläft. Ich wollte der erste hier sein, der sie ausprobiert.« Die Banane war gar nicht vergiftet. Henry spähte auf den verheerenden, immer größer werdenden Fleck an seiner Jackentasche herab. Stan von der Schnellreinigung wird einen Anfall kriegen. Ich bringe sie besser zu Morrisons chemischer Reinigung am West Chester Pike. Dort kennt man mich nicht. Stan nimmt Flecke immer so persönlich. Bei ›chemischer Reinigung‹ mußte Henry an die großen, durchsichtigen Plastikhüllen denken, in denen die gereinigten Kleider ausgehändigt wurden. Vor seinem geistigen
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Auge sah er den elektrisch betriebenen Kleiderständer in Stans Geschäft, an dem all die Bewohner von Fox Glen hingen, jeder in einer durchsichtigen Plastikhülle. »Sie wollen Ihren Vater abholen, Henry?« sagte Stan, drückte auf den Knopf, und das Gestell setzte sich surrend in Bewegung, bis an einem Kleiderbügel sein Daddy erschien. Henry schauderte und sah sich im Zimmer nach Daddys versteckter Tüte um. Wieder knurrte sein Magen, und Henry bedauerte, daß er sich so töricht der Banane entledigt hatte. Daddy blickte ihn eine Weile schweigend an, ehe er weitersprach. »Ich habe sie in meiner Schublade, Henry. Dazu zwei Schlaftabletten, die ich aufgespart habe. Bislang hatte ich keinen Grund, sie zu verstecken, da niemand Verdacht geschöpft hat.« Er atmete tief durch. »Aber die Umstände haben sich geändert. Henry, komm zu mir. Bitte. Komm und setz dich einen Augenblick zu mir aufs Bett.« Henry tat wie gebeten, und dabei wurde ihm eine merkwürdige Umkehrung der Verhältnisse bewußt: Wie oft war Daddy früher, als er ein kleiner Junge war, in sein Zimmer gekommen und hatte sich zu ihm aufs Bett gesetzt, wenn er krank war oder noch eine Gutenachtgeschichte hören wollte? Und jetzt, dachte Henry, bin ich an der Reihe, an Daddys Bett zu sitzen. Seine Finger strichen für einen Moment über Daddys gefesselte Hand auf der Decke, dann zog er sie scheu zurück. »Henry, ich muß dich um einen Gefallen bitten. Einen großen Gefallen, mein Sohn.« »Was immer du willst, Daddy.« Und als er das sagte, meinte er es auch so. Dein Vater, der neben dir am Bett saß, der dich ernährt, gekleidet und geliebt hat, so gut er konnte, der dich letztlich auch gar nicht umbringen wollte (Henry errötete vor Scham), dein Vater bittet dich um einen Gefallen. In Gottes Namen, tu ihn ihm. »Wenn du willst, daß sie dir diese verdammten Fesseln abnehmen, sorge ich dafür.«
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Er tastete schon nach dem Knopf für den Schwesternnotruf, der an Daddys Bettgeländer hing. »Halt, laß das. Vergiß die Fesseln. Sie machen sie mir vielleicht ab, solange du da bist, aber glaub mir, kaum bist du draußen, fallen sie wieder über mich her. Ich bin jetzt gebrandmarkt.« »Ich hole dich nach Hause, willst du das? Allerdings nicht sofort Ich meine, das würde ich zwar gern, aber es geht nicht. Wir müssen erst Platz schaffen, das eine oder andere verräumen. Es wird ein paar Tage dauern, wenn du noch so lange...« »Henry, ich will dich nicht bitten, mich zu dir nach Hause zu bringen.« »Aber es wäre doch schön, wenn du bei uns wärst. Und die Mehrgenerationenfamilie ist gerade groß in Mode — den Jungs würde es auch guttun, dich da zu haben. Na ja, bei June muß ich vielleicht noch ein bißchen Überzeugungsarbeit leisten, sie wird manchmal etwas hektisch, wenn zu Hause nicht alles seinen gewohnten Gang geht.« Henry tätschelte Daddys Hand. »Nicht, daß du den gewohnten Gang stören würdest, so habe ich es nicht gemeint. Es ist nur so, daß June sich manchmal ein bißchen wie eine Bienenkönigin benimmt, wenn es um die Haushaltsführung geht — du weißt schon, so wie ich eben in meiner Praxis der Bienenkönig bin.« Henry hielt inne. »Gibt es eigentlich Bienenkönige?« fragte er. »Wenn es sie gibt«, erwiderte Daddy und ließ den Blick auf ihm ruhen, »dann bist du gewiß einer.« »Na, jedenfalls verstehst du, was ich meine. Gib uns ein bißchen Zeit, dann holen wir dich hier raus.« Henry brachte den Mund nicht mehr zu. »Aber zuerst setzen wir deine Zähne wieder ein und vergessen diese Geschichte mit der Plastiktüte.« Warum plapperte er unablässig weiter? »Na, wo haben wir denn das dumme Gebiß, das uns heute soviel
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Kummer bereitet hat?« Er redete wie ein Wasserfall, weil er nicht hören wollte, wie Daddys Bitte lautete. »Na, dann los an die Arbeit, laß mich mal ran an diese Prothese, dieses dumme Ding, diese...« Verzagt versiegte sein Redefluß. »Bist du fertig, Henry?« fragte Daddy sanft. Henry wich seinem Blick aus. »Ich möchte nicht zu euch nach Hause. Danke für das Angebot, aber ich will nicht. Und ich möchte auch nicht hier in Fox Glen bleiben, obwohl es eine außerordentlich angenehme Erfahrung war. Abgesehen von heute morgen natürlich. Nein, ich höre auf meinen Körper, Henry, und ich möchte diese Welt hinter mir lassen, einfach nur hinüberschlummern, verstehst du?« Henry saß ganz still. »Ja«, hauchte er. »Gut. Vielen Dank.« Er nahm einen tiefen Atemzug. »Kommen wir also zu dem Gefallen. In den Augen von Mrs. Speers und dem übrigen Personal bin ich ein alter Spinner, ein Greis, der jenseits von Gut und Böse ist. Sie wissen nicht, was ich vorhatte, nichts von dem Selbstmord, sie wissen nur, daß sie mich im Auge behalten müssen.« »Im Auge behalten«, wiederholte Henry dümmlich. Nur mit Mühe konnte er seine eigenen Augen offenhalten. Am liebsten hätte er sich neben Daddy aufs Bett gelegt und ein Nickerchen gemacht. »Genau. Deshalb, Henry, mußt du mir ein bißchen helfen.« Sich einfach neben ihm auf dem Bett zusammenrollen, wäre das nicht schön? Hat Daddy eben was gesagt? Ich habe nicht richtig hingehört, es war so ein anstrengender Tag. Ein bißchen helfen? »Na klar«, murmelte Henry und gähnte. Und er hätte sich in einen realitätsfernen narkoleptischen Schlaf gegähnt, wären da nicht die allzu realen Worte Daddys gewesen: »Henry, ich möchte, daß du mich erlöst.«
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Ringringringring! schrillte die Alarmglocke in Henrys Kopf. Er sprang auf. Dann hatte er mit der Banane also doch nicht ganz falschgelegen! Es ging tatsächlich um Mord. Daddy meuchelt nicht Henry, Henry meuchelt Daddy. Polizei fängt Henry und bringt ihn hinter Gitter. Niemals, niemals mehr Pommes frites, außer wenn er die Höchststrafe bekommt und sich Pommes frites als Henkersmahlzeit bestellen darf. Angst und Hunger wüteten in seinen Eingeweiden. Da er mittlerweile ohnehin fast vor Hunger starb, erschien ihm der Gedanke an eine Henkersmahlzeit gar nicht mehr so schrecklich. »Dich umbringen?!« »He, schrei nicht so rum, ja?« erwiderte Daddy und warf einen Blick zur Tür. »Feind hört mit. Ich nenne es ›erlösen‹, wenn's recht ist.« »Nun, ich nenne es Mord, denn das ist es doch.« »Meine Güte, wie pathetisch.« »Nein, nein. Das verstehst du falsch.« Henry ging hin und her. »Ich will überhaupt kein Pathos, keine Szene, sondern nur, daß du deine Zähne einsetzt und alles wieder genau wie gestern ist.« »Gestern habe ich die Sache für heute geplant.« »Na, dann eben wie vor zwei Tagen, verdammt noch mal.« »Erlöse mich.« »Erlöse dich selbst«, fuhr Henry ihn an. »Ich hab's versucht«, entgegnete Daddy leise. Versuch's noch mal. Wollte er das wirklich sagen? Jetzt bin ich stocksauer auf Daddy, weil er keinen erfolgreichen Selbstmord zustande bringt. Er macht mit mir, was er will, der gerissene Hund: Jetzt hat er mich soweit, daß mir sein Selbstmord lieber wäre als... als Mord? Ja, genau das. »Wie soll ich dich denn erlösen? Dir eine Plastiktüte über den Kopf stülpen? Hör auf, Daddy.«
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Daddy zögerte. »Um ganz ehrlich zu sein, Henry, ich weiß selbst nicht genau, wie wir vorgehen sollen. Ich habe gewissermaßen Schritt eins verpatzt.« »Dann vergessen wir doch das Ganze, was hältst du davon? Kein Schritt zwei. Erst recht nicht, wenn ich mitmachen soll. Du weißt, ich muß an meine Familie denken.« »Gehöre ich etwa nicht mehr dazu?« »Daddy, bitte.« »Erlöse mich.« »Ich kann nicht.« »Du kommst doch an Medikamente heran. Du könntest mir eine Spritze geben. Oder wenigstens dabeisein und darauf achten, daß ich mir die Spritze auch richtig setze.« Henry blieb stehen. »Mit welchen Medikamenten? Ich komme an Novocain heran. Soll ich dich zu Tode betäuben?« »He. Tod und Betäubung liegen nicht so weit auseinander.« Henry griff nach dem Notrufknopf und drückte fest darauf. »Jetzt reicht's mir, Daddy. Ich gehe.« Daddys Blick ruhte auf ihm. »Wenn es mit mir bergab geht, bringen sie mich ins Bezirkskrankenhaus. Und dann heißt es Apparate, Henry. Apparate.« Wo blieb Schwester Speers denn nur? Er versuchte die Vorstellung von einem an Apparaten hängenden Daddy zu verdrängen. »Meine Zähne, Henry«, meinte Daddy plötzlich. »Mein Gebiß.« Fangen wir jetzt mal von vorne an, dachte Henry. Was hat er nun schon wieder ausgeheckt? »Da drüben, neben diesem Kleiderhaufen auf der Kommode. Diese Banausen haben es nicht mal in mein Prothesenglas gelegt. Nimm es, mein Junge. Schnell, bevor sie
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kommen.« Dann soll ich es ihm also wieder einsetzen, nach allem, was war? Mensch, Daddy, warum haben wir das nicht vor diesen Seelenqualen, dem Fingerbiß und dem hartnäckigen Bananenfleck an meiner Seersuckerjacke getan? Warum hast du dich so geziert? Oder will er, daß ich mich ihm verpflichtet fühle: ich erlaube dir, mir das Gebiß einzusetzen, dafür mußt du mich umbringen? Irgend so etwas. Das klingt mir nach einem fairen Handel, Daddy. Er trat ans Bett, das Gebiß in der Hand, und wartete auf den nächsten Befehl. »Nimm's mit nach Hause«, sagte Daddy. »Ich kann dich nicht nach Hause bringen«, antwortete Henry, der glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Das Gebiß. Nicht mich.« »Nach Hause?« »Damit du daran denkst, daß ich hier bin.« »Ich werde immer daran denken.« »Nimm es mit. Es wird dich ständig in den Hintern beißen wie ein Hund und dich daran erinnern, was du zu tun hast.« »Was ich nicht tun werde, meinst du. Hier.« Er hielt Daddy das Gebiß hin und vergaß dabei, daß dieser sich ja nicht rühren konnte. Daddy schüttelte den Kopf. »Wenn du es nicht mitnimmst, trete ich bei der erstbesten Gelegenheit drauf.« Henry keuchte und drückte die Prothese an die Brust. »Das würdest du nicht tun.« Doch, ich sehe es seinem Blick an. »Überleg doch, was du mir damit antun würdest«, protestierte er. »Überleg du lieber, was du mir antust, wenn du mir nicht sterben hilfst. Apparate, Henry. Ich setze auf dich«, flüsterte Daddy. Von draußen näherten sich Schritte. Daddy schloß die
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Augen, während Henry rasch das Gebiß in der Jackentasche verschwinden ließ, in der ohne Bananenbrei. Henry schnüffelte. Aus der anderen Tasche begann es zu stinken. Als Mrs. Speers den Raum betrat, verschaffte sie sich kurz einen Überblick über die Lage. »So, haben wir nun alle die Augen offen, ja? Na, zumindest Sie«, wandte sie sich an Henry. »Ein solches Theater habe ich ja noch nie erlebt.« »Ich auch nicht«, erwiderte er und ging an ihr vorbei zur Tür. »Ich fürchte, ich kann hier nichts tun, Mrs. Speers.« Sie sah auf Stuart hinunter. »Tja, das scheint mir auch so.« Von Schuldgefühlen übermannt stand Henry an der Tür. Ich muß dich verlassen, Daddy. »Ich möchte, daß Sie ihm so bald wie möglich die Fesseln abnehmen. Wäre es möglich, ihn unter strenge Aufsicht zu stellen? Nötigenfalls würde ich dafür extra bezahlen.« »Wir werden sicherlich gut auf ihn achtgeben«, entgegnete Mrs. Speers mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton. »Und lassen Sie die Sache mit der Zahnprothese fürs erste auf sich beruhen, ja? Darum kümmern wir uns später.« »Wie Sie meinen. Schließlich sind Sie der Zahnarzt, Dr. Miles«, sagte sie, wobei sie das Wort »Doktor« ebenso betonte wie vorhin Daddy. Henry seufzte. Zahnärzte werden von aller Welt nur gehaßt. »Es tut mir sehr leid wegen all dem, Mrs. Speers, glauben Sie mir. Aber ich bin sicher, daß alles wieder in Ordnung kommt.« »O ja, gewiß, da bin ich mir auch ganz sicher.« Ihr Lächeln hat etwas Unheilverkündendes, dachte Henry. Einen Moment lang verharrte er noch an der Tür. Wartete er auf einen heimlichen Segen von Daddy? Da würde er vergeblich warten. Er wandte sich Mrs. Speers zu. »Ich werde jeden Tag
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vorbeikommen«, erklärte er. »Schön.« Bereits im Gehen drehte er sich plötzlich noch einmal um. »Mrs. Speers?« »Ja?« »Ihr Wagen, mit dem Ronald James geflohen ist — hat die Polizei ihn schon gefunden?« »Noch nicht.« Hinter ihnen hob sich Daddys altes, weißhaariges Haupt ein wenig vom Kissen. Ein Auge öffnete und schloß sich. Niemand bemerkte es.
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Kapitel 6 »Schauen Sie nicht so verängstigt, Marty«, sagte June. Marty blickte sich um und sah durch die Heckscheibe von Junes Nissan Sentra, wie sein Dreami Donuts in der Ferne entschwand — wie sein Rettungsring außer Reichweite schwamm. »Sie haben mich gesehen«, murmelte er und kniff angestrengt die Augen zusammen. Aber da gab es nichts mehr zu sehen. Also drehte er sich wieder nach vorn und starrte durch die Windschutzscheibe. Doch er konnte nichts erkennen, obwohl er diese Strecke seit über zehn Jahren tagtäglich zur Arbeit fuhr. »Jeder in meinem Dreami Donuts hat gesehen, wie ich mit Ihnen in den Wagen gestiegen bin. Lou an der Kasse hat mich gesehen, und Frank an der Theke, und jeder einzelne Kunde mit einem Donut im Mund hat mich gesehen. Uns gesehen.« June tätschelte ihm das Knie, und er zuckte zusammen. »Schätze, dann gibt es kein Zurück, hmm?« meinte sie. »Meine Karriere als Geschäftsführer. Meine einundzwanzigjährige Ehe. Aus. Vorbei.« »Machen Sie sich nicht verrückt. Es ist doch nur ein Zwischenspiel, ein kleiner Sonnenstrahl an einem ansonsten trüben Tag voll öder Donuts-Plackerei.« »Meine Arbeit ist alles andere als öde«, verteidigte sich Marty. »Das ist ein allgemeiner Irrtum. Tag für Tag stehe ich vor neuen Herausforderungen.« »Prima«, erwiderte June. »Dann betrachten Sie mich einfach als Ihre heutige Herausforderung.« Warum strenge ich mich nur so an? »Aber Sie sind eine ganz fremde Herausforderung, ich kenne mich nur mit Donuts aus.« »Ach, ich weiß nicht.« Jetzt säuselte sie. »Wir sind doch
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in einer ganz vertrauten Situation.« Dabei schenkte sie ihm einen verruchten Blick und hob eine Augenbraue. »Schließlich hat das, was ich zu bieten habe, auch ein Loch und ist sehr, sehr süß.« Marty erbleichte. »Oh, mein Gott«, stöhnte er. »Mein Gott.« Mit einem Blick auf die Wagentür überlegte er, ob er wohl überleben würde, wenn er aus dem fahrenden Auto sprang. »Sie wollten es doch so, Marty, erinnern Sie sich?« fuhr June ihn an. »Ich glaube, Ihre genauen Worte waren: ›Ich habe größte Lust, mich an ihm zu rächen.‹ Erinnere ich mich recht, daß diese Worte vor nicht einmal fünf Minuten aus Ihrem Munde kamen?« Oder habe ich sie gesagt? Was will eigentlich ich? Mich rächen? Oder will ich im Grunde dich, Henry? »Aber ich habe nicht gesagt, daß es sofort sein muß. Wir könnten doch noch ein, zwei Tage warten.« »Das Schicksal hat uns zusammengeführt, Marty«, seufzte June. »Das Schicksal wartet eben nicht.« »Warum mußte uns das Schicksal ausgerechnet vor meinem Dreami Donuts zusammenführen?« Marty nahm die Papierkappe ab und fummelte nervös daran herum. »Ach, es hat Sie doch keiner gesehen.« »Die Wände bestehen fast nur aus Glas. Es ist ein Fenster zur Welt.« »Niemand hat rausgeschaut. Alle waren viel zu beschäftigt damit, sich Ihre Donuts reinzustopfen.« Martys Miene hellte sich auf. »Meinen Sie wirklich? Ganz im Ernst?« O Himmel! Warum konnte das Schicksal mich nicht in Jeffreys Arme werfen? Warum ist er erst achtzehn und wohnt nebenan? Hätte er nicht älter sein können, meinetwegen auch mit einem Dreami-Donuts-Käppi auf dem Kopf? June starrte Marty an und versuchte, ihn zu verwan-
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deln. Dann antwortete sie: »Ja, das glaube ich wirklich. Jeder Ihrer Kunden schmatzt nur gedankenlos vor sich hin.« »Oh, das ist gleich doppelt gut«, meinte er. »Wie bitte?« »Na ja, erstens, weil jeder meine Donuts so hingebungsvoll und vergnügt verspeist. Ich mache nämlich jeden Morgen mindestens eine Sorte höchstpersönlich, heute zum Beispiel die Bärige Beere. Und zweitens, weil Sie, bestenfalls eine Laufkundschaft, von außen so genau sehen können, was drinnen vor sich geht. Das ist Verkaufspsychologie, der eigentliche Grund für all das Glas. Damit Sie, der potentielle Kunde, hereinschauen können und plötzlich Heißhunger auf Donuts bekommen.« Sein Lächeln wurde immer breiter, und er setzte sich die Papierkappe besonders verwegen auf den Kopf. »He, Marty, wissen Sie was?« »Nein?« »Ich hab all den anderen potentiellen Kunden etwas voraus.« »Und was ist das?« »Ich krieg nicht nur das Donut. Ich krieg den DonutMacher.« Und wenn ich die Augen schließe, sieht er gar nicht so übel aus. Marty begann zu zittern und starrte eine Weile aus dem Fenster. Dann sagte er: »Es ist so was wie ein Geheimnis, aber wissen Sie, wie ich mich manchmal nenne? Wenn ich morgens den Laden öffne, wenn ich im Morgengrauen ganz allein hinten in der Backstube bin, die großen Öfen anheize und das Fett schmelze? Wenn ich diese schweren Mehlsäkke auf die Schultern hieve und alles zusammen in den riesigen Schüsseln verrühre? Menschenskind! Soviel Butter und Eier haben Sie noch nie auf einem Haufen gesehen. Und dann der Zucker, mmmh, schöner, schneeweißer, süßer Zucker. Das wird alles vermischt. Und wenn dann die Do-
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nuts Form annehmen, wenn in der fettgeschwängerten Ofenhitze der Geruch all der süßen Zutaten zusammenströmt und etwas so Machtvolles und Verführerisches entsteht. Eine anständige Verführung! Jeder darf ihr erliegen, denn sie kostet nur vierzig Cent! Ich mache keine leeren Versprechungen, bei mir bekommen die Leute was für ihr Geld. Eine Million Male im Jahr. Ich aber bin der Mann, der hinter all dem steht, der Herr über eine Million Donuts. Mrs. Miles«, sagte Marty mit flackerndem Blick und strahlte dabei eine Hitze ab, als glühe einer der Öfen in seinem Innern, »Mrs. Miles, ich bin Donut Master!« June geriet kurz auf die Gegenfahrbahn, riß den Wagen aber gleich wieder auf ihre Spur zurück. Marty schleuderte vor und zurück, die Kappe rutschte ihm über die Augen. Junes Herz pochte wie wild. Donut Master. Ich lasse Dentist Man zugunsten von Donut Master sausen. Wer wird mein nächster Supermann sein? Der Herr der Abflußrohre? »Ist alles in Ordnung, Mrs. Miles? Ich glaube, meine Begeisterung ist mit mir durchgegangen.« »Es war ziemlich starker Tobak, Marty. Ich bin sehr beeindruckt.« »Also, wenn Sie möchten, dann dürfen Sie mich mit meinem Geheimnamen anreden. Flechten Sie es einfach ab und zu in die Unterhaltung ein. Das hat noch nie jemand getan. Nicht einmal meine Frau. Sie denkt... na ja, sie findet es blöde. Sie versteht es einfach nicht.« »Oh, ich verstehe es... Donut Master.« Marty sog scharf die Luft ein und blickte hastig zur Seite. »Wow.« Sie fuhren weiterhin den MacDade Boulevard entlang. June war nicht abgebogen, weil sie sich noch für kein Ziel entschieden hatte. So konnte sie jederzeit umkehren, zurück zum Parkplatz fahren, Donut Master absetzen und fünfzehn Minuten später zu Hause sein. Und dann? Sich den Hintern
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plattsitzen, bis Dentist Man zu erscheinen geruhte. Sie warf einen Blick auf Donut Master und seufzte. Nun ja, lieber Donut-Spatz in der Hand... »Marty?« sagte sie. »Ja, Mrs. Miles?« Er lächelte. »Rechts oder links?« Sie standen an einer roten Ampel. Martys Lächeln verflüchtigte sich. »Sie fahren doch, oder?« »Na, rein technisch gesehen schon, schließlich sitze ich am Steuer. Aber es handelt sich doch wohl um eine Sache, die uns beide angeht.« »Können wir nicht einfach immer geradeaus fahren und schauen, wo wir rauskommen?« »Tja, Marty«, Junes Finger trommelten aufs Lenkrad, »der MacDade führt auf die I-95 South, und wenn wir den Highway dann nicht mehr verlassen, sind wir in zwei Tagen in Florida, dahinter ist nur noch der Atlantik. Haben Sie denn Lust zu einem Badeausflug?« Die Ampel schaltete auf Grün. »Fahren Sie noch eine Minute weiter geradeaus«, meinte er. »Ich muß nachdenken.« »Aber bitte schnell.« Hatte sich Lotty bei Henry auch so unentschlossen gezeigt? Sie sah den wippenden Taurus vor sich. Ein rhythmisches Wippen, hatte Margo gesagt. Ein rhythmisches Wippen war ganz und gar nicht unentschlossen. Marty räusperte sich. »Ähem, Mrs. Miles, ich hätte da eine Frage, wenn Sie erlauben.« June wandte den Kopf zu ihm und musterte ihn. Er hatte das Dreami-Donuts-Käppi wieder auf dem Schoß und fingerte daran herum. Allmählich lernte sie seine Körpersprache deuten. Kappe auf, und Marty war Donut Master, hatte alles im Griff, war vielleicht sogar wagemutig. Kappe ab, und er wußte beim besten Willen nicht, was er tun sollte.
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Und dann stand es ihr klar vor Augen: Er würde die Kappe im Bett aufbehalten müssen, sonst würde er es niemals bringen. »Nur zu, Marty. Was wollen Sie wissen?« »Na ja«, seine Finger zeichneten das Dreami-DonutsLogo nach, »mir ist nicht ganz klar, warum Sie hier mit mir im Wagen sitzen. Ich meine, was Ihnen Ihr Mann angetan hat, daß wir hier, Sie wissen schon, also so Knall auf Fall zusammen sind. Sie haben seine Tür ordentlich zugerichtet, also, ich meine, Sie haben richtig zugetreten.« »Das ist eine berechtigte Frage«, June streckte das Kinn vor und starrte stur geradeaus. »Ohne in die widerlichen Einzelheiten zu gehen, möchte ich nur soviel sagen: Ich habe erfahren, daß mein Ehemann heute morgen, auf dem Weg zur Arbeit, öffentlich Geschlechtsverkehr mit einer seiner Patientinnen hatte. Oralen Verkehr.« »Mit einer Patientin?« Marty schnappte nach Luft. »Ja.« »Aber das ist ein Verstoß gegen das Berufsethos! Menschen wie Dr. Miles und ich, Respektspersonen auf verantwortungsvollen Posten, sind moralisch verpflichtet, Menschen, die von uns abhängig sind, nicht auszunutzen. Ich bin noch nie einer meiner Kundinnen nähergetreten, und ich werde es auch nie tun. Dr. Miles hätte keinesfalls eine seiner Patientinnen anrühren dürfen!« »Anrühren trifft es wohl nicht ganz.« »Mrs. Miles, es genügt voll und ganz. Denn alles, was darüber hinausgeht, ist praktisch kriminell.« Schwungvoll setzte Marty sich wieder die Kappe auf. »Ich hatte also das Recht, seine Tür einzutreten?« »Sie hatten das Recht, seine Praxis in Schutt und Asche zu legen.« »Hmmm«, überlegte June. »Zwei Vergehen an einem Tag.«
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»Wie meinen Sie das, Marty?« Vor ihrem geistigen Auge stand ein Gebäude in Flammen. Henrys geliebte Praxis brannte lichterloh. Ihr wurde ganz warm ums Herz. »Zwei Vergehen. Eine Patientin angerührt, einen Patienten im Stich gelassen. Mich. Mich und meine arme schmerzende Krone. Ihr Ehemann hat an diesem Maienmorgen schon ganz schön gewütet.« »Und er hat noch den ganzen Nachmittag vor sich.« »Mrs. Miles, ich muß Sie etwas fragen. Waren Sie je in meinem Dreami Donuts? Waren Sie je, antworten Sie nach bestem Wissen und Gewissen, eine meiner Kundinnen?« »Nein. Das hätte Henry nie zugelassen.« »Ich mußte Sie das fragen. Das verstehen Sie doch?« »Ich verstehe und respektiere Ihre Einstellung. Donut Master.« Marty biß sich auf die Unterlippe. Was für eine Wohltat, es ging ihm runter wie Öl. Donut Master. Wer hätte je gedacht, daß er es tatsächlich erleben würde, wie ihn jemand bei seinem Geheimnamen rief? Judy, seine Frau, hatte ihm das immer verwehrt. Sie fand es schmutzig, weil er wollte, daß sie diese zwei Worte flüsterte, während sie es miteinander taten. Und jetzt war er drauf und dran, es mit Mrs. Miles zu tun, er fühlte beinahe ihren heißen Atem an seinem Ohr, während er hier saß und darüber nachdachte. Ja, es gab absolut keinen Zweifel, daß sie seinen Geheimnamen geflüstert hatte. Vielleicht sogar mehrmals. Vielleicht war das ja die Lösung, sie würde gar nichts weiter tun müssen, als es nur immer und immer wieder zu flüstern, während sie angezogen nebeneinanderlagen; das reichte schon, weiter brauchten sie nicht zu gehen. Dann würde er seine Frau gar nicht richtig betrügen. Und war nicht eigentlich sie es, die ihn betrog — um das harmlose Vergnügen, diese zwei Worte geflüstert zu hören? Donut Master. »Mrs. Miles. Ihr Mann hat verdient, was wir ihm antun
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werden, nicht wahr?« Während er sprach, blickte er starr geradeaus. »Ja, Marty, ich denke schon.« Und ich hab mir auch was verdient. Zumindest mehr, als Henry mir gibt, und das, obwohl er anderen gegenüber doch geradezu verschwenderisch damit umgeht. Eigentlich verdiene ich Jeffrey, aber für den Augenblick begnüge ich mich mit dir, Marty. Im Augenblick reichst du. »Und meine Frau wird es niemals erfahren?« »Niemals.« »Und wir werden das, was wir gleich tun, danach nie wieder tun?« »Nie wieder.« Obwohl, wer konnte das wissen? Leichtsinnige June! Wie ausgehungert sie sich plötzlich fühlte. So ausgehungert, daß sie es vielleicht wieder und wieder tun mußte. Henry, rette mich! »Ich habe eine Rechnung offen, und Sie haben eine Rechnung offen.« »Ja, ganz genau. Wir sind uns in allen Punkten einig«, versicherte June. »Wir wollen eine Rechnung begleichen, aber zuerst müssen wir eine Entscheidung treffen. Nämlich über das Wo.« Rette mich! Marty kniff die Augen zusammen. »Eine Videokamera«, sagte er unvermittelt. June schürzte die Lippen. »Ich mache nichts Perverses«, entgegnete sie ruhig. »Haben Sie eine?« »Haben Sie nicht gehört, Marty? Solche Spielchen sind nichts für mich.« June überlief eine Gänsehaut: Er ist einer dieser psychisch Angeknacksten, von denen man immer liest. Zuerst meint man, daß man ihn kennt, aber diese Donuts-Masche und das alberne Papierkäppi sind nur dazu da, einen einzulullen. Plötzlich sitzt er dann neben dir im Wagen und redet davon, daß er mit dir perversen Schweinkram
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vor der Videokamera machen will. Später wird man irgendwo meine Leiche finden. Vielleicht im Container hinter dem Dreami Donuts, gefüllt mit Vanillecreme und mit Puderzucker bestäubt. Dann wirst du die Geschichte mit Lotty Daniels bereuen, Henry, nicht wahr? Aus den Tiefen ihrer Lungen wollte sich ein Schrei lösen, doch da sprach Marty hastig weiter. »Nein, nein, nein, Mrs. Miles. Keine Spielchen, es geht um den Beweis.« Als er den Schreck in ihren Augen sah, wurde er ebenfalls nervös. »Um ihn Dr. Miles zu präsentieren, verstehen Sie nicht? Wie soll er sonst wissen, daß wir unsere Rechnungen mit ihm beglichen haben? Und ist es nicht am wirkungsvollsten, wenn er uns tatsächlich zusammen sieht? Glauben Sie, daß er danach jemals wieder eine Patientin belästigt? Oder daß er noch einmal einen armen Kerl mit Zahnschmerzen im Stich läßt? Er wird zu Ihnen zurückkehren, Mrs. Miles, als geschlagener Mann. Auf Knien wird er zu Ihnen zurückrutschen.« June atmete tief durch. Also würde Marty sie nicht mit Zucker bestreuen und in die Mülltonne werfen. »Eine Videokamera, ja?« »Videofilme haben das Weltbild des ganzen Landes von Grund auf verändert.« »Jedenfalls würde es Henrys Weltbild von Grund auf verändern.« Ich und der Zucker-Dealer. Vielleicht würde sie Marty ja doch ermuntern, sie mit Zucker zu bestreuen und dann langsam jedes einzelne Körnchen von ihr abzulecken! Dann würde Henry es sich in Zukunft zweimal überlegen, bevor er Patientinnen an seinem Lutscher nuckeln ließ. »Haben Sie denn eine Videokamera?« fragte Marty. »Bei mir ist so etwas finanziell leider nicht drin.« »Ja, wir haben zwei.« »Sie haben gleich zwei Videokameras?«
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»Ja, ich weiß auch nicht genau, warum«, erwiderte sie vage. »Henry hat gemeint, daß es gut sei, eine in Reserve zu haben.« Ungläubig starrte Marty sie an. »Was für ein Ungeheuer kauft eine zweite Videokamera, nur um sie in Reserve zu haben?« »He, Marty«, Junes Stimme klang schneidend. »Er ist ein Ungeheuer, weil er es mit einer Patientin treibt und Sie mit Ihrem schmerzenden Zahn weiter leiden läßt. Aber ich glaube wirklich nicht, daß man ihn als Ungeheuer bezeichnen kann, weil er zwei Videokameras besitzt.« Marty schwieg. »Außerdem ist eine gerade kaputt und in Reparatur. Halten Sie jetzt mehr von dem Zweitgerät?« »Es ist ungerecht«, brummte er. »Was?« »Daß ein Mann, der sich so aufführt wie Ihr Mann heute, mehrere Videokameras besitzt. Videokameras in Hülle und Fülle hat.« »Dann sagen Sie ihm das, während wir es vor einer dieser Kameras treiben. Reiben Sie es ihm unter die Nase. Geben Sie's ihm, Marty. Machen Sie ihn fertig, Junge.« »Sie machen sich lustig über mich.« »Nein, ich will es mir mit Ihnen lustig machen«, erwiderte sie und ließ einen Finger sein Bein hinaufgleiten. »Jetzt wissen wir also, wo wir hingehen, stimmt's? Ins VideoSchlaraffenland, wo die Kameras auf Bäumen wachsen. Zu mir nach Hause. Das haben wir doch jetzt entschieden, oder?« »Ja, ich nehme an, das haben wir.« Zwar streifte Marty kurz mit der Hand seine Kappe, aber er behielt sie auf. June beobachtete ihn. Puh, das war knapp. Wenn ich ihn jetzt den ganzen Weg bis nach Hause bringe, aus dem Wagen heraus und die Treppen hoch ins Schlafzimmer, ohne
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daß er die Kappe abnimmt, dann habe ich's geschafft. Oder nicht?
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Kapitel 7 Henry stürmte aus Fox Glen hinaus. Sein Ford Taurus schien kilometerweit weg geparkt. Keuchend rannte er darauf zu. Endlich angekommen, glitten ihm zweimal die Schlüssel aus der Hand, ehe er aufsperren und sich auf den Fahrersitz fallen lassen konnte. Er drehte den Zündschlüssel noch nicht gleich um. Statt dessen ließ er langsam den Kopf nach vorne sinken, bis seine Stirn auf dem gepolsterten Rechteck zu ruhen kam. Henry schloß die Augen und stellte sich vor, der Airbag habe sich zu seiner Sicherheit und Bequemlichkeit aufgeblasen, damit er sein müdes Haupt auf dieses weiche Kissen betten konnte. Ah, ja, weich wie die Brüste einer Frau — Junes Brüste; er fand Trost und Labung in den üppigen, einladenden Rundungen ihres Fleisches. Es war so warm. Niemand konnte ihm etwas anhaben, keiner konnte ihn zu etwas zwingen, was er nicht tun wollte. Junes Busen würde ihn umschließen, würde immer für ihn da sein, verborgen in seiner Lenksäule, um ihn vor der Unbill des Lebens zu schützen. Er hielt die Augen geschlossen. Es war tatsächlich warm. Junes Busen, Daddys Gebiß, das alles ergab keinen Sinn. Warum war es so warm hier? Langsam und benommen öffnete er die Augen. Sein Wagen hatte über eine Stunde in der brütenden Maisonne gestanden. Wieviel Grad mochte es haben, sechzig? Er kurbelte auf beiden Seiten die Fenster herunter. Kühle Luft drang herein und belebte ihn. Ein wenig. Beinahe wäre er an einem Hitzschlag gestorben, so wie die Hunde, die im Sommer im Auto eingesperrt warten mußten. Hunde? Von wegen, heutzutage sind es Kinder. Trotz der Hitze überlief ihn ein Schauder. Hatte er das vorgehabt — hier zu sterben, seinen gelieb-
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ten Taurus zu seiner letzten Ruhestätte zu machen? Moment mal. Er sah aus dem Fenster auf Fox Glen. Warum setzt du nicht einfach Daddy hier in den Taurus rein? Du sagst Schwester Speers, du willst mit ihm einen Ausflug machen, setzt ihn in den Wagen und gehst einfach fort. Alles weitere wäre Daddys Sache. Ob er die Fenster runterkurbelt oder nicht, wäre seine Entscheidung. Andererseits, ich weiß nicht so recht — würde Daddys Ableben womöglich die Sitze in Mitleidenschaft ziehen? Ich bin dem Untergang geweiht. Dem sicheren Untergang. Henry ließ den Wagen an und fuhr die lange Auffahrtsallee von Fox Glen entlang. Ich wußte es schon, als ich heute morgen die Augen aufschlug. Andererseits weiß ich das jeden Morgen. Ja, aber das ist mein alltägliches Untergangsgefühl, mit dem ich ganz gut zurechtkomme. Der heutige Untergang hat eine ganz andere Qualität. Heute morgen stand Daddy auf der Liste ziemlich weit unten. Und jetzt ist er ganz oben, auf Platz eins. Na, meinetwegen soll er ruhig dort bleiben. Ich werde ihn jedenfalls nicht von Platz eins streichen, das tue ich einfach nicht! Ich muß auf der Stelle etwas Lebensbejahendes tun, dachte er, als er das Ende der Zufahrt erreicht hatte. Vor ihm erstreckte sich die Welt, die — da war er ganz sicher — berstend voll von wunderbar lebensbejahenden Dingen war. Nur fiel ihm kein einziges ein. Den Rest des Nachmittags mußte er nicht in der Praxis zubringen, das war doch schon etwas Lebensbejahendes. Oder? Andererseits würde ihn die Arbeit an Patienten vielleicht von Daddy ablenken. Warum habe ich Rita nur alle Termine absagen lassen? Na, vielleicht läuft mir ja ein Patient über den Weg, so wie heute morgen Lotty Daniels! Wenn sich nichts anderes findet, kann ich immer noch Marty Marks Krone reparieren. Er dachte daran, wie Marty auf dem MacDade Boulevard hinter seinem Wagen hergehechelt war und wüste Beschimp-
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fungen ausgestoßen hatte. Nein, so dringend habe ich es nicht nötig, soll der Wicht ruhig noch ein bißchen leiden. Aber Lotty? Ich könnte ja einen Hausbesuch machen. Henry dachte darüber nach. Nein, entschied er, damit würde er nur einen Präzedenzfall schaffen. Einen äußerst ungünstigen Präzedenzfall. Denn dann würde er den Rest seines Berufslebens von Haus zu Haus hetzen und Gebrechliche und Bettlägerige versorgen. Selbstverständlich hatten auch solche Leute eine gute zahnärztliche Behandlung verdient. Doch es würde ihn zu sehr anstrengen, zu sehr verunsichern, diese immer wieder fremden Umgebungen, diese unbekannten Gerüche. Leute, die ans Haus gefesselt sind, haben Zeitungsstapel bis unter die Decke und jede Menge Katzen. Und große, altmodische Röhrenradios, aus denen längst vergessene Rundfunksendungen dröhnen. Ziemlich unheimlich. Außerdem, wie kam er überhaupt darauf? Zahnärzte machten keine Hausbesuche. Warum habe ich dann Schuldgefühle? Er verharrte immer noch am Ende der langen Auffahrtsallee von Fox Glen. Wegen Daddy. Er macht mir alles madig. Ich werde nie mehr einen lebensbejahenden Augenblick erleben, solange ich ihm nicht seinen todesbejahenden Gefallen tue. Den ich ihm aber verweigere, und somit geht es mir dreckig, bis er eines natürlichen Todes gestorben ist. Das aber wird nie geschehen, weil Schwester Speers ihn bei den ersten Anzeichen seines nahenden Endes ins Bezirkskrankenhaus einliefern wird, wo sie ihn an die Herz-Lungen-Maschine anschließen werden. Und dann bin ich doppelt angeschmiert, denn Daddy hat recht: Ich werde nicht den Mumm haben zu sagen, sie sollen die Maschine abstellen. June, rette mich. Halt mich. Laß mich an deinem weichen Airbag-Busen ruhen, ehe mir der Schädel platzt. Henry betätigte den linken Blinker. Links liegt mein Heim, wartet meine Frau, meine lebensbejahende Gefährtin, die in allen
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Krisen des Lebens zu mir steht. Hatten sie schon jemals in einer Krise gesteckt? Na ja, die Zwillinge, die waren doch eine Dauerkrise. Nein, eher eine permanente Zumutung, abgesehen von kurzen Unterbrechungen. Das Zahnarztstudium war zweifellos eine harte Zeit gewesen; June hatte als Sekretärin bei diesem Toyota-Händler gearbeitet, und ihr Chef hatte sie ständig in den Hintern gekniffen. Aber das war mehr eine Zeit der Prüfung gewesen als eine Krise. Henry lauschte dem Klicken des Blinkers. Na schön, diese Geschichte mit Daddy war also ihre erste richtige Krise. Ihrer ehelichen Verbundenheit stand eine harte Belastungsprobe bevor. Aber sie würden es überstehen, ihre Ehe würde gefestigt daraus hervorgehen. Henry mußte schlucken, als er an June dachte, die arglos und friedlich zu Hause saß und keine Ahnung hatte, was über sie hereinbrach. Kein Zweifel, das wird ihr den Tag gründlich verderben, das wird die heitere Gelassenheit ihres häuslichen Tagesrhythmus erschüttern. Doch sie wird darüber hinwegkommen. Und ich auch. Wir werden es schaffen. So gesehen ist diese Geschichte mit Daddy beinahe ein Segen. Sie zwingt uns, über uns hinauszuwachsen, uns dem zu stellen, was wir nicht wahrhaben wollen. Gemeinsam. June und ich. Zusammen schaffen wir es. Der Blinker klickte. Henry verharrte noch immer reglos. Hmmm. Dann ziehe ich also June in die Sache mit hinein. Henry und June bringen Daddy gemeinsam um. Das würde ihre Ehe in der Tat auf die Probe stellen, und wie! Aber wäre es nicht besser, wenn ich June überreden könnte, Daddy allein zu töten? Henry leckte sich über die Lippen. Zum erstenmal, seit er Daddys Zimmer verlassen hatte, keimte ein klein wenig Hoffnung in ihm auf. Schweig still, innerer Schweinehund. Natürlich war der Gedanke, June darum zu bitten, ein bißchen schäbig. Aber wenn man es leidenschaftslos betrachtete, war es eine sehr eingängige Idee,
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vom emotionalen wie auch vom finanziellen Standpunkt aus. Denn wenn ich meinen Vater umbringe, mein eigen Fleisch und Blut, werden mich schwere seelische Traumata plagen, diese ganze Ödipus-Geschichte, und womöglich erhole ich mich niemals davon. June hingegen würde es zwar auch ziemlich aus dem Gleichgewicht bringen, aber irgendwann hätte sie die Sache überwunden. Also: schweres Trauma oder vorübergehende Störung des seelischen Gleichgewichts. Sie ist für diese Aufgabe eindeutig besser geeignet als ich. Und im Hinblick auf das Wohlergehen der Familie ist es am besten, wenn ich nicht direkt damit befaßt bin. Ich bestreite den Löwenanteil unseres Einkommens. Sicher, mit ihren drei Tagen im Einkaufszentrum leistet auch June ihren Beitrag, aber die Last der familiären Existenzsicherung ruht auf meinen müden Schultern. Und wenn ich in den Knast wandere, wird es bei den Zwillingen auch nicht mehr lange dauern. Wenn die Sache mit Daddy schiefgeht, wenn sie mich erwischen und — o Gott — auf dem elektrischen Stuhl hinrichten, können sie die Zwillinge ebensogut gleich auf meinen Schoß setzen, bevor sie mich festschnallen und den Hebel betätigen. Wenn aber June erwischt wird — tragisch, gewiß, aber kein finanzieller Ruin. Ich bin ein Schwein. Henry schaltete den Blinker aus und sackte auf dem Fahrersitz zusammen. Schau, Daddy, was du aus meiner Ehe gemacht hast! Deinetwegen überlege ich schon, wie ich es anstelle, daß nicht ich, sondern meine Frau in der Todeszelle landet. Ich kann nicht nach Hause, noch nicht. Wenn ich heimfahre, kann ich bestimmt den Mund nicht halten, ich werde versuchen, June in die Sache hineinzuziehen. Warum bin ich so ein Schwächling? Warum kann ich meinen eigenen Vater nicht ganz allein umbringen? He, wie wär's mit den Zwillingen? Henry zuckte zusammen, doch der Gedankengang nahm seinen unerbittlichen
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Lauf. Wenn die Zwillinge die Sache in die Hand nehmen, bekommen sie nur eine Jugendstrafe und müssen eine Weile in eine Besserungsanstalt. Halt ein, Henry, halt ein. Verschließe deine Ohren vor den Einflüsterungen des Satans. Was richtete der Satan eigentlich in seinem Magen an? In seinen Eingeweiden blubberte und brodelte es wie in einem Hexenkessel, ätzende Säure zersetzte seine Magenschleimhaut. Wenn er nicht auf der Stelle etwas in den Bauch bekam, würde sein Körper anfangen, sich selbst zu verdauen. Erst etwas essen, dann nach Hause fahren. Er sah auf seine Uhr. Halb zwei. Nach diesem Vormittag habe ich mir einen Happen verdient. Einen verspäteten Mittagsimbiß bei Rio's Grill in Morton, einen fetttriefenden Hamburger mit ein paar lebensbejahenden Pommes. Wenn ich erst mal was im Magen habe, kann ich vielleicht wieder klar denken. Er schnüffelte im Wagen herum. Was für ein Gestank. Die Banane, die hatte er ja ganz vergessen! Als er sich aus der besudelten, intensiv duftenden Jacke schälte, fiel das Gebiß seines Vaters klappernd aus der anderen Jackentasche und landete in seinem Schoß. Entsetzt blickte er darauf. Die Zähne schienen im Begriff, nach seinen männlichen Geschlechtsteilen zu schnappen, die obere Zahnreihe lag links, die untere rechts von seinem Hosenschlitz. Daddy, nein! Henry schlug nach ihnen, und da hüpften sie auf den Beifahrersitz. Henry drückte aufs Gas und bog mit quietschenden Reifen in die Ripley Road ein. Erst als er sich bereits dem Ortsrand von Morton näherte, riskierte er einen erneuten Blick auf die Prothese. Neben ihm auf dem Sitz lag Daddys edelstes Teil. Das war es, auch wenn es Henry angegriffen hatte. Es tat ja nur, was ihm sein Herr gebot. Einer der Backenzähne funkelte im Sonnenlicht. Henry überlegte, ob dieses Gebiß, seine Schöpfung, nicht etwas Unsterbliches war. Wenn der Zahn der Zeit Daddys Knochen zu Staub zermahlen hat, werden
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diese Zähne übrigbleiben. Welch erhebender Gedanke: Mein Werk ist dauerhafter als das Gottes! Hätte Gott statt organischem Gewebe und Knochen Polymere benutzt, wäre ich womöglich arbeitslos. Rio's Grill. Henry lenkte den Wagen auf den öffentlichen Parkplatz gleich neben dem Gebäude. Zögernd streckte er die Hand aus und griff nach dem Gebiß, legte die beiden Hälften aufeinander und hielt sie in Augenhöhe. Stumm betrachtete er sie. »Daddy, Daddy, Daddy«, flüsterte er dann. Das Gebiß grinste ihn an. »Was sollen wir bloß mit dir machen?« Wir? June und ich? Ich und die Zwillinge? »Was soll ich bloß mit dir machen? Nur ich, ich ganz allein! Niemand sonst. Ich bin für dich verantwortlich, ich ganz allein.« Außer wenn mir vielleicht freiwillig jemand hilft. Dafür könnte ich ja nichts, oder? Das Gebiß grinste ihn weiterhin an. »Sprich zu mir, Daddy. Hilf mir aus der Patsche. Sag mir, daß du heute nacht einfach ganz friedlich entschlummern wirst.« Henry faßte das Gebiß fest ins Auge. Es grinste nach wie vor — doch nicht nur das. Henry beugte sich vor und blinzelte, als traue er seinen Augen nicht. Die Prothesen schienen zu zucken. Es kam ihm vor, als hielte er eine der Springmäuse seiner Söhne in der Hand. Doch er ließ das Gebiß nicht los (anders als die bedauerliche Springmaus, die er versehentlich in den Müllschlucker hatte fallen lassen). Nein, seine Hand blieb ruhig, während er darauf wartete, was unweigerlich als nächstes kommen würde. Unter Henrys starrem Blick begannen die Zahnreihen ein wenig auseinanderzuklaffen, dann noch ein Stück weiter... der Mund begann sich langsam zu öffnen. Wirklich? Nein. Doch, er öffnete sich, jawohl, um zu ihm zu sprechen! Um ihm weitere Anweisungen zu geben? Um
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Daddys Bitte zu widerrufen? Was? Was? Vielleicht war Daddy tot, gerade eben gestorben! Passierten solche unheimlichen Dinge, etwa daß Gebisse zu sprechen anfingen, nicht gewöhnlich in dem Augenblick, da jemand starb? Jetzt kommt es: Erlöst mich von meiner Sohnespflicht, o ihr Zähne Daddys! Sagt, daß ich es nicht tun muß. Sagt es, sagt es... »Sag es, verdammt!« brüllte Henry das Gebiß an. Klopf, klopf, klopf. Morsezeichen? dachte Henry. Wollen mir seine Zähne die Botschaft im Klopfalphabet herüberklappern? Klopf, klopf, klopf. »He, Mann! Sie da!« drang von draußen eine Stimme in den Wagen. Henry fuhr herum, als ein Koloß von einer Frau in einer blauen Uniform abermals an sein Fenster klopfte. »He, Sie da drin«, sagte sie. Henry schloß die Hand um das Gebiß und ließ es rasch aus dem Blickfeld der Uniformierten verschwinden. Dann kurbelte er langsam das Fenster herunter. »Ja, Sergeant?« Nur mit Mühe brachte er die Worte heraus. Mein Gott, Daddy, du bescherst mir schon Schwierigkeiten mit der Polizei, noch bevor ich dich umgebracht habe! »Nicht ›Sergeant‹, um genau zu sein«, erwiderte die Uniformierte und versuchte, an ihm vorbei ins Wageninnere zu spähen. Henry hielt das Gebiß weiterhin verborgen. »Verkehrsüberwacherin Johnson«, stellte sie sich vor. »Verkehrsüberwacherin.« Finster blickte sie ihn an. »Haben Sie irgendwelche Probleme damit?« »Oh, nein, nein. Keine Probleme, Sergeant. Verkehrsüberwacherin Johnson, wollte ich sagen.« Ihre Miene verdüsterte sich noch mehr. »Ich hab die Zähne da gesehen. Und wie Sie mit ihnen geredet haben.« »Das kann ich Ihnen erklären...«
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»Ich möchte in meinem Bezirk keinen Ärger. Weder mit Zähnen noch mit sonst was.« »In Ihrem...?« »In meinem Bezirk, sprich, auf diesem Parkplatz.« Henrys Blick wanderte von besagtem Parkplatz zu der massigen, bedrohlich dreinschauenden Verkehrsüberwacherin und wieder zurück zum Parkplatz. Waren das Parkuhren oder die Grabsteine unglücklicher Autofahrer, die sich mit dieser Hünin angelegt hatten? Er spürte ihren Atem an seiner Wange. Und roch ihn auch. Ein Abszeß im Mund, eine akute Zahnfleischentzündung? »Ich versichere Ihnen, ich mache keinen Ärger«, sagte Henry. »Sie reden mit Zähnen, und das sieht mir verdammt nach Ärger aus«, gab sie zurück und lehnte sich dabei gegen den Wagen. Henry hörte, wie sich das Türblech einbeulte. »Wie gesagt, ich kann Ihnen das erklären...« »Ich sag Ihnen, was mir noch nach Ärger aussieht«, schnitt sie ihm das Wort ab und deutete auf die Parkuhr vor Henrys Taurus. »Sie haben keine Münze eingeworfen.« Henry starrte durch die Windschutzscheibe auf den blutroten Wimpel, der das kleine Anzeigefeld der Parkuhr ausfüllte. »Ich bin doch gerade erst gekommen. Ich hatte noch keine Zeit, eine Münze einzuwerfen«, piepste er. »Sie hatten Zeit, sich mit Ihren Zähnen zu unterhalten«, erwiderte sie. »Das sind nicht meine Zähne.« Henry bemerkte, daß die Hand der Politesse zu dem Halfter hinabglitt, das an ihrem großen schwarzen Ledergurt befestigt war. Mein Gott, Tränengas! Sie knüppelt mich mit der chemischen Keule nieder. »Wem gehören denn die Zähne?« fragte sie betont langsam. »Meinem Vater. Es sind nicht seine echten Zähne, es ist
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eine Zahnprothese.« »Wo ist Ihr Vater?« Forschend spähte sie ins Wageninnere. »Er lebt noch.« Henry schrie die Worte fast heraus. »Habe ich das Gegenteil behauptet?« entgegnete Verkehrsüberwacherin Johnson mißtrauisch. Behutsam zog sie die chemische Keule aus dem Lederhalfter. »Nein, ich meine, natürlich lebt er noch, es geht ihm gut, er ist wohlauf. Er wohnt in Fox Glen. Er lebt, ist wohlauf, wohnt in Fox Glen und hat mir sein Gebiß mitgegeben. Wirklich.« »Braucht er es denn nicht?« »Das habe ich ihn auch gefragt. ›Daddy‹, habe ich gesagt, ›du brauchst doch dein Gebiß.‹ Aber was sollte ich machen?« Verkehrsüberwacherin Johnson schwieg. Ihre Finger trommelten auf dem Halfter des Tränengasknüppels. »Und ich bin Zahnarzt«, fuhr Henry fort. »Ich war gerade dabei, seine Prothese zu überprüfen. Sie macht ihm Schwierigkeiten, wissen Sie. Möglicherweise stimmt irgendwas nicht damit, deshalb hat er sie mir mitgegeben. Ich soll sie untersuchen und in Ordnung bringen. Dann gebe ich sie ihm zurück, und alles ist in Butter.« »Zeigen Sie mir Ihre Papiere.« »Meinen Führerschein?« Henry griff nach seiner Brieftasche. »Ihre zahnärztliche Zulassung.« »Meine Approbation als Zahnarzt? Die bekommt man nicht in Form von kleinen, handlichen Karten oder so. Ich habe ein Diplom, das hängt in meiner Praxis an der Wand. Und eine gerahmte Mitgliedsurkunde von der amerikanischen Zahnärztekammer.« »Hmm«, meinte sie und trommelte immer noch mit den Fingern. »Ich weiß nicht recht.«
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»Augenblick, ich kann es Ihnen beweisen!« rief Henry und deutete auf ihren Mund. »Da ist doch irgendwas nicht in Ordnung, stimmt's? In Ihrem Mund. Sie haben Schmerzen. Hab ich recht? Hab ich recht?« Die Hand der Frau löste sich von der Waffe, und sie strich sich über die rechte Wange. Nun schaute sie nicht mehr finster drein, sondern war offensichtlich beeindruckt. »Donnerwetter«, sagte sie, »woher wissen Sie das?« »Weil ich eben Zahnarzt bin. Ich erkenne die Anzeichen«, erwiderte Henry mit stolzgeschwellter Brust. Tja, Dentist Man, immer wachsam, allzeit bereit! »Was haben Sie erkannt?« Jetzt hatte er sie in der Hand. »Eigentlich nur den Geruch. Ihr Atem — nun, wie soll ich sagen? — riecht nach einer Infektion.« Verkehrsüberwacherin Johnson nickte ernst. »Ja, ich hab in letzter Zeit ziemlich Mundgeruch.« »Und Sie haben Schmerzen. Zähne? Zahnfleisch?« »Sowohl als auch. Blutet beim Zähneputzen.« »Hmm, hmm«, nickte Henry. »Das klingt gar nicht gut. Benutzen Sie Zahnseide?« »In letzter Zeit nicht, wegen der Schmerzen.« »Lassen Sie mich lieber mal einen Blick darauf werfen.« »Jetzt gleich?« »Aber sicher. Sie müssen doch behandelt werden. Wie könnte ich mich guten Gewissens Zahnarzt nennen, wenn ich in einem zahnärztlichen Notfall nicht erste Hilfe leiste?« Er dachte an Marty Marks. Zum Teufel mit dem kleinen Scheißer. »Kommen Sie, nur keine Scheu. Beugen Sie sich ein wenig vor.« »Wenn Sie meinen, Doktor.« Henry steckte den Kopf aus dem Fenster, während die Politesse mit ihrem großen Gesicht so nahe herankam, daß
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Margo Zimmerman, die ihren Wagen gerade ein paar Meter weiter parkte, es nicht fassen konnte — ihr Glück nicht fassen konnte. Ganz offensichtlich ließ sich Henry Miles in seinem Ford Taurus gerade wieder mit einer Frau ein — denn schließlich war es nicht einmal vier Stunden her, seit sie ihn in einer ähnlichen Haltung mit Lotty Daniels ertappt hatte. Nicht, daß sie Henry gefolgt wäre. Sie wollte nur ein paar Einkäufe erledigen, und da stieß sie bereits wieder auf ihn — und diesmal war er mit einer Politesse zugange! Plötzlich durchzuckte Margo ein Gedanke, bei dem ihr das Blut in den Adern gefror: Verfolgt er womöglich mich? Ist er vielleicht so ein perverser Exhibitionist, der möchte, daß ich den ganzen Tag seine sexuellen Aktivitäten mitansehe? Bin ich sein Opfer? Die Klatschtante in ihr raunte, sie solle bleiben und weiter zusehen, das Opfer in ihr riet zur Flucht. Schließlich ließ sie den Motor an und fuhr aus der Parklükke heraus, verstört und glücklich zugleich. Sie mußte sofort June anrufen. Und eine Menge andere Leute. Henry sah kurz auf, als ein roter Kleinbus vorbeischoß, der ihm irgendwie bekannt vorkam; dann widmete er sich wieder den Zahnproblemen von Verkehrsüberwacherin Johnson. Gott, wie sie stank! Ihr Atem war von der Sorte ›räudiger Köter‹. Das erinnerte ihn — komisch, was Gerüche in uns auslösen können — an Punky, den alten Collie, der in der Nachbarschaft gewohnt hatte, als Henry noch ein Kind war. Punky war der einzige ihm bekannte Hund, der eingeschläfert worden war, weil er so aus dem Maul stank. Konzentriere dich auf deine Arbeit, Henry. Er spähte in den weitaufgerissenen Mund vor ihm. Doch wieder schweiften seine Gedanken ab. All diese offenen Münder. In wie viele habe ich im Lauf der Jahre schon hineingesehen? In zu viele. Meine Welt ist acht Zentimeter hoch, acht breit und acht tief — die Größe einer geballten Faust. Mit seiner eigenen Faust hielt er noch immer
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Daddys Gebiß umklammert. Henry spürte, wie sich die Zähne allmählich in seine Handfläche gruben. Daddy nagte an ihm. Er schaute in den aufgerissenen Mund von Verkehrsüberwacherin Johnson, in die vertraute Umgebung seiner Welt. Und während er den offenen Mund betrachtete, sah er alle Münder aller Patienten, die er jemals behandelt hatte. Tausende von klaffenden Mündern, ein tanzender Reigen aufgerissener Mäuler. Würden sie sein Loblied singen oder einstimmig in ein Heulen und Zähneklappern ausbrechen, das ihn zerschmettern würde? Henry zitterte. Hassen sie mich oder lieben sie mich? Oder bin ich ihnen so gleichgültig, daß sie weder das eine noch das andere empfinden? Ich bin nur der Handlanger, der Schmerz und Verfall beseitigt. Daddy, vielleicht solltest du mich umbringen! »Was sehen Sie denn?« krächzte Verkehrsüberwacherin Johnson. »Meine Zunge wird schon ganz trocken.« Pflichtschuldig blickte Henry in ihren übelriechenden Schlund und blinzelte, als sie ihm ihren Atem ins Gesicht blies. Punky, der Collie, als Politesse wiedergeboren. Als die Frau wieder sprach, vernahm Henry nur ein Bellen und Knurren. »Wuff, wuff«, sagte sie. »Wau, wau, wau.« »Hm, genau«, erwiderte Henry. »Ich glaube, ich sehe da etwas.« »Wuff?« »Ja. Am Zahnbett von Nummer zweiundzwanzig, Ihrem unteren rechten Backenzahn. Gerötete Zahnfleischtasche mit leichtem Sekretabfluß.« »Wau, wau, au, au, au.« »Ja, das tut sicher ganz schön weh.« Sein Blick schweifte von ihrem Mund zu ihren Augen. Verkehrsüberwacherin Johnson ist nicht Punky, der Collie. Sie ist ein menschliches Wesen. Meine Patienten sind offene Münder mit Menschen daran. Das darf ich nicht vergessen. Mein Beruf ödet mich
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keineswegs an, ich habe nur gerade einen schlechten Tag. Morgen werde ich wieder glücklich sein. Ich werde meine Patienten lieben und sie mich auch. Warum bis morgen warten? Ich werde Verkehrsüberwacherin Johnson hier und jetzt meine Liebe erklären und so meinem Tag eine entscheidende Wendung geben. Er lächelte sie an. Er liebte sie. »Sie grinsen ja«, knurrte sie. »Ja.« »Ich kann es nicht ausstehen, wenn Zahnärzte einen angrinsen.« »Ich lächle, weil ich...« »Sie grinsen, weil ich Schmerzen habe.« Verärgert trat sie einen Schritt zurück. »Aber nein, das ist nicht wahr.« »Doch.« »Das ist ein dummes Vorurteil. Zahnärzte sind keine Sadisten, die anderen absichtlich Schmerz zufügen.« »Klar sind sie das.« »Ich möchte Ihnen helfen. Deshalb bat ich Sie, mich in Ihren Mund sehen zu lassen.« Wie groß sie ist. Ein großes, muskulöses, uniformiertes Weib, und ich bringe sie in Rage, obwohl ich es doch gar nicht will. »Bitte«, flüsterte er wehleidig. »Sie haben mich von meiner Arbeit abgehalten.« »Nein.« Kaum mehr als ein Pieps. »Und ich mag es nicht, wenn man mich von der Arbeit abhält.« Henry sah, wie ihre rechte Hand wieder zu ihrem Ledergurt hinabglitt. Verkehrsüberwacherin Johnson sagte: »Dafür werden Sie zahlen.« »Bitte nicht.« Würde sie ihn erst mit dem Knüppel ohnmächtig schlagen und dann mit Tränengas besprühen, oder
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kam erst das Tränengas, dann der Knüppel? Wenn sie es mit dem Tränengas übertreibt, werde ich auf Dauer erblinden! Henry schloß die Augen und harrte der Dinge, die da kommen würden. »Betteln hilft nichts.« Henry lauschte auf das giftige Zischen des Tränengases. Statt dessen hörte er das Rascheln von Papier. Er schnupperte vorsichtig. Noch immer kein Tränengas. Er öffnete ein Auge, dann das zweite. Verkehrsüberwacherin Johnson kritzelte etwas auf einen Block. Dann riß sie das Blatt ab und reichte es ihm durchs Fenster. Henry las. »Ein Strafzettel«, stellte er fest. »Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, Paragraph 352-B. Das macht fünf Dollar, Mister Zahnarzt. Sie waren zu knickrig, zehn Cent einzuwerfen, und das kostet Sie jetzt fünf Dollar.« »Ein Strafzettel«, wiederholte Henry, der sein Glück nicht fassen konnte. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen noch einen verpassen, weil Sie versucht haben, eine Politesse mit einer kostenlosen zahnärztlichen Behandlung zu bestechen.« »Aber ich habe Sie doch nur untersucht. Zur Behandlung bin ich gar nicht mehr gekommen.« »Klugscheißer.« Verkehrsüberwacherin Johnson steckte ihren Block ein und trat zurück. Henry hielt den Mund. »Okay«, fuhr die Politesse fort. »Eins muß ich Ihnen noch sagen. Die Verhaltensregeln für Angehörige der Polizei schreiben vor, daß jeder Bürger nach der Klärung eines Sachverhalts höflich zu verabschieden ist. Dazu bin ich verpflichtet, verstehen Sie?« Henry nickte stumm und versuchte, ihr in die Augen zu sehen. »Also tue ich es«, fuhr sie fort, ohne seinen Blick zu er-
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widern, »weil ich mich an die Vorschriften halte, wie sie auch lauten mögen. Im Gegensatz zu Ihnen, der Sie zu geizig sind, Ihre zehn Cent zu blechen. Also, Mr. Zahnarzt. Gemäß den Verhaltensregeln für Angehörige der Polizei in der Gemeinde Morton, Pennsylvania, sage ich: Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« Henry brachte ein schwaches Lächeln zustande. Es war vorüber. Doch anstatt zu gehen, trat die Politesse näher heran, sie kroch förmlich durch das Wagenfenster, bis sich ihre Nasen fast berührten. Und mit bedrohlicher Stimme flüsterte Verkehrsüberwacherin Johnson, während ihr Punky-Mundgeruch Henry die Tränen in die Augen schießen ließ: »Das zu sagen war ich verpflichtet, aber ich möchte noch etwas hinzufügen, eine ganz persönliche Bemerkung von mir, Gladys Johnson. Ich wünsche Ihnen absolut keinen guten Tag. Ich wünsche Ihnen den beschissensten Tag Ihres Lebens, kapiert? Daß Sie an den zehn Cent ersticken, die Sie sich sparen wollten, Sie Geizhals. Ich sage Ihnen, Sie sind ein Betrüger, weil Sie sich einen kostenlosen Parkplatz ergaunern wollten, und ein Scheißkerl, weil Sie mich überredet haben, hier auf dem Parkplatz den Mund aufzureißen, damit Sie sich über mich lustig machen können. Also vergessen Sie das mit dem guten Tag, Sie Scheiß-Zahnklempner.« Langsam zog sie ihren bulligen Schädel zurück. Starr vor Schreck bemerkte Henry, wie die Politesse zu ihrem Ledergürtel griff und den Tränengasknüppel herauszog. Doch sie hielt ihn nicht vor sein Gesicht, um ihn mit dem blindmachenden Gas einzunebeln. Nein, sie tat etwas sehr viel Schlimmeres. »Nein!« schrie Henry mit letzter Kraft. Lächelnd stieß Verkehrsüberwacherin Johnson den Metallgriff ihres Knüppels gegen die Tür seines nagelneuen, geliebten Ford Taurus und kratzte eine tiefe Schramme in den blauen Lack.
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»Au«, flüsterte Henry. Verkehrsüberwacherin Johnson lächelte noch immer, während sie sagte: »Einen schlechten Tag noch.« Dann schlenderte sie über den Parkplatz davon. Henry sprang aus seinem Wagen und fiel vor der verstümmelten Tür auf die Knie. Mit dem Finger zeichnete er die schreckliche Wunde nach. Er war stolz auf sich, weil er nicht in Tränen ausbrach. Wenn ihn dieser Tag, an dem alles schiefging, zu einem Tränenausbruch verleiten konnte, dann war es jetzt, in diesem Moment. Ach, mein lieber, guter Ford Taurus, warum hat man dir Leid zugefügt? Du, der du einzig existierst, um mich vor dem Unfalltod zu bewahren! Ich hätte sie zurückhalten müssen, mich zwischen dich und dieses uniformierte Ungeheuer werfen müssen. Doch ich hatte Angst, vergib mir. Ich werde dich zum Lack & Karosserie Meister-Service am Baltimore Pike bringen und ausbessern lassen. Und wenn dir das nicht genügt, sollst du eine neue Tür bekommen. Henry bückte sich und hauchte einen Kuß auf den Kratzer, dann erhob er sich langsam. Ich habe einen so schlechten Tag, daß ich schon eine Gefahr für meine Nächsten darstelle. Zeugt es von einem bedenklichen Geisteszustand, fragte sich Henry, daß ich den Taurus zu meinen Nächsten zähle? Und daß ich mir einbilde, das Gebiß meines Vaters will zu mir sprechen? Henry sperrte die Wagentür ab und ging zu der Parkuhr, die ihren kleinen roten Wimpel wie eine Zunge herausstreckte. »Wir wissen beide«, murmelte er der Parkuhr zu, »daß ich eine Münze hineinstecken wollte, daß das Ganze eine himmelschreiende Ungerechtigkeit war.« Er griff tief in seine Tasche, kramte eine Handvoll Kleingeld hervor und steckte eine Münze nach der anderen in den Schlitz. Henry kaufte sich Zeit. Sehr viel Zeit. Als die überfütterte Parkuhr nichts mehr in sich aufnahm, stopfte er das restliche Kleingeld in die beiden Parkuhren links und rechts von seinem
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Taurus. Er wollte kein Risiko eingehen. Es war zwei Uhr nachmittags, als er Rio's Grill betrat. Der kampfesmüde, erschöpfte Krieger würde endlich sein Mittagessen bekommen. Berge von Essen. Vielleicht würde er den ganzen Nachmittag damit zubringen, in einer Ecke von Rio's zu sitzen und vor sich hin zu mampfen. Henry lächelte beinahe. He, dachte er erfreut, so schlecht kann der Tag doch gar nicht sein, wenn ich beinahe noch ein Lächeln zustande bringe. Schubidubidu, die Treppen rauf und rein ins Lokal. Mmmm, dieser Fettgeruch, dieses Geräusch brutzelnder Hamburger! Ich liebe diesen Imbiß. Mensch, da ist sogar noch ein Ecktisch frei, und Gloria, meine Lieblingsbedienung, ist auch da. »Tag, Gloria«, begrüßte Henry sie, als er an ihr vorbei zu dem Ecktisch ging. Die Kellnerin sah ihn mit leerem Blick an, während sie sich die Hände an ihrem schmutzigen Kittel abwischte. Mit einem dünnen Finger, dessen Nagel entweder mit Blut oder mit Ketchup verkrustet war, deutete sie auf das Plastiknamensschild über ihrer linken Brust. Henry legte den Kopf zur Seite und las ›Janice‹. »Donnerwetter, Sie haben eine frappierende Ähnlichkeit mit Gloria«, meinte er. »Schwestern?« »Sind Sie sicher, daß Sie im richtigen Lokal sind?« schnaubte Janice verächtlich. »Nun, Janice, Sie sind wohl neu hier«, erwiderte Henry. »Ich bin sozusagen ein Stammkunde.« »Und ich bin sozusagen dieselbe Kellnerin, die hier seit zehn Jahren bedient.« »Tja, dann sind wir wohl immer blind aneinander vorbeigesegelt wie zwei Schiffe im Nebel«, sagte Henry fröhlich und setzte sich. »Mag sein«, entgegnete Janice. »Wissen Sie schon, was Sie wollen?«
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Henry blickte auf den Tisch, auf dem noch Geschirr und Essensreste standen. »Könnten Sie vielleicht zuerst ein bißchen saubermachen?« bat er. Die Kellnerin klappte ihren Notizblock zu. »Ich komme zurück, wenn Sie wissen, was Sie wollen.« Ungläubig sah Henry sie zwischen den vollbesetzten Tischen verschwinden. Du bist nicht Gloria, das ist gewiß. Gloria hätte diesen Tisch blitzsauber geputzt. Nur arbeitet Gloria nicht hier, aber darum geht es nicht. Es geht um Service, um Aufmerksamkeit gegenüber dem Kunden. Innerhalb der letzten zehn Minuten bin ich zweimal von Frauen, die irgendwas auf Notizblöcke kritzeln, grob behandelt worden. Was hatte das zu bedeuten? Er starrte auf die Schweinerei vor sich. Überall Ketchup, er triefte von angebissenen Zwiebelringen, quoll aus einem, Hot-Dog-Brötchen, überzog die Speisereste auf den Tellern und den Tisch. Das war kein Eßtisch, sondern ein Schlachtfeld. Und der Wüterich hatte nicht mal seine Pommes frites aufgegessen, was für ein Verbrechen! Bestellt Pommes frites und Zwiebelringe. Der Kerl mußte ja sonderbare Eßgewohnheiten haben. Widerlich. Schließlich konnte Henry den Anblick nicht mehr ertragen, erhob sich und nahm auf einem freien Barhocker am Tresen Platz. Ich hätte Gloria oder Janice oder wie immer sie auch heißt, eine Szene machen sollen, aber von Szenen habe ich heute die Nase voll. Ich bin im Recht, aber wen kümmert das? Ich war auch vorhin bei der Auseinandersetzung mit der Politesse im Recht, und was hat es mir genützt? Notizblockkritzler regieren die Welt. Henry beobachtete Eddy, der am Grill über die Hamburger und den Speck wachte und die zischende und spritzende Friteuse daneben bediente. Nach einer Weile drehte Eddy sich um und warf einen Blick auf die Kunden, die ihm vom Tresen aus zusahen. Da bemerkte er ein neues Gesicht: Henry. »Hat Janice Ihre Bestellung aufgenommen?«
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»Hallo, Eddy«, sagte Henry, »wie geht's? Nein, ich habe noch nicht bestellt.« Eddy schlurfte näher und lehnte sich auf seine Seite der Theke. »Ich heiße Bert, Kumpel. Was darf es sein?« Bert? Janice? »Ist das hier Rio's Grill?« fragte Henry. »So steht's über der Tür, Kumpel. Hören Sie, mir geht's heute nicht besonders. Hab mir den Magen verdorben oder so was, ich habe wirklich keine Lust auf irgendwelche Namensspielchen, okay? Wollen Sie was bestellen?« Bert verzog das Gesicht und rieb sich dabei den Bauch. Berts Gesicht war von einer grünlichen Blässe, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Oder waren es Fettspritzer vom Grill, an dem er den ganzen Tag stand? »Sie sehen wirklich ein bißchen mitgenommen aus.« »Sie hätten Arzt werden sollen.« »Na ja, das bin ich in gewisser Weise. Zahnarzt.« »Dann sind Sie mir ja eine große Hilfe.« Bert zog abermals eine Grimasse, rülpste Henry ins Gesicht und hielt sich dann mit geschlossenen Augen am Tresen fest. Von diesem Kerl soll ich mir mein Essen zubereiten lassen? Henry überlegte, ob er gehen sollte, doch sein Hunger hieß ihn sitzenbleiben. Außerdem, dachte er, will ich ja nur Sachen, die gebraten werden, dabei werden Berts Bazillen bestimmt abgetötet. Aber wie er aussieht. Meine Güte! Langsam öffnete Bert die Augen. Es kostete ihn offenbar große Mühe, den Blick auf Henry zu richten. Schließlich brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Was möchten Sie, Kumpel?« »Cheeseburger mit Speck und eine doppelte Portion Pommes«, antwortete Henry rasch. Bert nickte, stöhnte und wandte sich wieder dem Grill zu. »Bert sieht heute gar nicht gut aus, was?« meinte ein älterer Mann mit ordentlich gescheiteltem weißen Haar, der rechts von Henry saß.
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Henry nickte. »Sie sagen es.« Komm schon, Bertie, leg meinen Hamburger auf den Grill und bring mir meine Pommes, dann kannst du meinetwegen nach Hause gehen. Bert bewegte sich ausnehmend langsam. Es schien endlos zu dauern, bis er den vorgeformten Hamburger-Kloß ausgewickelt hatte. Los, los, auf den Grill damit. So ist's recht. Eine fettige Qualmwolke schob sich vor Berts grünes Gesicht. »Ich frag mich, ob er vielleicht diese Schweinekrankheit hat, die vor ein paar Jahren die Runde machte«, sagte links von Henry ein Bursche mit einer Baseballkappe von den Phillies. »Die Schweinegrippe«, sagte Henry und beobachtete, wie Bert den Friteusenkorb aus dem heißen Fett nahm und eine Tüte gefrorener Pommes frites hineinschüttete. Henry lief das Wasser im Mund zusammen. »Ja, genau, die Schweinegrippe«, gluckste der Typ mit der Baseballkappe. »Puh, ich kann Ihnen sagen...« Sag's nicht. Bert begann sichtlich zu schwanken, als er das Sieb mit den Pommes frites in das brodelnde Öl stellte. Er stand da und blickte in die zischende Friteuse, dann schloß er die Augen. Henry hielt den Atem an. »Ich kann Ihnen sagen, als ich diese verdammte Schweinegrippe hatte«, fuhr der Phillies-Fan fort, »bin ich genauso grün im Gesicht gewesen wie unser Bert hier. Das war vielleicht 'ne üble Geschichte. Ich hatte weder Fieber noch Durchfall, aber ich sag Ihnen, an diesem ersten Tag bin ich alle zehn Minuten grün geworden, habe mir den Bauch gehalten und konnte nicht anders, als in irgendwas, was gerade greifbar war, einfach...« Hineinkotzen. Und eben das hatte nun Bert vor, und zwar in das einzig erreichbare Behältnis: die Friteuse. Bert stellte sich auf die Zehenspitzen, beugte sich vor und übergab sich lange und ausgiebig in das Becken mit dem siedenden Fett.
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Das Fett zischte wie aus Protest, dann beruhigte es sich, während Bert zurücktaumelte und vor einem Kühlschrank zusammensackte. Henry verharrte in völliger Erstarrung. »Der Phillies-Fan gab einen angewiderten Laut von sich, sprang von seinem Barhocker und klopfte Henry auf den Rücken, als wollte er ihm gratulieren. »Ihre Pommes frites! Genau auf Ihre Pommes! Hab ich recht oder doch?« Henry lauschte dem Brutzeln der Friteuse. »Passen Sie auf, am Ende müssen Sie dafür noch extra bezahlen«, sagte der Bursche und stupste Henry in die Seite. Janice eilte herbei und scheuchte Bert weg, während die übrigen Gäste aufgeregt tuschelnd auf Henry und den Kochbereich hinter dem Tresen deuteten. Auch der ältere Mann mit dem sorgfältig gescheitelten Haar hatte den Vorfall schweigend mitangesehen. Schließlich wandte er sich zu Henry um, tupfte seine Lippen mit einer Papierserviette ab und meinte: »Wissen Sie, an Ihrer Stelle würde ich die Pommes frites nicht mehr anrühren.« Henry drehte den Kopf zu dem Alten, während dieser fortfuhr: »Ich bevorzuge Thunfischsalat. Auf Pumpernickel, mit einem klitzekleinen Mayonnaiseklecks und einer Gewürzgurke dazu.« »Hört sich nicht schlecht an«, erwiderte Henry dumpf. Er stand auf und schickte sich zum Gehen an. Momentan hörte sich alles schlecht an, besonders wenn es in Rio's Grill zubereitet wurde. »Sie gehen?« fragte der Alte. »Ohne Essen?« »Na ja, das eben war ja nicht gerade appetitanregend, oder?« Henry musterte ihn erneut. Dieses Gesicht kannte er doch. »Ja, ziemlich abschreckend, muß ich zugeben. Obwohl Bert sehr feine Thunfischsandwichs macht.« Henry schnupperte. Die Friteuse lief noch immer auf
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Hochtouren. Wer würde sie abschalten? Hatte jemand die Lage hier im Griff? Apropos: Hatte irgend jemand den Verlauf seines Tages im Griff? Und wer war dieser alte Herr? Nun starrte Henry ihn unverhohlen an. »Raten Sie.« »Wie bitte?« »Raten Sie, wer ich bin. Sie sehen mich doch schon die ganze Zeit an.« Der Mann erhob sich und griff nach seiner Brieftasche. Bedächtig nahm er vier Dollarnoten heraus und zählte die Münzen in seiner Hand. »Sagen Sie, haben Sie vielleicht zehn Cent klein?« »Na klar.« Henry befühlte seine Taschen. »Äh, nein, leider doch nicht. Ich habe sie alle für die Parkuhr draußen gebraucht.« »Macht nichts, dann nehme ich eben einen Vierteldollar, obwohl ich ungern zuviel Trinkgeld gebe. Das wirkt wie Lobhudelei und verdirbt den Charakter.« Er reihte die Münzen und Scheine auf dem Tresen auf. »Haben Sie mich inzwischen erkannt?« fragte er, zur Seite gewandt. »Nein, noch nicht.« Ein ehemaliger Patient? Henry versuchte dem Alten in den Mund zu sehen. Gesichter vergaß er oft, aber niemals sein zahnärztliches Werk. Der Mann hakte sich bei Henry unter. »Ich bringe Sie hinaus.« Beim Gehen drückte er Henry etwas Knisterndes in die Hand. »Hier«, flüsterte er, »ich habe Ihnen ein paar Kräcker zum Essen mitgenommen. Zieren Sie sich nicht, nehmen Sie schon.« Nachdem Henry sich umgesehen hatte, schob er, etwas verlegen, die Zellophanpäckchen in seine Tasche. Ach, was soll's, sagte er sich und reckte das Kinn, der Laden hier ist mir ein paar Kräcker schuldig. Er blickte zu der Friteuse zurück, aus der Rauch aufstieg, und marschierte eilig auf den Ausgang zu. Doch der alte Mann konnte nicht Schritt halten. Henry zog ihn hinter sich her. Ich mag vielleicht ei-
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nen schlechten Tag haben, aber ich will nicht, daß er in einer Feuersbrunst im Rio's endet. Sollte er die anderen Gäste warnen? Endlich waren sie unbeschadet im Freien angelangt, der Alte hatte ihn noch immer untergehakt. Zugegeben, sie haben mich alle ausgelacht, aber haben sie deshalb den Tod in den Flammen verdient? Wohl kaum. Aber vielleicht ein paar von ihnen? Das Feuer bricht aus, ich renne hinein und rette diejenigen, die der Tür am nächsten sind. Das wäre für mich nicht allzu gefährlich und vor allem höchst werbewirksam. ORTSANSÄSSIGER ZAHNARZT RISKIERT LEBEN IN RIO'S GRILL. Mit einem Foto von mir, und natürlich müssen sie meine Praxisadresse abdrucken. Wenn es eine richtige Katastrophe wird, kommen bestimmt auch die Aasgeier vom Fernsehen. Oje, was ist das? Durchs Fenster sah er, wie Janice ins Blickfeld stürmte und den Friteusenkorb aus dem rauchenden Fett hievte. Na ja, dachte er, es wäre ja auch zu schön gewesen. »Okay, ich gebe Ihnen einen Tip«, sagte der Alte. Henry hatte den Mann völlig vergessen.»Einen was?« »Einen Tip. Einen Anhaltspunkt.« »Waren Sie ein Patient von mir, Sir?« Henry war überhaupt nicht in der Stimmung für Ratespielchen. »Sie sind Arzt?« »Bin ich. Na ja, Zahnarzt, genaugenommen.« Warum mache ich das eigentlich mit? »Wenn Sie mich fragen, ist ein Zahnarzt allemal ein Arzt«, meinte der Alte. Henry sah ihn. »Ja? Meinen Sie wirklich?« »Meinen? Ich weiß es. Sie haben ebenso heilende Hände wie ein praktischer Arzt, nur arbeiten Sie in einem eingegrenzten Bereich.« Henry strahlte ihn an. »Ja! Das stimmt!« »Wie ein Gehirnchirurg, nur eben im Mund.« »Ja, ja!«
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Der Mann ließ Henrys Arm los und trat ein, zwei Schritte zurück. Nach einem kurzen Räuspern summte er ein paar Töne, als suche er die richtige Tonlage. Dann holte er tief Luft und begann zu singen: »Wer du sein willst — kannst du sein, träume mit mir — hinauf zu den Sternelein.« Unvermittelt hielt er inne und grinste Henry an. »Das war's«, sagte er. »Das war der Tip.« Henry schlug die Hand vor den offenen Mund. Er war sechs Jahre alt und saß auf dem Wohnzimmerteppich vor dem riesigen Schwarzweißfernseher seiner Eltern. Es war halb neun Uhr morgens, und Klein-Henry verharrte in froher, gespannter Erwartung. Klimpernde Musik drang aus dem Gerät, und dann — diese Stimme. »Kinder, wißt ihr, was nun kommt?« Henry antwortete auf die liebliche Stimme mit seinem dünnen Piepsstimmchen: »Die TommyTooly-Show!« Und Tommy erschien und sang: »Wer du sein willst, kannst du sein.« Danach lächelte er immer und sagte: »Wir wollen doch mal sehen, was Bubbles und Zeke heute treiben.« Und Bubbles und Zeke, die Marionettengeschwister, hüpften auf die Bildfläche, gefolgt von Bingo, dem Marionettenhund. Henry versäumte keinen einzigen Augenblick der halbstündigen Show, hingerissen und verzückt tauchte er in die Zauberwelt des Fernsehens ein, mit großen Augen und offenem Mund — genau wie in diesem Moment. »Jetzt wissen Sie es, stimmt's?« fragte Tommy Tooly. »Sind Sie's? Sind Sie es wirklich?« wisperte Henry. »Ja, ich bin's.« »Aber Sie wurden abgesetzt, als ich zwölf war. Ich erinnere mich noch an diesen entsetzlichen Tag. Meine Freunde interessierten sich in diesem Alter nicht mehr für die Show, aber ich schon. Ich habe Sie nie verlassen, Tommy. Ich würde sie mir wahrscheinlich heute noch ansehen.« »Sehr nett von Ihnen«, erwiderte Tommy Tooly.
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»Und dann wurden Sie abgesetzt«, erinnerte sich Henry mit ersterbender Stimme. Er hatte geweint, als Tommy an jenem lange zurückliegenden Montagmorgen nicht auf dem Bildschirm erschienen war. Das war Henrys erste Todeserfahrung. Denn Tommy mußte zweifellos gestorben sein. Anders konnte Klein-Henry sich das jähe, schreckliche Verschwinden nicht erklären. Henrys Fernseh-Daddy — tot. Sein wirklicher Daddy, Stuart, versuchte ihm den Sachverhalt zu erläutern. »Seine Show wurde abgesetzt, aus dem Programm genommen, weiter nichts«, sagte Stuart und schaute seinen Sohn ärgerlich an. »Aber wo ist er jetzt?« fragte Henry kläglich. »Das weiß ich nicht.« »Im Himmel?« »Henry, ich hab's dir eben gesagt, Tommy ist nicht tot. Du bist jetzt zwölf Jahre alt, du solltest begreifen, daß Fernsehshows abgesetzt werden können.« »Aber Tommy war mein Leben lang bei mir, immer«, wimmerte Henry. »Es war eine Show für Sechsjährige. Du hättest sie schon längst nicht mehr anschauen sollen.« Stuart versteckte sich hinter seiner Zeitung. »Aber ich habe ihn geliebt!« »Meine Güte«, stöhnte Stuart hinter der Zeitung. »Und jetzt ist er tot. Sie haben ihn umgebracht.« »Ah, verstehe. Er ist also nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern umgebracht worden, ja?« »Und was ist mit Bubbles und Zeke? Und mit dem kleinen Bingo? Daddy, wer wird nun Bingo füttern? Tommy hat ihm bei der Show immer ein Häppchen gegeben.« »Der Hund war doch eine Marionette, mein Junge.« Stuart ließ die Zeitung sinken und musterte seinen Sprößling. »Eine Puppe.«
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»Aber er hat Häppchen gefressen.« »Hast du je gesehen, daß er die Häppchen tatsächlich ins Maul genommen und hinuntergeschluckt hat? Nein, richtig? Weil er eben nur eine Puppe ist.« »Ich werde Bingo jeden Abend Häppchen hinausstellen, falls er hierherkommt.« »Warum sollte er?« »Weil er weiß, daß ich ihn liebhabe.« »Tommy Tooly läuft nicht mehr, mein Junge. Die Show ist abgesetzt. Finde dich damit ab.« Doch Henry hörte nicht zu. »Und Zeke und Bubbles, sie werden auch hungrig sein. Ich muß ganz viel Essen hinausstellen, für den Fall, daß sie vorbeikommen.« Daß Bubbles, Zekes Marionettenschwester, vorbeikommen würde, lag Henry ganz besonders am Herzen. Henry war scharf auf Bubbles. Schon seit ein paar Jahren, seit ihm zum ersten Mal aufgefallen war, daß sie in ihrem Kostüm einfach klasse aussah. Aus Gründen, die in der Tommy-Tooly-Show nie näher erläutert wurden, trug Bubbles das enganliegende, paillettenbestickte Trikot einer Trapezkünstlerin. Zeke hingegen war gekleidet wie ein Großwildjäger auf Safari. Natürlich wußte Henry, das Bubbles aus Holz bestand und an vielen Fäden hing, doch ihre Haut war wunderschön. Mahagonifarben. Und ihre Augen waren hellblau und die Lokken golden (der Fernseher war zwar schwarzweiß, doch das mit dem Blau und dem Gold wußte Henry ganz sicher). Je mehr er sich für Bubbles interessierte, desto tiefer wanderte sein forschender Blick. Ihre kleinen, festen Holzbrüste unter den Pailletten, ihre Kurven, die verblüffende Gesäßrundung. Zeke, der Trottel, schaute sie nie richtig an. Na gut, er war auch ihr Bruder. Aber trotzdem. Und Tommy war immer der vollendete Gentleman. Der perfekte Daddy. Ein krasser Gegensatz zu seinem richtigen Daddy, der ihn für blöde hielt, weil er Bingo Häppchen hinausstellen wollte.
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Was er auch tat, etwa eine Woche lang, bis die Erinnerung verblaßt und das Essen verdorben war — die zerkrümelten Kekse, die er auf der hinteren Veranda für Bingo hingestellt hatte, und die Ecken von seinen Erdnußbutter- und Marmeladenbrötchen für Zeke und Bubbles. Henry betrachtete Tommy Tooly. So alt geworden. Wie alt war Bubbles inzwischen? Fünfundfünfzig? Sechzig? Augenblick mal, Marionetten altern doch nicht, oder? Sie war immer noch dieselbe, mit ihren Pailletten und festen Brüsten. Sie hatte auf ihn gewartet. Henry räusperte sich. »Sagen Sie, äh, Tommy.« Er blickte zu Boden und trat mit der Schuhspitze gegen einen Kieselstein. »Ja, bitte?« Diese Stimme, diese Stimme. Sie rührte ihn noch immer an. »Wissen Sie, ich hab mich gefragt...« »Fragen Sie, fragen Sie. Nur wer Fragen stellt, bekommt auch Antworten, mein Junge«, erwiderte Tommy. So voller Lebensweisheit. Damals wie heute. Er war echt. Und schau, seine Zähne, sie sind auch echt. Mein FernsehDaddy hat echte Zähne, mein richtiger Daddy falsche. Was hat all das zu bedeuten? »Nun, Tommy, was ich fragen wollte — es ist albern, nur eine nostalgische Schwärmerei, wissen Sie — aber was ist eigentlich aus den Marionetten geworden? Aus Bingo und, äh, Zeke, und wie hieß sie noch?« Bubbles, Bubbles, Bubbles, du scheinheiliger Lügner. »Meine geliebte Bubbles«, antwortete Tommy ergriffen. Henry funkelte ihn an. Sag, daß es nicht wahr ist, Tommy. Dein Interesse an Bubbles war mehr als nur väterliche Zuneigung? »Die hübsche Bubbles in ihrem hübschen Kostüm.« Henry errötete bei dem Bild, das er vor Augen hatte: Am Ende jeder Show faßte Tommy Bubbles unter den Rock. »Wollen Sie wissen, warum sie gerade so ein Kostüm
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trug?« fragte Tommy. »Diese Frage stellen mir die Leute meistens, wenn sie mich erkennen.« Nein, ich will es gar nicht wissen, du perverser Marionettenschänder. Henry kickte wieder ein paar Steinchen weg. Und dich habe ich angebetet, Tommy Tooly. »Es hing mit meiner Schwester zusammen«, sagte Tommy. Na, das wird ja immer besser, dachte Henry. »Ich konnte jahrelang nicht darüber sprechen, aber inzwischen geht es.« Dann geh doch zur Oprah-Winfrey-Show. Ich will nichts hören von deinem widerlichen Schweinkram. Tommy senkte die Stimme. Henry ertappte sich, daß er gegen seinen Willen die Ohren spitzte, um den Alten zu verstehen. »Evelyn, die kleine Evelyn, meine — Schwester, ist mit zehn Jahren gestorben. An Polio, Kinderlähmung. Ich fing gerade mit meiner Bühnenkarriere an, wissen Sie, machte Shows in Kleinstädten, stellte mein Varieteprogramm zusammen. Ich war zwanzig, Evelyn zehn.« Tommys Stimme klang belegt. Henry sah zu Boden. Schande, Schande über dich, Dr. Henry Miles. »Alles geriet ins Stocken, als Evelyn erkrankte. Meine Brüder und ich wachten Tag und Nacht an ihrem Bett. Und Evelyn war so zuversichtlich, daß es ihr bald bessergehen würde. An guten Tagen lachte sie und erzählte uns Geschichten, redete von Orten, die sie besuchen wollte, und schwärmte davon, was sie werden wollte, wenn sie groß war.« Tommy holte tief Atem. »Ich höre noch heute ihre Stimme, ihr dünnes, perlendes Lachen aus der eisernen Lunge. Ich sehe sie vor mir — wie ihre goldenen Locken tanzen, wenn sie lacht, wie hell ihre blauen Augen strahlen.« O Gott, o Gott, dachte Henry.
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»Der Zirkus hatte es Evelyn angetan«, fuhr Tommy fort, während sich sein Blick in der Ferne verlor. »Sie war nur einmal dort gewesen, wir waren sehr arm, wissen Sie. Aber, Mann o Mann, als sie die Artistin auf dem Hochtrapez sah, die Frau mit dem glitzernden Kostüm hoch droben — da war es für sie sonnenklar, was sie werden wollte, wenn sie erwachsen war. Sie wollte zum Zirkus gehen, dieses wunderbare glitzernde Kostüm tragen und durch die Lüfte fliegen.« Hör auf. Bitte, bitte, hör auf. Es tut mir leid, daß ich dich jemals der Puppenfummelei und des Inzests verdächtigt habe. In Henrys Augen sammelten sich Tränen. Er schniefte laut. »Nun, ich denke, letztlich durfte Evelyn fliegen, auf ihre Weise«, endete Tommy Tooly. »Wenn es einen Himmel gibt und Engel Flügel haben, ist Evelyns Wunsch in Erfüllung gegangen. Ich hoffe, sie haben goldene Flügel. Mit viel Glitzer.« »Dann ist Bubbles«, sagte Henry heiser, »also die kleine Evelyn. Die kleine Evelyn als Erwachsene, die Dame auf dem Trapez.« »Bubbles ist Evelyn.« Was bedeutet, daß ich mich all die Jahre nach einer Zehnjährigen unter einer eisernen Lunge verzehrt habe. Henry, wie tief bist zu gesunken? »Ja, Bubbles war mir ein großer Trost.« »War?« Er hatte sie doch bestimmt noch. »Ich habe sie schon vor langer Zeit verschenkt. Habe sie einem kleinen Mädchen in einem Waisenhaus geschenkt, in dem ich eine Wohltätigkeitsvorstellung gab. Es war ihr zehnter Geburtstag, verstehen Sie?« »Sie haben Bubbles weggegeben!« »Leben heißt loslassen, mein Sohn. Loslassen und weiterziehen.«
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Und wenn ich hundert werde, so weise wie Tommy Tooly werde ich nie sein. Er wußte einfach immer, wie man die Dinge anging. In jeder Sendung vermittelte er eine kleine Einsicht, eine moralische Erkenntnis, die er einem ganz nebenbei nahebrachte, während er Cartoons zeigte oder mit Zeke, Bubbles und Bingo herumalberte. Ach, Tommy, warum warst du nicht mein richtiger Daddy? Du hättest mich nie gebeten, dich umzubringen. Bestimmt hast du nicht einmal den Wunsch zu sterben! Wenn Tommy eines Tages stirbt, dann mit Schwung und Pep. Vielleicht mitten in einer Wohltätigkeitsvorstellung. Sicher tritt er auch in Pflegeheimen auf, keine Frage. Da steht er vor all den Rollstühlen und zeigt ihnen, wie man das Leben bis zum letzten Atemzug auskostet, erzählt Witze, schwingt das Tanzbein — und dann hält er plötzlich inne, faßt sich an die Brust und bricht mit einem letzten Lächeln und einem Augenzwinkern tot zusammen. »Tommy, Sie wissen einfach alles, nicht wahr?« sagte Henry. Mit großen Augen und offenem Mund schaute er Tommy an, als sähe er ihn vor sich auf dem Bildschirm. »Ich weiß weniger, als Sie denken«, erwiderte Tommy. »Viel weniger. Zum Beispiel kenne ich nicht einmal Ihren Namen.« »Oh, ja, natürlich, entschuldigen Sie.« Henry streckte ihm die Hand entgegen. »Henry Miles«, stellte er sich vor. »Doktor Henry Miles«, ergänzte Tommy. »Soviel weiß ich schon.« Henry schüttelte lächelnd den Kopf. »Sehen Sie? Sie verstehen es einfach instinktiv, den Menschen ein gutes Gefühl zu geben. Sie sind weise und gut.« »Unsinn.« »Aber nein. Ich bin immer aufgeblüht, wenn ich Ihre Show gesehen habe. Ich habe Sie geliebt.« »Eben, Henry«, erwiderte Tommy, »deshalb habe ich mit
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der Show aufgehört. Ich kam zu dem Schluß, daß es nicht gut ist, wenn mich die Kinder mittels Fernseher lieben.« »Ihre Show wurde abgesetzt«, entgegnete Henry langsam. »Nein, nein. Ich habe gekündigt.« »Aber Sie hätten doch niemals von heute auf morgen all diese Kinder im Stich gelassen!« »Wie hätte ich es sonst machen sollen, Henry? Mich von jedem einzeln verabschieden? Für jedes Kind eine eigene Abschiedsvorstellung?« »Ich war am Boden zerstört. Und ich habe mir solche Sorgen gemacht, ob Bingo seine Häppchen kriegt.« »Bingo war nur Fiktion.« »Sie waren mein Fernseh-Daddy.« Jetzt war es heraus. »Henry, Henry. Sehen Sie? Deshalb habe ich aufgehört. Ich war ebenso Fiktion wie Bingo. Hatten Sie denn keinen eigenen Vater?« »So was Ähnliches.« »So was Ähnliches? Sie meinen ja. Und er war Wirklichkeit, im Gegensatz zu mir.« »Sie waren klug und witzig und nett.« »Sicher, eine halbe Stunde am Tag. Für eine halbe Stunde kann man alles mögliche sein, dazu gehört nicht viel. Wollen Sie sagen, daß Sie Ihren Vater nicht auch eine halbe Stunde am Tag klug und witzig erlebt haben?« »Nicht so wie Sie.« »Sie haben mich zu ernst genommen, Henry.« »Dasselbe hat mein Vater auch gesagt, an dem Tag, als Sie abgesetzt... als Sie aufgehört haben.« »Das waren doch sehr kluge Worte.« »Na schön, ab und zu hatte er vielleicht ein paar kluge Worte für mich übrig.« Schweigend musterte Tommy Tooly Henry, dann schüttelte er den Kopf und seufzte. »Das ungelöste Vaterpro-
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blem. Ich hätte nie auf Sendung gehen sollen. Henry, ich war kein Vater. Für niemanden. Nicht einmal hinter den Kulissen, im wirklichen Leben. Ich war nicht einmal verheiratet.« »Doch, Sie waren Bubbles' und Zekes Vater. Und meiner.« »Sie hatten Ihren eigenen Vater, Henry. Es tut mir leid, wenn die Dinge anders gekommen sind, als Sie es sich gewünscht haben. Tut mir leid, daß er gestorben ist, ehe Sie das Problem...« Tommy hielt inne, als Henry sich räusperte und ärgerlich gegen einen Stein trat. »Ähm«, meinte Henry. »Er lebt noch«, stellte Tommy fest. »Wissen Sie, was das ungelöste Vaterproblem ist?« Henry war entschlossen, sich zu offenbaren, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. »Mein Vater wohnt in einem Pflegeheim und möchte, daß ich ihn erlöse, was ich aber nicht will. So will ich mein Vaterproblem nicht lösen.« Siehst du, Tommy, wenn du mein Vater gewesen wärst, hättest du mich nie in diese Zwangslage gebracht. Henry blinzelte, als ihm schlagartig bewußt wurde, warum Tommy im Vergleich zu Stuart so gut abschnitt: Mit seinem Fernseh-Daddy hat man kein Vaterproblem. Der perfekte, zeitlose Vater. Stuart dagegen, Stuart, der eigentlich kein so schlechter Vater gewesen ist — sein einziger Fehler liegt darin, daß er real existiert und von mir verlangt, daß ich das Problem beseitige. Das Problem? Ihn! Henry sah zu Tommy auf, wie er es vor dreißig Jahren auch getan hätte, und wartete, daß Tommys Fernsehstimme ihm den rechten Weg wies. Sprich, Tommy. Henry hörte sich im Ton eines Zwölfjährigen fragen: »Sie haben immer einen guten Rat zur Hand, Tommy. Sagen Sie mir, was ich tun soll.« Sprich. »Nun, das will ich Ihnen sagen, Henry. Es ist zwar nur
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die Meinung eines alten Mannes, aber ungelöste Probleme sind nie gut.« Henry dachte, er müsse in Ohnmacht fallen. Sein Mund war so trocken, daß er die Worte kaum herausbrachte: »Wirklich? Ich meine, das Problem mit Daddy zu lösen, erscheint mir so... so gefährlich.« »Mit einer Lösung geht man immer auch ein Risiko ein, ja, sie kann, wie Sie sagen, gefährlich sein. Doch ein ungelöstes Problem kann lebenszerstörend sein.« Ist es nicht eher umgekehrt? Henrys Gedanken wirbelten wild durcheinander. »Gehen Sie zu Ihrem Vater«, meinte Tommy und legte Henry eine Hand auf den zitternden Arm. »Gehen Sie möglichst bald zu ihm und tun Sie, was Sie tun müssen. Stellen Sie sich Ihren Ängsten, schrecken Sie nicht vor dem zurück, was Ihnen gefährlich erscheint. Schaffen Sie das Problem aus der Welt.« Tommy Tooly will, daß ich es tue. Und Daddy will es auch. Wenn meine beiden Daddys es wollen — welcher Sohn auf der Welt könnte der machtvollen Autorität zweier Daddys widerstehen? Der Druck in seinem Schädel ließ plötzlich nach. Hier bin ich, dachte Henry, durchdrungen von Tatkraft. Ich werde aktiv, ich nehme die Sache in die Hand. Auf diesen Tag habe ich schon lange gewartet. Mein Leben hat aus einer Liste von Ängsten bestanden, denen ich mich nie gestellt habe. Ja, meine Liste! Sie wird von Tag zu Tag länger, ich stehe damit auf und gehe damit zu Bett, sie begleitet mich ständig, die Liste mit all den schrecklichen Dingen, gegen die ich nie etwas unternehmen konnte: Verfall der Städte, Aids, Giftmüll und heute die Krönung des Ganzen — Daddy. Aber, bei Gott, diesmal werde ich handeln. Ich weiß noch nicht, wie, aber noch vor Sonnenuntergang werde ich zur Tat schreiten. Mein Daddy wird stolz auf mich sein. Tot, aber stolz. Heute abend werde ich als
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richtiger Mann nach Hause kommen. Als echter Dentist Man — als Mann in jeglicher Hinsicht! Eben noch hatte Henry mit der Schuhspitze verlegen nach Steinchen gekickt, doch jetzt scharrte er wie ein wilder Stier auf dem Asphalt. »Ja, Tommy, ich werde es tun! Sie haben völlig recht. Mein Gott, ich könnte Bäume ausreißen!« Tommy trat einen Schritt zurück. »Bravo, mein Junge. Das Schlimmste haben Sie bereits hinter sich — Sie haben Ihre Entscheidung getroffen.« Henry griff nach Tommys Hand und drückte sie fest. »Ich muß los, Tommy. Ich muß die Sache gleich in Angriff nehmen.« Er wandte sich zu seinem Taurus. »Donnerwetter«, meinte Tommy bewundernd. »Vorwärts, Henry, packen Sie es an. Lösen Sie das Problem.« Die geballte Faust gen Himmel gereckt, rief Henry über die Schulter zurück: »Jawohl! Ich tu's! Ich tu's!« Er bemerkte nicht einmal den langen Kratzer an seinem Wagen, als er hineinsprang und davonbrauste. Denn endlich hatte er den Tag voll und ganz im Griff.
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Kapitel 8 Während der fünfzehn Minuten, die June und Marty vom MacDade Boulevard bis zu Junes Heim in der Dickinson Avenue brauchten, sprachen sie kein Wort. June war viel zu beschäftigt mit der Logistik. Und Marty war wie versteinert. Immer wieder streifte June ihn mit einem Blick, um sich zu vergewissern, daß er das Dreami-Donuts-Käppi noch aufhatte. Was der Fall war. »Hören Sie mal, Marty«, sagte sie, als sie in die Dickinson Avenue einbog. Vor Schreck stieß er beinahe einen Schrei aus. Nachdem er es beharrlich vermieden hatte, sie anzuschauen, und sie so lange stumm geblieben war, hatte Marty gehofft, sie hätte sich vielleicht in Luft aufgelöst. Er hatte einen großen Fehler begangen, als er in diesen Wagen stieg. Es war alles so schnell gegangen, mit einer zwingenden, perversen Logik. Im einen Augenblick hechelte er noch hinter dem Auto des Gatten her, und im nächsten saß er schon im Wagen der Gattin! Das konnte unendlich viele Konsequenzen nach sich ziehen, und er fühlte sich nicht in der Lage, auch nur eine einzige davon zu durchdenken. Was zum Beispiel, wenn Dr. Miles plötzlich nach Hause kam? Er trieb sich irgendwo da draußen rum, streunte durch die Straßen, ein schurkischer Zahnarzt auf der Suche nach Sex. Und was, um Himmels willen, wenn er nicht durch die Straßen streunt, sondern zu Hause sitzt und wir ihm geradewegs in die Arme laufen? Und meine Frau? Was ist, wenn Judy es erfährt? Jeder im Dreami Donuts hat gesehen, wie ich in diesen Wagen gestiegen bin. Das ist mir zuviel, das bin nicht ich, ich verbringe meinen Tag doch mit Teigrühren, Himbeerfüllungen, Vanilleglasuren und Schokostreuseln.
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Und zur Krönung des Ganzen soll ich es auch noch mit einer Frau treiben, die ich kaum kenne — vor laufender Kamera! »Marty, hören Sie?« fragte June. Vor laufender Kamera. Ich bringe ja nicht einmal ein anständiges Lächeln zuwege, wenn Judy einen Schnappschuß machen will. Und in zehn Minuten soll ich eine Erektion bekommen, während eine Kamera auf meinen Penis zoomt? Dieses ganze Unterfangen ist nicht nur höchst gefährlich, ich bin auch drauf und dran, mich als Mann zu blamieren. Wie aufs Stichwort fing Martys Penis an, seine Befürchtungen zu zerstreuen. Erstaunt starrte er auf die plötzliche Ausbuchtung seiner Hose. Das Ding fühlte sich riesig an, paßte nicht mehr in seine Unterhose. Wessen Penis war das? Junes Blick folgte seinem. »Was zum Teufel tun Sie da?« »Ich... ich weiß nicht.« Schützend legte Marty seine Hände darüber. »Hören Sie auf damit. Ehe nicht die Kamera läuft, passiert gar nichts, verstanden?« Ich stehe nicht auf Autosex, im Gegensatz zu Henry. Aber er wuchs noch immer, als hätte die Erwähnung einer Videovorstellung ihm Leben eingehaucht. Habe ich mich etwa schon immer danach gesehnt, überlegte Marty, ohne daß ich davon wußte? Wollte ich seit jeher in einem Pornostreifen mitspielen? Was, wenn er immer größer und größer wird, wie Pinocchios Nase, was, wenn die Erektion nie wieder zurückgeht und ich schließlich in einer Notaufnahme um Hilfe nachsuchen muß? Gibt es da eine Behandlungsmethode? Braucht man ein Skalpell dazu? June warf einen prüfenden Blick durch die Windschutzscheibe. »Gut. Jetzt müssen wir Sie nur noch ungesehen ins Haus kriegen.« Sofort fiel er zusammen, schrumpfte sogar auf ein noch
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kleineres Maß als zu Beginn. Der gefährliche Teil. Sie waren bereits beim gefährlichen Teil. »Ungesehen«, murmelte Marty dumpf. »So macht man das doch normalerweise, oder?« meinte June. »Bitte«, flehte Marty. »Ich kenne mich mit so was nicht aus. Heimlich wo reinschleichen — davon liest man, oder man sieht es im Fernsehen...« »Heute sind Sie der Hauptdarsteller.« Mit diesen Worten legte sie ihm die rechte Hand auf den Nacken und drückte seinen Kopf hinunter. »Was machen Sie da?« Marty sträubte sich, doch June ließ nicht locker. »Beruhigen Sie sich, Marty. Das hier ist meine Straße. Wir fahren auf mein Haus zu. Meinen Sie vielleicht, ich will mit Donut Man geschnappt werden? Mit Donut Master, meine ich.« Aufpassen, Dentist Man, aber Donut Master. Ich darf auf keinen Fall ihre empfindlichen Egos brüskieren, indem ich in der Hitze der Leidenschaft versehentlich den falschen Namen rufe. Hitze? Schließlich bin ich nur wegen Henry mit Marty hier, der eigentlich Jeffrey sein sollte! Oder Henry? Ach, Henry, werden wir uns je wieder berühren, je wieder eine Glut entfachen? Schon bevor all dies passierte, haben wir nicht gerade Brandmale auf den Laken hinterlassen. Sie kaute an der Unterlippe. Obwohl genug Funken sprühten, um ein kleines Feuer in Gang zu bringen, wenn wir es wirklich versucht hätten. Aber du mußtest dir ja von Lotty Daniels' heißem Mund die Temperatur auf deinem Thermometer hochtreiben lassen! Warte nur, Henry, dir werde ich einheizen, grollte June. Ich ziehe die Sache durch. Immerhin hast du angefangen. Geschnappt, dachte Marty verstört, sie hat ›geschnappt‹ gesagt. Verbrecher werden geschnappt, aber doch nicht gesetzestreue Donut-Bäcker. Bin ich plötzlich so tief gesun-
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ken, hat mich diese kurze Autofahrt in einen Verbrecher verwandelt, der nicht geschnappt werden will? Aber ich habe doch gar kein Verbrechen begangen! Noch nicht. Er starrte auf seinen Reißverschluß, dessen Silberzähnchen ihn anzugrinsen schienen. »Ich will nicht geschnappt werden«, bettelte er. Junes Hand lag immer noch schwer auf seinem Nacken. »Werden Sie ja auch nicht. Bleiben Sie einfach mit dem Kopf unten, bis wir in der Garage sind. Wenn das Garagentor geschlossen ist, können wir ungesehen ins Haus schlüpfen.« Ins Haus schlüpfen. Ungesehen. Geschnappt, geschnappt, geschnappt. »Der Verbrecher bin doch nicht ich, sondern ihr Mann«, platzte es aus dem zusammengekrümmten Marty heraus. »Schreien Sie nicht so, Marty. Oder wollen Sie, daß jemand Sie hört?« June kurbelte ihr Seitenfenster hoch, als sie in ihre Garageneinfahrt bog. In der benachbarten Einfahrt war Jeffrey Lyons immer noch mit seinem Motorrad beschäftigt. Auf seinem jungen, muskulösen Rücken glänzte Schweiß. June sah hinunter auf Marty mit seinem DonutKäppi, der geduckt neben ihr kauerte, während sie darauf wartete, daß sich das Garagentor öffnete. Wieder schweifte ihr Blick zu Jeffrey hinüber. Wenn sie daran dachte, daß ihr Tag mit einem Wachtraum von Jeffreys T-Shirts begonnen hatte und daß Jeffrey dann tatsächlich bei ihr im Haus gewesen war! Das Bündel neben ihr bebte und zitterte. Und jetzt gebe ich mich mit diesem Donut zufrieden! Denn in seiner zusammengekrümmten Haltung wurde Marty einem Donut immer ähnlicher. »Sind wir schon in der Garage?« flüsterte er. »Kann ich mich endlich aufsetzen? Mein Rücken bringt mich noch um, ich habe nämlich einen Bandscheibenschaden.« Natürlich hast du das, Marty, wie könnte es auch anders
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sein. Jeffrey hat den phantastischsten Rücken auf dem ganzen Erdball, und du kleiner Donut-Angsthase hast einen Bandscheibenschaden. »Halten Sie durch, wir sind fast drin«, nuschelte sie, ohne die Lippen zu bewegen, damit niemand sie sprechen sah. Und war er erst einmal drin, würde er nie wieder herauskommen. Marty versuchte mit aller Kraft, nicht zu hyperventilieren. Ich muß mich aufrichten, dachte er benommen, mein Hirn braucht Sauerstoff. Ich muß Mrs. Miles sagen, daß sie wenden und mich zum Dreami Donuts zurückfahren soll. Doch als er den Kopf hob und zum Sprechen ansetzte, sah er, wie sich das Garagentor hinter dem Wagen schloß. Plötzlich wurde es dunkel. Marty fürchtete sich im Dunkeln und grapschte nach June. Doch June gab ihm einen Klaps auf die Finger. »He, nichts da. Wir fangen erst vor der Kamera an.« Sie rückte von ihm ab. »Dieses blöde Licht hier drin soll eigentlich angehen, wenn sich das Garagentor öffnet. Hat es aber noch nie getan.« Marty hielt die Luft an, bis June geöffnet hatte und das Licht im Wageninnern aufleuchtete. Als sie ausstieg, begann er wieder zu zittern. »Bringen Sie mich zurück«, rief er. Sie steckte den Kopf in den Wagen. »Sagen Sie das noch einmal.« »Dorthin, wo ich hingehöre.« June sah, daß die Dreami-Donuts-Kappe auf seinem Schoß lag. Oh, oh. »Ich habe hier nichts verloren.« Marty starrte June an, deren Gesicht durch das Licht aus dem Auto beleuchtet war, während ihr Körper irgendwo in der unermeßlichen Dunkelheit der Garage auf ihn lauerte. Sie will mich mit diesem Körper in die Dunkelheit locken! Er wieherte wie ein verschrecktes Pony.
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June widerstand dem beinahe übermächtigen Drang, ihm an die Gurgel zu gehen. »Setzen Sie Ihre Kappe auf, Marty, dann fühlen Sie sich gleich besser.« Schließlich hatten sie nicht den ganzen Tag zur Verfügung. Jetzt war es drei Uhr nachmittags. Ed war beim Baseballtraining, und Fred übte mit seiner Band. So war Marty und ihr zwar etwas Zeit vergönnt, aber keine Ewigkeit. Sie kniete sich mit einem Bein auf den Fahrersitz und griff nach Martys Kappe. Diese Attacke aus der Finsternis war zuviel für ihn: Marty schloß die Augen und schrie auf. June, die Hand nur wenige Zentimeter von der Kappe entfernt, erstarrte einen Augenblick. Dann schnappte sie das alberne Käppi und setzte es ihm unsanft auf. »Um Himmels willen, Marty, was soll denn das?« Wenn er noch einmal den Mund aufriß und losplärrte, würde sie ihm eine kleben. Hatte ihn jemand gehört? Denn von draußen hämmerte es heftig gegen das Garagentor. »Mrs. Miles, sind Sie da drin? Ist alles in Ordnung?« Jeffrey Lyons. Er hatte den Schrei gehört. Sie preßte Marty die Hand auf den Mund. Jeffrey eilte ihr zu Hilfe! Meine Güte, wie sehr sie sich das wünschte. »Hallo, Jeffrey, mir geht es bestens. Schlag bitte nicht das Tor ein.« Marty saß stocksteif auf seinem Sitz. Der Krach hatte zwar aufgehört, hallte aber in seinen Ohren nach. Es hatte geklungen, als mache sich ein Gorilla draußen am Tor zu schaffen. Und nun war ihm klar, daß es kein Entrinnen gab. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mit Mrs. Miles ins Haus zu gehen. Wenn er sich weigerte, würde er den Gorillas da draußen in die Hände fallen. Er wollte etwas sagen, aber June hielt ihm immer noch den Mund zu. Jetzt flüsterte sie: »Marty, wenn Sie einen Mucks machen, sind Sie ein toter Mann, verstanden?« Er nickte mehrmals, und sie sagte laut und deutlich: »Danke, Jeffrey,
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aber ich habe mir nur das Knie am Rasenmäher angeschlagen. Tut mir leid, daß ich ein solches Theater gemacht habe. Inzwischen geht's schon wieder.« »Ganz bestimmt, Mrs. Miles? Kann ich Ihnen nicht doch irgendwie helfen?« »Nein, danke, Jeffrey. Bis später dann. Und herzlichen Dank, daß du so ein aufmerksamer Nachbar bist.« Kurz herrschte Stille. Dann: »Okay, wenn Sie meinen. Bis bald.« Wieder Stille. »Aber bitte rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen.« Ich brauche dich, Jeffrey. »Danke, das werde ich tun.« »Tschüs, Mrs. Miles.« »Tschüs, Jeffrey.« Sie horchte auf seinen verhallenden Schritt, dann entließ sie Marty aus ihrem Griff. Er zerrte an der Tür. »Bringen Sie mich rein. Bitte. Jetzt sofort. Schnell.« Bingo! Die Kappe verfehlt ihre Wirkung nie. Vielleicht sollte ich sie ihm an den Kopf heften. »Gut, Donut Master«, erwiderte sie. Ich darf nicht vergessen, ihn so zu nennen. Was man nicht alles der Liebe wegen tut. »Dann also los, folgen Sie mir, Donut Master, gehen Sie um den Wagen herum und passen Sie auf die Werkbank auf.« Sie wies ihm in der Dunkelheit den Weg, und er stolperte in ihre Richtung, versuchte, sich beim schwachen Licht aus dem Wageninnern zurechtzufinden und stieß sich mehrmals an den alltäglichen Gegenständen, die in Garagen aufbewahrt werden — Dämonen, die im Dunkeln lauerten und nur darauf warteten, bis Marty die Orientierung verlor. Aber schließlich hatte er es bis zu June geschafft. Er krallte sich an sie, sein Herz raste wie wild. »Mrs. Miles.« »Lassen Sie das, Marty.« Sie befreite sich aus seiner Umklammerung. »Folgen Sie mir.« June öffnete die Tür, die von der Garage ins Haus führte, und blendendes Licht
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schlug ihnen entgegen. Marty im Schlepptau, stapfte sie durch die Tür. »Dieses blöde Garagenlicht. Ich werde Henry umbringen, wenn er heimkommt, weil er sich einfach nie darum kümmert.« Sie überdachte, was sie gerade gesagt hatte. »Aber ich werde ihn natürlich sowieso umbringen, wenn er nach Hause kommt. Ich glaube nicht, daß der Tag genug Stunden hat für die vielen Mordpläne, die ich heute geschmiedet habe.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Meinen Sie, daß er überhaupt heimkommen wird?« Was, wenn er es tat? Was, wenn nicht? Waren das die einzigen Alternativen? Sie hätte gern noch eine dritte gehabt, eine, die ihr verwehrt blieb: Nämlich, daß sich die Zeiger der Uhr zurückbewegten, daß es wieder Morgen war und sie mit ihrer Familie frühstückte, mit Menschen, die ihr vertraut waren, in einer Welt, deren Regeln sie kannte. June starrte Marty an, der steif in ihrer Küche herumstelzte und sich nicht traute, etwas anzufassen oder auch nur anzusehen. Wer ist dieser Mensch?, überlegte sie. Wie lauten die Regeln? Sie lauten: Es gibt keine Regeln. June hatte das Gefühl, ihr Schädel würde sich öffnen, und ihr Gehirn würde auf und davon schweben. Heute morgen — ein Frühstück mit meinen Lieben. Heute nachmittag — eine Bumserei vor der Kamera mit einem Fremden! Margo, meine tratschsüchtige Freundin, wie schade, daß du nicht hier bist und siehst, was ich gleich tun werde. Denn wenn du es sehen könntest und dann nach Hause gehen und mir am Telefon erzählen würdest, was du gerade gesehen hast, ich würde dir nicht glauben. Und wenn ich dir nicht glauben würde, dann doch wohl, weil es nicht wahr sein kann? Also verschwinde, Marty, es kann unmöglich sein, daß wir beide drauf und dran sind zu vögeln. Es ist nicht wahr. Verschwinde, husch, husch, raus aus meiner Küche, Schluß mit dem Quatsch. »Kann ich etwas zu trinken haben?« fragte Marty. Er ver-
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lagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schwankte dabei vor und zurück. Husch, sagte June noch einmal in Gedanken. »Etwas zu trinken«, versuchte Marty es ein zweites Mal. Sie betrachtete ihn mit einem sonderbaren Blick. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie in zehn Minuten aussehen würde. Nackt. Doch er brachte es nicht fertig, sie in Gedanken auszuziehen. Na ja, sagte er sich, das liegt daran, daß es nicht um Sex geht, sondern um ausgleichende Gerechtigkeit. Hörte er da seinen Penis hinter der verzahnten Pforte kichern? Aber ich kann mir diese Frau nicht nackt vorstellen, also stimmte es. Die Gerechtigkeit ist jedenfalls das Entscheidende. Ach, was soll's, wir werden so oder so zusammen im Bett landen, oder nicht? Marty schluckte. »Etwas zu trinken«, wiederholte er laut. June kam zu sich. »Oh, ja, natürlich. Etwas zu trinken.« Sie ging zum Kühlschrank. »Orangensaft? Hawaii-Punsch? Pflaumensaft?« »Nein, einen richtigen Drink«, verlangte Marty. »Alkohol.« »Oh«, meinte sie. »Ist das nicht etwas früh am Tag?« Sie lächelte unsicher. »Aber was sage ich da? Heute kümmern wir uns nicht um Regeln, nicht wahr? Wir pfeifen drauf. Ein Bier?« Sie drehte sich wieder zum Kühlschrank. »Ich glaube, mein Ex trinkt gelegentlich ein Rolling Rock.« »Nein, etwas Stärkeres«, erwiderte er tonlos. Er hatte seit seiner Collegezeit keine harten Drinks mehr gekippt. Und er hatte auch seit seiner Collegezeit nicht mehr mit Frauen außer seiner Ehefrau geschlafen. Marty versuchte sich zu erinnern, ob ihm harte Sachen und Frauen außer seiner Ehefrau in der Collegezeit Spaß gemacht hatten. Warum hatte er jetzt nicht das Gefühl, daß es Spaß machen würde? »Hmm, einen richtigen Drink, aha. Junge, heute lassen Sie es aber krachen.« June legte einen Finger auf die Lip-
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pen. »Ich fürchte, wir haben nur Wodka im Haus, vielleicht auch etwas Gin. Wissen sie, Henry zählt zu den Männern, die nicht gern die Kontrolle über sich verlieren. Außer in sexueller Hinsicht, da macht er offenbar eine Ausnahme. Okay, folgen Sie mir zu dem harten Stoff. Ich muß auch noch die Videokamera suchen.« Sie gingen ins Wohnzimmer, wobei Marty sorgfältig darauf achtete, nichts anzufassen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Seine Fingerabdrücke. Ein Verbrecher. Die Polizei. Knast. Keine Donuts im Knast. Selbstmord. Wo war dieser Wodka? Konnte er es hinkriegen, aus der Flasche zu trinken, ohne Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen? Vielleicht, wenn er sie zwischen die Unterarme klemmte. June kramte inzwischen in einer kleinen Vitrine in der Wohnzimmerecke. »Voilà! Wodka. Heute ist ihr Glückstag, Donut Master.« Er wünschte, sie würde ihn nicht mehr so nennen. Für ihn war es inzwischen offensichtlich, daß er absolut nicht Herr der Lage war — geschweige denn Herr seines Schicksals. Deshalb also hatte Judy sich immer geweigert, ihn Donut Master zu nennen! Sie hat mich seit jeher durchschaut. Ich bin Donut-Trottel. Da habe ich geglaubt, ich könnte mich an Dr. Miles rächen, und jetzt hat er mich drangekriegt. Ich bin in seinem Haus gefangen. Draußen patrouillieren Gorillas. Mein eigener Penis lacht mich aus. Ist das denn Rache, ist das ausgleichende Gerechtigkeit? Er riß June die Wodkaflasche aus der Hand und hob sie an den Mund. Zum Teufel mit den Fingerabdrücken! Marty nahm einen mehr als ordentlichen Schluck. Mit aufgerissenen Augen trat June zurück. Als er endlich die Flasche absetzte, sagte sie: »Ein Glas ist wohl nicht mehr nötig, hmm?« Sie begutachtete die Flasche. Er hatte
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sie geleert. »Sie haben gerade eine halbe Flasche Wodka ausgetrunken. Heißen Sie nicht vielleicht Wodka Master?« Das Dreami-Donuts-Käppi war Marty in die Stirn gerutscht und verdeckte ein Auge. Noch einmal hob er die Flasche und ließ die restlichen Tropfen langsam auf seine Zunge rieseln. Dann schluckte er gierig, senkte die Flasche und schaute einäugig im Zimmer umher. »Kann ich noch was haben?« fragte er. »Marty, Sie haben gerade eben mehr getrunken als mein Mann in einem ganzen Jahr.« »Nur um das Getriebe zu schmieren.« Er blinzelte ihr zu. »Sie haben genug geschmiert.« Marty rülpste. »Jetzt hätte ich wieder Platz für mehr.« »Das war vulgär. Und vulgäre Sachen machen mich nicht an. Dabei ist es wichtig, daß Sie mich anmachen, wenigstens ein bißchen.« Marty nickte, ohne zu hören, was sie sagte. »Ich bin soweit.« Er trat einen Schritt auf sie zu, hielt dann inne und blickte auf seine Füße. Sind das da meine Füße? Sie schienen ziemlich weit weg. Versuchsweise hob er einen Fuß. Tja, er scheint an meinem Bein dran zu sein. Wenn das überhaupt meine Beine sind. Wodka ist ziemlich lecker. Wodka würde sich auch gut in meinen Donuts machen. Wodka-Vanillecreme. Ein Verkaufsschlager. Ich würde sie jedenfalls kaufen. Wenn das nicht meine Füße sind, wem gehören sie dann? »Ich bin soweit«, wiederholte er, allerdings wußte er nicht mehr so genau, wozu eigentlich. Wollte er seine verlorengegangenen Füße suchen? »Oh, was für ein wundervoller Satz. ›Ich bin soweit.‹ Sind Sie bei Ihrer Frau auch so romantisch?« Marty blinzelte. »Meine Frau? Die ist einfach nur da. Wir reden nicht, wir tun es, verstehen Sie, was ich meine?« Marty wußte, was er meinte, immerhin zehn Sekunden
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lang, dann wußte er gar nichts mehr. Ihn durchströmte eine große, warme Woge. »Was sind Sie doch für eine Schießbudenfigur! Mein Mann hatte recht, Sie stehenzulassen. Zuerst hatte ich Mitleid mit uns beiden. Jetzt kann ich mich nur noch selbst bemitleiden. Ich glaube wirklich nicht, daß ich...« June brach ab und blickte auf Marty, der langsam vor ihr auf die Knie sank. »Betteln hilft nicht«, sagte sie mit unsicherer Stimme. Da blickte Marty zu ihr hoch. Sie ragte vor ihm auf wie ein Turm, wie ein weiblicher Turm, ein hoher, weiblicher Turm, er konnte kaum dessen Spitze erkennen. Sein Blick heftete sich an Junes Busen, der über ihm wogte, doch er wußte nicht, was das war, er hielt es für eine Art Sims, einen Erker an diesem großen, weiblichen Turm. Wenn er es schaffte, bis zu diesem Sims hinaufzulangen, wenn er sich daran festhalten konnte, dann wäre alles in Ordnung. June schlug ihm auf die grabschenden Finger. »Pfoten weg, Arschloch!« Marty nickte ernst. Seine Miene hellte sich auf, denn jetzt wußte er, was er zu tun hatte. Mit beiden Händen griff er an seinen Kopf und nahm die Dreami-Donuts-Kappe ab, die er, so gut es ging, zusammenfaltete und behutsam auf den Teppich links neben Junes Füße legte. Noch einen Moment starrte er die Kappe an, dann fiel er bäuchlings darauf, wälzte sich auf die Seite und stöhnte laut auf. Danach gab er keinen Mucks mehr von sich. June stupste ihn mit der Zehenspitze. »Marty?« Sie stupste ihn noch einmal, etwas fester. »Donut Master?« Da lächelte er kurz, doch das war alles. »Marty, Sie sind auf meinem Teppich ohnmächtig geworden. Das geht doch nicht!« Doch Marty lag unbeweglich wie ein Felsbrocken mitten in ihrem Wohnzimmer. Eigentlich war er ja eher ein
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schmächtiger Mann, doch ausgestreckt auf dem Boden liegend erinnerte er tatsächlich an ein geologisches Gebilde. Was soll ich jetzt tun? Nervös trat June immer wieder gegen ihn. Wahrscheinlich sollte ich einfach trotzdem die Videokamera nehmen und ihn filmen. Junge, das würde Henry die Schuhe ausziehen, oder? Ein Video vom schlafenden Zucker-Dealer, nach einem wilden Intermezzo am Nachmittag. Eine kleine Revanche. Und wäre es nicht ein Heidenspaß, das alles den Zwillingen zu erklären? Sie trat noch einmal gegen Marty, und er rollte auf den Rücken, mit flackerndem Blick und unverständlichem Gemurmel. June kniete sich hinter Martys Kopf, packte ihn unter den Armen und hob ihn an. Sie könnte es schaffen. Sie könnte ihn zum Wagen hinauszerren. Und dann... war doch egal, oder? Warum ihn nicht hinter dem Dreami Donuts abladen? Na klar, neben dem Container. Dort habe ich ihn entdeckt, dorthin bringe ich ihn zurück. Die Videokamera wäre eine wunderbare Rache gewesen, Marty! Schade, daß wir nicht mehr dazu kamen. Moment mal. June schritt vor Martys Körper auf und ab. Moment, Moment. Sie lächelte. Ja, das könnte funktionieren. Es ist sogar viel besser! Schließlich machen sie es doch immer so, die Schauspieler in den Filmen, nicht wahr? Wir fingieren Sex. Martys Körper ist schließlich hier, mehr brauche ich nicht dazu. Simulierter Sex, und ich muß mich nicht vor Donut Masters Cremefüllung hüten. Ich wollte es sowieso nicht mit ihm tun. Oder ich wollte es und zugleich auch nicht, aber das ist jetzt ohnehin eine hypothetische Frage. Auf jeden Fall wollte ich Henry eine Lektion erteilen. Sie ging nach oben, um die Kamera zu holen. Als June die Videokamera gefunden hatte, schlüpfte sie aufgeregt ins Schlafzimmer. Es überlief sie heiß und kalt, denn sie war im Begriff, etwas Verruchtes zu tun. Etwas Verruchtes, vielleicht Anrüchiges, aber natürlich nichts
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Verderbtes. Was allerdings, wenn Marty zu sich kam, während sie keuchend auf ihm lag? Wenn sie zu stürmisch war? Sie schauderte. Und sollte sie unten oder oben liegen? Was würde Henry mehr kränken, wenn er seine Frau devot oder dominierend sah? Klar, natürlich die Domina. Vielleicht sollte sie Leder tragen? Mensch, das wär's! Aber ich habe nur diesen knöchellangen Wildledermantel, den mir Henry zu Weihnachten geschenkt hat. Außerdem sollte ich mich nicht verzetteln. Also, was brauche ich? Sie zog eine Handvoll Unterwäsche aus der Kommode. Die verstreue ich um uns herum, damit Henry sich die animalische Wollust besser ausmalen kann, die uns in seinem Wohnzimmer packte. Auf dem Teppich. Am hellichten Tag. Sie zerrte ein Laken vom Bett und eilte hinunter. Marty hatte sich nicht gerührt. Jetzt überlief June eine Gänsehaut. Atme. Donut Master, na mach schon. Hol Luft. Er hat diesen Wodka viel zu schnell getrunken. Sie trat noch näher heran. Wenn es eine Alkoholvergiftung ist, kann er daran sterben. Verdammt, ich muß mir eine glaubhafte Geschichte ausdenken. Also, er stürmte hier rein. Nein, besser, er hat mich entführt, weil ihm mein Mann die Behandlung verweigerte — na, atme doch endlich, Marty —, er hat mich entführt, und Jeffrey Lyons ist mein Zeuge, denn er hat den Tumult in der Garage bemerkt und wollte mir zu Hilfe eilen. Und dann? Dann hat Marty mich ins Haus gedrängt, ich bekam eine Flasche Wodka in die Hand und schlug sie ihm über den Schädel... dabei stand sein Mund offen, und so floß ihm eine Menge Alkohol in die Kehle. — In diesem Augenblick zuckte Marty mit dem Bein und lächelte blöde, als erheitere ihn Junes lächerliches Szenario. Sie hätte ihn vor Erleichterung am liebsten umarmt. Nein, Marty Master, ich weiß was viel Besseres, auch wenn du nie erfahren wirst, daß es geschehen ist. Sie zog ein Beistelltischchen zu ihm heran, legte dann Bücher und
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Zeitschriften unter die Kamera (Henrys Bücher und seine Fachzeitschriften), bis sie hoch genug stand und die Kameralinse auf Martys aufgeschwemmte, träge Körpermitte gerichtet war. Ein bißchen näher ran mit dem Zoom, hoppla, wieder ein bißchen zurück. So. Perfekt. Und nun? Sie hielt noch immer die Unterwäsche in der Hand. Also gut, verstreuen. Sie warf sie in die Luft, der Haufen flog gegen die Decke und fiel dann runter — direkt auf Martys Gesicht. Ohne aufzuwachen, gab Marty ein leises Brummen und schmatzende Geräusche von sich, während er wie ein Ziegenbock auf einem von Junes blaßblauen Slips herumzukauen begann. Sie bückte sich, um den Wäschehaufen von seinem Gesicht zu räumen, und erwischte alles bis auf den blaßblauen Slip, den Marty mit den Zähnen festhielt. June zog daran. Doch Marty, obwohl noch immer ohnmächtig, ließ nicht locker und zog ebenfalls. So ging es eine Weile hin und her, bis June ein Bein neben seinen Kopf setzte und mit aller Gewalt an dem Höschen zerrte. Plötzlich taumelte sie zurück, den Slip wie eine Trophäe in der Hand. Darin ein klaffendes Loch. Und bevor sich Martys Lippen schlössen, sah sie noch einen blauen Stofffetzen in seinem Mund verschwinden. Seine Kaubewegungen hielten an, dann ein heftiges Schlucken. Donut Monster. June ließ den Slip wieder auf sein Gesicht fallen. Diesmal reagierte er gar nicht. Gut, so droht mir zumindest keine Gefahr. Wie fange ich es jetzt an? Wie nackt müssen wir wohl sein? June breitete das Laken über Marty — zu hoch, es verdeckte auch sein Gesicht. Dadurch wirkte Marty weniger wie der Partner in einem Pornostreifen als vielmehr wie das Opfer in einem Kriminalfilm. Sogar wenn sie ihm das Laken vom Gesicht zog, ähnelte er einer Leiche. Na, was soll's, ich habe schon öfter mit einem Halbtoten geschlafen, stimmt's Henry? Und sie zog ihm das Laken ganz
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vom Körper. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als ihn auszuziehen. June knöpfte Marty das Hemd auf und streifte es ihm ab. Seit sie mit Henry verheiratet war, war dies das erste Mal, daß sie sich einem Mann mit sexueller Absicht, nun ja, zumindest mit vorgetäuschter sexueller Absieht näherte. Doch sie empfand keine Erregung, nur eine milde, anatomisch begründete Neugier. Jetzt zu mir. Über die Schulter warf sie einen Blick auf die Videokamera, deren offenes Auge sie unverhohlen anstarrte. Schamhaft drehte sie sich weg. Dabei war das Ding noch nicht einmal an — würde sie es wirklich schaffen, die Sache durchzuziehen, wenn erst einmal die Kamera surrte? Ihr blieb keine andere Wahl. So sah sie sich noch einmal prüfend im Wohnzimmer um: Die Gardinen waren geschlossen; soweit sie es beurteilen konnte, gab es keine ungebetenen Zaungäste. Nervös räusperte sie sich, dann begann sie ihre Bluse zu öffnen. »Marty?« flüsterte sie und zögerte, den letzten Knopf aufzumachen. Marty leckte sich wie in froher Erwartung über die Lippen, aber das war seine einzige Reaktion. So ließ June die Bluse von ihren Schultern gleiten und kniete sich, nur in BH und Hose, neben Marty. Vielleicht war das ja nackt genug. Sie warf einen Blick auf die Videokamera, über deren wartendem Auge sich ungeduldig eine Augenbraue zu heben schien. Na gut, was soll's. Sie setzte sich, streckte die Beine in die Luft und zog sich auch die Hose aus. In der kühlen Luft begann sie zu zittern. Oder war es heiß, und sie hatte Schüttelfrost? Nein, es war weder heiß noch kalt. Trotzdem zitterte sie. »Das ist doch verrückt«, sagte sie laut und griff nach der Hose, doch dann warf sie sie wieder auf den Teppich. Vielleicht sollte sie einfach die Kamera anschalten und Henry eine Standpauke halten? Nein, ein Bild sagt mehr als tau-
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send Worte, so hieß es doch. Dann sagte ein Videofilm also soviel wie... ach, zum Teufel damit, Mathematik war noch nie ihre Stärke gewesen. Jedenfalls war ein Videofilm praktisch unbezahlbar, eine unschätzbar beredte Revanche. Jedesmal, wenn Henry mich wieder betrügen will, schiebe ich einfach diese Kassette in den alten Recorder, nur so zur Erinnerung. Hmmm, überlegte June. Zur Erinnerung? Heißt das, daß ich Henry doch nicht den Laufpaß geben will, trotz allem, was er mir angetan hat? Daß er weiterhin an meiner Seite leben wird und ich ihn erinnern muß? Oder löse ich unsere Ehe, verurteile die Zwillinge dazu, zwischen ihren geschiedenen Eltern hin und her zu pendeln, verurteile mich selbst zu einem Single-Dasein (sie schauderte) mit gelegentlichen Rendezvous? Verzweifelt blickte sie auf Marty hinunter, als handelte es sich bei ihm bereits um ihre erste Verabredung — so also endete der Abend, ihr RendezvousPartner lag betrunken und schnarchend auf dem Wohnzimmerteppich! Nein, alles, nur das nicht. Ich werde meine Ehe retten, aber dieser Videofilm ist Henrys Strafe und soll ihm auf ewig eine Lehre sein. Sie griff nach hinten und hakte den BH auf, den sie dann langsam abstreifte. Marty stöhnte leise, als ob er durch die geschlossenen Augenlider zusehe. Dadurch kam June sich schmutzig vor. Aber letztlich ging es doch darum, oder? Um schmutziges Treiben. Zeit, die technische Seite zu klären, June. Licht, Kamera, Handlung et cetera. Von Marty war kein aktiver Beitrag zu erwarten, soviel stand fest. Alles hing allein von ihr ab. Durch sie mußte Leben in die Darstellung kommen. Immerhin war sie darin nicht gänzlich unerfahren. Sie hatte durchaus Übung darin, im Bett etwas vorzugaukeln. Wenn Henry sie mal wieder genausowenig interessierte wie jetzt Marty, wenn er mal wieder nichts als ein Körper unter ihr — oder auf ihr — war, da blieb ihr nichts anderes übrig, als
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ihm was vorzuspielen. Sonst schmollte Henry, oder erfragte ihr Löcher in den Bauch, als könnte er sie zum Orgasmus bringen, indem er ihr unermüdlich dieselben Fragen stellte. Okay, dachte June. Ich weiß, was zu tun ist, aber ob ich meine Rolle und die von Marty bewältige, steht noch dahin. Er liegt da wie ein Holzklotz, also muß ich die Aufmerksamkeit des Publikums auf mich lenken, als ob ich einen Oscar damit gewinnen will. Verführe die Kamera, ist das nicht der Rat an junge Schauspieler? Zu ihrem eigenen Erstaunen fand sie Gefallen an dieser Idee. Also, Kamera an. Aber wie? Marty ist hier, die Kamera dort drüben. Ich kann sie doch nicht mit meinem Zeh einschalten. Aber ich kann sie auch nicht anmachen und dann zu Marty zurückrennen. Oder vielleicht ist das gar nicht so schlecht, ich darf mich nur nicht schnell bewegen, sondern ganz langsam. Ja, mein üppiger nackter Hintern wird das erste sein, was das Publikum, ich meine Henry, zu sehen bekommt. Er wird den ganzen Bildschirm ausfüllen, Henry wird den Blick nicht davon wenden können, bis ich wieder bei Marty angelangt bin. Und noch bevor er den Schreck überwunden hat, meinen nackten Hintern hier vor sich zu sehen, bin ich bereits mit Marty zugange. Henry wird den Übergang gar nicht bemerken, er wird mit offenem Mund dasitzen und immer wieder nur denken: Das ist doch Junes Hintern, ja, das ist Junes Hintern. Das gibt mir eine Minute Verschnaufpause. In der Zeit kann ich mit Marty anfangen und mich bemühen, aus dem Donut Master einen scheinbar lebendigen, leidenschaftlichen Partner zu machen, bevor Henry es überhaupt mitkriegt und losstammelt: Mein Gott, sie bumst mit irgendeinem Kerl, sie bumst da mit irgendeinem Kerl. Gut. Soweit alles in Butter. Jetzt sollte ich wohl besser auch noch die Unterwäsche ausziehen. Wenn ich die nicht mehr anhabe, bin ich vollkommen nackt. Damit habe ich
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die Grenze überschritten. Oder überschreite ich sie erst, wenn ich die Kamera einschalte? Mach dir nichts vor, June, du hast die Grenze bereits überschritten, als du Marty neben dem Dreami-Donuts-Container entdeckt und dabei gedacht hast, he, genau das ist der Mann! Damit war der Vorsatz gefaßt, der eigentliche Vollzug ist nur noch die körperliche Umsetzung des Gedankens. Also runter mit dem Höschen. Sie hielt den Atem an und stieg aus ihrem Slip. Die Wände stürzten nicht ein, und auch Marty machte keinen Mucks. Außerdem will ich es ja gar nicht wirklich mit ihm treiben, also ruhig Blut. June stand nackt über ihm. Sie beugte sich vor und zog das Laken zurecht, so daß es bis knapp über seinen Hosenbund reichte. Mit dem nackten Oberkörper erweckte er nun folgenden Eindruck: Kerl/nackt/im Begriff, meine Frau zu bumsen. June legte sich die Hand über die linke Brust und fühlte, wie ihr Puls raste und immer wieder aussetzte. So aufgeregt war sie das letztemal gewesen, als... als sie es damals, vor langer, langer Zeit, zum ersten Mal mit Henry tat. Ich darf hier nichts durcheinanderbringen. Schwelg nicht in Erinnerungen, konzentriere dich und fang an. Das Licht, fiel ihr ein. Ich brauche mehr Licht. June ging durchs Wohnzimmer, drehte hier an einem Knopf und betätigte dort einen Schalter. Jetzt die Kamera. June ging zu dem Beistelltischchen und stellte sich so vor das Voyeur-Auge, daß ihr Hintern nur fünf Zentimeter von der Linse entfernt war. Um auf PLAY zu drücken, mußte sie sich halb umdrehen und nach hinten fassen. Und... ab. Sie drückte auf den Knopf und fühlte sich dabei wie elektrisiert, als hätte sie sich selbst an den Stromkreis angeschlossen. Die Kamera erwachte zum Leben, sie klickte, summte und stellte sich scharf. Immer wieder raste die Autofokus-Linse vor und zurück, damit Junes Hintern
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klare Konturen bekam. Sie stellte sich vor, wie auch Henry sich anstrengen würde, das Bild scharf zu sehen. Dieses verschwommene Rosa, dachte June, die Farbe meiner Haut, und dazu meine Stimme... »Marty!« rief sie laut. »Du willst es wirklich noch mal tun?« Bewegung, Bewegung! Sie machte einen Schritt. Nicht wie ein Roboter, sexy! Ein zweiter Schritt, diesmal mit laszivem Hüftschwung. Hinter ihr stellte sich wieder die Kamera scharf. Jetzt erkennst du es, Henry, nicht wahr? Auf dem Bildschirm ist deine Juni-June. »Aber, Marty, ich weiß nicht, ob ich das durchstehe. Es war das erste Mal schon fast zuviel für mich.« Waren die zehn Minuten mit Lotty Daniels im Taurus das wert, Henry? Wohl kaum, wie? Jetzt beugte sie sich über Marty, wobei sie noch immer den Blick auf ihn verstellte. Das ist der heikelste Moment: mich rittlings auf ihn draufsetzen, ohne das Laken zu verrutschen. So geht es nicht. Zu spät. Sorge für Ablenkung. June schnappte nach Luft. »Himmel, was ist der groß! Noch größer als gerade eben. Du bist kein Mensch, Marty!« Sie krabbelte auf ihn, hektische Bewegungen und keuchender Tumult. Dann zog sie sich das Laken über die Hüfte und begann, auf ihm zu reiten. Ihr Busen hob und senkte sich rhythmisch — das ist es, was Henry sehen wird! Ich hab es getan, das bin ich, das Laken verdeckt Martys Hosen, mmmm, es klappt, mmmm, gut. Sie lehnte sich vor und ließ das Haar über Martys Gesicht fallen. Sein Körper unter ihr ruckte und zuckte in Übereinstimmung mit dem ihren — zumindest hoffte sie, daß es so aussah. Wow! Das ist ja wie Aerobic, Sex-Aerobic, ich lege hier eine Trainingsstunde ein! Sie wandte sich der Kamera zu, und zwischen Keuchen und Stöhnen lächelte sie. »Marty, Marty«, juchzte sie jetzt, »es ist so toll, Marty, so süß.« Mmmm. Süßes für die Zahnarzt-Gattin. June bewegte
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sich auf und nieder, während sie sich gegen Marty preßte. Merkwürdiges Gefühl. Mmmm. »So toll und so süß!« Was macht er da unten eigentlich mit mir? Er ist kaum bei sich, und trotzdem, trotzdem. Sie konnte das Wort nicht aus ihren Gedanken verbannen: süß. Es bestimmte den Rhythmus ihrer Bewegungen. Süß. Donuts. Karies. Bohrer. Eclairs. Was macht er da unten mit mir? Was mache ich da unten mit mir? »Marty, mmmh, oh, Marty, ich glaube...« Das kann nicht sein. Ich soll es schließlich nur simulieren. Ein Schaudern durchlief ihren zuckenden Körper. Es ist nur vorgetäuscht. Süß. Hör nicht auf, Marty. »Hör nicht auf, Marty!« Aufhören womit? Es war dabei zu passieren — etwas sehr Süßes... June reckte ihr schweißüberströmtes, rotes Gesicht der Kamera entgegen. Jetzt warf sie sich auf Marty und erstarrte. Sie schrie, sie quiekte. Marty war nicht mal am Ball, und trotzdem schoß er das Tor des Jahres, ach was, des Lebens! Wer war denn überhaupt am Ball? June fühlte, wie sie abhob, über ein Stadion voller Menschen flog, die Menge unter ihr jubelte, die Lichter und die grüne Rasenfläche unter ihr entschwanden. Hoch, hoch, immer höher, bis sie den Höhenflug abbrechen mußte, es war zuviel, zuviel für sie. Marty/Jeffrey/Henry! June sah auf Martys Gesicht hinab. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Mit einem Aufschrei rollte sie sich von ihm runter und in Richtung Kamera. Er schrie ebenfalls auf und wälzte sich in die andere Richtung. Mit ausgestrecktem Bein trat sie gegen die Kamera, die sich ausschaltete und vom Tischchen fiel. Ende der Vorstellung. Schnitt. Marty lag wie ein sturmgezaustes Blatt ausgestreckt neben dem Klavier. Ihm drehte sich alles. Beide Hände an den Schädel gepreßt starrte er June an. Diese lag total entspannt und halb ohnmächtig auf dem
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Teppich, ihr Brustkorb hob und senkte sich schwer. Sie wackelte mit den Zehen und den Fingern, um festzustellen, ob sie noch lebte. Ob sie lebte? Sie war gerade eben sehr viel mehr als nur quicklebendig gewesen, in so etwas wie einer vierten Dimension des Sex. Langsam wandte sie den Kopf und ließ Marty in ihr Blickfeld rücken. »Wow«, sagte sie, sobald sie einen Ton herausbrachte. »Mrs. Miles«, flüsterte Marty zu ihr hinüber, und er zuckte zusammen. Seine Augen schienen sich nicht synchron zu bewegen. Der Wodka, fiel ihm ein. Unmengen von Wodka. »Mrs. Miles«, wiederholte er, als ob sie das einzige im Raum wäre, das er orten konnte. Seine Stimme ernüchterte sie ein wenig, obwohl ihr Unterleib weiterhin glücklich bebte. Henry, ich vergebe dir, dachte sie kurz. Dann stützte sie sich auf den Ellbogen. »Mrs. Miles.« Auch Marty wollte sich auf einen Ellbogen stützen, doch sein Kopf verfehlte seine Hand und knallte auf den Teppich. June zog das Laken über sich und setzte sich auf. »Ist alles in Ordnung? Sie wollen sich doch nicht übergeben? Sie müssen verstehen, der Teppich war erst letzte Woche in der Reinigung.« »Mrs. Miles.« Seine Gedanken schweiften ab, die Augenlider wurden ihm schwer. Er stellte sich vor, daß seine Gehirnmasse durch Bärige Beerenfüllung ersetzt war. Und daß sich sein Körper zu einem O zusammenrollte. Er war zum perfekten Donut mutiert. Marty lächelte. Dann runzelte er die Stirn. Weit weg, aus einer unendlichen Dunkelheit näherte sich ihm ein riesiger Mund. In dem Mund schimmerten mehrere Zahnreihen. Dann formte sich ein Gesicht um den Mund. Das Gesicht von Dr. Henry Miles. Marty riß die Augen auf und sah Mrs. Miles, die, in ein Laken gewickelt, auf ihn zukam. Er kauerte sich an das Klavier. »Marty, hören Sie mich?«
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Ja, nickte er. Wieder umklammerte er seinen Kopf, die Füllung, die immer wieder gegen seinen Schädel schwappte, mußte sich erst setzen. »Sie sind ja nackt«, wisperte er heiser. Ein Blick an sich hinunter. Er war halbnackt. Doch die entscheidende Hälfte schien angezogen zu sein. »Sie lagen auf mir.« »Es war perfekt, Marty. Und wir haben alles auf Video.« »Alles?« Was hatte er getan? Wieder überprüfte er, ob er die Hosen anhatte. Was der Fall war. »Ich habe meine Hosen an.« Wenn sie bestätigte, daß er Hosen trug, würde das seine Behauptung verifizieren. Aber sie dachte gar nicht daran. Statt dessen erhellte ein Lächeln ihr erhitztes Gesicht. Von Frauen mit erhitzten Gesichtern verstand Marty etwas. Eine nackte Frau mit erhitztem Gesicht, die nur ein Laken um sich gewickelt hatte, hieß, daß er — auch wenn er jetzt Hosen trug — diese vorher wahrscheinlich nicht angehabt hatte. In einem immensen geistigen Kraftakt versuchte er, den augenblicklichen Zustand seiner Genitalien zu erforschen, da er ja schlecht einfach die Hosen runterlassen und einen Blick darauf werfen konnte. Er hatte nicht das Gefühl, eben gekommen zu sein. Der leichte Hodenschmerz, den er nach jedem Zusammensein mit seiner Frau hatte, war nicht vorhanden. Tatsächlich fühlte er überhaupt nichts. Ihm wurde flau vor Angst. Da unten war alles taub. Was hatte sie mit ihm angestellt, während er ohne Bewußtsein war? Zählte sie zu diesen sexbesessenen, psychopathischen Racheengeln? Seine Hand glitt zwischen seine Beine und tastete. Erleichterung durchströmte ihn. Hastig zog er die Hand wieder zurück, aber sie hatte die ganze Szene beobachtet. »Müssen Sie pinkeln, Marty? Als meine Jungen noch klein waren, haben sie das auch immer getan.« »Nein, eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich wollte nur...«
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Seine Stimme versagte. June ging um ihn herum. Was für ein faszinierendes Wesen! Ganz und gar abstoßend, und dennoch hatte sie mit ihm gerade den intensivsten, vollkommensten Orgasmus ihres Lebens erlebt. Und dann zupft und kratzt er an sich rum wie ein Zweijähriger. Marty umklammerte seine Knie und sah zu ihr auf. Noch immer glitt sein Blick immer wieder von ihr ab. Wenn sie doch nur still stehen würde! Oder stand sie womöglich still, lag es am Wodka, daß sie um ihn kreiste? »Wenn Henry das Video zu sehen kriegt«, sagte June, »weiß er, wozu ich fähig bin und was er und ich alles versäumt haben.« Es dauerte geraume Zeit, bis sie weitersprechen konnte. Dann sah sie Marty eindringlich an. »Wir existieren ab jetzt nur noch auf Video, Marty. Wir haben beide unseren Beitrag geleistet, eigentlich sehr viel mehr als das, und jetzt ist es Zeit, sich wieder anzuziehen. Wir ziehen uns an, ich lade Sie bei Ihrem Container ab und werde Ihnen nicht einmal zum Abschied zuwinken, verstanden? Uns beide gibt es ab sofort nur noch als Video.« Marty nickte und rief: »Ja. In Ordnung. Einverstanden. Auf zum Container!« Er wollte aufspringen, doch der Wodka ließ seine Knie schlottern. Er stützte sich auf das Klavier und versuchte es noch einmal. Ob er sie wohl bitten konnte, ihn gleich in den Container abzuladen statt daneben? Dort — neben dem übrigen Müll dieses schrecklichen Tages — würde er sich heimisch fühlen. »Können Sie gehen?« fragte eine hoch über ihm aufragende June. Eine ihrer Brüste lugte aus dem Bettlaken. Marty schloß die Augen. Er wollte nicht noch mehr Probleme. Er wollte seinen Container. »In einer Minute geht's wieder«, log er. Vielleicht konnte er, wenn sie ihm den Rücken zuwandte, aus der Haustür krabbeln und verschwinden? Das war also
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Ehebruch. Und darauf ließ sich die Hälfte aller verheirateten Menschen in Amerika freiwillig ein? Als June ihre Kleider zusammensuchte, spähte er zu ihr hinüber. Nun ja, zumindest ihr hatte es gefallen. Da krampfte sich plötzlich sein Magen zusammen, der schneidende Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Marty stieß auf. Seine Zunge fuhr im Mund herum und förderte etwas zutage, was er herausfischte und begutachtete. Ein nasser blauer Stoffetzen. Da June sich wieder an ihn wandte, stopfte er ihn zurück in den Mund. »Wollen Sie sich nicht etwas beeilen, Marty?« Dabei warf sie ihm seine zerknautschte Dreami-Donuts-Kappe und sein Hemd zu. Nur mit großer Mühe gelang es ihm, in die Hemdsärmel zu schlüpfen. Warum hatte er blauen Stoff verschluckt? Zu was für einer abartigen Sexorgie hatte sie seinen wodkabetäubten Körper mißbraucht? Was hatte sie ihn sonst noch schlucken lassen? Würde aus ihm, wenn sie ihn aufschlitzten, der Inhalt eines Haifischmagens quellen? Blechdosen, Kerzenständer, Kartoffelchips-Tüten, blaue Stoffetzen. Er war ein lebender Müllcontainer! »Würden Sie bitte etwas mehr Dampf machen, Marty? Es ist schon nach vier. Meine Jungen werden bald heimkommen.« Augenblicklich war er auf den Beinen. Ihre Jungen kamen bald nach Hause. Und auch der umherstreunende Zahnarzt konnte jeden Moment hier auftauchen. Und mich aufschlitzen wie einen Hai. Nein, Zahnärzte benutzten Bohrer, keine Fischmesser. Wie lange dauerte es wohl, bis man zu Tode gebohrt war? Schwankend bewegte er sich durchs Wohnzimmer in Richtung Haustür. Doch June packte ihn am Arm und drehte ihn um 180 Grad. »Nein, nein. Durch die Küche, wissen Sie nicht mehr? Hintenrum durch die Garage.«
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Nein, er wußte es nicht mehr. Sein Verstand, jetzt auf Überlebensmodus geschaltet, blendete alles aus, was ihm widerfahren war. Ja, er versuchte sogar, Dinge auszublenden, die erst geschehen würden, wie die Rückfahrt mit ihr oder welche Greuel dieser Tag noch für ihn bereithalten mochte. In der Küche hielt June inne. Sie hatte die Videokassette in der Hand. Jetzt brauchte sie nur noch zwei Dinge. Das Isolierband lag in der Anrichte neben dem Kühlschrank. Sie stützte sich auf die Arbeitsplatte, schloß einen Augenblick die Augen, um sich zu konzentrieren, und begann dann den Zettel zu schreiben, den sie neben die Kassette kleben würde. Währenddessen blickte Marty mit stummer, hündischer Duldsamkeit auf die Tür zur Garage, sein Verstand lief auf Sparflamme. »So«, sagte June. Sie sammelte alles zusammen, einschließlich Marty, und marschierte durch die dunkle Garage zum Wagen. Die Fahrt zurück zum Dreami Donuts verbrachte Marty friedlich auf der Rückbank liegend, wo er nicht gesehen werden konnte. Die meiste Zeit dachte er an nichts, während er seine Zunge müßig über die Zahnreihen gleiten ließ. Doch als June in den MacDade Boulevard einbog, fiel ihm auf, daß seine Zunge hauptsächlich den immer gleichen Zahn betastete. Marty lächelte. »He«, sagte er und setzte sich auf. »He, wissen Sie was? Die Krone, die mich den ganzen Tag gequält hat, meine Zahnschmerzen — ich spüre überhaupt nichts mehr! Es tut kein bißchen mehr weh.«
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Kapitel 9 Wie sah nun der Plan aus? Henry blickte auf seine Uhr. Halb fünf. Also, der Plan, der Plan. Während er wartete, daß die Ampel auf Grün schaltete, trommelte er aufs Lenkrad. Der Plan war: Daddy töten und rechtzeitig zu einem späten Abendessen zu Hause sein. Aber war das realistisch? Vielleicht würde es selbst für ein spätes Abendessen zu spät werden, so daß er nur noch einen kleinen Imbiß vor dem Schlafengehen bekam. Aber ich brauche auf jeden Fall mehr als nur einen kleinen Imbiß, schließlich habe ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Na, wie auch immer — irgendwann einmal werde ich schon was in den Bauch kriegen, dieser Teil des Plans läßt sich nebenbei erledigen. Tückische Trugbilder von Pommes frites tanzten ihm vor den Augen. Also gut, der entscheidende Teil des Plans, erster Schritt: sich um Daddy kümmern. Nach der Begegnung mit Tommy Tooly war zwar der Wille da, aber noch nicht der Weg. Die Ampel schaltete auf Grün. Entschlossen, wenn auch ziellos, fuhr Henry los. Ihm kam es vor, als habe er den ganzen Tag in seinem Taurus verbracht und überlegt, wohin er eigentlich fahren wollte. Mein treuer, versehrter Taurus, du hast in diesen schrecklichen, nicht enden wollenden Stunden tapfer zu mir gehalten! Noch einmal muß ich deine Dienste in Anspruch nehmen, für eine letzte Fahrt zurück nach Fox Glen, wo ich ein Stelldichein mit Daddys Schicksalsgöttin habe. Dann werde ich dich nur noch bitten, mich nach Hause zurückzubringen, in den Schoß meiner Familie. Kannst du das für mich tun? Er streichelte das Lenkrad, und der Motor des Kombi schien wacker aufzuheulen. Los, Henry, es ist Zeit, sich über die häßlichen Details
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Gedanken zu machen! Wie wirst du Daddy umbringen? Wenn du diese Entscheidung erst getroffen hast, weißt du auch, wohin du fahren mußt. Wieder hielt er an einer Ampel. Zu einem Waffengeschäft? Zu einem Laden für Schlachtermesser? Oder willst du im Supermarkt einen Karton Plastiktüten kaufen? Er warf einen Blick auf Daddys Gebiß, dessen Zahnreihen auf dem Beifahrersitz noch immer ordentlich übereinander lagen und ihn unergründlich anlächelten. Das letztemal, als er sich mit Daddys Zähnen unterhalten wollte, hatte ihn eine Pseudopolizistin angeblafft. Nein, das Gebiß würde nicht zu ihm sprechen. Was konnte es ihm schon sagen, was er nicht bereits von Daddy persönlich in Fox Glen gehört hatte? »Erlöse mich«, hatte sein Befehl gelautet. Mit anderen Worten: Es ist mir egal, wie — sei ein Mann und überleg dir selbst, wie du es anstellst. Na gut. Also schön. Gehen wir es logisch an. Erstens: Ich bin nicht scharf darauf, erwischt zu werden. Zweitens: Ich möchte ein Gemetzel und Schmerzen vermeiden. Drittens: Ich will es möglichst rasch hinter mich bringen, das heißt in den nächsten paar Stunden. Wenn ich erst darüber schlafe, bringe ich es nie über mich. Tja, hier sitze ich nun und plane den Mord an meinem Vater. Seinen Selbstmord. Zum krönenden Abschluß des Tages. Was werden die Zwillinge machen, wenn sie irgendwann in späteren Jahren meinen Mord planen? Eine Münze werfen, wer es tun muß? Oder gehen sie zu zweit auf mich los, der eine mit Messer, der andere mit Pistole? Oder der eine mit den Tabletten, der andere mit dem Glas Wasser zum Runterspülen? Zumindest haben sie den Trost, zu zweit zu sein. Ich dagegen habe niemanden, der sich mit mir den Kopf über die Einzelheiten zerbricht. Denk nicht lange nach, hörte er seinen Vater flüstern (oder war es das Gebiß seines Vaters?), tu es einfach! Ich bin ein Gefangener des Pflegeheims, bis du mich be-
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freist. Weder Plastiktüte noch Schlaftabletten, keine von Daddys Methoden, nichts, was lange dauert. Schwester Speers wird auf der Hut sein. Henrys Handflächen wurden feucht. Aus jeder Pore seines Körpers kroch Schweiß. Wie oft hatte er heute schon seine Kleider mit seinen Angstsekreten durchtränkt? Niemals würde er in der Lage sein, sich vom Geruch dieses Tages reinzuwaschen. Der Taurus zitterte und stotterte, während er an der Ampel stand. Henry warf einen raschen Blick auf das Armaturenbrett. Himmel, die Tankanzeige war schon im roten Bereich hinter dem E! Henry errötete vor Scham. Ich habe heute nicht nur versäumt, mich selbst ordentlich zu ernähren, ich habe auch die Bedürfnisse meines Taurus ignoriert! Als endlich das Grünlicht aufleuchtete, gelang es ihm mit gutem Zureden, den Wagen noch bis zu einer Tankstelle an der übernächsten Straßenecke zu manövrieren. Er stieg aus. Eine blaue Buick-Limousine hielt auf der anderen Seite der Tanksäulen. Oha. Er beobachtete, wie Ronald D. James, der koboldähnliche Ausbrecher von Fox Glen, aus dem Buick hüpfte. Henry duckte sich hinter einer Zapfsäule. Jetzt, da Ronnie auf der Flucht war, sah er trotz seines greisen Alters und seines kleinen Wuchses viel eher wie ein Bösewicht aus. Soll ich ihn schnappen? Henry schloß die Augen und dachte nach. Na klar. Er ist doch kaum mehr als einen Meter groß und somit nicht allzu gefährlich. Ich pakke ihn am Schlafittchen und bringe ihn samt Buick zu Schwester Speers zurück. Dann wird sie so glücklich sein, daß sie Daddy in Ruhe läßt und ich ein bißchen mehr Spielraum habe, um ihn umzulegen. Da sie mir zu Dank verpflichtet ist, wird sie wegschauen, während ich tue, was getan werden muß. Mensch, vielleicht gibt sie mir sogar ein geeignetes Medikament dafür. Warum nicht? Daddy ist inzwischen ein rechter Quälgeist für sie, sie müßte doch froh
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sein, wenn sie ihn los wird. Henry erwiderte das Lächeln. »Sie sind's doch, oder nicht?« sagte Ronnie mit seiner hohen Stimme. »Der Zahnarzt, der mir bei der Flucht geholfen hat, stimmt's?« »Bei der Flucht geholfen?« krächzte Henry. »Na klar. Ohne Sie hätte ich es nicht geschafft.« Ronnie griff nach einer Zapfpistole und zerrte den langen Schlauch zu dem Buick. Henry wieselte hinter ihm her. »He, Moment mal. Mit Ihrer Flucht habe ich nicht das geringste zu tun.« »Mein Junge«, meinte Ronnie und steckte den Zapfhahn in den Einfüllstutzen, »Sie haben ganz wesentlich dazu beigetragen. Ich bin froh, daß ich die Gelegenheit habe, Ihnen zu danken. Würde es Ihnen gern irgendwie zurückzahlen.« Ronnie gluckste. »Junge, wie Sie sich den Schwestern mit dem Rollstuhl in den Weg gestellt haben! Schon auf den ersten Blick habe ich gewußt, daß ich auf Sie zählen »Ich kann.« habe niemanden aufgehalten, ich habe nur...« »Ich würde Ihnen gern Geld dafür anbieten, aber es reicht nur gerade noch für diese Tankfüllung.« Ronnie zog die Zapfpistole heraus und schob Henry beiseite, um sie einzuhängen. Henry folgte ihm auf Schritt und Tritt. »Sie haben diesen Wagen gestohlen.« Ronnie warf ihm einen verschlagenen Blick zu. »Das war eine Beschlagnahmung aufgrund eines Notfalls.« »Sie müssen zurückkehren.« Henry erinnerte sich, daß er Ronnie dingfest machen wollte, und trat einen Schritt näher. »Nach Fox Glen? Ha!« Henry wich zurück. Selbst so ein Rumpelstilzchen konnte einem, wenn es entsprechend gereizt war, Blessuren zufügen. »Was ist denn so schlimm an Fox Glen?« »Muß schon was ziemlich Schlimmes sein, das können
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Sie sich doch denken«, erwiderte Ronnie und ging zur Kasse. Henry trabte hinter ihm her. »Wenn ich mir eigens die Mühe gemacht habe auszubrechen, muß es ja wohl schlimm sein, meinen Sie nicht?« Ronnie reichte dem Kassierer einen Zwanzig-Dollar-Schein und wartete auf das Wechselgeld. »Mann«, sagte er, »allein schon an einer Tankstelle zu tanken ist einfach schön, wenn Sie wissen, was ich meine. Es ist schön, wieder am Leben teilzuhaben.« »Mein Daddy ist auch dort«, bemerkte Henry plötzlich. »Und sie haben ihn immer gut behandelt.« »Stu, ja, genau«, meinte Ronnie und begab sich mit schnellen Schritten zum Buick zurück. »Ein netter Kerl. Und ein guter Pokerspieler. Tut mir leid, daß ich ihm nicht auf Wiedersehen sagen konnte. Ich konnte mich von niemandem verabschieden. Hatte keine Gelegenheit dazu, mußte zusehen, daß ich wegkam.« »Sie haben ihn immer anständig behandelt.« »Oh, physisch gesehen wird man durchaus anständig behandelt«, entgegnete Ronnie, als er die Tür des Buick öffnete und hineinkletterte. »Man wird zweifellos ordentlich versorgt, da kann man nicht klagen.« »Was ist dann das Problem?« flüsterte Henry. »Nicht die physische Seite, mein Junge, sondern das Konzept, das dahinter steckt. Sie hatten zwar meinen Körper, aber mit dem Kopf und dem Herzen war ich nie dort. Und jetzt habe ich vollgetankt und möchte etliche Meilen zwischen mich und dieses mustergültige Pflegeheim bringen.« Henry nickte. Was konnte er dazu noch sagen? Ronnie betrachtete ihn. »Stu ist jetzt ungefähr ein Jahr drin, oder?« »Ja.« »Ein Jahr«, sagte Ronnie leise. »Ein Jahr ist nicht viel, wenn man eine Million Jahre zu leben hat. Aber das haben
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wir eben nicht, stimmt's?« Er streckte Henry seine dünne Hand entgegen, die gerade noch aus dem Fenster hinaus reichte. »Nochmals danke, äh...« »Henry.« »Henry. Henry, der Zahnarzt. Danke, daß Sie das für mich getan haben. Und glauben Sie mir, ich habe vor, es Ihnen zurückzuzahlen.« »Das habe ich doch gern getan, Ronnie.« Inzwischen war Henry davon überzeugt, daß er ihm vielleicht doch in gewisser Weise ein klein wenig bei der Flucht geholfen hatte. Schon indem er ihn jetzt nicht dingfest machte, war er ihm behilflich, oder etwa nicht? Und in einer Stunde oder so werde ich auch Daddy zur Flucht verhelfen. Daddy schlägt lediglich einen anderen Weg ein, weiter nichts. So wie Ronnie seine Entscheidung getroffen hat, hat Daddy die seine getroffen, und ich leiste ihnen nur Beistand. Er sah dem davonfahrenden Buick hinterher. Wie schön wäre es, wenn Daddy mit einem gestohlenen Wagen dem Sonnenuntergang entgegenbrausen würde, anstatt mit einer Plastiktüte über dem Kopf- oder was mir sonst einfällt — in die Grube einzufahren. Aber Daddy ist nicht so ein kleiner, flinker Kobold wie Ronnie, sondern hüftkrank, und er hat nicht diese Energie. Er ist einfach ein alter Mann, der erkannt hat, was das Pflegeheim seiner Seele antut. Henry winkte Ronnie nach, dann tankte er seinen Taurus voll. Während er zur Kasse schritt, zückte er die Brieftasche. Überrascht blieb er stehen. Er hatte doch einen Zwanziger darin gehabt, den hatte er am Vormittag noch gesehen. Aber da war kein Zwanziger. Der Kassierer wartete auf sein Geld. Ronnie! Er hatte mit einem Zwanziger bezahlt. Und gesagt, daß er es irgendwann zurückzahlen wolle. Henry schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Fuffzehn achtzig«, murmelte der Kassierer. »Äh, nehmen Sie auch Kreditkarten?« fragte Henry. Die
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hatte Ronnie ihm noch gelassen. »Haben Sie's nicht in bar? Kreditkarten sind immer soviel Schreibkram. Sind Sie sicher, daß Sie es nicht bar haben? Manche zahlen nämlich mit Kreditkarte, obwohl sie Bargeld haben.« »He, hören Sie mal, ich bin gerade beraubt worden, klar?« fauchte Henry ihn an und reichte ihm eine Kreditkarte. »Na klar«, erwiderte der Kassierer, »ich glaub's Ihnen ja.« Natürlich hatte Ronnie ihn bestohlen. Ronnie war von Natur aus ein Taschen- und ein Autodieb. Und verrückt dazu. Und ich habe ihn einfach laufen lassen, obwohl ich ihn als Trumpf gegenüber Mrs. Speers hätte ausspielen können! Ich hätte mich an meinen Plan halten sollen. Ja, der Plan, der Plan... Erlöse Daddy. Ohne weitere Umschweife. Schmerzlos, sauber, schnell. Wo kann man so was kaufen? Henry stieg in seinen Taurus und schlug die Tür zu. Sein Blick fiel auf Daddys Prothese. Was hatte er in Fox Glen gesagt? »Du könntest mir eine Spritze geben.« Aber mit welchem Inhalt? Zahnärzte haben keine tödlich wirkenden Medikamente. Da kam Henry ein Gedanke. Die verschlossene Kassette. Der Notfallkoffer, der in jeder Zahnarztpraxis zu finden sein mußte. In irgendeinem Schrank eingesperrt. Und vollgepfropft mit tödlichen Medikamenten. Der Plan! Henry drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste davon. Ein Ziel! Seine Praxis. Schmerzlos, sauber, schnell — das alles verhieß diese Kassette. Valium-, Phenobarbitol-, Epinephrinlösungen und wer weiß, was noch alles. Ich braue einen kräftigen tödlichen Cocktail zusammen, gebe Daddy die Spritze und deute auf eine große Vene. Henry biß sich auf die Lippe. Und dann verlasse ich leise den Raum. Alles weitere ist seine Sache, mehr kann ich nicht
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für ihn tun. Endlich, Tommy Tooly, ist eine Lösung in Sicht! Beinahe glücklich brauste Henry dahin. Es war eine grausige Angelegenheit, die vielleicht nicht gut für ihn ausgehen würde, aber so spielte das Leben eben. Wenn man sich entschied, den Kampf gegen die Liste seiner Ängste aufzunehmen, betrat man ein Reich der Risiken und Gefahren. Und errang vielleicht einen Sieg. Wenn man aber vor dem Kampf zurückschreckte, starb man — wie Henry nur allzu gut wußte — einen langsamen, schweißnassen und verzweifelten Tod. »Kein Angstschweiß mehr, Dentist Man!« rief Henry und trieb seinen Taurus an. Neben ihm auf dem Beifahrersitz klapperte das Gebiß. Hätte Henry hingesehen und zugehört, wäre er zweifellos zu der Auffassung gelangt, daß ihm die Zähne etwas sagen wollten. Er bog in den MacDade Boulevard ein. Heimatliche Gefilde! Dentist Man hätte gleich darauf kommen können, daß sich die Lösung seines Problems in seiner Praxis befand. Seine Praxis war immer schon der Ort gewesen, an dem sich die wesentlichen Dinge seines Lebens abspielten. In seiner Praxis konnte er nachdenken. Und nicht nur nachdenken, sondern auch handeln. Hier kam er zu greifbaren Ergebnissen. In seiner Praxis hatte er das Sagen, hatte er sein eigenes Schicksal und das anderer Menschen in der Hand. Und ehe der Tag sich seinem Ende zuneigte, würde in dieser Praxis das Produkt entstehen, das das Schicksal seines Vaters bestimmte. So wie es sein sollte. Sauber und ordentlich. Er lenkte den Wagen in die Einfahrt zu seiner Praxis. Die Einfahrt, die er sich mit dem Dreami Donuts teilte. Und selbst darin sah er nun einen höheren Sinn. Fäulnis und Verfall auf der einen Seite, Gesundheit, Hoffnung und Zahnmedizin auf der anderen. Yen und Jung. Chang und Eng? Na ja, wie man dieses harmonische
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Gleichgewicht eben nennt. Ich und Marty Marks: ein harmonisches Gleichgewicht. Wir bedingen einander. Ich sollte netter zu ihm sein. Henry fuhr in die Parklücke, in der in dick aufgemalten Lettern sein Name prangte. Vielleicht schaue ich kurz mal bei ihm vorbei und sehe mir seine Krone an. Warum nicht? Ja, warum eigentlich nicht? Warum soll ich nicht erst noch eine kleine Nebensächlichkeit hinter mich bringen, die ich heute unerledigt gelassen habe? Danach kümmere ich mich dann um Daddy. Außerdem würde es mich beruhigen, wenn ich mich erst mit jemands Zähnen beschäftigen könnte, ehe ich mein Kreuz auf mich nehme. Na klar, ich öffne die Praxis und rufe ihn an. Henry blieb neben seinem Taurus stehen und blickte zum Dreami Donuts hinüber. Irgend etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Da, im Schatten hinter dem Laden — was war das? Neben dem Müllcontainer lungerte anscheinend irgendein Obdachloser herum. Ruf Marty an, es geht nicht an, daß sein Geschäft alles mögliche Gesindel in diese Gegend lockt. Henry hastete zur Tür seiner Praxis und blieb plötzlich wie erstarrt stehen. »Oh«, sagte er, »oh, oh.« Er fuhr mit dem Finger den langen Sprung im Türglas nach. Er verlief zwischen der Aufschrift auf der Tür, genau zwischen »Henry Miles« und »Dr. med. dent«, so daß er Henry von dem medizinischen Titel trennte, der ihm die Ausübung seines geliebten Berufs gestattete. Alles, was mir heilig ist, wird heute tätlich angegriffen. Erst die Tür meines Taurus. Dann hier, dieser Anschlag auf die Pforte zu meiner Arbeitswelt. Was kommt als nächstes? Das einzige, was mir ebenso wichtig ist wie mein Wagen und meine Arbeit, sind meine Frau und meine Kinder. Erst in diesem Augenblick fiel Henry auf, daß an der Tür noch etwas ungewöhnlich war. Genau in Augenhöhe hatte jemand mit Isolierband eine Videokassette an die Tür geklebt. Daneben hing, ebenfalls mit einem unsauber
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abgerissenen Stück Klebeband befestigt, ein Zettel. Mit Junes Handschrift darauf. Henry dachte, er würde einen Schreikrampf bekommen, doch er brachte nur eine Reihe weiterer gedämpfter Oh-ohohs heraus. Er konnte nicht mehr schreien, nur noch wimmern. Eine Videokassette und eine Nachricht. Mein Auto, meine Praxis, und nun haben sie auch noch meine Frau entführt! In Gedanken ging Henry den Inhalt des Notfallkoffers durch. Was immer auch darin war, er würde es für sich selbst brauchen. Vorgebeugt zwang er sich, den Brief der Entführer zu lesen. Teuflisch gerissen, diese Kerle, lassen meine Frau schreiben, damit das FBI keine Fingerabdrücke sichern kann! »Henry«, hatte sie geschrieben. »Komm nicht nach Hause, ehe du dir diese Kassette angesehen hast. Tu es gleich. Deine Frau June.« Nicht etwa »Liebe Grüße, June«, sondern nur »Deine Frau June«. Offenbar hatte sie unter großem Druck gestanden. Diese Dreckskerle! Er stellte sich vor, wie er sie mit qualvollen Zahnbehandlungen malträtieren würde: Extraktionen, Wurzelkanäle ohne die Gnade örtlicher Betäubung, Zahnfleischausschabung. Laßt mich nur zehn Minuten mit ihnen allein, ehe das FBI sie abholt. Er sackte gegen die Tür. Sollte er das jetzt tun, zur Polizei gehen? Er entfernte die Kassette und den Zettel. Doch die Anweisungen lauteten, daß er sich das Band ansehen sollte, und zwar gleich. Was mochte darauf sein? Weitere Anweisungen, June, mit Isolierband an einen Küchenstuhl gefesselt, während ihre maskierten Entführer hinter ihr stehen und wie verrückt gackern? Würde er sich überwinden können, das Band anzusehen? Er mußte. Und vergiß die Polizei. Im Fernsehen gehen sie auch nicht gleich zur Polizei. Sonst schicken dir die Kidnapper ein Ohr oder so etwas. Einen Zahn. Sie würden ihr einen Zahn ausreißen, denn sie kannten bestimmt
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Henrys wundesten Punkt. Henry las die Nachricht wieder und wieder, während er die Videokassette in den Händen hin und her drehte. Warum entführt man jemanden aus meiner Familie? Rache. Ein amoklaufender ehemaliger Patient? Oder Geld. Ich habe ein paar Aktien und Pfandbriefe, auch ein bißchen Gold. Und diese Depotscheine mit der langen Laufzeit, die ich klugerweise gekauft habe, als die Zinsen auf einem historischen Höchststand waren. Aber ich kann die Depotscheine nur mit erheblichem Verlust einlösen. Dafür werden Junes Kidnapper doch gewiß Verständnis haben. Wissen sie womöglich von meinen Lebensversicherungspolicen? Bitte zwingt mich nicht, sie anzurühren. Apropos Lebensversicherung: Hatte er Junes Police nicht vor ein paar Jahren aufgestockt? Henry richtete sich auf. Gott gebe, daß ihr nichts zustößt, aber wenn... dann versuche ich einen Versicherungsbetrug. Schlag dir das aus dem Kopf. Aber er konnte nicht anders, um der Zwillinge willen. Jesus — die Zwillinge, die mußte er dann ganz allein aufziehen! Er rannte zu seinem Taurus zurück und sprang auf den Fahrersitz. Sieh dir das Band an und überlege dir, wie du June retten kannst, bring sie nach Hause, verdammt noch mal, und nach Möglichkeit früh genug, daß sie die Zwillinge abfüttern kann! Henry raste wieder auf den MacDade Boulevard. Okay, Daddy, du mußt dich noch eine Weile gedulden. Erst June, dann du. Aber wo, wo kann ich diese verdammte Kassette abspielen? Laut den Instruktionen der Entführer soll ich erst das Band ansehen, dann nach Hause kommen. Sind die Entführer denn so dumm, daß sie June zu Hause als Geisel festhalten? Das Band wird es an den Tag bringen. Also, was nun, einen Videorecorder leihen und in die Praxis bringen? Ich habe dort keinen Fernseher. Also ein Fernsehgerät und einen Videorecorder leihen? Und dann soll ich das ganze Zeug aufbauen? Ich kann ja nicht mal meinen eige-
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nen Recorder anschließen, das müssen die Zwillinge immer für mich machen. Soll ich die Zwillinge von der Schule abholen und in die Sache einweihen? Nein, löse das Problem allein, Henry. So wie du das Problem mit Daddy lösen wirst. Probleme lösen — ist es nicht das, was die Welt heute von dir verlangt? Henry jagte über den MacDade. Die Geschäfte sausten wie im Zeitraffer an ihm vorbei. Soll ich bei einem Freund vorbeischauen, bei jemandem, der einen Videorecorder hat? Hallo, wie geht's? Entschuldige, wenn ich beim Essen störe, Bob, aber würde es dir was ausmachen, wenn ich die Kassette von meiner entführten Frau und mit den Lösegeldforderungen mal eben in deinen Videorecorder einschiebe? Damit komme ich sicher gut an. Außerdem bin ich mit Bob nicht so eng befreundet. Und mit Bill oder Raymond auch nicht. Ich habe nicht die Sorte Freunde, mit denen man bei einem hübschen Entführervideo einen amüsanten Fernsehabend verbringen kann. Haha. Scheiße. Ich kann keinen von ihnen in die Sache hineinziehen. Die Kidnapper würden Wind davon bekommen, das ist doch immer so, und dann schicken sie mir Junes Zähne, einen nach dem anderen. Aber wo sonst? Die Geschäfte flogen vorüber. Henry nahm sie nicht wahr, dann plötzlich doch. Beinahe hätte er mitten auf dem MacDade eine Vollbremsung gemacht. Ein Geschäft, jawohl! Ein Fernsehgeschäft. Zwei oder drei Kilometer weiter: Circuit City, Fernseh- und Haushaltsgeräte. Da war er kürzlich mit June gewesen. Mit Juni-June — er umklammerte das Lenkrad und unterdrückte ein Schluchzen —, um eine neue Waschmaschine zu kaufen. Die sie übrigens noch nicht geliefert hatten. Wenn er schon dort war, konnte er ihnen bei der Gelegenheit ein bißchen Dampf machen. Jedenfalls war er, während sich June bei den Waschmaschinen umgesehen hatte, zu der Wand von Fernsehern gegangen, die ständig liefen. Bestimmt zwanzig
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oder dreißig, und alle zeigten dasselbe Programm. Aber sie waren auch alle mit einem zentralen Videorecorder verbunden. Daran erinnerte sich Henry, weil ein Verkäufer mit einem Kunden gekommen war und eine Kassette eingelegt hatte. Henry hatte sich ein bißchen darüber geärgert, weil er gerade Jeopardy! guckte, und die Kassette zeigte Eine verhängnisvolle Affäre, ein Film, den er schon kannte und lächerlich fand — es war doch reichlich unglaubwürdig, daß ein Mann wegen eines unbedeutenden Seitensprungs dermaßen in Teufels Küche geriet! Einfach Mist. Was er also tun würde, wenn keiner hinsah, war: Junes Kassette in diesen Recorder einlegen und sie sich dort ansehen. Genial einfach. Henry mußte sich zwingen, auf dem Weg zum Circuit City die Geschwindigkeitsbeschränkung einzuhalten. Wenn mich jetzt bloß kein Bulle stoppt, sonst darf ich als nächstes einem ganzen Polizeirevier die Kassette vorspielen. Und dann schicken mir Junes Entführer alle ihre Zähne. Er blickte auf den Beifahrersitz, wo noch immer Daddys Prothese lag. Kein künstliches Gebiß für June, halte dich an die zulässige Höchstgeschwindigkeit, Henry, mein Junge. Und was ist mit den Zwillingen? Sie werden jetzt bald nach Hause kommen. Die Nachmittagskurse in der Schule dürften inzwischen zu Ende sein. Würden sie den Entführern in die Arme laufen, wenn diese tatsächlich in ihrem Haus warteten? Himmel, wenn er sich nicht beeilte, würde bald seine ganze Familie künstliche Gebisse brauchen! Er preschte auf den Parkplatz des Circuit City. Keine Parkuhren, das ist schon ein guter Anfang. Mit der Videokassette in der Hand stürmte er in den Laden. Ein verdammt großer Laden. Waren die Fernseher nicht da drüben neben den Mikrowellenherden? Oder hinter den Klimaanlagen? So viele Elektrogeräte und so wenig Zeit! Er schlängelte sich durch ein Labyrinth von Kühlschränken. Wie in Stone-
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henge, Kühlschrankmonolithen. Wer kauft denn so ein Ungetüm? Da zupfte ihn jemand von hinten am Ellbogen. »Hallo, Sir. Wie ich sehe, interessieren Sie sich für unsere große Auswahl an Kühl- und Gefrierschränken. Ich bin Lucien, kann ich Ihnen behilflich sein?« Henry riß sich los und marschierte wortlos und mit festem Blick geradeaus. Davon unbeirrt zwängte sich Lucien zwischen zwei Gefrierschränken hindurch und trat Henry in den Weg. »So was gefällt mir, Sir«, meinte Lucien mit einem breiten Lächeln und strich sich über seinen hellblauen Blazer mit dem Circuit-City-Logo. »Ein Kunde, der genau weiß, was er will.« Henry sah ihn aus schmalen Augenschlitzen an. »Sie haben schlechte Zähne, Lucien. Von einem Verkäufer mit solchen Zähnen würde ich einen Kühlschrank nicht mal geschenkt nehmen, kapiert? Jetzt gehen Sie mir aus dem Weg. Ich will zu den Fernsehern und Videorecordern.« Er versuchte sich an ihm vorbeizudrängen. Aber Lucien baute sich abermals vor ihm auf. »Das mit den Zähnen kann nicht sein.« Er ließ seine feuchte, fleischige Zunge über die Zähne gleiten. »Ich hatte eine Spange, als ich dreizehn war. Zwei Jahre lang mußte ich sie tragen, und all die anderen Kinder haben mich deshalb aufgezogen. Sie nannten mich Blechbeißer und Eisengrinser. Zwei Jahre lang konnte ich nicht Kaugummi kauen. Ich habe bestimmt ein Pfund von diesen kleinen Gummibändern verschluckt. Meine Zähne sind prächtig. Ich habe nicht umsonst gelitten.« »Wenn ich Ihre Zähne hätte«, erwiderte Henry mit leiser, zitternder Stimme, »würde ich sie mir bis zu den Stümpfen abschleifen und Überkronen lassen. Und selbst das würde nicht helfen. Sie haben einen Überbiß, den man nicht mal mit einem Vorschlaghammer kurieren könnte. Also, wo
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sind die Fernseher, Mann?« »Wie kommen Sie eigentlich dazu, sich als Autorität in Sachen Zähnen aufzuspielen?« zischte Lucien. Henry trat auf Lucien zu, bis sich beinahe ihre Nasen berührten. »Weil ich Dentist Man bin!« schrie er ihn an, und Lucien taumelte zurück. »Also, wo sind die verfluchten Fernseher?« Lucien hielt sich an einer Gefriertruhe fest und deutete zum nördlichen Ende des Geschäfts. Als Henry an ihm vorbeistapfte, flüsterte Lucien: »Dreckszahnarzt.« »Blechbeißer!« rief Henry zurück, während er die Kühlschrankabteilung hinter sich ließ, »Eisengrinser! Spangenfresse!« Ah ja. Vor ihm türmte sich eine ganze Regalwand voller Fernseher auf. Ein Meer von Fernsehern, eine Welt von Fernsehgeräten. Alle gleich und doch verschieden. Waren die Hundertfünfzig-Zentimeter-Großbildschirmgeräte die Mütter und Väter der kleineren Apparate? Fernseher, die weitere Fernseher ausbrüteten? Und jede Generation mutierte auf die eine oder andere Weise, bildete Bildschirmgrößen und Bedienungsmöglichkeiten aus. Wer konnte diese ständige Vermehrung aufhalten? Und jedes Gerät zeigte genau dasselbe Bild. Es kam Henry vor, als hätte er den Facettenblick einer Fliege, er sah dreißig Feuersbrünste auf dreißig Bildschirmen. Die Abendnachrichten. War es schon sechs Uhr? Ein paar Kunden lungerten vor den Apparaten herum und spielten mit den Lautstärke- und Farbreglern. Wie werde ich sie nur los? Indem ich »Feuer« schreie? Ich habe keine Zeit für solche Bagatellen. Ich muß einzig und allein diese Kassette einschieben, dann kann's losgehen. Jemand zupfte ihn von hinten am Ellbogen. Schon wieder Lucien? Henry fuhr herum. Die Frau in dem blauen Blazer erschrak, dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Äh, Sir, kann ich Ihnen helfen? Ich
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heiße Sue Ann.« Henry versuchte das Lächeln zu erwidern. Doch seine Oberlippe blieb an seinen Vorderzähnen kleben, denn sein Mund war strohtrocken. Als die Lippe sich nicht lösen wollte, nahm er schließlich seinen Finger zu Hilfe. Die Frau versuchte wegzusehen. »Ja, ich suche einen Videorecorder, können Sie mir da einen zeigen?« Er würde die Hilfe dieser jungen Frau brauchen, denn die Zwillinge, die ihm sonst bei der Bedienung des Geräts halfen, waren ja nicht da. »Irgendeinen bestimmten? Mit zwei Köpfen oder mit vier? Stereo?« Die junge Frau machte einen sympathischen Eindruck. Sue Ann. Ihr wollte er sich anvertrauen. Er würde ihr erklären, daß man sie als Heldin feiern würde. Wenn das FBI die Entführer verhaftete, dann aufgrund dieses Videobandes, und Sue Ann mit ihren hübschen Zähnen würde die Heldin sein, weil sie es ihm auf all diesen Bildschirmen vorgeführt hatte. Und wenn alles klappte — woran er nicht zweifelte —, würde die Entführung wahrscheinlich in einer dieser Reality-Shows gesendet werden, und sie, Sue Ann, würde eine wichtige Rolle darin spielen. — Natürlich nicht so eine wichtige wie ich. Ich werde sozusagen der Star sein, der zähe Zahnarzt, der die Entführer seiner Frau gnadenlos zur Strecke bringt! Vielleicht drückt das FBI dann ja ein Auge zu, wenn sich herausstellt, daß ich am selben Abend auch meinen Vater umgebracht habe. Ein Verbrechen aufgrund psychischer Überforderung. Bestimmt bekomme ich mildernde Umstände. Ich, eingerahmt von Sue Ann und der geretteten June — da müssen sie einfach Gnade vor Recht ergehen lassen. »Ja, Sue Ann«, meinte Henry. »Ich würde mir gern ein bestimmtes Gerät ansehen.« »Wunderbar«, erwiderte Sue Ann lächelnd. »Ein gut informierter Kunde.« Am liebsten hätte Henry Küßchen auf ihre makellosen
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Zähne gehaucht. Sue Ann, die mir meine Familie zurückgibt. Sue Ann, die als Kind wahrscheinlich eine Spange getragen hatte, ohne zu klagen. Dich hat gewiß niemand Blechbeißer genannt, stimmt's? Deiner Schönheit konnten Zahnspangen keinen Abbruch tun, im Gegenteil. Bring mich zu deinem Videorecorder, du lächelnde Sue Ann. Rette meine Juni-June. Rette mich. Sue Ann wartete geduldig. »Welchen Recorder wollten Sie sich ansehen, Sir?« Henry riß sich von seinen Gedanken los. »Oh, entschuldigen Sie, Sue Ann. Ich habe gerade... überlegt.« Er sah sich um. Da, dort drüben. Das war der Recorder, der Eine verhängnisvolle Affäre auf alle Bildschirme übertragen hatte. Henry wies darauf. Sue Anns Lächeln wurde noch ein wenig strahlender. »Was für eine glückliche Wahl!« Tatsächlich? Eine glückliche Wahl! Ich habe den Glücksrecorder gewählt, und ich werde diese Glückskassette von June einlegen. Jippie! »Tja, ich bin ein Glückspilz«, meinte Henry und ging mit Sue Ann zu dem Gerät. »Entschuldigen Sie, Miss?« Eine Frau in einem grünen Jogginganzug wollte sich an Sue Ann heranmachen. Henry trat vor sie hin. »Sie bedient gerade mich. Warten Sie gefälligst, bis Sie an der Reihe sind.« Unter unverständlichem Gemurmel trat die Frau den Rückzug an. Die Fernseherabteilung schien plötzlich voller Kunden, die an Knöpfen drehten und Fernbedienungen ausprobierten. Na, ich werde jedenfalls keinen in Sue Anns Nähe lassen, bis sie auf die PLAY-Taste meines Glücksrecorders gedrückt hat. »Entschuldigen Sie, Sue Ann, was haben Sie gesagt?« Sie wirkte etwas verunsichert, brachte jedoch abermals ein Lächeln zustande. »Ach, nur daß es sich um ein Qualitätsmodell handelt. Ein Goldstar mit vier Köpfen und MTS-
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Stereo.« Goldstar. Ein Name, den er aussprechen und verstehen konnte. Gold. Das war ihm ein Begriff. Er arbeitete mit Gold. Star. Mein Glücksrecorder, mein Glücksstern! Leise summte er vor sich hin: Du sollst mein Glücksstern sein. Als Sue Ann ihn anstarrte, verstummte er. Nach einem langen Augenblick, in dem ihr Lächeln schwand, sagte sie: »Und es ist ein besonders glücklicher Zufall...« »Ein besonders glücklicher Zufall«, echote Henry. »Ja, daß wir eben diesen Goldstar an all die Fernseher angeschlossen haben. So können Sie ihn richtig ausprobieren.« »Wunderbar!« Sue Ann machte sich an dem Apparat zu schaffen. »Na, dann wollen wir mal. Wo haben sie denn nur die Vorführkassette hingelegt? Da. Eine verhängnisvolle Affäre. Kennen Sie den? Wo der Mann seine Frau betrügt und...« Henrys Handbewegung ließ sie verstummen. »Wissen Sie, ich habe mein eigenes Band mitgebracht.« Er zeigte es ihr. Verwirrt sah sie ihn an. »Ihre eigene Kopie von der verhängnisvollen Affäre?« »Haha. Nein, das würde ich nun nicht gerade sagen.« Seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich, und er hatte Schwierigkeiten mit dem Sprechen. »Es ist ein privates Band. Gewissermaßen.« »Oh, ich verstehe«, entgegnete Sue Ann und nahm ihm die Kassette sanft aus der Hand. »Damit Sie die Bildqualität mit der Ihres alten Recorders vergleichen können. Ich hatte noch nie einen Kunden, der das wollte. Sie sind ein sehr umsichtiger Konsument, bewundernswert!« Henry nickte nur. Er brachte kein Wort heraus, ängstlich und nervös, wie er jetzt war. In wenigen Sekunden würde Sue Ann das Band abspielen, von dem seine Zukunft ab-
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hing. Er deutete auf die Kassette, auf das Gerät, auf die Wand mit den dreißig empfangsbereiten Bildschirmen. Alles anschnallen und das Popcorn weiterreichen. Die Show beginnt! Rita Hoops, Henrys ältliche, perücketragende Sekretärin, die kritischen Blicks durch die CD-Spieler-Abteilung gestreift war, entdeckte ihren Chef drüben bei den Fernsehern. Sie hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, sich nach den günstigsten Angeboten umzusehen, und wußte nun, daß man diese nicht in Circuit City fand. Deshalb wollte sie ihren Chef warnen. Schließlich war es ihre Aufgabe, sich um ihn zu kümmern, und während sie ihre Perücke zurechtrückte und langsam zu ihm schritt, bemerkte sie, daß er in der Tat jemanden brauchte, der sich um ihn kümmerte. Die Beule an der Stirn, die er sich vormittags bei dem Sturz im Badezimmer zugezogen hatte, sah ziemlich böse geschwollen aus, seine Kleidung war ungewöhnlich derangiert, und er machte einen verwirrten, verstörten Eindruck. In diesem Zustand sollte er keine Entscheidung über den Erwerb eines kostspieligen Haushaltsgeräts treffen. Gerade war sie bei den ersten Fernsehern und Videorecordern angelangt und wollte sich Dr. Miles bemerkbar machen, da blieb sie plötzlich stehen und sah zu der langen Fernsehwand hinauf. Tatsächlich hielten alle Kunden inne, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, magisch angezogen von der visuellen Kraft der dreißig Bildschirme. Es war eine reflexartige menschliche Reaktion auf das Umschalten zum Videokanal. Soeben hatte Sue Ann Junes Band in den Recorder eingelegt und auf PLAY gedrückt. In dem Moment, als die Abendnachrichten plötzlich abbrachen und der rauschende Graupelschauer der ersten Bandsekunden erschien, waren alle wie gebannt. Jedem in der TV- und Videoabteilung von Circuit City schoß gleichzeitig die eine Frage durch den Kopf: Na, was jetzt wohl kommt?
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Das verschwommene Rosa, das plötzlich auf allen dreißig Bildschirmen aufschien, gab vorläufig noch keine Antwort auf diese Frage. Geleitet von der unscharfen Sinneswahrnehmung traten alle, Männer, Frauen, Kinder, Henry, Sue Ann und Rita, automatisch einen Schritt näher an die Fernseher heran. Das Bild wurde abwechselnd schärfer und verschwommener. Da ertönte laut und deutlich Junes Stimme aus mindestens sechzig Lautsprechern, zwei pro Fernseher. »Marty! Du willst es wirklich noch mal tun?« Das verschwommene Rosa gewann an den Rändern Konturen, als June sich von der Kamera wegbewegte. Ihr nunmehr unverkennbarer Hintern füllte die Bildschirme von Fünf-ZentimeterMinigeräten, Siebenundsechzig-Zentimeter-Zenits und einigen Hundertfünfzig-Zentimeter-Großbildfernsehern. Für Henry war es eine Offenbarung, wie sich Junes Hintern erotisch und schier unendlich oft darbot. Doch dieses äußerst angenehme Gefühl hielt keine zwei Sekunden an, dann gewann das Ich die Oberhand über das Es. Das ist doch Junes Hintern, ja, das ist Junes Hintern! Henry sprang auf die Wand von Bildschirmen zu, als hoffte er, sie alle mit seinem Körper verdecken zu können. Wieder dröhnte Junes Stimme. »Aber Marty, ich weiß nicht, ob ich das durchstehe. Es war das erste Mal schon fast zuviel für mich.« Niemand außer Henry rührte sich. Sue Anns Hand zögerte noch, auf STOP zu schalten. Henry drückte sich die Nase an einem Siebenundsechzig-Zentimeter-Bildschirm platt, preßte sie gegen Junes nackten Körper. Seine Gedanken überschlugen sich. Das sollte ein Entführervideo sein? Und wollte er das wirklich dem FBI vorführen? Hatte sie nicht »Marty« gesagt? Der Entführer — Marty? »Himmel, was ist der groß!« rief June aus, während sie auf jemanden hinaufkrabbelte, auf...
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Marty? Henry wich etwas zurück und zwinkerte. Marty Marks, der kleine Mistkerl. Der kleine Donut-Bäcker und seine Juni-June! Mütter und Väter erwachten schließlich aus ihrer Trance, packten ihre Kinder und flüchteten in Richtung Geschirrspüler- und Wasserboilerabteilung. Zwei oder drei erwachsene Männer machten es sich inzwischen vor den Fernsehern bequem. Der dreizehnjährige Jerry Franks glotzte mit offenem Mund; dieser Tag sollte ihm für den Rest seines Lebens in angenehmer Erinnerung bleiben. Währenddessen hämmerte Sue Ann panisch auf alle Knöpfe des Recorders, schien aber die STOP-Taste nicht finden zu können. Auf dreißig Bildschirmen hüpften June und Marty munter auf und ab, mal im schnellen Vorlauf, mal im Rücklauf, und gelegentlich verharrten sie in einer wackligen StandbildUmarmung. Eine dieser Umarmungen gab Henry den Rest. Langsam drehte er sich um und trat mit stierem Blick seinen Todesmarsch fort aus der TV- und Videoabteilung und durch die Kühlgeräteabteilung an. Er blieb nicht stehen, um Sue Ann bei ihrem verzweifelten Versuch, die Kassette aus dem Recorder zu bekommen, behilflich zu sein. Sie hatte so schnell hintereinander auf so viele Knöpfe gedrückt, daß das Gerät schlichtweg alle Befehle ignorierte und das Band nun in Zeitlupe abspielte. Junes Brüste hoben und senkten sich wie halbgefüllte Heliumballons. Langsam und verträumt öffneten und schlössen sich ihre Augen. Ihr Stöhnen war im ganzen Geschäft zu hören. Doch Henry, mit Informationen ebenso überfüttert wie der arme Recorder, sah und hörte nichts, während er zum Ausgang schritt. »Dr. Miles.« Rita stürzte auf ihn zu und packte ihn am Arm. Mit leerem Blick musterte er sie. Zufällig trug sie einen blauen Mantel in einem ähnlichen Farbton wie die Blazer der Verkäufer. Er machte sich los und murmelte: »Nein
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danke, ich will keinen Kühlschrank. Nein danke, ich will keinen Videorecorder. Nein danke...« Rita bewegte die Hand vor seinen Augen hin und her, und er verstummte. »Dr. Miles, warten Sie hier. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Sie eilte zurück zur TV- und Videoabteilung. Kaum hatte sie Henry den Rücken zugekehrt, spurtete er dem Ausgang zu. Er wollte keine Kühlschränke, Videorecorder oder sonst etwas von dieser Frau kaufen, auch wenn ihre Stimme merkwürdig vertraut und verführerisch klang. Er wollte nichts wie raus hier, denn er hatte noch etwas zu erledigen. Ach, June, du böses, sündiges Weib! Während er lief, fiel bei ihm plötzlich der Groschen. Natürlich, die Frau mit dieser Stimme war Rita. Er blickte zurück. Rita, und sie hat soeben den Film gesehen, in dem meine Frau Marty Marks besteigt! Er rannte schneller, stürzte aus dem Geschäft ins helle Tageslicht. In der Feme wartete sein treuer Taurus auf ihn. Rita, die vernünftige, praktische und loyale Rita, trat zwischen Sue Ann und den widerspenstigen Recorder. Sue Ann war beglückt über ihr Eingreifen. »Ich bringe ihn nicht dazu, die Kassette auszuwerfen«, rief sie in Panik. »Er reagiert auf keinen Befehl.« Rita nickte. Ein letztes Mal blickte sie auf Junes und Martys Zeitlupenbewegungen. Und da bemerkte sie etwas, was keinem der anderen Zuschauer, die sich einzig und allein auf Junes wildes Treiben konzentrierten, aufgefallen war. Als das Laken über Marty Marks (den sie erkannt hatte) kurz ein bißchen verrutschte, sah Rita, daß er eine Hose trug. Marty war unter diesem Laken angekleidet. Hochinteressant. Mit lauter Stimme sagte sie zu Sue Ann und den übrigen Zuschauern: »Kennt jemand von Ihnen diese beiden?« Die Zuschauer — abgesehen von Sue Ann alle männlich
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— murmelten abschlägige Antworten; offensichtlich war es ihnen peinlich, von einer betagten, perücketragenden Dame angesprochen zu werden, während sie sich kostenlos einen Pornofilm anschauten. »Gut«, meinte sie. »Das ist Ihr Glück.« Dann sagte sie zu Sue Ann: »Sie haben doch nichts dagegen?« und griff nach dem Recorder. Sue Ann schüttelte erleichtert den Kopf. »Ich hatte mal ein Kind, das ein Centstück verschluckt hatte«, erzählte Rita und hob das Gerät hoch. »Ich probierte alles aus, um es herauszubekommen. Schließlich packte ich den Kleinen an den Beinen, stellte ihn auf den Kopf und schüttelte ihn. Und da fiel die Münze einfach heraus.« Sie hielt den Recorder hoch, bis sich die Kabel an der Rückseite spannten, und rüttelte ihn kräftig durch. Nach einem heftigen Surren und mehrmaligem Klicken spuckte er die Kassette auf den Linoleumboden. Während Rita das Gerät abstellte, griff einer der Männer nach dem Band und hob es auf. Rita streckte die Hand aus. Der Mann zögerte, es ihr zu geben, und wich ihrem Blick aus. »Sagen Sie, ähm, könnten Sie mir das Band vielleicht...« Rita riß es ihm aus der Hand. »Unverkäuflich.« Sie zupfte ihre Perücke zurecht, winkte Sue Ann zum Abschied zu und stürmte davon, zu den Kühlschränken und Henry. Doch der war weg. Als sie den Parkplatz erreichte, sah sie Henrys Taurus nur mehr als einen kleinen blauen Punkt, der über den MacDade davonraste. Rita eilte zu ihrem Wagen. Henry sog die Luft ein. Ein tiefer, befreiender Atemzug. Dann noch einer. Endlich hatte er die Botschaft dieses Tages verstanden. Offensichtlich Zen in Reinform, wenngleich er nicht genau wußte, was Zen war. Durch die unaufhörlichen Schicksalsschläge dieses Tages sollte er die menschliche Neigung überwinden, zu widerstehen und
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Furcht zu empfinden. Ich bin kein menschliches Wesen mehr, ich bin Zen. Ich werde nicht mehr kämpfen. Ich werde sein, bis mein Sein ein Ende hat. Ich treibe willenlos, Zen Man, ohne Frau, ohne Heim und bald auch ohne Vater. Die Befreiung von meiner Frau ist vollbracht, Zen, Zen, die Befreiung von Daddy werde ich bald vollbracht haben, Zen, Zen. Ich bin in eine Welt eingetreten, in der Zähne überflüssig sind, denn im Zen wird nicht geknabbert und gekaut. Ich bin der zahnlose Zahnarzt, im Einklang mit sich selbst und eins mit der Welt. Zen, Zen. Zen beförderte ihn rasch in seine Praxis zurück. Denn im Zen gab es weder rote Ampeln noch Tachometer. Und glücklicherweise auch keine Polizeistreifen. Henry hatte das Gefühl, daß er sich schnell und langsam zugleich bewegte. Er verspürte keinen Hunger mehr, denn im Zen war der Appetit auf Pommes frites ein vorübergehendes, leicht zu unterdrückendes Bedürfnis. Er schwitzte nicht, denn Zen war leidenschaftslos und schweißfrei. Ihm gefiel dieses Zen-Gefühl: wie Novocain für den Geist. Er stieg aus dem Taurus und stand vor seiner Praxistür — an der ein weiterer Zettel klebte. Von Juni-June, die ihn über ihre jüngsten Heldentaten in Sachen Sex auf dem laufenden halten wollte? Arme June. Sie begreift nicht, daß es im Zen keinen Sex gibt. »Lieber Dr. Miles«, las er in einer Handschrift, die nicht die von June war, »entschuldigen Sie die kurzfristige Benachrichtigung, aber Charlie Carnes und ich verschwinden auf die Poconos, wo wir unsere Flitterwochen verbringen. Ich habe die Liebe kennengelernt, Dr. Miles. Hoffentlich finden Sie ganz schnell eine neue Zahnarzthelferin. Mit freundlichen Grüßen, Mrs. Charlie Carnes (vormals Jennifer Olmstead).« Mit dem Zettel in der Hand starrte Henry sein Spiegelbild in der Tür an. Im Zen beginnen und enden Ehen. Jennifer
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ist fort. Er betrachtete die Beule an seiner Stirn. Ist es unzenmäßig, daß ich mich frage, ob sie ihre Schachtel Slipeinlagen mitgenommen hat? Die Beule am Kopf pochte. Er atmete tief durch, während er sich weiterhin in der gesprungenen Glastür betrachtete. Vor seinen Augen nahm ein Bild Konturen an, doch dann verschwamm es wieder, wie Junes Hintern am Anfang des Videobandes. Er nahm nicht nur sich, sondern auch noch etwas anderes im Glas wahr. Umrisse, Buchstaben. Als er einen Schritt von der Tür zurücktrat, bemerkte er noch weitere Buchstaben. »D«s und »O«s, »T«s und »U«s tanzten vor seinen Augen. Eine Zen-Botschaft. Er fuhr herum, und sein Blick heftete sich auf das Gebäude mit den großen aufgeklebten Lettern. DREAMI DONUTS. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Und ihn überkamen starke Gelüste. Rachegelüste. »Scheiß auf Zen!« brüllte er dem Dreami Donuts und Marty Marks entgegen. Ich krieg ihn, diesen zuckerschlekkenden, ehefrauenfickenden Hurensohn! Er wirbelte herum und schloß seine Praxis auf. Jetzt war er wieder er selbst. Lebhaft, energisch, impulsiv. Er war Henry. Und als er das süßliche Desinfektionsaroma seiner Praxis einsog, war er Dentist Man. Diesen Tag würde er damit beenden, daß er zwei Dinge auf seiner Liste ausradierte: Er würde den zahnfeindlichen Mächten einen schweren Schlag versetzen, und er würde Daddy erlösen. Hiermit schwöre ich, daß ich von nun an jeden Tag — außer wenn sie mich ins Gefängnis stecken — einen Punkt auf der Liste ausradieren werde. Moment mal, im Gefängnis zu landen war doch einer der Punkte auf der Liste! Denk nicht darüber nach, Henry. Du mußt handeln, nicht denken. Probleme lösen, nicht wahr, Tommy Tooly? Das Problem mit Daddy lösen... Und unschuldige Zähne vor dem Dreami Donuts retten. Er kramte in den Schränken von Raum 2, bis er die rote
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Metallkassette fand, den Notfallkoffer. Der glücklicherweise nicht verschlossen war. Er riß den Deckel auf. Ein dicker Schweißtropfen löste sich von seiner Nasenspitze und klatschte auf eines der glänzenden Fläschchen mit den Zutaten für Daddys Todescocktail. Schau dir nur all dieses Zeug an. Doch eben das brachte er nicht über sich. Er schlug den Deckel zu, das Geräusch hallte in den leeren Praxisräumen wider. Okay, okay. Weiter. Er hastete ans andere Ende des Flurs zum Personalzimmer, in dem sich immer nur Jennifer aufgehalten und ihre Zigaretten geraucht hatte. Rita wich nie von ihrem Empfangstisch, und er hielt sich nie dort auf, weil er der Chef war. Es roch nach abgestandenem Zigarettenqualm und der süßen Jennifer. Jetzt kostete Novocain-Carnes ihre Süße. Ein Tag, an dem unwürdige Männer an meinen süßen Frauen knabbern, dachte Henry. Er schnappte sich ein Streichholzheft aus einem Aschenbecher und spurtete über den Flur zurück. Ein letztes Mal ließ er den Blick auf seiner Praxis ruhen. Hier hatte er viele angenehme Stunden verbracht und viele Zähne gerettet. Als Grabinschrift wäre das gar nicht so übel: »Er hat viele Zähne gerettet. Ruhe in Frieden.« Mit einemmal fühlte er sich unsäglich müde. Ja, er brauchte tatsächlich Ruhe und Frieden. Aber das würde noch kommen. Irgendwann mußte dieser Tag ja ein Ende nehmen! Henry sperrte die Praxistür ab und sprang in den Taurus. Er wollte den Wagen dabeihaben, mit laufendem Motor. Mein treuer Taurus, gesattelt und aufgezäumt. Dann tat er etwas, was er in den fünfzehn Jahren, seit seine Praxis an das Dreami Donuts angrenzte, nie getan hatte: Er legte den Gang ein und fuhr direkt darauf zu. Ohne sich die Mühe zu machen, nach links in die gemeinsame Einfahrt zu biegen und dann nach rechts auf den Parkplatz des Dreami Donuts zu steuern. Von seinem Parkplatz aus hielt er einfach stur geradeaus darauf zu, schräg über die Einfahrt, den Rand-
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stein hinauf und durch Marty Marks liebevoll gepflegte, kniehohe Azaleen. Ich hasse Azaleen, dachte Henry. Im Dreami Donuts brannte kein Licht mehr. Henry entdeckte über den langen Tresen gebeugt eine einsame Gestalt mit einem zerknautschten Papierkäppi auf dem Kopf: Meine Nemesis, dachte er und grinste. Ich breche durch seine Azaleen, und er schafft es nicht einmal, sich umzudrehen. Betäubt von ehebrecherischem Sex und glasierten Donuts! Er lenkte den Taurus in den Schatten hinter dem Gebäude, wo der grüne Müllcontainer stand. Bei laufendem Motor stieg Henry aus. Der Container war ziemlich hoch, aber wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er gerade noch hineingreifen. Er packte zu, dann zog er die Hand zurück. Das pure Grauen. Seine Hand steckte in einer gebrauchten Leckerhäppchenschachtel. Er schleuderte den Karton, die Papiertüten und Styroporbecher gegen die Hauswand. Bis zum Ellbogen klebten an seinem Arm Kristallzucker und bunte Streusel. Bärige Beerenfüllung tropfte von seinen Fingern. Beinahe spürte er, wie sich das Zeug in seine Haut ätzte. Er wischte sich die Hand am Hemd ab, doch die rote Beerenmasse blieb hartnäckig an seinen Fingern kleben. Was hatte Lady Macbeth getan? Doch für Zimperlichkeit in Hygienefragen war jetzt keine Zeit, wenn er diesen Ort hinter sich lassen und zu seinem Vater fahren wollte. Auf Nimmerwiedersehen, Dreami Donuts, du Quelle allen Übels in meiner Welt, dachte Henry, als er sich über den kleinen Müllhaufen beugte und Jennifers Streichholzheftchen öffnete. Rita, die ohne die ampelsteuernden Kräfte des Zen hatte auskommen müssen, war schließlich ebenfalls an der Zahnarztpraxis angelangt. Doch sein Wagen war nicht da. O Gott! Als sie auf dem Praxisparkplatz wendete, erspähte sie im abendlichen Dämmerlicht hinter dem Dreami Donuts
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Dr. Miles' Taurus. Nur drei Streichhölzer übrig. Er fuhr mit dem ersten über die Reibfläche, doch es verlosch nach einem kurzen Zischen. Das zweite fing zwar Feuer, blieb jedoch an seinen bärigen Beerenfingern kleben, so daß er es in seiner Panik ausblies. Das letzte Streichholz hielt er zwischen zwei halbwegs sauberen Fingern und zündete es an. Ah. Langsam senkte sich die reinigende Flamme der Rache auf den Unrat herab. Nie wieder werden Papiertüten in meine Eiben herüberwehen, Marty. Es zahlt sich nicht aus, sich mit Dentist Man anzulegen, was? Ein Papiertütchen fing Feuer. Die Leckerhäppchenschachtel schmorte an einer Ecke an und verfärbte sich braun. Henry trat zurück. Erst jetzt bemerkte er, daß er den Müll nicht gezielt an einem entflammbaren Teil des Gebäudes plaziert hatte. Ihm blieb nur zu hoffen, daß die Flamme der Rechtschaffenheit auch Schlackenstein in Brand setzen konnte. Aus der Leckerhäppchenschachtel drang Rauch, dann loderte eine Flamme empor. Henrys Magen verkrampfte sich vor Triumphgefühl und Panik. Rasch sprang er in seinen Wagen und brauste um den hinteren Teil des Gebäudes. Zweimal umrundete er das Dreami Donuts, hupte und winkte Marty Marks zu, der nun sein erschrockenes Gesicht an die Glasscheibe preßte. Zaghaft hob Marty die Hand und winkte kurz zu Henry zurück, doch da schlitterte der Taurus bereits vom Parkplatz auf den MacDade Boulevard. Als ein weiteres Auto von Dr. Miles' Parkplatz durch seine Azaleen raste und mit quietschenden Reifen hinter dem Gebäude zum Stehen kam, rannte Marty hinaus. Was ging hier vor? Dasselbe hatte Rita sich gefragt. Ihre Augen waren nicht mehr die besten, und Dr. Miles hatte ihr die Sicht verdeckt, doch als sie den Rauch entdeckte, begriff sie. Insgeheim hatte sie ihm sogar zugejubelt. Schließlich hatte sie die
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Kassette gesehen. Aber auf lange Sicht würde es ihm nicht zum Vorteil gereichen, wenn er das Dreami Donuts in Schutt und Asche legte. Sie stieg aus und begann, auf dem brennenden Müll herumzutrampeln. Das Feuer als solches war kaum der Rede wert. Nach Ritas Ansicht fiel es in die derzeit populäre psychologische Kategorie »Hilfeschrei«. Ihre Perücke rutschte ständig hin und her, während sie auf den zischenden Papiertüten und Styroporbechern herumstampfte. Na, schon fast geschafft. Sie holte mit dem Bein zu einem letzten Tritt gegen einen brennenden Müllklumpen aus. Doch es war nicht ihr Fuß, der das Feuer erstickte. Als ihr Bein vorschnellte, rutschte ihr die Perücke über das Gesicht, und ehe sie danach greifen konnte, landete die künstliche Haarpracht auf den Überresten von Dr. Miles' Inferno. Das Feuer verlosch augenblicklich. »Rita Hoops?« ertönte hinter ihr Martys Stimme. Sie wandte ihren kahlen, schildkrötenähnlichen Kopf nach ihm um und musterte ihn. Marty sah gar nicht gut aus. Womöglich litt er an demselben Gebrechen wie Dr. Miles. Rita war froh, daß sie kein Mann in mittleren Jahren war. »Hat Dr. Miles versucht, mein Dreami Donuts niederzubrennen?« fragte er. Rita starrte ihn nur unablässig an. Mit ihrer runzligen Hand fuhr sie sich über den haarlosen Schädel. Sie hatte sich schon seit geraumer Zeit eine neue Perücke zulegen wollen, dann aber nicht zu dieser Investition durchringen können, weil die alte irgendwie noch so vital ausgesehen hatte. Sie blickte auf das qualmende Knäuel synthetischer Haare hinab. Nun ja, daran war nichts Vitales mehr. Sie überlegte, daß sie sich diesmal eine mit einem leichten Blaustich und ein paar Locken kaufen würde. Als Marty sie abermals ansprach, sah sie auf. »Er hat also das Feuer gelegt«, folgerte er, den Blick auf
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ihre Perücke gerichtet, »und Sie haben es gelöscht. Mit Ihren Haaren.« Er sah ihr in die Augen. »Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar.« Schüchtern trat er näher an sie heran. Als er direkt vor ihr stand, nahm er sein Dreami-Donuts-Käppi ab, und nach einem Moment des Zögerns setzte er es Rita sanft auf den Kopf. Die Kappe lag auf ihren Ohren auf und verbarg den kahlen Kopf vollkommen. Rita nickte. »Danke, Marty«, sagte sie und öffnete die Tür ihres Wagens. Als sie beim Wegfahren in den Rückspiegel schaute, sah sie Marty in der Asche von Dr. Miles' Feuer stehen. Und sie war sich ganz sicher, daß er sich vorbeugte und seine Lippen an die Hausmauer drückte.
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Kapitel 10 June und die Zwillinge beendeten schweigend ihr Abendessen. Ed und Fred warfen sich verstohlene Blicke zu. Sie hatte ihre Fragen nicht befriedigend beantwortet, das wußte June. Vor allem nicht jene große: Wo ist Dad? Außerdem verhielt sie sich sonderbar, und wenn Kinder etwas nicht leiden konnten, dann, daß sich ein Elternteil oder gar beide Eltern sonderbar verhielten. »Noch ein paar Fleischklößchen, Ed?« fragte sie mit fester Stimme — so hoffte sie zumindest. Langes Schweigen. Dann: »Ich bin Fred, Mom. Himmel noch mal.« »Fred, ja natürlich, Fred«, sagte sie und wollte seinen Arm streicheln. Doch er entzog ihn ihr. »Du hast uns noch nie verwechselt, Mom. Was ist los?« fragte er. »Nichts, nichts ist los. Mir ist der falsche Name rausgerutscht, das ist alles. Deshalb muß doch nichts los sein.« Doch Ed entgegnete, während Fred zustimmend nickte: »Erstens: Dad ist nicht hier, und Dad hat sein ganzes Leben noch kein Abendessen mit uns ausfallen lassen. Zweitens: Im Wohnzimmer riecht es nach Alkohol, und auf dem Beistelltisch neben dem Sofa ist ein großer Kratzer. Drittens: Du bist ganz blaß, und jetzt verwechselst du uns auch noch.« Viertens, doch das sagte sie nicht, habe ich ein ausgesprochen pornographisches Video an die Praxistür eures Vaters geklebt, und ich frage mich, ob er es inzwischen gefunden hat. Ihr Blick schweifte von einem Zwilling zum anderen. Irgendwie unheimlich, daß ihnen so gar nichts entgeht!
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Was soll ich ihnen bloß erzählen? »Wann ist er gestorben?« platzte Fred heraus. »Gestorben?« Sie griff nach den Händen der Jungen. »Daddy ist nicht tot. Oh, Fred. Oh, Ed.« »Nicht Daddy«, meinte Ed. »Opa Stu.« »Opa Stu?« »Das ist es doch, oder?« meinte Fred. »Als Dad heute mittag an der Schule war, hat er gesagt, er fährt nach Fox Glen. Und deshalb sind wir drauf gekommen...« Fred sah Ed an. »Er ist bei euch an der Schule vorbeigefahren?« June schloß die Augen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. »Ja, und da er auch so komisch war wie du jetzt... und weil er doch nach Fox Glen fahren wollte, da haben wir gedacht...« »Er hat gesagt, daß er nach Fox Glen fahren will?« Nein, nein. Er hat den Nachmittag damit verbracht, in seinem Ford Taurus Hunderte von Frauen zu bumsen! »Er war an eurer Schule?« »Also ist er tot?« fragten die Zwillinge wie aus einem Mund. »Opa Stu?« June war schon im Begriff, verneinend den Kopf zu schütteln, als die Türklingel schrillte. Sie drückte den Jungen die Hände, dann stand sie auf. »Opa Stu ist nicht tot, verstanden? Wartet hier, rührt euch nicht vom Fleck.« Keinesfalls wollte sie, daß die beiden mit ihr zur Tür gingen. Eine schrillende Türklingel bedeutete nichts Gutes, soviel war sicher. Während sie die Diele durchquerte, rief einer der Zwillinge aus der Küche: »Und wo ist dann Dad? Glaubst du, es ist die Polizei?« Vielleicht, dachte June. Ja, natürlich, die Polizei. Warum nicht? Warum sollte dieser Tag nicht mit einer großen Tra-
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gödie enden? Der Weg dafür war zweifellos geebnet. Was auch immer da draußen lauerte, es drückte schwer gegen die Tür, sie konnte das Unheil spüren. Hatte Henry die Videokassette gefunden und war mit dem Wagen gegen einen Telegraphenmast gerast? Wenn ich die Tür nicht öffne, muß ich es nie erfahren. Wenn ich diese Tür versiegle, wenn ich sie für immer mit Brettern vernagle, hat die Polizei keine Gelegenheit, mich zur Witwe zu machen. Wieder schellte es, und June konnte nicht anders als den Türknauf drehen und die Tür aufreißen. »June Miles?« Mit breitem Lächeln streckte ihr Lotty Daniels eine große Keksdose entgegen und entblößte dabei ihre Zähne. »Lotty Daniels, drüben aus der Cornell Avenue. Unsere Jungs spielen zusammen Fußball.« Diese Hand, die die Tür geöffnet hatte — warum schaffte sie es nicht, Lotty die Tür in ihr Vollmondgesicht zu schlagen? »Störe ich beim Abendessen? Ich wollte es möglichst genau abpassen, denn hier«, Lotty öffnete die Keksdose, »habe ich Ihnen etwas zum Nachtisch mitgebracht. Ein Dankeschön-Dessert, Schoko-Nuß-Splitter.« Verblüfft nickte June. »Für die Gefälligkeit, die mir Ihr lieber Mann heute morgen erwiesen hat. Erstaunlich, einfach erstaunlich, wie gut es mir danach ging.« Träumerisch schloß Lotty die Augen. »Und da kommen Sie zu mir?« fragte June tonlos. Werden die Frauen jetzt scharenweise mit einem Geschenk unterm Arm zu mir strömen — als Dank dafür, was mein Mann für sie getan hat? Nachdem er in Fox Glen war? Wie paßt Fox Glen zu alledem? Und Opa Stu? »Ja, ich mußte ihm einfach danken. Traumhaft, diese neue Technik, die er angewendet hat.« Ungläubig lächelnd starrte June sie an. Lotty war das mit Abstand widerlichste und zugleich faszinierendste Ge-
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schöpf, das ihr je über den Weg gelaufen war. Gab es irgend etwas, wovor sie zurückschreckte? Zaghaft fragte sie jetzt: »Ist er hier? Ist der Doktor da?« June lächelte weiterhin, aber mit tödlichem Blick. »Nein. Ist er denn nicht bei Ihnen?« Unsicher legte Lotty den Kopfschief. »Ich verstehe nicht?« »Na ja, er war doch heute morgen mit Ihnen zusammen. Aber das heißt wohl nicht unbedingt, daß er den Tag mit Ihnen verbracht hat, stimmt's?« »Genau«, erwiderte Lotty, griff abwesend in die Keksdose und nahm sich eine Praline. »Obwohl ich sicher war, daß ich heute nachmittag noch mal zu ihm müßte. Das hatte er ja auch vorgeschlagen, aber was er da heute morgen gemacht hat, war wirklich ganze Arbeit.« »Das glaube ich gern.« »Ja. Diese neue Technik.« »Sieh mal an.« »Hat er sie bei Ihnen auch schon ausprobiert?« erkundigte sich Lotty und knabberte an dem Nußsplitter. »Haben Sie es auch schon mal gebraucht?« »Offenbar nicht so dringend wie Sie«, erwiderte June. »Ja, das stimmt, ich hatte es wirklich nötig.« Verlegen schlug sich Lotty die Hand auf den Mund. »Oh, Verzeihung, was mache ich da nur? Jetzt habe ich eine von Ihren Pralinen gegessen. Sie sind einfach so gut! Hier, nehmen Sie schnell, sonst futtere ich noch alle weg.« Sie drückte June die Dose in die Hand. »Noch heute morgen, bevor ich Dr. Miles traf, hätte ich geschworen, daß ich nie wieder etwas in den Mund nehmen würde.« »Aber Dr. Miles hat Sie kuriert, was?« »Ja, und wie! Gott segne ihn dafür.« Die beiden Frauen blickten sich einen endlosen Augenblick an. »Lotty«, meinte June schließlich, »Lotty, meine
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beiden Söhne sitzen in der Küche und hören wahrscheinlich jedes Wort. Wie, glauben Sie, fühlen sie sich bei diesem Gespräch?« »Ich hoffe, sie sind mächtig stolz auf ihren Vater. Er ist ein wundervoller Mann und ein ausgezeichneter Zahnarzt.« Da klingelte das Telefon. June hörte, wie einer der Zwillinge den Hörer abnahm und sich meldete. Diese Frau war zu keiner Reue fähig! Mach die Tür zu, June, bevor sie dein Haus weiter vergiftet. Schmeiß ihr die Dose vor die Füße und knall die Tür zu. Gerade, als sie das tun wollte, sprach Lotty weiter. »Eine Wurzelhaut-Akupressur, hat er es genannt. Er ist wirklich ein ausgezeichneter Zahnarzt.« »Mom«, rief Ed aus der Küche. »Telefon für dich.« »Eine Wurzelhaut-Akupressur«, wiederholte June. »Wegen meiner Zahnschmerzen. Diese Technik, von der ich gesprochen habe. Er war so reizend, mich gleich im Auto zu untersuchen. Ich war über mich selbst erstaunt, daß ich ihn tatsächlich herangewunken habe. Aber er hat angehalten und war so nett und hat es gleich an Ort und Stelle erledigt.« June glitt die Dose aus der Hand, und sie hielt sich am Türpfosten fest. Überall lagen Nußsplitter verstreut. »Was...?« fragte Lotty mit aufgerissenen Augen. »Eine Akupressur«, unterbrach June sie mit einem heiseren Flüstern. »Lotty, wie hat er diese Akupressur gemacht?« »Mom«, rief Ed jetzt lauter. »Margo Zimmerman ist dran. Sie sagt, es sei wichtig.« »Die Akupressur?« meinte Lotty. »Mit dem Finger natürlich. Zuerst hat es ganz schön weh getan, das muß ich zugeben, ich habe mich vor Schmerzen gekrümmt. Aber dann war der Schmerz plötzlich weg. Und ist bis jetzt nicht wiedergekommen.«
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Es war ein Finger, Margo. Das rhythmische Wippen im Auto war schmerzbedingt, Margo. Und jetzt gibt es eine Videokassette, Margo, eine Videokassette, zu der du mich verleitet hast! »Ed, sag ihr, ich komme gleich«, rief June über die Schulter. Ich muß diese Videokassette von seiner Tür entfernen. »Danke, Lotty.« June umarmte die überraschte Frau. »Ich bin ja so glücklich wegen Ihrer Zähne. Und vielen Dank für die Nußsplitter, es tut mir leid, daß sie mir aus der Hand gerutscht sind, aber wir werden sie trotzdem alle essen. Ich muß jetzt weg, aber nochmals vielen, vielen Dank. Auf Wiedersehen.« June schlug der verdutzten Lotty die Tür vor der Nase zu und rannte in die Küche, wobei sie ein halbes Dutzend Nußsplitter zertrat. Dort schnappte sie sich von Ed den Telefonhörer und hielt die Hand über die Sprechmuschel. »Ihr zwei setzt euch jetzt sofort in den Wagen. Nehmt den Schlüssel und meine Handtasche und geht schon vor, ich komme sofort.« Die Zwillinge wechselten ängstliche Blicke und taten dann alles, was June ihnen aufgetragen hatte. »Übrigens ist niemand tot, verstanden?« rief June den beiden hinterher. »Wahrscheinlich was viel Besseres«, rief Fred zurück. June starrte auf den Hörer in ihrer Hand und fragte sich, ob sie überhaupt ein Wort herausbringen würde. Denn es überlief sie heiß und kalt, und sie zitterte. Als sie den Mund öffnete, fiel ein Speicheltröpfchen, wie Schlangengift, auf die Sprechmuschel. »Margo«, flüsterte sie. Dann lauter: »Liebste Margo, welche Neuigkeiten haben Sie für mich?« »June!« plärrte Margos Stimme. »Ich habe diesen Anruf immer und immer wieder verschoben, ich meine, diese Lotty-Geschichte heute morgen hat Sie doch sicher sehr deprimiert. Und jetzt rufe ich doch tatsächlich schon wieder an. Aber es muß sein. Ich meine, ich weiß doch, daß Sie
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schlechte Nachrichten, wenn es schon sein muß, am liebsten aus meinem Munde erfahren.« June ließ noch mehr Gift auf den Hörer tröpfeln. »Aber gewiß doch, Margo. Wenn es schon sein muß, dann von Ihnen. Und wissen Sie auch, warum?« Ein unmerkliches Zögern. »Warum?« »Weil ich Ihnen trauen kann. Wenn ich etwas von Ihnen erfahre, weiß ich, daß es nichts als die reine Wahrheit ist. Ungeschönte Tatsachen. Sie erzählen mir nur, was sie mit eigenen Augen gesehen haben.« »Ja, genau. Also setzen Sie sich. Notfalls auf den Boden, dort werden Sie sowieso landen, wenn Sie alles gehört haben. Sitzen Sie?« »Leider bin ich in ziemlicher Eile, Margo. Vielleicht könnten Sie mir eine Kurzfassung geben, und ich bleibe derweil stehen und klammere mich irgendwo fest?« Wie zum Beispiel an deiner Kehle, bis du blau angelaufen bist! Das würde mir Halt geben. »Ich habe es schon heute morgen gesagt, und ich sage es jetzt wieder: Sie sind wirklich eine starke Frau, June. Auch wenn Sie mich einfach abgehängt haben. Aber das ist schon in Ordnung. Also, dann muß ich wohl.« June hörte, wie sie glücklich japste. »Na, dann los.« Und Margo legte los. »Er hat es heute nachmittag schon wieder getan.« »Mit ›er‹ meinen Sie meinen Mann?« »Ja, natürlich.« »Sie haben ihn noch einmal mit Lotty Daniels gesehen? In seinem Taurus?« »Ja und nein. Im Taurus schon. Aber nicht mit Lotty.« »Natürlich nicht mit Lotty. Lassen Sie mich raten. Mit der Frau des Bürgermeisters? Oder nein, wie wär's mit diesen Friseusen aus dem Damen-und-HerrenSchönheitssalon, Cindy und Terry? Beide gleichzeitig.
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Henry rammelt abwechselnd auf dem Vorder- und dem Rücksitz, vor und zurück und vor und zurück?« »Es war eine Politesse, June. Auf einem Parkplatz in Morton. Sie hat ausgesehen wie ein russischer Gewichtheber.« »Mit einer Politesse, habe ich das richtig verstanden? Oder war es am Ende weder die Frau des Bürgermeisters noch Cindy oder Terry, war es nicht einmal eine Politesse in Morton? Waren es vielleicht Sie, Margo? Wäre das nicht auch eine Möglichkeit?« »Aber, June...« »Die Sache liegt doch ganz klar, Margo«, zischte June und spuckte Gift und Galle durchs Telefon. »Für Sie ist doch alles Sex. Egal, wohin Sie auch schauen, immer wird gerade jemand besprungen. Heute ist mein Mann an der Reihe. Haben Sie sich ihm an die Fersen geheftet oder was? Sind Sie ihm nachgeschlichen? Sind Sie vielleicht so eine perverse Schlüssellochguckerin?« »Aber ich habe doch gesehen...« June fletschte die Zähne und preßte den Hörer an den Mund. »Ich sage Ihnen, was Sie als nächstes sehen werden. Anwälte. Kennen Sie den Tatbestand der üblen Nachrede, Margo? Ich werde Ihnen eine Verleumdungsklage anhängen, daß Sie zehn Anwälte brauchen werden und einen Bagger, um Sie aus der Scheiße wieder rauszubuddeln!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel, dann nahm sie ihn wieder ab und knallte ihn noch zweimal drauf, nur zur Sicherheit. Stocksteif vor Erwartung saßen die Zwillinge auf dem Rücksitz, als June sich hinters Lenkrad schwang. Sie drehte sich zu ihnen um. »Wie geht's denn so?« fragte sie. »Großartig, Mom«, antwortete Ed. »Ja, ganz prima«, meinte Fred. »Wäre es okay für euch, wenn ich euch sage, daß die Ge-
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schichte eigentlich nur eure Eltern angeht und alles soweit unter Kontrolle ist, auch wenn es nicht so aussieht?« »Ja klar, gut«, erklärten sie unisono. June seufzte. »Kern des Schlamassels ist lediglich ein Mißverständnis zwischen eurem Vater und mir. Aber es geht ihm gut, mir geht es ebenfalls gut, und soweit ich weiß, fehlt auch Opa Stu nichts, ganz ehrlich. Was ich jetzt vorhabe, ist, die Sache wieder geradezubiegen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« »Tja, sozusagen«, antwortete Fred nach einem Augenblick. »Mom«, meinte Ed. »Du wirst jetzt ganz schön auf die Tube drücken, stimmt's?« »Ja, ich glaube schon.« Die Zwillinge grinsten. »Wir werden Dad nichts verraten. Versprochen«, sagte Ed. »Ja«, ergänzte Fred, »auch wenn du mal 'ne rote Ampel überfährst.« June ließ den Wagen an und fuhr rückwärts raus. »Ihr zwei seid jetzt mein Pioniertrupp. Erster Halt: Dads Praxis.« »Schneller«, verlangten die Jungen. Und sie drückte aufs Gas, bis sie es mit der Angst zu tun bekam, während die Zwillinge im Geschwindigkeitsrausch kicherten und sich knufften, aber June weiter anfeuerten. June stellte sich vor, sie sei Ben Hur beim Wagenrennen und gegen Henry angetreten, er rase mit seinem Taurus eine ferne, aber parallel verlaufende Straße entlang, und der Preis, um den sie beide wetteiferten, sei an seine Praxistür geklebt. Die Schatten wurden länger, als die Abendsonne hinter der vorbeirauschenden Ladenzeile auf dem MacDade Boulevard versank und die Beleuchtung an den Geschäften aufflammte. »Wir sind fast da«, riefen die Zwillinge und beugten sich
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vor. Ja, sie waren fast da, Henrys geliebtes Schild leuchtete wie ein rettendes Signalfeuer über seiner geliebten Praxis und verhieß Frieden und Sicherheit am Ende eines stürmischen Tages. Die Kassette würde noch da sein, sie hatte Henry bei dem Rennen geschlagen, das Licht würde ihr den Weg weisen und ihr leuchten, dieses Licht, das für alle guten Eheleute scheint. Doch als sie näherkam, schien es zu flackern und sich einen Moment zu verdunkeln. Und als sie schließlich mit quietschenden Reifen auf den Praxisparkplatz fuhr, so daß der Kies hochspritzte, verlosch es völlig, die Worte HENRY MILES, Dr. med. dent. — ZAHNARZTPRAXIS verblaßten vor dem Abendhimmel. June riß die Autotür auf und stürzte zur Praxis, doch sie wußte schon auf dem Weg dorthin, daß die Kassette nicht mehr da war. Den Kopf an die zerbrochene Glastür gelehnt stöhnte sie leise auf. Hinter ihr im Wagen saßen stumm die Zwillinge. Nach einer halben Ewigkeit trat sie auf wackligen Beinen den Rückzug zum Auto an. Doch plötzlich hielt sie inne und lächelte in den Himmel. Na klar, er hat die Kassette, aber das heißt noch lange nicht, daß er sie auch schon angesehen hat! Tief atmete sie die warme Abendluft ein und schnupperte, als ob sie Henry wittern könnte. Er war ganz in der Nähe, das wußte sie. Sie hatte ihn nur knapp verfehlt. Und schon saß sie wieder im Wagen und schoß auf den MacDade hinaus. »Was haltet ihr davon«, rief sie zu den Zwillingen hinter, wenn wir jetzt nach Fox Glen fahren?« Wäre Henry in der Lage gewesen, seine körperliche Hülle zu verlassen und sich in die Lüfte zu erheben, so daß er hoch über seinem Taurus, hoch über dem Viertel hätte schweben können, das er gerade durchfuhr, dann hätte er erkannt, daß alle Fäden bei ihm zusammenliefen. Aber
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Henry und sein Körper bildeten eine solide Einheit. Ja, noch nie hatte er sich mehr eins mit sich gefühlt und war sich seiner Bestimmung so sicher gewesen. Er hatte das Feuer tatsächlich angezündet! Ihn durchrieselte ein wohliger Schauer angesichts dieser Tat. Er hatte tatsächlich einen Schlag gegen den Feind geführt. Er hatte gehandelt. Und er war erneut dabei zu handeln. Henry wandte den Kopf leicht zur Seite und blickte auf den Notfallkoffer, auf dem die Prothese seines Vaters ruhte. Jetzt bog er vom MacDade Boulevard in die Hillborn, fuhr an der Highschool vorbei, auf dem gleichen Weg wie zur Mittagszeit. Doch inzwischen war der Schulhof leer, die Zwillinge waren längst zu Hause. Die Zwillinge. June. Wie hatte Marty June dazu zwingen können, so ein Video mit ihm zu drehen? Hatte er sie unter Drogen gesetzt, ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt und sie mit Eclairs vollgestopft? Doch für jemanden, der dazu gezwungen wurde, schien es ihr verdammt viel Spaß zu machen. Wie sollte er ihr jemals verzeihen? Doch er hatte ihr bereits verziehen, und als ihm das klar wurde, geriet er kurz mit dem Auto auf die Gegenfahrbahn. Ich verzeihe ihr, ich verzeihe ihr. Sie ist meine Juni-June, sie ist meine Frau und die Mutter meiner Söhne, und wenn sie es mit dem Zucker-Dealer tun muß, wer bin ich, es ihr zu verbieten? Sie hat ihrem Verlangen nach Süßem nachgegeben, das ist alles. Wie viele meiner Patienten sind dieser Versuchung schon erlegen? Jeder einzelne von ihnen. Und habe ich je einen im Stich gelassen? Nein, niemals. Dentist Man verzeiht jedem, wie er auch dir verzeiht, June. Oh, June, dein Henry spürt mit jeder Faser die Macht der Süße, der Vergebung und der Entschlossenheit. Du würdest mich nicht wiedererkennen. Er erkannte sich ja selbst nicht wieder. Allerdings erkannte er die blaue Buick-Limousine, die
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ihm aus Richtung Fox Glen entgegenraste. Er drückte auf die Hupe und rief: »Ronnie!« Der Wagen raste zwar an ihm vorbei, kam aber zweihundert Meter weiter zum Stehen. Schnell wendete Henry, stellte sich neben den Buick und stieg aus. Vom Fahrerfenster aus lächelte Ronnie zu ihm hinauf. »Hallo, Dr. Miles. Ich glaube, Sie parken in zweiter Reihe.« »Sie schulden mir etwas, Ronnie, Sie haben mir zwanzig Dollar geklaut.« »Eine weitere Beschlagnahmung aufgrund eines Notfalls, Dr. Miles. Wie bei dem Wagen. Aber ich habe doch gesagt, daß ich es Ihnen zurückzahlen werde.« Ronnie blinzelte ihm zu. »Wie wollen Sie es mir denn zurückzahlen, wenn Sie stehlen müssen, um überhaupt an Geld zu kommen?« »Wer redet denn von Geld?« gluckste Ronnie. Auf dem Rücksitz rührte sich etwas. Langsam löste sich eine Gestalt aus dem Schatten, setzte sich auf und grinste Henry zahnlos an. »Daddy!« Henry suchte Halt am Dach des Buick. »Hallo, Sohn«, sagte Daddy und kurbelte die Scheibe herunter. »Ich wurde befreit.« »Eine gelungene Aktion«, piepste Ronnie. »Ich war drin und wieder draußen, noch ehe sie wußten, wie ihnen geschah.« »Wie das?« fragte Henry. »Da kenne ich Mittel und Wege«, meinte Ronnie. »Haben Sie immer noch kein Vertrauen zu mir?« »Aber ich war auf dem Weg zu dir, Daddy.« »Ja, das warst du, Henry, nicht wahr? Du wolltest es tun?« »Ja. Ja, ich hätte es wohl wirklich getan.« Doch Ronnie unterbrach das Gespräch. »Wir haben da hinten einen ziemlichen Aufruhr entfesselt, Henry. Am be-
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sten legen wir jetzt den Vorwärtsgang ein.« »Ich fahre mit Ronnie dem Sonnenuntergang entgegen«, sagte Daddy. »Zwei alte Burschen, die noch einmal losziehen, um ihren letzten Schnaufer in Freiheit zu tun. Klingt das nicht, wie es sein sollte? Ich wollte raus. Nicht zu dir und June. Und das ist sehr viel besser als der Fluchtweg, den du und ich im Auge hatten, meinst du nicht? Stu und Ronnie und der Sonnenuntergang. Ronnie wußte, was wir eigentlich wollten.« Er drückte kurz Henrys Hand. Henry war es vor Erleichterung ganz schwindlig. Er wandte sich an Ronnie, der den Motor bereits wieder aufheulen ließ. »Wie kommt das, Ronnie?« fragte er. »Wie kommt es, daß Sie wußten, was wir uns gewünscht haben?« Ronnie zuckte die Achseln, doch dann winkte er ihn mit gekrümmtem Finger heran. Henry beugte sich ganz nah zu ihm, und Ronnie flüsterte ihm ins Ohr: »Sie sind doch Zahnarzt, stimmt's? Dann glauben Sie doch bestimmt an das Märchen vom Milchzahnpalast und daß man sich für jeden Milchzahn etwas wünschen darf?« Mit offenem Mund trat Henry zurück, als Ronnie langsam losfuhr. »Sind Sie's wirklich?« rief er Ronnie hinterher. Ronnie steckte den Kopf aus dem Fenster. »Habe ich Ihnen heute nicht stets die Wahrheit gesagt, Dr. Miles?« Henry sah dem losfahrenden Wagen nach. »He!« rief er plötzlich und fuchtelte mit den Armen, damit der Buick noch einmal hielt. »Eine Sekunde.« Er öffnete die Tür des Taurus, langte hinein und rannte dann die Straße entlang zum Buick. »Was ist damit?« fragte er und streckte seinem Vater etwas entgegen. »Meine Prothese! Heiliger Strohsack, Henry, danke dir, mein Sohn!« Er setzte sie ein und machte ein paar schmatzende Geräusche, dann blickte er mit breitem, strahlend weißen Lächeln zu Henry auf. »Wie sehe ich aus?«
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Henry trat vom Wagen zurück. »Ganz große Klasse, Daddy. Sie sind prachtvoll.« »Also, dann. Tschüs.« »Daddy«, rief Henry ihm hinterher, als der Buick bereits in Richtung Sonnenuntergang verschwand. »Gönne ihnen heute abend eine extra Reinigungstablette, sie haben einiges mitgemacht!« Noch als Henry den Taurus anließ, um nach Hause zu fahren, standen ihm Tränen in den Augen. Er tätschelte das gepolsterte Rechteck in der Mitte seines Lenkrads, dann legte er den Vorwärtsgang ein und drückte aufs Gas. Vielleicht lag es an seinem verschleierten Blick oder an den Strapazen dieses endlosen Tages, vielleicht dachte er aber auch noch immer an seinen Vater und Ronnie. Jedenfalls lenkte ihn etwas ab, und als er hochfuhr, sah er einen Wagen direkt auf sich zusteuern, und am Lenkrad dieses Wagens saß June. Henry fuhr scharf nach rechts, zu scharf. Als er über den Bordstein schlitterte und auf den Baum zuraste, sah er für einen Sekundenbruchteil in den Rückspiegel — und er war überzeugt, gesehen zu haben, wie June ihr Auto sicher zum Stehen brachte. Den Zusammenprall mit dem Baum spürte er nicht. Denn als ihn sein Gurt zurückriß, hörte er ein Geräusch — das Geräusch, auf das er offenbar sein Leben lang gewartet hatte. Mit einem lauten Plopp öffnete sich der Airbag, wie ein Champagnerkorken zur Feier seines Überlebens. Er würde überleben. Sein Gesicht sank in das weiche Luftkissen, der Airbag wuchs und wurde immer größer, er umarmte ihn, wie June ihn umarmen würde, eine weiche Wolke der Sicherheit, die ihn abschirmte, so wie June ihn vor allem Unheil abschirmen würde. Es war ein wundervoller Moment, und Henry wünschte, er würde ewig währen.
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