Nr. 365
Die Verbannten von Pthor Krieg in der Unterwelt von Hans Kneifel
Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dan...
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Nr. 365
Die Verbannten von Pthor Krieg in der Unterwelt von Hans Kneifel
Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans Eingreifen der Erde nichts anhaben konnte, liegt nach jäh unterbrochenem Hyperflug auf Loors, dem Planeten der Brangels, in der Galaxis Wolcion fest. Pthors Bruchlandung, die natürlich nicht unbemerkt geblieben war, veranlaßte Sperco, den Tyrannen von Wolcion, seine Diener, die Spercoiden, auszuschicken, damit diese den Eindringling vernichten. Daß es ganz anders kam, als Sperco es sich vorstellte, ist allein Atlans Eingreifen zu verdanken. Denn der Arkonide übernahm beim Auftauchen von Spercos Dienern sofort die Initiative und ging systematisch daran, die Macht des Tyrannen zu unter graben. Inzwischen haben dank Atlans Hilfe die von Sperco Unterdrückten ihre Freiheit wiedererlangt. Der Tyrann von Wolcion ist tot, und Atlan selbst ist wieder nach Pthor zurückgekehrt, wo sich entscheidende Ereignisse anbahnen. Das Geschehen wird eingeleitet durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebe wesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken läßt. Kurz darauf startet der Kontinent zu neuem Flug durch den Kosmos. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch er landet schließlich bei den VERBANNTEN VON PTHOR …
Die Verbannten von Pthor
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide begibt sich erneut in die Unterwelt von Pthor.
Saarn - Ein technisch geschickter Dello.
La'Mghor - Der Aggiare hat sich mit der »Seele« von Pthor verbunden.
Dorstellarain - Anführer der Verbannten von Pthor.
1. Der Sturm, der die gesamte Dunkelzeit hindurch geweht hatte, hinterließ auch hier seine unverkennbaren Spuren. Als Dorstella rain aus dem Loch kletterte, warf der polier te Spiegel aus blauem Eis sein Bild fast un verzerrt zurück. »Ich sollte wieder die Eiszapfen aus dem Bart schlagen«, knurrte der Riese. Nach ei nigen kurzen Vibrationen war es im weiten Gebiet der n-Aura ruhig geworden. Jetzt be fand sich das System wieder in Fahrt. Als er von Oigster aufgebrochen war, um das Tor des toten Eises zu suchen, schien sich Pthor stark bewegt zu haben. Hier merkte man nichts davon. Dorstellarain betrachtete sich im Eisspie gel. Er war hungrig, aber er fror nicht. Sein Pelz, der schwarz mit braunen und weißen Flecken war, starrte vor Schnee und Eis stücken. Die dunkelblauen Augen in dem grobporigen Gesicht zwinkerten; der Spiegel erzeugte eine schwache Helligkeit, die nach dem Schlaf ungewohnt war. »Außerdem brauche ich eine Wärmequel le!« brummte der Mann mit den breiten Schultern. Er drückte die große, weiße Pelz kappe tiefer in die Stirn und griff in den Schnee. Vorsichtig reinigte er mit dem Schnee sein Gesicht, wischte es sofort mit einem Tuch ab und stieß auf drei Fingern einen schrillen Pfiff aus. Das Geräusch hall te über die glattgefegten Schneeflächen und brach sich an den schrägen Nadeln und Brocken aus Eis. »Wo ist dieser verdammte Kitur?« fragte sich Dorstellarain leise und sah sich um. Schon nach einiger Zeit entdeckte er einen nebelartigen Geiser, der hinter einer Eisna del aus dem Schnee hochwirbelte. Die Quel
len befanden sich immer in der Nähe dieser kristallenen Strukturen. Der Riese machte kehrt, holte einen zer beulten Topf aus dem Schneeversteck und stapfte auf schweren, krallenbewehrten Stie feln zur Quelle. Unterwegs reinigte er auch den Topf mit Eissplittern und Schnee. Irgendwo jenseits des Horizonts, in dieser Richtung, lag unerreichbar Gynsaal. Der Hüne hob die Schultern und ließ sie resi gnierend fallen. Niemals würden er und sei ne wilden Genossen Gynsaal erreichen. Er bückte sich, als er vor der Quelle stand. Im Schnee sah er die riesigen, klauenartigen Abdrücke des gezähmten Brasters. Also war Kitur vor kurzer Zeit hier gewesen. Der Mann im Pelz füllte den Topf mit dem hei ßen Wasser, das aus einer winzigen Spalte hochgepreßt wurde und, wenn es überfloß und erkaltete, die Quelle immer höher auf baute. Irgendwann würde auch hier eine sol che Nadel stehen, dann suchte sich das Was ser einen anderen Weg durch das Eis. »Gut, daß ich es nicht eilig habe. Der Ruf kam, aber er war nicht laut«, bemerkte Dor stellarain und ging zu seinem Schlafplatz zu rück. Nacheinander warf er Fleischbrocken, ein hartes Gewürz, Fett und schwärzliche Dinge in das kochend heiße Wasser. Sie lös ten sich auf, als er mit einem riesigen Löffel aus dem Beinknochen eines jungen Brasters umrührte. Über das Eis zog ein würziger Ge ruch. Breite Fettaugen erschienen in der dicken Suppe. Bevor er zu löffeln anfing, stieß der be pelzte Riese abermals einen gellenden Pfiff aus. Aus irgendeiner Richtung kam eine Antwort. Ein langgezogener, klagender Schrei. Es mußte Kitur sein. Vielleicht hatte er Artgenossen getroffen und sich mit ihnen gebalgt. Ruhig aß Dorstellarain die schnell abkühlende Suppe, hob von Zeit zu Zeit den
4 Kopf und hörte schließlich auch das Tappen der schweren Vogelkrallen. Ein gelbbepelz tes, riesiges Tier rannte auf zwei muskelbe packten Lauffüßen heran und drehte seinen runden Vogelkopf hin und her. »Hierher!« schrie Dorstellarain zwischen zwei Löffeln, dann stand er auf und schütte te den Rest aus dem Topf auf den festgefro renen Schnee. Kitur bremste, indem er seine Beine abknickte, die Krallen in den Schnee preßte und sich auf die hornigen, rauhen Ge lenke der Beine niederließ. Zwei Handbreit vor dem Essenrest kam er in einer aufstäu benden Wolke aus Schneekristallen zum Stehen. »Hier! Friß, damit du schneller rennen kannst!« sagte Dorstellarain in gutmütiger Grobheit. »Wir haben einen langen Weg vor uns.« Der breite, scharfe Vogelschnabel fraß knabbernd und klappernd den Rest der frie renden Suppe, der sich in eine zähe, fette Masse verwandelt hatte. Auf dem Rücken trug Kitur einen doppelschaligen Sattel. Die Steigbügel waren vor Stunden von Dorstel larain hochgebunden worden. Langsam wickelte der Mann einen schmalen Riemen von der Schulter, kroch zurück in sein Schneeloch und holte die prall gefüllten Sat teltaschen heraus. Dann warf er sich die Ta schen über, reinigte den Topf mit dem hei ßen Quellwasser und kam zurück zu dem Tier, das ihn aus schmalen Schlitzaugen an starrte. »Es geht weiter!« sagte der Mann. »Zu Boden, Kitur! Ayh!« Das Tier kauerte sich nieder; ein fast flü gelloser Laufvogel mit dickem Pelz von in tensiv gelber Farbe. Der breite Schnabel, spitz zulaufend, war eine furchtbare Waffe, die einem Mann den Schädel mühelos spal ten konnte. Die Klauen, vom ständigen Ge brauch auf Eis und im Schnee geschliffen wie Dorstellarains Messer, waren noch ge fährlicher. Der Mann hatte einmal einen der seltenen Paarungskämpfe beobachtet und gesehen, wie zwei Hiebe der Laufbeine ei nem anderen Männchen den Körper unter-
Hans Kneifel armlang aufgeschnitten hatten. Dorstellarain löste die Bügel, schwang sich in den Sattel und befestigte die Taschen. Langsam richte te sich Kitur auf. »Ayh! Haalt!« Der Hüne schlang die Riemen durch die langen, durchlöcherten Ohren des Tieres, zog die Knoten fest und klatschte dann dem Tier auf den gebogenen Hals. Kitur setzte sich in Bewegung, als starte er zu einem Rennen. Der Mann hatte den Ruck erwartet und geschickt abgefangen. Hinter dem Tier warf jeder Schritt eine kleine Fontäne aus Eis und Schneekristallen in die Höhe. Die Schneefläche unter dem diffusen Licht der tiefhängenden Schicht aus grauem Nebel dröhnte weithin wie die Haut einer Trom mel, als das schwere, starke Tier mit dem Mann davonstob. Durch die Nähte des viel fach geflickten Pelzmantels pfiff eiskalte Luft. Dorstellarain kannte den Weg. Er kannte das Ziel, wußte aber nicht, wer ihm dort be gegnen würde. Das Tor des toten Eises spie immer wieder andere, seltsame Wesen aus. In kurzer Zeit würde er wissen, wer diesmal dazu verdammt war, sein Leben in der nAura zu beenden.
2. Atlan blieb stehen und schüttelte resignie rend den Kopf. »Das kann nicht gutgehen! Die nächste Katastrophe ist bereits programmiert!« sagte er laut. Er stand vor dem Ausgang einer der kleineren Pyramidenbauwerke im verwahr losten Park. Der Steuermann ist keineswegs in der La ge, Pthor zu lenken, sagte entschieden der Logiksektor. Die Bewohner sind gelähmt, aber der Weltenbrocken schwankt und bebt. Die Einsicht war bitter, aber gerechtfer tigt. »La'Mghor!« stieß der Arkonide hervor. »Und die ›Seele von Atlantis‹ – wenn auch sie ausfallen, dann rast Pthor tatsächlich ziel- und richtungslos durch Raum und
Die Verbannten von Pthor Zeit!« Atlan hatte sich vergewissert, daß der »Steuermann« das Schwanken und Taumeln nicht beheben konnte. Vibrationen und Er schütterungen waren ununterbrochen zu spü ren. Pthor-Atlantis war auf dem Weg … wo hin? Versuche, die »Seele« zu erreichen, drängte der Extrasinn. Atlan blickte die FESTUNG an. Er kannte bereits einige Bezirke der Unterwelt, aber von hier aus gab es nur einen Weg. Zwar trug er den Anzug der Vernichtung, und das Goldene Vlies schützte ihn vor allen denk baren Gefahren. Aber er war unbewaffnet. Ganz Pthor lag im Bann der rätselhaften Lähmung. Atlan hatte keine andere Wahl mehr. Er ging davon aus, daß er im Augen blick – von der einen oder anderen Ausnah me abgesehen – das einzige Wesen auf Pthor war, das sich frei bewegen konnte. Über einige zerbrochene Bodenplatten, in deren Fugen Gräser und Moosbüschel wu cherten, ging der Arkonide entschlossen auf den Eingang zu, den er kannte. Er drang in die beleuchteten Bezirke des Untergeschos ses ein. Treppenstufen und Rampen, Korridore und Steg, teilweise zerstörte Räume und Haufen von Quadern wechselten in schneller Folge. Atlan kam tiefer und tiefer. Mehrmals gelang es ihm, uralte Beleuchtungssysteme wieder zu aktivieren, einmal fand er eine chemische Fackel, schließlich drang er in einen Raum ein, in dessen Mitte ein Schweinwerfer lag, dessen Abdeckung zer brochen war. Atlan schaltete ihn ein – er funktionierte tatsächlich! »Welch ein Glück!« Der Zusammenprall im Nichts mit der rie sigen Wassermasse hatte auch hier alles ver ändert. Das Wasser hatte sich in die Tiefe ergossen, hatte Lebewesen ertränkt, Trüm mer weggeschwemmt und andere aufge türmt. Schweigend und verbissen kämpfte sich Atlan tiefer und tiefer. Sein Ziel war die Höhle der Dellos. Von dort aus führte die
5 Tür in der vorspringenden Steinkanzel in die Seele von Atlantis. Vater Pegallu und seine Dellos würden diese Riesenhöhle längst nicht mehr als ihr unteratlantisches Reich ansehen; die große Flut würde auch sie vertrieben oder ertränkt haben. Der Arkonide kletterte weiter. Thalia, Razamon und Kolphyr waren vor ihm diesen Weg gegangen. Hin und wieder sah Atlan die Spuren ihrer damaligen Verfolger und die Zerstörungen der Kämpfe. Zwar kam er gut und schnell voran, aber immer wieder mußte er einzelne Sperren umgehen. Teile der Decke, Brocken aus den verschiedenen Konstruktionen und feuchtes Geröll bildeten immer wieder Barrieren. Schließlich, nach mehr als einer Stunde Marsch und Klettern durch die feuchte, stinkende Dunkelheit, er reichte Atlan den freien Platz, der sich un mittelbar vor der »Halle der Dellos« befand. Im Licht des Scheinwerfers blitzte etwas vor Atlans Füßen. Er bückte sich und hob die Lähmwaffe auf. Sie glich aufs Haar einem Waggu, wie er von den Technos benutzt wurde. »Wenigstens bin ich nicht ganz schutz los«, sagte sich der Arkonide. Bis jetzt hat ten die Erschütterungen und Vibrationen nicht aufgehört. Sie kamen und gingen in einzelnen Stößen. Die Gefahr dauert an! Versuche, den Ag giaren schnell zu finden! drängte der Logik sektor. Atlan schwenkte den schwächer werdenden Lichtstrahl des Scheinwerfers herum und versuchte, mehr Einzelheiten zu erken nen. Das Wasser war inzwischen wieder ab gelaufen und verdunstet. Aber überall gab es eindeutige Spuren. Nach wie vor setzte At lan voraus, daß es auch hier günstigstenfalls nur erstarrte Bewohner geben würde. Ob wohl er wußte, daß vereinzelte Wesen der Lähmung nicht unterworfen waren – ihm fielen die beiden Proluren ein –, war er si cher. Atlan sog die feuchte, stinkende Luft ein und ging weiter. Sein photographisches Gedächtnis ließ ihn auch jetzt den kürzesten
6 Weg finden. Plötzlich unterschied er zwischen dem un heimlichen Rumpeln und Knistern ein schar fes, neues Geräusch. Schritte? Er blieb stehen und richtete das Licht in die betreffende Richtung. Es waren keine Schritte gewesen, sondern etwas anderes. Dort, in einem Durchgang, stand ein men schenähnliches Wesen und versuchte, mit ei nem fingergroßen Gegenstand eine Fackel anzuzünden. Die Hand des Fremden fuhr immer wieder über die feuchte Felswand und erzeugte mit dem Feuerholz jene knir schenden Laute. Atlan rief den Fremden an. Dieser richtete sich gerade auf und ließ die schwarz ange kohlte Fackel sinken. »Wer bist du?« Die Stimme hallte schauerlich und rief dumpfe Echos hervor. Atlan senkte die Lampe, der Fremde nahm die Hand von den Augen. »Ich bin … Saarn«, antwortete der Frem de. Es schien ein Dello zu sein. Atlan sah deutlich, daß er völlig verstört war. Langsam ging der Arkonide auf ihn zu. »Du bist nicht von der Lähmung betrof fen«, sagte Atlan nachdenklich. Vor sich sah er einen hageren Mann, in einen zerlumpten und schmutzigen Tuchanzug gekleidet. Etwa hundertsiebzig Zentimeter groß, mit schul terlangem Haar von auffallender roter Farbe. »Nein«, lispelte der Dello. »Saarn nicht.« »Kannst du dir und mir diesen Umstand näher erklären? Alle Dellos sind gelähmt. Es sind überhaupt fast alle Lebewesen ge lähmt!« »Nein.« Auch der Anzug war einst rot gewesen. Das Gesicht Saarns war spitz und von einer Schicht aus Staub und Schweiß bedeckt. Dellos, sagte sich Atlan im Stillen, waren spezielle Züchtungen. Vielleicht besaß die ser Dello zufällig eine Komponente, die ihn aktiv erhielt und gegen die Lähmung immu nisiert hatte. »Was suchst du hier?« fragte Atlan. So weit er feststellen konnte, war der Dello un-
Hans Kneifel bewaffnet. »Bin geflüchtet.« »Ich verstehe. Und was suchst du?« »Ruhe. Ich weiß nicht.« Tiefliegende blaue Augen zwinkerten At lan an. Die Haut des Dellos war weiß und stumpf. Der Bleichhäutige hatte auffallend lange, muskulöse und schlanke Finger. Sie wirkten auf Atlan auf den ersten Blick wie eigenständige Lebewesen; sie krampften sich zitternd um den Schaft der Fackel, lie ßen ihn wieder los, verflochten sich ineinan der. Der Dello bemerkte Atlans prüfenden Blick. Er sagte mit leisem Pfeifen zwischen den Konsonanten: »Saarn ist Spezialist. Schaltungen. Kom plizierte Arbeiten. Ich habe Angst.« Irgendwo in der Dunkelheit hinter ihnen lösten sich knirschend Steine voneinander und prasselten auf die Geröllschicht herun ter. »Dann komm«, sagte Atlan entschlossen. »Vielleicht können wir zusammenarbeiten. Ich suche nicht nur Ruhe für Pthor, sondern zuerst einmal die Schaltanlage. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, Saarn.« »Hab' keine Angst vor dir.« »Ausgezeichnet. Los, dort hinüber.« »Wohin?« »In die Seele von Pthor. Zu La'Mghor, meinem Freund.« »Gut!« sagte der Dello und tappte hinter Atlan her. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg zwischen größeren und kleineren Trümmeransammlungen. Dieser Teil der Anlage wirkte chaotisch, aber nicht wirklich zerstört. Die Wände standen noch, die Ram pen waren zu erkennen, die Decke hatte ebenfalls standgehalten. Atlan und der Dello umrundeten riesige Steinbrocken und näher ten sich den Kammern und Höhlen, die einst Vater Pegallus Reich geführt hatten. Die Schritte waren unnatürlich laut; hier unten schien es nichts Lebendes mehr zu geben. Sie arbeiteten sich über eine Rampe, ba lancierten eine mit Geröll und zusammenge schwemmtem Schmutz übersäte Treppe ab wärts und fanden sich wieder in einer klei
Die Verbannten von Pthor nen Höhle. Atlan hatte Mühe, die Umge bung wiederzuerkennen. Aber sein photo graphisch exaktes Gedächtnis ließ ihn auch jetzt nicht im Stich. »Es ist so dunkel«, rief Saarn ängstlich. »Gibt es kein Licht?« Atlan fragte sich, wie Saarn überhaupt so weit in die Tiefe hatte vorstoßen können, aber er verschob die Erörterung dieser Frage auf einen günstigeren Zeitpunkt. Sie stießen jetzt auf einen etwa zehn Meter hohen Wall, der aus riesigen Trümmern geschichtet war. Der Lichtkreis wanderte langsam zwischen den Brocken und überhängenden Kanten aufwärts. Knurrend sagte Atlan: »Das erste wirkliche Hindernis. Es ist fast zu groß für uns!« Der Dello schien jede Sekunde, in der At lan seinen Scheinwerfer anschaltete, beson ders zu genießen. Er sagte aufgeregt: »Nicht klettern. Ich bring's zum Stürzen.« Atlan sah die riesigen Brocken an und schüttelte den Kopf. »Keiner von uns ist kräftig genug«, stellte er fest, dann gab er Saarn den Scheinwerfer in die Hand. »Du leuchtest, ich versuche zu klettern.« »Nein«, rief Saarn. »Warte.« Er bedeutete Atlan, hierhin und dorthin zu leuchten. Schließlich fand er einen herausra genden, dreikantigen Felsen und zog daran. »Was hast du vor, Saarn?« Er scheint genau zu wissen was er tut. Ab warten! sagte der Logiksektor. Atlan ver suchte, dem Dello zu helfen, indem er die wichtigen Stellen anleuchtete. Saarn verlor plötzlich seine Ängstlichkeit und handelte zielbewußt und mit einer verblüffenden Si cherheit. Er sprang in die Höhe, klammerte sich an die äußerste Spitze der Gesteinsnadel und verwendete sie als Hebel. In der breiten und hohen Mauer begann es zu ächzen und zu knirschen. Saarn wippte auf und nieder; er schien tatsächlich einen Punkt gefunden zu haben, der eine bestimmte Wirkung her vorrief. Die ersten Steine und Mauerreste kippten dröhnend aus dem Verband und schlugen auseinander. Das Krachen und
7 Knistern wurde lauter. Zwischen den einzel nen Lagen des aufgetürmten Gerölls zeigten sich breite Sprünge. Atlan richtete den Lichtstrahl an eine andere Stelle; auch dort geriet der Wall in Bewegung. »Vorsicht, Saarn!« schrie der Arkonide. Einige Vibrationen Pthors, die in diesem Moment erfolgten, ließen die Barriere noch weiter auseinanderbrechen. »Du mußt zurückgehen, Fremder!« rief der Dello und schwang sich an dem Fels stück in die Höhe. Rund um ihn polterten andere Bruchstücke berstend die fast senk rechte Wand herunter. Atlan zog sich zwanzig Meter weit in die Halle zurück. Dann wurde der Krach ohrenbetäubend laut. Riesige Teile kippten nach vorn und nach den Seiten. Atlan sah, wie sich der stei nerne Hebelarm mit dem Dello immer mehr dem Boden näherte. Mit einem letzten wil den Schwung warf sich Saarn zur Seite. Dann brach die Barriere an zwei Stellen aus einander. Als sich der Staub nach einigen Minuten einigermaßen gelegt hatte, sahen die beiden Männer sich an. »Ausgezeichnet!« murmelte der Arkonide und wischte sich den Staub aus den Augen. »Du hast einen besonderen Sinn für die He belgesetze, wie?« »Kann sein. Ich wußte, wo der schwache Punkt war.« An zwei Stellen war der Wall eingekerbt. Es war einfach, über die Trümmer zu turnen. Wortlos drangen Atlan und der Dello weiter vor. Noch immer gab es kein Licht außer dem kleinen Scheinwerfer. Irgendwann blieb der Arkonide stehen und sagte zu Saarn: »Ich bin Atlan. Habe vorhin vergessen, meinen Namen zu nennen.« »Danke. Geht in Ordnung«, antwortete Saarn. »Was tun wir hier? Es ist dunkel, vol ler Staub.« »Es wird noch länger dunkel bleiben«, murmelte der Arkonide und spürte wieder, wie sich Pthor unregelmäßig bewegte. Atlan versuchte, während er Saarn im Zickzack
8 durch die Verwüstung führte, über die selt samen Fähigkeiten Saarns nachzudenken. Ein Dello mit einem besonders ausgeprägten Gefühl für Schaltungen und für die Gesetz mäßigkeiten der Mechanik? Offensichtlich auch in diesem Punkt eine besondere Züch tung. Du hast wenig Zeit zu verlieren, wisperte der Logiksektor drängend. Schneller, Arko nide! Atlan stapfte weiter. Saarn hielt sich dicht hinter ihm. Ein Korridor nahm sie auf, der fast völlig frei von größerem Schutt war. At lan rannte im goldenen Schutzanzug durch den breiten Gang. Hin und wieder brachen sich einzelne Lichtreflexe am Vlies. Als der Arkonide aus dem Korridor hinausrannte, erschütterte abermals eine Vibration das Ei land Atlantis. Es war ein schwerer Stoß, schwerer und länger anhaltend als alle ande ren bisher. »Wir werden sterben! Das Geröll wird uns erdrücken!« kreischte Saarn auf. »Es stirbt sich nicht so schnell!« gab At lan zurück und spurtete weiter. Er glaubte genau zu wissen, wo er sich befand. Es mußte sich um die Zone handeln, in der jene seltsam verformten Fundstücke aus einer anderen Dimension gelegen hatten. Aber die Dunkelheit veränderte alles, ließ die Erinnerung unsicher werden. In den Wänden knirschte es unheildrohend. Sprün ge schienen den Boden zu zerreißen, aber Atlan konnte durch den Staub nichts erken nen. Die Gänge und Korridore boten weitaus mehr Sicherheit als die offenen Höhlen und Hallen. Halbblind hasteten sie weiter. Mit scharfem Krachen schlugen Felstrümmer rings um die Eindringlinge in den Boden. Hinter Atlan wimmerte Saarn vor Furcht, aber er blieb dicht bei dem Mann im Golde nen Vlies. »Gleich haben wir es geschafft!« keuchte Atlan und stolperte über einen unkenntli chen Gegenstand. Er fing seinen Sturz im letzten Moment ab und hörte wieder das un verkennbare Geräusch, mit dem die Spalten in den Wänden aufbrachen. Aus der Finster-
Hans Kneifel nis kippte ein tafelförmiges Stück herunter, viele Quadratmeter groß. Im gleichen Mo ment sackte die Verblendung eines Korri doreingangs herunter. Atlans hilflos rudernde Armbewegungen ließen den Lichtstrahl wild umherschwanken. Blitzartig wurden Teile der fallenden Gesteinsmassen sichtbar. Mit donnerndem Getöse schlugen sie gerade in dem Augenblick zusammen, als Atlan und Saarn mit rasenden Sprüngen heranhetz ten. Vor den Männern türmte sich eine unre gelmäßige Wand aus herunterschlagenden Quadern, die sich sofort ineinander verkeil ten. Schräg auf diese Mauer prallte die Tafel und zerbrach in mehrere Teile. Ein schwerer Schlag traf Atlan zwischen die Schulterblät ter und schleuderte ihn zwischen die kra chenden Quadern. Er sah nichts, aber er spürte, wie über ihm und Saarn die gesamte Masse zusammenbrach und sich kreuz und quer übereinanderschichtete. Neben seinem Ohr schrie Saarn. »Geradeaus, dann links, Atlan!« Atlan versuchte sich zu bewegen. Eine Tonnenlast lag auf seinem Rücken, aber er schaffte es, einige Handbreit nach vorn zu robben. Saarn hantierte hinter ihm, und das Gewicht wurde geringer. Atlan robbte weiter. Einige Sekunden spä ter verringerte sich das Gewicht ein zweites mal. Vor seinen Augen wurde es plötzlich hel ler. Er war auf den Scheinwerfer zugekro chen, der beim Aufprall nach vorn geschleu dert worden war. Was Saarn wirklich tat, konnte Atlan nicht einmal ahnen. Aber in dem diffusen Licht sah er, daß sich vor ihm eine dreieckige Öffnung erstellte. Er kroch weiter. Er spürte plötzlich die Hand des Del los an seiner Schulter. Sie stieß ihn in die Richtung, in der Saarn eine Fluchtmöglich keit erkannte. »Dort entlang!« Fast nebeneinander krochen sie in größter Eile aus dem Schutt heraus. Atlan packte die Lampe und fühlte, daß es um ihn leichter
Die Verbannten von Pthor wurde. Er war im Korridor, sprang auf die Füße und zerrte Saarn aus dem engen Durchgang. Als er wortlos den Lichtkegel auf die Geröllmasse richtete, von der der Eingang jetzt versperrt wurde, schauderte er; das gesamte Material befand sich in einem labilen Gleichgewicht. Als sich Saarn auf die Füße schwang, kippten nacheinander drei riesige Blöcke herunter und fielen ge nau dorthin, wo die Schleifspuren der beiden Männer im dichten Staubbelag zu sehen wa ren. »Danke!« konnte Atlan stöhnend sagen, dann packte ihn ein langer, qualvoller Hu stenanfall, der ihm das salzige Sekret aus den Augen trieb. Neben ihm lehnte der Del lo an der Wand und krümmte sich. »Schon … gut. Ich konnte … eine Platte festhalten«, gab der Bleichhäutige zurück. »So schlimm«, sagte Atlan leise, »kann es nicht mehr werden. Diese verdammten Höh len und Hallen!« Er packte den Dello kameradschaftlich an der Schulter und zog ihn mit sich. Das Ende des Ganges schien eine Spur heller zu sein als die übrige Umgebung. Langsam erholten sie sich, spuckten Staub aus und wurden wieder schneller. »Dort ist Licht! Dort hören alle Gefahren auf!« rief Saarn mit unverkennbarer Erleich terung. »Sie fangen in Wirklichkeit erst an«, gab Atlan zurück. Jetzt erkannte er die Anlage trotz der katastrophalen Zerstörungen wie der. Er stand unmittelbar vor dem Zugang zu »Vater« Pegallus kannibalischem König reich der Ausgestoßenen. Das Schott war weit offen, die Portale hingen schräg in den Angeln. In der riesigen Halle voller blockartiger, unbekannter Maschinenanlagen gab es eine Menge funktionierender Scheinwerfer. Ein diffuses Licht füllte den Raum. Zögernd blieben Saarn und Atlan stehen. Atlan schal tete den Scheinwerfer aus. »Was sind das für seltsame Geräusche?« fragte der Dello, als sich ihre Augen gerade an die Helligkeit gewöhnten. Atlan starrte
9 nach vorn und erkannte die Halle aus zwei Gründen kaum wieder. Teile der Deckenkonstruktionen und Teile der Wände waren zerstört. Aber überall brei teten sich Pflanzen aus. Sie waren in unaus gesetzter Bewegung und schienen »gehen« zu können. »Es sind die Pflanzen!« gab Atlan ver blüfft zurück und ging einige Schritte wei ter. Die bleichen Wurzeln mit unzähligen dicken Knollen waren die Fortbewegungsor gane der Pflanzen. Die Halle mitsamt den Trümmern glich einem gigantischen Treib haus. Schwarze und seltsam phosphoreszie rende Ranken trugen schmale, weißliche Blätter und gefährlich aussehende Dornen. Ununterbrochen schlugen die Ranken hin und her, suchten Halt und verhakten sich in einander. Aus den Knollen sonderten sich lange, fadenziehende Tropfen ab. Dort, wo sie auftrafen, warf der Boden Blasen und löste sich in fahlem Rauch auf. »Pflanzen? Sie sind alle verrückt!« rief Saarn leise. Er wurde in einen neuen Schrecken gestürzt. »Nein. Sie kämpfen!« sagte Atlan leise. »Bleiben wir in Deckung!« Sie sahen, was etwa in der Mitte der riesi gen Halle vor sich ging. Die meterhohen Pflanzen befanden sich an zwei Stellen im Kampf mit irgendwelchen großen Dingen aus Metall. Roboter? fragte sich der Logiksektor. Atlan warf Saarn den Scheinwerfer zu und bedeutete dem Dello, mit ihm zu kom men. In der Nähe des Eingangs hatten die Pflanzen einen kleinen leeren Platz gelassen. Der steinerne Boden war hier von zahllosen Tropfen getroffen worden. Er zeigte ein selt sames Muster aus unzähligen kreisförmigen Vertiefungen. Sie wirkten wie verbrannt. At lan verstand augenblicklich. Die Knollen sonderten eine stark konzentrierte Säure ab, die den Stein an diesen Stellen aufgelöst hat te. »Wo ist nun die Seele, die du suchst?« flüsterte Saarn und blickte entsetzt auf die
10 Knäuel der wild um sich peitschenden Pflan zen. Es war grotesk, wie die Büsche auf ih ren stummelartigen Wurzeln liefen und sprangen. »Hinter dieser Halle«, antwortete Atlan und sah für einen Augenblick, wogegen die Büsche sich wehrten. Es schienen Roboter zu sein. »Wir müssen hindurch!« »Das schaffen wir niemals!« stammelte der Dello und duckte sich hinter einer vor springenden Maschinenkante. »Als ich mich hier das erstemal durch kämpfte«, sinnierte Atlan, »sah alles ganz anders aus. Und es war ebenso gefährlich.« »Ich war nicht dabei, Atlan. Ich weiß nichts. Nur, daß meine Furcht größer wird.« »Auch diese Furcht kann besiegt werden. Wenn wir es versuchen, kommen wir durch«, erwiderte Atlan, ohne recht davon überzeugt zu sein. Im Moment war auch er ratlos. Woher kamen diese kämpferischen, offensichtlich autonomen und mit unbekann ten Sinnesorganen ausgestatteten Sträucher und Büsche? Hatte La'Mghor sie mitge bracht? Unvorstellbar, denn als er mit dem Fremden zusammengetroffen war, hatte der Aggiare ebenso wenig Ausrüstung besessen wie Atlan selbst. »Ich glaube nicht, was du sagst!« »Dann sieh genau zu!« empfahl der Arko nide und ging geradeaus. Ein seltsamer Kampf spielte sich etwa vierzig Meter vor ihm ab. Der erste Roboter, den er einigerma ßen deutlich sah, wirkte wie eine Scheibe von einem halben Meter Dicke und zwei Meter Durchmesser. Sowohl am Rand als auch auf der oberen und unteren Plattform waren alle möglichen arm- und schlauchför migen Fortsätze zu erkennen. Sie waren mit Werkzeugen ausgestattet, mit Scheren, Zan gen, Greifern und Schlaginstrumenten. Die se Arme wirbelten in ständiger Bewegung umher und versuchten, die peitschenden Ranken zu packen und zu zerschneiden. Bei de Gegner waren ineinander und miteinan der verkeilt und verschlungen wie die Schmarotzerpflanzen in einem Dschungel. Aus dem Innern der Maschine ertönte hel-
Hans Kneifel les Summen. Die schwirrenden und schnap penden Geräusche der Werkzeuge und An griffsgeräte waren hart und scharf. Die Pflanzen raschelten und knisterten. Wenn die Ranken sich befreiten, zurückschnellten und wieder nach vorn zielten, hörten Saarn und Atlan ein schrilles Pfeifen. Eine Gruppe von drei oder vier Pflanzen war am aktivsten in diesem erbitterten Kampf verstrickt. Diese Kämpferpflanzen schienen sich von den anderen, die sich an den Wänden auf hielten und die Bäume zwischen den Ma schinenblöcken ausfüllten, deutlich zu unter scheiden. Sie waren auch verschieden groß und kräftig. Die Äste waren dunkelbraun, die Blätter, die triefenden Knollen und die Ranken waren gelb und violett. Diese Pflan zen zeigten die unverkennbaren Spuren ei nes erbarmungslosen Kampfes. »Die Pflanzen sind auch nicht gelähmt!« murmelte der Arkonide und versuchte, eine Stelle in dem Gewirr zu finden, die einen Durchschlupf ermöglichte. Von ihm und dem Dello schienen zumindest die anderen Pflanzen nichts zu wollen; sie griffen nicht an. Aber immer wieder tasteten sie vorsich tig mit den Enden der dornigen Ranken nach diesen beiden Eindringlingen. Dies könnten eventuell Roboter eines an deren Schwarzen Kontrolleurs sein, gab der Extrasinn zu bedenken. Abermals gelang es Atlan, mit drei schnellen Sprüngen dem Ort des Kampfes näher zu kommen. Die Pflanzen klammerten sich an den Körpern der Roboter fest. Sie umschnürten die Arme mit den Ranken und schoben die feinen Rankenenden tief in die Zwischenräume der Gelenke hinein und lie ßen ununterbrochen Säure an die wichtigen Gelenke tropfen. Das dunkle Metall der Ma schinen war an allen Stellen angefressen und von langen Spuren gezeichnet. Je näher At lan den Maschinen kam, desto deutlicher mußte er erkennen, daß der Kampf tatsäch lich mit einer verbissenen Wut ausgeführt wurde. Einer der Robotarme ruderte plötzlich hilflos in der Luft umher. Mehrere Ranken
Die Verbannten von Pthor verbissen sich an dem Werkzeug. Im Innern des Robots gab es eine dumpfe Explosion. Der Arm wirbelte davon, aus der Öffnung kamen eine fahle Stichflamme und eine Wolke schwarzen Qualmes. Sofort schlugen drei Ranken in das Loch und entleerten ihre Säureknollen. Atlan hör te das fauchende Zischen zerstörter Verbin dungen. Aber die Maschine arbeitete wie ra send weiter. Es war seltsam, daß sich Robo ter bis in diese Tiefe hinuntergewagt hatten. Das Vorhandensein der Maschinen deutete jedenfalls darauf hin, daß es ein System gab, das im Fall irgendwelcher Katastrophen ein griff. »Sie gewinnen!« schrie Saarn plötzlich auf. »Durchaus möglich«, murmelte Atlan ge spannt. Wieder gelang es den Pflanzen, die Me chanik eines Armes derart nachhaltig zu be schädigen, daß sie in einer Explosion sich selbst zerstörte. Ein dritter Arm folgte, aus drei Öffnungen prasselten jetzt lange Blitze. Aber noch immer kappten die übrigen Werkzeuge die Ranken, rissen Dornen aus und streiften die Blätter von den Ästen. Scharrend glitten die Stummelwurzeln über den Boden. Atlan rief: »Achtung. Zurück hinter die Kante, Saarn!« Er selbst sprang rückwärts und duckte sich, die Arme über dem Kopf. Er hatte ge sehen, wie die Arme des ersten Robots plötzlich erstarrten. Die Maschine explodier te. Der Druck der Detonation wirbelte die Pflanzen auseinander, riß einige Scheinwer fer von den Wänden und zerfetzte die beiden Pflanzen, die sich an den Robot geklammert hatten. Atlan schob den Kopf vor und sah, daß sich die Szene verändert hatte. Die Boden fläche war leergefegt. Die übriggebliebenen Pflanzen stürzten sich förmlich auf den üb riggebliebenen Roboter. Atlan sprang auf und sagte in ausschließ lichem Ton:
11 »Saarn! Unsere Chance ist da. Jetzt kom men wir mit einiger Sicherheit durch.« »Aber … die Pflanzen! Und dort oben! Noch mehr Roboter!« Er deutete zur aufgebrochenen Decke. Dort waren drei der scheibenförmigen Ro boter aufgetaucht und schienen noch un schlüssig zu warten. Atlan winkte seinem seltsamen Freund und spurtete los. Er wurde sich bewußt, daß er völlig waffenlos war – er mußte dem Zufall und ein wenig seinem Glück vertrauen. »Wenn die Roboter kommen«, brachte er stoßweise hervor und rannte auf einen schmalen Durchgang zu, »dann verlieren die Pflanzen.« Der Durchgang war entstanden, als sich die kämpfenden Pflanzen zur Seite schoben und irgendwie Schutz bei ihren passiven Artgenossen zu suchen schienen. »Die Pflanzen sind gut, die Maschinen böse?« keuchte Saarn schräg hinter ihm. Atlan verdoppelte seine Geschwindigkeit, als er merkte, daß sich die Pflanzen tatsäch lich vor ihm zurückzogen. Wirkte das Gol dene Vlies? »So kann es sein. Ich bin nicht sicher.« »Niemand ist sicher. Nicht einmal du in deinem goldenen Anzug!« lispelte Saarn vorwurfsvoll. Atlan sparte sich die Antwort und spürte, wie Blätter und Ranken – aber keine Dor nen! – an seinem Gesicht vorbeizuckten, sei ne Schultern und Hüften streiften und sich scheinbar erschrocken zurückzogen. Ein schneller Blick zur Decke zeigte ihm, daß die Maschinen in drohender Langsamkeit schräg abwärts schwebten. Sie waren ohne Zweifel ebenso gefährlich wie jener Robot, der eben eine der Pflanzen an der stärksten Stelle ihres Stammes packte und mit ver nichtender Gewalt gegen einen der Maschi nenwürfel schmetterte. Die Pflanze reagierte verblüffend; sie warf sich im Flug herum, lief mit ihren Stummelwurzeln senkrecht den Würfel aufwärts und schnellte sich mit einem Sprung von mehr als zehn Metern Weite wütend zurück auf den Roboter.
12 »Gehören die Pflanzen nicht zu den Ro botern?« fragte der Dello. Atlan war jetzt ziemlich sicher, daß die Roboter nach dem Kampf mit den Pflanzen ihn und Saarn verfolgen oder angreifen wür den. Die Flucht nach vorn war jetzt das ein zige Mittel, die Gefahren zu verkleinern. »Eindeutig nicht.« Diejenigen, die es geschafft hatten, Pthor von den Machthabern der Schwarzen Gala xis unabhängig zu machen, wurden jetzt zur Ordnung gerufen und bestraft. Eine bisher verborgene Schaltung schien tatsächlich in Tätigkeit getreten zu sein. Hinter Saarn und Atlan dröhnte ein unge wöhnlicher Lärm auf. Ein Strahlerschuß fauchte durch die Halle und verbrannte die Hälfte einer Pflanze. Atlan sprang und rann te weiter und warf einen kurzen Blick zu rück. Noch hatte der einzelne Roboter sei nen Strahlenarm nicht abgeschaltet, als be reits die Pflanzenteile reagierten und das Waffensystem mit aller Kraft verbogen, den kurzläufigen Projektor nach oben richteten und – Atlans Verblüffung über die Scheinin telligenz der pflanzlichen Lebewesen wuchs abermals – versuchten, mit diesem Strahl einen der ankommenden Robots zu treffen. »Mitreißend!« knurrte Atlan. Dort, wo er und sein neuer Kampfgefährte rannten, bil dete sich in dem immer dichter werdenden Gestrüpp aus ineinander verschränkten Pflanzen ganz deutlich eine Gasse. Wieder ein Hinweis, der in Atlans Denkschema paß te. Die Pflanzen identifizierten ihn und den Dello keinesfalls als Bedrohung. Trotzdem vermißte er die pseudotelepa thische Stimme La'Mghors. Sie waren nahe genug an der Seele von Pthor. Der VONTHARA hatte Alarm geschla gen. Daraufhin waren alle Lebewesen auf Pthor gelähmt und handlungsunfähig ge macht worden. Und jetzt griff die unbekann te Macht ein, um einen selbständigen oder gar freien Flug Pthors unmöglich zu ma chen. So jedenfalls stellte sich für Atlan das Problem, sehr stark vereinfacht, dar. Wie
Hans Kneifel auch immer: diese merkwürdigen Pflanzen paßten nicht in das Bild. Auf keinen Fall ge hörten sie zu dem Versuch, Pthors Kurs wie der auf die Schwarze Galaxis auszurichten. »Wohin rennen wir?« fragte Saarn. »Aus der Gefahr hinaus.« »Aber … wohin?« »Vielleicht finden wir am Ende des Ren nens einen Freund«, sagte Atlan und warf sich im letzten Augenblick zur Seite. Nach seiner Schätzung hatten sie knapp die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt. Die halbe Riesenhalle lag noch vor ihnen. Saarn handelte unbewußt völlig richtig. Er warf sich neben Atlan zu Boden. Vor ihnen befand sich ein Wall aus Trümmern, Staub, angeschwemmtem Geröll aller Art und Kno chen. Diese Barriere wurde von den Pflan zen bedeckt und bildete einen ausgezeichne ten Sichtschutz. Die Pflanzen waren darauf vorbereitet gewesen, daß Atlan weiterstür men würde. Sie hatten sich an einer Stelle zurückgezogen und begannen wieder, sich zu schließen, ihre Äste wieder vorschnellen zu lassen. »Was siehst du?« fragte Saarn atemlos. »Neue Gefahren«, entgegnete Atlan. Au genblicklich schaltete sich sein Logiksektor ein. Schon wieder Robots, die gegen Pflanzen kämpfen. Ein deutlicher Hinweis! Die Pflan zen unterstützen den Versuch, Pthor unab hängig zu machen! »Kämpfe?« »Eine ganze Menge. Zuviele!« knurrte der Arkonide und wünschte sich einen schweren Desintegrator. Seine Expedition war aber mals an eine Grenze gestoßen, die geradezu tödlich zu sein schien. Fünf Roboter der gleichen Größe und Kampfkraft waren in den Kampf mit Pflanzen derselben Gattung verwickelt. Und dahinter waren wieder ver schiedene Pflanzen zu sehen, die geschäftig hin und her taumelten und eine Lücke in den Angreifern oder Verteidigern suchten, um sich auf die Maschinen stürzen zu können. Ein Robot machte, wild aus drei oder vier Projektoren feuernd, einen Versuch, aus der
Die Verbannten von Pthor Front der Kämpfenden auszubrechen. Atlan sah, daß er offensichtlich in Richtung des jenseitigen Ausganges zu entkommen ver suchte. Dort, wo der Robot feuernd und wild um sich schlagend sich drehte, war einst der »Palast« Pegallus gewesen. Die Maschine zerstörte und beschädigte eine Unmenge von Pflanzen. Die abgeschnittenen Teile brann ten erstaunlicherweise nicht, aber sie schmorten knisternd vor sich hin. Die Pflan zen rückten sofort zusammen und bildeten einen regelrechten Dschungelwall, um das Vordringen der Maschine zu stoppen. Der Robot prallte förmlich zurück, ob wohl seine Waffen tiefe Schnitte und Gassen in die dichtgedrängte Masse der Pflanzen brannten. »Das ist kein Kampf mehr!« stöhnte der Arkonide auf. »Das ist ein regelrechter Krieg!« »Was ist Krieg?« fragte Saarn aufgeregt. »Das, was du hier vor dir siehst!« Atlan deutete nach links. Dort befanden sich eine Reihe der riesigen Maschinenanla gen, deren Zwischenräume von einem wah ren Dickicht der Pflanzen ausgefüllt waren. Auch auf den oberen Flächen der Würfel wucherten Pflanzen ohne festhaltende Wur zeln. Atlan sagte leise zu Saarn: »Die Büsche identifizieren uns nicht als Gegner. Wir müssen die Stelle umgehen, wo der Krieg stattfindet. Das können wir nur auf diesem Weg.« Saarn blickte ihn aus kleinen Augen ent setzt an. »Wie kommen wir durch die undurch dringlichen Pflanzen?« Hier unten tobte ein Kampf, der viel mehr zu bedeuten hatte als eine Auseinanderset zung zwischen Robotern und Pflanzen. Es ging eindeutig um Macht und Einfluß. Da die Seele von Pthor ein im Sinn Atlans posi tiver Teil dieser Landmasse war, konnte sich der Arkonide ausrechnen, daß dieser Kampf mit tödlicher Erbitterung bis zum Ende aus geführt werden würde. »Wie eben gesehen und erlebt. Sie wer
13 den uns Platz machen«, sagte der Arkonide entschlossen. »Wir müssen die kämpfenden Roboter umgehen. Sie sind unsere wahren Feinde.« »Ich verstehe.« Unverändert tobte der Kampf. Die Pflan zen hatten klar erkannt, daß weniger die me chanischen Waffen der Robots die eigentli che Gefahr darstellten als vielmehr die Ener giestrahler. Die Ranken versuchten alles, um die Beweglichkeit der Projektoren und kurz läufigen Aggregate einzuschränken. Von zehn gezielt abgegebenen Feuerstößen schlugen mindestens sechs oder sieben ohne große Wirkung in die Felsendecke und die heruntergebrochenen schrägen Deckenplat ten ein und verwandelten dort das Material in Gas und weißglühende Tropfenschauer. »Los, Saarn!« rief Atlan und sprang auf. Ihn schützte das Goldene Vlies. Er rannte auf die Pflanzenbarriere zu. Die Äste und Blätter sahen ihn und wichen zurück. Einen Meter hinter Atlan versuchte Saarn, mit sei ner Angst fertig zu werden. Sie schafften et wa hundert weite Sprünge, ohne von den Robotern gesehen oder angegriffen zu wer den. Die Pflanzen schützten sie. Die Frage, woher diese Unmengen kämp fender Pflanzen herkommen, bedarf drin gend der Klärung! sagte der Logiksektor. Später! dachte Atlan und erkannte, als er stolperte, unter seinen Sohlen die breiten Stufen am Ende der Halle. Keuchend und schwitzend erreichten sie einen Punkt, der sozusagen im Rücken der kämpfenden Ro boter lag. Atlan blieb stehen und blickte schräg zurück. »Warum kämpfen die Pflanzen?« fragte schweratmend der Dello. »Ich glaube, um die Schaltstation zu schützen.« »Und warum kämpfen die Roboter?« er kundigte sich ein wenig einfältig Saarn. »Vermutlich deswegen, weil sie die Schaltstation erobern wollen.« »Und was tun wir hier?« »Wir versuchen, den Überblick zu behal ten und den Pflanzen zu helfen. Besonders
14 einer intelligenten Pflanze namens La'Mghor«, entgegnete Atlan rätselhaft. Er erinnerte sich an die barbarisch laute Musik, die hier einmal aus versteckten Lautspre chern gedröhnt hatte. Rechts von ihnen heul ten Schüsse, schmorten Pflanzen und explo dierten Roboter. Die Maschinen waren in unausgesetzter Bewegung. Rund um die ver schiedenen Kampfplätze war der Boden nicht nur von Säurespuren zerfurcht, son dern mit allen möglichen Pflanzenresten be deckt. Hier und dort schwelten, schwarzen Rauch abstoßend, Wurzeln und Säureknol len. Ein hin und her wogendes Inferno brei tete sich über die gesamte Halle aus. Die Scheinwerfer wurden immer wieder von dem Rauch und dem hochgewirbelten Staub verdeckt, die Szene hatte etwas Unwirkli ches. Atlan beschloß, das nächste Risiko einzu gehen. Eine flache Rampe schloß an die Rücksei te der Halle an. Atlan schob Blätter und Zweige zur Seite und spähte durch die Lücke. Dort hinten, wo ein kleinerer Robot gegen zwei mitgenommen aussehende Bü sche kämpfte, begann die erste Rampe. Sie bildete den Anfang des Weges zur »Seele«. Bis zu dieser Stelle war alles überwuchert und von nervös zitternden Pflanzen ausge füllt. Atlan drehte den Kopf und sah in das schmutzige, schweißnasse Gesicht Saarns. Die blauen Augen waren dunkel vor Unsi cherheit und Furcht. »Gleich sind wir hindurch, mein Freund«, murmelte der Arkonide. »Noch stark ge nug?« Saarn antwortete nur mit einem verzerrten Grinsen. Atlan bewegte sich in gerader Linie auf den Anfang der Rampe zu. Das Licht der vielen Scheinwerfer wurde von den dünnen, langen Blättern gebrochen und in eine grün schimmernde Dämmerung verwandelt. Sie erreichten den Anfang der Rampe. Sie war ebenfalls voller Büsche und Sträucher. Jetzt reagierten die Pflanzen und begannen nervös zu zittern. Ihre Stumpfwurzeln scharrten
Hans Kneifel über den trümmerbedeckten Boden. Aber auch jetzt wichen sie aus und bildeten einen schmalen Durchgang. Die Rampe wies eine ziemlich starke Steigung auf; Atlan stapfte schnell aufwärts. Am Ende der Rampe, wo die Stufen anfingen, blieb der Arkonide ste hen und schaute abermals zurück. Von hier aus hatten sie einen ziemlich gu ten Blick auf die Zentren der Kämpfe. Es gab keine drastische Veränderung. Überall versuchten die Roboter, die Pflanzen zu ver nichten, und die Pflanzen bewiesen überra schend große Fähigkeiten, ihnen zu wider stehen. Aber der Arkonide wußte, daß das Gleichgewicht der Kräfte fragil war – noch einige Dutzend dieser erstaunlichen Maschi nen mehr, und die Verteidiger würden zu rückweichen müssen. »Weiter!« Rund siebenhundert Meter trennten sie noch von dem kanzelartigen Schleusenein gang zur Seele. Atlan und Saarn kämpften sich weiter durch die Pflanzen. Hier waren keine Roboter mehr zu sehen; die Gewächse bildeten noch immer einen massiven Schutz wall gegen die mechanischen Invasoren. Die Geräusche der Kämpfe wurden ein wenig leiser, als die beiden ungleichen Freunde durch das Spalier der Sträucher und Ranken eilten und mit großen Sprüngen Stufe um Stufe überwanden. Die Treppenanlagen führten immer höher hinauf. Sie verliefen ebenfalls im Zickzack und wurden, je mehr sie sich der würfelförmigen Schleuse näher ten, immer schmaler. Aber auch hier war je der Fußbreit von Pflanzen bedeckt. Die Sträucher hingen auch an den Geländern und den steinernen Abgrenzungen. Sie spürten unzweifelhaft die Gefahr, die von den Robo tern ausging, denn sie bewegten sich unauf hörlich wie eine Menge von Menschen, die sich zum Kampf stellen wollten, aber nicht unmittelbar eingreifen konnten. Atlan und Saarn kletterten höher und sahen, daß eine zweite Gruppe von Robotern durch die auf gerissene Deckenöffnung herunterschwebte und in den Kampf eingriff. Ihre Waffen strahlen vernichteten wichtige Teile einiger
Die Verbannten von Pthor Kampfpflanzen und trieben sie zurück. Atlan und Saarn erreichten jetzt die glatte Felswand. Die riesige Pforte am Ende der Treppen war mitsamt den Angeln und Ver ankerungen aus der Steinmasse gerissen worden und lag wie eine Falltür flach da. Auch hier war jeder Quadratzentimeter von unruhigen Pflanzen bedeckt. Sie machten einen schmalen Korridor frei. Überall zogen sich dünne Ranken, riesige, gekrümmte Dor nen und triefende Knollen vor den zwei Ein dringlingen zurück. Auch der folgende Kor ridor, der im rechten Winkel zu der Trep penanlage verlief, war von Ästen und Blät tern geradezu vollgepfropft. »Hier gibt es keine Roboter! Wir sind in Sicherheit!« stöhnte Saarn auf, nachdem sie sich durch den schmalen, gewundenen Durchgang gekämpft hatten. Hinter ihnen schloß sich das Spalier sofort wieder. Etwa eine halbe Stunde lang, während sie sich durch gut beleuchtete und relativ wenig zer störte Teile des unteratlantischen Stollensy stems hindurcharbeiteten, blieben sie völlig unbelästigt. »Vorläufig scheinen wir tatsächlich sicher zu sein«, sagte der Arkonide schließlich. Er war enttäuscht. Schon längst hätte er jene besondere Art von telepathischem Kontakt zu dem Aggiaren haben müssen. Sie waren nahe genug an der würfelförmigen, weißen Kanzel, die aus der Felswand herausragte. Die Halle war, wie nicht anders zu erwarten, ein unübersehbares Meer aus gelben und violetten Blättern und braunen Ästen. Saarn und Atlan blieben vor der spaltbreit geöffne ten Außentür der Schleuse stehen. Dies ist der Eingang zur Seele von Pthor, hatte der zierliche Robot Elkohr damals die Schriftzeichen gedeutet. Nur derjenige, der rein und geläutert ist, soll ihn durchschrei ten. »Ich bin schon einmal als rein und geläu tert getestet worden«, sagte Atlan leise und streckte die Hand im Fäustling des Goldenen Vlieses aus, um die schwere Platte weiter zu öffnen. »Ich habe dich nicht richtig verstanden,
15 Atlan«, sagte Saarn und zog ebenfalls an der Schleusentür. »Vergiß es. Es war nicht wichtig. Wir sind da.« »Das ist die Seele?« Die Pflanzen, die aus der Schleuse her ausquollen, halfen ihnen. Der schmale Spalt wurde breiter. Dornen und Ranken zogen sich vor ihnen zurück. Die Schleuse war er leuchtet, und als sie einige Meter weiter wie der aus dem Würfel herauskamen, sahen sie, daß auch die innerste Steueranlage von Pthor mit Energie versorgt wurde. Der Ne bel, der Atlan einst hier empfangen hatte, existierte nicht mehr. Vor ihm, auf der weiß leuchtenden Fläche unterhalb der trichterar tig ansteigenden Ränge, standen Pflanzen. Die funktionelle Schönheit der amphithea tralisch aufgebauten, von Tausenden uner klärlichen Instrumenten erfüllten Anlage war verändert. Es war strahlend hell. Alle Farben und Schattierungen wurden von den Blättern teilweise gemildert und verschluckt, zum anderen Teil widergespiegelt. La'Mghor hatte die Seele von Atlantis in sei nen Besitz genommen. Atlan spürte, wie irgend etwas, eine selt same Wesenheit, seine Anwesenheit zur Kenntnis nahm und versuchte, mit ihm zu sprechen. Nicht in Form von Worten, son dern mit verschiedenen Eindrücken von selt samer Aussagekraft.
3. Atlan spürte: Er war nicht allein. Die Anwesenheit des Dellos und der vie len Pflanzen war dabei unwichtig und kein Teil dieses Eindrucks. Atlan merkte, daß je ner Verstand noch immer anwesend war und ihn augenblicklich wiedererkannt hatte. Be sondere Art hypnotischer Strahlungen, ein überlegener telepathischer Fremdverstand, eine Fremdintelligenz von großer Stärke – so etwa definierte er auch heute wieder die Seele von Pthor. Die Seele von Pthor hatte sich verändert. Sie war gewachsen. Eine neue Komponente
16 war hinzugefügt worden und sprach zu ihm auf diesem Weg. La'Mghor! sagte der Logiksektor scharf. »Richtig! So muß es sein!« flüsterte der Arkonide im Selbstgespräch. Der Aggiare und die Seele hatten irgendwie zusammen gefunden. Der Beweis ringelte sich hier in zahllosen Ablegern und Ranken über die stufenweise weich abgerundeten Galerien. Die Finger der Pflanzen verschwanden in den länglichen Öffnungen, hatten sich den Weg durch haarfeine Ritzen und Löcher ge bahnt, umschlangen die vielen phantasti schen Geräte. »Du schweigst! Du scheinst Probleme zu haben? Sind wir nicht in der Seele von Pthor?« fragte der Dello, der neben Atlan getreten war. »Doch, wir sind da. Aber die Verhältnisse haben sich drastisch geändert«, sagte Atlan und erwachte aus seinen fremdartigen Ge danken. Die fremde »Stimme« hatte in ihm den Eindruck hervorgerufen, daß diese scheinbare Harmonie getrübt war. Etwas hatte hier eingegriffen und die Seele gestört. »Was können wir tun?« fragte Saarn und betrachtete ebenso fasziniert wie Atlan die Verästelungen, die nervenknotenähnlichen Verdickungen und das Gespinst der feinen Ranken, das die gesamte Anlage umschloß. »Wir müssen warten. Spürst du nichts? Eine unsichtbare Macht teilt uns etwas mit!« Der Dello schüttelte den Kopf. »Ich spüre jedenfalls etwas«, erklärte Atlan ungeduldig. »Sei bitte still. Ich muß mich konzentrie ren.« »Verstanden, Atlan.« Atlan setzte sich auf den einzig freien Platz, der nicht von den Pflanzen eingenom men worden war. Diese Gewächse hier hat ten nur noch verschwindend geringe Ähn lichkeit mit den kämpfenden Exemplaren draußen in den Hallen und Stollen. Kein Zweig, kein Dorn in der Schaltstation regte sich; es herrschte eine beruhigende Stille. Aber sämtliche Instrumente waren in Tätig keit, wie damals. Schillernde Flüssigkeiten stiegen und fielen in Röhren und Kugeln,
Hans Kneifel breite Bänder krochen über Skalen mit fremdartigen Einteilungen, und auch das Schlingern der Landmasse schien hier am geringsten zu sein. La'Mghor war ver schwunden. Der Aggiare hatte sich verän dert und aufgespalten in Tausende und aber Tausende einzelner Pflanzen. Hatte er mit dieser strukturellen Veränderung auch seine geistige Kapazität und die seiner Fähigkei ten vergrößert? Atlan versuchte abermals, die Eindrücke der zweifachen »Seelen«-Stimme richtig zu verarbeiten. Der Aggiare bestätigte seinen Eindruck. Die Seele und La'Mghor waren ineinander aufgegangen und bildeten eine neue, zwei geteilte Einheit. Die Wesenheit der Seele schien die zusätzliche Komponente will kommen zu heißen, denn beide strahlten Zu friedenheit und die Gefühle echter Partner schaft aus. Offensichtlich war die Wesenheit der Seele stark passiv; eine pflanzliche Intel ligenz, die in der Lage war, mit Hilfe von Wurzelwerk und Ästen zu agieren, stellte wohl eine gute Ergänzung dazu dar. Das phantastische Bild der Pflanzen, die jetzt eine ganz andere Bedeutung bekamen, bestätigte Atlans Empfindungen. Die Pflan zen waren Nervenleiter und Neuronen, hat ten die Funktionen von Schaltungen und Übertragungsleitungen erhalten. Dies bedeu tete wiederum, daß der Informationsfluß in den pflanzlichen Fasern und Zellen rasend schnell sein mußte. Ein neuer, wichtiger Eindruck tauchte auf wie eine Vision: La'Mghor hatte alles getan, wessen er fä hig war, um diese wichtigste Steuerzentrale von Atlantis weiterhin voll funktionsfähig zu erhalten. Atlan wußte genau, was er und der Aggiare seinerzeit ausgemacht hatten. Er zweifelte nicht eine Sekunde lang daran, daß auch La'Mghor alles daransetzen würde, um Pthor nicht in die Hände der Machthaber in der Schwarzen Galaxis fallen zu lassen. Nachdem La'Mghor es im letzten Sekun denbruchteil hatte verhindern können, daß Pthor auf der Welt Loors mit vernichtender
Die Verbannten von Pthor Wucht eingeschlagen war, hatte er die Seele übernommen. Pthor und Loors wären ver nichtend geschädigt worden; mit einiger Si cherheit hätten weder der Planet noch Atlan tis diese Kollision überstanden. Wenn es der Aggiare zusammen mit der Seele damals un ter ebenfalls schwierigen Bedingungen ge schafft hatte, eine vergleichsweise sanfte Landung durchzuführen, dann würde er auch jetzt Pthor einigermaßen sicher steuern – und vermutlich nicht in die Schwarze Gala xis. Atlan hob den Kopf. Ein zweiter Impuls drang auf ihn ein und zwang seine Vorstellungskraft, einen be stimmten Weg einzuschlagen. Ein neuer Sinngehalt tauchte auf. Die Harmonie war tatsächlich getrübt. Nicht die jenige zwischen der Seele und dem aufgelö sten, veränderten Aggiaren, sondern die zwi schen der Seele und der Ganzheit Pthors. Die neu aufgetauchte Gefahr – es konnte sich um nichts und niemand anderen han deln als um die Roboterscheiben – hatte agiert. Bevor La'Mghor sich vervielfacht hatte und den künstlichen Wald rennender Pflanzen hatte aufbauen können, kamen die Roboter und stahlen einen Teil der Schaltan lage. Atlan schickte eine Menge fragender Gedanken und einigermaßen exakter Vor stellungen los, und diese seltsam ver schwommene Botschaft wurde abermals übermittelt. Also gelang es den Robots vom Typ Schwarzer Kontrolleur, ein wichtiges Schal telement zu stehlen! faßte der Logiksektor zusammen. Abermals kam eine Bestätigung. Die Roboter bauten ein Teil aus und flüchteten damit. Daher war die Harmonie zwischen La'Mghor und der Steuerung stark getrübt. Überließe man die Steuerung den Robotern, dann würde sich Pthor allzu bald in der Schwarzen Galaxis wiederfinden. Andererseits vermochte der Aggiare auch in seiner jetzigen Erscheinungsform Pthor nicht richtig zu steuern. Eine Reihe korrigie render Gedankenimpulse erreichte den Ar
17 koniden: Es ging nicht um die Möglichkeit, richtig zu steuern, sondern darum, daß die Steuerung außerordentlich schwierig und mühevoll war und das Können des Aggiaren eindeutig überforderte. Daß die Roboter Pthor steuerten, mußte unter allen Umständen verhindert werden. Wie? Die Mächtigen in der Schwarzen Galaxis warteten nur darauf. Geriet Pthor in ihren Einflußbereich, dann würden die Mächtigen augenblicklich daran gehen, ihren Einfluß zu erneuern. La'Mghors Wesenheit bedeutete dem Ar koniden, daß die neue Kombination alles versuchen würde, genau dies zu verhindern. »Ich bin derselben Ansicht!« hörte sich Atlan sagen. Saarn blickte ihn ohne Ver ständnis an. Er begriff nichts. Er hörte die Stimmen, die mit Atlan sprachen, einfach nicht. Atlan überlegte, konzentrierte sich auf das außerordentlich vielschichtige Problem. Die Seele war seiner Meinung nach autark. Alle Informationen, die er seit dem ersten Durchschwimmen des Schirmfelds um At lantis unbewußt und bewußt gesammelt hat te, deuteten darauf hin und ließen keinen an deren Schluß zu. Diese Schaltstation und der Verstand, der sie betrieb, hingen keineswegs von den Mächtigen der Schwarzen Galaxis ab. Vielleicht war die Seele auch erst dann, als sich La'Mghor einschaltete, in ihrer Grundhaltung im Sinn Atlans »positiv« ge worden. Atlan versuchte, auf seine Fragen eine Antwort zu bekommen. Wie stand es wirklich mit der Absicht die ser neuen, neu gegründeten doppelten We senheit? Er stand da und lauschte. Aber offensichtlich waren die Möglich keiten, abstrakte und schwierige Begriffe zu erklären, für diese Art der Übermittlung zu schwierig. Atlan erhielt auf seine Fragen keine Antwort. Er fing Stimmungen, Vor stellungen und Bilder auf, aber nichts davon war exakt genug, um als Erklärung dienen zu können. Er löste sich aus der Welt dieser Gedan
18 kenbilder und legte Saarn die Hand auf die knochige Schulter. »Du bist Fachmann für Schaltungen?« fragte er. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals et was anderes betrieben zu haben.« Atlan ahnte, daß ein Androide weniger frei in seinen Absichten und Entscheidungen war als beispielsweise er selbst. Er wandte sich an Saarn und sagte abschätzend: »Wie gut bist du?« »Es gibt wenige Schaltungen, die ich nicht begreife!« war die durchaus ernst ge meinte Antwort. »Ähnliche Schaltungen, wie du sie hier überall sehen kannst?« »Schaltungen sind irgendwie alle gleich«, murmelte Saarn. »Ich bin zwar anderer Meinung, aber si cherlich würdest du hier nach kürzerer oder längerer Zeit ein fehlendes Stück Schaltung finden?« fragte Atlan mit unverhüllter Neu gierde. »Wenn es ein mechanisch-kybernetisches Problem ist!« bestätigte Saarn. Atlan nickte. »Ich denke, es ist ein solches. Irgendwo in dieser Anlage fehlt ein wichtiges Teil. Finde es, mein Freund.« »Wie sieht es aus?« »Keine Ahnung. Ich habe über Größe oder Aussehen keinerlei Informationen. Ich kann dir leider nicht helfen, Saarn.« Der Dello nickte und warf einen langen Blick über die Pflanzen und die Anordnung der Schaltzentrale. Schließlich sagte Saarn: »Wenn hier irgendwo eine Schaltung fehlt, und ich habe die Chance, diese Fehl stelle zuerkennen, dann kann ich dir sagen, wie das Teil aussieht. Einverstanden?« Atlan grinste kurz. »Einverstanden, Saarn. Du fängst sofort mit der Suche an, und ich hoffe, daß ich da zu noch mehr Informationen auffangen kann. Wir beide kämpfen, jeder auf seine Art, für Pthor und eine besondere Art von Frieden auf Pthor und auch dort, wo Pthor in der nächsten Zeit zu finden sein wird.«
Hans Kneifel Der Dello schien durch diese Antwort sei ne Furcht vergessen zu können. Jedenfalls war er, als er an Atlan vorbei auf den unter sten Rang der Instrumente und Schaltungen zuging, von geradezu provozierender Zuver sicht. Er hatte endlich eine einigermaßen klar definierte Aufgabe. »Ich suche also ein Teil der ›Seele von Pthor‹?« rief er, bereits voll in seiner Aufga be vertieft. »Richtig. Ein wichtiges Teil!« bestätigte Atlan. Er sah einige Sekunden lang zu, wie der Dello versuchte, seiner neu gestellten Auf gabe gerecht zu werden. Dann fing Atlan wieder an, seine Umgebung zu vergessen und die Stimme der doppelten oder zweige teilten Wesenheit wieder aufzufangen. Eine ganze Weile lang gab es keine Möglichkeit, deutlicher Informationen zu empfangen. Aber dann schoben sich neue Empfindungen in den geistigen Erfahrungsbereich des Ar koniden. Er sah, wohin den Robotern die Flucht aus der Seele gelungen war. Er fand Mittel und Wege, ihren Weg zu verfolgen bezie hungsweise nachzuvollziehen. Die Maschi nen waren mit dem wichtigen Teil der Schaltung in einen Teil der Stollenanlagen geflohen, den er noch nicht kannte. Aber die Seele und La'Mghor würden ihm und dem Dello die Richtung genau zeigen. Er emp fing bereits entsprechende Bilder. Die Maschinen hielten einen Teil der un terirdischen Anlagen besetzt, den er nicht kannte. Aber die Stollen, Korridore und Hal len lagen nahe der Seele und waren relativ leicht zugänglich. Atlan hob die Augen und sah, wie der Dello systematisch den untersten Rang ab suchte. Das Gewirr aus Pflanzen und Gerä ten, verteilt auf Tausende einzelner Positio nen, war mehr als ein Labyrinth. Der Dello war schnell und schien genau zu wissen, wo nach er zu suchen hatte. Er beschrieb bereits die zweite Umrundung der Grundfläche. At lan spürte leichte Unruhe. Wieder merkte er, wie Pthor vibrierte. Er rief:
Die Verbannten von Pthor »Kommst du klar, Saarn?« Der Dello hob den Arm und rief herunter: »Bisher sind sämtliche Geräte und Schal tungen unversehrt. Ich habe auch keine Ro boterspuren entdecken können.« »Suche weiter!« entgegnete Atlan. »Bis ich es finde! Darauf kannst du dich verlas sen.« Atlan empfing abermals einen Schwall neuer Eindrücke. La'Mghor hatte, als die Roboter mit dem fehlenden Schaltungsteil davongeschwebt waren, seine pflanzlichen Verfolger hinter hergeschickt und den Weg herausgefunden. Die doppelte Wesenheit beschrieb die Rich tung und die verschiedenen Hallen und Höh len, in denen die Roboter herrschten. Aber keine einzige Information war präzise. Sie ließ der Phantasie eine Menge Spielraum. Deutlich wurde aber, daß die Pflanzen ver suchten, den Robotern das fehlende Stück der Schaltung wieder abzujagen. Bisher hat ten sie keinen Erfolg gehabt und waren so gar in Richtung auf die Seele zurückgetrie ben worden. Saarn befand sich etwa auf halber Höhe, in der Hälfte einer Galerie. Rund um seine Gestalt erstreckten sich die Instrumente, von zahllosen Ranken umwickelt und miteinan der verbunden. Es wirkte sehr merkwürdig; jene unzähligen Fasern, die von den techni schen Anlagen Besitz ergriffen hatten. Eine Art Zaubergarten wucherte hier. »Ich glaube, ich habe die Stelle gefun den«, rief Saarn aufgeregt. »Ich komme sofort!« gab Atlan zurück. Eine gewisse Zustimmung kam von der unsichtbaren Wesenheit. Atlan hatte das Ge fühl, daß der Anzug der Vernichtung seine Bewegungen dirigierte. Atlan kletterte zu Saarn hinauf. Der Dello hatte es tatsächlich geschafft, in diesem La byrinth aus Pflanzen und Geräten von voll kommener Fremdartigkeit, die richtige Stel le zu finden. Behutsam und mit flinken Be wegungen schob er einige Ranken zur Seite und deutete auf eine längliche Vertiefung, die etwa einen halben Meter lang war. Blit
19 zende kugelförmige Vorsprünge waren in nen angebracht. Sie schienen einmal in Ein buchtungen eingegriffen zu haben, die wie Fingereindrücke auf dem verschwundenen Gerät ausgesehen haben mochten. Atlan sagte leise: »Die Seele von Pthor hat bestätigt, daß du die richtige Stelle gefunden hast. Offenbar fehlt das Teil, das diesen Raum ausgefüllt hat.« »Ich bin ganz sicher. Hier die Anschlüsse. Das Ding muß rund sein, an der dicksten Stelle hat es etwa vierundzwanzig Zentime ter Durchmesser. Vermutlich silberfarben wie auch der Innenraum.« Atlan stellte sich etwas vor, das wie eine dicke Flöte ohne Löcher und mit konischem Zuschnitt aussah. Wie schwer das Gerät war, das am anderen Ende nur rund sechs Zenti meter Durchmesser hatte, konnte er nur schätzen – er nahm etwa zehn bis fünfzehn Kilogramm an. Wenn es wichtig war, und der Raub hatte dies bestätigt, dann würde es zweifellos voller Schaltkreise oder ähnlicher Einrichtungen sein. Sie bedingten ein ähn lich hohes Gewicht. »Was kann das fehlende Teil bewirkt ha ben, deiner Meinung nach, Saarn?« fragte Atlan begierig. Saarn, der sich in der Ruhe und der Hel ligkeit dieses geheimnisvollen Raumes sichtlich wohl fühlte, erwiderte augenblick lich: »Es muß, wenn es so wichtig war, daß es die Roboter stahlen, ein Rechner gewesen sein. Oder eine Art Nervenknoten. Vielleicht auch ein Verteiler von Informationen. Oder sogar eine Art Gewissen dieser Anlage.« »Dann werden die Robots es erstens gut versteckt haben und es zweitens sehr gut hü ten«, murmelte der Arkonide. Die Seele und La'Mghor erwarteten von ihm und dem Del lo, daß sie den Robotern diesen Fund wieder abjagten und einbauten. Ich sehe unüberwindbare Schwierigkeiten, erklärte der Logiksektor. Der Arkonide wußte, daß sein Extrasinn genau das zusammengefaßt aussagte, was er
20 sich selbst überlegt hatte. Es war für ihn ab zusehen, daß trotz der anscheinend perfekten Symbiose der Pflanzen verlieren würden. »Wir sollen den Maschinen dieses … sil berfarbene Rohr wieder abjagen?« fragte der Dello erschrocken. Sofort kehrte die Angst zurück; er machte fahrige Bewegungen, und sein Lispeln verstärkte sich. »Wir beide? Mit einer einzigen Betäubungswaffe?« Atlan grinste und sagte sarkastisch: »Vergiß nicht den Scheinwerfer. Er gibt eine treffliche Keule ab.« Sie kletterten langsam wieder hinunter und blieben zwischen den Pflanzen stehen. Wieder empfing Atlan Vorstellungen und Bitten. Deutlich wurde eine dringende, trau rige Strömung, daß alle Anstrengungen ohne das konische Rohr mit den Einbuchtungen vergeblich sein und bleiben würden. Atlan senkte den Kopf; die Traurigkeit war er drückend. Dann machte er einige Schritte in die Richtung auf die weiße Schleuse zu. Die höheren und beweglichen Pflanzen glitten zur Seite. Sie gaben die rechte Innenwand der Schleuse frei. Als Atlan vorsichtig die Hand ausstreckte, erschien wieder jener wei ße Nebel. Atlan griff schweigend nach Saarn und zog den Dello, der erschreckt aufstöhn te, mit sich durch den Nebel hindurch. Sie standen in einem vollkommen frem den Raum. Eine riesige, sehr gut erhaltene Höhle. Es herrschte Dämmerlicht. Unübersehbare Mengen von rechteckigen Einfriedungen er streckten sich auf dem Boden. Es roch stickig und nach feuchter Erde. »Ein Treibhaus!« entfuhr es Atlan. »La'Mghors private Pflanzenzucht!« Vorsichtig gingen sie hintereinander in den Saal hinein. Die Wärme war diejenige eines Dschungels in den Mittagsstunden. Schon nach einigen Schritten waren sie in Schweiß gebadet. So weit sie sehen konnten, war der Boden eingeteilt. Eine unbekannte Masse hielt feuchtes Erdreich zusammen wie eine niedrige Mauer. Überall tropfte Wasser von den Wänden und der Decke. Je weiter Saarn und Atlan hineingingen, desto
Hans Kneifel genauer erfaßten sie, daß dieses seltsame Treibhaus tatsächlich hervorragend funktio nierte. Von winzigen Keimlingen bis hinauf zu den großen, selbstbeweglichen Kämpfer pflanzen existierte eine logische Wachs tumsreihe. Es wurden unablässig Kämpfer gegen die Roboter produziert. »Wer hat dieses Treibhaus angelegt?« fragte Saarn und wich einer Pflanze aus, die ihn abzutasten begann. Atlan antwortete zögernd: »Sicherlich war es La'Mghor. Er muß auf dem Weg durch die unterirdischen Wassera dern Material hierher gebracht haben. Und als es die ersten Pflanzen gab, halfen sie ihm. Vielleicht zwang er auch den einen oder anderen Überlebenden der Flutkatastro phe, ihn zu unterstützen.« Trotz aller Einschränkungen war es eine gewaltige Leistung. Der Aggiare mußte ge schuftet haben wie ein Besessener. Das Gol dene Vlies schien Atlan weiter zu führen. Er ging in der Mitte der Halle geradeaus und gelangte zwischen mittelgroßen Pflanzen an einen weiteren Ausgang. »Wohin führst du uns?« fragte der Dello. Wieder einmal schwankte der Boden. In den Felsen grollte und knisterte es. »Ich führe nicht eigentlich«, gab Atlan zurück. »Wir werden geführt. Und zwar nach meiner Meinung in das Reich der Ro boter.« »Du willst ihnen wirklich das Rohr abja gen?« schrie Saarn ungläubig. »Ich werde es versuchen!« Aus dem Halbdunkel der großen Treib hauskammer kamen Saarn und Atlan in einen kleineren Raum. Weder Razamons Gruppe noch Atlan selbst hatten etwas von dem Vorhandensein dieser Räume geahnt. Das Reich der Seele, von La'Mghor kontrol liert, schien von dem Aggiaren weitestge hend erschlossen worden zu sein. In diesem neuen Teil des Höhlensystems herrschte sonnenhelles Licht. Aufgeregt eilten er wachsene Kampfpflanzen hin und her und schlugen schließlich eine bestimmte Rich tung ein. Atlan glaubte zu wissen, daß sie
Die Verbannten von Pthor sich dem Kampf gegen die Robots stellen würden. Er folgte dem nicht aufhörenden, dünnen Strom der violetten und gelben Kreaturen. Sie wirkten auf gespenstische Weise ent schlossen, als wüßten sie genau, welches Schicksal sie erwartete. Atlan sagte sich, daß er längst hungrig und durstig hätte sein müssen. Aber das Gol dene Vlies und der Zellschwingungsaktiva tor schützten ihn vor tiefgreifenden Entbeh rungen. Nahrungsmittel zu finden, war hier in der Tiefe ohnehin unmöglich. Und der Dello schien überhaupt einen sehr geringen Bedarf an Nahrung zu haben. Er folgte dem Arkoniden schweigend in den nächsten Ab schnitt des Labyrinths. Hier gab es im Ge gensatz zum vorhergehenden Raum fast kein Licht. Die Luft war heiß und feuchtigkeits gesättigt; es herrschte ein beträchtlicher Mangel an Sauerstoff. Ein System von schweren Vorhängen, aus aneinandergekleb ten Blättern lebender Pflanzen hergestellt, riß für einige Sekunden auf, als der Dello und Atlan hindurchgingen. In diesem Teil des Aggiarenreichs wurden die winzigen Keimlinge gezogen. Der Bo den war mit einer undefinierbaren Schicht klebriger, feuchter Substanz überzogen wie mit Schaum. Es bildeten sich runde Flächen, in denen die schwarze Masse sich vor den Stiefelsohlen zurückzog. Dunkelheit, Hitze und Feuchtigkeit schienen zusammen einen Wachstumsprozeß zu bewirken, der in ra sender Schnelligkeit ablief. Atlan und Saarn hatte eine derartig große Menge fertiger Pflanzen gesehen und erlebt, wie sie förm lich unter ihren Augen wuchsen. Atlan deutete auf einen Lichtschimmer am Ende der Höhle. »Weiter. Wir kommen in dieser stinken den Hitze um. Schneller, mein Freund.« Sie hatten keine andere Wahl, als dem Druck des Anzugs und dem unwillkürlichen Verlauf der Treibhausanlage zu folgen. Der jenseitige Vorhang teilte sich und entließ die Eindringlinge zusammen mit einem Schwall stickiger Luft. Sie taumelten in einen Korri
21 dor hinaus, der voller ausgewachsener Pflan zen war. Wieder öffnete sich in der Mitte ein Spa lier. Die Pflanzen wichen aus und schwank ten auf ihren kurzen Wurzelfüßen in diesel be Richtung, in der auch Saarn und Atlan gingen. Den Arkoniden packte die Vorah nung von Gefahren. Er mußte annehmen, daß die Roboter als Werkzeuge der Mächti gen bis zur Selbstaufopferung um die Ein flußmöglichkeit hier auf Pthor kämpfen würden. Saarn blieb stehen und lehnte sich gegen die Wand. »Das ist sinnlos, was wir versuchen, At lan!« sagte er. Er zuckte ebenso wie der Ar konide zusammen, als irgendwo hinter der nächsten Krümmung des Korridors ein dröh nender Strahlschuß einschlug und eine scharfe Detonation zu hören war. »Wir versuchen nicht, gegen die Roboter zu kämpfen«, antwortete Atlan und schüttel te energisch den Kopf. »Wir sind keine Selbstmörder.« Ein zweiter Schuß aus einer Energiewaffe dröhnte auf. Wankend rannten Kämpfer pflanzen mit züngelnden Ranken und an griffslustig gespreizten Dornen durch den Korridor und streiften die beiden Männer mit ihren Ästen. »Vermutlich werden die Roboter gegen uns kämpfen!« gab Saarn ängstlich zu be denken. »Das werden wir durch vorsichtiges Ver halten zu verhindern versuchen«, meinte At lan. Er stieß sich von der Wand ab und nahm den Waggu in die rechte Hand. »Wir sind noch lange nicht dort, wo sich die Robots verschanzt haben«, meinte er. Es gab mit Sicherheit viel mehr Maschinen hier unterhalb von Pthor, als er es sich vorgestellt hatte. »Mir ist es nahe genug!« stellte Saarn lis pelnd fest. Atlan winkte. Sie eilten in der schützen den Deckung der Kämpfergewächse durch die letzten Meter des Korridors. Dreißig Schritte weiter kamen sie an einem brennen
22 den Roboter vorbei, der von den Pflanzen vernichtet worden war. Die Wände zeigten die tiefen Spuren der Energieschüsse. Die Pflanzen bildeten einen dichten, eng zusammengepreßten Ring und zogen die Fremden mit sich. Es ging eine lange, in mehreren Absätzen verlaufende Treppe steil und in schnellstem Tempo hin unter. Kein Robot war zu sehen, aber von weiter unten kamen die unverkennbaren Ge räusche wütender Kämpfe. Atlan war sich bewußt, daß die Atempause zu Ende ging. Die subatlantischen Bezirke rund um das Schaltzentrum waren von kämpfenden Par teien förmlich bis zum Bersten gefüllt. Atlan stolperte über eine Wurzel. Die Pflanze fing ihn weich und vorsichtig auf. Neben ihm schrie Saarn: »Woher kommen diese Roboter eigent lich? Es müssen Hunderte sein!« »Keine Ahnung. Ich denke an geheime Depots, in denen sie aktiviert werden«, gab der Arkonide zurück und rannte, halb gesto ßen, halb geschoben, weiter abwärts. Minde stens zweihundert Meter tiefer als das bishe rige Niveau lag das neue System von Gän gen und Stollen. Atlan hatte seine Orientie rung inzwischen völlig verloren. Ein Summen kam von schräg links. Aus einem kleinen Stollen schwebten nacheinan der etwa ein Dutzend der schwarzen Robots. Sie eröffneten augenblicklich das Feuer. Die erste Reihe der Pflanzen sank zusammen und fing zu schwelen und zu brennen an. At lan sprang zur Seite, riß den Dello mit sich und hechtete in eine tiefe Nische hinein. Hinter einer wuchtigen Bank aus Metall und Stein fanden sie vorübergehend Schutz. Sie spähten durch schmale Schlitze hin durch und wurden abermals Zeuge eines er bitterten Kampfes. Röhrende Strahlen zuck ten hin und her. Säure tropfte und schoß in dünnen Güssen aus den Knollen und in die Schlangenarme der Maschinen. Tausende winziger Ranken versuchten, die Roboter zu fesseln. »Es muß ein riesiges Lager voller Roboter sein«, sagte der Dello erschüttert. »Es ist nur
Hans Kneifel eine Frage der Zeit, wann sie uns ent decken.« »Ich bin ziemlich gut im Verstecken«, sagte Atlan. »Die Pflanzen sind tatsächlich gefährliche Gegner.« Der Platz, an dem mindestens fünf Gänge oder Korridore einmündeten, war ziemlich gut beleuchtet. Erbittert stürzten sich die Pflanzen auf den Gegner. Jeder Robot wurde von mehreren Sträuchern angegriffen. Es gab wenigstens auf diesem Kampfplatz noch genügend Ersatz; für jeden verbrannten oder zerfetzten Strauch tauchten drei oder mehr neue auf und griffen in den Kampf ein. Als das Getöse der Waffenstrahlen aufgehört hatte, hob Atlan den Kopf über die Barriere. »Noch mehr Robots!« stöhnte er auf. Aus einem Korridor, der durch dicke Röhrensysteme an den Wänden offensicht lich wichtige Funktionen besaß, schwebten weitere schwarze Scheiben. Sobald sie sich orientierten, blieben sie in der Luft schwe ben und entfesselten ein hervorragend ge zieltes Feuer auf die Pflanzen. Ehe die Ge wächse reagierten und eine Verteidigungs spritze in die neue Richtung schickten, ver brannten die Roboter ungehindert die Hälfte der hier sich erbittert wehrenden Sträucher und Büsche. Aber La'Mghor schickte sofort ein neues Kontingent in die Schlacht. Die Sträucher sprangen förmlich die lange Treppe hinunter. Einige fielen im Bogen durch die Luft und krallten sich auf der Oberseite der Scheiben fest. Wieder einmal ging der Kampf unentschieden aus. Aber es war völlig ausgeschlossen, daß es den Pflan zen auf die Dauer gelingen würde, gegen die ständig größer werdenden Puls der Maschi nen zu bestehen. Die Maschinen, die sich noch im Korridor befanden, schwebten hervor und fingen an, die Büsche zu zerfetzen und niederzustrah len. Es waren vier Exemplare. Atlan begriff, daß die Maschinen bisher immer in Vierer gruppen aufgetaucht waren. »Es wird mir hier zu gefährlich«, brumm te er und sprang auf.
Die Verbannten von Pthor Im Schutz von Pflanzen und brennenden Resten huschten sie entlang der Mauer auf die Röhren zu. Einige Sprünge brachten sie in den fast perfekten Schutz der schwer iso lierten Rohre. Geduckt liefen sie weiter. Hinter ihnen drangen neue Kommandos von Pflanzen in den leeren Korridor hinein. Kein Roboter tauchte auf, kein aggressives Sum men ertönte. Sie kamen hundert oder mehr Meter völlig ungehindert weiter, verbargen sich hinter den wuchtigen Hohlkörpern und registrierten, daß es immer dunkler wurde. »Hier ist es noch viel gefährlicher!« rief der Dello unterdrückt. »Noch leben wir«, stellte Atlan scheinbar ungerührt fest. Aber er war ebenso unsicher wie sein lispelnder Freund. Sie befanden sich hier unmittelbar an dem Punkt, von dem aus die Roboter ausschwärmten. Das fühlte er. Die Büsche schienen derselben Auffas sung zu sein und erfüllten den Korridor mit ihren raschelnden Ranken, den Dornen und den schabenden Wurzelfüßen. »Gleich werden neue Roboter kommen!« flüsterte Saarn und duckte sich in eine Ecke. Die Geräusche veränderten sich. Der dunkle Korridor machte eine scharfe Bie gung. Zusammen mit einer Gruppe von nicht weniger als dreißig Pflanzen glitt Atlan so leise und unauffällig wie möglich um die Ecke und duckte sich augenblicklich wieder. Der Korridor mündete in eine riesige, do martige Halle. Von hierher kamen die Robots. Aber die Halle war wieder kein Magazin für Maschi nen. Was Atlan sah, ließ ihn auf der Stelle anhalten. Saarn prallte in vollem Lauf gegen seinen Rücken. Die Pflanzen glitten ra schelnd und entschlossen auf die vier Robo ter los, die soeben die Trennlinie zwischen Halle und Korridor erreicht hatten. Der so fort einsetzende Kampf verschaffte Atlan und dem Dello vorübergehend Schutz vor Entdeckung. Der Schlund zur Schwarzen Galaxis! sag te der Logiksektor.
4.
23 Mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwunderung betrachtete Atlan das Bild, das sich immer deutlicher zeigte und mehr und mehr gigantische Züge aufwies. Der Korridor traf im rechten Winkel zur Längsachse die domartige Höhle, deren Wände und Decken deutliche Spuren der Bearbeitung zeigten. Indirekt angebrachte Scheinwerfer verbreiteten verschieden star ke Helligkeit. Der Boden war, so weit man sehen konnte, glatt und mit einem Riffelmu ster bedeckt. Genau in der Mitte der Halle erhob sich eine Konstruktion, die auf einem würfelförmigen Basisblock stand. Atlan konnte nur erkennen, daß aus einem riesigen Trichtermund flackerndes Feuer oder zuckende Helligkeit hervorbrach. Neben ihm, mit panischer Angst in der Stimme, keuchte der Dello auf. »Diese verdammten Maschinen kommen aus dem Trichter, Atlan!« Die Maschinen – die letzte Gruppe aus vier Exemplaren – wa ren bereits in einen rasenden Kampf mit den Pflanzen verwickelt. Dröhnende Energie schüsse, winselnde Aggregate, das Splittern von Ästen und das schmerzend peitschende Reißen von Ranken mischten sich mit dem dumpfen Grollen. Es ertönte jedesmal, wenn sich Pthor wieder unkontrolliert bewegte. »Du hast vermutlich recht, Saarn. Sie kommen in Gruppen und in Abständen. Wenn es uns gelingen würde, den Transport zu stoppen, würden unsere freundlichen Pflanzen ziemlich schnell gesiegt haben.« »Dort können wir uns verstecken!« Der Dello deutete auf einen gewaltigen Stapel irgendwelcher Fässer oder Zylinder abschnitte, die, vermischt mit undeutlich sichtbaren Kisten oder Truhenstapeln, zwi schen dem Kopfstück des Trichters und der Hallenwand standen. »Ausgezeichnet!« antwortete Atlan. Er war nicht mehr so sicher, den »Schlund zur Schwarzen Galaxis« vor sich zu sehen. Mit wenigen Sprüngen, dicht an die Wand ge preßt und tief zu Boden gekauert, erreichten Saarn und Atlan die vorzügliche Deckung des Stapels. Atlan spürte den Griff des Wag
24 gu in seiner Hand und stellte wieder einmal die absolute Nutzlosigkeit der Waffe ange sichts dieser monströsen Demonstration von Waffentechnik fest. Er hob den Kopf und blickte jetzt schräg in den »Schlund« hinein. »Das ist tatsächlich der Ausgangspunkt der Roboterinvasion!« sagte er. Der ge krümmte, trompetenförmige Trichter war aus dunkelblau schimmerndem Metall. Die riesige Öffnung hatte nicht weniger als zehn Meter Durchmesser. Etwa zwei Minuten wa ren vergangen, als sich die Pflanzen auf die letzte Vierergruppe gestürzt hatten. »Kommen die Roboter von Pthor?« flü sterte Saarn und spähte zwischen zwei Sta peln hindurch auf das lodernde und flackernde Feuer ohne echte Flammen, das die Trichtermündung ausfüllte und jetzt plötz lich heller und wilder wurde. Atlan überlegte kurz und erwiderte: »Das ist undenkbar. Ich nehme an, dieser Trichter ist ein Transmitter. Niemand auf Pthor hätte sich die Mühe gemacht, einen Transmitter hier aufzustellen. Es gäbe schnellere und einfachere Wege.« »Du hast recht.« Etwa hundertzwanzig Sekunden waren herum. Das Feuer loderte und waberte schneller. Eine neue Gruppe von vier schei benförmigen Robotern schwebte aus dem Trichter, dessen unterster Rand fast auf dem Hallenboden aufstand. Sie wurden teilweise sichtbar, glitten ganz aus der zuckenden Helligkeit hinaus und wurden schneller. Sie hatten sekundenlang Orientierungsschwierigkeiten, dann aber er kannten sie den Gegner und schwebten mit wütender Intensität auf die Büsche und Sträucher zu. Da inzwischen der Nachschub an unversehrten Pflanzen nicht abgerissen war, begann augenblicklich wieder ein erbit terter Kampf. »Sie kommen im Zwei-Minuten-Takt!« stellte Atlan fest. »Und sie kommen nicht aus der Schwarzen Galaxis!« »Woher nimmst du die Sicherheit, diese Aussage zu treffen?« fragte Saarn und konn te seinen Blick nicht von dem schrecklichen
Hans Kneifel Vernichtungskampf reißen. »Soll ich es dir erklären?« »Ja, natürlich!« Atlan hatte eben erst erkannt, daß er ei nem Trugschluß aufgesessen war. Wenn die Maschinen von einem anderen Punkt der Landmasse hierher gekommen wären, würde es auf jeden Fall einfacher gewesen sein, sie einzulagern und dann abzurufen. Falls sie aus der Schwarzen Galaxis kommen würden … auch dieser Schluß war falsch. Die Mäch tigen würden ganz andere und weitaus kampfstärkere Gegner über die Transmitter anlage schicken. Und Atlan wußte, daß der Trichter eine Art Transmitterempfangsgerät war. Woher kamen also wirklich diese schwarzen Robotscheiben? Weder von Pthor noch aus der Schwarzen Galaxis. Er teilte dem Dello seine Gedankengänge mit und blickte wieder auf den Trichter. »Ich glaube, deine Überlegungen sind richtig!« stimmte Saarn zu. »Jedenfalls habe ich keine anderen Erklä rungen«, antwortete der Arkonide und ver suchte, technische Einzelheiten zu erkennen. Der Trichter stand quer im Raum. Die Öffnung war senkrecht angebracht. Der Trichter verjüngte sich und mündete nach ei ner schwungvollen S-Kurve in den dun kelblauen Stahlwürfel. In der Mitte der Kon struktion war eine Verankerung angebracht, die sie gegen den Würfel abstützte. Weder Bedienungspulte noch Maschinen oder We sen, die irgendwelche Schaltungen ausführ ten, waren zu erkennen. Aber Atlan sah be stimmte Lichtreflexe, die darauf hindeute ten, daß auf der ihm abgewandten Seite des Würfels ein Schaltpult oder etwas Ähnliches existierte. Aufgeregt fragte der Dello: »Wenn wir die Maschine stören, werden die Pflanzen siegen?« »Vermutlich ist es so«, erklärte Atlan und sah sich weiter um. Was sie brauchten, wa ren wirksame Waffen. Nichts und niemand hatte bisher die Anwesenheit zweier Frem der entdeckt. Sie waren völlig ungeschoren geblieben. »Wenn die Pflanzen siegen, dann wird
Die Verbannten von Pthor Pthor frei?« fragte Saarn weiter. »Das nehme ich an«, knurrte Atlan. So weit er sehen konnte, gab es in näherem Umkreis nichts, das sich als Waffe verwen den ließ. Wieder waren zwei Minuten vor bei. Das energetische Feuer flackerte stärker auf, und vier Roboter schwebten aus dem Schlund des Trichters. Saarn starrte die schimmernden Scheiben und die umherta stenden Tentakel an und sagte in plötzlich erwachender Entschlossenheit: »Wir müssen versuchen, die Empfangsan lage empfindlich zu stören oder zu vernich ten!« »Aber nicht mit einem erloschenen Hand scheinwerfer und einer lächerlichen Läh mungswaffe«, gab Atlan zurück. »Da wir keine Waffen haben und auch keine finden werden, müßten wir das Schaltpult dort er reichen.« Die neu angekommenen Maschinen been deten den Kampf mit den Pflanzen schnell. Dann drangen sie weiter in den Korridor vor und gerieten aus der Sicht der Eindringlinge. Hatten die Maschinen das Schaltelement vielleicht hier verborgen? Es war immerhin denkbar, sagte sich Atlan. Er deutete in den Hintergrund der domähnlichen Riesenhöhle. »Wir haben immer zwei Minuten Zeit. Es müßte zu schaffen sein, unbeobachtet dort entlang zu rennen.« »Vorausgesetzt, die Roboter verlassen die Höhle, sobald sie aus dem Trichter hervor geschwebt sind.« Sie standen zögernd auf und blieben im Schutz der Stapel. Wieder vergingen hun dertzwanzig Sekunden. Vier neue schwarz schimmernde Scheiben schwebten aus dem Trichter und jagten sofort auf den Höhlen ausgang zu, als wären sie entsprechend pro grammiert worden. Saarn gab Atlan einen Stoß. Sie rannten los, parallel zur Wand, et wa hundert Schritt weit. Atlan zählte leise die verstreichenden Sekunden. Sie bogen auf sein Zeichen nach knapp einer Minute nach links ab und warfen sich in einer dunklen Zone der Höhle zu Boden. Wieder flackerte das Feuer stärker auf, wieder erschien eine
25 Gruppe von vier Maschinen. Saarn flüsterte: »Du hast recht. Die Pflanzen werden nicht siegen.« Als der letzte Robot hinter der Krümmung verschwunden war, sprangen sie auf und rannten auf die gegenüberliegende Wand zu. Sie wurden schneller, machten riesige Sprünge und erreichten den Winkel zwi schen Wand und Boden, als die Zeit vergan gen war. Wieder verbargen sie sich zwi schen großen Ausrüstungsgegenständen von unbekannter Funktion. Die nächste Zeit spanne brachte sie entlang der zerklüfteten Höhlenwand bis zur Höhe des Würfels zu rück. Das Schaltpult mit seinen Hebeln und farbigen, leuchtenden Anzeigen war nur noch hundert Schritt von ihnen entfernt. »Nein. Die Roboter entscheiden den Kampf.« Atlan wartete ab, bis die nächste Gruppe Robots die Höhle verlassen hatte. Auch Saarn spannte seine Muskeln und machte sich fertig. Flüsternd berieten sie sich, wel che Schalter ihrer Meinung nach wichtige Funktionen steuerten. Atlan starrte den dunklen Boden der Höhle an, sah aber weder Fallen noch irgendwelche Projektoren. Sie stießen sich von der Wand ab und liefen ne beneinander so schnell wie möglich auf das Pult zu. Zehn Meter vor der Kante der abge schrägten Fläche schrie heulend Saarn auf. Atlan wirbelte herum und stolperte weiter, sprang auf den Dello zu. Saarn wälzte sich schreiend und brennend auf dem Boden. Seine Arme und Beine zuckten wild und un kontrolliert. Atlan warf sich auf den Dello und packte einen Fuß. Eine unsichtbare Barriere! rief der Logik sektor. Atlan zerrte den schreienden Dello von der Barriere weg. Er selbst hatte die Strah lensperre nicht einmal gespürt. Das gelbe, lautlose Feuer, das sich binnen weniger Au genblick über den gesamten Körper Saarns ausbreitete, verzehrte rasend schnell das Ge webe. Kleidung und Haut lösten sich ohne Spuren auf.
26 Die Schreie hallten durch das Gewölbe und ließen Atlan schauern. Er ließ den dün ner gewordenen Fuß los und sah, wie der Kopf von den Flammen ergriffen wurde. Saarn hörte auf, seinen Schmerz hinauszu schreien. Das Feuer verzehrte sein Gesicht, fraß die Brust auf und kroch über die Schul tern. Atlan sprang zurück, als das Feuer auf loderte und den Leichnam in einer Folge einzelner, lautloser Stichflammen völlig auf löste. Die Zeit ist um! drängte der Extrasinn. Atlan riß die kapuzenartige Haube des Goldenen Vlieses über den Kopf, während er auf das Schaltpult zurannte. Als er die Hand nach dem schwersten Hebel ausstreck te, schwebten vier neue Robots aus dem Trichter. Der Arkonide hatte mit Hilfe sei nes Anzugs die Barriere durchdringen kön nen, die vermutlich jede organische Materie vernichtete. Als er den Hebel kippen wollte, entdeckten ihn gleichzeitig zwei der herun terschwebenden Maschinen und feuerten auf ihn. Die Waffenstrahlen trafen Atlan an der Brust und schleuderten ihn vom Schaltpult zurück. Er überschlug sich und rollte sich ab. Neben ihm rissen zwei weitere Energie strahlen tiefe Krater in den Höhlenboden und überschütteten den goldenen Anzug der Vernichtung mit weißglühenden Tropfen. Das Goldene Vlies hatte ihm abermals das Leben gerettet. Aber die vier Roboter waren auf ihn auf merksam geworden. Sie stuften ihn als An greifer ein. Ihre Waffenarme schwenkten herum und verfolgten jede seiner Bewegun gen. Atlan sprang im Zickzack wieder auf das Pult zu. Wieder trafen ihn nacheinander drei Schüsse. Einer streifte seinen Kopf. At lan spürte einen harten Schlag, aber er wur de nicht besinnungslos. Die Roboter kamen von drei Seiten auf ihn zu und schienen be griffen zu haben, daß ihre Waffen nichts ausrichten konnten. Jetzt senkten sie die Tentakel und griffen ihn damit an. Ein peit schenartiges Ende mit breiten, metallenen Klammern ergriff ihn am Oberarm und riß
Hans Kneifel ihn drei Meter weit durch die Luft. Das Schaltpult blieb unerreichbar. Atlan stöhnte auf und schrie die Roboter an. »Ich bin euer Herr. Ihr habt mir zu gehor chen!« Der Befehl war wirkungslos. Auch die vierte Maschine kurvte durch die Luft heran. Verschiedene Werkzeuge und Waffen streckten sich nach Atlan aus und packten ihn von allen Seiten. Er spürte die Griffe an den Unterarmen, den Fußgelenken, um den Brustkorb und an den Schultern. Die vier Robots hatten ihn so eng umstellt, daß drei von ihnen mit den Seitenteilen polternd ge geneinanderstießen. »Laßt mich augenblicklich los!« schrie er in Pthora. Das Summen aus den wuchtigen Körpern der Maschinen nahm für seine Ohren einen bösartigen Klang an. Ein weiterer Ruck brachte ihn abermals aus dem Gleichge wicht. Er kippte schwer gegen einen kanti gen Arm, der vor ihm erst zurückzuckte und dann abermals zuschlug. Sie werden dich zerreißen! warnte der Lo giksektor. Die Maschinen zerrten ihn hart und rück sichtslos aus der Nähe des Schaltpults. Als sie den Punkt erreichten, an dem das volle Licht aus dem Trichter in die Höhle strahlte, schienen sie einen Sekundenbruchteil lang zu zögern. Atlan war sicher, daß sich eine weitere, unangenehme Phase anschließen würde. Das Licht aus dem Transmitteremp fänger erlosch schlagartig. Die vier Maschinen blieben ruckartig ste hen. Aber ihre Angreifer ließen den Arkoniden nicht los. Aus dem Trichter war ein leises Summen zu hören. Der Ton wurde innerhalb ganz kurzer Zeit lauter und schraubte sich immer mehr in die Höhe. Schließlich stabili sierte sich ein kreischender, hoher Sinuston. Die Roboter schienen soeben einen neuen Befehl erhalten zu haben. Atlan warf einen letzten Blick dorthin, wo sich Saarn im kal ten Feuer aufgelöst hatte. Nichts war mehr
Die Verbannten von Pthor zu sehen. Die Maschinen schwebten gleich zeitig höher und drehten den Arkoniden so herum, daß er genau in den Trichter des Transmitterempfängers hineinsehen konnte, dann schoben und trugen sie ihn auf die Öff nung zu. »Nein!« schrie der Gefangene. Der Ton drang noch immer aus dem In nern des Gerätes wie aus einer riesigen Po saune hervor. Das wabernde Feuer erschien; es kroch in einzelnen Stößen tief aus dem Innern der breiter werdenden Röhre hervor und schlug, als Atlan auf der entsprechenden Höhe und fast im Mittelpunkt des Kreistrichters schwebte, ihm direkt entge gen. »Der Transmitter … sie haben ihn umge polt!« schrie er in das Summen der Geräte. Die Krallen, Greifer und Klauen hielten ihn fest, aber die Griffe waren jetzt nicht mehr schmerzhaft hart. Der Empfänger war jetzt also ein Sender. Atlan sollte dorthin abgestrahlt werden, wo her die Roboter kamen. Immerhin, so zuckte ein sarkastisch-bitterer Gedanke durch seine panischen Überlegungen, bekam dadurch die Seele oder La'Mghor eine Kampfpause. Solange das Gerät sendete, würden keine neuen Roboter mehr ankommen, und die Pflanzen konnten einen ersten Sieg erringen. Wo lag das Ziel? Immerhin war er durch diese plötzliche Wende dem Tod entkommen oder schreckli chen Verstümmelungen durch die Roboter. Er schwebte exakt vor der Transmitteröff nung. Auf ein unhörbares Kommando stie ßen ihn die Roboter durch die Luft. Er fiel über den geringen Zwischenraum hinweg, aber noch ehe er stürzte, ergriff ihn ein laut loser, unwiderstehlicher Wirbel. Ein Sog schleuderte ihn förmlich vorwärts und in das blendende, aber für ihn unschädliche Feuer hinein. Der hohe Kommandoton hörte schlagartig auf, als Atlan langsam in den Trichter hin einschwebte. Er versuchte, sich umzudre hen; es gelang nur zum Teil. Aber er konnte deutlich die Roboter sehen, die sich vor der
27 Transmitteröffnung bewegten. Sie glitten hin und her und bewegten aufgeregt und ziellos ihre Werkzeuge. Atlan war sicher, daß dieser Zwischenfall nicht zum Programm gehörte. Die Aktion lief nicht so, wie es sich die unsichtbaren Meister an den Schaltungen vorgestellt hat ten. Er stemmte sich gegen den Energiesog, wedelte mit den Armen und schaffte es, den Körper um einige Grade zu drehen. Die Roboter, noch immer aufgeregt und ziellos, wurden durch die sich entladende Energie wie durch einen dichten Schleier sichtbar. Der laute Kommandoton heulte plötzlich wieder auf. »Neue Befehle!« murmelte Atlan. Noch war er nicht entstofflicht und abgestrahlt. In die Maschinen hinter ihm kam wilde Betrie bsamkeit. Sie schwebten auf ihn zu, näher ten sich der Schnittlinie zwischen dem Feuer und der Luft der Höhle und griffen nach At lan. Atlan merkte, daß der energetische Sog auch an den Maschinen zerrte. Er selbst drif tete offensichtlich außerordentlich langsam ins Innere des Trichters. Ein Robot schwebte nahezu lautlos an ihm vorbei und auf den Mittelpunkt zu. Der Robot war aufgeregt wie seine drei Artgenossen und versuchte, nach Atlan zu greifen und ihn an sich zu zie hen. Er verschwand nach einigen Metern hinter einer Wolke aus Feuer und den Schleiern dieses rätselhaften energetischen Nebels. Wahrscheinlich wurde die Maschine abgestrahlt und dort, woher sie gekommen war, wieder materialisiert. »Ich glaube, ich werde verrückt!« sagte sich Atlan. Die drei verbliebenen Robots ka men ebenfalls näher und versuchten, ihn aus dem Transmitterfeld zu zerren. Atlans Miß trauen wuchs zu einem neuen Wert … der Vorgang war ebenso unerwartet wie rätsel haft. Etwas war schiefgegangen. Eine Panne, offensichtlich von dramatischer Größe, bahnte sich an. Die drei Maschinen schweb ten heran, ringelten und streckten ihre Ten takeln nach ihm und wurden, ohne etwas ausrichten zu können, an ihm vorbei gezerrt.
28 Das Schrillen und Kreischen des Sinu stons, der aus den Tiefen des gekrümmten Trichters kam, gellte in den Ohren Atlans. Der zweite Robot wurde vom Sog erfaßt, schwebte unterhalb Atlans vorbei und löste sich auf. Er wurde einwandfrei entstofflicht und entmaterialisiert – und abgestrahlt. Atlan sah eine neue Gefahr auf sich zu kommen. Der Zyklus der gesendeten und abge strahlten Materieballungen war gestört. Es konnte sein, daß sich die gesamte Anlage in einer Detonation auflöste. Diese Desintegra tion würde auch ihn vernichten. Er begann wieder, mit den Armen zu rudern und seine Körperhaltung zu verändern. Der dritte Ro bot schwebte auf ihn zu, streckte alle Greifer und Werkzeuge nach ihm aus und machte hoffnungslose Versuche, sich seiner zu be mächtigen und ihn aus dem Transmitterfeld zu ziehen. Jetzt war Atlan endgültig davon überzeugt, daß ihn abermals das Goldene Vlies schützte und verhinderte, daß auch er entmaterialisiert wurde. Die dritte Maschine segelte an ihm oder unter ihm vorbei und wurde entstofflicht. Atlan versuchte, sich vorzustellen, wie das Chaos in der Gegenstation aussah. Dort war teten andere Robots darauf, hier zu erschei nen und in den Kampf gegen die Büsche und Sträucher einzugreifen. »Welch ein Durcheinander!« stöhnte er auf, halbwegs zur Passivität verurteilt. »Die Geheimnisse von Pthor werden immer grö ßer!« Niemand hörte ihn. Er hatte nur für sich gesprochen. Im Augenblick fühlte er sich weder besonders gut noch besonders schlecht. Das Goldene Vlies sicherte ihm gegenüber den Maschinen und dem Trans mitterfeld eine Sonderstellung. Er hatte ab solut nichts davon; seine Verwirrung nahm zu. Jetzt näherte sich der letzte Robot der Vierergruppe. Inzwischen waren mehr als zehn Minuten vergangen. Atlan hatte von der Schnittfläche der Trichteröffnung aus gesehen, nicht mehr als einen Meter auf das
Hans Kneifel Zentrum des Transmitters zurückgelegt. Er wußte, daß die Roboter den Befehl erhalten hatten, ihn aus dem Transmitter zu zerren und in die Riesenhöhle zurückzuziehen. Aber die Realisation dieses Befehls funktio nierte keineswegs so, wie es sich die unbe kannten Machthaber ausgerechnet hatten. Sie waren wohl nicht in der Lage, alle Tücken ihrer technischen Ausrüstung ent sprechend einzukalkulieren. In diesen wirren Sekunden kam Atlan zum erstenmal die Idee, daß alle Geschehnisse mit der perfek ten, aber darüber hinaus anfälligen Kühle kybernetischer Systeme abliefen. »Abwarten!« sagte er laut. Der letzte Robot wurde von dem energeti schen Mahlstrom erfaßt, schwebte am Arko niden vorbei und wurde unsichtbar. In die sem Moment spürte Atlan, daß auch er hilf los war und tiefer in den Schlund des Trich ters hineingesogen wurde. Noch wirkte das Goldene Vlies und schirmte ihn gegen alle denkbaren Einflüsse ab. Sauerstoffmangel, Hunger und Durst. Anfälligkeit gegen den energetischen Strom, Tod durch fremdartige Strahlung – er war unverwundbar und litt keineswegs. Er war und blieb die Ausnah me. Abermals fühlte er das Zerren und Ziehen des Transmitterfelds. Helligkeit, flackernde Lichterscheinungen und ein nebelartiger Vorhang machten, daß er nicht genau wußte, wann und an welcher Stelle er durch den Transmitter gehen wür de. Aber jetzt bereitete er sich darauf vor, in wenigen Sekunden entstofflicht zu werden. Seine Muskeln verkrampften sich. Seine Er wartung, durch die Phantasie auf einen Wert von einsamer Höhe hinaufkatapultiert, über schlug sich förmlich. Wo würde er wieder materialisieren? Was hatten die unbekannten Machthaber – falls sie überhaupt von ihm Notiz genommen hatten – mit ihm eigentlich vor? Für ihn dauerten die nächsten Dezimeter des Schwebens eine kleine Ewigkeit. Nach schätzungsweise sieben Sekunden verlor der Arkonide das Bewußtsein.
Die Verbannten von Pthor Er wurde abgestrahlt und irgendwo – oder irgendwann – wieder materialisiert. Von all dem merkte, spürte und sah er nichts. Für ihn existierten weder Zeiteinheiten noch Entfernungsangaben …
5. Er merkte, daß er noch lebte. Der grauen hafte Schmerz, den er während der letzten Zentimeter des Schwebens, vor der Entstoff lichung, empfunden hatte, weckte ihn auf. Er öffnete die Augen und stöhnte laut. Dann blinzelte er; überall vor seinen Augen sah er eine weiße, kristallene Umgebung. Jeder Knochen und jeder einzelne Nerv protestier ten mit wütendem Schmerz, als Atlan ver suchte, sich aufzurichten. Ein neues Gefühl drang auf ihn ein. Klir rende, eisige Kälte. Er sah Teile des Golde nen Vlieses und darauf eine dicke Schicht aus Reif und Eis. Eis? Kälte? Atlan wischte vorsichtig über sein Ge sicht. Jede kleine Bewegung rief unerträgli chen Schmerz hervor. Klickend fielen Brocken der Eisschicht vom Helm des Schutzanzugs. Keuchend holte Atlan Luft; sie stach kalt in seine Lungen und schmerzte auf Lippen und Zähnen. Er schaffte es, sich aufzusetzen und mit beiden Händen abzu stützen. Langsam formten seine Lippen ein paar Worte. Sein Atem gefror augenblick lich. »Wo bin ich?« Er war auf keinen Fall mehr in der Gegen anlage des Transmitters. Nachdem er sein Bewußtsein verloren hatte, mußte ihn je mand hierher geschleppt und liegengelassen haben. Aber woher diese beißende Kälte? Er sah, daß er in einem kleinen Raum saß, des sen Boden, Wände und Decken dick vereist waren. Hinter ihm schien ein winziges Fen ster zu sein, durch das schwaches Licht in den Raum fiel. Atlan registrierte, daß seine Lähmwaffe nicht mehr vorhanden war; er erinnerte sich, daß er sie noch während des Transmitterdurchgangs besessen hatte. Eine
29 unwichtige Einzelheit; die Waffe würde sei ne Lage keineswegs verbessern können. Die Schmerzen klangen nicht ab. Atlan spannte seine Muskeln an, stöhnte auf und stemmte sich hoch. Taumelnd kam er auf die Beine und fiel schwer gegen eine eisbedeck te Wand. In diesem kleinen Raum gab es keinerlei technische Einrichtungen. Er wirk te wie eine vereiste Gefängniszelle. Seine Erinnerung beschäftigte sich mit den Vorgängen unmittelbar vor seinem Transmittersprung. Die Maschinen hatten versucht, ihn aus dem Transmitterfeld her auszuzerren. Aus welchem Grund? Wieder lösten sich Teile der Eisschicht, die seinen goldenen Anzug bedeckten. Sie fielen knirschend und splitternd auf den eis bedeckten Boden. Atlan stellte sich breitbei nig hin und versuchte, die Kontrolle über seinen Körper langsam wiederzugewinnen. Versuche, diese Kammer zu verlassen! sagte der Logiksektor. Atlan wandte, gequält und zitternd vor Kälte, eine uralte Technik der Körperbeherr schung an und brachte es fertig, die ärgsten Schmerzen zu vergessen. Zuerst stabilisierte sich die Atmung, dann vermochte er wieder klar zu denken. Vorsichtig ging er über das Eis auf die gegenüberliegende Wand zu, in der sich das kleine Fenster befand, ebenfalls von dichten Reifschichten überzogen. Atlan wußte es nicht besser. Er nahm die einzige Möglichkeit wahr, die er hatte. Er hämmerte mit soviel Kraft, wie er gerade noch aufbringen konnte, mit beiden Fäusten gegen die Wand. Eis splitterte unter den Schlägen. Atlan holte Luft und schrie: »Öffnet diese Kammer! Ich will hinaus!« Mit einer Serie knisternder Geräusche öff nete sich tatsächlich rechts von seinem Standort eine Tür nach außen. Wieder pras selte Eis zu Boden, in der Eisschicht rund um die schmale Tür zeichneten sich breite Sprünge ab. Eine Wolke von Treibschnee wehte herein, hinter ihr sah Atlan zu seiner Überraschung einen riesigen Mann in einem fleckigen Fellmantel. Als sich der Schnee senkte, konnte Atlan undeutlich ein hügeli
30 ges Land erkennen, das unter einer dichten Schneedecke lag. Überall wehten dichte Ne belbänke zwischen den Erhebungen. Noch ehe Atlan eine Frage stellen konnte, sagte der Hüne: »Ich bin hierher gerufen worden, um dich abzuholen.« Er sprach Pthora und hatte eine tiefe, so nore Stimme. »Willkommen in unserem Kreis. Eine in teressante Zeit erwartet dich!« Atlan schüttelte verwirrt den Kopf und er kundigte sich schließlich: »Wo bin ich? Und wer bist du?« »Ich bin Dorstellarain. Wir sind in der nAura oder der Dimensionsschleppe«, lautete die Antwort. Atlan starrte den Riesen verwundert an. Dorstellarain war etwa zwei Meter und zwanzig; gutmütige dunkelblaue Augen blickten Atlan unter einer schneeweißen Pelzkappe an. Auffallend war die rote, auf gedunsene Nase. Atlan kannte diesen Typ Mann. Er war sicherlich ein auf diese Weise höchst problematischer Charakter. »Ich bin Atlan«, sagte der Arkonide. »Und was kann ich unter der Dimensions schleppe verstehen?« Der Riese schlug ihm herzhaft auf die Schulter und zog ihn mit sich ins Freie hin aus. Verwirrt merkte Atlan, daß er nicht mehr fror. Ein neues Geheimnis des Golde nen Vlieses? »Pthor wird von einer Dimensionsschlep pe begleitet. Du hast es nicht gewußt?« »Nein«, sagte Atlan und hob die Schul tern. »Das habe ich nicht gewußt. Diese Schleppe muß unsichtbar sein.« Mit einem Gesichtsausdruck, der von bäu erlicher Schläue in Verschlagenheit wech selte, gab der breitschultrige Mann zurück: »Die Schleppe ist für die Bewohner von Pthor unsichtbar. Für die Wesen der Schlep pe ist Pthor unsichtbar. Die Schleppe befin det sich in einem n-dimensionalen Raum.« »Also eine Art Parallelwelt.« Jetzt wußte Atlan, wo er sich befand. Zu nächst in einem realen Gebiet, das die Vi-
Hans Kneifel brationen und Schwankungen von Pthor nicht mitmachte. Er war keineswegs so ge schockt, wie es eigentlich zu erwarten gewe sen wäre. Er hatte Zeit gehabt, sich auf das vorzubereiten, das unweigerlich auf ihn zu kam. »Ja. Die Schleppe begleitet Pthor immer und überall. Wir sind wirkliche Wesen in ei ner wirklichen Welt. Eine andere Ebene, du verstehst?« »Noch nicht alles«, sagte Atlan. »Woher kommst du, Dorstellarain?« »In meiner Zeit auf Pthor war ich Pirat im Gebiet des Regenflusses. Eine schöne Zeit war das! Und viel wärmer als jetzt!« Er schüttelte sich und winkte Atlan, ihm zu folgen. Sie stapften durch knöcheltiefen Schnee auf ein unsichtbares Ziel zu. »Und es gibt noch mehr Pthorer in der nAura?« fragte Atlan weiter. »Ja. Ich bin der Anführer einer großen Gruppe.« Der Riese trug ein riemenartiges Lasso um die Schultern. An einem breiten, abge wetzten Gürtel hing in einer Futteral aus Le der ein langes und breites Messer, fast schon ein kleines Schwert. Dorstellarain schien sehr genau zu wissen, was er tat. »Warum seid ihr hier? Warum bin ich hier?« fragte Atlan weiter. »Wenn du darüber nachdenkst«, sagte der Hüne über die Schulter, »wie du hierher ge kommen bist, wird dir vieles klarer. Wir sind zu verschiedenen Zeiten und aus unter schiedlichen Gründen hierher gebracht wor den. Wir sind Verbannte. Deswegen die herzliche Begrüßung!« Ein Verbannter von Pthor unter anderen Verbannten. So etwas Ähnliches hatte sich der Arkonide vorgestellt. Er folgte dem An führer der Verbannten und versuchte, Ein zelheiten der Landschaft zu erkennen. Die Hütte mit der offen stehenden Tür war ein einzeln stehender Fremdkörper. Jetzt sah er, daß die Wände aus Stahlplatten bestanden, die Sturm und Eiskristalle glattpoliert hatten. Aus dem nebligen Himmel kam ein diffuses Licht. Nichts deutete darauf hin, daß sich
Die Verbannten von Pthor hinter den Nebelfetzen und der Schneewol ken eine Sonne verbarg, ob es Tag- und Nachtwechsel gab. Einsam stand der stähler ne Würfel zwischen den Hügeln; es gab kei nen Baum, keinerlei Straßenanlagen – nichts. Nur Schnee und Nebel und das schat tenlose Licht. »Woher hast du gewußt, daß ich mich in dem Käfig dort aufhalte?« fragte Atlan nach einigen Schritten und deutete auf den Wür fel. »Du bist mit Sicherheit in Gynsaal ange kommen. Wahrscheinlich haben dich Robo ter hierher geschleppt.« »Gynsaal? Was ist Gynsaal?« Brummig und in abschätzigem Ton er klärte Dorstellarain: »Gynsaal ist die Hauptstation der n-Aura. Es ist hinter den Hügeln und im ewigen Ne bel verborgen. Niemand darf nach Gynsaal, und ein großer Energieschirm liegt über al lem. Nicht einmal ich kenne Gynsaal.« »Und wie hast du mich gefunden?« »Ich erhielt den Ruf. Immer, wenn neue Verbannte ausgesetzt werden, ergeht dieser Ruf. Dann ist es Pflicht des Anführers, den neuen Verbannten abzuholen und in die Gruppe zu bringen.« Dorstellarain hatte einen winzigen Hügel erklettert, drehte sich hin und her und stieß schließlich durch die Finger einen gellenden Pfiff aus. Kurze Zeit später ertönte hinter ei nem Nebelstreifen ein langgezogener Schrei, der an einen Klagelaut erinnerte. »Schon wieder eine Überraschung?« frag te Atlan beunruhigt. »Ich habe meinen Braster gerufen. Oder dachtest du, wir gehen zu Fuß?« »Ich denke an gar nichts. Ich bin neu hier.« Dorstellarain stieß ein donnerndes Ge lächter aus und pfiff ein zweitesmal. »Du wirst alles sehen und begreifen. Ei nes nach dem anderen. Zuerst ist es wichtig, zu überleben, Atlan.« »Ich werde mir jede Mühe geben.« Es regte sich nicht einmal ein milder Wind. Das Land lag erstarrt und ereignislos
31 unter dem trüben Licht. Gynsaal hinter den Hügeln; Atlan fühlte einerseits tiefes Bedau ern darüber, daß er abermals von allen Mög lichkeiten, Pthors Kurs zu beeinflussen, hoffnungslos abgeschnitten war. Anderer seits mochte es auch hier in der Ausweich zone der Dimensionsschleppe ein Mittel ge ben, den Einfluß der Mächtigen zu verrin gern. Er wandte sich an Dorstellarain und frag te: »Ich nehme an, daß die Dimensions schleppe eine Einrichtung der Mächtigen der Schwarzen Galaxis ist. Falls ihr Einfluß auf Pthor zurückzugehen droht, und durch den Sturz der Herren der FESTUNG ist das ge schehen, setzen sie Waffen aus der n-Aura ein. Wir sind die Leidtragenden.« Der Riese zeigte nach links, und dort tauchte in einer Wolke aus Schnee und Eis kristallen ein Wesen auf, das Atlan an einen bepelzten Vogel Strauß erinnerte. Auf zwei wuchtigen Laufbeinen stob der Braster her an. »Du hast recht, Atlan. Ich habe damals – es muß Jahrhunderte her sein! – eine ver steckte VONTHARA-Anlage entdeckt. Das war sicherlich der Grund, aus dem man mich hierher gebracht hat. Jeder von uns Ausge stoßenen hat ein ähnliches Schicksal. Alles andere weiß ich entweder von den Robots oder aus eigenen Beobachtungen. Es ist nicht einfach, hier zu überleben. Hierher, Kitur!« Der Braster wurde langsamer und bremste ab, indem er in den Beinen einknickte. Er kam in einer Schneewolke zum Stehen. At lans Blick begegnete den Augen in dem run den Vogelschädel. Das Tier wirkte außerge wöhnlich kräftig und ausdauernd. Unter dem gelben Pelz steckten dicke Muskelbündel. Auf dem Rücken des Reittiers war ein großer Sattel mit schweren Taschen befe stigt. »Ich glaube dir mehr und mehr«, bemerk te Atlan, »daß es hier verteufelt schwer ist, zu überleben. Wieviel Ausgestoßene hat dei ne Gruppe?«
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Hans Kneifel
Dorstellarain schüttelte energisch den Kopf und zog die Pelzkappe tiefer. Er nahm sein Riemenlasso und schlang es geschickt in die großen, durchlöcherten Ohren des Tieres. »Du wirst es selbst sehen. Zuviel Neu gierde ist auch hier gefährlich.« Plötzlich wirkte er unleidlich und böse. Er klappte die Steigbügel vom Sattel herunter und bedeutete Atlan, aufzusteigen. »Hinter dir? Oder vor dir im Sattel?« fragte der Arkonide. »Hinten.« Der Vogel, dessen Ohren durch den merk würdigen Zügel nach unten gezogen wur den, scheute nicht, als Atlan sich daran machte, in etwa eineinhalb Metern Höhe einen sicheren Platz zu finden. Mit einem einzigen Schwung fiel Dorstellarain vor ihm in den Sattel und warf den Zügel über den Kopf des Brasters. »Los, Kitur! Nach Oigster!« Der flügellose Vogel warf sich vorwärts, richtete sich auf und rannte los. Binnen we niger Sekunden erreichte er eine Geschwin digkeit, die Atlan nicht erwartet hatte. Die langen Krallen griffen in Eis und Schnee, die Muskeln schleuderten das Tier förmlich vorwärts. Als Atlan, der sich an Dorstella rains Gurt festklammerte, nach hinten blick te, sah er die weit auseinanderliegenden Spuren und die hochgeschleuderten Fahnen aus Schnee und Eiskristallen. Er kannte we der die Richtung noch den Weg, aber Kitur rannte in einer Geraden hügelan und hügelab und schien genau zu wissen, wo Oigster lag. Atlan schwieg und dachte nach. Er wußte nicht, ob er einen halben Tag oder nur eine Stunde bewußtlos in der eisigen Kälte gele gen war. Aber in der letzten, gerade zurückliegen den Zeit war mehr passiert, als er verarbei ten konnte. Eines war immerhin erreicht: Sein Leben schien nicht mehr unmittelbar gefährdet zu sein.
*
Eine Dimensionsschleppe, dachte der Ar konide und begann, Müdigkeit zu spüren, die Pthor immer und überall begleitete, konnte nichts anderes sein als eine Parallel welt. Sie umgab Pthor wie eine Aura aus ei nem anderen Raum, in einer anderen Zeit, auf einer anderen Bezugsebene. Der Macht wechsel in der FESTUNG hatte offensicht lich so etwas wie eine automatisch ablaufen de Folge von Sicherheitsmaßnahmen hervor gerufen. Natürlich eindeutig Maßnahmen im Sinn der Machthaber aus der Schwarzen Ga laxis. Der Krisenfall trat ein und rief den VONTHARA und die ihm artverwandten Anlagen auf den Plan. Der nächste logische Schritt war der Ver such, den Gegner mit Sicherheit auszuschal ten. Das wurde erreicht, indem alles Leben de auf Pthor gelähmt und somit handlungs unfähig gemacht wurde. Die daran anschlie ßende Maßnahme hatte Atlan am eigenen Leib gespürt – es war die Aktivierung der Transmitteranlagen zwischen der n-Aura und Pthor. Die Roboter kamen also aus der Dimensi onsschleppe. Mit größter Wahrscheinlichkeit aus Gynsaal hinter den nebelverhüllten Ber gen. Die Aufgabe der Roboter war für den Ar koniden ebenfalls klar: Sie sollten auf Pthor jeden Widerstand be seitigen und das Weltenfragment durch Raum und Zeit auf dem schnellsten Weg in die Schwarze Galaxis zurücksteuern. Atlan und La'Mghor hatten diesen Eingriff besten falls leicht gestört und kurz verzögert. Befand sich Pthor einmal in der Schwar zen Galaxis, dann konnten die gewünschten Verhältnisse ohne Schwierigkeiten wieder hergestellt werden. Für Atlan und seine Freunde auf Pthor bedeutete dies den siche ren Tod. Vermutlich auch für die Söhne Odins und ihre Schwester, die schöne Thalia. Bisher, sagte sich Atlan, war die Partie noch nicht entschieden. Noch war Pthor in einem unsicheren Zu stand. Der Flug war nicht stabilisiert, und
Die Verbannten von Pthor die Geschwindigkeit schien ebenfalls nicht groß genug zu sein. Vielleicht gelang es ihm, obwohl er völlig desorientiert war, von hier aus wieder in das Schicksal dieses selt samen, exotischen Brockens einzugreifen. Noch niemals hatte er ein Ziel aus den Augen verloren. Sein Entschluß stand nach wie vor unverrückbar fest. Er war im Au genblick sogar davon überzeugt, daß die Ro boter das gesuchte Schaltungsfragment in Gynsaal verborgen hatten. Überlebe zunächst im Kreis der Ausgesto ßenen von Pthor! empfahl ihm der Logik sektor sarkastisch.
* Atlan blickte an der Schulter seines neuen Schicksalsgenossen vorbei und sah den Hals und die wie Maschinenkolben arbeitenden Beine des Brasters. Das Tier lief scheinbar unermüdlich geradeaus. Dorstellarain hand habte die Zügel mit bemerkenswerter Läs sigkeit. »Dein Braster ist ein Ausbund an Stärke und Schnelligkeit«, rief Atlan gegen den schneidenden Gegenwind. »Wie lange brau chen wir bis Oigster?« Aus dem hochgestellten Fellkragen drang ein Grunzlaut, dann sagte Dorstellarain: »Nicht mehr lange. Ich glaube nicht, daß wir im Schnee schlafen müssen.« »Wie tröstlich.« Atlan schauerte beim bloßen Gedanken daran. Seine Lebensgeister schienen wieder erwacht zu sein. Nur hin und wieder, wenn sich der Sattel mit dem Vogelkörper abwärts und hart aufwärts stoßend bewegte, durch fuhren Schmerzen seinen Rücken und die Oberschenkel. Der Anzug schützte ihn, als sei er ein denkendes Wesen, das den »Insassen« mit Wärme versorgen konnte. Die wohlige Wärme tat ein Übriges, den Schmerz zu vertreiben und ein trügerisches Hochgefühl herbeizurufen. »War schon einmal jemand in Gynsaal? Einer deiner Ausgestoßenen oder ein ferner Vorfahr von ihm?« rief Atlan nach einer
33 Weile. Der Braster drehte den Kopf und blickte ihn mit dem rechten Auge an, ohne seine riesigen Stelzschritte zu verlangsamen. Dorstellarain schien diese Frage für be stenfalls lächerlich zu halten. Er dröhnte zu rück: »Ich glaube, ich habe heute den ersten Phantasten und Illusionisten abgeholt. Noch nie, Atlan. Und es wird auch niemandem je mals gelingen.« Atlan entgegnete kühl: »Ich zumindest werde es versuchen.« »Du willst unbedingt nach Pthor zurück, wie?« »Du nicht?« fragte der Arkonide spöt tisch. »Zurück zu den warmen, beuteträchti gen Ufern des Regenflusses? Nein?« Nach kurzer Denkpause gab der Pelzge kleidete grob zurück: »Sprich nicht vom Regenfluß. Du weckst Erinnerungen, die begraben bleiben sollten. Sieh erst einmal zu, daß du die ersten Näch te überstehst.« Atlan war sicher, daß Dorstellarain einen ganz bestimmten Typ Mann verkörperte: ein Wesen voller Gegensätze. Ein guter Kum pel, leicht erregbar, unmäßig im Kampf und in sogenannten Gelagen, kräftig und ausdau ernd, zugleich verschlagen und ehrlich, hin terlistig und auf den persönlichen Vorteil be dacht. Ein Meister der Überlebenskünste, wie primitiv und pragmatisch sie auch sein mochten. Er konnte Dorstellarain bis zu ei nem bestimmten Punkt belasten und heraus fordern, aber wenn dieser Punkt überschrit ten war, würde sich der Mann vor ihm in ei ne Bestie verwandeln. Andererseits: Solange es Atlan schaffte, seinem breitschultrigen, muskelbepackten »Freund« das Gefühl zu sichern, er, Atlan, wäre schwächer, hilfloser und abhängig von Dorstellarains Entgegen kommen, hatte er wahrscheinlich wirklich einen guten Freund gefunden. Bleibe wachsam! Sei auf der Hut! emp fahl der Extrasinn. »Entschuldige, Freund«, sagte Atlan am Ende seiner Gedankenkonstruktion. »Ich weiß noch nicht, womit ich dich ärgere, oder
34 worüber ich nicht zu sprechen habe. Erzähle mir etwas über Oigster, bitte.« »Gibt nicht viel zu erzählen. Ungemüt lich, aber die einzige Möglichkeit, sich zu treffen. Du wirst es bald selbst sehen.« Atlan zwinkerte überrascht; er hatte den flüchtigen Eindruck, als hätten sich die Lichtverhältnisse geändert. Er hob den Kopf und sah hinauf in den ereignislosen Himmel. Von links – gab es auch hier Himmelsrich tungen? – näherte sich, am nahen Horizont unscharf zuerkennen, etwas Dunkelblaues oder Schwarzes. Atlan schlug Dorstellarain gegen den Oberarm und rief: »Rechts, Dorstellarain! Das Dunkle … was ist das?« Dorstellarain warf einen Blick in die be zeichnete Richtung und begann wild und un beherrscht zu fluchen. Wenigstens nahm At lan dies an, denn er verstand kein einziges der obszön und lästerlich klingenden Worte. Aber es waren Flüche. Nach einiger Zeit, in der auch das seltsame Reittier von einer deutlich spürbaren Unruhe befallen wurde, schrie Dorstellarain etwas Unverständliches. Das Tier änderte den Rhythmus seiner Be wegungen. »Ich habe nichts verstanden!« rief Atlan. »Es ist der weiße Mörder!« schrie der Hü ne. Atlan glaubte, echte Angst in der Stimme zuerkennen. »Ein Sturm?« rief er. Die Zeichen deute ten unmißverständlich darauf hin. Die dunkle Wand im Westen wurde größer und schien sich in aberwitziger Schnelligkeit zu nähern. »Der Sturm aller Stürme. Er bringt tödli che Blitze, Schneewolken und die winzigen Speere der langen Eisnadeln. Er hat schon mehr gute Männer getötet als alles andere in der n-Aura!« schrie der Riese. In der Luft lag jetzt ein fast nicht mehr hörbares Pfeifen und Jaulen, knapp an der Hörbarkeitsgrenze. »Was können wir tun?« »Flüchten und hoffen, daß er hinter uns vorbeigeht!« schrie Dorstellarain. »Nichts anderes.«
Hans Kneifel Atlan blickte nach rechts. Wenn dort We sten war, dann ritten sie in diesem exoti schen Parallelraum nach Norden. Die Fläche in Schwarz, die abermals größer und be drohlicher geworden war, näherte sich. Sie sah aus wie ein Brett, wie eine rechteckige und langgestreckte Leinwand. Nicht wie ei ne Wolke, sondern völlig fremdartig. Sie füllte nunmehr ein Viertel des Horizonts, al so etwa neunzig Grad, völlig aus. Es wurde dunkler. Eine Stimmung, die jedes lebende Wesen mit Angst und Schrecken erfüllte, breitete sich aus. Atlan war absolut sicher, daß nicht nur er, sondern auch der Anführer und sein erstaunliches Reittier diese Stim mung bemerkten. »Er kommt auf uns zu. Wir können nicht ausweichen!« schrie Atlan. Das Pfeifen war durchdringender geworden und rief ziehende Schmerzen in seinen Ohren hervor, trotz des schützenden Goldenen Vlieses. Ein überra schender Gedanke kam ihm ausgerechnet jetzt. Dorstellarain hatte nicht das geringste Erstaunen darüber gezeigt, den jüngsten Ausgestoßenen in einem goldenen Anzug vorzufinden und nicht in Fellkleidung. Er verdrängte diese Überlegung und starrte, ge lähmt von zwiespältigen Empfindungen, die näherkommende Sturmfront an. Blizzard nannte man auf der Erde einen solchen Schneesturm, der ebenso schnell und ver nichtend ausbrach. »Wir versuchen es. Hei, Kitur! Schneller, du Kröte!« donnerte Dorstellarain. Das Tier kippte seine runden Ohren nach hinten und machte größere Schritte. Die Männer wur den hochgeschleudert und fielen wieder schwer in den dünnen, kaum gepolsterten Sitz zurück. Kitur versuchte, schneller und schneller zu werden. Aber die schwarze Wand von rechts wuchs und raste heran. Dann blendete der erste Blitz auf. Atlan zuckte ebenso zusammen wie Dor stellarain und das Tier. Der Blitz verlief fast waagrecht und übersprang, aus dem Zen trum der Wolke hervorschießend, eine unge heure Entfernung. Er schlug in einen Hügel
Die Verbannten von Pthor weit links von den Reitern. Von dem waag recht zuckenden Hauptast des Blitzes zuck ten und wirbelten unzählige Ausläufer hin auf in die waagrechte Nebelschicht und an vielen Stellen in den Boden. Es gab, unmit telbar nach dem ersten Aufzucken des Blit zes, einen Donnerschlag. Er war laut und verheerend. Kitur, der Braster, warf sich zur Seite, überschlug sich halb und stolperte. Eine unwiderstehliche Gewalt riß beide Männer gleichzeitig aus dem Sattel, warf sie in die Höhe und schleuderte sie durch die Luft. Atlan hielt noch immer den Gürtel des anderen fest. Das Tier stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, knickte in beiden Bei nen ein und schlug in voller Geschwindig keit in den hochstiebenden Schnee. Schräg von den wirbelnden Beinen, deren Klauen das Eis zerschnitten und furchten, schlugen die beiden Körper von Atlan und Dorstella rain wie Geschosse in den Boden. Atlan hat te schnell und richtig reagiert und sich, als er aus dem Sattel geschleudert wurde, in der Luft zusammengerollt. Er landete in einer riesigen Masse aus Schnee und Eissplittern und rollte wie ein Ball auf den Fuß des nächsten kleinen Hügels zu. Dorstellarain krachte neben Atlan in ein Loch, das mit Schnee und dünnen Eisschich ten gefüllt war. Der Braster raste im Zickzack, von pani schem Schrecken erfüllt, davon. Atlan hörte gerade, als er sich aufzurichten versuchte, die wilden, schnell aufeinanderfolgenden Tritte der langen Vogelfüße, die immer lei ser wurden und schließlich nicht mehr zu hören waren. Der Braster war davongerannt und würde, so dachte Atlan, nicht eher stehenbleiben, bis seine Kräfte erschöpft waren. Blitz und Donnerschlag dicht vor dem Tier waren der artig erschreckend gewesen, daß jedes Tier durchgegangen wäre. »Verdammt!« murmelte Atlan und richte te sich auf. »Ausgerechnet ein Blizzard in der Dimensionsschleppe. Und das mir!« Neben ihm stemmte sich Dorstellarain aus dem Schneeloch. Er fluchte wieder und
35 kroch auf Atlan zu. »Der weiße Mörder tobt hier immer nur einige Stunden!« schrie er. Das jaulende und heulende Geräusch war lauter und durchdringender geworden. In zwischen war die Hälfte des Firmaments pechschwarz. Aus der Dunkelheit zuckten weitere Blitze. Die einzelnen Schläge des Donners krachten ohrenbetäubend. Lange und weiße Schneefinger kamen aus der schwarzen Wolkenbank hervor, rotierten und drehten sich wie rasend und griffen nach dem Boden. Die Ausläufer des Bliz zards rissen ungeheure Mengen von Schnee mit sich und wirbelten sie um sich herum. Das trübe Licht verdunkelte sich. Atlan er kannte undeutlich vor sich seinen Kameraden, der zum Gürtel griff und das schwere Messer aus der Scheide zog. »Es wird gefährlich?« rief Atlan laut. »Wir müssen uns eingraben, Atlan! Schnell!« gab Dorstellarain zurück und suchte mit den Händen auf der dicken Schneeschicht herum. Wieder zuckte ein Blitz in unmittelbarer Nähe, und ein gräßli cher Donnerschlag machte sie halb taub. Der Mann im dicken, bodenlangen Pelz mantel stach mit dem Messer ins Eis oder in den Schnee und machte, scheinbar mühelos, einen langen Schnitt. Dann zog er parallel dazu einen zweiten. Atlan wurde vom ersten Sturmstoß getroffen und duckte sich. Der Sturm war unmittelbar vor ihnen und kün digte sich durch ein schrilles Kreischen an. »Nur ein paar Stunden?« brüllte Atlan. »In der Regel.« »Können wir den Blizzard überleben?« Dorstellarain machte eine Reihe von Querschnitten und riß die einzelnen ziegel förmigen Schneebrocken aus der Unterlage. Er sah plötzlich ganz anders aus; konzen triert und auf merkwürdige Weise völlig ent rückt und besessen. Er arbeitete wie rasend und versuchte einerseits, ein Loch zu graben und andererseits, einen Schutzwall aus die sen Schneeziegeln aufzurichten. »Wir überleben, wenn wir uns verkrie chen können. Hilf mir gefälligst!« gab der
36 Hüne zurück und schnitt weiter. Atlan griff nach den Würfeln und türmte sie aufeinander. Das Heulen nahm zu. Eine erste Masse Schneeflocken, Eiskristalle und Sturm hüllte sie sekundenlang ein. Sie wur den schneller. Atlan besaß kein Werkzeug, aber sein Eifer machte vieles wett. Das Loch neben ihm wurde immer tiefer. Blitze leuchteten sekundenlang auf und enthüllten den Aufruhr der Natur. Sie strahlten die Kanten von weißen Wol ken an, rissen Nebelfetzen und dahintreiben de Massen von diamanten glitzernden Kri stallen aus der Dunkelheit. Die Finsternis breitete sich mehr und mehr aus und bedeck te die Schneelandschaft. Es schien plötzlich wärmer zu werden. Der Donner war elemen tar laut und erschütterte die Körper der zwei verzweifelt schuftenden Männer. »Dein erster Blizzard?« schrie Atlan. »Nein. Einer von mehreren Dutzenden! Und du?« »Mein erster Sturm in der Dimensions schleppe«, brüllte der Arkonide zurück. In zwischen hatten sie einen Wall von etwa ei nem halben Meter Höhe und drei Metern Länge aufgetürmt. Das Loch dahinter war rund einen Meter tief und völlig in eine dichte Schneeschicht hineingearbeitet. »Sehr witzig!« Sie gruben weiter. Noch war der Sturm nicht so stark, daß er ihre verzweifelten Be mühungen ernsthaft behinderte. Dorstella rain schichtete die Würfel in der Form eines Sarges um das Loch auf. Atlan verschmierte die Fugen mit Schnee und riß dem anderen die Würfel und Ziegel aus der Hand. Sie bauten in rasender Eile eine Art rechtecki gen Iglu. Die Wanne wurde breiter und tiefer. Inzwischen sahen sie kaum noch Ein zelheiten; es war fast völlig dunkel und nachtschwarz geworden. Die Blitze tobten weiter im Osten. Immer wieder packten ein zelne Vorläufer des Sturmes die Männer und rissen sie halb um. »Schneller!« »Viel schneller geht es nicht mehr!« Inzwischen hatten die gestapelten und mit
Hans Kneifel Schnee zusammengeklebten Ziegel die Form eines langgestreckten Grabes mit einer Kopföffnung. Atlan hob den Oberkörper und strich weiteren Schnee in die Fugen und dar über. Dorstellarain kroch, dicht an den Bo den gepreßt, auf den Eingang zu und schnitt abermals ein riesiges Stück aus dem Schnee. »Hinein?« schrie der Arkonide. »Ja. Wohin sonst?« Es war total dunkel. Der Sturm setzte ge rade in dem Augenblick, als sich der Hüne ins Loch fallen ließ, für einen Moment aus. Es war ein unheilvolles, drohendes Schwei gen, eine verhängnisvolle Ruhe. Atlan war tete, bis der andere im Loch verschwunden war, dann warf er sich mit ausgestreckten Armen in ihre künstliche Höhle. Dorstella rain packte ihn an den Schultern und zog ihn weiter. »Danke.« Der Anführer der Ausgestoßenen kroch an Atlan vorbei und verschloß das letzte Loch mit dem zuletzt herausgeschnittenen Stück Schneemasse. Im selben Augenblick setzte der Blizzard wieder mit voller, unge zügelter Wucht ein. Der Schnee dämpfte die Geräusche, aber auch durch diese isolierende Schicht waren sie laut und wirkten sie wütend, schrill und vernichtend. Etwas ruhi ger geworden, sagte Atlan: »Offensichtlich haben wir es gerade noch geschafft.« »Scheint so. Du bist ganz kräftig und ziemlich gelehrig«, gab der Riese brummend zurück. Er kroch zurück in seine Ecke und lehnte sich gegen die schmale Wand. »Beides ist richtig. In Abenteuern und, was mein Überlebenspotential betrifft, bin ich ganz gut«, gab Atlan zurück. »Außerdem habe ich Durst und Hunger.« »Gegen den Durst gibt es genügend Schnee!« Atlan lachte. »Und gegen den Hunger?« »Ich habe meine Satteltaschen hier. Wir können eiskaltes Fleisch kauen, bis es warm und verdaubar wird.« »Fürwahr eine harte Welt. Ich ziehe es
Die Verbannten von Pthor vor, noch etwas länger hungrig zu bleiben«, erklärte Atlan und machte dasselbe wie Dor stellarain. Er setzte sich mit ausgestreckten Beinen in ihre Schneehöhle und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wandung des Kopfteils. Über ihnen tobte der Sturm seine Wut aus. Durch die dicke Schneeschicht leuchteten hin und wieder die grellen Blitze. Der Donner klang gefährlich, aber ge dämpft. »Dein Reittier übersteht diesen Orkan?« fragte Atlan nach einer Weile. »Die Braster sind Tiere der freien Natur. Wenn der Sturm vorbei ist, findet er sich nach ein, zwei Pfiffen wieder ein. Er gräbt sich auch in den Schnee ein.« »Ein gemütliches Land, das ich betreten habe«, lautete Atlans Kommentar. Sie warteten und wurden immer müder. Jedenfalls Atlan merkte, daß die Anstren gungen nicht spurlos an ihm vorübergegan gen waren. Der Zellschwingungsaktivator arbeitete zwar, hinter der Brustplatte verbor gen, auf Höchsttouren, aber trotzdem er kannte er die Grenzen seiner Leistungsfähig keit. Er wurde schläfriger von Minute zu Minute. Und während ein vernichtender Or kan über die Schneehöhle hinwegjaulte, Treibschnee und Eiskristalle in gigantischen Mengen über die Fläche jagte und sowohl vor als auch hinter dem primitiven Bauwerk aus Schneewürfeln ablagerte, schloß Atlan die Augen und versuchte einzuschlafen. Im Moment konnte er kaum etwas Sinnvolleres tun. Einmal fragte er: »Für dich ist das nichts Neues, Dorstella rain?« Der andere gähnte, murmelte etwas Un verständliches und erwiderte schließlich: »Es ist lästig und hält kolossal auf. Aber wir werden es ebenso wie Kitur überleben. Du hast gerade deinen ersten Test bestan den.« »Nicht du, sondern die Dimensions schleppe hat mich getestet«, murmelte der Arkonide und fühlte die anheimelnde Wär me des Goldenen Vlieses. »So ist es. Schlafe ruhig. Es lohnt sich
37 nicht, dich im Schlaf zu überfallen. Du be sitzt nichts, was zu rauben sich lohnen wür de.« Atlan grinste, gähnte und entgegnete: »Ich freue mich, einen wahren Freund und Kameraden getroffen zu haben.« »Haha.« Über ihnen tobte und heulte die eiskalte Hölle. Der Innenraum war so klein, daß bin nen kurzer Zeit die warme, ausgeatmete Luft den Schnee mit einer isolierenden. Schicht geschmolzen und wieder kristallisierenden Eises überzog. Es wurde immer wärmer, aber die Atemluft war stickig und ungesund. Trotzdem schlief Atlan ein und schlief, ver blüffenderweise, ohne Alpträume, bis der Sturm vorbei war und Dorstellarain ihn durch einige derbe Stöße wieder aufweckte.
6. Atlan war mitten im Fauchen und Jaulen der entfesselten Natur eingeschlafen. Er wachte auf und spürte förmlich die Stille. Durch die Schneeblöcke drang helles Licht. Dorstellarain stemmte sich hoch und drückte mit den Schultern einige Blöcke nach drau ßen. Eine Schneemasse rutschte von der Luvseite in die Kammer herein und ver schüttete Atlans Beine. »Du hast geschlafen wie tot!« murmelte der Riese und schwang sich nach draußen. Atlan blinzelte in die Helligkeit. Aber auch jetzt gab es keine sichtbare Sonne; das Licht blieb gebrochen und wurde stark gefiltert. »Du sicher auch«, gab er zurück. »Und wie finden wir jetzt zu deinem Braster zu rück? Er ist auf und davon.« »Er wird uns finden. Wir allerdings müs sen eine Quelle finden.« Atlan schob sich aus der Höhle heraus und schüttelte den Schnee vom Goldenen Vlies. Er fühlte sich erfrischt, aber unverän dert hungrig und durstig. »Eine … was?« Der Riese deutete geradeaus auf eine For mation, die etwa fünf Meter hoch war und einer schlanken, zerklüfteten Pyramide
38 glich. »Es gibt heißes Wasser aus der Tiefe. Dort drüben ist ein solcher Brunnen. Ich brauche meine Taschen.« »Sofort.« Atlan holte die Satteltaschen, die sich beim Sturz losgerissen hatten, aus ihrem Versteck. So weit er sehen konnte, hatte frisch gefallener und aufgewehter Schnee die Konturen der langweiligen Landschaft weiter verwischt. Nur die Eisnadel bildete ein auffallendes Geländemerkmal. Plötzlich wurden Dorstellarains Schritte schneller und weiter. Er rief: »Schneller, Atlan. Ich habe etwas gesehen …« Sie liefen auf die etwa hundert Meter ent fernte Eiskonstruktion zu. Atlan entdeckte schräg hinter einem niedrigen Ausläufer im Schnee einen schräg eingerammten Stab, an dem etwas hing, das wie ein eisverkrusteter Wimpel aussah. Neben dem Stab wehte eine dünne Dampfwolke fast senkrecht hoch und driftete, sich auflösend, nach Osten. »Ist das ein Wimpel?« fragte Atlan und bemühte sich, mit Dorstellarain Schritt hal ten zu können. »Ja. Könnte Draysens Zeichen sein. Wir werden sehen.« »Wer ist Draysen?« »Einer von uns. Ein Schneeschweinjä ger.« Jetzt begann Dorstellarain zu rennen. Sie erreichten das Eis der Quelle. Es war tat sächlich eine Art Lanze mit einem kleinen, roten Wimpel daran. Am unteren Ende und an der Spitze war die einfache Waffe zer splittert. Lange Eiszapfen hatten sich am Holz gebildet. Der Riese schlitterte auf das abgerundete, von klarem Eis eingefaßte Loch zu und ging in die Knie. Vom Schnee fast vollständig begraben, waren längliche Umrisse eines Menschen zu erkennen. »Es kann nicht Draysen sein!« stöhnte Dorstellarain auf, riß sein Messer aus der Scheide und begann, den Oberkörper der Gestalt aus dem Treibschnee und dem feste ren Eis zu befreien. Atlan versuchte, ihm so
Hans Kneifel gut wie möglich zu helfen. »Er wurde ebenfalls vom Blizzard über rascht wie wir«, sagte der Arkonide. Unter dem Schnee war heißes Wasser entlangge sickert und hatte Teile des Körpers mit der Umgebung verschweißt. Unter den hacken den Hieben des Mannes splitterten kleine und große Eisbrocken auseinander. Atlan befreite die ausgestreckten Beine und den linken Arm aus dem Schnee. »Blut!« sagte er und deutete auf die Spu ren im rotgefärbten Schnee. »Ich habe es geahnt. Draysen konnte bes ser überleben als ich. Es muß etwas anderes gewesen sein. Er ist ohne Zweifel tot.« Endlich gelang es ihnen, den schweren Körper zur Seite zu zerren und auf den Rücken zu legen. Der bodenlange Fellman tel war voll Wasser gelaufen, das später ge froren war. Die Leiche wog so viel wie ein Eisblock. Vorsichtig wischte Dorstellarain das bärtige Gesicht des Ausgestoßenen ab. »Viel zuviel Blut. Er hat hier Schutz ge sucht. Rekop, sein Braster, ist ebenso vor dem Sturm geflüchtet«, bemerkte Dorstella rain. »Draysen hält noch das Messer in der Hand, sieh!« Der Hals und die Schulter des Toten wa ren zerfleischt. Die Wunden sahen seltsam weiß und blutleer aus. Das Blut war an den Pelz gefroren. Der Mann hatte seine Fell kappe verloren. Sein Gesicht zeigte einen wütenden Ausdruck, den auch die Ruhe des Todes nicht hatte verändern können. Seine rechte Hand hielt das Messer um klammert. Der Arm war abgewinkelt, als ha be der Ausgestoßene versucht, mit der Waf fe zuzustoßen. Er war eine ebenso imponie rende Gestalt wie Dorstellarain. Sein Ge sicht trug dieselben Spuren von Kämpfen und Entbehrungen und den Ausdruck der Härte. »Hat er sich gegen den Braster gewehrt?« fragte Atlan und stand auf. »Sicher nicht. Reitbraster greifen ihren Herrn nicht an. Höchstens als wilde Herde, die in Panik gekommen ist.« »Draysen hat hier Schutz vor dem Bliz
Die Verbannten von Pthor zard gesucht. Er war ganz in unserer Nähe«, sagte Atlan. »Er hätte sich zu uns retten kön nen.« »Er kam nicht dazu, etwas anderes zu se hen als das, was ihn umgebracht hat. Ich bin sicher, daß es ein Schneeschwein war. Wü tende, riesige Bestien.« »Ich kenne sie natürlich noch nicht«, sag te Atlan leise. »Wir werden ihn begraben, denke ich.« »Ja. Von der Quelle entfernt. In unserer Höhle!« »Einverstanden.« »Wir schleppen ihn dorthin. Dann wird gegessen. Vorher dürfen wir die Quelle nicht benutzen!« »Ich verstehe. Pack' an, Dorstellarain.« Atlan erkannte immer deutlicher, daß das Leben der Ausgestoßenen offensichtlich ei ner Menge verschiedener Regeln unterwor fen war. Die meisten Verhaltensmuster wa ren sicherlich von Notwendigkeiten vorge prägt, die ihren Ursprung in der Härte des Lebens hatten. Die beiden Männer schlepp ten den schweren Körper langsam bis zu dem primitiven Unterschlupf. Dort schoben sie den starren Leichnam ins Innere; Dor stellarain hatte ernsthafte Schwierigkeiten, dem Toten das Messer aus der Hand zu win den. Er nahm ihm auch den Gurt mit der Scheide ab und knurrte: »Müssen wir mitnehmen, den anderen zeigen. Machen wir immer so.« »Ein Beweis dafür, daß er tot ist – sonst würde er niemals sein Messer hergeben. Ha be ich recht.« »Ja.« Sie schnitten, diesmal mit zwei Messern, weitere Blöcke aus dem festen Schnee und rammten zuletzt, als so etwas wie eine Grab stätte entstanden war, den abgebrochenen Wimpelschaft in den Schnee. Dorstellarain stand da und senkte den Kopf. »War ein guter Mann, Draysen. Wenn ich eine dieser verdammten Bestien …« Er stieß einen seiner schauerlichen Flüche aus und zeigte zur Quelle. »Gehen wir. Wir können nichts mehr
39 tun.« Schweigend gingen sie in den eigenen Spuren zur Quelle zurück. Dorstellarain hol te seinen zerbeulten Topf hervor und rührte in das tatsächlich kochende Wasser seine Mischung aus Fett, Fleisch, Brot und Ge würzen hinein. Je mehr und intensiver die Suppe zu riechen begann, desto stärker wur de Atlans Hunger. Ebenfalls schweigend aßen sie den Topf bis auf den letzten Rest leer. Zweimal stand Dorstellarain auf und stieß seinen gellenden Pfiff aus. Aber das Reittier gab keine Antwort. Schließlich kratzte Dorstellarain den letz ten Rest vom Boden des Topfes und sagte undeutlich: »Wenn Kitur nicht kommt, kriegt er nichts zu fressen. Ich teile sonst diesen Brei mit ihm.« Atlan hatte sich den Gurt des Toten mit der Messerscheide umgeschnallt. Er fragte unruhig: »Sind wir jetzt endgültig soweit, zu Fuß nach Oigster zu pilgern?« »Sieht fast so aus, denke ich.« »Ist es nicht einfacher, Gynsaal zu errei chen? Nach dem, was du gesagt hast, liegt es dicht hinter den Bergen.« Der Hüne sah ihn verwundert an. Dann begriff er und lachte dröhnend. »Du bist ein Scherzbold! Du willst also unbedingt zurück nach Pthor, wie?« »Unbedingt. Das ist meine volle Absicht. Irgendwie und möglichst bald muß ich zu rück nach Pthor. Ich habe Freunde dort und wichtige Aufgaben.« Jetzt schenkte ihm Dorstellarain nur ein verächtliches Grinsen und erwiderte: »Und die Rückkehr nach Pthor ist nur über Gynsaal möglich!« »Das hast du selbst mir gesagt, Dorstella rain«, entgegnete Atlan. Er war entschlos sen, jede Möglichkeit wahrzunehmen, sagte sich aber, daß er im Augenblick bestenfalls an seine Absichten denken konnte. »Schlag dir die Gedanken an Gynsaal aus dem Kopf. Keiner kommt jemals dorthin«, sagte der Riese in grobem Ton und winkte.
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Hans Kneifel
»Gehen wir.« Atlan folgte und fragte nach etwa zwei hundert Schritten durch den Schnee: »Du kennst die Richtung?« »Das ist das einzige, das im Moment si cher ist.« Sie bewegten sich ziemlich genau in einer Geraden, die sich vom Schneegrab über die Quelle bis zum Horizont spannte. Das Land sah wieder so aus, wie es Atlan zum ersten mal gesehen hatte; weiß, hügelig und einge grenzt von langsam treibenden Nebelschlei ern. Die Geräusche der Schritte waren die einzigen Laute in dieser erstarrten Natur.
* Etwa drei Stunden lang wanderten sie ge radeaus. Dorstellarain schien jeden der gleichför mig aussehenden Hügel zu kennen. Auch wenn sie durch eine Nebelbank stapften, verlor er die Orientierung nicht und zog eine gerade Spur. Atlan, der sich immer wieder umsah und versuchte, irgendeinen Orientie rungspunkt zu finden, beobachtete ebenfalls aufmerksam den Horizont. Immer wieder blieb der Ausgestoßene stehen und schickte seine lauten Pfiffe nach allen Richtungen. Niemals kam Antwort von Kitur. »Er hat sich wahrscheinlich einer wilden Herde angeschlossen«, lautete Dorstellarains wütender Kommentar. »Also schleppen wir uns weiter, Oigster entgegen.« Nach abermals etwa einer Stunde bemerk te Atlan wieder am westlichen Horizont eine dunkle Wolke. Sie war vergleichsweise win zig, aber ebenso kantig wie die Blizzardwol ke, des ersten Schneesturms. Atlan machte den Ausgestoßenen darauf aufmerksam. Dorstellarain blieb stehen und musterte die Wolke aus zusammengekniffenen Augen. Schließlich bemerkte er wegwerfend: »Kommt nicht in unsere Richtung, Atlan. Keine Furcht.« Die Wolke wuchs nur unmerklich und be wegte sich nach Südosten. Es stimmte also,
was der Ausgestoßene festgestellt hatte. Aber kurz darauf blieb Dorstellarain auf ei ner Hügelkuppe stehen, packte Atlan am Oberarm und sagte aufgeregt: »Das ist die eigentliche Gefahr. Braster! Der zweite Sturm hat die aufgeschreckten Herden halb rasend gemacht. Jetzt sind sie zu einer tödlichen Gefahr geworden.« Eine Braster-Stampede! sagte der Logik sektor. Noch kündigte kein Heulen das Heran kommen des zweiten Blizzards an. Aber die Stille wurde durch ein ganz anderes Ge räusch unterbrochen. Noch war es sehr leise und kam von weither; nichts, das dieses dumpfe trommelwirbelartige Trappeln er zeugte, war zu erkennen. Es wurde lauter und schärfer, dann erhob sich darüber ein Krächzen und Kreischen wie aus Tausenden von heiseren Kehlköpfen. »Sind es tatsächlich Brasterherden?« frag te Atlan. Dorstellarain zeigte auf einen weit entfernten Eiskegel, vermutlich ebenfalls das aufgetürmte Zeichen eines Heißwasser brunnens. »Kein Zweifel. Wir müssen in den Schutz des Eisbrockens dort.« Sie rannten den Hügel abwärts und auf das Ziel zu. Das Trappeln und Trampeln klang, als ob sich eine unübersehbar große Herde über eine Eisfläche näherte. Der Bo den schien zu vibrieren. Die Männer ver suchten, ihr Tempo zu steigern, aber die Eis nadel war viel zu weit entfernt. »Eine lausige Deckung!« schrie Atlan und überholte Dorstellarain, dessen schwerer Mantel hin und her schlug und ihn behinder te. »Die beste weit und breit. Sie wird die Flut der Tiere spalten oder zerteilen.« »Hoffentlich.« Die Tiere rannten wie rasend und schrien vor Panik. Die ersten Exemplare wurden im Westen sichtbar. Sie rannten in breiter Front direkt auf die Männer zu. Genügend Zeit, ei ne zweite Vertiefung zu graben, war längst nicht mehr. Vielleicht erreichten sie recht zeitig den weit und breit einzigen Punkt, der
Die Verbannten von Pthor ein wenig Schutz bot. Atlan hatte schon vor der Kraft und Ausdauer des Reitbrasters ge nügend Achtung gehabt; er wußte, daß be reits eine kleine Herde eine gewaltige Ge fahr darstellte. Wenn dazu die Tiere noch wütend und aufgeregt waren, würden sie sich auf alles Bewegliche stürzen. Atlan hielt sich dicht an den Anführer der Ausge stoßenen und blickte immer zwischen dem Eis und den Tieren hin und her. Es mußten zwischen fünfhundert und tau send der gelben Laufvögel sein. Ihre kugeli gen Köpfe auf den langen Dromedarhälsen schwankten aggressiv vor und zurück. Hin ter der Herde erhob sich eine gewaltige Schneewolke, die in der unbewegten Luft stehenblieb und sich ausbreitete. Die Schreie der Tiere waren so laut geworden, daß die Männer ihr eigenes Keuchen und ihre Schritte nicht mehr hörten. Aber sie näher ten sich dem spitzen Eiskegel. Vielleicht konnten sie ihn noch erreichen, ehe die Stampede sie umwarf, und die vielen Kral len sie in eine blutige Masse verwandelten. Einen Hügel hinauf, auf der anderen Seite wieder mit erhöhter Geschwindigkeit hinun ter, in das seichte Tal zwischen zwei ande ren Aufwerfungen, durch den knöchelhohen Schnee hindurch und geradeaus weiter. Der Boden zitterte unter den vielen trampelnden Füßen der Braster. Das tosende Geschrei zerrte an den Ner ven der Flüchtenden. Der Ausgestoßene hat te den Rest seiner kalten Überlegenheit ver loren und zeigte nur noch Angst und aus schließliche Anstrengung. Die Tiere, die vorderste Reihe, unter deren Krallenfüßen Schnee und Eis hochwirbelten, waren noch etwas weiter entfernt als der zerrissene Eis block, aber sie waren auch schneller. »Ich schnappe den ersten Vogel!« schrie der Anführer donnernd auf. Mit einigen verzweifelten Sprüngen er reichten sie den dreieckigen, hochragenden Turm aus Eis. Sie warfen sich beide herum, fingen ihre Geschwindigkeit mit ausge streckten Armen ab und sahen sich blitz schnell an. Die Mauer der Tiere war nur
41 noch einige Sekunden weit entfernt. Eine Gruppe von einem halben Dutzend Braster hatten die Männer gesehen und änderten leicht ihren Kurs. »Du mußt mir helfen!« schrie der Hüne, kletterte einen Meter am Eis hinauf und rutschte ab. Er griff noch einmal nach und zog sich hoch. Atlan schmiegte sich auf der Seite, die der Stampede abgewandt war, ans Eis. Als das erste und größte Tier heran war, schnellte sich Dorstellarain schräg von der Eisfläche und flog mit ausgebreiteten Armen auf den Braster zu. Er sprang an den Hals und klammerte sich fest. Das Tier stolperte, Atlan wagte einen weiten Satz und packte einen Lauf dicht oberhalb des untersten Ge lenks. Die anderen Tiere preschten an der Grup pe vorbei und schrien. Es klang nach Welt untergang. Der Braster versuchte, sich aufzurichten. Sein Hals zuckte nach oben und riß den schweren Körper Dorstellarains hoch. Atlan rollte zur Seite und entging mühsam einem gezielten Hieb mit den messerscharfen Klauen. »Greif zu!« Das riesige Tier mit grauen Strähnen im gelben Fell hatte den Riesen auf den Körper hochgerissen. Geschickt klammerte sich der Hüne fest, streckte den Arm aus und zog At lan mit einem mächtigen Schwung hoch. At lan sprang und landete schräg auf dem Rücken des Brasters, der in diesem Moment von nachdrückenden Tieren gerammt wurde. Der Ruck schleuderte Atlan schwer gegen Dorstellarains Schultern. Dorstellarain packte mit beiden Händen die Ohren und zwängte die Finger durch die großen Löcher. Ein scharfer Ruck riß den Schädel des Tieres nach hinten. Atlan klam merte sich wieder an den Gürtel des Ausge stoßenen. Das Tier sprang auf, rempelte ei nige andere aus der schreienden, stampfen den Herde und rannte los. Die Tiere hatten keine Sättel, jedenfalls sah Atlan keine. Auch die Ohren waren ohne
42 die Riemenlasso-Zügel. Ihr eigener Braster war ebenfalls sattellos, aber dies war das ge ringste Problem. Er raste davon, in der Mitte eines Pulks von zwanzig Tieren. Die Herde war teilwei se an ihnen vorbeigerannt. Dorstellarain riß an den Ohren, schrie auf das Tier ein und rammte die bebenden Flanken mit den Ab sätzen der Stiefel. Ringsherum gellte das aufgeregte Schreien der Braster. Das wuchti ge Reittier machte keinerlei Anstalten, die beiden Reiter abzuwerfen. Dorstellarains Griff war hart und zwang den Riesen, sich schräg aus dem Pulk abzusetzen und schnel ler zu werden, sobald das Drängen und Schieben an einer Stelle aufhörte. »Fabelhaft gemacht, Freund!« schrie At lan und spürte die kräftigen Schritte des Bra sters, der immer schneller wurde und andere Tiere hinter sich ließ. Die Eisnadel hatte tat sächlich den Ansturm der verstörten Braster gebrochen und die Masse der Tierkörper zerstreut. Atlan drehte sich kurz um und ver suchte, etwas von der schwarzen Blizzard wolke zu sehen, aber die riesige Schneewol ke verdeckte alles. »Wir haben Glück gehabt!« rief der Aus gestoßene. »Und jetzt ersparen wir uns den Fußmarsch.« Es war eine todesmutige Aktion gewesen, die Atlan bewunderte. Ein Schnabelhieb oder ein gezielter Schlag mit den Klauen hätten Dorstellarain töten können. Aber jetzt saßen sie etwas unbequem, aber ziemlich si cher auf dem Rücken des stärksten Brasters, der wieder gelenkt wurde. Der Rest der Herde trabte schreiend und, wie es schien, langsamer, weiter nach Osten. Auch das Geschrei war leiser geworden. Die letzten Begleiter des riesigen Vogels blieben verwirrt zurück, als der Ausgestoßene das Tier über einen Hügel zwang und mit lautem Schreien weiter antrieb. Als von der Herde nichts mehr zu sehen war und das Tier ruhig weiterrannte, fragte Atlan: »Das waren wilde, freilebende Braster?« »Ja. Die meisten. Vielleicht waren auch
Hans Kneifel losgerissene Reitbraster darunter. Einige kleine Herden werden von ihren Besitzern gesucht.« »Was passiert mit der Herde dort?« Atlan machte eine entsprechende Bewegung. »Die Tiere werden müde, toben sich aus und laufen auseinander. Dann werden sie früher oder später von den Besitzern wieder eingefangen. Vielleicht finde ich dann auch dieses Scheusal Kitur wieder.« »Und jetzt geht es nach Oigster?« »Wohin sonst? Wir sind bald dort. Ver mutlich werden uns ein paar Ausgestoßene entgegenkommen und abholen.« »Und kannst du mir erklären, wie du in dieser Landschaft ohne Merkmale den rich tigen Kurs findest? Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen.« »Alles reine Erfahrungswerte. Kein Hügel sieht aus wie der andere. Das wirst du auch noch lernen müssen.« Atlan schluckte und gab zurück: »Ich werde sehr viel lernen müssen, denke ich.« »Richtig.« Der Braster hatte sich jetzt beruhigt. Aber die Flucht vor dem Blizzard hatte seine Kräfte nicht sonderlich geschwächt. Mit zwei gewichtigen Reitern im Rücken stelzte er mit Riesenschritten in die Richtung, die Atlan als Norden definierte.
7. Viele neue Fragen beunruhigten den Ar koniden. Natürlich war es sinnlos, schon jetzt an einen Versuch zu denken, Gynsaal zu erobern oder sich dort einzuschleichen. Er ahnte nicht einmal, wo es lag. Und selbst wenn er sich mit einem Braster auf den Weg machte, würde er sich hoffnungslos verirren. Aber offensichtlich arbeiteten die Roboter Gynsaals und die Ausgestoßenen in be stimmten Punkten zusammen. Sicherlich dort, wo es um neuankommende Ausgesto ßene ging. Was hatte das zu bedeuten? Und wenn diese Landschaft ein Teil der Dimensi onsschleppe war, wie sahen dann die ande ren Teile aus? Glichen sie Pthor? Die Freun
Die Verbannten von Pthor de, die sicherlich noch immer gelähmt auf Pthor waren, würden ihn vermissen. Was noch schlimmer war: Pthor geriet mit jeder Stunde, die er hier unfreiwillig verbrachte, tiefer in den Machteinfluß der Roboter und somit der Herren der Schwarzen Galaxis. Ein scharfer, grunzender Laut und ein er schrecktes Kreischen des Vogels schreckten ihn aus seiner Ruhe. Dorstellarain schrie jäh: »Schneeschweine! Achtung!« Atlan sah nur noch, wie sich ein großer, muskelbepackter Körper aus dem Schnee wühlte, aufsprang und mit kleinen, schnellen Sprüngen auf den Braster zuschoß. Von der anderen Seite kamen ebenfalls wütende An griffslaute. Die Tiere warfen sich auf den Vogel, rammten mit ihren gedrungenen Körpern die Beine und schlugen mit den langen Eberhau ern danach. Der Braster knickte in den Lauf gelenken ein, streckte den Kopf nach vorn und überschlug sich in vollem Lauf. Beide Männer wurden in hohen Bögen durch die Luft geschleudert. Atlan rollte sich zusammen und versuchte, den Aufprall zu mildern. Der Braster schrie mörderisch, rap pelte sich auf und schüttelte sich. Er sprang über Atlan hinweg, der im Schnee kniete und das Messer Draysens aus der Scheide riß. »Sie greifen an. Du mußt sie töten!« schrie Dorstellarain und zog ebenfalls sein Messer. »Ich versuch's!« Die Schneeschweine sahen nicht viel an ders aus als wilde, terranische Eber mit wei ßem Fell. Allerdings waren sie mindestens doppelt so groß, doppelt so schnell und kräf tig. Jede der Bestien griff augenblicklich einen Mann an. Atlan sprang auf und packte das lange Messer noch fester. Vier riesige Hauer wuchsen aus den Ecken des Kiefers heraus. Das Tier senkte den Kopf und schleuderte den massigen Körper mit dicken Beinen vorwärts. Es nahm Atlan in direktem Angriff an. Atlan stellte sich breit hin, senkte die Waffe und sprang im letzten Moment in die
43 Höhe und zur Seite. Das Messer fuhr herun ter und schnitt in das Fell an der rechten Schulter. Ein Blutstrahl schoß aus der Wun de. Das Tier grunzte wütend auf, stemmte die Vorderfüße ein und warf sich herum. Der nächste Angriff erfolgte langsamer. Atlan bewegte das Messer wie ein Schwert waagrecht durch die Luft und traf einen der gekrümmten, nadelfein geschliffenen Hauer. Es gab einen klirrenden Schlag, der Schädel der Bestie wurde zur Seite geworfen. Aber der weiße Eber griff unerschrocken und in höchster Wut an. Atlans nächster Schlag traf das Tier zwi schen den Augen. Wieder schnitt das Messer eine tiefe Wunde. Das Schneeschwein schüt telte den Kopf, schrie trompetend auf und machte den nächsten Ausfall. Es rammte mit der blutigen Schulter Atlans Knie und schleuderte den Arkoniden in den Schnee. Atlans Finger umkrampften den Griff des Messers, als er schwer aufschlug und sich blitzschnell herumdrehte. Das Tier stürmte in blinder Wut auf ihn zu und senkte wieder den Kopf. Die Spitzen der Hauer deuteten auf Atlans Gesicht. Zur Seite, rief der Logiksektor, als sich Atlan in einer Reflexbewegung herumwarf und durch den blutbespritzten Schnee rollte. Der riesige Eber raste in einer Schneewol ke an ihm vorbei. Atlan sprang auf und stürzte sich mit geschwungener Waffe auf den Rücken des Tieres. Seine Hand packte eines der spitzen Ohren. Der Hieb eines Hin terlaufs mit harten Klauen traf ihn, aber der Anzug schwächte den Schmerz ab. Das Messer bohrte sich ins Fell, rutschte an ei nem Knochen ab und fuhr ins Leere. Das Tier bäumte sich auf und schleuderte Atlan meterweit zurück. Diesmal gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben. Er warf einen kurzen Blick zu dem Hü nen, der sich verzweifelt wehrte. Auch Dorstellarain hatte seinem wendi gen und wütenden Gegner mehrere Wunden und Stiche beigebracht. Überall auf dem Schnee waren blutige Spuren zu sehen. Aber das Tier attackierte den Ausgestoßenen un
44 ablässig, drängte ihn zurück und griff unent wegt an. Ein Teil des Fellmantels war von den scharfen Hauern zu Streifen zerfetzt worden. Am Rand von Atlans Blickfeld stand der riesige Braster und starrte bewegungslos zu ihnen herüber. Wieder warf sich das Schneeschwein auf Atlan. Der Angriff erfolgte diesmal völlig lautlos. Das Tier blutete aus mehreren Wun den. Die kleinen Augen, in tiefen Höhlen verborgen, blitzten wütend und heim tückisch. Atlan dachte sich, daß Draysen ge gen zwei dieser Bestien keinerlei Chance ge habt hatte. Wieder klirrte sein Messer gegen einen Hauer und brach ihn in der Mitte ab. Das Tier schrie gellend auf, blies Atlan stin kenden Atem ins Gesicht und sprang an ihm hoch. Atlan stach zu, trat mit dem Fuß gegen den Körper und warf sich zur Seite. Mit ei ner neuen Wunde fiel das Schwein in den Schnee zurück und schnappte sofort nach Atlans Knie. Hastig brachte sich der Arkonide durch mehrere Sprünge nach rückwärts in Sicher heit. Er strauchelte immer wieder im Schnee und versuchte, seinen Körper und den Ar men auszubalancieren. Der Kampf würde nur durch den Tod der Schneeschweine sein Ende finden. Oder durch unseren Tod, dachte Atlan trübe und stieß zu, als sich die Bestie näherte. Er ver suchte, ein Auge zu treffen; der Blutverlust machte das Tier keineswegs schwächer, son dern schien die Wut der Angriffe nur zu ver stärken. Auch vom Kampfplatz Dorstellarains ka men die aufgeregt trompetenden Schreie des anderen Ebers. Atlans Messer beschrieb einen Bogen, sauste herab und traf tatsäch lich das Auge. Aber die Klinge drang in einen Knochenwulst ein. Der harte Ruck des zurückspringenden Tieres riß Atlan fast das Messer aus den Fingern. Er fiel über den Vorderkörper des Ebers und hielt die Waffe fest. Das Tier schüttelte sich unter ihm. Atlan wurde in die Höhe geworfen und griff mit
Hans Kneifel der anderen Hand nach dem Messer. Er zog daran, kippte die Waffe und zog sie aus dem Knochen oder der Knorpelschicht heraus. Einige Tritte und Stöße des Kopfes trafen ihn, aber er kam mit einem Schwung, sich vom Körper des Tieres abstützend, wieder auf die Beine. Auch er keuchte; sein Atem verwandelte sich in große Dampfwolken. »Hilf mir, Atlan!« schrie Dorstellarain plötzlich. Atlan führte mit der Waffe einen schrägen Stich, schlitzte eine Schulter zum zweitenmal tief auf und rannte sofort hin über zu dem Riesen. Dorstellarain kniete mit einem Bein im Schnee, hielt das Tier mit einer Hand an ei nem Paar Hauer fest und versuchte, aufzu stehen und die furchtbaren Angriffe abzu wehren. Das Messer lag zwei Meter weit entfernt im Schnee. Nur der Griff ragte dar aus hervor. Atlan spurtete auf das Messer zu, riß es hervor und wog es im Näherkom men in der Hand ab. Es schien gut ausgewo gen zu sein. Er holte aus und schleuderte die Waffe. Sie zischte durch die Luft und grub sich bis zum Heft in die Lende des Schnee schweins. Das Tier zuckte zusammen, schrie und riß sich los. Der Riese warf sich nach vorn und umklammerte den Messergriff. Der Sprung des Tieres riß das Messer aus der Wunde. Atlan wirbelte herum und sprang entsetzt in die Höhe. Sein Angreifer kam in einem stäubenden, kurzen Galopp auf ihn zugedonnert. Atlan sprang wieder nach vorn und hechtete auf den Rücken des Tieres. Er umklammerte den dicken Hals und holte aus. Immer wie der traf die Waffe mit der breiten Schneide, aber keiner der Stöße war tödlich. Das Tier schleifte den Arkoniden wie eine Puppe mit sich. Es preschte, laut schreiend, dicht an Dorstellarain vorbei und zog eine breite, blutige Spur durch die weiße Unterlage. At lan versuchte, das Herz oder eine wichtige Ader zu treffen, aber immer wieder rammte die Spitze Knochen oder Gewebe. Dann nahm er undeutlich wahr, wie drei Paar Stiefel neben ihm erschienen. Körper
Die Verbannten von Pthor warfen sich über ihn und das Tier. Messer blitzten auf, einige heisere Kom mandos waren zu hören. Dann zuckte das Schneeschwein unter ihm auf, als habe ein elektrischer Schlag es getroffen. Atlan wur de an den Schultern gepackt und in die Höhe gezogen. Er drehte sich herum und sah, daß drei weitere Männer den Gegner Dorstellarains erlegt hatten. Sie reinigten die Messer mit Schnee, ehe sie wieder in den Scheiden ver schwanden. »Das war knapp«, sagte Atlan und mu sterte die zwei Männer und die Frau, die vor ihm standen. Es waren Ausgestoßene aus Oigster. Alle Gesichter waren wie das seines starken Freundes von Entbehrungen und Kämpfen gezeichnet. Die Ausgestoßenen starrten Atlan schweigend an. »Danke«, sagte er schwach und schob das Messer zurück. Er schnallte den Gurt ab und gab ihn der Frau. »Das ist Draysens Messer. Wir fanden ihn und begruben ihn. Vermutlich haben ihn Schneeschweine getötet.« Wortlos nahm ihm die Frau die Waffe aus der Hand. Keiner der Ankömmlinge rührte sich. Sie beobachteten den Mann im Golde nen Vlies mit düsterem Schweigen. Atlan sah keine Feindseligkeit in den Mienen der Ausgestoßenen. Dorstellarain kam von hin ten und erklärte mit erschöpfter Stimme: »Das ist Atlan. Die Roboter haben ihn aus Pthor gebracht. Draysen ist tot – es stimmt, was er gesagt hat.« Er trug das Messer in der Hand, bückte sich neben Atlan und trennte den Nacken des toten Tieres mit zwei schnellen, tiefen Schnitten auf. Als er Atlan die Hand hin hielt, lag auf dem Innenteil des Handschuhs ein kleines Instrument. Es war würfelförmig und hatte einige Fortsätze, die wie metallene Leiterelemente aussahen. »Was soll das?« fragte der Arkonide über rascht. »Mache dir deinen eigenen Reim darauf«, sagte Dorstellarain und steckte den Fund in eine Manteltasche. Er winkte den anderen
45 drei Gestalten. Einer von ihnen sprang in den Sattel eines Brasters und ritt hinüber zu dem Leittier der Stampede. Als er ein Lasso in den Ohren des Vogels eingeknotet hatte, folgte das Tier gehorsam und blieb bei den anderen stehen. »Der Vogel hat uns aufmerksam gemacht. Woher hast du ihn? Es ist nicht Kitur!« sagte ein Mann mit derbem, von tiefen Linien durchfurchten Gesicht. Die Ausgestoßenen waren ausnahmslos ähnlich wie Dorstella rain gekleidet. »Kitur ist davongerannt. Wir kamen in ei ne Stampede hinein und schnappten uns die ses Biest«, erklärte der Anführer. »Und ihr? Kommt ihr aus Oigster direkt?« »Wir waren auf der Jagd und sahen den Vogel«, lautete die Erklärung. Zwei der Ausgestoßenen banden die Läufe der getöte ten Schneeschweine mit Lassos zusammen und schleppten sie zu den Sätteln der Bra ster. Die Tiere scheuten kaum, als ihnen die blutbefleckten Lasten aufgepackt wurden. Jemand warf Dorstellarain den Zügel des Brasters zu. »Ich denke, wir sollten auf direktem Weg nach Oigster reiten!« schlug der Anführer vor. »Atlan ist ein guter Kämpfer. Er hat sich bewährt.« Er lachte angespannt. Ein langer Blick in die Gesichter der sechs Ausgestoßenen, die sich jetzt in einer Linie vor ihren Reitvögeln aufgebaut hatten, zeigte ihm Teile seines weiteren Schicksals. Die lebensfeindliche Umgebung hatte die se Wesen von Pthor gezeichnet. Sie würden ihn vielleicht als einen der Ihren anerken nen, wenn er ihnen allen bewiesen hatte, daß er zu ihnen gehörte. Dorstellarain schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Du hast bis jetzt überlebt«, versicherte er. »Du wirst auch die nächsten Stunden überleben. Sie sind natürlich neugierig, wer du bist. Wir alle haben es nicht gerade leicht.« Atlan versuchte zu lächeln und brachte hervor: »Ich habe es gemerkt. Es ist überall das
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selbe.« Wortlos und geschickt schwangen sich die Ausgestoßenen in die Sättel ihrer Vögel. Der Anführer zog das Tier mit den grauen Strähnen im Fell zu sich heran, befahl ihm, in die Knie zu gehen und stieg auf. Dann zog er Atlan hinter sich auf den Rücken des Vogels. »Aayyh! Los!« schrie er. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Die Tiere führten gleichzeitig exakte Manöver durch, wurden schneller und rannten dann in einer Linie nebeneinander in die Richtung, aus der die eigenen Spuren kamen. Atlan hatte sich an diese Fortbewegung gewöhnt und fragte sich, welche Störung sich jetzt zwischen Oigster und sie schieben würde. Aber je länger der Ritt dauerte, wie der durch Nebel und über Eis und Schnee, desto mehr wuchs seine Überraschung. Kein neuer Zwischenfall. Du scheinst dich geradezu nach tödlichen Abenteuern zu sehnen, kommentierte iro nisch der Logiksektor. Während des Rittes beobachtete er die sechs anderen Gestalten. Es waren zwei Frauen und vier Männer. Keiner von ihnen war so groß und breitschultrig wie Dorstella rain, aber sie gehörten eindeutig derselben Gruppe an. Ihre Gesichter, ihre Bewegungen und ihr ganzes Verhalten waren nahezu identisch. In den Sätteln ihrer Vögel saßen sie locker, aber bereit, sich jeder Gefahr au genblicklich zu stellen. Er würde es mit ih nen sicherlich nicht einfach haben. Oigster? Was war Oigster? Wie sah die Heimstatt der Ausgestoßenen aus? Etwa dreißig Minuten später wußte er es.
* Die Wirklichkeit übertraf seine kühnsten und schlimmsten Vorstellungen. Aus einem ausgedehnten Nebelfeld tauch te ein dunkler, riesenhafter Komplex auf. Er war von unbeschreiblicher Häßlichkeit. Es schien aus Metall zu sein. Jedenfalls wirkten die Formen wie stumpfer Stahl oder wie
Gußeisen. Mehr und mehr Einzelheiten tauchten aus dem grauen Nebel auf. Der Komplex hatte gewaltige Ausmaße. Die Basis lag noch im Nebel versteckt, aber die höchsten Punkte der seltsam geformten Kuppeln und Türme mochten ohne weiteres sechzig Meter errei chen oder etwas mehr. Oigster stand früher – als sich Pthor mit seiner Dimensionsschleppe in Bewegung setzte – mit Sicherheit auf einer anderen Welt. Hierher paßte die Anlage nicht. Sie war vermutlich Bestandteil einer außeror dentlich fremden Zivilisation oder Kultur gewesen. Die Farben der gerundeten, vor springenden und irgendwie modellierten Teile waren allerdings zu diesem Land pas send: Sie reichten von Hellgrau bis zu einem schmutzigen Schwarz. Atlan blinzelte. Für ihn ergaben manche Teile Ausschnitte eines Gesichts, eines Kopfes. Oder versuchte er, mehr in diesen Koloß hineinzuinterpretieren, als wirklich möglich war? In unverminderter Geschwindigkeit ritten die Ausgestoßenen mit ihrem neuen Mit glied näher. Noch mehr dieses häßlichen Gi ganten schob sich aus dem Nebel hervor. Je mand hatte dieses Spukschloß aus gerunde tem Metall von der fremden Welt wegge nommen und hier aufgestellt. Zweifellos das Werk pervertierter Ver standeswesen. Sie hatten Häßlichkeit und Andersartigkeit in diese trübsinnige, gefähr liche Landschaft hineingepflanzt und sicher lich erreicht, daß jeder erschrak über eine solche Zurschaustellung von abstoßender Fremdartigkeit. »Das also soll Oigster sein. Ich finde es … unbeschreiblich!« sagte Atlan halblaut. Dorstellarain lachte nicht, als er antworte te: »Es ist Oigster. Innen ist es noch viel in teressanter als von außen.« Atlans Verblüffung und sein Abscheu wuchsen, als er sah, daß nicht ein Teil der anachronistisch wirkenden Anlage von Schnee, Eis oder Reif bedeckt war. Über den
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Außenflächen zeigte ein leichtes Flimmern von Luftschlieren an, daß Wärme von den eisernen Formen aufstieg. Die Gruppe der reitenden Ausgestoßenen preschte auf eine Art Torturm-System zu. Atlan wußte jetzt, daß die n-Aura oder Dimensionsschleppe an Fremdartigkeit und in der Anzahl der absto ßenden Bestandteile mühelos mit Pthor selbst würde konkurrieren können.
Du kannst sicher sein, diesmal richtig ge dacht zu haben, pflichtete ihm der Extrasinn bei.
E N D E
ENDE