Chicago Band 5 Die Tote auf der North-Side
Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›trocken ...
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Chicago Band 5 Die Tote auf der North-Side
Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›trocken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Menschenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangsterbosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige. In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen. * Es war einer jener Tage, an denen man Chicago für einen Kurort halten konnte. Seit dem Vierten Juli, einem tristen Feiertag, seit man ihn nicht mehr ganz offen mit einem guten Schluck begehen durfte, hatten wir richtiges Sommerwetter und die Temperaturen waren in den letzten zwei Wochen stetig um die dreißig Grad gependelt. Der Wind kam vom Lake Michigan her und trieb den Gestank der Schlachthöfe nach Kendall County hinüber. Sollten die sich die Nasen zuhalten. Ein wunderbarer Sonntagmorgen und ich schlenderte nördlich des Navy-Piers auf der Uferpromenade entlang. Es war zehn Uhr und schon so warm, dass ich mein Jackett ausgezogen und meine Krawatte auf Halbmast hatte. Kleine Schweißtropfen liefen mir unter der Hutkrempe in den Nacken und ich hätte den Tag genießen können. Was dagegen stand, war ein mulmiges Gefühl im Bauch, das sich nicht verziehen wollte. Gestern Nachmittag, als ich mich gerade mal wieder als Dompteur eines riesigen Katers versuchte, hatte mich Hollyfield, Captain Hollyfield, der mit dem Gemüt einer Bulldogge ausgestattete Leiter der Mordkommission, angerufen und um ein Treffen gebeten. Meist war das die nette Umschreibung für die Aufforderung, meinen Hintern in sein Büro zu bewegen und wenn ich Glück hatte, kam ich mit der üblichen Auflage, mich zur Verfügung zu halten, wieder raus. An die 4
vielfältigen anderen Möglichkeiten wollte ich gar nicht denken. Also wägte ich meine Worte am Telefon so sorgfältig ab, dass ich erst einmal nichts sagte. Dafür hatte der Captain in Rätseln gesprochen. Er schlug mir ein privates Treffen vor und man merkte, dass er sich jeden Satz abringen musste, deshalb sagte er auch nicht viel mehr, als dass ich am nächsten Morgen um zehn Uhr die Strandpromenade am Ohio Street Beach entlang schlendern sollte. Er würde sich dann zu mir gesellen. Normalerweise nahm ich solche Einladungen nicht an, zu leicht wurde man dabei von herumfliegenden Kugeln jeden Kalibers erwischt. Aber so weit ging Hollyfields Abneigung gegen mich bestimmt nicht und außerdem standen ihm als Polizeicaptain andere, legale, aber ebenso wirksame Methoden zur Verfügung. Trotzdem hatte ich dieses ungute Gefühl. Ich blickte mich nervös um, doch keine Spur von Hollyfield, den man mit seinen fast zwei Meter Körpergröße und über hundert Kilo Gewicht nun wahrlich nicht übersehen konnte. Um mich herum schlenderten ein paar Liebespaare und was ein paar Jahre später daraus werden würde: Matronenhafte Mütter mit zwei bis drei Kindern, die herumtollten, begleitet von Männern, die auf die Liebespaare schielten und bedauerten geglaubt zu haben, dass es immer so bleiben würde. Ich hatte schon fast das Karussell mit den Holzpferden in Höhe der Pearson Street erreicht, als ich den Captain endlich entdeckte. Er saß auf einer Bank unter einer ausladenden Platane. Ich schlenderte zu ihm hinüber, während ich mich misstrauisch umsah. Irgendwie traute ich dem Frieden nicht. »Morgen, Captain«, sagte ich und setzte mich neben ihn auf die Bank. »Morgen, Connor«, knurrte er und schaute sich ebenso misstrauisch um wie ich zuvor. Offensichtlich wollte er nicht mit mir gesehen werden. Als ob ich ›The Jar‹, der Boss der North-Side-Iren, persönlich wäre. Eine Zeit lang saßen wir stumm nebeneinander und beobachteten die Leute, die in einiger Entfernung an uns vorbeigingen und die sanf5
ten Wellen, die an das Ufer schwappten. Es hatten sich auch schon die ersten Badenden eingefunden. »Pat...«, quetschte er schließlich hervor und meine Wachsamkeit verdoppelte sich sofort. Ich kam mir vor wie ein Präriehase, über dem ein Adler kreiste. Immer wenn Hollyfield so vertrauensvoll meinen Vornamen benutzte, kam es knüppeldick. »Pat«, wiederholte er und schaute mich an, »ich brauche Ihre Hilfe.« Ich musste ausgesehen haben wie die Jungfrau Maria nach einem Schwangerschaftstest, denn Hollyfield begann zu grinsen. Aber nur für einen Augenblick. Sofort wurde er wieder ernst. »Ja, Pat. Ich muss Sie um Hilfe bitten und glauben Sie nicht, es würde mir leicht fallen.« Ich nickte bedächtig und schob mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Ein Bourbon hätte mir noch ein Stück weiter geholfen, doch der musste warten. »Was liegt an, Morgan«, versuchte ich betont lässig seinen jovialen Tonfall aufzunehmen. Der Captain beugte sich vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und starrte auf die Uferpromenade. Leise begann er zu sprechen. »Ich habe eine Leiche...« »Im Keller?«, entfuhr es mir ohne nachzudenken. »... die lässt mir keine Ruhe«, fuhr Hollyfield fort, ohne auf meinen Einwurf einzugehen. »Ein junges Ding, Anfang zwanzig. Lag in einer Wohnung im nicht ganz so guten Teil der North-Side. Obere Dearborn. Ist erwürgt worden. Wir klemmten uns dahinter. Sie war Verkäuferin bei Marshall Fields. Bei unseren Ermittlungen stießen wir bald gegen eine Mauer. Und dann erhielt ich am Donnerstag einen Anruf aus dem Rathaus.« »Und?«, fragte ich. Er schaute mich an und schüttelte mitleidig den Kopf. Ich begriff. »Von Ihm?« Hollyfield nickte. 6
Den Rest konnte selbst ich mir denken. Big Bill hatte ihn persönlich angerufen, unser Bürgermeister. Thompson war wohl mit Abstand der korrupteste Politiker in der Stadt. Jeder wusste, dass er sowohl mit dem ›Cardinale‹, dem Boss der Italienergangs, als auch mit ›The Jar‹ O'Malley, seinem Gegenstück auf irischer Seite, seine speziellen Vereinbarungen hatte, aber irgendwie kam keiner auf die Idee, dass dies nicht in Ordnung sei. »Und was hat er gesagt?«, wollte ich jetzt doch wissen. »Es war eine kurze Unterhaltung, die nur von seiner Seite geführt wurde«, erklärte Hollyfield. »Ein paar gute Ratschläge und der Hinweis darauf, wie schön es doch sei, wenn ich in ein paar Jahren meine Pension genießen könnte. Und dass es das doch nicht wert sei, wegen einer toten Verkäuferin aufs Spiel gesetzt zu werden.« Ich stieß nachdenklich den Rauch aus und befürchtete Schlimmes. »Genau das machte mich stutzig«, fuhr Hollyfield fort. »Warum war diese kleine Verkäuferin so wichtig, dass sich Big Bill persönlich darum kümmerte - in einer Stadt, in der täglich mehrere Leute umgebracht werden?« Ich zuckte mit den Schultern. »Vergessen Sie's und denken Sie an Ihre Pension.« Als Hollyfield sich mir zuwandte und mich ansah, blickte ich in das Gesicht einer Bulldogge, der man gerade auf den Schwanz getreten hatte. Es fiel ihm sichtlich schwer, nicht loszubrüllen. »Ich dachte, Sie verstehen das Spiel, Pat. Sie waren doch schließlich mal einer von uns.« Daran wollte ich bestimmt nicht erinnert werden. Ja, ich hatte einmal zu dem Verein gehört, aber das war schon lange vorbei und nur noch der dickste Schmutzfleck auf meiner gar nicht so weißen Weste. »Jetzt bin ich aber bei den Guten«, stieß ich hervor. Hollyfield lachte trocken. »Schön, Pat, wenn Sie es so sehen. Sie wissen, wie der Hase läuft. Wir alle müssen sehen, wo wir bleiben. Jeder hat gerne am Monatsende ein paar Präsidenten zu Gast, die einen begnügen sich mit Jackson, andere treiben es mit Grant, doch alles hat seine Grenzen. Hier geht es nicht um ein paar tote Gangster oder darum, ein Auge beim Alkoholschmuggel zuzudrücken, in dem 7
Fall geht es um ein unschuldiges Ding, das brutal ermordet wurde. Ich will wissen, wer dahinter steckt.« »Nun, dann verabschieden Sie sich von Ihrer Pension und klemmen Sie sich dahinter.« Ich machte den Ansatz aufzustehen. Hollyfield packte mich am Arm und zog mich auf die Bank zurück. »Nein, Pat. Jetzt kommen Sie ins Spiel. Sie werden mir den Mörder liefern. Alles Weitere können Sie dann mir überlassen. Wenn ich erst einmal weiß, was oder wer dahinter steckt, finde ich schon einen Weg.« Als er das gesagt hatte, verspürte ich das übermächtige Verlangen, sofort einen Urlaub in Alaska anzutreten. Aber andererseits... In Hollyfield schien doch noch etwas Ehrgefühl zu stecken, was ihn mir sympathisch machte. Er war immerhin ein bisschen besser als die Cops, die mir damals das linke Ding angehängt hatten, um selbst mit weißer Weste davonzukommen. Ich dachte einen Moment nach und verschob meine dringende Alaskareise. »Ich bekomme fünfundzwanzig pro Tag plus Spesen.« Ich wusste wirklich nicht, warum ich das sagte. Es klang wie mein eigenes Todesurteil. Hollyfield nickte und zog unter seinem Jackett ein großes braunes Kuvert hervor. »Da sind die Ermittlungsakten drin und hundert Dollar Vorschuss. Die Akten brauche ich spätestens morgen Mittag zurück, für den Franklin bringen Sie Ihre grauen Zellen auf Trapp.« Ich drehte das Kuvert unschlüssig in der Hand. War es das wert? Ich hatte mich schon mit vielen hier in Chicago angelegt und zu oft den Kürzeren gezogen, aber mit Big Bill Thompson persönlich... Auf einmal begann ich trotz der Hitze zu frösteln. »Und«, meinte Hollyfield, der sich von der Bank erhoben hatte und dabei war, sich zu verkrümeln, »dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Wenn etwas davon bekannt wird, werfe ich Sie in ein Loch, das bis nach China reicht.« * 8
Ich verbrachte den Nachmittag so, wie man es seinem schlimmsten Feind nicht wünscht. Die Sonne verwandelte die Straßen in einen Brutkasten und auch in meinem Büro in der South Franklin staute sich die Hitze. Der Bourbon im Glas vor mir hatte eine Temperatur, bei der es selbst mich Überwindung kostete, ihn mir in die Kehle zu kippen. Auf meinem Schreibtisch lagen die Ermittlungsakten verteilt. Viel war es nicht, was Hollyfield und seine Plattfüße zusammengetragen hatten. Die junge Frau hieß Jenny Dylang, war zum Zeitpunkt ihres Todes dreiundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte im Mädchenheim in der Ontario Street gewohnt. Sie war Verkäuferin im Kaufhaus Marshall Fields in der Wäscheabteilung gewesen. Geboren war sie in Osceola, Iowa und man musste kein Hellseher sein, um sich ihre Lebensgeschichte vorzustellen. Wahrscheinlich hatte sie sich nach der Schule in Richtung Osten abgesetzt, um in irgendeiner der großen Städte ihr Glück zu machen. Gelandet war sie in Chicago und zumindest war sie so clever gewesen, dass sie nicht in den Schlachthöfen und den Back Yards gestrandet war. Gefunden hatte man sie in einer Wohnung in dem Apartmenthaus 379, North Dearborn. Ein paar unappetitliche Fotos vom Tatort zeigten, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so ganz frisch gewesen war. Ein Foto aus besseren Tagen zeigte eine hübsche junge Frau, der man aber die Herkunft aus dem Mittleren Westen deutlich ansah. In ihrem Zimmer im Mädchenheim des YMCA hatten Hollyfields Leute nichts wirklich Wichtiges gefunden. Das Übliche halt. Ein paar Kleider, ein paar Erinnerungsstücke und die Reisetasche, mit der sie wahrscheinlich nach Chicago gekommen war. Auch die Vernehmungsprotokolle gaben nichts her. Eine echte Busenfreundin schien sie nicht gehabt zu haben. Die anderen Mädchen im Heim kannten sie nur oberflächlich. Die Wohnung, in der sie gefunden wurde, gehörte einem gewissen Paul Skerry, der aber noch nicht befragt werden konnte. Er lebte nach Auskunft der Hausverwaltung in New York und nutzte die Wohnung nur, wenn er geschäftlich in Chicago zu tun hatte. Der Hausmeister hatte ihn schon seit gut zwei Monaten nicht mehr gesehen. Ebenso hatten noch keine Nachforschungen an ihrem Arbeitsplatz im Marshall Fields stattgefunden. Man hatte sich anscheinend Zeit ge9
lassen. Big Bill war dann anderer Meinung gewesen. Zumindest war der Obduktionsbericht bei den Unterlagen. Aus meiner Zeit bei der Polizei war ich mit dem Fachchinesisch der Mediziner noch einigermaßen vertraut. Jenny Dylang war mit den Händen erwürgt worden. Zum Zeitpunkt ihres Auffindens war sie schon drei Tage tot gewesen, was überhaupt erst dazu geführt hatte, dass man sie fand. In der Hitze hatte die Leiche schnell einen penetranten Geruch entwickelt, dem der Hausmeister schließlich auf den Grund gegangen war. Eine Heimatadresse gab es nicht. Man hatte die Polizei in Des Meines gebeten, Jenny Sylangs Angehörige ausfindig zu machen. Eine Antwort lag noch nicht vor. Auf den ersten Blick eine traurige Angelegenheit. Ein Mord, der wahrscheinlich sowieso nie aufgeklärt worden wäre, wenn nicht irgendjemand die Nerven verloren und Big Bill zum Telefonieren gebracht hätte. Und genau bei diesem Gedanken lief mir wieder ein Schauer den Rücken hinunter. Ich bekämpfte die Kälteattacke mit einem Schluck lauwarmem Bourbon und setzte mich hinter Joes verwaisten Schreibtisch. War ich gerade dabei, in einen ähnlichen Mist hineinzuschliddern, der meinen Partner das Leben gekostet hatte? Ich stellte mir im Kopf eine Liste zusammen, die ich am nächsten Tag abarbeiten wollte. Jetzt war aber erst einmal Feierabend. * Am nächsten Morgen parkte ich meinen Plymouth auf dem Hof hinter meinem Büro und schlenderte die West Monroe hinunter. Auf der einen Seite lag der Bürgersteig noch im Schatten und die Temperaturen waren erträglich. Ich ging die South State hinauf und hielt mich immer unter dem Eisengestell der Hochbahn, um mir nicht von der unablässig herab brennenden Sonne das Gehirn rösten zu lassen. Marshall Fields war ein Paradies für alle Einkaufswütigen. Mit genügend Kleingeld in der Tasche bekam man dort alles, was das Herz begehrte. Über dem Eingang prangte in großen Lettern mit goldenem Lorbeerkranz die Zahl 75. Eine reichlich betagte Dame, dachte ich mir und drückte die breite Glastür auf. Sofort trat eine wesentlich jüngere 10
Dame auf mich zu und fragte, ob sie helfen könne. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, leider hoch geschlossen, doch auch so konnte ich feststellen, dass bei ihr die Rundungen in perfekten Maßen an genau den richtigen Stellen saßen. Über der linken Brust befand sich das rotgoldene Firmenlogo und darunter ein Schild mit ihrem Namen. Nur aus Höflichkeit schaute ich genauer hin und ließ mir Zeit, ihren Namen zu studieren. »Vielen Dank, Miss Demarch. Sie können mir wirklich helfen. Ich möchte zu Ihrem Personalchef.« Sie erbleichte und dachte wahrscheinlich sofort über ihre letzten Verfehlungen nach. Ich beruhigte sie. Sie zeigte mir den Weg zu den Verwaltungsbüros. Ich verschwand durch eine unauffällige Tür auf der linken Seite und betrat einen nüchternen Flur. Mit dem Aufzug fuhr ich in den fünften Stock. Dort gab es so etwas wie einen Empfang. Hinter einem geschwungenen Tresen saß eine Lady, die wohl schon kurz nach der Gründung des Unternehmens ihren Dienst hier aufgenommen hatte. Auch sie trug die Firmenuniform, doch ich machte mir nicht die Mühe, ihr Namensschild genauso intensiv zu studieren. »Ich möchte den Personalchef sprechen«, knurrte ich, um mir gleich Respekt zu verschaffen, was mir aber nicht gelang. »In welcher Angelegenheit«, gab die Lady zurück und es war klar, dass es keine Angelegenheit gäbe, die mein Begehren ausreichend begründen würde. »Jenny Dylang«, versuchte ich es dennoch. Zumindest zog sie eine Augenbraue hoch. Ich griff in mein Jackett, zog eine meiner offiziellen Karten hervor und schob sie über den Tresen. »Pat Connor, private Ermittlungen«, fügte ich erklärend hinzu. Sie nahm die Karte mit spitzen Fingern und ich glaubte zu hören, wie sie ›Ein Schnüffler‹ murmelte. »Genau! Und der Schnüffler möchte jetzt mit Ihrem Personalchef über die ermordete Jenny Dylang sprechen.« »Ich glaube nicht, dass Mister Atkinson heute Morgen auch nur eine freie Minute hat. Ich könnte bei seiner Sekretärin nachfragen, ob er Ihnen vielleicht Ende der Woche einen Termin einräumen kann.« 11
Ich legte den Ausdruck höchsten Bedauerns auf mein Gesicht. »Schade.« Dann drehte ich mich um und bevor die Lady überhaupt begriff, war ich schon durch die Pendeltür, die zu den Büros führte, verschwunden. Man musste kein Hellseher sein, um sich vorzustellen, was jetzt passieren würde. Ich rechnete fest damit. Links und rechts vom Gang gingen in gleichmäßigen Abständen Türen ab. Ich machte mir nicht die Mühe, die Türaufschriften auf den Milchglasscheiben zu lesen. Ich hatte noch nicht einmal den Korridor zur Hälfte hinter mir, als eine Tür aufgerissen wurde. Vor dem hellen Rechteck des Fensters am Ende des Gangs konnte ich nur Konturen erkennen. Und einen Kranz goldblond glänzenden Haars. Ein paar schnelle Schritte brachten mich über den dicken Teppich zu dem Rauschgoldengel. Flügel hatte er keine, aber der Rest war jede Sünde wert und noch ein paar, die ich mir erst noch ausdenken musste. »Was fällt Ihnen ein...« Ihre Stimme war mehrere Nuancen zu hoch. »Mister Atkinsons Büro?«, fragte ich und versuchte ihre Stimme aus meinen Ohren zu schütteln. »Und wenn?« Ihre Stimme hatte eine verträglichere Tonlage gefunden. »Dann bin ich hier richtig«, erklärte ich und schob mich an ihr vorbei. Das Büro sah nicht danach aus, als ob viel darin gearbeitet würde. Den Schreibtisch konnte man nicht als aufgeräumt bezeichnen, er erweckte eher den Eindruck, nie benutzt zu werden. Die Haube auf der Underwood war leicht verstaubt und die Schreibmaschine darunter wahrscheinlich längst eingerostet. Links in der Wand befand sich eine dick mit Leder gepolsterte Tür, die ohne Zweifel in Mr. Atkinsons Büro führte. »Was nehmen Sie sich heraus«, schrillte es unangenehm hinter mir. Offensichtlich hatte der Rauschgoldengel seine Stimmbänder überhaupt nicht im Griff. Ich drehte mich um und die bebende Oberweite von Miss Vorzimmer kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen, bevor sie auf meine Brust traf. »Connor, Pat Connor, private Ermittlungen«, stellte ich mich vor. »Sie können mich auch Schnüffler nennen. Ich werde jetzt durch diese 12
Tür gehen und Mister Atkinson einige Fragen stellen. Danach steht er wieder ganz zu Ihrer Verfügung.« Sie wollte ihren Modellkörper zwischen mich und die Tür bringen, doch ich schob sie beiseite. Es war eine Doppeltür, durch die ich das Büro des Personalchefs betrat. Im ersten Augenblick glaubte ich mich geirrt zu haben und in einen exquisiten Herrenclub geraten zu sein. Der Tür gegenüber, an einem riesigen Schreibtisch, auf dem George Washington wahrscheinlich den Delaware überquert hatte, saß ein Mann in meinem Alter. Eigentlich zu jung für diesen Job. Pomadisierte Haare, Hängebacken, wasserblaue Augen und eine ungesunde teigige Gesichtsfarbe. Vor dem Schreibtisch zwei ausladende Ledersessel und rechts neben mir das dazu passende Sofa. Es war ein Eckbüro und zwei Wände wurden komplett von Fenstern eingenommen, an denen die Jalousien heruntergelassen waren und die Sonne den dicken, blauroten Teppich in Streifen von Hell und Dunkel zerschnitt. Atkinson blickte mich gelangweilt an. Miss Vorzimmer schrillte hinter mir eine Reihe von unzusammenhängenden Entschuldigungen. Ich schob sie nach draußen und schloss die Tür. »Mister Atkinson, ich hätte ein paar Fragen«, begann ich und trat an den Schreibtisch. Ich zückte meine Karte und legte sie vor ihn. Gelangweilt nahm er sie in die Hand. »Pat Connor - Private Ermittlungen«, murmelte er und machte eine kaum wahrnehmbare Geste auf einen der beiden Sessel. Ich setzte mich. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er, als ob ihm mein Eindringen in sein Büro völlig egal wäre. »Es geht um Jenny Dylang«, erklärte ich und wartete auf eine Reaktion, die nicht kam. »Die ermordete Verkäuferin...«, fügte ich hilflos hinzu. »Aus der Wäscheabteilung.« »Ach, die Sache«, bequemte Atkinson sich schließlich zu sagen. »Schrecklich.« Und damit schien der Fall für ihn erledigt. Er griff zu der Zeitung, die neben ihm lag. Es war die Tribune und aufgeschlagen war der Sportteil. 13
»Können Sie mir etwas über die junge Frau sagen? Wie lange hat sie schon hier gearbeitet? Gibt es Kolleginnen, mit denen sie näher bekannt war?« Atkinson ließ die Zeitung wieder sinken. Sein Blick ging durch mich hindurch, wahrscheinlich auch noch durch die Wand hinter mir und blieb auf der Figur der blonden Was-weiß-ich in seinem Vorzimmer hängen. »Da müssen Sie in der Personalabteilung fragen«, meinte er. Ein Fass Bourbon hätte vielleicht gereicht, mich zu beruhigen, doch das war gerade nicht zur Hand. Ich fuhr aus dem Sessel hoch und ließ meinem irischen Temperament freien Lauf. »Verdammt noch mal«, schrie ich, »Sie sind hier doch der Personalchef!« »Ja«, meinte Atkinson, ohne dass ihn mein Ausbruch aus der Ruhe gebracht hätte. Ich war mir nicht sicher, ob dieses Ja eine Zustimmung oder eine Frage war. »Wo finde ich die Personalunterlagen von Jenny Dylang?« »In der Personalabteilung. Ich werde Miss Wilkers bitten, Sie dorthin zu bringen.« Er drückte auf einen Knopf an seinem Telefon. Sekunden später öffnete sich die Tür und der Rauschgoldengel steckte seinen Kopf herein. »Miss Wilkers, bringen Sie den Herrn in die Personalabteilung.« * Der Bürovorsteher der Personalabteilung, ein älterer Mann mit Fliege und Ärmelschonern, war das absolute Gegenteil von Atkinson, von dem ich zwar nicht behaupten würde, er hätte nicht alle Tassen im Schrank, aber in der richtigen Reihenfolge standen sie bestimmt nicht mehr. Meine dahingehende Bemerkung überhörte Mr. Wenders. Er wurde ein bisschen redseliger, als ich auf Jenny Dylang zu sprechen kam, aber was er an greifbaren Informationen zu bieten hatte, war dünn. Ein nettes, eher zurückhaltendes Mädchen, seit drei Jahren im Betrieb, vorbildliche Führung. Es hatte nie irgendwelche Klagen, weder von der Kundschaft noch von den Kolleginnen, gegeben. Eine Heimatadresse, außer der im YMCA Chicago, hatte er auch nicht. Er schob mir 14
ihre dünne Personalakte über seinen Schreibtisch zu. Ich blätterte darin herum, ohne einen weiteren Hinweis zu finden. Ich verabschiedete mich. Auf dem Flur erwartete mich eine graue Maus, Typ ältliches Fräulein. Alles an ihr war so unauffällig, dass ich sie fast übersehen hätte. »Mister Connor.« Auch ihre Stimme war das Piepsen einer Maus. »Ja?« »Sie haben sich nach Jenny erkundigt.« War das eine Feststellung oder eine Frage? Ich nickte und wartete ab. Das Fräulein trat unschlüssig von einem Bein auf das andere. »Es tut uns allen so Leid, was mit Jenny passiert ist.« »Kannten Sie sie näher?« »Gott bewahre nein!«, stöhnte sie auf, so als ob ich ihr gerade das unsittlichste aller denkbaren Angebote gemacht hätte. »Aber ich denke, Sie sollten mal mit Linda Farr sprechen.« »Und wo finde ich die?« Sie schaute mich an, als käme ich von der Rückseite des Mondes. »Natürlich in der Wäscheabteilung. Sie war eine Kollegin von Jenny.« In diesem Moment ging eine Bürotür auf und bevor ich etwas sagen oder fragen konnte, huschte die graue Maus an mir vorbei ins Schreibzimmer des Personalbüros. Ich drehte meinen Hut unschlüssig in den Händen. Besonders viel versprechend war diese Information nicht, aber da ich außer meinem Hut so gut wie nichts in der Hand hatte, machte ich mich auf den Weg in die Wäscheabteilung. Zwischen Stapel von Bettlaken, Bezügen, Tischdecken, Handtüchern, streng nach Größe und Farbe geordnet, hielt ich Ausschau nach Linda Farr. Die anwesenden Kundinnen beäugten mich misstrauisch. Wahrscheinlich war ein Mann in dieser Abteilung so selten wie ein Hai im Lake Michigan. Nachdem ich eine Reihe von Namensschildern auf unterschiedlich attraktiven Oberkörpern durchgemustert hatte, fand ich ein durchaus annehmbares Exemplar der Gattung Mensch Komma weiblich, auf dessen Brust der Name Linda Farr prangte. 15
»Miss Farr...« Sie war fast genauso groß wie ich, was für eine Frau so etwas wie Gardemaß bedeutete und strahlte mich aus tief blauen Augen an. »Was kann ich für Sie tun?« Eine Frage, die ich in diesem Moment nicht ehrlich beantworten wollte, noch nicht. »Was können Sie mir über Jenny Dylang sagen?«, antwortete ich stattdessen. Sie bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen, was ihr nicht ganz gelang. Unauffällig ließ sie ihren Blick durch die Abteilung schweifen und begann aus einem Stapel Handtücher einige herauszuziehen. »Wieso interessieren Sie sich für Jenny? Wer sind Sie überhaupt?« Sie breitete die Handtücher vor mir aus. Ich betete wieder meinen Spruch herunter und kam mir dabei schon fast wie ein Papagei vor. »Das hier müsste etwas für Sie sein«, sagte sie und hielt mir eins der Handtücher unter die Nase. Fast hätte ich ihre kurze Kopfbewegung nach links übersehen. Ich schielte unauffällig in die Richtung. Eine ältere Lady in der Hausuniform blickte interessiert zu uns herüber. Linda Farr plapperte weiter, breitete noch mehr Handtücher aus. Zwischen dem Müll, den sie mir erzählte, hörte ich die beiläufig eingestreuten wichtigen Informationen heraus. »Nicht hier. Ich habe um halb acht Schluss. Erwarten Sie mich am Personalausgang.« Um Linda Farr nicht in Schwierigkeiten zu bringen, kaufte ich zwei Handtücher. Mein Beitrag zu Bettys Aussteuer, sollte es jemals so weit kommen, dass sie heiratete. Und außerdem würde ich sie Hollyfield auf die Spesenrechnung setzen. * Als ich gegen elf Uhr mein Büro im zweiten Stock des braunen Sandsteingebäudes an der Ecke Franklin/Monroe Street betrat, saß Betty Meyer am Schreibtisch und schwitzte. Diese Tätigkeit schien sie völlig auszulasten. Sie warf mir einen Blick zu, als wäre sie am Ende ihrer Kräfte. 16
»'n Morgen, Betty.« Ich warf mein Jackett auf das Sofa rechts neben der Tür und den Hut gleich hinterher. Dann krempelte ich mir die Ärmel hoch und zog die Krawatte auf Halbmast. »Irgendwelche Anrufe?« »Einer«, antwortete sie und fächerte sich weiter mit dem Rest einer Zeitung Luft zu. Ich wartete und betrachtete die auf ihren Schreibtischstuhl hin gegossene Schönheit in ihrem groß gepunkteten Sommerkleid. Ein Träger war verrutscht und baumelte an ihrem Ellenbogen. Es schien nicht so, als ob sie mir sagen wollte, wer angerufen hatte. »Betty, ich bin nicht neugierig, außer von Berufs wegen, also wer hat angerufen?« »Captain Hollyfield.« Und wieder hatten diese zwei Worte ihre ganze Kraft erfordert. Früher hatte ich bei Anrufen von Hollyfield nur ein dumpfes Gefühl in der Magengegend verspürt, seit gestern ließ mich der Gedanke an den Captain regelrecht zusammenzucken. »Wollte er noch mal anrufen?« Diesmal zuckte Betty nur mit den Schultern. Ich konnte mir vorstellen, was der Captain von mir wollte, also unterließ ich es, ihn zurückzurufen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und nahm mir noch einmal die Ermittlungsakten im Fall Dylang vor. Betty war so erstaunt, mich arbeiten zu sehen, dass sie aus ihrer Lethargie erwachte. »Haben wir einen Fall?«, fragte sie mit Dollarzeichen in den Augen. »Sie nicht«, gab ich zurück, »aber ich.« »Um was geht es?« »Eine Leiche.« »Ah, deswegen der Anruf von Hollyfield«, schloss meine Halbtagskraft messerscharf. »Wessen Leiche?« »Ihre«, knurrte ich, um sie hoffentlich zum Schweigen zu bringen, damit ich mich konzentrieren konnte. »Was, ihre?« 17
Sie war manchmal wirklich begriffsstutzig. Als sie es endlich kapiert hatte, schmollte sie. Ich widmete mich den Akten. Der Obduktionsbericht machte mich stutzig. Nicht was darin stand, sondern was nicht darin stand. Es war nichts Greifbares, aber mir erschien er ziemlich dünn. Todesursache, vermutlicher Todeszeitpunkt und das war's; sonst nichts. Zu wenig für mein Gefühl. Dann schrillte das Telefon. Ich meldete mich mit der ganzen Litanei, die ich heute schon bei Marshall Fields ein paar Mal heruntergebetet hatte. Am anderen Ende war die Bulldogge. »Ich warte auf Sie, Connor!« »Mal schön langsam, Captain. Ich bin erst seit gestern an der Sache dran. Ich heiße nicht Hodounin.« »Mensch, Connor, ich brauche die Akte zurück. Sie dürfte das Polizeipräsidium eigentlich nie verlassen haben.« »Ach, darum geht's.« Ich hatte ganz vergessen, dass Hollyfield die Akte Dylang ja bis heute Mittag wieder zurückhaben wollte. »Ich bring sie Ihnen gleich vorbei.« »Sind Sie wahnsinnig, Connor!« Man hatte der Bulldogge wieder mal den Knochen geklaut. Ich hielt den Hörer einen halben Meter von meinem Ohr weg. »Glauben Sie, Sie können hier einfach reinspazieren, mit einer Ermittlungsakte unter dem Arm und sie mir dankend auf den Tisch legen?« Wo er Recht hatte, hatte er Recht. »Also?« »In einer halben Stunde in der Taverna Roma. South Peoria Ecke 18th Street. Und versuchen Sie mal, nicht auf zufallen.« Ich hörte, wie er den Hörer auf die Gabel knallte. Nicht auffallen. Typisch Hollyfield. Die South-Side war ItalienerTerritorium. Die South Peoria lag im Herzen von Il Cardinales Einflussbereich. Da hatte ein Schwein in den Schlachthöfen bessere Karten als ein Ire in der South Peoria. Aber er wusste wahrscheinlich, was er tat. Betty, die alles mitbekommen hatte, schaute mich fragend an. »Es ist besser, Sie wissen nicht zu viel davon. Also vergessen Sie, was Sie eben gehört haben, sonst könnte es wirklich noch Ihre Leiche sein, um die ich mich kümmern muss.« 18
* Nachdem ich Hollyfield die Akte bei einem Mittagessen zurückgegeben und ihm einen kurzen Bericht über meinen Besuch in Marshall Fields erstattet hatte, machte ich mich auf den Weg von der South-Side zur North-Side in die North Dearborn 379. Da die Taverna Roma, wie es bei einem Polizisten nicht anders zu erwarten war, eines der schätzungsweise drei bis vier wirklich trockenen Lokale in Chicago war, bestand die absolute Notwendigkeit, einen Zwischenstopp bei Dunky einzulegen. Nachdem ich meinen Wagen direkt vor dem Speakeasy geparkt hatte, was um diese Zeit kein Problem war, stieg ich die drei Stufen zum Hauseingang hinunter und klopfte an die Tür. Eine Klappe in Augenhöhe öffnete sich. Die Tür aber nicht. Dann schaute ich genauer hin. Das Gesicht in der Klappe war nicht das von Dunkys üblichem Türsteher. »Mach auf«, knurrte ich, aber nichts geschah. Das Gesicht verschwand. Ich klopfte noch mal. Wieder ging die Klappe auf. »Hör zu, ich bin Pat Connor und ich brauch 'nen Drink.« Das Gesicht bewegte sich ein Stück zurück und an ihm vorbei schrie ich in die Kneipe: »He Dunky, sag deinem Gorilla, er soll mich reinlassen.« Irgendwo aus der Tiefe des Raumes ertönte eine dunkle Stimme, dann öffnete sich die Tür. Ich schob den Kerl beiseite, durchquerte mit ein paar schnellen Schritten den Raum und klemmte mich an die Theke. Dunky stellte mir einen Bourbon vor die Nase. »Wo ist Fred? Urlaub?« Dunky verzog keine Miene. »Fred ist weg. John ist der Neue und du solltest dir besser die Parole einprägen, bis er dich gut genug kennt.« »Und wie ist die Parole?« »Schneewittchen.« Ich musste mich beherrschen, um nicht laut loszubrüllen. Schneewittchen als Parole für Dunkys Speakeasy war ungefähr so passend wie Miezekatze für Hollyfield. »Was ist mit Fred?« 19
»War zur falschen Zeit am falschen Ort«, meinte Dunky und trocknete weiter Gläser ab. »Jetzt sieht er die Radieschen von unten wachsen. Die Schießerei vor drei Tagen auf der South-Side. Kam zufällig vorbei und fing sich eine Garbe von 'ner Tommy Gun ein.« Ich nickte und war einen Bourbon lang betroffen. Ich ließ Dunky in Ruhe seine Gläser polieren und als alle in hellstem Glanz strahlten, meinte ich ganz nebenbei: »Ich hab da heute einen schrägen Vogel kennen gelernt. Arbeitet bei Marshall Fields, oder eigentlich arbeitet er nichts. Sitzt nur in seinem Büro und liest Brendons Sportseite in der Tribune.« Während ich das sagte, legte ich beiläufig einen Fünf-DollarSchein auf den Tresen. Dunky schien ihn gar nicht zu beachten, kam aber zu mir herüber. »Pomadisierte Haare, sieht aus wie ausgekotzt und hat was im Vorzimmer sitzen, das die Toten aus den Gräbern steigen lässt.« Ich nickte. Dunkys Pranke legte sich auf den Lincoln und als er sie wieder wegnahm, war ich um einen Präsidenten ärmer. Hollyfields Spesenrechnung wurde immer größer. »Neffe des Besitzers. Manche sagen, er hat 'nen trockenen Schwamm als Gehirn, andere meinen, er hätte im Großen Krieg 'nen Schlag wegbekommen. Egal, jedenfalls findet er ohne Lageplan auf der Toilette seinen Schwanz nicht.« Ich nickte wieder, denn genau das war auch mein Eindruck gewesen. Zumindest hatte er eine attraktive Hilfe für sein letzteres Problem. Doch Dunky war noch nicht fertig. Richtig gesprächig war er heute. »Man munkelt, er war' vom anderen Ufer«, ergänzte Dunky. »Aus Michigan?«, fragte ich erstaunt und dann geschah etwas, was in all den Jahren, in denen ich Dunky kannte, noch nie geschehen war: Dunkys Mundwinkel zogen sich unisono in die Breite und er lächelte. Ein anderer Mensch hätte wohl schallend losgelacht. »Wenn sie dort alle Hinterlader sind, dann könnte das zutreffen«, meinte Dunky, als seine Mundwinkel in Sekundenschnelle wieder in die angestammte Position zurückgerutscht waren. »Schon gut. Ist heut nicht mein bester Tag«, murmelte ich. Ich kippte noch einen Bourbon und machte mich dann auf den Weg in die Ontario Street zum Mädchenheim des YMCA. 20
* Miss Dorothy roch meinen Atem und ihr Gesicht drückte all den Abscheu aus, zu dem eine in die Jahre gekommene Hauswirtin fähig ist. Das Haus selbst war ein dreistöckiges Gebäude, außen etwas heruntergekommen, innen aber vorbildlich geführt. Sie oder ihre Mädchen putzten wahrscheinlich an den Wochenenden um die Wette und als ersten Preis gab es dann einen netten Abend vor dem Radio mit einem Glas selbst gemachter Limonade. Da es früher Nachmittag war, traf ich Miss Dorothy nur in Gesellschaft ihres schwarzen Hausmädchens an. Ihre Schützlinge befanden sich alle an ihren Arbeitsstellen. Wir saßen uns im Frühstücksraum gegenüber und ich versuchte mit all meinem Charme gegen das Missfallen der Hausherrin anzukämpfen. »Mister Connor, ich weiß nun wirklich nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Erst die Polizei, die hier alles auf den Kopf gestellt hat und dann kommen Sie an und wollen das Gleiche noch einmal tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Miss Dorothy«, entgegnete ich und versuchte zwei Dinge gleichzeitig zu tun: zum einen nicht in ihre Richtung zu atmen und zum anderen meine Geduld bis an die äußerste Grenze zu strapazieren. »Wie ich schon sagte, handele ich im Auftrag der Polizei, die mich mit den Ermittlungen betraut hat. Ich möchte mir nur einen Eindruck über die Lebensgewohnheiten der Ermordeten verschaffen.« »Ich beherberge hier bis zu zwölf junge Damen.« Sie ging gar nicht auf das ein, was ich gesagt, hatte. »Und keine von ihnen hat mir jemals so etwas angetan. Es sind alles ehrbare Mädchen und nun das.« Sie tat gerade so, als ob sich Jenny nur hatte ermorden lassen, um Miss Dorothy eins auszuwischen. »Können Sie mir vielleicht etwas Näheres über Miss Dylang sagen?«, hakte ich ein. Das konnte sie, aber heraus kam nichts dabei. Eigentlich wusste die gute Miss Dorothy herzlich wenig über ihre Pensionsgäste. Auch sie hatte keine Adresse in Osceola, unter der man vielleicht die Angehöri21
gen von Jenny erreichen könnte. Schließlich war sie aber doch bereit, mir Jennys Zimmer zu zeigen. Wenn mir jemand über die Schulter sieht, kann ich einfach nicht arbeiten. Ich schob Miss Dorothy aus dem Zimmer und sah mich um. Ein Bett, ein Tisch, zwei Sessel. Vor dem einzigen Fenster eine hässliche Gardine. Ich öffnete den Kleiderschrank. Rechts ein paar Fächer mit Unterwäsche, Handtücher, Pullovern und Strümpfen. Links hingen auf Kleiderbügeln ein abgetragenes Kostüm, ein dicker Wollmantel, zwei Blusen, zwei leichte Sommerkleider und eine Marshall-FieldsUniform. Ich schob die Bügel mit den Kleidungsstücken hin und her, konnte aber nichts entdecken, was mir weiterhelfen würde. Dann wühlte ich mich durch die in den Fächern gestapelte Wäsche. Keine Briefe oder vielleicht ein Tagebuch. Ich nahm die Handtücher heraus. Zwischen ihnen war auch nichts versteckt. Dann machte ich mich an die Unterwäsche. Zwischen den durchschnittlichen Teilen fand ich etwas, das mich stutzig machte: einen Strumpfhalter und zwei Schlüpfer, die ich bei einem jungen Mädchen aus Iowa nicht erwartet hätte. Reine Seide und in einer Ausführung, die selbst ohne Inhalt einem normalen Mann in einem Kühlhaus die Schweißperlen auf die Stirn treibt. Ich steckte Strumpfhalter und Schlüpfer ein. Es gab noch so etwas wie einen Sekretär in dem Zimmer, doch den hatte die gute Jenny wohl nie benutzt. Ein Schreibblock lag darauf, ein paar Bleistifte, aber augenscheinlich nie benutzt. In einer der Schubladen fand ich zwischen ein paar Modemagazinen ein Bild von der ehemaligen Bewohnerin des Zimmers, kein besonders gutes, aber man würde sie darauf schon wieder erkennen. Ich steckte es ein. Man konnte ja nie wissen. Das aus den Ermittlungsakten war ja wieder in den Händen von Hollyfield. Miss Dorothy wartete vor der Zimmertür. Ihren fragenden Blick ignorierte ich. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. * Um halb acht stand ich gegenüber dem Personaleingang von Marshall Fields und wartete auf Linda Farr. Sie war unter den Ersten, die aus 22
dem Kaufhaus strömten, sah sich kurz um und hatte dann auch mich entdeckt. Ich ging ihr ein paar Schritte entgegen. »Guten Abend, Miss Farr.« »Guten Abend, Mister Connor.« Wir schwenkten beide auf den Bürgersteig ein und gingen wortlos Richtung North Lasalle. Als wir um die Ecke gebogen waren, wurde Linda gesprächiger. »Es ist besser, wenn die anderen nicht zu viel mit bekommen. Am liebsten würden die von Marshall uns Tag und Nacht einsperren und nur zur Arbeit herauslassen. Richtige Sklavenhalter sind das.« »Darf ich Sie zum Abendessen einladen, Miss Farr?«, fragte ich. »Gerne und nicht unbedingt trocken.« Mir war es nur Recht. Wir redeten noch etwas übers Wetter und andere Belanglosigkeiten, bis wir nach fünf Minuten das Tuxedo Grill & Restaurant erreicht hatten. Nach zwei Spezialkaffee meinte Linda: »Warum interessiert sich ein Privatdetektiv für Jenny?« »Sie ist ermordet worden«, antwortete ich und steckte mir eine Zigarette an. »Dann ist das doch Sache der Polizei.« Natürlich hatte sie Recht. »Das stimmt schon, aber in diesem besonderen Fall hat man mich um Unterstützung gebeten. Vielleicht glaubt man, ohne die große Parade weiterzukommen.« »Große Parade?« Ich brachte ein unschuldiges Lächeln zustande. »Na ja, halt ohne Uniformen und Dienstmarken.« Sie nickte. Dann wurden wir von unserem Essen unterbrochen. Als die Teller schließlich wieder weggeräumt waren und wir uns bei einer Zigarette und mit gefüllten Kaffeetassen gegenübersaßen, war es Zeit, über Jenny zu sprechen. »Sie kannten Jenny Dylang?« Linda zuckte mit den Schultern und stieß den Rauch aus. »Kennen? Kennen wäre zu viel gesagt. Wir waren Kolleginnen.« »Was heißt das im Klartext?« 23
»In den Pausen spricht man schon mal über das eine oder andere und wenn man lange in einer Abteilung zusammen arbeitet, dann rutscht schon mal was raus, was man eigentlich nicht sagen wollte.« Ich wurde hellhörig. »Miss Farr, ich kann Ihnen versichern, dass ich alles vertraulich behandeln werde.« Sie schaute mich mit weit geöffneten Augen an und ein Hauch von Röte huschte über ihre Wangen. »Nicht, was Sie meinen, Mister Connor. Jenny war ziemlich introvertiert. Freundinnen hatte sie keine. Jedenfalls nicht dass ich wüsste. Sie hat ihre Arbeit getan, war höflich zur Kundschaft, was nicht immer leicht ist, das können Sie mir glauben und hatte nie Ärger mit dem Drachen.« »Dem Drachen?« Sie lachte und es klang irgendwie verheißungsvoll, oder hatte ich nur zu viel vom hochprozentigen Kaffee intus? »Unsere Abteilungsleiterin. Ich habe sie Ihnen heute Morgen gezeigt.« »Ach so.« Ich bereute schon, mir mit Linda solche Mühe gemacht zu haben. Wahrscheinlich war sie darauf aus, einen Heiratskandidaten zu finden, der sie von dem Drachen erlöste und da war ich gerade recht gekommen. Über Jenny wüsste sie bestimmt nicht mehr als Miss Dorothy. »Aber in letzter Zeit war Jenny irgendwie anders. Ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll, aber irgendetwas schien sie zu bedrücken. Und dann wurde sie auch öfters abgeholt...« Mit einem Mal war ich wieder hellwach. Der Bourbon verzog sich irgendwohin in meinen Körper, jedenfalls nicht an eine Stelle, mit der ich denken musste. »Was heißt das, abgeholt?« »Na ja, abends nach der Arbeit.« »Ist das so etwas Besonderes?« »Eigentlich nicht, aber bei ihr schon.« »Hatte sie keine Verehrer?« »Das meine ich nicht, Mister Connor.« Sie lehnte sich zurück und schien nachzudenken. »Wissen Sie, Mister Connor...« 24
»Lassen Sie doch das ewige ›Mister Connor‹, nennen Sie mich einfach Pat.« »Okay, Pat. Ich bin Linda. Also wir Mädchen bei Marshall Fields wissen schon, wo wir hingehören. Es ist nicht so, dass wir damit rechnen, mal die große Partie zu machen. Vielleicht kriegen wir einen ehrlichen Mann ab, aber bis zum Lake Shore Drive wird es nie reichen.« Ich verstand, was sie sagen wollte. Ihre Lebensaussichten waren gut überschaubar und von Träumen schien sich Linda verabschiedet zu haben. »Was war mit Jenny?« »In den letzten Wochen bevor sie starb, wurde sie manchmal von einem Chauffeur mit einem großen Cadillac abgeholt. Der parkte nie direkt am Eingang. Immer ein paar Blocks weiter. Ich habe es das erste Mal zufällig beobachtet und als Jenny sich auf meine Frage, wer denn ihr reicher Verehrer sei, wand wie ein Aal, bin ich ihr öfters nachgegangen. Mindestens zwei Mal pro Woche wartete der Chauffeur mit dem Wagen auf sie. Mehr weiß ich nicht und Jenny ist mir seitdem auch aus dem Weg gegangen.« Ich dachte an die Unterwäsche, die inzwischen in einer Schublade meines Schreibtischs lag, zählte zwei und zwei zusammen und bekam irgendetwas zwischen drei und acht heraus. »Danke, Linda. Das hilft mir schon weiter.« Wohin, wüsste ich allerdings nicht. »Kann ich Sie nach Hause bringen?« »Gerne, Pat.« Und es klang recht hübsch, wie sie das sagte. Der Abend hatte etwas Abkühlung gebracht. Eine leichte Brise wehte vom See herüber und wir schlenderten die Lasalle Street hinunter zu meinem Plymouth. Ich brachte Linda an den Rand der WestSide in die North Sangamon, wo sie bei ihren Eltern, zusammen mit zwei jüngeren Brüdern, lebte. Ein noch durchaus angenehmes Wohnviertel, mit hübschen Häusern und gepflegten Vorgärten. Die Bewohner konnten sich guten Gewissens zur Mittelschicht zählen. Als ich den Wagen zurück in die North Clarke steuerte, um den Tag mit einem Besuch in meinem Bett zu beenden, konnte ich mir auf einmal vorstellen, Linda Farr wieder zu sehen. * 25
»Guten Morgen, Betty«, begrüßte ich meine Halbtagskraft, die sich gegen zehn Uhr durch die Tür schob. »Guten Morgen, Pat. Schon so früh im Büro?« Manchmal konnte sie mich wirklich verblüffen. Keine Spur von schlechtem Gewissen, dass sie vielleicht ein bisschen spät dran war. Aber eigentlich spielte das auch keine Rolle. Ich hatte mir den Morgen damit vertrieben, Brendon bei der Tribune zu erreichen, aber er war mal wieder unterwegs. Ich hoffte, er würde mich irgendwann zurückrufen. Ein weiterer Anruf bei der Hausverwaltung, die die Wohnungen in der North Dearborn betreute, hatte ergeben, dass ein gewisser Paul Skerry aus New York die Wohnung seit zwei Jahren gemietet hatte, sie aber nur recht selten nutzte. Ich würde unbedingt mit dem Hausmeister sprechen müssen. Betty klapperte an der Kaffeemaschine herum. Wie sie bei der Hitze noch brühheißen Kaffee trinken konnte, war mir ein Rätsel. Als sie schließlich hinter ihrem Schreibtisch saß und mich erwartungsvoll anblickte, machte ich meinen Zug. Ich griff in die Schublade meines Schreibtischs und zog die beiden Schlüpfer und den Strumpfgürtel hervor. Ich hielt die Wäschestücke hoch und musterte sie bedächtig, während Bettys Gesichtsausdruck von Erstaunen über Ungläubigkeit zum Ekel wechselte. Als ihre Gesichtsfarbe nach einigen Augenblicken tiefstes Rot erreicht hatte, stand ich auf, ging zu ihrem Schreibtisch und legte die Schlüpfer und den Strumpfhalter darauf. »Pat...! Sie sind ein...« »Vorsicht«, unterbrach ich sie, »Sie sind ein Augenzwinkern davon entfernt, mir einen Kündigungsgrund zu liefern.« »Trotzdem sind Sie...« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Betty, Betty, Betty«, sagte ich, als würde ich einem kleinen Kind erklären, dass Eisberge nicht gut für die Titanic sind. »Was Sie schon wieder denken. Schämen Sie sich nicht?« »Ich!« Die Zornesröte stieg ihr bis unter die Haarwurzeln. »Wenn sich hier einer schämen muss, dann Sie, Pat!« 26
Das genügte. Wir, besser gesagt, ich hatte meinen Spaß gehabt, doch jetzt ging es wieder um den Job. »Ich brauche Ihren Rat als Frau, Betty. Schauen Sie sich die Sachen hier an und sagen Sie mir, wo ich so etwas bekomme und wie viel es kostet.« Bevor sie antworten konnte, klingelte das Telefon. Sie griff zum Hörer. »Pat Connor, private Ermittlungen, Betty Meyer am Apparat.« An der Stimme, die aus dem Hörer drang, erkannte ich Captain Hollyfield. »Captain Hollyfield für Sie«, sagte dann auch Betty und reichte mir den Hörer. »Ja, Captain?« »Wie weit sind Sie«, bellte der Captain ins Telefon. Mit Höflichkeiten hielt er sich wirklich nicht auf. »Danke Captain, mir geht es auch gut. Nur die Hitze macht mir etwas zu schaffen, Sie wissen ja...« »Sind Sie besoffen, Pat, oder endgültig durchgeknallt?« Bei der Lautstärke bekam Betty natürlich alles mit, was vielleicht nicht im Sinn von Hollyfield war, doch wie macht man das einer wütenden Bulldogge klar? »Wenn Sie unser kleines Problem meinen, Captain, ich arbeite daran.« Betty bekam Ohren wie Dumbo auf dem Hochzeitsflug. Irgendwie musste ich Hollyfield abwimmeln. »Hören Sie, Captain, wie wär's zum Mittagessen am üblichen Ort? So gegen eins?« Ich hoffte, er würde kapieren. Ich hörte etwas klappern und da ich nicht annahm, dass er sich an einem öffentlichen Telefon befand, musste das der Groschen sein, der gefallen war. »Okay, Pat«, sagte er deutlich leiser und fügte noch eine Spur leiser hinzu, »Taverna Roma um eins.« Ich gab dem Fragezeichen hinter dem Schreibtisch den Hörer zurück. »Nun, Betty, was können Sie mir über diese Wäschestücke sagen? Sie können sie ruhig in die Hand nehmen. Sie sind ungetragen.« Ob das stimmte, wusste ich nicht, aber zumindest gewaschen waren sie. Betty betrachtete die Schlüpfer von allen Seiten, prüfte den Stoff und sah sich auch den Strumpfhalter genau an. Da hatte sie einen 27
deutlichen Vorteil mir gegenüber. Ich kannte solche Artikel natürlich auch, aber wenn ich üblicherweise damit in Berührung kam, hatte ich anderes im Sinn, als sie einer Qualitätsprüfung zu unterziehen. »Hm, das ist exquisites Zeug«, murmelte sie. »Ausgefallen. Kann nicht jede tragen. Wo haben Sie das her, Pat?« »Das spielt keine Rolle. Sagen Sie mir lieber, was so etwas kostet.« »Die beiden Dinger hier«, sie schob die beiden Schlüpfer, der eine in einem Blutrot, der andere in Mitternachtsblau, in meine Richtung, »sind beste Seide, mit Spitzen. Zwanzig müssen Sie schon dafür auf den Tisch legen. Für jeden.« Ich pfiff durch die Zähne. »Für den Strumpfhalter bestimmt dasselbe«, ergänzte Betty. Sechzig Dollar, die da so einfach im Schrank einer Verkäuferin herumlagen, die bestenfalls vierzig die Woche verdiente. Und wen hatte die gute Jenny Dylang damit beeindrucken wollen? Ich nahm die Wäschestücke wieder an mich und bemerkte Bettys begehrlichen Blick. Augenscheinlich hatte sich ihre Einstellung zu den drei Dingen grundsätzlich verändert. »Tut mir Leid«, sagte ich, »das sind Beweisstücke.« Mir gingen ein paar Dinge durch den Kopf, die ich mit Hollyfield unbedingt klären musste. Ich hatte zwar die Fotos vom Tatort gesehen, doch darauf war nicht viel zu erkennen gewesen. In Anbetracht dessen, was Jenny so im Kleiderschrank herumliegen hatte, wäre es wichtig, in welchem Fummel sie bei ihrer Ermordung gesteckt und ob sie darunter noch weitere von diesen Schmuckstücken getragen hatte. Und dann musste ich in die North Dearborn und mit dem Hausmeister sprechen. * Um halb drei saß ich in meinem Plymouth und quälte mich durch den Verkehr Richtung North-Side. Hollyfield war überraschend einsichtig gewesen und hatte kapiert, dass, wenn unser Arrangement geheim bleiben sollte, er sich solche Auftritte wie heute Morgen am Telefon 28
schenken musste. Als ich ihm von meiner Entdeckung in Jennys Kleiderschrank berichtete und ihn nach der Kleidung der Ermordeten fragte, wurde er ganz still. Irgendwie begriff er, dass er einem Haufen Idioten vorstand, die zu dumm waren, in der Nase zu bohren, ohne sich den Finger dabei zu brechen. Ich hatte meinen mitfühlenden Tag und streute nur wenig Salz in die Wunde. Wichtiger war, dass ich mit dem Gerichtsmediziner Dr. Molson sprach. Natürlich konnte ich nicht einfach ins Institut marschieren. Hollyfield war bereit, mich anzukündigen und irgendeinen Vorwand zu finden, dass ich mit dem Mediziner sprechen konnte, ohne dass unser kleines Arrangement erwähnt werden musste. Inzwischen hatte ich mich über den Chicago River auf die NorthSide vorgequält. Der Schweiß lief mir in Strömen über die Stirn und mein Hemd klebte am Körper. Es ging nicht voran. Die Eislieferanten hatten kaum eine Chance, die Kühlschränke der Leute zu beliefern. Ihr Kapital zerrann ihnen unter den Händen. Es war ein Jahrhundertsommer, so meinte zumindest die Tribune schon seit zwei Wochen. Ich hatte da meine Zweifel. Das Jahrhundert war noch jung. Schließlich ging gar nichts mehr. Ich stellte den Wagen ab und ging die letzten fünf Blocks zu Fuß. Immer noch besser, als in der Kiste zu schwitzen. Das Haus in der North Dearborn war ein sechsstöckiger Sandsteinbau. Von der Straße kam man über zehn Stufen zu einer reich verzierten Pendeltür und danach in eine kühle Halle, auf deren rechter Seite sich der Glaskasten des Concierge befand. Alles strahlte eine Gediegenheit aus, die zu Jennys Unterwäsche passte. Ich betätigte die Klingel an der Concierge-Loge, doch nicht passierte. Ich gab dem Mann noch zwei weitere Chancen, auch ohne Erfolg. »Mister Catlab ist nicht da. Schon den ganzen Morgen nicht. Noch nicht einmal die Post hat er verteilt. Eine Unverschämtheit.« Ich drehte mich um. In der Mitte der Halle stand das Wrack einer gut aussehenden Lady, die mit millimeterdicker Schminke versuchte, diesen Umstand zu verdecken. »Haben Sie eine Ahnung, wann er wieder kommt?«, fragte ich überflüssigerweise. 29
»Wenn es nach mir ginge, überhaupt nicht mehr. Ich habe schon zwei Mal mit der Hausverwaltung telefoniert, ja glauben Sie denn, die würden einen Ersatz schicken«, meinte die Lady schrill. »Sind Sie vielleicht der Ersatz?« Ich schüttelte den Kopf. »Hab ich mir fast gedacht.« Sie drehte sich um und marschierte zum Eingang hinaus. Die Wohnung von Paul Skerry lag im dritten Stock. Ich nahm den Lift und hoffte, dass ich oben im Flur ungestört bleiben würde. Das Türschloss stellte keine großen Anforderungen an meine Fähigkeiten. Der Geruch in der Wohnung allerdings große an meinen Magen. Am liebsten hätte ich ein Fenster aufgerissen, doch daran war nicht zu denken. Ich schluckte zwei Mal, bemühte mich flach zu atmen und hatte meinen Magen dann schließlich wieder ungefähr dort, wo er hingehörte. Die Wohnung erweckte den Anschein, bereit zur Mietbesichtigung zu sein. Kein persönlicher Gegenstand von wem auch immer. Weder im Bad noch im Schlafzimmer. Alle Schränke waren leer. Nur auf dem Sofa war ein hässlicher Fleck, dort wo die schon etwas überfällige Leiche von Jenny gelegen hatte. Ansonsten konnte man den Eindruck haben, eine zwanzigköpfige Reinigungskolonne hätte sich einen Tag lang in Paul Skerrys Bleibe auf die Putzolympiade vorbereitet. Ich tat meinem Magen etwas Gutes und machte mich aus dem Staub. Nur aus Routine klingelte ich noch mal beim Concierge, wie erwartet ohne Erfolg. Als ich das Gebäude verließ, fielen mir zwei Typen ins Auge, die, so unauffällig sie sich verhielten, ein großes Schild auf der Brust hatten: »Wir gehören zu ›The Jan‹.« Gut, das hier war O'Malley-Gebiet und sie konnten herumlungern, wo sie wollten, doch die Frage war: Lungerten sie wegen mir hier rum oder...? * Am nächsten Morgen betrat ich das Gerichtsmedizinische Institut am Wacker Drive. Es war kurz nach acht und nicht viel los. Ich fragte mich zu Dr. Molson durch, der die Obduktion an Jenny Dylang durchgeführt 30
hatte. Natürlich traf ich ihn über eine Leiche gebeugt an, in der er mit unangenehm aussehenden Instrumenten herumwühlte. »Nehmen Sie sich einen Kaffee«, dabei deutete er mit der Schulter zu einem Labortisch, auf dem eine Stahlkanne auf einer Heizplatte stand. »Ich bin gleich fertig. Eindeutig Herzversagen.« Obwohl ich keine Lust auf Kaffee hatte, ging ich zum Labortisch hinüber, nur um Molson nicht weiter bei seiner Arbeit zusehen zu müssen. Neben der Kanne standen ein paar Becher. Ich goss mir einen ein und nippte an dem heißen Gebräu. Sekunden nachdem der erste Schluck meinen Magen erreicht hatte, legte mein Herz den vierten Gang ein. Ich holte tief Luft und steckte mir eine Lucky zwischen die Lippen. Nach ein paar Zügen war mir deutlich besser. Wahrscheinlich füllte der gute Doktor die Reste von dem Zeug in seinen Füller und schrieb seine Berichte damit. »Sie sind also Pat Connor und wollen etwas über die kleine Jenny wissen.« Molson hatte sich von seiner Lieblingsbeschäftigung getrennt und kam zu mir herüber. »Ja«, gab ich einfach zurück. »Hollyfield hat etwas geheimnisvoll getan, als er Sie angekündigt hat«, meinte Molson, als er sich im Waschbecken die Hände wusch und sich dann einen Becher von dem Gebräu einschenkte. Wie er das Zeug in sich hineinschüttete und dabei keinerlei Reaktion zeigte, erlangte meine ungeteilte Bewunderung. Er schaute mich fragend an. Anscheinend musste ich meinen Besuch doch etwas ausführlicher begründen. Zum Teufel mit Hollyfield. Ich dachte, er hätte das geregelt. »Nun, ich beschäftige mich mit dem Fall. Ich bin Privatdetektiv.« »So, so«, murmelte der Doktor. »Ja, eine Freundin von mir kannte die Tote und hat mich gebeten, mal etwas nachzuforschen«, holperte ich mir eine plausible Begründung zurecht. »Linda Farr ist ihr Name, eine Kollegin der Verstorbenen«, schickte ich hinterher. »Verwunderlich«, meinte Molson, »so hilfsbereit kenne ich Hollyfield sonst gar nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Nun denn. Was wollen Sie wissen?« 31
Ja, ging es mir durch den Kopf, was wollte ich eigentlich wissen?
»Ich würde zuerst gern Jennys Leiche sehen.« Eigentlich wollte ich das überhaupt nicht, aber im Moment fiel mir nichts Besseres ein. Molson nickte und führte mich ins Kühlhaus. Er zog eine Lade des Kühlschranks auf und zog mit einem Ruck das Laken von Jennys Körper. Er zumindest genoss den Auftritt. Es war kein schöner Anblick. Der Y-Schnitt war mit groben Stichen vernäht worden, die Würgemale am Hals waren blaurote Striemen und die drei Tage in der Hitze der Wohnung hatten ihr wirklich nicht gut getan. Ich warf den kürzestmöglichen Blick auf den verunstalteten Körper und zog das Laken schnell wieder darüber. Wir gingen zurück in den Obduktionsraum. Doc Molson schenkte sich sofort einen weiteren Kaffee ein und hielt die Kanne in meine Richtung. Ich lehnte dankend ab. »Doktor Molson, haben Sie noch die Kleidungsstücke der Toten?«, fragte ich. Er nickte und ging zu einem Karton, der zwischen anderen in einer Ecke des Raums stand. Mit dem Fuß schob er ihn in meine Richtung. »Hier ist alles drin, was die Tote am Leib getragen hat.« Ich ging in die Hocke und öffnete den Karton, auf dem in großen Buchstaben ›Jenny Dylang‹ stand. Ich hätte es wissen müssen. Kaum hatte ich den Deckel geöffnet, schlug mir Ekel erregender Leichengeruch entgegen. Ich hielt die Luft an. Ein Seitenblick auf den in sicherer Entfernung stehenden Molson zeigte mir, dass sich der Doc köstlich amüsierte. Mit spitzen Fingern zog ich die Kleidungsstücke aus dem Karton und breitete sie auf dem Boden aus. Ein hellblaues Seidenkleid, ein Büstenhalter, schwarz und passend dazu ein Schlüpfer der gleichen Qualität wie die Unterwäsche, die ich in Jennys Kleiderschrank gefunden hatte. Eigentlich wusste ich damit schon alles, was ich wissen wollte. Ganz unten lag noch ein tailliertes Jäckchen, aber das hatte die Tote nicht bei ihrem Ableben getragen, sondern die Polizei hatte es in der Wohnung gefunden. Ich verstaute alles wieder in dem Karton und verschloss ihn. An dem grinsenden Doc vorbei ging ich zum Waschbecken und schrubbte mir die Hände. 32
»Nun, zufrieden?«, fragte Molson, als ich mir die Hände abtrocknete. Ich nickte. »Doktor Molson«, begann ich und überlegte mir genau, wie ich das, was ich jetzt sagen wollte, am besten in Worte fassen konnte. »Doktor Molson, Ihr Obduktionsbericht war sehr knapp. Eigentlich nicht mehr, als was ein erfahrener Cop auch am Tatort hätte feststellen können...« Er hob die Augenbrauen und musterte mich, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. »... wäre es möglich, dass es noch ein paar Dinge gab, die Sie zu erwähnen vergessen haben, weil sie Ihnen unwichtig erschienen?« Ich wartete gespannt auf seine Reaktion. Ich hatte das Gefühl, auf einem Drahtseil über dem Grand Canyon herumzuspazieren. Plötzlich hellte sich die Miene von Molson auf und dann lachte er los. »Pat Connor, private Ermittlungen, wie? Für wie dumm halten Sie mich, Mann? Ich schneide jetzt schon seit dreißig Jahren Menschen auseinander, die sich nicht mehr wehren können und Sie kommen daher und wollen mir meinen Job erklären?« »Verstehen Sie mich nicht falsch, Doc! Ich wollte nur...« »Natürlich verstehe ich Sie nicht falsch. Ich verstehe Sie ganz richtig. Sie halten mich für einen Stümper. Und der wäre ich auch, wenn mir bestimmte Dinge an der jungen Toten nicht aufgefallen wären...« Ich wurde hellhörig. »Und?« »Wenn ich nicht der Stümper wäre, für den Sie mich halten, dann wären mir die Verletzungen im Genitalbereich aufgefallen, die entweder darauf schließen lassen, dass die junge Dame beim Sex eine recht harte Gangart bevorzugte oder vielleicht nicht so ganz damit einverstanden war, was ihr Partner mit ihr vorhatte. Auch wären mir dann bestimmte Holzsplitter entgangen, die sich in ungewöhnlichen Körperöffnungen befanden. Aber da ich nun mal nichts von meinem Job verstehe, habe ich das alles übersehen.« Molson sagte dies alles mit einer Unschuldsmiene, wie ich sie das letzte Mal im Kino bei Buster Keaton gesehen hatte. »Könnte es sein«, fragte ich und ging auf das Spielchen des Doktors ein, »dass Ihnen jemand unnötige Schreibarbeit ersparen wollte?« 33
Jetzt musste der Doc lachen. »Sie begreifen schnell, Connor. Anscheinend sind Sie doch nicht so ein Stümper wie ich.« Er grinste mich an. »Okay, Doc. Ich habe verstanden. Wer Ihnen die Schreibarbeit ersparen wollte, können Sie mir sicher nicht sagen.« Molson schüttelte den Kopf. »Haben Sie und Captain Hollyfield vielleicht gemeinsame Freunde?« Molson nickte versonnen. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Doc. Eine Frage noch, was geschieht jetzt mit der Leiche?« »Soweit ich weiß, versucht die Polizei, Angehörige in Osceola ausfindig zu machen. Bis die ermittelt sind, wenn überhaupt, bleibt Jenny hier bei mir.« Ich bedankte mich und verließ das Institut. Big Bill hatte sich wirklich mächtig ins Zeug gelegt. Meine Vernunft, ein eher wenig beanspruchter Teil meiner Persönlichkeit, riet mir eindringlich, spätestens jetzt die Finger von der Sache zu lassen. Hier wurde mit Kanonen auf Spatzen geschossen und ich war einer davon. * Im Büro fächelte sich Betty wieder Luft zu und glaubte wohl, das wäre Arbeitsleistung genug. Ich klemmte mich mürrisch hinter meinen Schreibtisch, holte den Flachmann und die Unterwäsche aus der Schublade, gönnte mir einen großen Schluck Bourbon und starrte versonnen auf die Schlüpfer. Der Gedanke, in welchem Zustand ich die Trägerin dieser hübschen Kleidungsstücke gesehen hatte, hob meine Stimmung auch nicht. Ich nahm das Telefon und ließ mich mit 379, North Dearborn verbinden. Nach dreimaligem Klingeln hob jemand ab. »Hier Concierge.« »Mister Catlab?« »Nein, hier ist John Leinert. Ich vertrete Mister Catlab.« »Wieso?«, fragte ich ziemlich blödsinnig. »Mit wem spreche ich denn?«, fragte Leinert zurück. 34
»Joe Miller, Immobilienmakler«, gab ich einer plötzlichen Eingebung folgend zurück. »Und was kann ich für Sie tun?« »Sagen Sie mir einfach, was mit Catlab los ist«, raunzte ich ins Telefon. Eine etwas härtere Gangart erschien mir angebracht. »Mister Catlab ist seit vier Tagen nicht mehr zum Dienst erschienen. Ich vertrete ihn.« »Ist er krank?« »Keine Ahnung, da müssen Sie bei der Hausverwaltung nachfragen.« »Danke.« Ich legte auf. »Sagen Sie mal, Pat«, unterbrach Betty meine Gedankengänge, »was ist eigentlich los? Ich kapiere überhaupt nichts mehr. Und nehmen Sie endlich die Unterwäsche vom Tisch, das ist ja pervers.« Als ob Betty überhaupt jemals etwas kapiert hätte, das über zwei Zahlen auf ihrem Gehaltsscheck hinausging. Aber vielleicht war sie ja doch noch für etwas gut. Ich hob das mitternachtsblaue Teil hoch. »Betty, wo kann ich so etwas kaufen?« Sie dachte kurz nach. »Bei Busters in der Lasalle Street...« Ihre Stirn legte sich in Falten, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass ihre grauen Zellen sich der Belastungsgrenze näherten. »Und vielleicht noch im Women's Paradise in der Randolph Street.« »Danke.« Ich griff zum Telefon und ließ mich mit der Chicago Tribune verbinden. Nach einigem Hin und Her hatte ich Brendon an der Strippe. »Hallo Brendon«, meldete ich mich. »Schwitzt ihr euch auch die Seele aus dem Leib?« »Keine Frage«, gab er zurück. »Mir schmilzt schon die Walze von meiner geliebten Underwood. Ich wage kaum noch, eine Zeile zu tippen.« »Hast du heute schon Pläne fürs Mittagessen?« »Ach darum geht's«, gab Brendon zurück. Man konnte ihm einfach nichts vormachen. »Wir wär's bei Henry? Sagen wir um eins?« 35
»Lieber halb zwei«, antwortete er nach kurzem Nachdenken und fügte dann hinzu: »Um was geht's?« »Sag ich dir bei einem Steak. Sind wir klar?« »Okay, ich fasse mich in Geduld.« Betty hatte wieder ihre Lauscher auf Dumbogröße gestellt. Ich lächelte sie unschuldig an. »Sie sollten mich schon einweihen, Boss«, sagte sie und versuchte zu schmollen. Es war so, als ob ein Esel lächeln würde. »Okay, Sie haben Recht«, lenkte ich ein. »Ich gehe jetzt zu Busters, dann zum Women's Paradise und versuche etwas über die Unterwäsche zu erfahren. Dann treffe ich mich mit Brendon. Alles klar?« Das Eselslächeln verschwand. »Das wusste ich auch so schon...« »Sie belauschen mich also«, stellte ich mit gespielter Entrüstung fest. »Das ist aber nicht fein.« »Sie sollten mich in den Fall einweihen, damit ich Sie unterstützen kann, jetzt wo Joe nicht mehr bei uns ist.« Ich hätte wirklich ein bisschen Hilfe von Joe gebrauchen können, aber der lag sechs Fuß unter der Erde und hatte sich selbst nicht helfen können. Die meisten Leute glaubten, Privatdetektive schöben eine ruhige Kugel und vergessen dabei, dass diese Kugel auch mal ganz schnell die letzte sein kann. Doch zu meiner eigenen Überraschung fiel mir etwas ein, was Betty für mich tun könnte. Natürlich ihren Fähigkeiten angepasst. Und die lagen nun mal offen zu Tage. »Hören Sie, Betty, Sie können mir wirklich helfen. Gehen Sie zu Marshall Fields und bewerben Sie sich dort als Verkäuferin...« Ich konnte es nicht glauben. Ihr Gesicht wurde von einem Augenblick zum anderen zu einer Maske der Bestürzung und es traten doch wirklich Tränen in ihre Augen. »Sie kündigen mir«, brachte sie noch hervor, dann brach sie wirklich in Tränen aus. »Nein, nein, Betty. Wie könnte ich Ihnen kündigen! Sie sollen mich bei meinem Fall unterstützen.« Ich erklärte ihr, um was es mir ging. Ich wollte wissen, nach welchen Kriterien man bei Marshall Fields die Verkäuferinnen einstellte und wer diese Einstellungen vornahm. Warum wusste ich nicht, aber bei diesem Fall kam ich mir vor wie ein 36
Elefant im Porzellanladen und der gehörte Big Bill. Wehe, wenn man da eine Tasse zertrat. Betty war sofort einverstanden und wenn ich nicht aufpasste, dann war morgen ihr Name unter dem meinen an der Tür. * Anscheinend hatte man es bei Busters zum Geschäftsprinzip gemacht, dass die dort angebotenen, inspirierenden Wäschestücke keinesfalls mit den Bedienungen in Verbindung gebracht werden konnten. Mir gegenüber stand eine Matrone, für die die Seidenraupen ein paar Jahre lang hätten Sonderschicht fahren müssen, um genügend Stoff zu produzieren, in den sie hineingepasst hätte. Ich ließ mir meine Enttäuschung nicht anmerken. Erzählte eine wilde Geschichte über meine Frau und ließ die Kollektion vor mir ausbreiten. Die Preise entsprachen dem, was Betty mir genannt hatte, eher noch etwas exklusiver. Dann kam der schwierige Teil. Ich schob die Fotografie von Jenny, die ich in ihrem Zimmer an mich genommen hatte, der Matrone über den Ladentisch zu und fragte, ob sie die Lady kenne. Sie gab sich alle Mühe, aber umsonst. Vielleicht konnte man Jenny darauf wirklich nicht wieder erkennen. Ich bedankte mich, machte der Matrone noch ein Kompliment, für das ich wahrscheinlich wegen Missachtung des Gebots ›Du sollst nicht lügen‹ ein paar Jahre länger in der Hölle schmoren müsste und war irgendwie froh, den Laden wieder verlassen zu können. Im Women's Paradise fiel mir das mit den Komplimenten viel leichter, aber das Ergebnis war das gleiche. Anscheinend hatte sich Jenny die Fähnchen nicht selbst gekauft. Was wiederum bedeutete, dass der oder vielleicht auch die, was ich allerdings nicht glaubte, sehr genau wusste, welche Größe der Kleinen passte. Ein solches Wissen erlangt man nur durch eingehendes Studium. Wie dieses ausgesehen hatte, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Zu gut waren mir noch Doc Molsons nicht bemerkte Verletzungen an der Leiche in Erinnerung. Als ich Henry's Steak Diner kurz vor halb zwei betrat, war Brendon schon da und wie es aussah, hatte er schon einige Tassen geleert. Er hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. 37
»Hallo Pat. Ich habe schon das Übliche bestellt. Ist doch in Ordnung, oder?« Ich nickte. Steak war immer gut und Kaffee auch. Aufmerksamerweise schwamm in meiner Tasse der Rest eines Eiswürfels. Eine Gnade bei der herrschenden Hitze. »Also, was brennt dir auf den Nägeln, das du am Telefon nicht besprechen wolltest?« Ich hatte noch nicht einmal Zeit, mir eine Zigarette anzustecken. »Mal langsam, Brendon. Lass mich erst mal einen Schluck nehmen und dann bekommst du die ganze Geschichte.« Ich tat, was ich angekündigt hatte und schob mir eine Lucky Strike zwischen die Lippen. »Was kannst du mir über Marshall Fields sagen?« Er schaute mich an, als ob er eben festgestellt hätte, dass er wirklich Kaffee in seiner Tasse hätte. Sein Gesichtsausdruck sagte überdeutlich: Spinnst du? Wegen einer solchen Sache holst du mich aus dem Büro. Dann hatte er sich wieder gefasst und begann die fünfundsiebzigjährige Geschichte des Kaufhauses herunterzuleiern. Ich unterbrach ihn als er ungefähr im Jahr 1870 war. »Das interessiert mich nicht. Ich will wissen, was du über die Besitzverhältnisse, Geschäftsgebaren und die wichtigsten Leute im Management weißt. Besonders über einen John Atkinson.« Brendon legte die Stirn in Falten. Anscheinend schienen das heute dauernd Leute zu tun, denen ich Fragen stellte. »Bei dem Namen klingelt was bei mir«, meinte er nachdenklich, »aber ich weiß nicht genau, wo. Wieso interessierst du dich für ihn. Wenn du mir ein paar mehr Anhaltspunkte gibst, würde ich besser wissen, in welche Richtung in forschen muss.« »Gibt es eine Beziehung zwischen Marshall Fields und Big Bill?« Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen. Brendon fiel in sich zusammen wie ein Hefeteig im Kühlschrank. In diesem Moment kamen unsere Steaks. Zwischen zwei mächtigen Bissen, die er mit der Gleichmäßigkeit eines Schaufelbaggers in sich hinein schob, meinte er schließlich: »Du willst dich mit Big Bill anlegen? Jetzt bist du komplett übergeschnappt, Pat. Nicht einmal seinen Namen solltest du erwäh38
nen. Custer hatte am Little Big Horn eine größere Chance gehabt als du gegen Big Bill.« Damit sagte er mir nichts Neues. Aber erstens konnte man bestimmte Bitten von bestimmten Polizeicaptains nicht ablehnen und zweitens wusste ich selbst inzwischen so viel über Jenny, dass ich es nicht einfach vergessen konnte. »Ich will gar nichts von Big Bill. Ich ermittle in einem Fall, der mit Marshall Fields zu tun hat und wollte nur ein paar allgemeine Auskünfte. Kümmere dich einfach mal um John Atkinson, okay?« Ich blickte ihn treuherzig an, aber Brendon wäre nicht Brendon gewesen, wenn er nicht Lunte gerochen hätte. Er schüttelte den Kopf, dass seine Hamsterbacken wackelten. »Mach ich, Pat, aber lass dir einen guten Rat geben: Halt dich aus der Sache, was immer es ist, raus. Ich möchte dich nicht bei deinen Eltern besuchen müssen.« Meine Eltern lagen jetzt schon seit ein paar Jahren auf dem Saint Andrews Cemetery draußen in Park Ridge. Ich hatte verstanden. »Wo kann ich dich erreichen?«, fragte Brendon und wischte sich mit der rot karierten Serviette den Mund ab. Ich überlegte kurz. Eigentlich hatte ich schon alles abgehakt. Tatort, Wohnung des Opfers, Leichenschauhaus, Marshall Fields, ich konnte also zurück in mein Büro gehen. »Ich bin in meinem Büro«, antwortete ich. »Wann kann ich mit deinem Anruf rechnen?« Brendon schaute auf seine Armbanduhr. »Bis fünf, höchstens halb sechs, denn um sieben spielen die White Socks.« Er verschwand und ich gönnte mir nach dem Essen noch einen starken Kaffee - mit zwei Eiswürfeln. * Im Büro fand ich auf meinem Schreibtisch einen Zettel mit der unvergleichlichen Handschrift von Betty. Es sah aus, als sei ein Huhn durch ein Tintenfass und dann über ein Blatt Papier gelaufen.
Hallo Boss, 39
bin bei Marshall Fields gewesen. Habe mich beworben. Scheint gar nicht so schwer zu sein, dort einen Job zu bekommen. Sie zahlen 50 Dollar die Woche. Alles Weitere morgen. Ihre Mitarbeiterin Betty
Die ›50 Dollar‹ waren zweimal unterstrichen. Die gute Betty, sie sollte doch nicht glauben, dass Marshall Fields ihr 50 Dollar die Woche fürs Nägellackieren bezahlen wird? Ich ließ mich in meinen Schreibtischsessel fallen und dachte nach. Wie kam ich nur an den geheimnisvollen Verehrer von Jenny ran? Das war die einzige Spur, die ich hatte. Dazu musste ich mich noch einmal mit Linda Farr treffen. Sie war die Spur zu der Spur. Während ich auf Brendons Anruf wartete, konnte ich noch etwas anderes erledigen. Ich griff zum Telefon und ließ mich mit der Hausverwaltung des Apartmenthauses in der North Dearborn verbinden. Nach einigem Hin und Her hatte ich endlich jemanden an der Strippe, der mir ein paar Auskünfte geben konnte. Viel war es allerdings nicht. Der Hausmeister Catlab war wie vom Erdboden verschwunden. Er hatte sich nicht krank gemeldet und in seiner Wohnung, die sich hinter der Concierge-Loge im Erdgeschoss des Gebäudes befand, deutete nichts auf eine geplante Abreise, zu welchem Ziel auch immer, hin. Und ich hatte mit ein paar Tricks die Telefonnummer von Paul Skerry in New York erhalten. Jetzt saß ich da, schwitzte, trank lauwarmen Bourbon und wartete auf mein Ferngespräch nach New York. Die Hitze war einfach nicht auszuhalten. Ich stand auf, ging ins Bad hinüber und wollte mir ein paar Hände kaltes Wasser ins Gesicht werfen. Was allerdings aus der Leitung kam, war eine pisswarme Brühe und ich verzichtete. Endlich klingelte das Telefon. Brendon ließ mich meinen Spruch nicht einmal halb zu Ende leiern. »Stell die Lauscher auf, Pat. Ich sage dir das nur einmal und dann vergesse ich die ganze Sache sofort. Ich habe nie davon gehört und nie irgendjemandem etwas davon erzählt. Das genau waren auch die Worte von meinem Informanten.« »Geht's auch ein bisschen weniger dramatisch«, knurrte ich Brendon an, dessen Ängstlichkeit mir langsam auf den Senkel ging. 40
»Okay, Pat. Eine Tochter einer bestimmten Persönlichkeit ist mit Peter Browman verheiratet, seines Zeichens Sohn von Jack Browman...« »Wer ist Jack Browman?«, unterbrach ich Brendon. »Sag mal, Pat, wie lange lebst du schon in Chicago? Browman besitzt von allem etwas und davon nicht gerade wenig.« »Natürlich auch von Marshall Fields«, warf ich ein. »Sehr gut, Herr Detektiv«, meinte Brendon mit einer Spur von Sarkasmus. »Also, da hast du deine Beziehung. Aber auch Atkinson hängt da mit drin. Er ist ein Neffe von Browman. Ist vor ein paar Jahren hier in Chicago aufgetaucht, hat sich durch die Clubs der Oberklasse getrunken und war auf einmal Personalchef bei Marshall Fields. Seine Qualifikationen für diesen Job waren rein familiärer Natur. Und da er keine Nachkommen haben wird, dürfte die Sache damit erledigt sein.« »Ich habe schon gehört, dass der aus Michigan kommt«, warf ich ein. Brendon verstand es nicht und ich erklärte es ihm. Er lachte und fuhr dann fort: »Kurz nachdem Atkinson in Chicago eingetroffen war, gab es da eine unschöne Geschichte. Er war so dumm, sich auf der Toilette eines Clubs erwischen zu lassen. Die Chicago Tribune berichtete darüber, aber nur ein Artikel. Danach war sofort Ruhe. Man munkelt, dass eine gewisse Person wie ein wütender Stier dafür gesorgt hat, dass die journalistische Freiheit mal wieder den Bach runter ging. Besonders pikant war bei der Sache noch, dass der zweite Mann in der Toilette, ein gewisser Paul Skerry, eine große Nummer bei ›The Jar‹ war. Man hat ihn dann unauffällig nach New York abgeschoben.« Mir klingelten die Ohren. »Das war's«, erklärte Brendon. »Ich kann dich nur noch einmal warnen, Pat.« »Danke, Brendon«, sagte ich und legte auf. In der nächsten halben Stunde malte ich ein paar Namen auf meinen Notizblock, zog Kreise darum und Linien dazwischen, schwitzte mir die Seele aus dem Leib und hatte ziemlich kalte Füße. Dann klingelte das Telefon und mein Gespräch mit New York war da. Eigentlich gab es keinen Grund mehr, mit Paul Skerry zu sprechen. 41
Ich gab mich wieder mal als Immobilienmakler aus und erkundigte mich, ob die Wohnung in der North Dearborn nicht zu verkaufen wäre, jetzt nachdem es zu einem solch tragischen Ereignis gekommen sei. Mr. Skerry gab mir eine klassische Abfuhr, die ich gelassen hinnahm. Mit dem, was ich über ihn wusste, war mir schon klar, dass ich von ihm keine Informationen bekommen würde. * Um halb acht saß ich in meinem Wagen und beobachtete den Personaleingang von Marshall Fields. Mich beunruhigte, dass ich nicht der Einzige war. An der Ecke zur South State stand einer jener unauffälligen Cadillacs, auf denen in unsichtbaren, großen Lettern ›The Jar‹ geschrieben stand. Eigentlich hatte ich auf Linda warten wollen, aber in Anbetracht der neuen Situation änderte ich meine Pläne. Ich ließ Linda mit ihren Kolleginnen unbeachtet zur Bushaltestelle gehen und wartete aus einer Eingebung heraus auf Atkinson. Gegen acht bog er in einem weißen Auburn Cabriolet in die Randolph Street ein. Ich hängte mich an seine Stoßstange. Er fuhr Richtung North-Side die Michigan Avenue hinauf, dann durch den Lincoln Park zur Wellington Avenue. Von Zeit zu Zeit blickte ich in den Rückspiegel, doch der Cadillac blieb verschwunden oder die Jungs waren einfach clever. Atkinson parkte vor einem exklusiven Apartmenthaus in der Wellington Avenue, von wo aus man einen schon unverschämt guten Blick auf den See hatte. Ich parkte meinen Plymouth, der in die Gegend passte wie ein Weihnachtsbaum zum 4. Juli, am Ende des Blocks, rutschte so tief es ging in den Sitz und rauchte eine Lucky nach der anderen, bis schließlich zwei Stunden später Mr. Michigan auf Tour ging. Gerade als ich ihm folgen wollte, rollte mir ein Cadillac vor die Motorhaube. Der Beifahrer spritzte heraus und stand sofort an meiner Wagentür. »Nicht so schnell, Schnüffler. Bleib ganz ruhig.« Was mir nicht schwer fiel, denn in der Hand des Gorillas verlieh ein schwerer 38er seinem gut gemeinten Rat das nötige Gewicht. »Raus jetzt. Du bist zu einer kleinen Spazierfahrt eingeladen.« Er grinste noch nicht einmal dabei. Er trat einen Schritt zurück, damit ich 42
aussteigen konnte. Er schob mich, den 38er in meinen Rücken gedrückt, auf den Beifahrersitz des Caddy und setzte sich selbst hinter mich auf den Rücksitz. »Wo soll's denn hingehen, Jungs?«, versuchte ich locker zu bleiben, obwohl ich keine Zweifel daran hatte, dass diese Landpartie nur einen Verlierer kennen konnte: mich. »Ist doch egal«, knurrte der Fahrer. »Über den Rückweg brauchst du dir keine Gedanken zu machen.« Beide lachten. Ich konnte den Scherz nicht so toll finden, denn die Sache lief üblicherweise so ab: Man fuhr ein bisschen spazieren, eine möglichst einsame Landstraße, dann jagte der Mann auf dem Rücksitz einem eine Kugel in den Kopf und man wurde aus dem Wagen geworfen. So einfach löst man in bestimmten Kreisen Probleme. Ich verschwendete keinen Gedanken an meinen Smith & Wessen, der wie üblich in meiner Schreibtischschublade lag. Eigentlich hatte ich ja eine junge Dame ausführen wollen und dazu brauchte man eine ganz andere Art von Kanone. Wir ließen die westlichen Vororte hinter uns und inzwischen war es stockdunkel geworden. Wenn ich meinen Kopf aus der Schlinge ziehen wollte, musste ich irgendwann handeln. Der Versuch, die beiden in ein Gespräch zu verwickeln, hatte nicht gefruchtet. Sie waren so stumm, wie sie mich machen wollten. Unzweifelhaft gehörten sie aber zu ›The Jar‹ O'Malley. Wir waren irgendwo in Kane County unterwegs. Manchmal erkannte man weit abseits die Lichter einer einsamen Farm oder einen Kirchturm gegen den mondhellen Nachthimmel. »Findet ihr nicht, Jungs, dass wir jetzt genug herumgegondelt sind?« »Du kannst es wohl gar nicht erwarten«, gab der Kerl auf dem Rücksitz gelangweilt zurück. Vor uns im Scheinwerferlicht tauchte eine scharfe Linkskurve auf. Der Fahrer ging vom Gas und als er in die Kurve einlenkte, riss ich die Tür auf und ließ mich aus dem Wagen fallen. Ich knallte auf den ausgetrockneten Boden, rollte mich ab und erreichte mit ein paar schnellen Sätzen das Gebüsch neben der Straße. Hinter mir hörte ich Bremsen kreischen. Der Wagen wurde gewendet, während gleichzeitig jemand in meine Richtung rannte. Die Lichtkegel der Scheinwerfer 43
huschten durch das Gebüsch. Ich presste mich auf den Boden. Hier konnte ich nicht bleiben. Der Schmerz in der rechten Hand, die den größten Teil des Sturzes abgefangen hatte, machte die Sache nicht einfacher. In diesem Moment brach einer der beiden links neben mir ins Gebüsch. Ich schob mich vorsichtig ein Stück nach vorne, damit ich die Straße überblicken konnte. »Hast du ihn, George«, rief der Fahrer vom Wagen her in meine Richtung. »Nein, verdammt!«, kam es gefährlich nah bei mir zurück. Ich hatte nur eine Chance. Die beiden würden davon ausgehen, dass ich von ihnen weg fliehen würde und genau das würde ich nicht tun. Ich kroch noch etwas zur Seite und hoffte aus dem Blickwinkel des Kerls am Wagen herauszukommen. Glücklicherweise war der damit beschäftigt, den Bereich mit den Büschen auszuleuchten. Ich gelangte ungesehen hinter den Cadillac, während sich die beiden Burschen gegenseitig im Fluchen zu übertreffen versuchten. Schließlich merkte George, dass das nicht sehr hilfreich war. »Halt doch endlich mal die Klappe, Sean!«, rief er aus dem Gebüsch heraus. Ich schlich mich hinter den Fahrer, der immer noch neben der Motorhaube stand und in das Lichtbündel hineinstarrte. »Hast du ihn?« Keine Antwort. »Das kann doch nicht so schwer sein, George.« »Halt verdammt noch mal die Klappe«, fluchte George. »Ich kann bei deinem Gebrüll hier keinen Laut hören. Wie soll ich denn den Schnüffler finden!« Ich trat hinter Sean, legte ihm den Arm um den Hals und wollte ihn ins Reich der Träume schicken. Doch ich hatte ihn unterschätzt. Er entwand sich meinem Griff, drehte sich um und ich spürte den Lauf einer großkalibrigen Waffe in meiner Magengrube. »Ich hab...« Ich hatte blitzschnell nach der Waffe gegriffen und den Lauf in dem Moment zur Seite gedreht, als der Killer abdrückte. Die Kugel riss ein beachtliches Loch in seine Seite und der Rest des Satzes ging in einem Röcheln unter. Sean brach stöhnend zusammen. Ich entwand 44
ihm den Revolver und ging in Deckung. Keine Sekunde zu früh. Klirrend durchschlug eine Kugel die Motorhaube direkt neben mir, eine weitere ließ die Windschutzscheibe zersplittern. Ich feuerte drei Schüsse in Richtung des Mündungsfeuers. Einer traf. Ich ging aus dem Lichtkegel der Scheinwerfer und schlich vorsichtig zum Gebüsch. Auf Verdacht feuerte ich noch einen Schuss ins Gebüsch. Eine Kugel wollte ich mir für alle Fälle aufsparen. Es war nicht notwendig. George lag verkrümmt ein paar Meter weiter. Ich hatte einen Glückstreffer gelandet. Die Kugel hatte ihm den halben Hals weggerissen und er war schon tot, als ich ihn fand. Ich ließ ihn liegen und ging zum Wagen zurück. Sein Kumpel Scan war bewusstlos und blutete stark aus einer üblen Wunde auf der rechten Seite. Die Schweine hatte zwar versucht mich umzubringen und hätten es auch so beiläufig getan, wie sich unsereins eine Zigarette ansteckt, aber das war nicht meine Liga. Ich hievte den Gangster auf den Rücksitz und versuchte den Rückweg nach Chicago zu finden. Wenn es Sean schaffen würde, gut, wenn nicht, vielleicht noch besser. Ein Revolverheld weniger in Chicago. Eine Stunde später legte ich den wieder zu Bewusstsein gekommenen und vor sich hin wimmernden Sean vor dem St. Joseph Hospital ab und schenkte mir die Formalitäten. Ich hatte noch etwas zu erledigen. Die Wellington Avenue war gleich um die Ecke. Ich parkte den ramponierten Caddy direkt hinter Atkinsons Auburn. Er war inzwischen von seiner Tour zurück, schließlich war es ja auch schon kurz nach drei Uhr nachts. Dann ging ich zu meinem Plymouth, der ganz unschuldig am Straßenrand auf mich wartete und fuhr nach Hause in die North Clarke Street. * Es war fast Mittag, als ich am nächsten Tag im Büro aufkreuzte. Bettys Fingernägel waren schon perfekt lackiert und bevor ich noch an meinem Schreibtisch saß, brabbelte sie los. 45
»Heute Morgen war die Hölle los. Quirrer hat drei Mal angerufen und ich muss Ihnen doch noch sagen, was ich bei Marshall Fields herausgefunden habe.« »Immer mit der Ruhe, Betty. Ich habe eine lange Nacht hinter mir und brauche jetzt erst einmal einen guten Schluck.« Sie wartete auch nicht ab, bis ich den Rest aus dem Flachmann in meinen Magen umgefüllt hatte, sondern redete einfach weiter. »Also bei Marshall Fields könnte ich sofort anfangen. Für fünfzig die Woche.« Auch jetzt konnte ich die doppelt unterstrichene Fünfzig deutlich hören. »Sie brauchen immer Verkäuferinnen mit meinen Talenten.« Sie warf sich in Pose und ich konnte mir schon vorstellen, welche Talente sie meinte. »Die Einstellungen nimmt normalerweise Mister Wenders vor, aber die letzte Entscheidung hat bei weiblichen Kräften der Personalchef, Mister Atkinson.« »Bei dem werden Sie kein Glück haben«, warf ich ein. »Wieso?« »Er kommt aus Michigan.« Bettys Gesicht verformte sich zu einem Fragezeichen. Weitere Erklärungen blieben mir erspart, weil in diesem Moment die Bürotür aufflog und Lieutenant Quirrer mit zwei Wachhunden in mein Büro stürmte. Die beiden Sergeanten bauten sich neben der Tür auf und Quirrer stürmte an Betty vorbei zu meinem Schreibtisch. Er stützte sich mit den Händen darauf und brachte sein Gesicht so nah an meins, dass ich seinen Atem leider riechen konnte. »Connor, machen wir es kurz. Was haben Sie gestern Nacht gemacht?« Ich lehnte mich zurück, um aus seinem Luftzug zu kommen. »Weiß ich nicht«, antwortete ich, »ist schon zu lange her.« Die Röte in seinem Gesicht konnte nicht nur von der Hitze stammen. »Soll ich Ihnen mal etwas sagen, ich weiß genau, was Sie gestern Nacht gemacht haben.« 46
»Prima, aber erzählen Sie's mir nicht. Vielleicht müsste ich mich dafür schämen.« Betty kicherte. Quirrer fuhr herum. »Sie halten sich da ganz raus«, blaffte er sie an. Dann gehörte wieder seine gesamte Aufmerksamkeit mir. »Und was haben Sie heute Abend vor?« Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, so weit plane ich nicht voraus.« Wäre Quirrers Kopf ein Heizkessel, dann wäre es höchste Zeit, das Druckventil zu öffnen. Leider tat er das auch. »Connor, ich weiß ganz genau, was Sie letzte Nacht getrieben haben.« Er schaffte es tatsächlich für einen Moment bedrohlich zu wirken. »Sie sind mit einem Cadillac hinaus nach Kane County gefahren, haben dort einen Mann erschossen und einen zweiten schwer verletzt. Die Ärzte glauben nicht, dass sie ihn durchbringen werden. Dann haben Sie noch die Unverfrorenheit besessen, den schwer Verwundeten einfach vor dem St. Joseph's Hospital aus dem Wagen zu kippen. Danach haben Sie den zerschossenen Caddy in der Wellington Avenue abgestellt.« Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Betty einer Ohnmacht nahe war. Sie schaute mich an, als sei ich Jack the Ripper. Die Leute im Hintergrund waren auf Zack. Die Frage war nur, wer da seine Finger im Spiel hatte. Ich tippte auf ›The Jar‹. Eigentlich war klar, dass Quirrer von O'Malley geschmiert wurde, wenn sein Chef auf der Gehaltsliste vom Cardinale stand. »Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden?«, versuchte ich erst einmal Zeit zu gewinnen. »Das geht Sie überhaupt nichts an, Pat.« Der Sarkasmus triefte Quirrer förmlich aus den Nasenlöchern. »Hat außer Ihnen noch jemand heute Nacht schlecht geträumt, Quirrer?«, fragte ich und stand auf, damit ich nicht länger zu dem Lieutenant aufblicken musste. »Meine schlechten Träume sind Ihre Alpträume, Connor!« »Jetzt mal Klartext, Quirrer. Wer hat Ihnen denn diese wilde Geschichte verkauft? Hoffentlich haben Sie noch ein paar Cents übrig, um sich einen ordentlichen Schnaps zu kaufen.« 47
Quirrer beruhigte sich etwas. Anscheinend hatte das Vögelchen zwar ein nettes Lied gepfiffen, aber die Notenblätter dazu fehlten. »Connor, glauben Sie nur nicht, dass Sie Ihren Kopf aus der Schlinge ziehen können. Sobald der Mann in St. Joseph vernehmungsfähig ist, haben wir einen Zeugen. Irgendwas werden wir schon finden. Sie sind nicht aus dem Schneider.« »Was meint eigentlich Ihr Vorgesetzter zu der wilden Aktion?« Quirrer grinste wirklich hämisch. »Mein Vorgesetzter? Meinen Sie etwa den guten Hollyfield?« Mir schwante nichts Gutes. »Haben Sie noch einen anderen außer Hollyfield und O'Malley, der Ihnen sagt, was Sie tun sollen?« »Mir sagt keiner, was ich tun soll. Das weiß ich schon sehr gut selbst«, fuhr mich der Lieutenant an. »Captain Hollyfield ist für fünf Tage auf einer Tagung in Detroit.« Und dabei grinste er wirklich über sein ganzes Gesicht. Ich schaffte es gerade noch, nicht in meinen Stuhl zu sacken. Das würde ich Hollyfield nie verzeihen. Erst setzte er mich auf seinen Fall an, bei dem ich mich wahrscheinlich mit den einflussreichsten Typen in ganz Chicago anlegen musste und die Killer schon Schlange standen, mich umzulegen und dann setzte er sich nach Detroit ab. »So, schön für ihn, er hat den Urlaub sicher verdient«, brachte ich hervor. »Der Bürgermeister selbst hat ihm das gegönnt.« Ohne dass Quirrer es gewollt hatte, stieg Hollyfield wieder in meiner Achtung. Anscheinend hatte man ihn loswerden wollen. »Connor, heute sind Sie mir noch einmal davongekommen. Aber sobald der Zeuge spricht, werden Sie sich wünschen, Farmer in Nebraska zu sein und jeder Tornado ist eine sanfte Brise gegen das, was ich dann mit Ihnen anstelle. Sie halten sich...« »... zur Verfügung«, beendete ich den hinlänglich bekannten Satz. Quirrer sammelte seine beiden Wachhunde ein und verließ mein Büro. Die Tür fiel scheppernd ins Schloss. »Pat...?« Betty blickte mich entsetzt an. »Betty, glauben Sie mir einfach, je weniger Sie wissen, desto besser ist es für Sie. Bleiben Sie an der Sache bei Marshall Fields dran. Sie 48
können mir einen Gefallen tun, wenn Sie sich mal bei den Verkäuferinnen umhören. So von Frau zu Frau.« »Und um was geht es da?« »Das weiß ich selbst nicht, Betty. Irgendeine große Schweinerei, aber ich weiß nicht welche. Halten Sie sich zurück. Sagen Sie keinesfalls, dass Sie bei mir arbeiten, verstanden?« Sie nickte. »Und jetzt haben Sie frei.« Ich musste nachdenken und dabei war Betty eher hinderlich. * Am besten nachdenken konnte ich bei Dunky. Das heißt, er selbst war nicht so wichtig, eher der Stoff, den er ausschenkte. Aber selbst nach dem dritten Denkbeschleuniger hatte ich das Gefühl, vor einem Puzzle zu sitzen, bei dem mehr Teile fehlten, als auf dem Tisch lagen. Ich versuchte es mit einem Grant. Dunky hob beide Augenbrauen, als er den Fünfziger auf dem Tresen liegen sah. Das waren immerhin zwei Tage harte Arbeit für mich, aber Hollyfield würde es auf seiner Spesenabrechnung wieder finden. »Dir muss es aber schlecht gehen«, knurrte Dunky und strich sich über die Glatze. »Ich sitze in der Scheiße, Dunky«, gab ich offen zu. »Sämtliche Killer in Windy City stehen Schlange, um mich alle zu machen und ich weiß nicht warum.« »Mir würden da schon ein paar Gründe einfallen«, gab er zurück. »Aber mal ehrlich, Pat, was willst du?« »Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, was ich habe. Ich habe einen Typ aus Michigan...« Tatsächlich verzog sich Dunkys Gesicht wieder zu einem Grinsen und er nickte. »... die Leiche einer Verkäuferin von Marshall Fields, mit ein paar eigentümlichen Verletzungen dort, wo es eigentlich Spaß machen sollte und Big Bill, der sich in die Sache reinhängt, als ob es um seine eigene Tochter ginge.« 49
Dunky schaute sich aus den Augenwinkeln um. Die paar Gäste, die um diese frühe Nachmittagsstunde schon in der Kneipe waren, befanden sich alle außer Hörweite, zumindest, wenn man nicht allzu laut sprach. Der Neue stand wie festgenagelt an der Tür und wartete auf Schneewittchen. Dunky beugte sich zu mir über den Tresen. »Der Hinterlader macht irgendwelche krummen Geschäfte und die Verkäuferin mag sich etwas dazuverdient haben. Das Letzte ist nur eine Vermutung. Versuch's mal im Blue Bayou. Man munkelt, das sei eine Filiale von Marshall Fields. Aber ich höre mich mal um. Sei vorsichtig, Pat.« Anscheinend hatten alle nichts Besseres zu tun, als mir gute Ratschläge zu erteilen. Doch wenn sich schon Dunky in die Reihe der Schwarzseher einreihte, dann war es eigentlich an der Zeit, den Beruf zu wechseln und Farmer in Nebraska zu werden. Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. »Danke«, gab ich zurück und meinte es wirklich so. »Morgen Abend, so gegen acht«, flüsterte mir Dunky noch zu. Der Grant lag immer noch da, wo ich ihn hingelegt hatte. Dunky war manchmal wirklich ein Freund. * Ich ließ mich mit einem Taxi zum Blue Bayou fahren. Es hatte keinen Sinn, gleich mit meinem alten Plymouth den falschen Eindruck zu erwecken. Das Blue Bayou war oberste Oberklasse und würde die Spesenabrechnung von Hollyfield in astronomische Höhen treiben, aber ich war ja schließlich nicht zu meinem Vergnügen da. Nach meinem Besuch bei Dunky und nachdem ich beschlossen hatte, dem Blue Bayou noch heute Abend einen Besuch abzustatten, hatte ich mir einen Smoking geliehen. Ohne hätte ich es in dem Edelschuppen gar nicht erst zu versuchen brauchen. Das Frackhemd war zwar etwas eng und die Fliege hatte ich mir gleich noch im Verleih binden lassen, aber an sich sah ich ganz passabel aus. Zumindest beäugte mich der Türsteher nicht übermäßig misstrauisch. 50
Kaum hatte ich die heiligen Hallen betreten, fragte mich auch schon ein Pinguin, ob ich reserviert hätte. Ich schaute ihn abfällig von oben bis unten an, so als ob ich Betty vor mir hätte und schob ihm gleichzeitig einen Jackson in die Brusttasche. Er schaute mich an wie etwas, in das man auf der Straße nicht unbedingt treten wollte, ignorierte den Jackson und führte mich an die Bar, die sich endlos auf der linken Seite des Saals entlang zog. Der Bartender trug einen besseren Smoking als ich. Glücklicherweise war mir schon vorher klar, dass dieser Besuch nicht angenehm werden würde. Ich bestellte einen Bourbon. »Four Roses, Daniels, Jim Beam, Canadian Club, Seagrams?« Es klang wie in der guten alten Zeit. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gehört. Normalerweise war Bourbon Bourbon und man konnte froh sein, wenn das Gesöff irgendwelche Erinnerungen an die gute alte Zeit auslöste. Meistens aber nicht. »Daniels«, bestellte ich in Erinnerung an die alten Tage. Als der Bartender den Drink vor mich hinstellte, konnte ich mich gerade noch rechtzeitig beherrschen, nicht in die Tasche zu greifen und ein paar Scheine auf den Tresen zu blättern. Das wäre bestimmt unpassend gewesen. Der Stoff lief wie Öl meine Kehle hinunter. Ich konnte nicht anders und ließ mir gleich nachschenken. Dann wandte ich mich dem Saal zu. Das Blue Bayou war gut besucht. Auf der Bühne spielte Jean Goldkette and His Orchestra, eine der bekanntesten Bands und hochklassige Solisten lösten sich mit ihren Soli ab. Auf der Tanzfläche drehten sich die Paare und an den Tischen im Saal herrschte ausgelassene Stimmung. Ich sah einige Stadträte, die ihre Schmiergelder verprassten, einige Unternehmer, die das Gleiche mit ihrem Blutgeld machten, den Polizeipräsidenten und seinen Stellvertreter und einige Vertreter der Unterwelt, die längst schon den Ritterschlag der oberen Zehntausend erhalten hatten. Ich konnte nicht den ganzen Saal überblicken, doch ein Tisch vorne an der Bühne lag genau in meinem Blickfeld. Daran saß das Teiggesicht und neben ihm Scan ›The Jar‹ O'Malley. Dazu kam noch eine Reihe von honorigen Gentlemen, die sich durch zwei Merkmale auszeichneten: Ihre Kleidergrößen entsprachen ihrem 51
Bankkonto und in ihrer Begleitung waren junge Damen, denen es gut gestanden hätte, die Herren Daddy zu nennen. Allerdings verhielten sie sich nicht so, wie es sich Töchtern ziemte. Ich machte mir so meine Gedanken und brauchte dazu noch einen Daniels. Alles deutete darauf hin, dass hier etwas am Laufen war, was mir gar nicht gefallen würde. Ich nippte an meinem Bourbon, obwohl ich ihn am liebsten mit einem entschlossenen Ruck hinter die Binde gekippt hätte. Aber Hollyfields Spesenkonto war nicht unbegrenzt belastbar. »Neidisch?«, fragte ein rauchiger Alt neben mir. Ich drehte mich nach rechts, von wo der Alt mich angesprungen hatte. Auf dem Barhocker neben mir hatte eine jener Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts Platz genommen, bei deren Anblick Klosterschüler einen neuen Rekord im Dauerkaltduschen aufstellen würden. Nun, ich war kein Klosterschüler, aber schlucken musste ich trotzdem. »Wie meinen Sie?«, fragte ich zurück. »Na, ob Sie neidisch sind?« Sie deutete mit ihrer langen Zigarettenspitze, in der eine noch nicht brennende Zigarette steckte, beiläufig zu dem Tisch hinüber, auf den ich gestarrt hatte. Ich machte erst einmal auf Gentleman und gab ihr Feuer. »Auf die Herren oder die Damen?« Sie lachte. »Gut gekontert. Vielleicht auf beide?« Ich ließ mir Zeit mit der Antwort. Die Lady nippte an ihrem Highball. Nicht alles an ihr war perfekt. Die Kleidung sehr wohl. Sie trug ein ärmelloses, cremefarbenes Seidenkleid mit einem beachtlichen, aber nicht unanständigen Ausschnitt, eine Perlenkette, mit der man eine ganze Kompanie Kavallerie hätte an den Marterpfahl fesseln können, zum Kleid passende High Heels und ihr Haar war perfekt frisiert. Der schwarze, nach neuester Mode zum Bubikopf geschnittene Schopf lag wie ein Helm an ihrem Kopf. Die dunkelrot geschminkten Lippen glänzten fast violett in der bläulichen Beleuchtung des Blue Bayou. Nur ihre Hände zeigten, dass sie mit den jungen Dingern am Tisch des Teiggesichts nicht mehr konkurrieren konnte. Aber ihre besten Tage hatte sie bestimmt noch nicht hinter sich. 52
»Ich komme nicht aus Michigan«, sagte ich schließlich, worauf sie mich fragend ansah und meinte: »Sollte das irgendeine Bedeutung für mich haben?« »Vergessen Sie es. Es tut nichts zur Sache.« Sie leerte ihr Glas. »Spendieren Sie mir einen, Mister...« »Connor«, vervollständigte ich den Satz. »Aber nennen Sie mich doch einfach Pat.« »Schön, Sie zu treffen, Pat. Ich heiße Monica. Und wie ist es mit dem Drink?« Ich gab dem Bartender ein Zeichen, unsere Gläser noch einmal aufzufüllen. Im Moment war mir Hollyfields Geldbeutel ziemlich egal. Jean Goldkettes Orchestra spielte gerade My Pretty Girl und ein pomadiger Sänger schmachtete in das Mikrofon, dass wahrscheinlich alle Frauenherzen im Saal dahin schmolzen und die Männer sich schworen, dem Kerl die Eier abzureißen. Monika schien nicht besonders beeindruckt zu sein. »Was sollte die Frage, ob ich neidisch bin?« Ich wandte mich von der Bühne ab und blickte meine Gesprächspartnerin direkt an. Ihre roten Lippen schlossen sich um das Highballglas wie die Lippen einer Nonne um die Hostie. »Na, Sie hätten mal sehen sollen, wie Sie dort hinübergestarrt haben.« Über das Glas hinweg funkelten mich ihre grünen Augen an. »Rein akademisches Interesse«, gab ich zurück. Monika stieß ein belustigtes Seufzen aus. »Dieses akademische Interesse kenne ich. Es bleibt nur so lange akademisch, bis das Blut aus dem Gehirn den Weg in andere Organe gefunden hat.« »Sie sind wohl nicht gut auf Männer zu sprechen? Haben Sie sich da nicht den falschen Gesprächspartner ausgesucht?«, entgegnete ich. »Nur eine bestimmte Sorte und Sie gehören bestimmt nicht dazu, Pat.« »Nun unterschätzen Sie mich mal nicht«, protestierte ich. »Sie unterschätzen?« Sie musterte mich von oben bis unten, was sie aber bestimmt schon ausgiebig getan hatte, bevor sie mich angesprochen hatte. »Geliehener Smoking, Schuhe, die nicht dazu passen. 53
Sie trinken, als ob Sie bei jedem Schluck die Dollarnoten aus der Tasche segeln sehen würden... Soll ich noch weitermachen?« Ich schüttelte den Kopf. Die Lady schien über eine hervorragende Menschenkenntnis zu verfügen. »Gut, dann hätten wir das ja hinter uns.« »Nicht beleidigt sein, Pat.« »Und Sie?«, fragte ich Monica, »was ist Ihre Story?« »Die übliche. Bin mal jung gewesen, so wie die Hühner dort drüben und habe einen von den Geldsäcken dort geheiratet. Dann bin ich alt geworden...« Ich setzte an, ihr zu widersprechen, doch sie winkte ab. »... und er fett. Schließlich hat er gemerkt, dass er sich mit seinem Geld mich immer wieder in einer jüngeren Ausführung kaufen konnte. Anfänglich lief das alles noch nebenbei, aber irgendwann hatte ich die Schnauze voll.« Der Rest von dem Manhattan verschwand in ihrer Kehle. Monica war wohl Stammgast an dieser Tränke, denn sofort war der Bartender da, um ihr nachzuschenken. Ich revidierte meine Altersschätzung bei der Lady, aber gestand ihr neidlos zu, dass sie in der Lage war, problemlos die Natur ein ganzes Stück weit zu überlisten. »Wissen Sie, es macht keinen Spaß, wenn sich diese jungen Schnepfen bei Marshall Fields die Mäuler zerreißen, wenn man einkaufen kommt.« Als Monica Marshall Fields erwähnte, bekam ich ganz automatisch Ohren wie Betty, wenn ich telefonierte. »Marshall Fields?«, fragte ich erstaunt. Meine Gesprächspartnerin war richtig in Fahrt gekommen und je schneller sie sprach, desto deutlicher bemerkte man ihren leichten Zungenschlag. Sie hatte auch beim Vertilgen der Manhattans eine Geschwindigkeit an den Tag gelegt, die jeder Tommy Gun zur Ehre gereichen würde. »Ach, vergessen Sie's«, wiegelte sie ab. »Hat nichts zu bedeuten.« Monica stürzte einen weiteren Manhattan hinunter. Ich versuchte dem Bartender ein Zeichen zu geben, die Frequenz etwas zu reduzieren. Vergeblich, er hatte ganz offensichtlich andere Ge54
schäftsinteressen. Ich legte meine Hand vertraulich auf Monicas Arm. »Meinen Sie nicht, dass wir besser gehen sollten?« »Ist das ein Angebot, schöner Fremder?« »Vielleicht. Soll ich Sie nach Hause bringen?« Monica musterte mich ein weiteres Mal von oben bis unten. »Keine schlechte Idee«, meinte sie und rutschte vom Barhocker herunter. Stehen konnte sie noch. Ich zog meine Brieftasche hervor und suchte nach ein paar Scheinen. »Lass gut sein, Pat«, sagte Monika und schob meine Hand mit der Geldbörse beiseite. »Von einem Mann im geliehenen Smoking kann ich keinen Drink annehmen. Ich mach das schon.« Sie holte aus ihrem Perlentäschchen einen Hunderter hervor und legte ihn auf die Theke. Es schien selbstverständlich zu sein, dass sie kein Wechselgeld erwartete. Hollyfield war der Lady zu ewigem Dank verpflichtet. Wir gingen den schmalen Gang zwischen den Tischen und der Wand zum Ausgang. An der Garderobe holte sie ihre kurze Jacke, eher ein nettes Accessoire, als dass man sie wirklich bei den draußen immer noch herrschenden Temperaturen gebraucht hätte. Dann entschuldigte sie sich für einen Augenblick auf die Toilette. Ich betrachtete mich in dem neben der Garderobe befindlichen großen Spiegel. Konnte man wirklich erkennen, dass der Smoking geliehen war? Ich jedenfalls nicht. Monica musste schon ziemlich vertraut mit gediegener Garderobe sein, um so etwas auf den ersten Blick festzustellen. Im Spiegel sah ich, wie die Tür der Damentoilette aufging. Und heraus kam Linda Farr. Ich musste zweimal hinsehen. Sie war es wirklich, aber gleichzeitig von dem Mädchen aus der North Sangamon so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Das Kleid, das sie trug, war erste Sahne und darunter hatte sie ohne Zweifel Wäsche, die der von Jenny Dylang in nichts nachstand. Ihre Augen waren ganz dunkel geschminkt, die Augenbrauen mit einem geschwungenen Lidstrich nach oben gezogen und der feuchte Schimmer auf ihren Lippen zeugte von Kosmetika der Oberklasse. In dem Kleid, das sie trug, machte sie eine erstklassige Figur, ganz anders als die strenge Tracht, in der ich sie ausgeführt hatte. Und sie wusste, wie gut sie aussah. Jeder ihrer Schritte sagte: 55
›Seht her, das bin ich und du solltest schon genügend Präsidenten in der Tasche haben, wenn du mich ansprichst.‹ Dem Pinguin am Eingang zum Ballraum des Blue Bayou schenkte sie eine gutmütig herablassende Geste, die dieser mit einer Verbeugung beantwortete, die ihm fast das Gebiss aus dem Gesicht fallen ließ. Es bestand keine Gefahr, dass sie mich entdeckt hatte. »Na, Süßer, bist du in dein Spiegelbild verliebt?« Monica stand hinter mir. Der Aufenthalt im Ladys Room hatte ihr gut getan. Sie schien wieder stocknüchtern. »Geh'n wir?«, fragte ich sie und bot ihr meinen Arm. »Wann immer du willst, Cowboy«, meinte sie und lachte dabei verheißungsvoll. »Lass deinen Wagen kommen.« Ich setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. »Ich bin mit dem Taxi gekommen.« »Hätte ich mir denken können. Geliehener Smoking - Taxi. Ihre Kiste sollte sich wohl nicht schämen.« Monica hätte Detektiv werden sollen. Sie konnte wirklich eins und eins zusammenzählen und bekam immer zwei heraus. Ich nickte diesmal wirklich zerknirscht. Sie hatte mir mehr als das Blue Bayou, die Getränkepreise und der Pinguin klargemacht, dass ich mich weit außerhalb meiner Liga bewegte. Aber genauso selbstverständlich, wie sie den Bartender bezahlt hatte, ging sie auch darüber hinweg. »Okay, nehmen wir meinen, aber Sie fahren, Pat. Ich glaube, ich kriege das nicht mehr hin.« Sie winkte dem Türsteher, drückte ihm die Autoschlüssel und einen Lincoln in die Hand. Er stellte keine Fragen, schien genau zu wissen, welchen Wagen Monica fuhr. Bei einem Stammgast konnte man das auch voraussetzen. Was er dann vor uns abstellte, war ein Traum in Weiß. Das neueste Packard-Cabriolet, weiße Ledersitze und ein Motor, der nicht röchelte oder keuchte, sondern fast lautlos vor sich hinschnurrte. Ich rutschte auf den Fahrersitz und wartete, bis Monica sich neben mir in den Beifahrersitz gekuschelt hatte. »Wohin?« »Nach Hause.« 56
»Und wo ist das?« »North Lake View Avenue.« Natürlich auf der North-Side. Beste Adresse. Hatte ich etwas anderes erwartet? Schweigend rollten wir durch die laue Sommernacht. Erst zum South Lake Shore Drive, dann den Drive am Ufer des Michigan Lake hoch, Richtung Norden. Der Fahrtwind verschaffte uns etwas Kühlung in der immer noch warmen Nacht und alles war perfekt. Als wir am Jachtclub vorbeikamen, war der Hafen mit Lichtern übersät. Doch ich hatte anderes im Sinn, als die Nacht zu genießen. »Monica, wer sind Sie eigentlich?« »Eine Frau«, gab sie zurück und blickte mich herausfordernd an. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihr Kleid nach oben schieben würde. Sie tat es nicht. »Ich meinte außer dem, was ich sehe. Sie sprachen von Ihrem Mann...« »Ach, daher weht der Wind.« »Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe und von Ihnen weiß ich nur, dass Sie eine Schwäche für Manhattans haben, genügend Geld, um dieser Schwäche im Blue Bayou zu frönen und Ihr Schiff mal im Hafen der Ehe dümpelte.« »Dann wissen Sie schon mehr über mich als ich über Sie, Pat.« Die Antwort war gut, fast zu gut. Ich überlegte, wie ich weiterkam. Bevor ich damit fertig war, lachte Monica. »Gut, Pat, ich will nicht, dass Sie vor Neugierde sterben. Außerdem würde ein Schnüffler wie Sie es sowieso schnell herausbekommen.« Wenn ich einen Hut aufgehabt hätte, hätte ich ihn jetzt vor ihr gezogen. Mein Gesichtsausdruck musste entsprechend gewesen sein. Ich ging vom Gas und bog vom Lake Shore Drive in die North Avenue ein. »Wie kommen Sie darauf?« »Pat, Pat, Pat«, rügte sie mich wie ein kleines Kind. »Das Blue Bayou ist weit außerhalb Ihrer Klasse. Warum also sollte jemand mit einem geliehenen Smoking dort auftauchen? Doch nur, wenn er ein Schnüffler und hinter jemandem her ist...« 57
»Wie kommen Sie...« »Ich will gar nicht wissen, wer es ist oder von wem Sie Ihren Auftrag haben. Interessiert mich nicht, ehrlich.« Sie rutschte mehr in die Mitte und legte mir ihre Hand aufs Knie. »Aber um Ihre Neugierde zu befriedigen: Mein voller Name ist Monica Browman. George, mein ehemaliger Mann, besitzt halb Chicago und die Scheidung hat ihn richtig Geld gekostet. Aber der alte Sack hat sich aufgeführt wie ein streunender Kater. Keine Muschi war vor ihm sicher. Deshalb habe ich den Hafen geschlossen, wie Sie es so schön ausgedrückt haben.« Wir waren inzwischen in der North Lake View Avenue am Lincoln Park. »Da vorne ist es«, sagte Monica. Es war ein dreistöckiges Apartmenthaus, das schon von außen nach Geld aussah. Ich steuerte den Wagen an den Randstein, stieg aus und hielt Monica die Tür auf. Für einen Moment stand sie ganz nah bei mir und ich konnte ihren Körper fast vibrieren spüren. »Kommen Sie noch auf einen Drink mit herauf, Pat?« Es war, als ob der Schein der Straßenlaterne jede Maske durchdringen würde. Etwas viel Schminke, doch das Gesicht darunter war ohne Zweifel hübsch. Ihre Augen blickten mich traurig an. Sie wusste, dass ich ablehnen würde. Sie trat einen Schritt zurück und murmelte: »Schade, es wäre vielleicht nett geworden.« Einen Moment hoffte sie noch, doch ich brachte keinen Ton heraus. »Um diese Zeit bekommen Sie hier kein Taxi mehr und ich denke, Ihre Wohnung liegt selbst für einen ausgedehnten Spaziergang zu weit entfernt.« Auch damit hatte sie Recht. Meine Behausung lag gut drei Meilen und mindestens fünfhundert Dollar weiter südlich. »Bringen Sie mir den Wagen einfach morgen vorbei.« Sie drehte sich um, ging auf das Eingangsportal zu und schaute nicht mehr zurück. * Ich machte mir nicht die Mühe, den Wecker zu stellen. Ich hatte genaue Vorstellungen, wann ich morgens bei der Lady auftauchen konn58
te. Um neun Uhr weckte mich die Hitze und ich stand schweißgebadet auf. Eine Stunde später lenkte ich den Packard in Richtung North-Side. Ich fühlte mich wie Rockefeller Junior und hätte gerne noch ein paar Extrarunden gedreht, aber es gab außer den Wagen abzuliefern noch ein paar dringende Dinge zu erledigen. Als ich an der Tür von Monicas Apartment klingelte, öffnete mir ein schwarzes Hausmädchen, das so ziemlich jedem Klischee entsprach. Sie war recht füllig, trug ein schwarzes Kleid, darüber eine weiße Schürze und sogar ein blütenweißes Häubchen saß auf ihrem Kraushaar. »Der Herr wünschen?« »Ich möchte Frau Browman sprechen«, entgegnete ich und trat unaufgefordert einen Schritt in die Wohnung hinein. »Die Missus ist noch nicht aufgestanden«, meinte das Hausmädchen. »Dann wecken Sie sie. Ich warte so lange.« Ich ging zielstrebig auf die Sesselgruppe zu, die um einen niedrigen Tisch stand und ließ mich in einen hineinfallen. Die schwarze Perle verschwand durch eine Tür in der rechten Wand. Ich schaute mich um. Anscheinend befand ich mich in so etwas wie einem Empfangssalon, gediegene Möbel, Teppiche bis zu den Fußknöcheln und auch sonst schwirrten überall Dollarzeichen durch den Raum. Monica Browman war vielleicht nicht die glücklichste Frau auf der Welt, aber viele, vielleicht mich eingeschlossen, hätten sofort mit ihrem Unglück getauscht. Das schwarze Dienstmädchen kam zurück und bat mich um etwas Geduld, die Missus würde in ein paar Minuten bei mir sein. Dann bot sie mir noch Kaffee an, was ich dankend ablehnte. Bei der Hitze brachte ich das heiße Gesöff einfach nicht herunter. Der Schweiß kitzelte mich im Nacken und das blaue, kurzärmelige Polohemd klebte schon unangenehm an meinem Rücken. Ich stand auf und lief ein paar Schritte im Raum hin und her und blieb schließlich an dem großen Fenster stehen, von dem man einen guten Blick auf den See hatte. Das Wasser lag wie bleiern am Ufer, vereinzelt waren ein paar Spaziergänger auf der Promenade auszumachen. 59
»Guten Morgen, Pat«, sagte ein rauchiger Alt hinter mir, aus dem die morgendliche Heiserkeit noch nicht ganz verschwunden war. Ich drehte mich um. Monica schien wirklich aus dem Bett gesprungen zu sein. Aber es stand ihr gut. Ihre Haare lagen jetzt nicht wie ein Helm an ihrem Kopf, sondern sie hatte sie nachlässig nach hinten gebürstet, das Make-up war aus ihrem Gesicht verschwunden und es hielt, was die Straßenlampe gestern versprochen hatte. Ich schätze die Lady auf Mitte dreißig. Sie trug einen dunklen Morgenmantel aus Samt; den Gürtel hatte sie nachlässig um die Hüfte geschlungen. »Guten Morgen, Monica«, gab ich zurück und trat ein paar Schritte auf sie zu. »So früh habe ich Sie nicht erwartet«, stellte sie fest. »Ich bin eher spät dran, denn ich muss den Tag nutzen, um meine Brötchen zu verdienen«, es klang bitterer, als ich beabsichtigt hatte. »Ach ja, ich vergaß, Sie müssen ja Leute beschatten.« Ein resignierendes Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. »So ungefähr.« »Wollen Sie mit mir frühstücken? Martha bereitet schon alles vor.« »Danke nein. Ich wollte Ihnen nur den Wagen zurückbringen. Und wenn Sie nach einem Taxi telefonieren könnten...« »Ach Pat, Sie lehnen wohl jedes Angebot ab.« »Nicht jedes und nicht immer.« Monicas Miene hellte sich auf. »Dann versuche ich es noch einmal. Wie wäre es damit: Ich fahre Sie zu Ihrem Wagen. Geben Sie mir fünf Minuten, dann bin ich so weit.« Der Hahn krähte dreimal, als Petrus den Herrn verleugnete. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. »Sehen Sie, Monica, man muss nur die richtigen Angebote machen. Ich nehme an.« Sie verschwand in der Tür und ich umkreiste mit einem wilden Gedankensalat in meinem Kopf die Sesselgruppe. Als Monica zurückkam, trug sie ein weißes Leinenkostüm, das ihr hervorragend stand. Ihre Haare hatte sie auch in Ordnung gebracht und in der Hand hielt 60
sie ein paar weiße Kalbslederhandschuhe. Auf einmal bereute ich, ihr gestriges Angebot ausgeschlagen zu haben. »Fertig!« Sie drehte sich kokett wie eine Achtzehnjährige einmal im Kreis, damit ich sie bewundern konnte. Vor zehn Jahren hätte diese Frau den Großen Krieg im Alleingang gewonnen. Sämtliche Krauts wären bei ihrem Anblick aufgrund einer mehr als natürlichen Reaktion nicht mehr aus den Schützengräben gekommen. Für mich reichte es heute immer noch. Da sie eh wusste, wer ich war und wie meine Brieftasche aussah, hatte ich keinerlei Bedenken, mich von ihr in die North Clarke Street fahren und bei meinem Plymouth absetzen zu lassen. Sie verlor kein Wort darüber. Nachdem der Packard um die Ecke in die Division Street eingebogen war, klemmte ich mich hinter das Steuer meines Wagens. * Brendon war übelster Laune, als ich ihn an seinem Schreibtisch aufgestöbert hatte. Wie ich erfuhr, musste er heute Abend einen Kollegen vertreten und einen Vorbericht über die jährliche Chicago - Grand Haven Regatta schreiben. »Kannst du dir mich im Jachtclub vorstellen? Mit all den Pinkeln, die nichts Besseres zu tun haben, als in irgendeinem Fachchinesisch daherzuschwätzen, was niemanden interessiert.« Ich schüttelte den Kopf und erwähnte nicht, dass diese Leute wahrscheinlich genauso über seine Baseballberichte dachten. »Ich bedaure dich von Herzen, Brendon. Aber jetzt brauche ich erst einmal ganz dringend ein paar Informationen.« »In der Sache, von der ich absolut nichts weiß?«, fragte er vorsichtig und blickte sich um, als würden wir gerade planen, Präsident Hoover zu ermorden. »Nein, ganz harmlos«, versicherte ich ihm. »Es geht um George Browman.« »Also doch«, schnaufte er. 61
»Nein, wirklich nicht«, beruhigte ich ihn. »Nicht Jack oder Peter. Es geht mir um George und seine Frau Monica...« »Als ob das ein Unterschied wäre. Ich habe dir schon mal gesagt, lass die Finger davon.« »Also, was weißt du über die beiden, besonders über ihre Scheidung?« »Woher soll ich das wissen«, meinte er pampig. »Sie haben nie bei den White Socks gespielt.« Ich musste tatsächlich lachen und Brendon stimmte ein. Dann griff er zum Telefon und wählte einen Hausanschluss. »Hallo, Danny, hier Brendon. Sag mal, was fällt dir zu der Scheidung von George Browman ein?« Es vergingen ein paar Minuten, in denen Brendon zuhörte, nickte, lachte, ab und zu sich etwas wiederholen ließ und schließlich mit einem kurzen »Danke, du hast etwas gut bei mir« auflegte. »Das war Danny. Er ist bei uns für die High Society zuständig. Manche nennen es auch Klatschspalte, aber das hört er nicht so gern. Ein irrer Typ...« »Bitte, Brendon...«, fiel ich ihm ins Wort. »Schon gut, schon gut. Du bekommst die Kurzfassung. George Browman, jüngerer Bruder von Jack, besitzt die andere Hälfte von Chicago. Na ja, ganz so schlimm ist es nicht, aber die beiden haben schon ein schönes Stück vom Kuchen. Seit Big Bill im Amt ist, sorgen sie mit ihrem Geld dafür, dass er auch dort bleibt und im Gegenzug...« Brendon wusch überdeutlich seine Hände in Unschuld. »George hat vor fünfzehn Jahren eine gewisse Monica Ledwonski geheiratet. Sie war damals Bardame im Lee Side Club und ohne Zweifel eine Schönheit. Er war um einiges älter als die Braut, manche haben ihn sogar mit dem Brautvater verwechselt. Trotzdem war es eine Traumhochzeit und alles schien in Butter. Dann, vor drei Jahren, tauchten die ersten Bilder in der Zeitung auf. George in verschiedenen Clubs, immer mit jungen Damen an seiner Seite, die eindeutig nicht seine Angetraute waren. Eine gewisse Zeit lang ging das noch gut, dann kam es zur Scheidung. Die wurde längst nicht so öffentlich wie die Hochzeit, aber die gute Monica hat bestimmt keinen schlechten Schnitt gemacht.« 62
Ich konnte das nur bestätigen, obwohl ich es nicht tat. »Danach wurde alles wieder ruhig. Niemand kümmert sich um unverheiratete Männer, die ein bisschen Abwechslung suchen. Auch hatte sich das Jagdrevier verschoben. Jetzt ist es das Blue Bayou und da kommen Reporter nur herein, wenn sie blind und taub sind.« »Danke, Brendon.« Ich wusste nicht, ob mir das wirklich weiterhalf. Eigentlich hatte ich es mir schon genauso zusammengereimt. * Als ich ins Büro kam, war von Betty weit und breit nichts zu sehen. Mir war es auch recht. Ich klemmte mich hinter den Schreibtisch und fand endlich Zeit, die Morgenausgabe der Tribune zu lesen. Ich begann, was ich sonst nie tat, mit der Gesellschaftsseite von Brendons Kumpel Danny. Ich fand nur das Übliche, was mich nicht weiter interessierte. Wen kümmert's schon, wo welches Baby mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde und was welche Lady für ein Kleid getragen hatte und wie teuer der Schmuck war, der an ihrem faltigen Hals hing. Missmutig blätterte ich zur Sportseite. Aber auch da herrschte tote Hose. Brendon hatte sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Eine Meldung über einen Autounfall in der North Dearborn brachten meine Gedanken auf Bill Catlab, den verschwundenen Hausmeister. Ich befürchtete, dass er zu viele Gesichter kannte, um noch unter den Lebenden zu weilen. Wahrscheinlich hatte er ganz genau gewusst, dass in dem Apartment die kalte Jenny in der Hitze lag. Er hatte einfach auf das Okay gewartet, sie finden zu dürfen. Ein untrügliches Gefühl sagte mir, dass hier das große Aufräumen begann. Ich hatte fest vor, nicht beim Abfall zu landen. Dann schneite Betty herein. Verschwitzt, aufgeregt - und die Wichtigkeit dampfte ihr förmlich aus den Ohren. »Ich habe mit den Mädchen bei Marshall Fields gesprochen. Irgendetwas ist da nicht in Ordnung. Einige machten Andeutungen von tollen Verdienstmöglichkeiten, wenn ich erst einmal dabei wäre, wollten aber nichts Genaues sagen.« Ich hatte da so meine eigenen Gedanken, behielt sie aber für mich. 63
»Soll ich dort als Spionin anfangen?«, fragte Betty und fühlte sich schon als zweite Mata Hari. »Das überlege ich mir noch. Vielleicht ist das zu gefährlich und ich möchte Sie nicht verlieren«, erklärte ich mit überzeugender Besorgnis in der Stimme. »Jetzt nehmen Sie sich erst einmal frei.« Dankbar blickte sie mich an und war schneller aus dem Brutkasten von Büro heraus, als ich einen Bourbon kippen konnte. Ich nahm mir vor, noch einmal mit Linda Farr zu turteln und dem sauberen Mr. Atkinson einen Besuch abzustatten. Aber beides konnte bis morgen warten. * Es war gegen acht, als ich in Dunkys gut besuchtes Speakeasy trat. Fred verzichtete inzwischen auf das Passwort. Wieso diese überhaupt nötig waren, wird immer ein Geheimnis der Kneipenbesitzer bleiben. Die Durstigen und die Gesetzeshüter waren sowieso auf einen Blick zu erkennen und außerdem wussten die Cops am besten, wo man einen guten Schluck zu reellen Preisen bekam. Wahrscheinlich waren es Leute wie Dunky, die die Parolen erfunden hatten, damit sich nicht zu viele Staatsdiener in ihren Kneipen versammelten. Das schreckte die Kundschaft ab und war schlecht fürs Geschäft, denn die Cops bezahlten nie. Schon allein deswegen waren die Jobs bei der Polizei so beliebt. Ich quetschte mich an die Theke und wartete auf Dunky. Es dauerte eine Weile, bis er Zeit fand, mir ein Glas einzuschenken. Dabei beugte er sich vor und flüsterte mir zu: »Da hinten in der Ecke, das ist Quick Gun Kelly. Er kann dir in deiner Sache vielleicht weiterhelfen.« Ich fummelte nach einem Schein, aber Dunky winkte ab. »Lass gut sein, Pat.« Ich schaute ihn mehr als erstaunt an. »Es ist mein persönlicher Beitrag im Kampf gegen das Verbrechen«, meinte er und machte sich von dannen. Streng genommen war Dunky mit seinem Speakeasy selbst ein Verbrecher, doch man sollte nicht alles so eng sehen. 64
Ich nippte an meinem Bourbon und schielte zu Quick Gun Kelly hinüber. Seinen Namen hatte ich schon gehört, begegnet war ich ihm noch nie. Deshalb lebte ich wahrscheinlich noch. Er war irgendwo in der mittleren Ebene von The Jars Organisation angesiedelt und man erzählte über ihn, er hätte einmal vier von Il Cardinales Leuten in einer Minute umgelegt und hatte dazu noch nicht einmal eine Tommy Gun gebraucht. Aber bestimmt war das übertrieben, man schaffte höchstens drei und die durften sich dabei nicht bewegen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, trotzdem machte ich mich auf den Weg zu seinem Tisch. Quick Gun Kelly war eigentlich ein mickriges Männchen, sagen würde ich es ihm allerdings nicht. Er trug einen dunklen Anzug und gab sich keine Mühe, die große Wumme, die im Schulterhalfter steckte, zu verbergen. Ich hätte wetten können, er hatte noch eine kleinere Ausgabe irgendwo im Gürtel stecken oder im Beinhalfter. Keiner hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt, obwohl Mangel an Plätzen bei Dunky herrschte. Freiwillig hätte ich es auch nicht getan. »Hallo Kelly«, sagte ich und blieb vor dem Tisch stehen. »Setzt dich, Pat Connor«, gab er zurück und schob mir mit dem Fuß einen Stuhl hin. Ich setzte mich. »Scheiß heiß in der Stadt«, versuchte ich mich mit Small Talk. »Schon seit Wochen«, stimmte er mir zu. »Aber übers Wetter kann ich mit meiner Großmutter reden und die liegt seit Jahren auf dem Friedhof.« Ich nickte. »Dunky hat dir gesagt, um was es geht?« Kelly nickte. Der Gesprächigste schien er nicht zu sein. »Und?« »Hör zu, Pat, du bewegst dich auf dünnem Eis...« »Bei der Hitze...« Quick Gun Kelly brachte ein Grinsen zustande. »Die Sache kotzt mich an.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas. Ich tippte auf Gin oder was immer Dunky unter dieser Bezeichnung ausschenkte. »Kotzt mich wirklich an. Sonst würde ich nicht hier sitzen.« Ich nickte wieder, da ich keine Ahnung hatte, um was es hier überhaupt ging. 65
»Ich bin gut mit der Kanone. Einer der besten, würd' ich sagen, aber seit einem Jahr spiel ich nur noch Kindermädchen. Das ist nichts für einen richtigen Kerl. Ist schon neun Monate her, seit ich einen umgelegt habe, das zehrt an den Nerven. Und dann werden noch so zwei Amateure losgeschickt, um dich umzupusten. Dilettanten.« Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Mir war völlig klar, dass ich in der Nacht in Kane County gegen Quick Gun keine Chance gehabt hätte. »Schon gut, Pat. Nichts für ungut. Du sollst ja eigentlich auch ganz in Ordnung sein. Aber jetzt zur Sache. Mein Boss ist da in ein Geschäft eingestiegen... Nennen wir es mal einen Unterhaltungsservice...« »Und die Unterhaltung wird von jungen hübschen Damen geliefert, die keine Professionellen sind...« »Richtig. Aber Geld kann man damit auch verdienen. Und damit den Damen nichts passiert, passe ich auf. Sitze im Wagen, wenn sie rumkutschiert werden, sorge dafür, dass sie wieder nach Hause kommen und regele das finanzielle. Eine Arbeit für Anfänger, die noch grün hinter den Ohren sind. Nichts für eine Spitzenkraft.« Dunky kam mit zwei Flaschen vorbei. Goss Quick Gun Kelly noch einen Gin und mir einen Bourbon ein. Ich wollte Dunky einen Schein in die Hand drücken, aber er lehnte ab. Irgendwas schien ihm wirklich wichtig zu sein. »Wer steckt dahinter«, fragte ich Quick Gun. Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber in einem Aquarium würde ich an deiner Stelle nicht suchen. Diese Fische schwimmen mindestens im Lake Michigan.« »So weit bin ich auch schon«, entgegnete ich enttäuscht. »Da ist noch etwas. Eines Tages musste ich die Lady vom Boss ins Marshall Fields fahren. Sie nahm mich mit rein, zum Päckchentragen. Da habe ich eins von den Girls gesehen. Sie wäre vor Schreck fast umgefallen, als sie mich erkannte. Konnte ich verstehen.« Er stellte sein leeres Glas auf den Tisch. »Noch eines, Pat. Das nächste Mal wird man keine Dilettanten wie Sean und George auf dich ansetzen. Könnte 66
gut sein, dass man sich auf meine Qualitäten besinnt. Wenn es so sein sollte, dann nichts für ungut Pat. Ist nicht persönlich gemeint.« Quick Gun Kelly stand auf, nickte Dunky zu und schob sich durch die Gäste zur Tür. Auf meinem schweißnassen Rücken spielten die kalten Schauer Ringelreihen. * Am nächsten Morgen saß ich im Büro, spielte mit einem Kater von Tigerformat und wartete auf Betty. Nachdem ich meinen Kopf mit einem kleinen Bourbon zur Auffrischung wieder klar bekommen hatte, begann ich meinen Notizblock voll zu kritzeln. Ganz oben auf der Liste stand Teiggesicht Hinterlader Atkinson, etwas weiter unten Jenny Dylang und Linda Farr, dann Bill Catlab, der Hausmeister, darunter notierte ich George und Monica Browman und dann fiel mir nichts mehr ein. Zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon. »Morgen, Pat!« Es war Hollyfields Bass, der mein Gehirn vom rechten Ohr, an das ich den Hörer hielt, an die linke Seite meiner Schädeldecke schleuderte. Mein Kater, den ich mit einem kleinen Bourbon gerade beruhigt hatte, fauchte gemeingefährlich auf. »Morgen, Captain. Schon wieder zurück?« »Nein, ich bin hier immer noch in Detroit. Montagmorgen bin ich wieder in Chicago. Ich wollte mich nur erkundigen, wie weit sie sind. Man hat mich ja von allen Informationen abgeschnitten und Quirrer, die Ratte, hat nichts Besseres zu tun, als auf meinem Stuhl Probe zu sitzen.« Ich konnte mir das lebhaft vorstellen. »Also, Pat?« »Nun, Hollyfield, Ihre Spesenrechnung beläuft sich inzwischen überschlägig auf hundert Dollar und es fehlen noch ein paar weitere Tagessätze...« »Pat, sind Sie wahnsinnig!« Wieder schwappte mein Gehirn hin und her. »Ermittlungen kosten Geld...« 67
»Lassen Sie das«, brüllte er aus Detroit herüber, aber inzwischen hielt ich den Hörer einen halben Meter von meinem Kopf entfernt. »Sagen Sie mir, was Sie herausbekommen haben, dann reden wir über das Geld.« »Ich will es kurz machen, Captain. Sie haben mich in eine ganz schöne Scheiße geritten. Und als ob das noch nicht genug ist, ich habe auch noch Quick Gun Kelly am Hals.« Das war zwar etwas übertrieben, aber der Spesenabrechnung würde es gut tun. »Quick Gun Kelly«, kam es nachdenklich von der anderen Seite der Leitung. »Ich dachte fast, der hätte sich aus dem Geschäft zurückgezogen. Hat schon seit ein paar Monaten keinen mehr umgelegt.« »Genau neun.« »Sooo«, meinte Hollyfield. »Tut mir Leid, Pat.« Und in seiner Stimme lag wirkliches Mitgefühl. »Quick Gun ist kein angenehmer Mitspieler. Man sollte ihn lieber im eigenen Team haben.« Vielleicht war es ja auch so, hoffte ich nach meiner gestrigen Begegnung, richtig glauben konnte ich es allerdings nicht. Der Rest war schnell erzählt. Hollyfield merkte sofort, dass ich eigentlich nichts in der Hand hatte und raunzte mich durch das Telefon an. Eigentlich war ich froh, dass er an einem anderen See in einer anderen Stadt saß. Nachdem das erledigt war, gönnte ich mir erst einmal eine Pause und vertiefte mich in die Tribune. Ich lachte Tränen, als ich Brendons Bericht über die Vorbereitungen zur Chicago - Grand Haven Regatta las. Genauso komisch musste es sein, wenn ein Klatschreporter einen Boxkampf beschrieb. Wie die Kapitäne der Jachten sich im letzten Inning einen harten Kampf an der Second Base liefern würden, versuchte ich mir gar nicht erst vorzustellen. Dann plante ich meinen Arbeitstag. Als Erstes ging ich zu Marshall Fields und schlenderte zwei Stunden durch die verschiedenen Abteilungen. Ganz besonders ging es mir um Verkäuferinnen, die selbst in der unattraktiven Fields-Uniform noch eine gute Figur machten und nicht älter als Mitte zwanzig waren. Ich versuchte, mir die Gesichter einzuprägen. Allerdings herrschte ein Überangebot und ich gab bald auf. Ich würde mich auf mein Gefühl 68
verlassen müssen. Zum Schluss begab ich mich in die Wäscheabteilung und stöberte Linda Farr auf. »Hallo Pat«, begrüßte sie mich ganz unschuldig. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich von ihrem gestrigen Ausflug in die Welt der Reichen und nicht mehr so Schönen, soweit es ihre männliche Begleitung betraf, wusste. »Hallo Linda. Wie geht es Ihnen?« Sie zuckte mit den Schultern und blickte sich unauffällig um. Anscheinend war der Drache gerade woanders unterwegs. »Wie immer, der Alltag halt.« Ich hielt mich nicht lange mit Vorreden auf. »Was halten Sie davon, wenn ich Sie heute Abend zum Essen einlade?« Sie erweckte den Anschein nachzudenken, dann sagte sie: »Heute Abend geht es leider nicht. Aber morgen gerne. Da habe ich auch nur bis vier Dienst.« Ich hatte eine gewisse Vorstellung davon, warum Linda heute Abend verhindert war. »Okay, wann soll ich Sie abholen?« »So gegen sieben bei mir zu Hause. Wissen Sie noch, wo das ist?« Ich nickte. »North Sangamon, richtig?« »Sehr gut, aber das gehört ja wohl zu Ihrem Beruf. Ich freue mich schon.« Fast hätte ich es ihr glauben können. Ich schlenderte aus der Wäscheabteilung, nicht ohne mir die Kolleginnen von Linda genau anzusehen. Am liebsten hätte ich sie alle mit unsichtbarer Tinte markiert. Dann kam mir ein wirklich guter Gedanke. Wenn ich schon einmal hier war, dann konnte ich auch gleich dem Teiggesicht aus Michigan den fälligen Besuch abstatten. Den Weg kannte ich ja. Hinter dem geschwungenen Tresen saß immer noch die alte Krähe. Kaum hatte ich den Empfang betreten, griff sie schon zum Telefon. Alle Achtung vor ihrem Personengedächtnis, aber ich hatte ja auch alles getan, damit sie mich in Erinnerung behielt. Ich wünschte ihr einen »Guten Tag« und war schon durch die Pendeltür. Miss Wilkers stand mitten im Büro, als ich die Tür auf stieß und schaute empört. Auch ihr wünschte ich einen »Guten Tag« und ging gleich zu Atkinson durch. Ob auch er mich schon erwartet hatte, war 69
nicht festzustellen. Sein teigiges Gesicht war anscheinend nur zu einem Ausdruck fähig. Kategorie Napfkuchen. Ich ließ mich in den Sessel vor seinem Schreibtisch fallen. »Sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich hier, Atkinson? Arbeiten kann man das ja wohl nicht nennen.« Er schaute mich wie ein zusammengefallener Napfkuchen an. Anscheinend befand er sich gerade auf einem anderen Stern. Die Frage war, wie ich diese Amöbe zu einer Reaktion bringen konnte. »Atkinson, was haben Sie mit Scan O'Malley zu tun? Nicht gerade die beste Gesellschaft, meinen Sie nicht auch?« Er brachte es fertig, doch tatsächlich eine halbe Drehung mit seinem Schreibtischsessel zu machen. »Was für ein Spiel spielen Sie mit den Mädchen von Marshall Fields? Weiß Ihr Onkel davon? Und warum musste Jenny Dylang sterben?« Da ich eigentlich mit keiner Antwort rechnete, hatte ich für einen Augenblick verzweifelt die Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffnete, saß ich Mr. Hyde gegenüber. Das teigige Gesicht war noch da, doch der Ausdruck konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Atkinson musterte mich mit einem Blick, der Medusa in Stein verwandelt hätte. Dann zischte er: »Connor, Sie sind tot. Sie sind eine wandelnde Leiche. Verpesten Sie mein Büro nicht mit Ihrem Verwesungsgestank.« Er drückte auf einen Knopf an seinem Telefon. Während ich mich noch von meinem Schock erholte, steckte schon Miss Wilkers ihren Kopf zur Tür herein. Atkinson war wieder zum Napfkuchen geworden. »Mister Connor möchte gehen«, sagte er zu ihr. Das wollte ich wirklich. Ich erhob mich, schaute Atkinson noch einmal an. Er war wieder Teiggesicht Napfkuchen. Mr. Hyde war irgendwohin verschwunden. * Den Nachmittag verbrachte ich auf der Couch in meinem Büro mit Nachdenken, das zu nichts führte und einigen Bourbon. Die Verwandlung von Teiggesicht in Mr. Hyde ließ mir keine Ruhe. Konnte es sein, 70
dass Atkinson allen nur eine Maske zeigte? Allen bestimmt nicht, ging es mir durch den Kopf. Ich beschloss meine Nachforschungen im Marshall Fields heute Abend im Blue Bayou zum Abschluss zu bringen. Der geliehene Smoking hing noch bei mir im Schrank und irgendwie würde ich es auch schaffen, die Fliege zu binden. Zuerst aber wollte ich noch einmal Paul Skerry in New York anrufen. Ich wusste nicht, was ich mir davon versprach, aber realistisch gesehen befand ich mich in einer Sackgasse. Die Frage war nur, wie ich etwas aus ihm herauslocken konnte. Meine Nummer mit dem Immobilienmakler war wirklich schwach gewesen. Da fiel mir Quick Gun Kelly ein. Ich nahm den Hörer ab und meldete ein Gespräch nach New York an. Es dauerte nur eine halbe Stunde, dann hatte ich die Verbindung. Zur Sicherheit legte ich mein Taschentuch auf die Sprechmuschel, man konnte ja nie wissen. »Ja?«, meldete sich Skerry am anderen Ende. »Hallo, alte Schwuchtel, ich bin's, Kelly.« »Bist du das, Quick Gun?« »Wer sonst?«, fragte ich durch das Taschentuch zurück. »Du klingst so seltsam.« »Bin erkältet. Sommergrippe«, log ich. »Und, was macht die Hinterladerszene?« »Halt das Maul, du Scheißer und nenn mich ja nicht noch einmal Schwuchtel. Du weißt genau, dass ich das nur für den Boss getan habe, damit die andere Sache nicht auffliegt. Selbst hier in New York gibt es immer wieder Schlauköpfe, die meinen, damit anfangen zu müssen. Aber glaub mir, jeder versucht das nur einmal. Was willst du eigentlich von mir?« So weit hatte ich nicht gedacht, aber ich hustete erst einmal und meinte dann: »Hör zu, der Boss ist der Ansicht, dass du in absehbarer Zeit wieder nach Chicago zurückkannst, ist das nicht eine gute Nachricht?« »Mehr als das. New York geht einem auf den Sack. Nichts los hier. Total verschlafen. Wenn das der Boss für mich arrangieren könnte...« 71
»Du müsstest dich nur von dem Hintern von Atkinson fern halten...« »Hör zu, Quick Gun, sei froh, dass du in Chicago bist. Wenn du noch einmal so einen Stuss auch nur denkst, dann mach dein Testament. Ich schneide dir die Kehle durch, bevor du das Wort Quick auch nur denken kannst. Und damit das ein für alle Mal klar ist, mich interessieren nur die Hintern von gut gebauten Tänzerinnen. Kapiert?« »Schon gut, Paul. Ich melde mich wieder, wenn die Sache so weit ist.« Ich legte sofort auf und hoffte, dass es für Skerry keinen Grund gab, irgendjemanden aus O'Malleys Syndikat zurückzurufen. Besonders nicht Quick Gun Kelly. Der Anruf hatte sich gelohnt. Die Sache mit Atkinson und Skerry als Homos war anscheinend ein abgekartetes Spiel gewesen, um etwas anderes unter dem Deckel zu halten. Nicht schlecht. Skerry schien zwar nicht begeistert davon zu sein, aber Atkinson war es augenscheinlich egal. Heute war Freitag, da war im Blue Bayou bestimmt die Hölle los. Ohne Vorbestellung würde ich wahrscheinlich nicht an dem Pinguin vorbeikommen. Ich brauchte Unterstützung. Es dauerte nicht lange, dann hatte ich die Nummer von Monica, die unter ihrem Mädchennamen im Telefonbuch stand, gefunden. Es meldete sich die schwarze Perle und erklärte, dass die Missus außer Haus sei. Ich hinterließ meine Privatnummer und bat um Rückruf. Dann machte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg zu meiner Behausung. Obwohl Monica ja schon so ziemlich alles wusste, wollte ich trotzdem nicht, dass sie hier im Büro anrief und ihre zutreffenden Vermutungen zu gesichertem Wissen wurden. * Um halb sieben klingelte das Telefon. Es war Monica. »Was kann ich für Sie tun, Pat? Ist Ihr Wagen kaputt und Sie wollen sich meinen Packard leihen? Vielleicht um eine hübsche Kleine damit zu beeindrucken?« 72
»Ich möchte mir Sie leihen, Monica«, gab ich ohne viel Federlesens zurück. Da musste sie erst einmal schlucken. »Dann fällt das mit der Kleinen also weg. Wieso glauben Sie, ich hätte eine Pfandleihe?« »Nun, so würde ich es nicht ausdrücken. Es ist mehr ein persönlicher Gefallen...« »Die Sie aber nicht so leicht gewähren«, kam es etwas enttäuscht vom anderen Ende der Leitung. Ich erklärte Monica ganz offen, wozu ich sie brauchte: Ohne sie hätte ich an einem Freitagabend keine Chance ins Blue Bayou zu kommen und es wäre sehr wichtig, genau heute Abend dem Club einen Besuch abzustatten. Außerdem wäre mir ihre Gesellschaft mehr als angenehm, was nicht ganz gelogen war, vielleicht auch gar nicht. Sie zögerte. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Die Leitung zwischen uns blieb so lange stumm, dass die Telefonistin fragte, ob wir überhaupt noch dran seien. Schließlich meinte Monica: »Gut, Pat. Ich mache vielleicht einen Fehler und benehme mich wie eine dumme Gans, aber ich komme mit.« »Danke, Monica«, ich war wirklich erleichtert, besonders dass sie nicht gefragt hatte, warum ich unbedingt heute ins Blue Bayou musste. »Ich bin gegen halb zehn bei Ihnen. Ist Ihnen doch recht, wenn ich Sie abhole?« »Genau das wollte ich auch vorschlagen.« Sie lachte und legte auf. Ich behielt den Hörer noch einen Augenblick in der Hand und schaute über ihn hinweg in ein Paar grüne Augen. * Mit Monica an meiner Seite, die sich in meinem Arm eingehakt hatte, als würden wir uns schon seit Jahren kennen, kam ich ohne Schwierigkeiten am Türsteher vorbei bis zum Pinguin. Mit dem Ausdruck höchsten Bedauerns beschied er Mrs. Browman, dass der Club vollständig 73
ausgebucht sei. Einem Hund an ihrer Seite hätte er wahrscheinlich mehr Beachtung geschenkt als mir. »Ach Charles«, flötete Monica, »Sie finden doch noch ein Plätzchen für mich und meine Begleitung.« Es klang wie lästiges Anhängsel, doch ein sanfter Druck ihrer Hand in meiner Armbeuge versicherte mir, dass es sein musste, wenn ich heute Abend ins Blue Bayou wollte. Der Pinguin ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. Im sanften blauen Licht drehten sich Abendkleider im Kreis mit Smokings und unzählige Karat warfen Lichtblitze. Kellner rauschten durch die Tischreihen und versorgten die Gäste. Und Jean Goldkette spielte wieder zum Tanz auf. Nicht lange und dann würde auch Al Jolson wieder ins Mikrofon schmachten. Der Pinguin schien eine Entscheidung getroffen zu haben. Er ging voran und wir folgten ihm. Er führte uns zu einem kleinen Tisch, versteckt hinter der weiten Rundung der Bar. Mit dem Ausdruck des größten Bedauerns, keinen besseren Platz zu haben, nahm er das Reserviert-Schild weg. Entschuldigte sich noch einmal bei Mrs. Browman. Den Hund an ihrer Seite beachtete er immer noch nicht. Ein Kellner brachte die Karte und kurz danach einen Manhattan und einen Bourbon. »Den Hummer kann ich empfehlen«, sagte Monica und legte die Speisekarte beiseite. »Und auch das Bœuf Bourguignon. Von allem anderen würde ich die Finger lassen.« Ich nickte und steckte mir eine Lucky an. Auf der Karte standen keine Preise. »Wie sind die Steaks?«, fragte ich zurück. Monica lachte. »Wie Steaks nun einmal sind. Blutig und einfallslos.« »Nun, dann passen sie ja zu mir.« Sie hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Der Tisch war für meine Pläne perfekt. Unauffällig, fast versteckt in der Ecke, konnte ich den Saal überblicken. Es dauerte eine Weile, aber dann hatte ich Teiggesicht gefunden. O'Malley hatte heute Abend anscheinend etwas Besseres vor. Mit an dem Tisch saß wieder eine Auswahl von Schwergewichten und die dazu passende Zahl von Töchtern. Zu weit weg, um wirklich einen Vergleich mit den Bildern, die ich 74
am Morgen bei Marshall Fields gesammelt hatte, anzustellen. Nach einiger Zeit war ich mir aber sicher, dass Linda Farr dabei war. Es gab keine andere Möglichkeit, ich musste näher heran. Nach dem Essen. Eine Stunde später hatte ich mich durch das einfallslose Steak und Monica durch ihren Franzosenkram gekämpft. Wir hatten uns ein paar weitere Drinks gegönnt und ich mir inzwischen auch Nachschub aus dem Bauchladen einer Zigarettenverkäuferin. Die Band spielte ein paar Sachen, die ich auch kannte und so machte ich meinen nächsten Zug. »Möchten Sie tanzen, Monica?« Sie blickte mich erstaunt an und meinte dann: »Das hätte ich nicht erwartet. Aber ja, gerne.« Wir gingen zur Tanzfläche. Die Band spielte einen Foxtrott, den ich gerade noch hinbekam. Ich konzentrierte mich auf die Schritte und stellte schnell fest, dass Monica eine geübte Tänzerin war und geschickt meinen Füßen auswich, bevor ich sie auf ihre Zehen setzen konnte. Dann ging ich dem eigentlichen Grund meines wagemutigen Unternehmens nach. Ich musterte die Töchter an Atkinsons Tisch durch. Bei vieren war ich mir sicher, dass ich sie im Marshall Fields gesehen hatte. Dazu kam Linda, vor der ich mich gekonnt hinter Monicas Kopf versteckte, wenn sie in meine Richtung blickte. Bei den drei anderen, die noch mit am Tisch saßen, war ich mir nicht sicher, aber alles sprach dafür, dass auch sie zum Inventar des Kaufhauses gehörten. Leider erkannte mich dann das Teiggesicht. Ihm fielen fast die Augen aus den Höhlen. Er beugte sich zu einem der Daddys und flüsterte ihm aufgeregt ins Ohr. Als Atkinson wieder zu mir herüberblickte, lächelte ich ihm zu. Es bestand ja jetzt keine Gefahr mehr, missverstanden zu werden. Inzwischen wusste ich ja, dass er nicht aus Michigan stammte. »Wissen Sie, wer der Mann mit dem weißen Dinnerjackett in Zeltgröße dort drüben am Tisch ist?«, fragte ich Monica. »Wo?« »Warten Sie, ich drehe Sie langsam in seine Richtung.« »Der mit der Halbglatze und der riesigen Krawattennadel?«, fragte sie, als sie freien Blick auf den Tisch hatte. »Ja.« 75
»Das ist mein Ex. George Browman. Braucht anscheinend wieder mal etwas Anreiz«, meinte Monica abfällig. Zum Tanzen hatte ich auf einmal überhaupt keine Lust mehr. Es gab wohl kein Fettnäpfchen, das ich ausließ. Ich hoffte nur, dass der Mann nicht nachtragend war. Nachdem das Stück zu Ende war, führte ich Monica zu unserem Tisch zurück. Als sie saß, gab ich ihr Feuer und bestellte beim Kellner noch einen Manhattan und einen Bourbon. »Nun, Pat, ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie mir sagen, was Sie hier wollen. Oder hinter wem Sie her sind. Ich denke, das habe ich mir verdient.« Unrecht hatte sie damit nicht. Ich dachte eine Zigarette und einen halben Bourbon darüber nach. Geduld schien ihre Stärke zu sein, was Monica mir neben einigen anderen Eigenschaften noch sympathischer machte. »Ich bin auf der Suche nach Mädchen, jungen Mädchen«, begann ich. »Das kenn ich doch irgendwoher«, warf sie sarkastisch ein. »Da liegen Sie bei mir aber ein paar Jahre daneben.« Die Verbitterung war ihr anzusehen. Ich griff über den Tisch und legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Seien Sie nicht so verbittert. Die Mädchen sind mein Job, Sie sind das, was mir den Job erträglich macht.« Ich musste das einfach sagen und ich meinte es auch. Ihre Miene hellte sich auf und ihre Finger glitten kurz zwischen die meinen. »Schon gut, Pat, Sie können nichts dafür.« Warum fühlte ich mich trotzdem dafür verantwortlich, was der Fettsack ihr angetan hatte? »Also, Sie suchen Mädchen. Und? Haben Sie sie gefunden?« »Ich denke schon. Ich weiß, was ich wissen wollte. Wenn Sie wollen, können wir gehen.« »Dann ist das schon das Ende unseres Abends?« »Ich denke, dieses Abends schon«, gab ich zurück. »Für Sie vielleicht. Ich bleibe noch hier und amüsiere mich. Machen Sie sich nicht die Mühe, nach der Rechnung zu fragen. Ich kann es mir leisten, einen Mann zu bezahlen. Auch wenn ich in Ihrem Fall 76
nicht weiß wofür. Das Geld für ein Taxi werden Sie ja hoffentlich noch haben.« Das Hündchen an ihrer Leine, das der Pinguin nicht beachtet hatte, war zum begossenen Pudel geworden und wie ein solcher schlich ich aus dem Blue Bayou. * Die Nacht war schon fortgeschritten, doch noch immer kamen Gäste ins Blue Bayou. Die Taxis warteten gut hundert Meter weiter rechts die Archer Avenue hinauf. Die Limousinen der betuchten Gäste mussten schließlich genug Platz haben, um vorzufahren. Ich schlich in absolut mieser Stimmung auf das erste Taxi in der Reihe zu. Dann passierten zwei Dinge gleichzeitig. Ein Schönling im Smoking ging schnellen Schrittes an mir vorbei und rief »Taxi, Taxi!«, wobei er mit den Armen fuchtelte, als wollte er die Fliegen von einem vergammelten Stück Fleisch vertreiben. Als er mit mir auf gleicher Höhe war, brach die Hölle los. Schüsse aus mindestens drei großkalibrigen Waffen bellten in kurzen Abständen auf, der Mann wurde fünf, sechs Mal getroffen und tanzte unter den Einschlägen wie eine Marionette. Ich rettete mich mit einem Hechtsprung in einen Hauseingang und presste mich an die Wand. Weitere Schüsse folgten, die vom Pflaster weg in alle Richtungen sirrten. Dann heulte ein Motor auf und ein dunkler Schatten preschte die Archer Avenue hinunter. Die ganze Sache hatte nur Sekunden gedauert. Nach einem kurzen Moment absoluter Stille schrieen die Leute durcheinander. Eine Frau im Abendkleid lief schreiend auf den am Boden Liegenden zu. Eine Blutlache begann sich zu bilden. Mehrere Kugeln hatten ihn in den Oberkörper getroffen und ihn regelrecht zerfetzt. Die Kerle hatten die ganz große Artillerie benutzt, um sicherzugehen. Die Frau warf sich über den Mann und Weinkrämpfe ließen ihren Körper zucken, als ob auch sie von Geschossen getroffen würde. Ich hatte keinen Zweifel, dass dieser Überfall mir gegolten hatte und ich Sankt Patrick ab heute jeden Tag eine Kerze würde in die Kirche stellen müssen. Zum Glück hatten die Kerle auf eine Tommy Gun 77
verzichtet. War ihnen wohl vor dem Nobelclub zu gefährlich gewesen. Mit der Streuung der Maschinenpistole hätten sie zu leicht ein paar Gäste erwischen können. Und das wäre sehr schlecht fürs Geschäft gewesen. Aber genau diesem Umstand verdankte ich mein Leben. Inzwischen strömten die Gäste aus dem Blue Bayou und drängten sich um den Toten und die Frau. Jemand versuchte sie zu beruhigen und ich glaubte, in der Menge auch Monica zu erkennen. Schon bald würden die Bullen hier aufkreuzen und es war besser, wenn ich mich aus dem Staub machte, solange hier noch alles drunter und drüber ging. Irgendwann würden selbst die Plattfüße bemerken, dass das Opfer zwar das Opfer war, aber nicht das richtige Opfer. Ich schlich so unauffällig wie möglich an den Häuserwänden entlang, in die nächste Seitenstraße hinein. Nach einer guten halben Stunde hatte ich das Lakeside Hospital erreicht. Dort fand ich auch ein Taxi, das mich in die North Clark in mein Bett brachte. * Am nächsten Morgen gegen elf fuhr ich ins Büro, obwohl ich kein gutes Gefühl dabei hatte. Aber anders als gestern Abend vor dem Blue Bayou hielt ich die Augen offen. Ich konnte nichts Verdächtiges bemerken. Anscheinend war es noch nicht die Zeit für Killer. Im Büro holte ich als Erstes mein Schulterhalfter mit dem 38er Smith & Wessen heraus. Ich konnte jede Unterstützung gebrauchen. Dann versuchte ich mir auf die Ereignisse der letzten Tage einen Reim zu machen. Obwohl ich kein großer Verseschmied bin, lagen die Strophen ziemlich klar. Atkinson nutzte seine Stellung als Personalchef bei Marshall Fields dazu aus, junge, gut aussehende Mädchen davon zu überzeugen, dass mit ein paar Liebenswürdigkeiten gegenüber älteren Herren, wahrscheinlich alles geile Böcke, leicht Geld zu machen war. Man konnte davon ausgehen, dass seine Vermittlungstätigkeit sicher auch nicht unbezahlt blieb und wahrscheinlich die eine oder andere Kleine auch für ihn abfiel. Klar war auch, dass Teiggesicht nicht auf eigene Rechnung arbeitete. Ganz bestimmt hing O'Malley mit drin. Und wahrscheinlich irgendwie auch Big Bill. Familienbande, nahm ich an. Gut, damit stan78
den illegale Prostitution, Verführung von Abhängigen, vielleicht auch noch die eine oder andere Nötigung und wahrscheinlich auch ein paar illegale Abtreibungen auf der Habenseite. Die Frage war allerdings, wie der Mord an Jenny dazu passte. Anscheinend, wenn man Linda Farr glauben wollte, aber nach meinen letzten Beobachtungen wollte ich das eigentlich nicht mehr, hatte Jenny bei dem Spiel mitgespielt. Das alles würde, wenn es ans Licht gebracht würde, bis zu einem Prozess der an sich schon nicht sehr wahrscheinlich war zu einigen Belanglosigkeiten zusammengeschmolzen sein. Die beteiligten Herren verfügten über genug Geld, dass die kleinen Verkäuferinnen jederzeit ihre grenzenlose und uneigennützige Liebe zu ihnen beschwören würden. Vielleicht gäbe es noch ein paar Scheidungen, wenn die entsprechenden Ehefrauen genauso resolut waren wie Monica Browman. Wie ich es auch drehte und wendete, die Schlüsselfigur war Bill Catlab, der Hausmeister - ehemalige Hausmeister, korrigierte ich mich, des Apartmenthauses in der North Dearborn. Bis jetzt war er nicht wieder aufgetaucht, was gut, aber auch schlecht sein konnte. Die Erfahrung sagte mir, die Chance, dass er noch unter den Lebenden weilte, war ungefähr so groß wie die, Dunky zu einem Drink zu überreden. Trotzdem musste ich es versuchen. Der einzige Weg zu Catlab führte durch die übelste Gegend der Stadt, mit den unangenehmsten Bewohnern: auf die South-Side zu den Makkaronis. Wieder einmal traf mich der Verlust meines Partners Joe Bonadore schwer. Solche Jobs hatten wir uns immer geteilt. Ich trieb mich bei den Iren rum, er übernahm die Jobs bei seinen Landsleuten. Aber nachdem ich den Mord an ihm aufgeklärt hatte, konnte ich mich bei den Makkaronis zumindest sehen lassen, ohne gleich zu Spaghettisoße verarbeitet zu werden. Doch was ich jetzt vorhatte, kam dem Versuch einer Frau gleich, Kinder zu kriegen und gleichzeitig Jungfrau zu bleiben, was bekanntlich erst einmal geklappt hat. Ich schlüpfte trotz der Hitze in mein Jackett, da ich meinen Ballermann nicht offen herumtragen wollte und steckte mir zur Sicherheit einen Reservestreifen Patronen in die Jackentasche. Dann machte ich mich auf ins Star Blush. * 79
Seit meinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Giovanni stand immer noch hinter der Theke, doch diesmal sparte er sich seine abfälligen Bemerkungen und stellte mir einen Bourbon hin. Freundlichkeit war etwas anderes, aber ich war mit keinen großen Erwartungen hierher gekommen. Jetzt begann der schwierigste Teil meines Himmelfahrtskommandos: Ich musste mit Salvatore Caprese, dem Iceman, sprechen, der rechten Hand des Oberbosses Benito Rigobello. Unser letzter Abschied war nicht der herzlichste gewesen, aber ich hatte etwas in der Hinterhand, was den Iceman vielleicht dazu bringen könnte, unser Gespräch nicht allzu kurz ausfallen zu lassen. »Hör mal, Giovanni«, sagte ich zu dem Bartender, der bestimmt nicht so hieß. Er quittierte es mit einem müden Lächeln. »Ich muss mit Mister Caprese sprechen.« Er tat, als hätte er es nicht gehört. Für solche Spielchen hatte ich keine Zeit und noch weniger Lust. »He, ich will mit Mister Caprese sprechen und zwar noch heute.« »Vergiss es«, kam die Antwort. Ich zog mein Jackett etwas zur Seite, so dass man deutlich den Smith & Wesson sehen konnte. »Entweder, du holst jetzt den Iceman an die Strippe oder mein Freund hier unterhält sich mit dir.« Das überzeugte ihn und er klemmte sich ans Telefon. Nach einigem Hin und Her reichte er mir den Hörer. Es war nicht der Iceman, der am anderen Ende sprach. »Hör zu, Connor, Mister Caprese ist weder dein Kindermädchen noch dein Beichtvater, also geh ihm nicht auf die Nerven, verstanden?« »Nein. Und jetzt stell mal die Lauscher auf. Ich hab Mister Caprese ein Angebot zu machen, also hol ihn an die Strippe.« »Was für ein Angebot kannst du schon machen?« »Das sag ich nur ihm selbst.« Mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung rief irgendwas Italienisches in den Raum hinein. Es folgte ein Palaver und schließlich hatte ich den Iceman an der Strippe. 80
»Pat, ich brauche dir nicht zu sagen, dass dir was sehr Gutes einfallen muss, damit du das Star Blush lebend verlässt. Du hast eine Minute.« »Ich muss Sie um einen Gefallen bitte, Mister Caprese. Sie, Ihre Leute, müssen einen Mann für mich suchen. Bill Catlab. Kann sein, dass Sie auch nur noch seine Leiche finden, aber ich muss Gewissheit haben.« »Wieso sollten meine Jungs das tun?« »Es geht um eine große Sache, in der The Jar seine Finger im Spiel hat. Prostitution im großen Stil. Ein unerschöpfliches Reservoir an Frischfleisch für die großen Fische. Wenn Sie ihm das Geschäft kaputt machen, wird O'Malley toben.« Ich wusste, dass das der beste Köder war. Gewissensbisse hatte ich nicht, meine eigenen Landsleute zu verraten. Schließlich hatten die Handlanger von The Jar zwei Versuche unternommen, mich kaltzumachen. Tatsächlich schien der Iceman interessiert. »Und um was geht es dir dabei, Pat?« Ja, um was ging es eigentlich mir? Eine unbekannte Tote zu rächen? Einen Job zu erledigen? Ein paar Scheine zu verdienen? »Um Gerechtigkeit und darum, dass es mir egal ist, wenn sich die Gunmen gegenseitig umbringen, aber nicht, wenn junge Mädchen daran glauben müssen. Und außerdem werde ich stinksauer, wenn ich als Zielscheibe dienen muss.« »Hab schon davon gehört, was gestern vor dem Blue Bayou passiert ist. Hast ja ganz schön Glück gehabt, Pat.« Ich wunderte mich schon längst nicht mehr, wie schnell sich in gewissen Kreisen Nachrichten verbreiten. Während Quirrer bestimmt noch das Leben des Toten nach Hinweisen auf den Grund seines Todes durchforstete, wusste die gesamte Unterwelt schon längst, dass der Anschlag eigentlich Pat Connor gegolten hatte. »Was willst du denn von Catlab?« »Er ist möglicherweise der einzige Zeuge für den Mord an Jenny Dylang. Und ich will ihren Mörder baumeln sehen.« Ob das wirklich eintreffen würde, war bei der Personenkonstellation mehr als fraglich, aber zumindest klang es gut und entschlossen. 81
»Ach, darum geht's«, meinte Caprese. Natürlich wusste er auch von der Toten auf der North-Side. Wahrscheinlich viel mehr als ich. »Ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Wir melden uns.« Dann legte er auf. * Pünktlich um sieben Uhr holte ich Linda Farr in der Sangamon Street ab. Ich gab mich ahnungslos und sie war es. Ich führte sie ins Henry's Steak Diner aus. Wir plauderten und tranken Spezialkaffee in mäßigen Mengen und zwei Stunden später, der Himmel hinter der Stand zeigte noch einen Hauch von Abendrot, bummelten wir an der Strandpromenade entlang und genossen wie viele andere den kühlen Wind, der vom Lake in die Stadt wehte. Linda hatte sich bei mir untergehakt und wir beide wären jederzeit als Liebespaar durchgegangen. Während sie verträumt nirgendwohin sah, blickte ich mich nach verdächtigen Gestalten oder Fahrzeugen um. Ich ging allerdings davon aus, dass die Uferpromenade der denkbar ungünstigste Ort für einen weiteren Versuch, mich aus dem Weg zu räumen, war. Vielleicht halte die Panne vor dem Blue Bayou auch erst mal für etwas Zurückhaltung gesorgt. In der heutigen Abendausgabe der Tribune hatte gestanden, dass sie einen nicht ganz unbekannten Erben einer nicht gerade mittellosen Familie erwischt hatten. Keine gute Presse für ›The Jar‹ O'Malley. In der Haut der treffsicheren Schützen wollte ich im Moment nicht stecken. Ich entdeckte etwas abseits eine freie Bank und führte Linda dorthin. Als wir saßen, steckte ich mir eine Zigarette an. »Sag mal, Linda, was machst du eigentlich sonst so abends?« »Och, ich bin meistens zu Hause und helfe meiner Mutter bei der Hausarbeit oder gehe mal mit einer Freundin ins Kino. Ich habe nicht oft das Glück, dass mich ein netter junger Mann ausführt.« Dabei schenkte sie mir einen Augenaufschlag, der an Unschuld nicht zu überbieten war. Und in gewisser Weise stimmte es ja auch, mit jungen Männern hatte sie nur wenig zu tun. »Eigentlich wollte ich dich ja heute Abend ins Blue Bayou ausführen, aber da war einfach kein Tisch zu bekommen.« Ihre Reaktion 82
überraschte mich nicht. Sie erstarrte, wurde bleich und musste ein paar Mal schlucken. »Das Blue Bayou?«, schaffte sie schließlich die Erstaunte zu spielen. »Der Nachtclub?« »Ja, der Nachtclub.« »Ich habe schon davon gehört. Der soll doch sündhaft teuer sein. Nur etwas für die ganz Reichen.« Ein bisschen wollte ich das Spiel noch weiter treiben. »Für dich wäre mir nichts zu teuer gewesen. Ich hätte dich zu gern in diesem Nachtclub an meiner Seite gesehen.« Und in Gedanken ergänzte ich:
Wie du von all den Fettsäcken mit Hallo begrüßt wirst.
»Aber Pat, ich habe doch gar nichts Passendes anzuziehen für so einen mondänen Club.« »Wir wär's mit dem dunkelblauen, engen Seidenkleid? Das mit dem Schlitz auf der linken Seite, der fast bis zum Strumpfband reicht. Der gelbe Schal würde auch hervorragend dazu passen, nur dass er deinem freizügigen Dekolletee etwas die Wirkung nimmt.« Sie schaute mich entgeistert an. Mit jedem ihrer keuchenden Atemzüge begriff Linda ein Stück mehr und dann traten die Tränen in ihre Augen. »Ja, ich war gestern im Blue Bayou und habe dich gesehen. Nicht das erste Mal. Was du in deiner Freizeit machst, geht mich nichts an, aber die tote Jenny geht mich etwas an und jetzt möchte ich ein paar Erklärungen von dir.« Die Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie sah zum Verlieben aus, aber die Sache hatte sich erledigt. Ich bin bestimmt nicht prüde, aber ich wollte auch nicht unbedingt ein Mädchen an meiner Seite, von dem die halbe Stadt die Unterwäsche kannte. Ich reichte ihr ein Taschentuch. Sie wischte sich die Tränen ab und schnauzte dann kräftig hinein. »Also?« »Du weißt doch schon alles, Pat. Warum quälst du mich noch?« »Ich kann mir einiges zusammenreimen. Die harten Fakten brauche ich aber von dir.« 83
Sie erzählte mir, dass Atkinson junge hübsche Verkäuferinnen darauf ansprach, ob sie nicht einsamen, wohl-betuchten Herren Gesellschaft leisten würden. Nur ehrenwerte Männer aus den besten Kreisen. Man würde von einem Chauffeur abgeholt und in die mondänsten Clubs und Restaurants ausgeführt. Die Herren würden sich gerne mit gut aussehenden Damen zeigen. Es war anfänglich die harmlose Palette. Für jeden so verbrachten Abend bekam man die Garderobe und fünfzig Dollar. Ein Wochenlohn. Das war der Speck, mit dem man die jungen Mäuse fing. Am Anfang war das alles noch ganz harmlos, berichtete Linda. Später machten die Herren dann weitergehende Angebote. Sehr lukrative. Linda konnte damit die Schulausbildung ihrer beiden Brüder und eine Operation ihrer Mutter bezahlen. Sagte sie mir zumindest. Es war nicht wert nachgeprüft zu werden. Wollte man allerdings auf diese Angebote nicht eingehen, dann wurde man von Atkinson darauf aufmerksam gemacht, dass so der Deal nicht lief. Es war auch schon vorgekommen, dass nach einem solchen Gespräch ein Mädchen ein paar Tage nicht zur Arbeit kam und wenn es wieder in Marshall Fields auftauchte, dann sah man immer noch die Spuren der Überredungskunst von Atkinson oder wem immer die Gesprächsführung überlassen hatte. »Und was war nun mit Jenny?« Das war es, was mich jetzt am meisten interessierte. »Jenny hat auch mitgemacht. Eines Tages, kurz bevor sie ermordet wurde, kam sie zu mir und meinte, sie hätte es geschafft. Atkinson würde sich jetzt für sie interessieren und was wäre besser, als sich um den Boss persönlich zu kümmern.« »Aussteigen wollte sie nie?« Linda schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Sie wollte Geld, viel Geld und das so schnell wie möglich. Und dann zurück nach Iowa, wie sie einmal erzählt hat.« Das würde sie jetzt auch, aber anders, als sie geplant hatte. »Kennst du das Haus in der North Dearborn, wo sie ermordet worden ist?« Linda nickte. Ihre Stimme wurde ganz leise. »Ja. Da sind die Wohnungen, in die... Du weißt schon.« 84
»Dahin haben sich die Herren also zu weiteren Diensten mit den Mädchen zurückgezogen?« Linda nickte und blickte zur Seite. »Perfekt organisiert. Da wurde nichts dem Zufall überlassen.« Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte und wahrscheinlich auch alles, was mir Linda sagen konnte. Ich brachte sie zurück in die North Sangamon und schenkte ihr zum Abschied mein Taschentuch. * Sonntagabend klingelte das Telefon. Ich sprang vom Bett, auf dem ich den ganzen Tag mit einigen kurzen Unterbrechungen verbracht hatte. »Hallo Kartoffelfresser.« Es war einer von Capreses Handlangern. »Der Boss hat etwas für dich. Eine nasse Katze, die wir aus einem Dreckloch gezogen haben. Der Boss meint, du interessierst dich für solchen Abschaum.« »Heißt die Katze zufällig Catlab?« »Kann schon sein, aber im Moment würde er auch behaupten, er sei der Kaiser von China oder Billy the Kid, wenn wir das wollten.« »Und wie geht's weiter?« »In zwanzig Minuten steht ein Wagen vor deiner Tür. Und denk nicht einmal daran...« »Okay«, sagte ich und legte auf. Natürlich hatte ich nie daran gedacht, meine Waffe in die Höhle des Iceman oder wohin auch immer mich der Wagen bringen würde mitzunehmen. Sie würde mir ganz bestimmt nichts helfen. Eine Stunde später betrat ich einen muffigen Bretterverschlag irgendwo auf der South-Side. Der Iceman war natürlich nicht da, aber ein paar seiner Handlanger und einer der Unterbosse, um den Haufen in Zaum zu halten. Anscheinend hatte das nicht so ganz geklappt. Catlab sah ziemlich übel aus, lebte aber noch. Wenn das das Ergebnis meiner höflichen Bitte, den Mann zu suchen, war, dann hoffte ich inständig, dass der Iceman mich nie vermissen würde. Catlab war auf einen Stuhl gefesselt und hing in den Seilen wie ein Leichtgewichtsamateurboxer, der mit dem amtierenden Schwerge85
wichtsweltmeister zehn Runden gegangen war. Einer der Kerle schüttete ihm einen Eimer Wasser ins Gesicht. Prustend gab Catlab Lebenszeichen von sich. Ich wollte mich nicht zu lange aufhalten. »Sie sind Bill Catlab? Ehemaliger Hausmeister und Concierge in der 379, North Dearborn?« Er nickte zweimal. »Hören Sie, es tut mir Leid, was hier passiert ist...« Hinter mir lachten ein paar der Makkaronis hämisch, »... aber ich will von Ihnen nur wissen, was in der Nacht von Jenny Dylangs Ermordung passiert ist.« Unter anderen Voraussetzungen hätte er sich wahrscheinlich geweigert, Ausflüchte gesucht oder schlichtweg behauptet, nichts zu wissen. Doch die Vorarbeit von Icemans Leuten hatte ihm klargemacht, dass das keine Option war. »Mach's Maul auf, aber schnell«, brüllte ihn einer der Schläger an. »Wir haben schon viel zu viel Zeit mit dir verplempert.« »Mister Atkinson kam mit der Kleinen wie üblich so gegen halb vier morgens, dann wenn das Blue Bayou schließt. Ich war gerade in der Nebenwohnung und habe sauber gemacht, nachdem der Dicke mit dem Mädchen weg war. Die Verbindungstür war nur angelehnt. Ich kümmerte mich nicht darum. Es war ja sowieso immer das Gleiche und ich wurde nicht fürs Hinhören, sondern fürs Weghören bezahlt. Auf einmal wurden die Stimmen lauter. Beschimpfungen, aber auch das gehört bei einigen der Gäste zum Spiel. Also wurde ich noch nicht misstrauisch. Dann hörte ich Schläge. Ich schlich zur Tür und schaute durch den Spalt ins Nebenzimmer. Da stand die Kleine, wie Gott sie schuf. Mann, die hatte vielleicht Klasse und Atkinson, die Hosen um die Knöchel, vor ihr. Anscheinend hatte er ihr gerade eine gelangt. Sie lachte und bezeichnete ihn dann als impotenten Schwächling. Worauf sie sich noch eine fing. Sie zeigte kaum eine Reaktion und schrie ihm ins Gesicht, dass er wohl doch ein Hinterlader sei, wie gemunkelt wird. Warum sonst bekäme er bei einer Frau keinen hoch. Dabei warf sie sich in Positur, dass selbst ein Halbtoter einen Ständer bekommen hätte. In diesem Moment müssen bei Atkinson alle Lichter ausgegangen sein. Er stürzte sich auf sie, warf sie auf das Sofa und stach mit 86
einem Spazierstock immer wieder auf sie ein. Sie wissen schon, zwischen die Beine und so. Sie schrie, dann wimmerte sie nur noch. Und schließlich erwürgte er sie. Ich habe schnell die Tür geschlossen und mich mit meiner Arbeit beschäftigt. Eine Viertelstunde oder so später kam Atkinson herein, nahm mich mit nach drüben und ich musste das Schlachtfeld in Ordnung bringen. Die Kleine sah unten herum schrecklich aus. Wir zogen sie wieder an, legten sie auf das Sofa und ich bekam die Anweisung, sie erst dann zu finden, wenn man es riechen würde. Das habe ich auch gemacht.« »Und dann bekamen Sie kalte Füße und haben sich verdrückt«, ergänzte ich seine Schilderung. »Ja, aber erst nachdem Sie aufgetaucht sind und nach Ihnen die Leute von O'Malley. Da wusste ich, dass mein Leben keinen Cent mehr wert war.« »Da haben Sie nicht so Unrecht.« Ich wendete mich ab. Ich hatte genug gehört. »Was wird jetzt aus der Ratte?«, fragte der Obermakkaroni. »Ich denke, ihr solltet ihn wie ein rohes Ei behandeln, wenn ihr eurem Boss einen gefallen tun wollt. Er ist ein wichtiger Zeuge. Captain Hollyfield wird sich zu gegebener Zeit um ihn kümmern.« Es schien, als sei ihnen dieser Name nicht unbekannt. * Am nächsten Morgen, nachdem ich mich nach meiner Rückkehr von der South-Side bei Dunky in die Besinnungslosigkeit getrunken hatte, steuerte ich meinen Plymouth gegen sieben Uhr Richtung Wellington Avenue. Ich konnte nicht anders, ich musste mir Atkinson vorknöpfen. Mein Vertrauen in die Justiz ging in diesem Fall genau so weit, wie ich mit trockenem Mund spucken konnte. Atkinson würde den Ahnungslosen spielen, alles leugnen und bevor es zum Prozess käme, wäre der Zeuge verschwunden. Im Zweifelsfall würde Il Cardinale einen Deal mit The Jar machen und Catlab als wertvolles Tauschobjekt einsetzen. Ich kannte die Gesetze der Stadt. 87
Ich stellte den Plymouth direkt hinter Atkinsons Nobelkarosse ab und stürmte in den zweiten Stock. An Atkinsons Wohnungstür läutete ich Sturm. Es dauerte dennoch fast fünf Minuten, bis Teiggesicht die Tür öffnete. Er sah mich und dann war Mr. Hyde da. Ich ließ ihm keine Zeit, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, sondern knallte ihm gleich meine Rechte voll ins Gesicht. Er stolperte nach hinten, versuchte sich auf den Beinen zu halten, stürzte aber über einen Stuhl und knallte gegen ein Sideboard. Ich warf die Tür hinter mir ins Schloss. »Guten Morgen, Mister Atkinson. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Wichtigem.« Mit ein paar schnellen Schritten war ich bei ihm und zog ihn hoch. Hass flackerte in seinen Augen. »Ich habe gehört, bei Ihnen bekäme man junge, hübsche Mädchen. Direkt aus dem Warenhaus. Ich bin interessiert.« Ich gab ihm einen Stoß, der ihn in einen Sessel warf. Ich setzte mich ihm gegenüber und machte Teiggesicht mit meinem Freund Smith & Wessen bekannt. »Connor«, stieß er hervor. »Sie machen den Fehler Ihres Lebens.« Die Waffe ließ ihn völlig unbeeindruckt. »Das glaube ich nicht«, gab ich zurück. »Den haben Sie gemacht, als Sie Jenny Dylang ermordet haben.« »Wer sagt das?« »Eine Katze, die sehr laut miaut hat.« Er begriff nicht. »Mister Catlab hat mir sein Herz ausgeschüttet und das reicht, um Sie auf den Stuhl zu bringen.« Atkinson lachte. Dann stand er auf und richtete seinen Morgenmantel. Der Lauf meines Revolvers folgte jeder seiner Bewegungen. Sein Auftritt als Mr. Hyde war mir nur zu gut im Gedächtnis. »Catlab«, stöhnte er dann theatralisch auf. »Der gute Catlab. Ich würde sagen, er lebt nicht mehr lange genug, um den nächsten Regen zu genießen.« Wenn man dem Wetterbericht glauben konnte, dann war er für heute Abend angekündigt. Ich ging nicht darauf ein. Irgendwie musste ich ihn aus der Ruhe bringen. »Nun, ich denke, es ist nicht einfach, als Hinterlader den Schwerenöter bei den Frauen zu spielen...« »Halten Sie den Mund«, zischte er mich an. 88
»Ich denke, Sie sind am Ende. Die Aussage von Catlab, meine, die Mädchen von Marshall Fields werden auch das eine oder andere dazu beisteuern können... Da kommt schon einiges zusammen. Und wenn sich die Polizei den Tatort noch einmal genau ansieht, Doktor Molson sich an bestimmte Details der Obduktion erinnert, dann können auch Ihre Freunde im Hintergrund Sie nicht mehr retten. Sie werden fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.« Das schien ihm zu denken zu geben. »Sie haben also schon alles eingefädelt.« »Sobald Captain Hollyfield aus Detroit...« Als ich den Fehler gemacht hatte, wusste ich sofort, dass es einer war. Atkinsons unterdrücktes Grinsen wäre dazu gar nicht notwendig gewesen. »Sie haben also noch niemanden informiert, Connor.« »Es wissen genug Leute Bescheid«, versuchte ich den Untergang der Titanic zu verhindern. »Nun«, meinte der Eisberg, »dann können wir uns vielleicht noch einigen.« Atkinson ging beiläufig zu einem Sekretär hinüber. »Was ist Ihr Preis?«, fragte er über die Schulter, während er eine Schublade des Sekretärs auf zog. Ich war so davon überrascht, dass ich tatsächlich darüber nachdachte. Und das war mein Fehler. Atkinson schwenkte herum und hatte einen Colt in der Hand. Er war ein Mann schneller Entscheidungen. Kein Wort von: Jetzt hat sich das Blatt gewendet, oder Hände hoch, oder was man sonst noch von sich geben konnte. Er schoss sofort. Die Kugel fuhr Zentimeter neben mir in die Polsterung des Sessels. Im gleichen Moment warf ich mich nach hinten und kippte mit dem Sessel um. Das wiederum überraschte ihn. Ich rollte mich zur Seite und kam hinter dem Couchtisch hoch. Bevor er seine Waffe in meine Richtung schwenken konnte, drückte ich ab. Einmal, zweimal und immer wieder. Dann war die Trommel leer. Von den sechs Schüssen hatten vier getroffen. Ich ging zu der verkrümmt am Boden liegenden Gestalt. Lange würde er nicht mehr leben. Er schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an, als könne er nicht begreifen, was geschehen war. Ich beugte mich über ihn. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Ich dachte daran, was er Jenny und all den anderen Mädchen angetan hatte, die er in die Prostitution getrieben hatte. 89
Denn nichts anderes war es. Heute waren sie noch jung und die Freier reich und vielleicht hatten sie auch gute Manieren, aber in ein paar Jahren würden diese Mädchen an den Straßen zu den Stock Yards stehen und sich für einen Drink verkaufen. Ich verspürte kein Mitleid mit Teiggesicht. »Sagen Sie, Atkinson, eines würde mich noch interessieren: Sind Sie ein Hinterlader oder nicht?« Seine geröchelte Antwort klang wie: »Fahr zur Hölle.« * Um acht war ich im Büro. Um neun kam Betty voller Tatendrang und bereit, ihre Spionagetätigkeit bei Marshall Fields aufzunehmen. Ich gab ihr einen Hamilton Provision und schickte sie nach Hause. Dann wartete ich auf den Anruf von Hollyfield, der ja heute aus Detroit zurück sein sollte. Der Anruf kam um kurz nach vier nachmittags. Ich bestellte Hollyfield ins Büro. Nach zwei Stunden hatte ich ihm die Sache haarklein erzählt, einschließlich des Toten in der Wellington Avenue, von dem er schon von Quirrer erfahren hatte. Nun, so schnell hatte er wohl noch nie einen Mordfall gelöst, aber er stimmte mir zu, dass es Notwehr gewesen sei. Hollyfield war so realistisch, dass er mir wegen der anderen Sache keine zu großen Hoffnungen machte. An die Hintermänner des Mädchenrings würde er bestimmt nicht herankommen, aber vielleicht zogen die sich erst einmal aus dem Geschäft zurück. Zumindest würde er ein bisschen in dem Misthaufen herumstochern. Und ein paar Ratten würde er schon treffen. Meine Spesenabrechnung amüsierte ihn wirklich. Ich konnte seinen Sinn für Humor nicht teilen. Aber auch da hatte er ein Einsehen und schob mir einen weiteren Hunderter rüber. Was viel wichtiger war, er verabschiedete sich mit: »Du hast was bei mir gut.« Und das war in der gängigen Währung Chicagos ein Vermögen. Bei Dunky genehmigte ich mir noch ein paar Drinks, allerdings längst nicht so viele wie am Abend zuvor. Ein bisschen musste auch ich auf meine Gesundheit achten. Die Abenddämmerung hatte sich gerade in die Nacht verwandelt, als ich meinen Plymouth in der North 90
Clark abstellte und in meine Wohnung wollte. Aus dem Hauseingang trat eine Gestalt auf mich zu. »Hallo Cowboy!« Es klang ein wenig unsicher. »Lust auf einen Ausritt?« Monica schaute mich verschämt wie ein Backfisch an. Sie hatte ja schon Erfahrung mit Angeboten, die ich ausschlug und außerdem waren wir das letzte Mal nicht gerade als Freunde auseinander gegangen. Ich dachte nicht lange nach. »Warum eigentlich nicht?« Ende
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