John Grey
Die Todesreiter Ronco Band Nr. 175/16
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 sti...
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John Grey
Die Todesreiter Ronco Band Nr. 175/16
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Erreicht Kansas, wird in den Rassenkampf verwickelt und gewinnt einen vierbeinigen Freund. Henry Lane – Verfolgt Mordbrenner und ist selbst nicht viel besser. Chet Duncan – Ein weißer Farmer, der dafür bezahlen muß, daß er einen Schwarzen beschäftigt. Nap – Arbeitet bei Chet Duncan und weiß, daß er als Schwarzer keine Chance hat. Jonathan Miller – Rassenfanatiker, der Wind sät und Sturm erntet. Jim Corbett und Fred Gally – US-Deputy-Marshals, die auf der Spur der Mordbrenner reiten und auf Ronco stoßen.
Die Todesreiter 20. März 1879 Gestern haben Lobo und ich die Grenze von Colorado überschritten. Wir reiten nordwärts. Seit meiner letzten Eintragung ist viel Zeit vergangen. Es ist auch viel geschehen, und die Tage und Wochen waren hart, längst nicht so ruhig, wie ich es erhofft hatte. Die Armee hat meine Fährte wieder aufgenommen. Sie täte besser daran, sich um ihre eigenen Offiziere zu kümmern, die Dreck am Stecken haben. Von diesen Offizieren gibt es eine ganze Menge. Die Armee hat mir einen Jagdhund auf die Spur gesetzt, einen jungen Offizier, eigentlich noch ein Greenhorn. Dennoch: Ich habe das Gefühl, daß er mir noch viel Ärger bereiten wird. Er wirkt wie ein Mann, der seine Aufgabe ernst nimmt und nicht so schnell aufgibt. Andererseits bleibt mir eine Hoffnung: Er erweckt den Eindruck, als ob er fair sei. Zumindest ist er kein Killer. Ich glaube sogar, er ist aus gutem Holz, ein guter Mann. Aber er ist mein Feind, und wahrscheinlich wird er es auch bleiben. Denn vermutlich hat man ihn mit Schauergeschichten über mich vollgestopft. Ich kann nicht erwarten, daß er mir mehr glaubt, als der Armee, seinen Vorgesetzten. Er wird mich jagen, und ich werde mit ihm rechnen müssen. Trotzdem, bin ich nicht ohne Hoffnung. Vor wenigen Tagen erst habe ich erfahren, daß einer der Männer, die ich suche und der in der Lage ist, mich zu rehabilitieren, in Del Norte leben soll, einem kleinen Nest etwa hundert Meilen nördlich von der Grenze zwischen New Mexico und Colorado. Ich hoffe, daß ich ihn finde, daß er mir hilft, und vor allem hoffe ich, daß ich Del Norte überhaupt erreiche. In meiner Situation sind daran berechtigte Zweifel angebracht. Aber ich will es schaffen, das ist die Hauptsache. Und ich kenne das Land, was mir viel helfen wird. Viel hat sich in den zwanzig Jahren, die ich nicht mehr hier war, nicht verändert. Das ist mein erster Eindruck, ich habe nicht die besten Erinnerungen an meine
Zeit in Colorado. Sie ging schnell vorbei, hat sich aber nachhaltig in mein Gedächtnis eingeprägt. Ich fuhr damals als blinder Passagier mit der Eisenbahn schleunigst weiter nach Osten, nach Kansas. Die Eisenbahn war für mich etwas Neues gewesen. Ich hatte ja jahrelang unter Apachen in den Wüsten von Mexiko und Texas gelebt. Aber ich fand mich mit ihr ab, wie ich mich überhaupt mit allem abfand, was mir in der Welt der Weißen begegnete. Ich wurde selbst wieder ein Teil dieser Welt. Wir lagern am Cato-Creek, einem kleinen Flüßchen, dessen Wasser sauber und trinkbar ist. Während Lobo ein Feuer anfacht und eine bescheidene Mahlzeit zubereitet, will ich in meinem Tagebuch weiterschreiben, über die Erlebnisse damals – 1859 –, nachdem ich Colorado hinter mir zurückgelassen hatte.
1. Der schrille Ton der Dampfpfeife weckte mich. Ich wälzte mich auf die Seite und blinzelte zur offenen Tür des Frachtwaggons, durch die grelles Tageslicht ins Innere flutete. Das monotondumpfe Rattern der Räder klang plötzlich sehr laut und verlor seinen Gleichklang. Der Zug hatte sein Tempo spürbar verlangsamt. Ein paar graue Dampfwolken, die der Fahrtwind auf den Bahndamm hinunterdrückte, wehten an der Waggontür vorbei. Von der Lokomotive ertönte wieder ein grelles Pfeifen. Ich richtete mich schwerfällig auf und bewegte mich, mühsam das Gleichgewicht haltend, durch den Waggon bis zur offenen Tür. Ein paar Frachtschuppen und einige Telegrafenmasten flogen vorüber. Einige hundert Yards entfernt entdeckte ich die Dächer einer kleinen Stadt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Ich wußte nicht einmal, ob Colorado, an das ich so viele bittere Erinnerungen hatte, schon hinter mir lag, aber ich hoffte es. Die Stadt sah freundlich aus. Das Umland war flach wie ein Teller. Überall wuchs kniehohes Büffelgras. Wieder trieben Rauchwolken von der Spitze des Zuges vorbei. Zischend stieg Dampf unter den Rädern der Lok hervor. Kreischend
schleiften die Bremsen über glitzernden Stahl. Ein Wassertank rückte näher. Ich beugte mich etwas vor und konnte bereits die flachen Holzgebäude der Station erkennen. Einen Moment überlegte ich, ob ich mich im Waggon verstecken und weiterfahren sollte. Dann entschied ich mich dafür, den Zug zu verlassen. Durst brannte in meiner Kehle, und Hunger fraß in meinem Leib. Zwar wußte ich nicht, wie ich mir Proviant besorgen sollte, da ich keinen Cent in der Tasche hatte, aber ich hoffte, daß mir etwas einfallen würde. Als der Zug noch langsamer wurde, duckte ich mich und sprang ab. Ich stürzte hart auf den Bahndamm und schrammte im Schotter den Stoff meiner Hose über den Knien auf. Fluchend richtete ich mich auf und ging zur Stadt hinüber. Unterwegs bemerkte ich neben dem Bahndamm ein großes Schild mit der Aufschrift »Aubrey-Station, Kansas«. Ich war also nicht mehr in Colorado. Das machte es mir ein wenig leichter. Als ich den Stadtrand erreichte, hielt der Zug gerade in der Bahnstation. Vor mir tauchte ein Brunnen auf, und mein Durst wurde fast augenblicklich unerträglich. Ich schritt auf den Brunnen zu, löste die Verankerung der Winde, ohne mich umzuschauen, und ließ einen abgenutzten Holzeimer in den Schacht hinunter. Gefüllt mit kaltem, klaren Wasser zog ich ihn wieder hoch, stellte ihn auf die Einfassung des Brunnens und schob den ganzen Kopf hinein. Als ich mich wieder aufrichtete, klitschnaß, mit triefenden Haaren, stand wenige Schritte entfernt ein Mann vor mir und starrte mich interessiert an. Ich beachtete ihn nicht, senkte meinen Kopf wieder und trank mich satt. Den Rest des Wassers schüttete ich auf den Boden, wo er eine Pfütze bildete, die rasch in der Sonnenhitze verdunstete. »Du bist doch gerade vom Zug gesprungen«, sagte der Mann auf einmal. Meine Haltung spannte sich. Unwillkürlich spürte ich den Druck des schweren Navy-Colts, den ich unter dem Hemd im Gürtel trug. Ich schaute den Mann an, ohne zu antworten. »Wer hat dir erlaubt, hier zu trinken?« Ich antwortete wieder nicht, schob meine Rechte aber unauffällig
unter das Hemd und umspannte den Griff des Revolvers. »Der Marshal wird sich für dich interessieren«, sagte der Mann. »Und die Leute von der Eisenbahn auch. Die können keine blinden Passagiere leiden. Ich auch nicht, ich bin nämlich bei der Station angestellt und hab dich vom Zug springen sehen.« Er näherte sich drohend, und ich riß den Revolver unter dem Hemd hervor. »Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte ich. Wut stieg in mir auf. Ich hätte nicht aus dem Zug springen dürfen. Ich hätte weiterfahren sollen. Hier war es nicht anders als in Colorado. »Ich habe nichts getan«, sagte ich. »Ich habe nur ein bißchen Wasser getrunken.« Mit großen Augen starrte er auf die Waffe in meiner Faust. »Mach doch keinen Unsinn, Junge«, flüsterte er. Er streckte abwehrend den rechten Arm aus. »Dann lassen Sie mich gefälligst in Ruhe«, sagte ich erbittert. Ich bewegte mich rückwärts vom Brunnen weg, bis ich im Schatten eines Hauses stand. Als ich mich umdrehte, um fortzulaufen, begann er zu schreien. Ich schaute nicht zurück. Ich rannte, von wildem Grimm erfüllt. Den Zug würde ich nicht mehr kriegen. Als ich einen Blick zur Bahnstation hinüberwarf, rollte er gerade an und verschwand nach Osten. »Haltet ihn!« schrie der Mann hinter mir. »Das ist einer dieser schmutzigen Landstreicher, die stehlen und rauben!« Ich lief eine Seitengasse hinauf zum Stadtkern. Ein Mann ging mir entgegen. Er hörte den anderen schreien und baute sich auf der Straße auf. Ich zog meinen Revolver, und als er mir den Weg nicht freigab, stürmte ich einfach auf ihn los und schlug mit dem Revolver zu. Der Mann war so überrascht, daß er den Hieb nicht einmal abwehrte. So traf ich ihn mit dem Revolverlauf seitlich an den Hals, und er sackte gurgelnd in den Staub. Ich lief weiter und blieb schließlich in einem Hofeingang stehen, um Atem zu holen. Am Stadtrand war die Hölle los. Dort schienen sich Suchtrupps zu formieren. Ich steckte wieder bis zum Hals in der Tinte, ohne daß ich
so recht wußte, warum eigentlich. In dem Hofeingang konnte ich nicht stehenbleiben. Hier würden sie mich früher oder später entdecken. Außerdem spürte ich meinen leeren Magen. Für einen Moment befielen mich Schwäche und Mutlosigkeit. Ich lehnte mich gegen die hölzerne Einfassung des Hofeingangs. Als ich Stimmen in meiner Nähe hörte, steckte ich den Colt in meinen Hosenbund zurück und lief eine schmale Gasse hinunter, nachdem ich sicher war, daß ich noch nicht entdeckt worden war. Am Nordrand der Stadt tauchte ein schmaler, seichter Bach vor mir auf. Das Wasser blinkte im Sonnenlicht. Als ich mich näherte, erkannte ich jedoch, daß es schmutzig und trübe war. An den Rändern des Rinnsals lagerten Essensabfälle. Eine dicke Ratte lief von einem Abfallhaufen zum anderen. Ich blieb stehen und verzog angewidert das Gesicht. Das war die häßliche Seite der Stadt, die ich vom Zug aus nicht hatte sehen können. »Was tust du hier?« fragte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Unwillkürlich griff ich unter mein Hemd und umspannte den Griff des Revolvers. Zwischen den schäbigen Hütten am Bach stand ein Junge, der nicht älter sein konnte als ich, auch wenn er viel jünger als ich wirkte. Er war hochaufgeschossen und sehr mager. Er trug kein Hemd, nur eine fleckige Weste über dem dürren Oberkörper. Die Hose war zu kurz und an den Beinen zerrissen. Um die Hüften wurde sie mit einem alten Strick gehalten. Der Junge war barfuß. Sein Haar hing ihm strähnig am Kopf. »Ich tue nichts«, sagte ich. »Bist du der, den sie suchen?« Er vergrub die Hände in den Taschen seiner fadenscheinigen Hose. Sein Gesicht nahm einen verschwörerischen Ausdruck an. »Ich war bei der Station, als es losging«, sagte er. »Gar nichts ging los«, sagte ich. »Ich habe ein bißchen Wasser getrunken, weiter nichts.« »Das sind alles Schweine«, sagte der Junge. »Die gönnen dir nicht mal einen Schluck Wasser. Die halten sich für was Besseres, weil die
oben in der Stadt wohnen, in richtigen Häusern, während wir hier unten am Bach hausen müssen. Wir hatten mal eine Farm, und dann kam ein trockener Sommer, und da war alles aus. Im Jahr darauf haben wir es noch einmal versucht. Da erschienen die Heuschrecken und haben uns die ganze Ernte weggefressen. Seitdem sitzen wir hier in diesen Hütten, und mein Vater muß für einen lausigen Lohn den Mietstall ausmisten. Aber die Leute oben in der Stadt, die spucken auf uns.« »Ich gehe schon«, sagte ich. Ich verstand nicht, was der Junge meinte. Bei den Apachen gab es solche Unterschiede nicht. Es gab dort nur schlechte oder gute Kämpfer. Kein Krieger verachtete den anderen, nur weil er weniger besaß. »Du brauchst nicht zu gehen«, sagte der Junge. »Ich verrate dich nicht. Ich hab für die Leute da oben nichts übrig.« »Ich habe Hunger«, sagte ich. »Weißt du, wo ich was zu Essen kriegen kann?« »Hast du Geld?« »Nein.« »Schwierig«, sagte er. Er betrachtete mich noch immer neugierig. »Hast du einen Revolver?« »Ja«, sagte ich. »Und ich hab auch ziemlich Hunger.« »Ich besorg dir was zu essen«, sagte er. »Wenn ich einmal mit deinem Revolver schießen darf.« Er war ein Kind, ein richtiges Kind. Ein Revolver war für ihn nur ein Spielzeug. Ich schaute ihn staunend an. Dreizehn Jahre war ich alt, und so alt war wahrscheinlich der Junge auch. Aber ich war ein Mann und endlos weit von diesem Jungen entfernt. Ich hatte Kampf und Tod gesehen, war mit den Apachen geritten, hatte selbst gekämpft und getötet. Ich war schneller gereift, innerlich und auch äußerlich, so daß fast jeder, der mich sah, mich für siebzehn hielt. Eine Waffe war für mich ein Gebrauchsgegenstand, ein Werkzeug, das ich zum Überleben benötigte. Der Junge wollte einmal damit schießen, nur zum Spaß … Ich nickte. »Sicher«, sagte ich. »Besorg mir was zu Essen, dann darfst du einmal schießen.«
Er rannte los und verschwand in einer Hütte. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück. Ich hatte mich derweil in den Schatten eines Schuppens begeben und hockte am Boden. »Maisbrot«, sagte der Junge, als er sich neben mich setzte. »Und etwas Speck. Wo ist der Revolver?« »Erst will ich essen«, sagte ich. Gierig schlang ich in mich hinein, was er mir reichte. »Du hast einen niedergeschlagen?« fragte er. »Er wollte mich festhalten«, erwiderte ich. »Ich habe niemandem etwas getan. Ich mußte mich wehren.« »Richtig«, sagte er. »Man darf sich nichts gefallen lassen. Wo ist der Revolver.« Ich zog die langläufige, schwere Waffe mit der fleckigen Brünierung unter dem Hemd hervor. Matt schimmerte der dunkle Stahl im Sonnenlicht. Es war ein Navy-Colt, Modell 1851, Kaliber .36, ein sechsschüssiger Revolver mit achtkantigem Lauf. Auf dem Griff trug er den Stempel der Wachmannschaft des Straflagers von El Moro, Colorado. Der Junge neben mir kriegte große Augen und hielt den Atem an, als er die Waffe in meiner Faust liegen sah. »Mann«, sagte er leise. Und dann noch einmal: »Mann, was für ein Ding. Hast du – hast du schon mal damit geschossen, und – und einen umgelegt.« »Ja«, sagte ich. Ich fühlte mich auf einmal schlecht. »Gib her«, sagte er. »Ich habe noch nie gesehen, wie das ist, wenn einer erschossen wird.« »Nicht schön«, sagte ich. Widerstrebend reichte ich ihm die Waffe. Da hörte ich Männerstimmen oberhalb der Gasse mit den schäbigen Hütten. Dann sah ich einige Männer heranlaufen. An der Spitze der Kerl, der mich am Brunnen hatte festhalten wollen. Ich sprang auf und riß dem Jungen den Revolver aus der Hand. »Danke für das Essen«, sagte ich. Dann rannte ich auf den Bach zu. »Da ist er!« hörte ich die Männer schreien. »Was habe ich gesagt, unten am Bach finden wir ihn, bei diesen dreckigen Nestern. Ein richtiger Tramp.«
Ich erreichte das Ufer des Bachs und sprang ab. Der Bach war nicht breit. Ich hätte den Sprung glatt bis zum anderen Ufer geschafft. Aber vorher traf mich ein Stein in den Rücken. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte nach vorn. Mit dem Oberkörper schlug ich hart neben einem der Abfallhaufen zu Boden. Schmerzen überfluteten meinen Rücken, erfüllten meinen ganzen Körper. Bis zu den Knien sackte ich in die dreckige, stinkende Brühe. Ich stemmte mich hoch, obwohl mein Rückgrat durchgebrochen zu sein schien, und robbte aus dem Wasser. Hinter mir hörte ich jetzt den Jungen schreien. Mit überschnappender Stimme brüllte er den Männern, die mich verfolgten, Verwünschungen entgegen. Wieder flog ein Stein an meinem Kopf vorbei. »Wir jagen diese verfluchten Landstreicher aus der Stadt.« Ich drehte mich um und sah sie heranstürmen. »Wir sind eine saubere Stadt. Dem Gesindel werden wir's zeigen.« Ich schoß. Belfernd und dumpf hallte die Detonation zwischen den Fassaden der windschiefen Hütten. Ein grauweißes Pulverwölkchen wehte über den Bach. Die Kugel grub sich dicht vor den Männern in den Boden und schleuderte eine Fontäne aus Dreck und Steinen hoch. Ich feuerte noch einmal und schoß einem der Männer den rechten Stiefelabsatz weg. Die Wucht des Treffers riß sein Bein hoch. Er stürzte zu Boden und heulte auf, als hätte ich ihn schwer verletzt. Da blieben die anderen stehen und suchten Deckung. Ich wandte mich um und lief nordwärts in die Savanne hinaus. Nach einiger Zeit schaute ich mich um. Da standen die Männer noch am Bach und schienen zu beratschlagen, ob es Sinn hätte, mich weiter zu verfolgen. Schließlich sah ich, daß sie davongingen. Zwischen den Hütten stand verloren und mit hängenden Schultern eine magere Gestalt, die mir aus stumpfen Augen nachblickte. Ich setzte meinen Weg fort. Im langsamen Wolfstrott lief ich durch die Ebene. Die Stadt versank hinter mir im Land, und ich lief, bis die Sonne östlich von mir die Kuppen der Hügel berührte und den Himmel mit einem flammenden Rot überzog.
2.
Die Gebäude der Farm lagen im milchigen Mondlicht vor mir. Wind war aufgekommen und rauschte in den hohen Juniperen, die östlich vom Haus standen. Mein Hunger war bereits wieder groß, größer als meine Müdigkeit. Meine Blicke glitten über die leeren Korrals, den sauberen Hof, das stabil wirkende Haupthaus und die solide gebauten Ställe. Ich stand in einer Bodenvertiefung und schätzte das Risiko ab, das ich auf mich nahm, wenn ich zu der Farm ging und durch ein Fenster einstieg. Mein Magen knurrte, und ich entschied mich, es zu versuchen. Da hörte ich Hufschlag in der Nacht. Erst nur leise, denn der weiche Boden schluckte fast jedes Geräusch. Bald aber klang es lauter und rückte näher. Ich ließ mich in der Bodenvertiefung ins hohe Gras fallen, lauschte und wartete ab. Im Südosten tauchten Reiter aus der Nacht auf. Geisterhaft und schwarz wie Schattenrisse hoben sie sich vor dem Hintergrund des silbrig schimmernden Nachthimmels ab. Sie trugen lange Umhänge, die im Reitwind flatterten und ihnen von weitem das Aussehen von riesigen Vögeln gaben. Instinktiv spürte ich, daß Gefahr drohte. Mein Herz begann zu hämmern. Ich preßte mich an den Boden und hob nur den Kopf etwas, um durch das dichte Gras die Reiter beobachten zu können. Sie sprengten in breiter Front auf die Farm zu. Ich sah jetzt, daß sie Gewehre in den Fäusten hielten. Der Systemkasten des einen blinkte grell im Mondlicht – ein Volcanic-Karabiner. Sie ritten dicht an mir vorbei, ohne mich zu entdecken, und hielten auf dem Hof der Farm an. Im Haupthaus flammte hinter einem Fenster ein Licht auf. Eins der Pferde der Männer wieherte schrill, dann sprangen die Reiter aus den Sätteln und liefen zum Haus. Mit ihren Gewehrkolben schlugen sie gegen die Tür. Ich hörte das Splittern und Brechen von Holz. Die Männer drangen ins Haus ein. Überall hinter den Fenstern brannte jetzt Licht. Schreie ertönten aus dem Haus. Zwei Schüsse krachten, dann wurden Menschen auf den Hof geschleppt. Ein Hund kläffte
wie verrückt. Die Reiter in den langen Umhängen schleiften die Leute von der Farm über den Hof und fesselten sie an die Querstangen des Korralgatters. Es waren zwei Frauen dabei. Die fesselten sie nicht. Sie warfen sie auf den Boden und zerrissen ihnen die Nachthemden. Ich hörte die Frauen schreien und sah, daß die Männer in den Umhängen lachend um sie herumstanden. Einer nach dem anderen legte sich zu den Frauen. Was sie taten, konnte ich nicht sehen, aber ich konnte es mir denken. Die Stimmen der Frauen verhallten in der Nacht. Ihre schrillen Schreie wurden zu einem leisen, aber durchdringenden Wimmern, als die Männer von ihnen abließen und sie neben den Farmer und die beiden anderen Männer, die sie aus dem Haus geholt hatten, an das Korralgatter fesselten. Dann gingen die Reiter noch einmal ins Haus. Sie hantierten im Innern, dann sah ich hinter den Fenstern Flammen aufzucken. Die Männer verließen eilig das Haus. Einer trug eine Petroleumlaterne in der Rechten. Er lief zum Stall hinüber, öffnete das Tor, zerschlug die Lampe am Torrahmen und schleuderte sie ins Innere, wo das auslaufende Petroleum sofort Feuer fing. Ein magerer Hund rannte bellend über den Hof und sprang die Männer in den langen Umhängen an. Einer versetzte dem Tier einen brutalen Tritt mit dem Stiefelabsatz. Der Hund wurde durch die Luft geschleudert, überschlug sich und humpelte jaulend in die Dunkelheit. Die Männer schwangen sich in die Sättel. Mit lautem Klirren zerplatzten bereits die Fensterscheiben am Haupthaus unter der Hitze des Feuers, das sich im Innern des Gebäudes rasend schnell ausbreitete. Flammen schlugen aus den Fenstern, setzten die Fensterrahmen in Brand, krochen an den Außenwänden des Hauses hoch und erreichten das schindelbedeckte Dach. Geisterhaft erhellte das Feuer den Farmhof. Aus dem Stall hallten jetzt die verzweifelten, angstvollen Schreie von Rindern und Schweinen. Der an den Stall angebaute Schuppen für die Hühner fing ebenfalls Feuer, und das grelle Gackern und Kreischen des Federviehs gellte mir in den Ohren. Die Reiter trieben ihre Pferde über den Hof. Im flackernden
Feuerschein sah ich ihre Gesichter. Es waren fünf Männer. Einer war sehr groß und trug einen sauber gestutzten Oberlippenbart. Ein zweiter hatte ein Gesicht wie ein Kind, hohlwangig, knochig. Ein knallrotes Halstuch war unter dem halboffenen Mantelkragen zu sehen. Die Männer ritten auf den Korralzaun zu, an dem die Farmerfamilie angebunden war. Sie hielten ihre Waffen in den Fäusten und begannen plötzlich zu schießen. Ich wollte den Kopf ducken, das Gesicht ins Gras pressen und mir die Ohren zuhalten. Aber ich tat nichts davon. Ich war wie gelähmt, starrte hinüber auf den Farmhof und nahm die Bilder in mich auf, sicher, sie nie mehr vergessen zu können. Die beiden Frauen wurden zuerst getroffen. Ihre nur noch von den Fetzen ihrer Nachthemden bedeckten Körper bäumten sich in den Fesseln auf. Ich sah, wie die weiße Haut sich rot färbte, als das Blut aus ihren Wunden quoll. Sie sackten in sich zusammen und blieben mit vornüberhängendem Oberkörper am Zaun stehen, gehalten von den Stricken, die ihre Handgelenke an die Gatterstangen fesselten. Die Männer schrien nicht. Sie starben schnell. Einer, den ich für den Farmer hielt, hatte graues Haar und einen dichten Vollbart. Ich sah, wie ihn eine Kugel in die Stirn traf und sein Kopf gegen eine Gatterstange prallte. Er sackte nach vorn und war sofort tot. Die Reiter rissen ihre Pferde herum. Der Stall und die Scheune daneben standen jetzt in hellen Flammen. Das große Wohnhaus hatte sich in eine riesige Fackel verwandelt. Ein paar schwarze Rauchwolken trieben über den Hof. Die Todesschreie der im Stall gefangenen Tiere waren verstummt. Nur noch das Prasseln des lodernden Feuers war zu hören und der Hufschlag der Pferde, der laut wurde, als die Reiter in den langen Umhängen von der Farm ritten. Die Männer verließen den Lichtkreis des Feuerscheins. Sie sprengten auf die Ebene hinaus und tauchten in der Dunkelheit unter. Ich zog den Kopf ein und hielt den Atem an, als sie kaum fünf Yards von mir entfernt vorüberritten. Ich nahm den strengen Geruch ihrer Pferde wahr und bildete mir sekundenlang sogar ein, den scharfen Pulvergestank zu riechen, der in ihren Kleidern nisten mußte.
Dann waren sie vorbei, und ich wartete eine Weile, bis ich den Kopf wieder zu heben wagte. Ich hörte noch ihren Hufschlag, aber die Nacht hatte die Mörder verschluckt. Da richtete ich mich auf und lief steifbeinig zur Farm hinüber. * Die Flammen fraßen ein Loch in den schwarzen Mantel der Nacht und malten einen blutroten Fleck in den Himmel. Unerträgliche Hitze waberte mir entgegen, als ich auf den Hof lief. Meine Augen schmerzten, als ich in das Feuer blickte. Ich rannte über den Hof. Krachend stürzte das Dach des Wohnhauses ein. Eine Wolke von glühender Asche, Staub und brennenden Holzteilchen stob auf, traf mich seitlich und hüllte mich für einen Sekundenbruchteil ein. Ich schrie vor Schmerz, als die glühende Asche die Haut meines Gesichts verbrannte. Ich schloß die Augen und lief blind weiter, bis der Schmerz nachließ. Dann stolperte ich. Ich stürzte lang hin, öffnete die Augen wieder und stemmte mich hoch. Da sah ich, daß ich über den Fuß eines Toten am Korralgatter gestolpert war. Ich fröstelte trotz der Hitze, die vom Brandherd ausstrahlte. Splitternd und berstend stürzten Stall und Scheune in sich zusammen. Nur ein teils brennendes, teils schwarz verkohltes Gebälk blieb stehen. Zwischen den Trümmern lagen die Leichen der Tiere, die in den Flammen umgekommen waren. Ich erhob mich und wischte mir den Ruß und die Asche vom Gesicht. Einen Moment blickte ich auf die Toten am Korralzaun. Die tanzenden Flammen spiegelten sich in ihren weitaufgerissenen, glasig schimmernden Augen. Rasch wandte ich mich ab und lief zum Haus hinüber, weil ich hoffte, vielleicht etwas zu finden, das noch verwertbar war. Unweit vom Stall fand ich ein totes Huhn. Es hatte anscheinend bis zuletzt gelebt und war brennend aus dem zusammengestürzten Schuppen entkommen. Das Gefieder war fast völlig verbrannt. Ich hob das Huhn auf, denn ich hatte Hunger, und das Tier schien noch eßbar zu sein. Es war schlimm, was ich hatte mitansehen müssen, aber darüber durfte ich nicht vergessen, daß ich selbst weiterleben wollte. Es war
nicht das erstemal, daß ich in meinem kurzen Leben Leid, Tod und Vernichtung gesehen hatte. Ich hatte gelernt, meine Gefühle zu unterdrücken und immer das zu tun, was notwendig und wichtig war, auch wenn ich noch so sehr erschöpft war. Ich setzte mich neben dem Brunnen auf den Boden, zog mein Messer und zerschnitt das Huhn in zwei Teile. Dann schabte ich die Reste der verkohlten Federn von der fast schwarz verbrannten Haut. Innen war das Fleisch hell und genießbar. Ich setzte mich so, daß ich die Leichen im Rücken hatte, und begann, das Huhn zu zerlegen und zu essen. Als ich ein leises Winseln hinter mir hörte, wandte ich den Kopf. Da stand der Hund, den die Mörder mit Fußtritten verjagt hatten, drei oder vier Schritte von mir entfernt, Verkrustetes Blut klebte an seiner linken Seite. Es war ein magerer Bastard mit kurzen Ohren, spitzer Schnauze und dichtem, braunschwarz geflecktem Fell. Seine Augen waren groß, rund und ungemein ausdrucksstark. Er ließ die Zunge aus dem Maul hängen, schaute mich abwartend an und bewegte den Schwanz schwach hin und her. Ich musterte ihn und fühlte mich plötzlich besser. Es tat gut, inmitten von Zerstörung und Tod ein lebendes Wesen zu sehen. Er winselte wieder. Ich schnitt ein Stück Fleisch ab und warf es ihm hin. Er schnappte danach, schlang es hinunter und bewegte seinen Schwanz etwas heftiger. Mit weitgeöffnetem Maul stand er da und schien mich anzulachen. Seine Augen funkelten. Ich warf ihm ein weiteres Stück Fleisch zu, und er traute sich etwas näher an mich heran. Er bewegte sich steifbeinig, vorsichtig, jederzeit bereit, sofort zurückzuspringen. »Sie haben deine Leute umgebracht«, sagte ich zu ihm. Ich sprach mit ihm wie mit einem Menschen. »Und dich haben sie getreten.« Er schien dem Klang meiner Stimme nachzulauschen, und es schien ihm zu gefallen, daß ich mit ihm redete. Er rückte noch etwas näher und winselte wieder. Ich warf ihm Fleisch hin, er fraß, und seine Haltung entspannte sich. Kaum einen Schritt entfernt von mir setzte er sich hin und betrachtete mich mit schiefgelegtem Kopf.
»Das war eine verdammte Schweinerei«, sagte ich zu ihm. »Hast du auch so einen Hunger wie ich?« Ich gab ihm Fleisch, aß selbst, und teilte das Huhn mit ihm. Ich löste das Fleisch sorgfältig von den Knochen, die für ihn gefährlich waren, da sie leicht splitterten und seine Därme zerstört hätten. Als wir gemeinsam alles aufgegessen hatten, erhob ich mich. Sofort sprang der Hund auf und entfernte sich ein Stück. Ich redete ruhig mit ihm, ging zum Brunnen und zog Wasser in einem Eimer herauf. Nachdem ich getrunken hatte, stellte ich den Eimer hin und ging zum Haus hinüber, wo das Feuer inzwischen niedergebrannt war. Ab und zu zuckten noch einmal hier und da Flämmchen auf. Aber sie fanden keine Nahrung mehr und sackten schnell wieder in sich zusammen. Nur bei der Scheune brannte es noch. Beißend hing der Brandgeruch über dem Hof, auch der Wind von Westen konnte ihn nicht vertreiben. Als ich mich umdrehte, sah ich den Hund bei dem Eimer stehen und trinken. Ich lächelte unwillkürlich, bückte mich dann und suchte den Boden ab. Aber es fand sich nichts, absolut nichts, was mir hätte von Nutzen sein können. Eine Flasche wäre gut gewesen, in der ich mir einen kleinen Wasservorrat hätte mitnehmen können. Schließlich gab ich es auf. Müdigkeit verspürte ich im Moment nicht mehr, meine Nerven waren zu angespannt. Ich wollte auch nicht neben den niedergebrannten Gebäuden schlafen, wo es nach verkohltem Fleisch stank und fünf Leichen an einem Zaun festgebunden waren. Ich konnte die Toten nicht begraben, denn das Feuer hatte nichts verschont, auch Werkzeug entdeckte ich nicht. Ich beschloß, weiterzulaufen, nordwärts. Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht, auch zum Pläneschmieden war ich bisher nicht gekommen. Ich verließ mich auf mein Schicksal und darauf, daß ich mit den jeweiligen Situationen, die mir begegnen würden, schon fertigwerden würde. Ein letztes Mal schaute ich mich um, und da sah ich den Hund neben den Leichen am Korralgatter stehen. Er blickte zu mir herüber, und schien auf ein Zeichen zu warten. Ich war mir dessen nicht ganz sicher, obwohl ich froh gewesen wäre, wieder einen Gefährten zu haben.
Er schnüffelte an den Leichen herum, warf aber immer wieder einen Blick auf mich. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, drehte mich schließlich um und ging in die Dunkelheit davon. Wenig später hörte ich ein leises Rascheln im Gras hinter mir. Als ich den Kopf wandte, sah ich den Hund. Er war dicht hinter mir und blieb stehen, als ich stehenblieb. »Was sollst du auch auf der Farm?« sagte ich. »Du kannst ruhig mitkommen. Aber du mußt für dich selbst sorgen.« Es sah aus, als verstünde er mich. Aus blanken Augen schaute er mich unentwegt an. Ich nickte, und ich war froh, daß er mir gefolgt war. »Komm«, sagte ich. »Wir suchen uns einen guten Platz zum Schlafen.« Er sprang an mir vorbei und lief mir voraus wie ein Führer. Ab und zu schaute er zurück, ob ich ihm folgte. Es war ein gutes Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
3. Ein paar Hügel tauchten vor uns aus der Nacht auf wie die Rücken riesiger schlafender Tiere. Hier und da gab es dichtes Buschwerk und einige Bäume. Neben einen langgestreckten Strauchgürtel blieb ich stehen. »Ich glaub, das ist ein guter Platz«, sagte ich. Der Hund setzte sich und schaute mich an. »Ich weiß nicht, wie du heißt«, sagte ich. »Ich werde dich Shita nennen, so hieß das erste Pferd, das ich bei den Apachen hatte. Es war ein verdammt gutes Pferd, und ich denke, der Name paßt zu dir.« Ich wollte ihn streicheln, aber er wich mir aus, sprang etwas zurück, wedelte aber mit dem Schwanz. »In Ordnung«, sagte ich. »Ich kann diese Herumschmuserei auch nicht leiden. Wir verstehen uns auch so, wie?« Er rückte wieder näher und setzte sich. Da setzte ich mich auch ins Gras. Im nächsten Moment fuhr der Hund hoch und schoß knurrend in das Gesträuch. Es knackte im Unterholz, dann jaulte Shita laut und kehrte zu mir zurück. Sekunden später brachen Männer durch das
Gebüsch und umringten mich. Ich hockte noch immer am Boden, hatte die Rechte unter mein Hemd geschoben und umspannte den Griff des Navy-Colts. Die Männer waren groß und hager. Ihre Kleidung war abgetragen – im Gegensatz zu ihrer Bewaffnung, die war erstklassig. Sie waren unrasiert und trugen speckige Hüte. Sie waren zu dritt. Zwei trugen Revolvergurte mit tiefgeschnallten Halftern, der dritte hatte einen kurzläufigen Sharps-Karabiner in den Fäusten. Shita stand dicht neben mir. Er hatte die Lefzen hochgezogen, die Zähne gefletscht und knurrte verhalten. »Wer bist du?« herrschte mich der Mann mit dem Gewehr an. »Wo kommst du her?« »Das geht Sie einen feuchten Dreck an«, sagte ich. »Ich weiß ja auch nicht, wer Sie sind.« »Werd nicht frech, Bürschchen!« Der Mann rückte einen Schritt auf mich zu. Shita sprang auf ihn los und bellte wild. Der Mann hob das Gewehr, um nach Shita zu schlagen. Ich zog meinen Revolver und feuerte, ohne lange zu überlegen. Meine Kugel traf den Mann in den linken Oberschenkel. Er brüllte laut und stürzte zu Boden. Ich sprang auf und richtete den Revolver auf die beiden anderen Männer, die starr wie Holzfiguren dastanden. Shita hockte wieder neben mir und knurrte immer noch. »Bist du verrückt, Junge?« stieß einer der beiden anderen hervor, ein Mann mit mächtiger Hakennase und sichelförmigem Schnauzbart. »Du kannst doch nicht einfach auf uns schießen!« »Ihr seid ja einfach über mich hergefallen«, sagte ich. »Und dieser Drecksack wollte meinen Hund erschlagen.« Ich war ganz ruhig, eiskalt. Es war nicht das erstemal, daß ich in so einer Situation steckte. Ich konnte meine Chancen abschätzen. Im Moment waren sie nicht schlecht. Ich hielt den Revolver in der Faust und hatte den Finger am Abzug. Den Männern schien das durchaus klar zu sein. »Schießt ihn doch nieder, diesen verdammten Bengel!« rief der Verwundete am Boden. Seine Stimme klang gepreßt. Er hatte seinen Sharps-Karabiner fallenlassen und umklammerte mit beiden Händen seinen linken Oberschenkel. Das Blut aus der Wunde quoll zwischen
seinen Fingern hervor. »Versucht es nur«, warnte ich. »Ich kann schießen, ich tu's nicht zum erstenmal.« »Mach keine Geschichten.« Der Mann mit der Hakennase winkte nervös ab. »Wir wollen doch gar nichts weiter von dir. Wir sind wegen des Feuers hier. Da unten im Süden hat was gebrannt, und wir haben gesehen, daß du aus der Richtung gekommen bist.« »Eine Farm ist abgebrannt«, sagte ich. »Und was ist mit den Leuten?« fragte er schnell. Er beugte sich etwas vor, als wollte er mir die Worte von den Lippen ablesen. »Red schon, Junge.« »Tot«, sagte ich. »Sie sind alle umgebracht worden.« »Diese verfluchten Hurensöhne.« Der Mann mit der Hakennase ballte die Hände zu Fäusten und blickte einen Moment zornig zu Boden. »Was hast du gesehen?« fragte der Mann neben ihm. »Alles«, sagte ich. Ich fragte mich, was daraus werden sollte. Ich konnte sie nicht ewig mit meinem Revolver in Schach halten. Ich war müde, mußte schlafen, und sie waren in der Überzahl. Im Augenblick hatte ich die Lage in der Hand, aber auf die Dauer hatten sie den längeren Atem, wenn sie mir an den Kragen wollten. »Wir sind – waren Freunde von dem Farmer«, sagte der Hakennasige. Seine Stimme klang leise und traurig. »Wir haben das Feuer gesehen und wollten wissen, was passiert ist.« »Jetzt wißt ihr es«, sagte ich. »Aber wir wissen nicht, wer du bist und was du mit der ganzen Sache zu tun hast«, sagte der andere Mann. »Nichts«, sagte ich. »Ich hatte Hunger und wollte mir was zu essen klauen. Da tauchten plötzlich die Reiter auf und schlugen alles kurz und klein.« »Wir haben ein paar Freunde in der Nähe, die das alles gern hören möchten«, sagte der Mann mit der Hakennase. »Ich bin müde«, erwiderte ich. »Und mich interessieren Ihre Freunde nicht. Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun und will meine Ruhe.« »Du weißt doch sowieso nicht, wohin«, sagte der Mann. »Oder?«
Ich schwieg. »Bei uns kriegst du was zu essen. Und – wir sind zwanzig, Junge. Wenn wir dich kriegen wollen, kriegen wir dich. Du kannst uns jetzt die Waffen abnehmen, uns fesseln und dann weglaufen. Aber unsere Freunde finden uns. Dann verfolgen wir dich, und wir kriegen dich. Wir haben Pferde. Und gegen zwanzig Männer kannst du nicht an. Ich denke, daß siehst du ein.« »Was habt ihr mit mir vor?« »Nichts Junge. Du sollst uns erzählen, wie es gewesen ist. Wenn du willst, kannst du bei uns bleiben. Kämpfen kannst du, das haben wir ja eben gesehen.« »Und er?« Ich deutete mit dem Kopf zu dem Verletzten, der mich wütend anstarrte. »Es war unser Risiko«, sagte der Mann mit der Hakennase. »Du hast dich nur verteidigt.« »Ich komme mit«, erwiderte ich. Ich wußte, mir blieb gar nichts anderes übrig. »Aber laßt meinen Hund in Ruhe, das sage ich euch. Und meinen Revolver behalte ich auch.« »Sicher. Du bist ja nicht unser Feind, und wenn – gegen zwanzig Revolver würdest du nicht gut aussehen.« Ich zögerte einen Moment, dann steckte ich den Revolver weg. »Ich sage euch, daß ich diesem verdammten Bengel und seinem Köter den Schädel einschlagen werde!« schrie der Mann am Boden sofort. Er beugte sich stöhnend vor und griff nach seinem SharpsKarabiner. »Will!« Die Stimme des Hakennasigen klang scharf wie ein Peitschenknall. »Wir halten, was wir versprechen, Will. Der Junge hat uns nichts getan.« »Zum Teufel«, sagte der andere und spuckte wütend aus. »Woher wissen wir, daß er nicht zu den anderen gehört? Vielleicht hat er mitgeholfen, Jacksons Farm anzuzünden! Er hätte mich erschießen können.« »Er hat es nicht getan, Will, und darüber bin ich froh«, sagte der Mann mit der Hakennase. »Wir hätten nicht auf ihn losgehen sollen. Es war unser Fehler.« Er wandte sich wieder an mich. »Komm mit zu den Pferden«, sagte er. »Jerry wird Will einen Verband anlegen.
Wir reiten voraus.« Ich nickte müde und beugte mich zu dem Hund hinunter. »Bleib ruhig, Shita«, sagte ich. »Es ist alles in Ordnung, hörst du?« Der Hund schaute mich an und hörte auf, zu knurren. Als ich mit dem hakennasigen Mann ins Unterholz ging, folgte er mir und blieb mir dicht auf den Fersen. * »Wir sind Freistaatler«, sagte der hagere, hohlwangige Mann mit den farbloshellen Augen, der mir an einem Lagerfeuer gegenübersaß. Er war in einen langen Umhang gehüllt und schien ständig zu frieren. Seine Lippen waren so dünn wie eine Messerklinge. »Wenn du weißt, was das ist.« Ich schüttelte den Kopf. Shita saß neben mir und paßte höllisch auf, daß mir niemand zu nahe kam. Ich hatte den herumstehenden Männern, deren Anführer der Hagere war, erzählt, was ich auf der Farm beobachtet hatte. Schweigend hatten sie zugehört, und ich hatte, während ich sprach, einen Fleischbrei gelöffelt, den sie mir auf Veranlassung des hakennasigen Mannes, der mich hergebracht hatte, gegeben hatten. Shita hatte einen Knochen erhalten, aber er rührte ihn nicht an. Er schaute sich nur lauernd um und bewachte mich. »Weißt du denn gar nicht, was hier los ist?« fragte der Hagere. In seinen kalten Augen flackerte es jetzt. »Du weißt nicht, was Freistaatler sind?« »Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Ich komme aus dem Süden. Ich habe bis vor ein paar Monaten unter Apachen gelebt.« Der hagere Mann hob den Kopf und warf einen Blick auf die Umstehenden. »Deshalb kannst du wohl so gut mit dem Colt umgehen?« Ich nickte. »Wie alt bist du?« »Dreizehn«, sagte ich. »Bald vierzehn.« »Du siehst verdammt älter aus«, sagte er. »Ich habe zwei Jungen
unter meinen Leuten, die sind fünfzehn, und das sind nicht die schlechtesten Kämpfer.« Er musterte mich scharf. »Du weißt doch, was Sklaven sind, wie?« »Ich denke«, sagte ich. »Gut«, sagte er. »Wir wollen die Sklaverei abschaffen. Wir wollen, daß diese Maultiertreiber aus dem Süden ihre Arbeit gefälligst allein tun oder ihre Leute bezahlen, wie sich das gehört. Hier in Kansas wird es bald eine Abstimmung geben. Die Leute sollen sich entscheiden, ob sie zu den Sklavenstaaten im Süden oder zu den Freistaaten im Norden gehören wollen, wo die Sklaverei abgeschafft ist. Wir kämpfen für eine gute Sache, verstehst du? Wir kämpfen für die Freiheit von zahllosen unschuldigen schwarzen Menschen, die vom Joch der Sklaverei gepeinigt werden und sich unter der Peitsche von Bauernlümmeln beugen müssen, die ihr Leben lang noch keinen Finger zur Arbeit gerührt haben und dieses Land ins Mittelalter zurückführen wollen.« Ich verstand nicht die Hälfte von dem, was er sagte, aber es hörte sich nicht schlecht an. »Der Farmer Jackson, den sie heute abend umgebracht haben«, sagte der Hagere, dessen Name Henry Lane war und den außer mir in Kansas fast jeder kannte, »ist für unsere Sache eingetreten. Er wollte für den Konvent des Staates kandidieren und hat überall die Leute aufgefordert, dafür zu stimmen, daß Kansas ein freier Staat bleibt, in dem keine Sklavenwirtschaft geduldet wird. Amerika ist ein Land für freie Menschen. Diese Südstaatler wollen das Land spalten. Jackson ist für unsere Sache gestorben. Und das werden diese Hunde büßen. Sag mir noch mal, wie sie aussahen, Ronco.« »Ich hab nur zwei richtig gesehen«, erklärte ich. »Das habe ich doch schon gesagt. Der eine war ziemlich groß und breit und hatte einen schmalen Schnurrbart. Der andere war mager, blaß und sah sehr jung aus. Er hatte ein knallrotes Halstuch. Mehr weiß ich nicht, dann waren sie schon weg.« »Ich weiß schon, wer das ist, von dem du sprichst«, sagte Lane. Er blickte an mir vorbei in die Nacht hinaus. »Wir kriegen die Kerle, das steht fest, und dann werden sie bezahlen für das, was sie angerichtet haben.«
»Ich bin müde«, sagte ich. Er erhob sich. »Morgen sehen wir weiter. Du kannst hier im Camp bleiben. Du kriegst eine Decke.« »Komm mit«, sagte eine Stimme hinter mir. Der Mann mit der Hakennase stand wieder da. Ich erhob mich und folgte ihm, Shita im Schlepptau. Das Lager war nicht sehr groß. Es lag auf einem Hügel, inmitten von Baum- und Buschgruppen. Es war ein Camp, das von einer Minute zur anderen abgebrochen werden konnte. Es gab nicht einmal Zelte, nur zwei Feuerstellen und einen einfachen Seilkorral für die Pferde. Unweit des Korrals wies mir der Hakennasige einen Platz zu. Er reichte mir eine zusammengefaltete Pferdedecke. Ich breitete sie am Boden aus. Der Mann stand daneben und schaute mir zu. »Wir brauchen gute Leute«, sagte er. »Ich glaube, du bist gut. Du kannst mit dem Revolver umgehen wie ein Alter.« »Ich habe höchstens noch zwei Kugeln in der Trommel«, erwiderte ich. »Das ist kein Problem.« Er nestelte die Pulverflasche von seinem Gürtel und legte mir Kugeln und Zündhütchen hin. »Pfropfen habe ich nicht«, sagte er. »Es geht auch so, wenn du die Kugel ein bißchen fester in die Kammer preßt.« Er beobachtete mich, während ich die abgeschossenen Kammern meines Navy-Colts auflud. »Wie ist es nun, bleibst du?« »Ich weiß nicht.« Ich steckte den Colt weg. »Ich weiß gar nicht, um was es geht.« »Mr. Lane hat dir alles erklärt«, sagte er. »Ich habe nichts verstanden«, sagte ich. »Es hat sich ganz gut angehört, aber was wirklich hier los ist, weiß ich auch jetzt noch nicht.« »Das ist doch ganz einfach«, sagte er. »Es geht um Sklaverei oder Freiheit. Dafür wird hier in Kansas gekämpft. Wir sind für die Freiheit, und die, die die Farm heute abend abgebrannt haben, wollen, daß in Kansas die Sklaverei erlaubt wird. Hier ist deswegen der Teufel los. Es wird bald eine Abstimmung darüber geben. Aus dem Süden reisen jetzt schon massenweise Sklavenhalter an, die hier
in Kansas für die Sklaverei mit abstimmen wollen. Wir versuchen, diese Leute aus dem Land zu jagen, denn sie haben hier nichts verloren, sie sind keine Bürger dieses Staates. Außerdem gibt es da noch Mordbrenner, die die anständigen Männer in diesem Land, die gegen die Sklaverei auftreten, abschlachten, wie es heute abend passiert ist. Man nennt sie die Todesreiter. Es sind Südstaatler, die irgendwo hier in Kansas ihre Schlupfwinkel haben. Manche sitzen auch im Niemandsland zwischen Kansas und Texas, und andere wieder im Indianerterritorium. Von da aus schlagen sie zu. Ein paarmal haben wir schon welche von ihnen erwischt, aber es sind viele.« »Ich werd's mir überlegen«, sagte ich. »Du bist doch ganz allein«, sagte er. »Du hast keine Verwandten, hast du gesagt, und du kennst hier niemanden. Bei uns bist du gut aufgehoben. Hier hast du jeden Tag dein Essen und brauchst nicht mehr sinnlos durch das Land zu trampen. Und wir brauchen wirklich Leute, die kämpfen können.« »Gut«, sagte ich. »Ich denke darüber nach.« »Es hat viele Vorteile für dich«, sagte er. Er nickte mir zu und ging. Ich rollte mich in die Decke. Shita saß neben mir im Gras und schaute sich sichernd um. Nach einiger Zeit streckte er sich in meinem Rücken aus und preßte sich gegen mich. Ich hörte ihn zufrieden schnaufen und schloß die Augen. Dann war ich auch schon eingeschlafen.
4. Es war kalt, als ich erwachte. Milchiger Nebel lag auf dem Land, nistete in Büschen und Bäumen und füllte die Bodensenken und Täler wie feuchte Watteklumpen, während sich die Nacht wie ein ertappter Dieb davonschlich. Shita sprang auf, als ich mich bewegte. Ich zog fröstelnd die Schultern hoch und schaute zum Feuer hinüber, das während der ganzen Nacht gebrannt hatte. Eine Männerstimme hallte dumpf durch den Frühdunst, dann tauchte ein Reiter auf. Er war über sechs Fuß groß, schlank und breitschultrig. Er trug
einen weichgegerbten Wildlederanzug und wirkte so gepflegt und geschniegelt, als habe er vor, eine Tanzveranstaltung zu besuchen. Er war noch jung, ein sorgfältig gezwirbelter Schnauzbart verlieh seinem schmalen Gesicht ein etwas verwegenes Aussehen. Unter einem breitrandigen Clispelhut quoll sein Haar in sanften Wellen hervor und fiel bis auf die Schultern. Um die Hüften trug er einen breiten Gürtel mit zwei Halftern, aus denen sich die Elfenbeingriffe von zwei Navy-Colts bogen. Er stieg aus dem Sattel. Seine Haltung, sein Gebaren und seine Art, mit den anderen Männern zu sprechen, wirkten überheblich, und obwohl ich ihn zum erstenmal sah, konnte ich ihn auf Anhieb nicht leiden. Dabei wußte ich nicht einmal seinen Namen. Die Männer begegneten ihm mit Respekt, zumindest aber mit Zurückhaltung, und ich spürte, daß der Mann gefährlich war, wenn es auch nur ein vages Gefühl in mir war, das mir dies signalisierte. Der Mann ließ sich am Feuer nieder und wartete, bis ihm einer der Freistaatler einen Becher mit frisch gebrühtem Kaffee reichte. Wenig später tauchte Henry Lane auf. Er wirkte verschlafen und noch hagerer und blasser, als ich ihn in der Nacht gesehen hatte. Sein kurzes Haar stand ein wenig wirr von dem knochigen Schädel ab. Der langhaarige Mann in Wildleder sprach mit ihm. Lane hörte aufmerksam zu. Das Gespräch dauerte nicht lange, dann richtete sich der junge Mann wieder auf. Er rückte sich den Revolvergurt zurecht und schüttete den Rest seines Kaffees ins Feuer. Lane nickte ihm zu und schien dann in tiefes Nachdenken zu versinken. Abwesend starrte er in die Flammen des kleinen Feuers, während der langhaarige Mann sein Pferd wieder bestieg und ohne Gruß das Camp verließ. Der Hufschlag seines Pferdes wurde vom Nebel verschluckt. Lane erhob sich plötzlich und rief ein paar Männern einige Worte zu. Wenig später herrschte hektisches Getriebe im Camp. Die Männer liefen durch das Lager und weckten die Schlafenden. Der Mann mit der Hakennase, dessen Namen ich nicht kannte und auch nie kennenlernen würde, trat zu mir. »Du bist schon wach?« »Sicher.«
»Wir haben eine Spur von den Halunken, die Jackson und seine Familie ermordet haben«, sagte er. »Wer war der Reiter?« fragte ich. »Bill?« Der Mann schien nicht besonders begeistert zu sein. »Bill Hickok«, sagte er. »Man nennt ihn Wild Bill. Er ist mal mit uns geritten. Jetzt ist er Constable im Johnson-County und gibt uns manchmal Informationen.« »Er gefällt mir nicht«, sagte ich. »Mir auch nicht«, sagte der Mann. »Aber es gibt keinen Mann, der seinen Revolver schneller zieht als er, und er schießt auf hundert Schritte einer Mücke ein Auge aus. Steh jetzt auf. Wir brechen gleich auf und wollen versuchen, die verdammten Schweine zu kriegen.« »Ich hab kein Pferd«, sagte ich. »Außerdem weiß ich noch nicht, ob ich mit euch reiten soll.« »Du kannst nicht anders«, sagte der Hakennasige. »Du bist bei uns, und jetzt wird es ernst. Jetzt kann sich niemand mehr drücken, der von unserem Fleisch gegessen und in unserem Lager geschlafen hat. Wir haben immer ein paar Ersatzpferde. Davon kriegst du eins.« Er wartete nicht auf Antwort, drehte sich um und ging. Ich fluchte leise und faltete die Decke zusammen. Shita saß neben mir im Gras und beobachtete mich mit seinen großen, glänzenden Augen. »Wir sind in eine saublöde Sache 'reingeraten«, sagte ich zu ihm. »Jetzt müssen wir mitspielen. Du mußt verdammt auf dich achtgeben. Wer weiß, was noch passiert, und ich kann nicht immer aufpassen, daß dir niemand an den Pelz geht.« Shita wedelte mit dem Schwanz, und seine Blicke schienen sagen zu wollen: Keine Bange! Ich kann genausogut für mich sorgen wie du für dich! Als ich an ihm vorbeiging, strich ich ihm über den Kopf. Diesmal ließ er es sich gefallen. Verschlafen scharten sich die Männer bereits um das Feuer. Ich gesellte mich dazu und erhielt Kaffee und einen Maisfladen, von dem ich Shita etwas abgab. Als der Lagerkoch das Feuer löschte, saßen wir bereits in den Sätteln. Henry Lane machte keine großen Worte. Er sagte uns mit ein paar Sätzen, um was es ging, dann setzte er sich an die Spitze und ritt durch den Buschgürtel, der das Camp umgab.
Ich saß im Sattel eines gutmütigen Morgan-Hengstes, dessen Brandzeichen mir etwas dubios erschien, aber das galt eigentlich für alle Pferde im Lager der Freistaatler. Shita hetzte mit großen Sprüngen neben mir her. Ab und zu hob er den Kopf und schaute zu mir auf. Seine braunen Augen funkelten, und die Zunge hing ihm aus dem weitgeöffneten Maul. Er schien das alles für einen prächtigen Spaß zu halten. Ein Stück weiter vorn entdeckte ich den Mann, den ich in der Nacht mit einem Schuß ins Bein verletzt hatte. Es schien ihm bereits wieder besser zu gehen, er kümmerte sich auch nicht mehr um mich. Als wir auf die Ebene hinausritten, löste sich der Morgennebel auf. Schmutziggraue Fetzen trieben im leichten Wind über das Land. Ein trübes Licht im Osten kündigte den neuen Tag an. * Die alte Feldscheune tauchte vor uns auf, als die Sonne wie eine vollreife Orange am östlichen Horizont hing und die letzten Schleier des Frühdunstes sich aufgelöst hatten. Es war noch kühl, die Luft war klamm, und an den Gräsern und Blättern der Sträucher blinkte der Tau im Frühlicht wie Kristall. Die Scheune lag in einer Bodensenke. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment einstürzen. Das Dach hatte Löcher, das Tor hing schief in den Angeln. Leben schien es nicht zu geben. Lane hielt an und reckte die rechte Hand in die Höhe. Wir zügelten unsere Pferde. »Ausschwärmen.« Lanes Stimme hatte einen harten, fast metallenen Klang angenommen. Wir schwärmten aus und ritten in breiter Front auf die alte Scheune zu. Shita war noch immer neben mir. Kurz bevor wir die Scheune erreichten, blitzte es von dort plötzlich auf. Der Wind trug den peitschenden Klang der Schußdetonation über die Ebene. Einer der Männer schrie auf. Es war der Hakennasige. Er ließ die Zügel seines Pferdes fahren und griff sich mit beiden Händen an die Brust. Da stürzte er schon rücklings aus dem Sattel und ging im Staub unter, den die
trommelnden Pferdehufe aufwirbelten. »Feuer!« schrie Lane. Ich zog meinen Revolver. Rechts und links von mir begannen die Männer zu schießen. Pulverdampf wehte über die Talsenke. Ein Kugelhagel prasselte auf die Feldscheune nieder. Ich feuerte einen Schuß ab, ohne etwas zu treffen. Dann hatten wir das alte Holzgebäude bereits erreicht und sprangen aus den Sätteln. Dicht hinter Henry Lane stürmte ich in die Scheune. Wir sahen uns sechs Männern gegenüber, die ihr Lager hier hatten. Auf dem Boden lagen Decken, Sattelzeug und Kleidungsstücke. Offenbar hatten die Männer, bis auf den Wachtposten, der uns als erster beschossen hatte, noch geschlafen. Sie waren nur teilweise bekleidet. Lane schlug einen nieder und hieb dann mit dem Kolben seines Gewehrs dermaßen auf den liegenden Gegner ein, daß dem Mann das Blut aus Mund, Nase und Ohren quoll. Anfangs schrie er, bald aber lag er still, und ich wußte, daß er tot war. Mich traf ein harter Schlag gegen die linke Schulter. Ich wurde herumgewirbelt, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Ich hörte ein wildes Knurren und Bellen hinter mir, dann sprang Shita bereits an mir vorbei und gegen den Kerl, der mich niedergeschlagen hatte. Er verbiß sich in seinem rechten Arm und ließ sich nicht abschütteln. Der Mann schrie wie am Spieß, mußte seinen Revolver fallen lassen und schlug mit der linken Faust auf Shitas Kopf. Aber der Hund ließ nicht los. Ich kam auf die Beine und zielte auf den Mann. Da wurde er bereits von Kolbenhieben niedergeschlagen, Shita ließ ihn los und drehte sich zu mir um. Schwanzwedelnd schaute er mich an, und ich nickte ihm zu. Er hatte seine Sache gut gemacht. Der Kampf war vorbei. Außer dem Mann, den Lane totgeschlagen hatte, lebten alle. Sie wurden gefesselt und aus der Scheune geschleppt. »Sieh sie dir an!« rief Lane mir zu. In seinen Augen flackerte es fanatisch. »Waren sie es, die Jacksons Farm abgebrannt haben?« Ich trat auf die Kerle zu und musterte sie. Dann schüttelte ich den Kopf. »Die beiden, die ich genau gesehen habe, sind nicht dabei. Über
die anderen weiß ich nichts. Vielleicht waren ein paar von denen mit dabei, aber beschwören kann ich es nicht.« »Wo kommt ihr her?« schrie Lane sie an. Als keiner antwortete, schlug er einem den Kolben seiner Sharps in den Leib, daß sich der Mißhandelte vornüberbeugte und würgend übergab. »Ich frage noch einmal!« schrie Lane. »Wo kommt ihr her?« »Aus Missouri«, sagte einer der Männer. Er war muskulös und untersetzt und hatte vorstehende Zähne wie ein Pferd. »Und was habt ihr hier zu suchen? Hier ist Kansas.« »Wir sind freie Bürger der Vereinigten Staaten«, sagte der Mann mit dem Pferdegebiß. »Wir können uns aufhalten, wo wir wollen.« Einer der Freistaatler trat auf ihn zu und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der muskulöse Oberkörper des Mannes schwang nach hinten gegen die Scheunenwand. Die Unterlippe platzte auf, und ein paar Blutströpfchen rannen zum Kinn hinunter. Aber der Mann blieb stehen. »Ihr seid hier, weil ihr die Abstimmung beeinflussen wollt«, sagte Lane. »Ihr wollt freie Bürger von Kansas dazu zwingen, für die Sklaverei zu stimmen. Ihr habt rechtschaffene Leute umgebracht, Farmen zerstört, geplündert und gebrandschatzt.« Die Männer antworteten nicht. »Erledigt sie«, sagte Lane. »Von denen erfahren wir nichts. Die werden aber auch kein Unheil mehr anrichten.« Er wandte sich ab. Mehrere seiner Leute schlugen die Männer zu Boden, und dann sah ich, daß sie ihnen mit ihren Pulverflaschen Schwarzpulver in die Ohren schütteten. Einer der Männer begann zu jammern und schließlich zu weinen. Tränen rannen über seine Wangen. Niemand störte sich daran. Lanes Freistaatler steckten den Männern Zündschnüre in die Ohren und zündeten die Lunten an. Dann stiegen sie in die Sättel. Ich beeilte mich ebenfalls, den Morgan-Hengst zu besteigen und rief nach Shita. Wir ritten eilig davon. Der Südstaatler mit dem Pferdegebiß schrie uns nach: »Eines Tages werdet ihr verfluchten Yankees uns noch in der Hölle die Stiefel putzen.«
Dann erreichten wir die Ränder der Bodensenke und trieben unsere Pferde über die Hügel. Da krachte es hinter uns. Die Pulverladungen in den Ohren der Südstaatler waren explodiert. Was von ihnen noch übriggeblieben war, konnte ich mir denken. Ich zog den Kopf ein und zwang mich, an etwas anderes zu denken und ja nicht zurückzuschauen. Trotzdem fror ich und hatte ein elendes Gefühl im Magen. Ich warf einen Blick auf den Rücken von Henry Lane, der unmittelbar vor mir ritt. Ihn schien das alles kalt zu lassen. Von seinen Männern hatte ich gehört, daß er früher Senator gewesen sei. Er war ein Fanatiker, Menschenleben zählten für ihn nicht. Die Sache, für die er kämpfte, war nicht schlecht, aber wie er dafür kämpfte, gefiel mir nicht. Ich durchschaute die ganze Problematik der Ereignisse noch immer nicht. Das wird mir niemand verübeln können. Immerhin war ich noch keine vierzehn Jahre alt, hatte lange unter Indianern gelebt und mußte mich erst wieder in die Gedankenwelt des weißen Mannes einfinden, und dann war ich gerade ein paar Tage in Kansas. In der Nacht hatte ich gesehen, wie Lanes Gegner mit ihren Opfern umsprangen. Lane aber verfuhr nicht anders. Das war etwas, das mir nicht paßte. Zudem hatte ich keine Lust, für etwas zu kämpfen, was ich nicht begriff. Ich beschloß in diesem Moment, mich so schnell wie möglich von Lane und seinen Freistaatlern abzusetzen. Die Sklaverei war ein Übel, aber die Männer, die mit Gewalt dafür oder dagegen stritten, waren es auch. Ihre Welt war nicht die Welt, in der ich leben wollte. * Die Soldaten tauchten gegen Mittag auf. Wir sahen erst nur die Staubwolken, die die Hufe ihrer Pferde aufwirbelten, dann wurden die Reiter in den blauen Uniformen sichtbar. Es waren fünfzehn oder zwanzig Mann, eine Patrouille, nicht mehr. Lane ließ uns anhalten. Aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen starrte er nach Westen, den Soldaten entgegen.
In seinem hageren Gesicht zuckte es. Seine dünnen Lippen bewegten sich lautlos. Wir folgten ihm, ohne lange zu zögern. Shita bellte laut, als ein Pferd sie beinahe überrannte. Einer der Männer schrie: »Den Köter sollte man abknallen!« Ich zog meinen Revolver und richtete ihn auf den Mann, der nur wenige Yards neben mir ritt. »Das wäre das letzte, wozu du in deinem Leben Gelegenheit hättest«, sagte ich. Er blickte zu mir herüber, musterte den Revolver in meiner Faust und hielt den Mund. Ich wandte einmal den Kopf. Die Soldaten hatten uns entdeckt und folgten uns, aber die Entfernung zwischen ihnen und uns war groß. Sie hatten keine Chance, uns einzuholen. Wir erreichten eine Hügelkette und überquerten sie. Danach waren die Soldaten aus unserem Blickfeld verschwunden. Ein Fluß tauchte vor uns auf. Lane sprengte hinein. Gischt spritzte unter den trommelnden Hufen seines Pferdes auf. Am anderen Ufer hielt er sein Tier an und drehte sich im Sattel um. Er wartete, bis wir ihm durch den Fluß gefolgt waren. Das Wasser war seicht, und Shita schwamm neben mir her. Auf dem anderen Ufer blieb er stehen und schüttelte sich. »Zehn Mann bleiben hier!« befahl Lane. Er deutete auf die Weidenbüsche dicht am Wasser. »Ihr werdet dafür sorgen, daß uns diese verdammten Narren in Ruhe lassen, ein für allemal, verstanden?« Wir verstanden alle, und deshalb schloß ich mich den zehn Männern, die zu den Weidenbüschen hinüberritten und sich dort verbargen, nicht an. Ich dachte an das Straflager El Moro in Colorado, wo ich wie ein Pferd hatte schuften müssen, nur weil ich einem größenwahnsinnigen Dorfrichter ordentlich die Meinung gesagt hatte. Ich hatte keine Lust, noch einmal in eine ähnliche Situation zu geraten, und das lag durchaus im Bereich des Möglichen, wenn ich wie ein feiger Straßenräuber aus dem Hinterhalt auf Soldaten schoß. Zudem hatte ich keinen Grund, auf Soldaten zu schießen. Ich war nicht mehr bei den Apachen. Damals waren alle Männer in Uniform
meine Feinde gewesen, das war jetzt nicht mehr so. Ich konnte Uniformierte nicht sonderlich gut leiden, was bei meinen bisherigen Erfahrungen wohl verständlich war. Aber seit ich nicht mehr bei den Apachen lebte und versuchte, mich in der Welt der Weißen wieder zurechtzufinden, hatte mir kein Soldat etwas getan. Warum hätte ich also auf die Männer in den blauen Uniformen schießen sollen? Mein Entschluß, Lanes Freistaatler so schnell wie möglich zu verlassen, war unumstößlich. Er wurde durch Lanes Handlungsweise nur noch verstärkt. Gleichzeitig aber war mir klar, daß das nicht einfach sein würde. Lane war ein Fanatiker, ein Mann der über Leichen ging. Wahrscheinlich würde er meinen Entschluß als Verrat auffassen. Ich saß in einer verdammten Zwickmühle. Obwohl ich kein Gefangener war, würde ich mich wie ein Dieb wegschleichen müssen. Ich hatte genug Ärger gehabt in den letzten Jahren und die Nase voll davon. Hinter uns krachten Schüsse. Ich wandte den Kopf, konnte aber nichts sehen. Wir ritten durch eine langgestreckte Bodensenke auf einen Waldgürtel zu. Grasbedeckte Hügel verdeckten das, was sich am Fluß abspielte. Auch als wir den Wald erreichten und durch das Unterholz am Waldrand brachen, hallten hinter uns noch die Detonationen von Gewehrschüssen. Dann wurde es still. Wir ritten fast eine Stunde, bis sich der Wald vor uns lichtete. Lane ließ uns anhalten. Er stieg schwerfällig aus dem Sattel. Sein hageres Gesicht war von einer Schicht aus Schweiß und Staub bedeckt und wirkte noch knochiger als sonst. Seine schmalen Schultern hingen müde herab. »Wir rasten hier«, sagte er. Nach und nach glitten die Männer aus den Sätteln. Ich auch. Ich ließ mich im Gras neben einer Zeder nieder und lehnte den Rücken gegen den Stamm. Shita streckte sich neben mir aus. Die Zunge hing ihm aus dem Maul. Er hechelte, war müde und erschöpft und wahrscheinlich auch durstig. An meinem Sattel hing eine gefüllte Feldflasche. Ich nahm sie herunter, füllte Wasser in meine hohle rechte Hand und ließ es ihn
auflecken. Das wiederholte ich ein paarmal, und er schaute mich aus seinen großen braunen Augen dankbar an. Dann trank ich selbst. In den Satteltaschen fand ich Trockenfleisch und hartes Brot. Auch die anderen Männer aßen. Ich teilte meine Ration mit Shita. Lane war der einzige, der nichts zu sich nahm. Er hockte da wie eine Wachsfigur und starrte dumpf brütend vor sich hin. Als Hufschlag laut wurde, schaute er auf. Aus dem Wald hörten wir das Brechen und Splittern von Unterholz. Wenig später trieben erschöpft wirkende Reiter, deren schweißglänzende Gesichter von schwarzen Pulverrauchflecken gezeichnet waren, ihre Pferde aus dem Wald. Es waren die Männer, die auf Lanes Befehl hin zurückgeblieben waren, um die Soldaten aufzuhalten, die uns gefolgt waren. »Alles in Ordnung«, sagte einer von ihnen zu Lane hinüber. »Es wird keinen Ärger mehr geben.« »Hoffentlich wart ihr gründlich«, sagte Lane. »Da hat sich nichts mehr gerührt«, sagte der Mann. »Die Pferde haben wir stehengelassen.« »Gut so«, sagte Lane. »Das Brandzeichen der Armee ist nichts für uns.« Alle lachten, ich nicht, denn ich fand, daß es keinen Grund zum Lachen gab. Der Tod von Menschen, auch wenn es Gegner waren, war niemals lustig. Auch ein toter Feind verdiente Achtung. Das hatte ich bei den Apachen gelernt. Diese Männer, unter die ich geraten war, waren keine Kämpfer oder Krieger, sie waren Mörder und Strauchdiebe. »Alles Narren«, sagte Lane. »Eines Tages werden sie nach Süden ziehen und den Rebellen das Fell versohlen müssen. Dann werden sie es bereuen, daß sie uns das Leben versauert haben. Wir nehmen ihnen nur einen Teil ihrer Arbeit ab.« »Wir sollten den Rebellen den Mord an Jackson heimzahlen«, sagte ein Mann neben Lane. »Die Kerle, die wir in der Scheune erwischt haben, waren kleine Fische.« »An was denkst du?« »Wie steht es in der Bibel? Auge um Auge, Zahn um Zahn! In der
Nähe von Topeka wohnt Adlair James, der noch vor zwei Wochen in der Kirche von Kansas City eine Rede für die Sklaverei gehalten und alle, die dagegen sind, als weiße Nigger beschimpft hat.« »Du meinst, daß wir uns das nicht gefallen lassen sollten«, sagte Lane. »Das meine ich«, erwiderte der andere. »Das finde ich auch«, sagte Lane. »Und was sagt ihr?« Er ließ seine Blicke über die Männer gleiten. Sie nickten alle. Ich saß im Schatten der Zeder und nickte nicht, das konnte er nicht sehen. »Gut«, sagte er. »Ich denke, wir werden Mr. James heute nacht einen Besuch abstatten. Ein guter Mann von uns ist umgebracht worden, da ist es nur recht und billig, wenn so ein Stinktier auch dran glauben muß. Wir bleiben hier und reiten bei Einbruch der Dunkelheit.« Ich blieb an den Baumstamm gelehnt sitzen und beobachtete die Freistaatler, die sich am Boden ausstreckten, um bis zum Abend zu schlafen. Für mich stand fest: Ich würde nicht mitreiten. Lane war nicht um ein Haar besser als die Kerle, die ich in der Nacht gesehen hatte und die von den Freistaatlern »Todesreiter« genannt worden waren. Einer Mörderbande wollte ich nicht angehören. Ich würde nicht dabei sein, wenn sie in der Nacht losritten, um einen Mann umzubringen und sein Haus abzubrennen. Wie ich es schaffen sollte, vorher zu verschwinden, wußte ich nicht, aber daß ich es versuchen würde, das stand fest.
5. Die Sonne hing wie ein Feuerrad am westlichen Horizont und berührte bereits die Baumspitzen des Waldes. Die Schatten waren lang, und die Luft war schwül. Über Salbeibüschen ballten sich Mückenschwärme zu wild zuckenden Gebilden zusammen. Ein Gewitter lag in der Luft. Ich spürte es, und meine Stimmung stieg. Meine Chancen, die Freistaatler zu verlassen, waren nicht schlecht. Ein Unwetter würde sie daran hindern, mich zu verfolgen, ein
heftiger Regen würde meine Spuren verwischen. Ein Vergnügen würde es zwar nicht werden, während eines Gewitters durch ein mir völlig unbekanntes Land zu irren, aber alles erschien mir besser, als weiter bei Henry Lanes Kerlen zu bleiben. Die Freistaatler schliefen noch immer – bis auf zwei Wachtposten. Die Abenddämmerung sank wie ein fein gesponnenes Netz vom Himmel herab. Ich warf Shita einen Blick zu. Er schien zu ahnen, was ich vorhatte. Ganz ruhig blieb er liegen, als ich mich langsam aufrichtete, gähnte und mich reckte und streckte, und dann in den Wald schlenderte. »Wo willst du hin?« Die halblaute Stimme hinter mir ließ mich zusammenzucken. Ich faßte mich rasch wieder, drehte mich um und sah einen der Wachtposten, der an den Waldrand getreten war und mir nachschaute. »Ich muß mal«, sagte ich. »In Ordnung.« Er grinste. Ich grinste zurück und ging weiter, bis ich sicher war, daß er mich nicht mehr sehen konnte. Dann drang ich rasch ins dichtere Unterholz ein, lief vielleicht fünfzig Schritte geduckt durch verwachsenes, verfilztes Buschwerk und stieß zu meiner Überraschung auf eine kleine, versteckt gelegene Quelle, an der ich Spuren von kleinen Tieren fand. Hier hockte ich mich hin und stillte noch einmal meinen Durst. Als ich mich wieder aufrichtete, hörte ich ein leises Rascheln hinter mir. Ich drehte mich um und sah Shita. Er lief, die Nase dicht am Boden, durch das Gesträuch. Als er mich sah, wedelte er mit dem Schwanz und schaute mich erwartungsvoll an. »Wir gehen«, sagte ich. »Wir hauen einfach ab. Bei diesen Kerlen haben wir nichts verloren.« Er lief zum Wasser, trank und folgte mir. Ich schritt nach Westen. Ich beeilte mich, denn mir war klar, daß ich den Wald bald wieder verlassen mußte, wenn ich mich nicht verlaufen wollte. In der Nacht würde ich mich hier kaum zurechtfinden. Schon jetzt war es sehr dunkel zwischen den Bäumen und dem Unterholz. Als ich glaubte, mich weit genug vom Lager der Freistaatler
entfernt zu haben, wandte ich mich wieder nach Norden, um den Wald zu verlassen. Ich hatte mich weniger weit vom Waldrand entfernt, als ich es vermutet hatte. Schon nach kurzer Zeit sah ich das rote Abendlicht durch die Bäume schimmern. Ich eilte zum Rande des Gehölzes und spähte auf die Ebene hinaus. Der Himmel hatte sich bewölkt. – Wind war aufgekommen, aber er vertrieb die drückende Schwüle nicht, die lähmend auf dem Land lastete. Die Sonne war fast völlig hinter dem Wald im Westen versunken. Ich trat auf die Ebene hinaus. Da hörte ich die Stimme, und mir stockte der Atem. Das Blut schien mir in den Adern zu gefrieren. »Na, Kleiner? Die Welt ist klein, wie?« Ich blieb wie angewachsen stehen. Leise hörte ich die Stimme lachen. Da zwang ich mich, mich umzudrehen. Hinter mir stand der Wachtposten, der mich beim Verlassen des Lagers gefragt hatte, wohin ich ginge. Ein triumphierendes Grinsen lag in seinem unrasierten, knochigen Gesicht. »Ich hab schon geahnt, daß du weglaufen willst, Kleiner«, sagte er. »Ich hab's gespürt. Komisch, nicht wahr? Ich spür immer, wenn etwas los ist. Ich weiß nicht, wieso, aber es ist so. Du bist mir von Anfang an nicht so ganz geheuer gewesen. Vielleicht hast du keine Lust, bei uns mitzuspielen, vielleicht interessiert dich das alles nicht. Vielleicht aber gehörst du zu den anderen, zu den Rebellen, und die haben dich als Spion zu uns geschickt. Alles schon mal dagewesen. Aber das kriegen wir 'raus. Jetzt gib deinen Revolver her und komm mit. Das Camp ist keine hundert Yard von hier. Ja, weit hast du es nicht geschafft, Kleiner.« Die Erstarrung fiel von mir ab. Sie wich einer wilden Wut, die in mir aufstieg. Ich hatte mich wie ein blutiger Anfänger benommen, dabei besaß ich weiß Gott genügend Erfahrungen, so daß ich einen solchen Fehler hätte vermeiden können. Der Mann wirkte fordernd, fast einladend mit seinem Gewehr. Ich ließ die Schultern sinken. Es hatte keinen Sinn. Als ich mich in Bewegung setzen wollte, hörte ich plötzlich ein wildes Knurren. Dann flog Shita aus dem Unterholz des Waldes wie ein Pfeil heran. Schattengleich sprang er aus dem Gebüsch und prallte gegen den Rücken des Freistaatlers, bevor der reagieren und sich umdrehen konnte. Ich sah Shitas Zähne glitzern
und hörte den Mann aufschreien, als Shita sich in seiner rechten Schulter verbiß. Blut quoll fast augenblicklich durch das zerfetzte Hemd. Der Mann ließ sein Gewehr fallen und schüttelte sich wie eine Katze. Verzweifelt drehte er sich und versuchte, Shita zu packen, schaffte es aber nicht. Er ließ sich fallen, aber Shita ließ ihn nicht los. Ich zögerte nur einen kurzen Moment. Dann bückte ich mich, hob den Sharps-Karabiner auf, drehte ihn um und schlug mit dem Kolben zu. Der Mann sah, daß ich jetzt die Trümpfe in der Hand hielt. Er bäumte sich auf. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt, seine Augen schwammen in Tränen. Er schrie wie am Spieß und versuchte verzweifelt Shita abzuschütteln. Aber der Hund knurrte nur noch wilder und grub seine Zähne noch tiefer in die Schulter des Mannes. Da traf ich ihn mit dem Kolben. Beim erstenmal konnte er den Kopf zur Seite reißen. So traf ich nur seine linke Schulter. Er schrie noch lauter und kippte zur Seite. Da traf ich ihn noch einmal – und diesmal richtig. Über seinem rechten Auge platzte die Haut auf. Es blutete etwas und er verlor das Bewußtsein. »Laß los!« rief ich Shita zu. »Er kann sich nicht mehr wehren, es ist vorbei. Laß ihn los!« Shita ließ ihn los. Er hockte keuchend und stolz über dem bewußtlosen Mann. »Gut«, sagte ich. »Das hast du gut hingekriegt. Ohne dich wäre ich dran gewesen. Shita ist vielleicht nicht der richtige Name für dich. Du kannst kämpfen wie ein richtiger Krieger, und Shita war der Name einer Stute. Aber ich denke, du hast nichts dagegen, wie?« Er hockte im Gras und hechelte mich an, so daß es aussah, als lache er. »Verschwinden wir lieber«, sagte ich. »Das Lager ist ganz in der Nähe. Vielleicht ist das Geschrei gehört worden.« Ich bückte mich, nahm dem Mann die Pulverflasche, Kugeln und Zündhütchen ab. Dann klemmte ich mir den Sharps-Karabiner unter den Arm und trottete auf die Hügel im Norden zu. Shita lief neben mir her. Die Sonne war inzwischen ganz versunken. Ein schwacher Abglanz des Tageslichts lag noch auf dem Land, aber die Dämmerung verdichtete sich rasch, und von Osten schoben sich
schwarze Wolkenfelder heran. In der Ferne grollte leise der Donner. Es war noch immer schwül, und es wimmelte von Mücken. Der Wind wurde plötzlich kühl. Es donnerte wieder, diesmal klang es bereits lauter, näher. Ich warf einen Blick nach Osten, wo das Lager der Freistaatler lag. Als ich die ersten Hügel erreichte, tauchte ein Reiter von dort auf. Ich überquerte rasch den Hügel und ließ mich ins hohe Gras fallen. Wieder grollte der Donner, und der Abendhimmel verschwand nach und nach völlig unter einer Wolkenwand. Ich konnte sehen, wie der Reiter am Waldrand abstieg, wo der bewußtlose Wachtposten lag. Da richtete ich mich auf und lief weiter nordwärts. Shita war neben mir, und ich spürte auf einmal, das kühl die ersten Tropfen fielen. * Ein Netz von Blitzen zuckte wie ein wirres Gespinst von glühenden Fäden über den Himmel. Es knatterte wie die Detonationen von tausend Gewehrschüssen. Ein dumpfer, dröhnender Donnerschlag folgte mit elementarer Gewalt. Der Boden unter meinen Füßen schien zu erbeben, und dann ergoß sich eine Sturzflut auf mich. Der Himmel öffnete seine Schleusen, und der Regen prasselte auf die Erde wie eine Sintflut. Binnen weniger Minuten weichte er den Boden auf und verwandelte ihn in grundlosen Morast und zähen Schlamm. Das Gras beugte sich unter den Regenmassen, die Zweige der Sträucher und Büsche hingen tief herab, schwer vom Regen. Mir klebte die Kleidung am Körper. Wirr hing mir das tropfnasse Haar um den Kopf. Jede Faser meines Körpers schien sich mit Wasser vollzusaugen, schien aufzuweichen wie der Boden. Ich fror, denn der Regen war kalt. Ich konnte kaum zwei Schritte weit sehen, denn der Regen fiel dicht. Wie ein bleigrauer Vorhang senkte er sich über das Land. Der Wind wurde stärker. Er peitschte den Regen in Böen gegen mich und Shita. Und über uns, verdeckt von dichten Regenschleiern, schien sich am Himmel ein Titanenkampf abzuspielen. Blitz folgte auf Blitz, Donner auf Donner. Feurige Klingen zerfetzten für
Bruchteile von Sekunden die Finsternis des Wetters, und der Boden erzitterte unter den Donnerschlägen. Elementare Urgewalten schienen am Himmel aufeinander einzuschlagen und das Universum ins Wanken zu bringen. Geblendet von Blitzen und prasselndem Regen, fast taub von dem dröhnenden Donner des Unwetters taumelte ich voran, ziel- und orientierungslos. Eine dichte Strauchinsel tauchte vor mir auf. Die Äste eines Baumes reckten sich mir wie die Fangarme eines Kraken entgegen. Überzeugt, daß ich mich binnen kurzer Frist selbst in Wasser auflösen würde, wankte ich unter den Schutz des dichten Blätterdaches. Erschöpft sank ich in die Knie und lehnte mich mit dem Rücken gegen den Stamm eines Baumes. Ein nasses Fellbündel preßte sich gegen mich. Shita war da. Er zitterte vor Nässe und Kälte, genauso wie ich. Ich war froh, daß ich nicht allein war. Shita war da, und er war ein guter Gefährte. Wir wärmten uns gegenseitig und lauschten gemeinsam dem Dröhnen, Heulen und Krachen des Gewittersturms. Zwar wußte ich, daß es nicht gut war, ein Gewitter unter einem Baum abzuwarten. Aber der heftige Regen erschien mir im Moment schlimmer als jeder Blitz. Es blitzte und donnerte noch eine Zeit weiter, dann entfernte sich der Kern des Unwetters. Die Donnerschläge wurden leiser, dann wurden sie vom Heulen des Sturms und dem monotonen Rauschen des Regens übertönt. Ich dachte an die Freistaatler Henry Lanes. Ob sie ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt hatten und losgeritten waren, um einem Mann das Dach über dem Kopf anzuzünden? Oder hatte das Unwetter ihre Pläne vereitelt? Im Grunde war es egal. Wichtig war nur, daß ich nicht mehr bei ihnen war. Wohin ich sollte, wovon ich leben sollte, wußte ich zwar jetzt genausowenig wie zuvor. Aber alles war besser, als weiter mit Henry Lane zu reiten. Trotz des Regens, der Kälte und des Sturms wurde ich müde. Bleischwer kroch Lähmung durch meine Glieder. Ich konnte die Augen kaum offenhalten. Mein Körper schien gefühllos zu werden. Ich spürte die Nässe nicht mehr, und dann schlief ich ein, obwohl ich mich dagegen wehrte. Die Erschöpfung in mir war stärker.
Als ich erwachte, regnete es immer noch. Wie lange ich geschlafen hatte, wußte ich nicht, und da es noch immer dunkel war, hatte ich auch keine Ahnung, ob es Nacht oder bereits ein neuer Tag war. Schlimmer aber als diese Ungewißheit waren der Hunger, der in meinem Leib wühlte, und der Durst, den ich quälend verspürte. Shita winselte leise. Ich wandte den Kopf und schaute ihn an. Sein Fell klebte vor Nässe. Den Schwanz hatte er traurig eingezogen. »Hast du auch Hunger?« Ich zog fröstelnd die Schultern hoch. »Wir können hier nicht bleiben. Vielleicht regnet es noch Stunden, und wenn es aufhört, sind wir verhungert.« Ich richtete mich auf und stieß mit dem Kopf gegen einen tiefhängenden Ast. Ein Schwall Regenwasser, das sich auf den Blättern gesammelt hatte, ergoß sich auf mich. Ich schüttelte mich und kroch aus dem Gesträuch. Shita folgte mir. Die Ebene zwischen den Hügeln schien sich in eine Seenplatte verwandelt zu haben. Ich taumelte direkt in eine Pfütze, die einen Durchmesser von mindestens drei Yards hatte, und versank bis zu den Knien im Schlamm. Fluchend kämpfte ich mich frei und versuchte, mich zu orientieren. Es war fast unmöglich. Ich stolperte einen Hügel hinauf. Shita hielt sich dicht neben mir und brachte mich einmal beinahe zu Fall. Blindlings lief ich weiter, hoffend, daß ich mich nicht in die Richtung des Freistaatlerlagers bewegte. Ich watete durch tiefe Pfützen, stemmte mich gegen den Sturm und hatte, obwohl ich mich Schritt um Schritt vorankämpfte, das Gefühl, immer auf der Stelle zu treten. Ein Licht schimmerte durch den Regen. Irgendwann nahm ich es wahr, als ich schon glaubte, mich nicht länger auf den Beinen halten zu können. Später erfuhr ich, daß ich keine zweihundert Yards gelaufen war, in diesem Moment aber erschien es mir, als hätte ich die halbe Welt umrundet. Ich starrte nach vorn, um das Licht nicht aus den Augen zu verlieren, und wankte weiter, gepeitscht und geschüttelt von Sturmböen. Als ich gegen einen Zaun stieß, stürzte ich und begrub Shita beinahe unter mir. Er sprang erschrocken jaulend zur Seite, war aber
sofort wieder neben mir und fuhr mit seiner warmen Zunge über mein Gesicht. Ich stemmte mich hoch, kam auf die Beine und tastete mich wie ein Blinder am Zaun entlang. Schemenhaft sah ich Gebäude vor mir, flache Holzhäuser, dann einen Brunnen. Eine Farm! Im Farmerhaus brannte hinter einem Fenster das Licht, das ich gesehen hatte. Ich bückte mich und hob den Sharps-Karabiner auf, den ich beim Sturz fallengelassen hatte. Ob die Papierpatrone im Lauf noch losgehen würde war mehr als fraglich. Wahrscheinlich war sie völlig durchnäßt. Ich watete über den morastigen Hof, erreichte eine Scheune und suchte nach dem Tor. Ich fand es. Der Wind drückte wie mit tausend starken Fäusten dagegen. Trotzdem gelang es mir, das Tor ein wenig aufzuziehen. Shita schlüpfte an mir vorbei ins Innere, dann folgte ich und schloß das Tor hinter mir.
6. Dunkelheit und der starke, betäubende, intensive Duft von Heu umfingen mich, vermischt mit dem strengen Geruch von Pferdeschweiß und Lederfett. Aber hier war es trocken, und das war die Hauptsache. »Shita«, sagte ich leise. »Wo bist du, verdammt? Es ist so finster wie in einem Bärenhintern.« Ich spürte den Hund am linken Bein und bückte mich. Shita leckte mir über die Hand. Ich setzte mich in Bewegung und tappte vorsichtig durch den dunklen Stall. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis, so daß ich wenigstens die Umrisse der Boxwände erkennen konnte. Stroh knisterte bei jedem Schritt unter meinen Füßen. Ich erreichte die erste Box. Ein Pferd stand darin. Es schnaubte nervös und scharrte unruhig mit den Hinterhufen. Ich ging weiter und ließ mich in der dritten, leeren Box ins Stroh sinken. Hunger hatte ich immer noch, auch Durst, aber der Regen war weit weg. Er trommelte draußen auf das Dach, bildete Pfützen auf dem Hof. Der Sturm wehte heulend um die Ecken des Stalls.
Ich scharrte mir ein regelrechtes Nest in das Stroh, und Shita drängte sich dicht an mich. Obwohl ich bereits in dieser Nacht geschlafen hatte, völlig durchnäßt war und der Hunger mich quälte, schlief ich wieder ein, wahrscheinlich vor Erschöpfung. Als Shita leise knurrte, erwachte ich. Im ersten Moment wußte ich nicht, wo ich mich befand. Dann wälzte ich mich herum. Ein Strohhalm kitzelte meine Wange. Ich bemerkte ein Licht vorn im Gang. Draußen ertönte noch immer das monotone Rauschen des Regens. Mir fiel wieder alles ein. Meine Flucht von den Freistaatlern, der große Regen … Die bleierne Schläfrigkeit wich aus meinem Kopf, aus meinen Gliedern. Ich tastete durch das Stroh und fand meinen Sharps-Karabiner. »Still!« flüsterte ich. Shita fletschte die Zähne und lag mit gespannten Muskeln, bereit zum Angriff, neben mir im Stroh. Sie knurrte nicht mehr. Ich lauschte. Ein Mann hatte den Stall betreten. Er summte vor sich hin. Seine Stimme war dunkel und wohltönend. Er versorgte die Pferde. Sehen konnte ich ihn nicht. Ich hörte aber, wie er leise mit den Tieren sprach. Dann schlurfte er schwerfällig den Gang zwischen den Boxen hinunter, in der einen Hand eine schwache Petroleumlaterne, in der anderen einen verbeulten Eimer. Ich preßte mich noch tiefer ins Stroh, und der Mann ging vorbei, ohne mich zu sehen. Er war sehr groß und sehr breit. Seine Haut war so schwarz wie Elfenbein, sein Haar war kurzgeschnitten und gekraust. Er füllte den Eimer mit Hafer und kehrte zurück. Wieder ging er an mir und Shita vorbei, ohne uns zu sehen. Er füllte den Pferden Hafer in ihre Krippen und verließ dann den Stall. Die Laterne nahm er mit. Das Tor schlug zu, es wurde wieder dunkel. Ich lauschte noch einen Moment, dann richtete ich mich auf. Kurze Zeit dachte ich daran, eins der Pferde zu klauen und davonzureiten. Dann verwarf ich die Idee. Sie konnte mir nur neuen Ärger einbringen. Zunächst brauchte ich etwas zu essen und zu trinken. Letzteres würde sich leichter besorgen lassen. Draußen gab es bestimmt einen Brunnen, und während des Regens würde mich
kaum jemand auf dem Hof beobachten. Ich tastete mich zum Stalltor. Shita war dicht neben mir. Ich stieß das Tor einen Spalt auf. Regen klatschte mir ins Gesicht. Ich würde wieder naß werden, aber daran war nichts zu ändern. Ich schlüpfte hinaus. Im nächsten Moment spürte ich eine harte Faust an der rechten Schulter. Jemand riß mich herum und drehte mir den Arm auf den Rücken. Der Schmerz war so groß, daß ich mit dem Oberkörper nach vorn sackte und hilflos im Griff eines Mannes hing, den ich nicht sehen konnte. * Der Regen prasselte mir auf den Hinterkopf und den Rücken. Ich hörte eine dunkles Lachen hinter mir und erkannte sofort die Stimme. Es war der Neger, der vorhin im Stall die Pferde gefüttert hatte. Ich bäumte mich in seinem Griff auf. Mein Sharps-Karabiner lag am Boden. Der Mann hinter mir sagte: »Ich wußte, du würdest 'rauskommen, schon um festzustellen, ob ich dich nicht doch gesehen habe. Ich wußte es. Früher oder später mußtest du hier auftauchen, und dann würde ich dich schnappen. Du siehst, ich habe dich geschnappt. Ich hab dich bemerkt, vorhin im Stroh – dich und dein Gewehr. Deshalb hab ich im Stall nichts unternommen, denn da hattest du dein Gewehr. Das nutzt dir jetzt nichts mehr.« Ich bäumte mich abermals auf. Er verstärkte seinen Griff und brach mir fast den Arm. Da faßte eine Sturmböe das Stalltor und riß es ein Stück auf. Im Nu schoß Shita heraus, schnell und lautlos wie ein Schatten. Sie begann erst zu knurren, als sie den Mann ansprang, der mich gepackt hielt. Er schien sie im letzten Moment heranfliegen zu sehen, ließ mich los, versetzte mir einen Stoß und wich aus. Ich stürzte mit dem Gesicht nach vorn und landete im Morast des Hofes. Als ich mich herumwälzte, hörte ich ihn schreien, und Shita bellte wild. Ich sah den Neger an der Stallwand lehnen und beide Hände abwehrend vor das Gesicht halten. Shita sprang ihn wieder und
wieder an, zerriß ihm das Hemd, konnte ihn aber nicht packen. »Zurück!« rief ich. »Zurück, Shita!« Ich erhob mich und zog den Navy-Colt unter dem Hemd hervor. Shita ließ von ihm ab und stellte sich knurrend neben mich. Der Neger ließ die Arme sinken. Er schaute meinen Revolver an, und kriegte große, kugelrunde Augen. »Nicht schießen«, flüsterte er. Ich hörte seine Stimme kaum, das Rauschen des Regens übertönte sie fast. »Bitte, schieß nicht«, sagte er wieder. »Ich schieße nicht«, sagte ich. »Wenn du mich nicht angreifst.« »Warum soll ich dich angreifen?« sagte er. Ich lachte. »Und was war das eben? Da wolltest du mir wohl nur guten Tag sagen, wie?« »Ich hab gedacht, du seist ein Pferdedieb«, erwiderte er. »Bin ich nicht«, sagte ich, aber ich dachte mir, daß es sein gutes Recht war, das zu glauben. Wahrscheinlich hätte ich das gleiche geglaubt, wenn ich einen Fremden in meinem Stall erwischt hätte. »Ich hab mich vor dem Regen verkrochen«, sagte ich. »Mehr nicht. Und ich hab Hunger und Durst.« »Bist du ein Bandit?« Er blickte mich ängstlich an. Er war fast doppelt so breit wie ich, obwohl ich für mein Alter wirklich kräftig gebaut war, und einen Kopf größer als ich war er auch. Aber er wirkte im Moment so hilflos wie ein Kind. »Nein«, sagte ich. »Ich – ich bin …« Ich stockte. Ich suchte nach Worten und wußte nicht, was ich sagen sollte. Ja, was war ich denn überhaupt? Ein Waisenjunge, aufgewachsen in einer Mission, bei Apachen zum Mann geworden, zum Kämpfer, und jetzt? Ein Tramp vielleicht, ein Landstreicher, mehr nicht. »Du hast einen guten Hund«, sagte er. »Wie heißt er?« »Shita«, sagte ich. »Das hört sich wie der Name einer Frau an«, sagte er. »Stimmt«, erwiderte ich. »So hieß mein erstes Pferd, das ich bei den Apachen geritten habe. Es war eine Stute. Aber dem Hund ist das egal.« »Bei den Apachen?« Der Neger starrte mich groß an. Seine Angst schien sich in Neugier zu verwandeln. Die muskulösen Arme hingen
jetzt schlaff herunter. Ich sah seine mächtigen, schwieligen Hände und dachte mir, daß er mich damit hätte zu Mus zerquetschen können, wenn Shita nicht dazwischengekommen wäre. »Ich habe nichts verbrochen«, sagte ich. »Ich habe im Stall nur geschlafen, und jetzt wollte ich mir Wasser vom Brunnen holen.« »Wasser …« Er nickte. Dann sagte er. »Ich heiße Nap.« »Mein Name ist Ronco«, sagte ich. »Komm mit ins Haus, Ronco«, sagte er. »Der Master ist ein guter Mann. Da kriegst du bestimmt was zu essen.« »Ins Haus?« Ich musterte ihn unschlüssig, während mir der Regen über das Gesicht rann und meine Kleidung wieder völlig durchnäßte. »Ich lasse mich nicht in die Falle locken.« »Falle? Das ist keine Falle. Wir sind hier ganz allein, mein Master und ich. Wir tun keiner Fliege was zu leide, das kann ich dir sagen. Wir sind froh, wenn wir unsere Ruhe haben. Aber wir müssen uns auch in acht nehmen. Es gibt viel Gesindel hier, und als ich dich im Stall sah …« »Gut«, unterbrach ich ihn. »Ich komme mit ins Haus. Aber den Revolver behalte ich, und ich kann damit umgehen, verstehst du?« »Sicher. Wir tun keinem was. Und deinen Hund kannst du auch mit 'reinbringen. Er ist ein guter Hund. Ich wollte, wir hätten hier so einen Hund, der bellt, wenn sich jemand auf die Farm schleicht, und der uns beschützt.« Er drehte sich um und ging mit schweren Schritten zum Haus hinüber. Ich bückte mich, hob meine Sharps auf und folgte ihm. »Los«, sagte ich zu Shita. »Und paß auf, verstehst du? Paß verdammt auf, damit sie uns nicht 'reinlegen. Ich hab keine Augen im Hinterkopf.« Der Hund blickte mich an und trottete neben mir her über den vom Regen aufgeweichten Hof. Nap, der große Neger, hatte das Farmhaus inzwischen erreicht und stieß die Tür auf. Warm flutete von drinnen das Licht über die Schwelle und zeichnete einen hellen Fleck in den Morast vor der Tür. »Komm 'rein!« rief er. »Komm nur.« Ich trat über die Schwelle, die Sharps unter dem Arm. Shita war
immer noch dicht neben mir. Geblendet blinzelte ich in die Helligkeit und hörte Nap rufen. »Hier ist jemand, Master Duncan! Ein junger Bursche und ein Hund. Sie waren im Stall, Master Duncan, hatten sich vor dem Unwetter verkrochen und da geschlafen. Sind beide völlig verhungert und durstig. Ich hab gesagt, sie sollen 'reinkommen.« Im Hintergrund des Ganges, in dem wir standen, erschien ein mittelgroßer, vierschrötiger Mann mit kantigem Schädel und zerfurchten, wettergegerbten Gesicht. Aus dunklen, ruhigen Augen musterte er mich und Shita. Ich ließ unwillkürlich die Waffe sinken und schämte mich fast, daß ich sie in Hüfthöhe hielt. »Er hat große Angst, daß wir ihm was tun, Master Duncan«, sagte Nap. »Deshalb hält er sein Gewehr in der Hand. Ich hab ihm gesagt, daß wir ihm nichts tun, daß wir niemandem etwas tun, aber er hat mir nicht geglaubt, Master Duncan.« »Schon gut, Nap.« Die Stimme des Farmers klang rauh, aber nicht unangenehm. »Wir tun hier niemandem was«, sagte er. »Wir wollen nur in Ruhe leben.« »Ich auch«, sagte ich, während ich die Sharps absetzte. »Aber man läßt mich nicht. Deshalb traue ich keinem mehr.« »Das ist schlimm«, sagte der Farmer. »Wenn man so jung ist und keinem Menschen mehr traut, dann ist das Leben eine ziemlich jämmerliche Sache.« Ich nickte, genau das war es. Es war eine jämmerliche Sache, und es war völlig sinnlos. »Wirst du verfolgt, jagt dich jemand?« fragte der Farmer. »Ich weiß nicht.« Ich spürte mit der nachlassenden Anspannung meiner Nerven die Schwäche meines Körpers. Ich fühlte mich völlig ausgebrannt und leer. Der Hunger war so groß, daß ich plötzlich ganz weiche Knie hatte und mich zusammenreißen mußte, um nicht umzufallen. »Hast du was angestellt?« fragte der Farmer. Er trat langsam näher und blieb neben dem Neger stehen, der auch ihn überragte. »Nein«, sagte ich. »Ich habe niemandem etwas getan. Aber ich weiß mittlerweile, daß man gar nichts anstellen muß, um in Schwierigkeiten zu geraten.«
»Komm 'rein«, sagte der Farmer. »Ich bin Chet Duncan. Du hast Hunger, hat Nap gemeint. Du sollst dich satt essen können. Und für den Hund habe ich aus was.« »Er heißt Ronco, Master«, erklärte Nap aufgeregt. »Und er hat bei den Apachen gelebt, hat er mir gesagt. Und der Hund, das ist ein prächtiger Hund, Master. Der hat mich angesprungen und wollte mich zerreißen, um ihn zu beschützen.« »Wir reden über alles«, sagte der Farmer. Er drehte sich um und ging in eine Kammer. Nap folgte ihm, und ich trat hinter den beiden ein. Shita blieb auf der Schwelle zurück und hockte sich hin. Die Wärme im Raum waberte mir geradezu entgegen, so daß ich nach den Stunden in Kälte und Regen sofort zu schwitzen begann. In einem aus rohen Feldsteinen erbauten Kamin loderte ein großes Feuer. Die Kammer war geräumig und zweckmäßig, aber nicht ungemütlich eingerichtet. In der Mitte stand ein breiter, rohgezimmerter Tisch mit gescheuerter Platte. Um ihn herum standen vier Stühle. An der Wand neben der Tür befanden sich ein Schrank und eine Kommode, beim Kamin gab es eine Bank und einen Schaukelstuhl. Auf einem Regal entdeckte ich einige kleine Porzellantassen, dazwischen einen silbernen Kerzenhalter und ein paar bräunlich schimmerde Fotos in schmalen Rähmchen. An der Wand des Raumes, die der Tür gegenüberlag, hing ein langläufiges Sharps-Gewehr. Darüber war eine Uhr angebracht, daneben ein bunter Druck aus einer Zeitung, der eine Szene in einem Goldgräberlager zeigte. »Setz dich«, sagte Duncan. »Nap wird dir Kaffee kochen und Essen zubereiten. Zieh dein Hemd aus und häng es am Kamin auf.« Ich zögerte, dann streifte ich mir das Hemd über den Kopf und hängte es über einen Stuhl, den ich dicht ans Kaminfeuer rückte. Meine Unruhe legte sich mehr und mehr. Ich fühlte instinktiv, daß ich hier sicher war und mir keine Gefahr drohte. Der Farmer ließ sich auf der Kaminbank nieder und schaute mich aufmerksam an. »Als ich dich gefragt habe, ob du verfolgt wirst, hast du gesagt, du wüßtest es nicht«, sagte er.
»Ich weiß es auch nicht.« »Was heißt das?« »Vorige Nacht habe ich gesehen, wie ein paar Männer eine Farm abgebrannt haben«, sagte ich. Chet Duncan wurde blaß. Aber er schwieg und ließ mich weiterreden. »Danach bin ich ein paar Kerlen in die Arme gelaufen, die Freunde von dem ermordeten Farmer waren«, fuhr ich fort. »Ihr Anführer hieß Lane, Henry Lane.« Duncan stand abrupt auf und ging erregt im Zimmer auf und ab, ohne ein Wort zu sagen. »Ich mußte ihnen alles erzählen«, sagte ich, »und ich mußte bei ihnen bleiben. Gestern haben sie mich mitgenommen, weil sie ein paar von den Kerlen aufgespürt hatten, die bei dem Mord dabeigewesen sein sollen. Es waren aber nicht die, die ich gesehen hatte. Trotzdem hat Lane sie massakrieren lassen. Und in der letzten Nacht wollte er mit seinen Leuten einem anderen Mann das Dach über dem Kopf anzünden. Da bin ich am Abend abgehauen. Ich bin kein Mordbrenner und Mörder.« Duncan blieb kurz am Fenster stehen und schaute in den Regen, der gegen die Scheiben prasselte. Dann drehte er sich um und ging zum Kamin zurück, wo er sich auf die Bank sinken ließ. Nap trat ins Zimmer. Er stellte eine Blechschüssel vor Shita hin und sprach leise auf den Hund ein. Shita betrachtete ihn mißtrauisch, schnüffelte aber dann an der Schüssel und begann das Fleisch darin gierig zu verschlingen. Mir brachte Nap eine Kanne mit dampfendem Kaffee und einen Becher. Er verließ den Raum noch einmal und kehrte mit einer Riesenportion gebratenem Speck, Spiegeleiern, frischem Brot und Butter zurück. »Ich glaube nicht, daß sie dich verfolgen werden«, sagte Duncan. Er nickte befriedigt, als er sah, daß ich mit Heißhunger über das Essen herfiel. Nap ließ sich mir gegenüber am Tisch nieder und staunte offenbar darüber, wie schnell ein Mensch eine so große Menge Essen in sich hineinstopfen konnte. »Das Gewitter wird sie davon abgehalten haben, dich zu jagen«, sagte Duncan. »Und der Regen hat deine Spuren verwischt.
Außerdem sind diese Männer auf andere Dinge aus. Du bist für Lane nicht wichtig genug. Wenn er allen seinen Deserteuren nachlaufen wollte, hätte er keine Zeit mehr, im ganzen Land zu morden und zu plündern.« Ich schaute von meinem Teller auf. »Kennen Sie ihn?« »Kennen? Gott bewahre, nein. Ich habe nur von ihm gehört. Zuviel habe ich von ihm gehört, von ihm und von den anderen, die sich ›Todesreiter‹ nennen und aus dem Süden heraufkommen.« Duncan lehnte sich zurück. Er zog eine selbstgeschnitzte Maiskolben-Pfeife aus der Hosentasche und einen ledernen Tabakbeutel aus der Brusttasche seines Hemdes. Mit seinen schwieligen, großen Händen stopfte er bedächtig den Pfeifenkopf. »Sieh mal, Nap und ich, wir waren schon von Anfang an zusammen. Auch als meine Frau noch lebte. Er hat mir geholfen, die Farm hier aufzubauen. Nap ist ein freier Neger. Ich bin aus Illinois hierhergetrailt, Nap hat mich begleitet. Nap war nie ein Sklave. Er arbeitet für mich, und er erhält einen anständigen Lohn. Das ist richtig so, und das sollte überall so sein. Deshalb werde ich dafür stimmen, daß Kansas ein freier Staat bleibt – ohne Sklaverei. Aber ich werde niemandem den Schädel dafür einschlagen, und ich werde niemanden zwingen, genauso zu denken wie ich. Ich hoffe, daß die meisten Leute in Kansas so denken, denn sollten sie für die Sklaverei stimmen, werde ich meine Farm hier verlassen und mit Nap fortgehen. Das wäre schlimm für mich und für Nap auch. Deshalb sollten wir vielleicht Mr. Lane dankbar sein, daß er sich für unsere Sache schlägt. Aber was ist schon damit gewonnen, daß er ein paar Leute umbringt? Das wird die Abstimmung nicht beeinflussen. Mit Gewalt ist noch nie jemand wirklich überzeugt worden.« Duncan zündete sich die Pfeife an, und bald erfüllte der würzige Duft des Rauches den Raum. Nap saß schweigend auf seinem Stuhl mir gegenüber und knetete seine mächtigen Hände. »Die Leute aus dem Süden meinen, daß Neger keine Menschen seien, weil ihre Haut schwarz ist. Ich sag dir, Nap ist ein Mensch genau wie ich, und er ist ein guter Mann, ein verdammt guter Mann sogar. Für mich gibt es keine Unterschiede. Deshalb denke ich, daß ein Mensch nicht das Recht hat, andere Menschen zu unterjochen. Im
Süden tun sie es, und es wird noch einmal schlimm enden. So was geht nie sehr lange gut. Irgendwann wehrt sich derjenige, der sich unter der Peitsche beugen muß, und dann werden sich die Sklavenhalter verdammt wundern. Aber das ist nicht meine Sache. Ich leb mein Leben und tue alles so, wie ich es für richtig halte. Deshalb sind Nap und ich Freunde, und deshalb gibt es zwischen uns keine Unterschiede.« Ich hatte zu Ende gegessen und schob den leeren Teller ein Stück weg. Ein Blick zu Shita zeigte mir, daß auch der Hund satt war und begriffen hatte, daß wir im Hause Chet Duncans keiner Gefahr ausgesetzt waren. Er hatte sich zufrieden neben der Tür ausgestreckt. »Dein Hemd wird trocken sein«, sagte Nap. Ich stand auf und ging zum Kamin hinüber. Das Hemd war noch nicht ganz trocken, aber ich zog es trotzdem an. »Hast du niemanden, zu dem du gehen kannst?« fragte der Farmer. »Niemanden«, sagte ich. »Was hast du vor?« »Ich weiß es nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kenne mich hier nicht aus. Vielleicht ziehe ich weiter nach Norden.« »Und dann? Kennst du dich da besser aus als hier?« »Nein.« Ich setzte mich wieder. »Vielleicht sollte ich nach Süden gehen, zurück zu den Apachen.« »Weißt du, wie weit das ist? Da gelangst du nie hin. Tausend Meilen sind das mindestens, und das zu Fuß! Ich sag dir was, Ronco, du bleibst hier.« »Hier, auf der Farm?« »Du siehst kräftig aus«, sagte Duncan. »Und du gefällst mir. Hast du schon mal auf einer Farm gearbeitet?« »Das ist lange her«, sagte ich. »In der Mission, in der ich aufgewachsen bin.« »So etwas verlernt man nicht«, sagte Duncan. »Was denkst du, Nap?« »Wenn Sie meinen, daß er bleiben soll, Master Duncan, dann bin ich auch dafür«, sagte Nap. »Er gefällt mir, auch wenn er mich fast erschossen hätte. Er sieht ehrlich aus. Und einen Hund könnten wir hier gut gebrauchen.«
»Also?« Duncan blickte mich erwartungsvoll an. Ich zögerte. Das Angebot war nicht schlecht. Ich hatte kein Ziel und wußte nicht wohin, wußte nicht, womit ich mir am nächsten Tag den Magen füllen sollte. Duncan gefiel mir und Nap auch, die ganze Farm gefiel mir, die Ruhe, die über allem lag, die Freundlichkeit. Hier hatte ich eine Chance, endlich wirklich Fuß in der Welt der Weißen zu fassen, endlich nach so vielen bösen Erfahrungen die ersten guten Erfahrungen in der für mich neuen Welt zu sammeln. Ich fühlte in mir den starken Willen, die dargebotene Hand anzunehmen und hierzubleiben. Ich brauchte einen Platz, wo ich hingehörte, und ich war sicher, daß die Duncan-Farm der richtige Platz war. Ich schaute zu Shita hinüber. Der Hund hatte sich auf die Seite gelegt und die Pfoten von sich gestreckt. Er seufzte vor Behaglichkeit, und da wußte ich, was ich zu tun hatte. »Ich bleibe«, sagte ich. Ein warmes Lächeln breitete sich auf Naps gutmütigem, breitflächigem Gesicht aus. Chet Duncan erhob sich und legte mir seine große Rechte auf die Schulter. »Du bist jetzt hier zu Hause«, sagte er. »Nap zeigt dir dein Zimmer. Du wirst es nicht bereuen, daß du hierbleiben willst.« Ich lehnte mich zurück, satt, trocken, warm und zufrieden und schaute in das prasselnde Kaminfeuer. Und draußen rauschte der Regen.
7. Es regnete noch viele Stunden. An diesem Tag wurde es nicht mehr hell. Ich saß mit Duncan und Nap am Kamin – Shita lag zwischen uns – und erzählte von den Jahren, die hinter mir lagen. Später schlief ich seit langem wieder einmal in einem richtigen Bett, in sauber bezogener Bettwäsche, und Shita hatte sich auf einem alten Teppichrest ausgestreckt. Als ich erwachte, war das Unwetter weitergezogen. Das ganze Land glänzte vor Nässe. Überall standen riesige Pfützen, in denen sich der Morgenhimmel spiegelte. Ich kroch aus dem Bett und tappte
barfuß über die blanken Holzdielen zu einer Kommode neben der Tür, auf der ein Wassergefüllter Tonkrug und eine Schüssel standen. Als ich mich wusch, klopfte Nap an die Tür, um mich zu wecken. Er schob sein grinsendes Gesicht ins Zimmer, und wenig später folgte ich ihm in die Küche des Farmhauses, wo Chet Duncan sich bereits eingefunden hatte. Wir frühstückten zusammen, und ich ging mit Nap in den Stall, um die Tiere zu versorgen. Mir war, als wäre es schon immer so gewesen, als hätte ich nie etwas anderes getan, nie woanders gelebt. Mir schien alles vertraut, alles selbstverständlich und normal. Shita tollte neben mir her und schien sich noch wohler zu fühlen als ich. Die Arbeit war schwer, aber sie tat mir gut. Nach dem ziellosen Umherziehen, dem nutzlosen Herumlungern fühlte ich wieder, daß es einen Sinn gab, zu leben, daß ich nicht überflüssig war, sondern etwas Nützliches tun konnte, aus eigenem Antrieb, ohne daß jemand mich zwang, herumjagte und ausnutzte. Nach der Stallarbeit gingen wir daran, die Schäden zu beseitigen, die der Sturm angerichtet hatte. Schindeln waren vom Scheunendach und vom Dach des Wohnhauses heruntergerissen worden. Das Windrad, das dazu da war, Wasser in die Bewässerungsgräben der Maisfelder zu pumpen, war gebrochen. Die Sonne stieg rasch, es wurde heiß, und nach und nach trockneten die Wasserlachen aus. Die Spuren des Unwetters schwanden, und noch bevor die Sonne sich am Abend senken würde, würde es sein, als hätte es nie einen Gewittersturm gegeben. Duncan und ich waren gerade mit unseren Reparaturarbeiten auf dem Dach des Haupthauses fertig, Nap stand bereits in der Küche und bereitete das Essen vor, da tauchte auf einem schmalen Karrenweg von Westen ein Reiter auf. Er ritt auf die Farm zu. Ich schaute mich vom Dach aus um, konnte aber außer dem einen Reiter kein weiteres menschliches Wesen im weiten Umkreis entdecken. Ich kletterte hinunter, während Duncan mir die Leiter hielt. »Er ist allein«, sagte ich. »Man muß vorsichtig sein«, sagte Duncan. »Es gibt viel Gesindel.«
Ich ging zur Haustür, während Duncan auf dem Hof stehenblieb und dem Reiter entgegenschaute. »Ein Fremder kommt«, sagte ich, als ich an der Küche vorbeiging. »Das Essen ist gleich fertig«, erwiderte Nap. Er hantierte an der Kochstelle mit Töpfen und Pfannen und sang dabei mit seiner dunklen, wohltönenden Stimme. Ich eilte die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Auf dem Stuhl neben meinem Bett lag mein Navy-Colt. Ich zögerte einen Moment, dann nahm ich ihn, wechselte die Zündhütchen aus und schob die Waffe unter mein Hemd in den Hosenbund. Ich verließ meine Kammer und ging wieder hinunter. Als ich aus dem Haus trat, erreichte der Reiter gerade den Hof und hielt neben dem Brunnen an. Er war groß und hager, dabei aber sehnig und geschmeidig. Ich blieb an der Tür stehen und betrachtete ihn. Er gefiel mir nicht. Sein hohlwangiges, unrasiertes Gesicht mit den tiefliegenden Augen und der gebrochenen Nase paßte gut hinter ein paar solide Eisengitter. Unter einem hohen, spitzen Hut quoll strähniges, verfilztes Haar hervor. Ein knielanger Staubmantel hüllte die hagere Gestalt ein. Der Mann tippte an die Hutkrempe und stieg steifbeinig aus dem Sattel. »Tag«, sagte er. Er benahm sich, als sei er hier zu Hause. Er führte sein Pferd zur Tränke neben dem Brunnen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Wo bin ich hier?« »Sie sind hier auf der Duncan-Farm, Mister«, sagte Chet Duncan. »Und wer sind Sie?« »Jonathan Miller ist mein Name«, erwiderte der Fremde. »Ich habe einen weiten Weg hinter mir.« Je länger ich ihn beobachtete, desto richtiger erschien es mir, daß ich meinen Revolver geholt hatte. »Wollen Sie heute noch weit?« fragte Duncan. Ich sah ihm an, daß auch ihm der Fremde nicht gefiel, aber er mußte sich an die ungeschriebenen Regeln des Gastrechts halten. »Wer weiß«, erwiderte der Mann. »Wo man mich braucht, da bleibe ich, wenn ich nicht mehr benötigt werde, reite ich weiter.« »Sind Sie ein Priester?« »O nein, guter Mann. Auch wenn ich vielleicht vieles mit einem
Priester gemein habe.« »Wir essen gleich«, sagte Duncan widerwillig. »Wollen Sie einen Happen zu sich nehmen, bevor Sie weiterreiten?« »Sie haben es sehr eilig, mich wieder fortzuschicken, guter Mann«, sagte Jonathan Miller. »Trotzdem nehme ich ihr gütiges Angebot dankbar an.« »Dann stellen Sie Ihr Pferd in den Schatten und kommen Sie ins Haus«, sagte Duncan. »Gott wird es Ihnen lohnen«, erwiderte der Mann. Duncan drehte sich stumm um und trat auf die Tür zu, in der ich lehnte. Da tauchte Nap hinter mir auf und schob seinen wuchtigen Oberkörper aus der Tür. »Das Essen ist fertig!« rief er. Ich sah den Fremden an, der gerade mit steifen, eigenartigen Schritten über den Hof ging. Beim Anblick von Nap blieb er für einen Moment wie angewurzelt stehen, zuckte beinahe zusammen, und sein Gesicht verzerrte sich sekundenlang zu einer Grimasse. Dann stiefelte er weiter auf das Haus zu. Nur wenige Yards von Duncan, Nap und mir entfernt blieb er stehen und musterte Duncan von oben bis unten. »Ist es hier üblich, daß Ihr Nigger Sie wie einen Hofhund zum Essen ruft?« Ich fühlte einen glühenden Stich in meiner Brust und sah, daß Chet Duncan blaß wurde. Nap neben mir preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und wandte sich ab. »Wollen Sie hier einen Teller Essen, Mann, oder was wollen Sie sonst?« sagte Duncan. »Sie haben mir doch selbst Essen angeboten?« erwiderte der Fremde. »Dann benehmen Sie sich auch wie ein normaler Gast«, sagte Duncan scharf. »Nap ist nicht mein Nigger, er ist niemandes Nigger, verstehen Sie? Er ist mein Angestellter und mein Freund.« »Ihr – Freund?« Jonathan Miller warf einen Blick auf mich. »Und das auch noch vor einem so jungen Menschen, dessen Seele noch völlig unverdorben ist? Sie nennen diesen schwarzen Kerl Ihren Freund? Das war ja höchste Zeit, daß ich hierhergekommen bin. Der
himmlische Vater hat meine Schritte wieder einmal richtig gelenkt.« »Ich glaube nicht«, sagte Duncan. »Sie sind auf meinem Anwesen und genießen hier Gastrecht, aber alles hat seine Grenzen.« »Ich bin ein Vertreter der Demokratischen Partei …« hob Miller an. »Sie sind mein Gast«, bemerkte Duncan, »sonst nichts. Hier ist keine Wahlversammlung. Sie erhalten hier etwas zu essen, und dann verschwinden Sie.« Der Mann schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. »In was für eine Lasterhöhle bin ich nur geraten!« rief er aus. Duncans Gesicht verhärtete sich. »Drehen Sie um, Mr. Miller. Setzen Sie sich in den Sattel, und reiten Sie weiter, sonst passiert ein Unglück.« »Sie verweigern mir Speise und Trank?« keifte der seltsame Mann. Ich hatte noch nie jemanden so merkwürdig reden hören. »Allerdings tue ich das.« Duncan blickte an dem anderen vorbei in die Ebene hinaus, als sei der Mann nicht mehr vorhanden. »Wer bei mir Gast sein will, soll sich auch wie ein Gast benehmen. Und jetzt verschwinden Sie. Schnell!« »Das – das werden Sie bereuen!« schrie Jonathan Miller mit überschnappender Stimme. Er hob die Faust und drohte. Sein mageres Gesicht verzerrte sich. Da sprang Shita vom Stall heran. Er sah den Mann mit der erhobenen Faust und jagte auf ihn zu, bevor ich etwas sagen konnte. Sein wildes Knurren wurde nur von den angstvollen Schreien des Mannes übertönt. Shita federte vom Boden ab und prallte gegen die linke Seite des Mannes. Jonathan Miller taumelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte in seiner ganzen Ehrwürdigkeit in den Dreck. Er brüllte wie am Spieß und riß beide Hände vor das Gesicht. Sein spitzer Hut rollte durch den Staub. Shita stand sprungbereit über ihm, die Zähne gefletscht, und knurrte. »Hilfe!« brüllte Jonathan Miller. »Nehmt dieses Teufelsvieh von mir weg!« »Hierher, Shita!« rief ich.
Der Hund ließ nur zögernd von dem Mann ab. Knurrend wich er zurück, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Miller raffte sich auf, stolperte, stürzte noch einmal auf die Knie und grapschte nach seinem Hut, den ein Windstoß über den ganzen Hof trieb. Miller erwischte den Hut, stülpte ihn über und rannte zu seinem Pferd. Shita bellte, und Miller sprang mit einem Satz, den ich ihm niemals zugetraut hätte, in den Sattel. Er riß sein Pferd herum und ritt vom Hof. »Wanze«, sagte Duncan leise. »Eine gelbgestreifte Ratte.« Er drehte sich um. »Gehen wir ins Haus.« Ich nickte, schaute dem Reiter nach, dessen langer Staubmantel von einem Windstoß gebauscht wurde, und ging ins Haus. Shita lief neben mir her. Duncan folgte uns und schloß die Tür. Naps Gesicht wirkte verschlossen, als wir in die Küche traten. Er hatte Teller auf den Tisch gestellt und legte Besteck dazu. Die ganze Küche duftete nach gebratenen Steaks, nach Bohnengemüse und Röstkartoffeln. Ich erinnerte mich nicht, jemals ein so üppiges Essen erhalten zu haben. Nap füllte unsere Teller, und wir nahmen Platz. Duncan sprach ein Tischgebet, und als wir mit dem Essen anfingen, saß Nap mit gesenktem Kopf und düsterer Miene vor seinem Teller. »Was ist los, Nap?« Duncan ließ Messer und Gabel sinken. »Dein Essen ist gut wie immer.« »Es ist nichts«, erwiderte Nap. »Doch«, sagte Duncan. »Es ist eine ganze Menge los.« Sein Gesicht färbte sich plötzlich rot. »Wie kommst du dazu, dich über diesen Scheißkerl, der sich Jonathan Miller nennt, zu ärgern?« »Ich ärgere mich nicht, Master Duncan.« »Ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst mich nicht Master Duncan nennen. Wir sind Freunde, Nap, oder habe ich dich jemals anders behandelt?« »Nein.« »Also. Was geht dich dieses Stinktier an? Du weißt genau, daß es viele von seiner Sorte in Kansas gibt, und nicht nur in Kansas,
überall im Land. Idioten sterben niemals aus. Aber was hat das mit uns zu tun? Hier ist meine Farm, hier leben wir, und hier leben wir so, wie wir es wollen. Was Holzköpfe wie dieser Miller sagen, ist uninteressant.« »Ja. Master Duncan, ich meine Chet«, sagte Nap. »Das klingt nicht so, als wärst du davon überzeugt«, sagte Duncan. »Teufel noch mal, ich hätte diesen Kerl mit der Schrotflinte vom Hof jagen sollen.« »Sie werden Ärger kriegen, Ma … Chet«, sagte Nap, ohne aufzuschauen. »Ärger?« Duncan hieb wütend mit Messer und Gabel auf sein Steak ein. »Den möchte ich sehen, der mir vorschreibt, wie ich auf meiner Farm zu leben habe!« Er schob einen großen Bissen Fleisch in den Mund und sagte kauend: »Wenn du jetzt nicht ißt, dann stopfe ich dir das ganze Steak auf einmal in den Hals, verdammt noch mal. Vergiß diesen Miller.« »Ich habe seine Augen gesehen«, sagte Nap. »Das waren die Augen eines Mannes, der gern die Peitsche auf schwarze Rücken schlägt, der Männer wie mich für Tiere hält.« »Laß ihn denken, was er will. Iß dein Steak. Es ist großartig. Es hätte mir nicht halb so gut geschmeckt, wenn dieser Miller hier am Tisch gesessen hätte.« Nap nahm Messer und Gabel auf und stocherte lustlos in seinem Essen herum. Ich konnte ihn verstehen. Ich hatte lange Zeit als weißer Apache gelebt und wußte, wie schmerzhaft die Empfindungen waren, die man hatte, wenn man die Verachtung anderer Menschen zu spüren kriegte. Ich aß schweigend, und ich war sicher, noch nie besser gegessen zu haben. Die Kost bei den Apachen war nahrhaft gewesen, hatte gesättigt und die Energien enthalten, die ein Krieger für sein entbehrungsreiches Leben benötigte. Aber sie war sehr eintönig gewesen. Ich warf einen Blick zu Shita hinüber. Er hockte neben der Tür und hatte den Blechnapf, den Nap ihm hingestellt hatte, bereits geleert. Als ich ihn anschaute, öffnete er sein Maul und gähnte, dann streckte er sich neben dem Napf auf dem Fußboden aus und legte den
Kopf zwischen die Vorderpfoten. Ich wandte mich wieder meinem Teller zu. Nap hielt seinen Kopf noch immer gesenkt, er aß langsam und schien in Gedanken ganz woanders zu sein. In diesem Moment explodierte Shita und begann wie rasend zu kläffen. Er rannte durch die Küche zum Fenster und sprang an der Wand hoch. Wir wandten die Köpfe, und da sahen wir, das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt, Jonathan Miller, der hereinstarrte. Mit dem hohen, spitzen Hut und dem langen Staubmantel sah er aus wie ein böser Geist. Sein hohlwangiges Gesicht wirkte durch die Fensterscheibe, in der sich die Mittagssonne spiegelte, bleich wie das Antlitz eines Toten.
8. Duncan und ich sprangen fast gleichzeitig auf. Nap blieb wie angewurzelt sitzen und blickte mit einem Ausdruck zum Fenster, den ich noch nie bei einem Menschen vorher gesehen hatte. In seinem Gesicht war die Angst einer menschlichen Kreatur, der man ein minderes Lebensrecht einräumt als einem Tier. Ich erreichte die Tür als erster. Im Hinauslaufen drehte ich mich noch einmal um, da war das Gesicht Millers am Fenster verschwunden, und Shita lief bellend hinter Duncan her. Ich jagte den Gang hinunter und riß die Haustür auf. Jonathan Miller hetzte über den Hof zu seinem Pferd, das er auf dem Karrenweg, der an der Farm vorbeiführte, stehengelassen hatte. Ich zog meinen Revolver und schoß ihm zwischen die Beine. Die Kugel wirbelte Staub auf. Miller brüllte und vollführte einen entsetzten Sprung nach vorn. Er stolperte und stürzte in den Staub. Als er sich herumwälzte und unter seinem langen Staubmantel plötzlich eine kleine Derringerpistole hervorzog, hatte ich bereits den halben Hof überquert und ihn fast erreicht. Ich ließ mich fallen. Meine Reflexe stimmten noch. Das Kämpfen hatte ich einmal gelernt, und es war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich reagierte instinktiv, rollte geschmeidig durch den
Staub des Hofes und hörte das dünne Krachen des Schusses. Die Kugel strich heiß an meinem Kopf vorbei, dann feuerte ich im Liegen. Miller hatte sich bereits wieder bis auf die Knie aufgerichtet und wurde von meiner Kugel in die linke Schulter getroffen. Der Aufprall des Geschosses stieß ihn rücklings zu Boden. Blut quoll aus seiner Wunde, aber er war nur leicht verletzt. Trotzdem brüllte er wie am Spieß. Ich richtet mich auf. Da stürmte bereits Chet Duncan heran und war blaß wie eine Wand. Und neben ihm jagte Shita, der sich sofort auf den brüllenden Miller stürzen wollte. Ich hielt ihn zurück, und mit widerwilligem Knurren blieb er stehen. Miller stand gerade auf. Er schwankte und hielt die rechte Hand auf die Verletzung gepreßt. »Das werden Sie bereuen«, schleuderte er Duncan entgegen. Duncan sagte nur: »Verschwinden Sie!« »Ich wollte nur sehen, wie weit Sie es treiben«, sagte Miller. »Ich habe nicht glauben können, wie groß der Verfall ist, der hier herrscht. Sie sitzen mit dem Nigger am selben Tisch, essen das, was er ißt, behandeln ihn wie einen Menschen. Und dann soll man sich wundern, wenn diese schwarzen Kerle immer frecher werden. Bald werden sie noch verlangen, mit ›Sir‹ angeredet zu werden, und …« »Hauen Sie ab, Mann«, sagte Duncan. »Ich kann Ihren Quatsch nicht mehr hören. Wenn ich Sie noch einmal auf meinem Hof erwische, werde ich Sie hinter der Scheune begraben.« »Ich gehe«, sagte Miller. Er versuchte, eine würdevolle Haltung einzunehmen. »Sie wissen offenbar genau, daß das, was Sie hier treiben, dem Willen der meisten anständigen Bürger in diesem Land widerspricht. Deshalb bewaffnen Sie sogar schon diesen Jungen und bringen ihm bei, auf gute Christenmenschen zu schießen. Alles hat seinen Preis, Mister, und Sie werden von mir hören. Und die Abstimmung wird Ihnen und Ihresgleichen zeigen, wie die rechtschaffene Mehrheit im Staat denkt.« Als Duncan drohend einen Schritt auf ihn zutrat, stolperte Miller eilig davon und zog sich stöhnend in den Sattel.
»Euch weißen Niggern geht es allen an den Kragen!« schrie er. Dann ritt er davon. Ich war sicher, daß er diesmal nicht zurückkehren würde, dennoch hatte ich ein schlechtes Gefühl, als ich ihn hinter einigen Hügeln verschwinden sah. Er war ein Mann, der nie etwas vergaß, der rachsüchtig war, und der heimtückisch und hinterhältig kämpfte. Ich war sicher, daß mein Eindruck stimmte. Mir waren viele Menschen begegnet, und ich war gezwungen gewesen, sie einzuschätzen, um mich auf sie einzustellen. Während meiner Zeit bei den Apachen hatte häufig genug mein Leben davon abgehangen. Ich besaß schon damals einen sicheren Instinkt für Menschen. Die Racheschwüre Jonathan Millers waren ernst gemeint, daran zweifelte ich keinen Moment. Duncan spie wütend auf den Boden. Er vergrub die Hände in den Taschen seiner Hose, und ich bemerkte, daß er sie darin zu Fäusten ballte. »Dieses Schwein«, sagte er leise, mehr zu sich selbst, aber ich hörte es trotzdem. Als wir uns umdrehten, stand Nap in der Tür, groß und breit wie ein alter Schrank, mit ernstem, verschlossen wirkendem Gesicht. Seine großen Augen blickten uns traurig an. »Ich habe gehört, was der Mann gesagt hat, Chet«, sagte Nap. »Er ist weg«, sagte Duncan. »Aber er kehrt zurück, zumindest wird er dir eine Menge Ärger aufhalsen. Ich denke, ich werde meine Sachen packen und fortziehen, zurück in den Osten, wo ich hergekommen bin.« »Quark«, sagte Duncan. »Kein Quark. Wie vielen Männern sind schon die Häuser angesteckt worden? Ich habe es hier gut gehabt, aber ich werde gehen. Ronco ist jetzt da, und du bist nicht mehr allein.« »Hör auf davon, Nap, ich werde wütend.« Duncan schob sich an Nap vorbei ins Haus. Nap blickte mich etwas verloren an. Er zuckte mit seinen mächtigen Schultern. »Was soll ich bloß tun?« sagte er. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Aber ich glaube, daß der Kerl uns wirklich Ärger bereiten wird.«
»Ich gehe heute noch weg«, sagte Nap. »Damit änderst du gar nichts«, sagte ich. »Ob du hier bist oder nicht, wird diesen Miller wenig interessieren. Wir denken anders als er, und wir haben ihn davongejagt. Ich habe ihm sogar in die Schulter geschossen. Das ist es, was zählt.« Nap schaute mich zweifelnd an. Ich faßte ihn am Arm. »Bleib hier«, sagte ich. »Ich allein kann Mr. Duncan nicht viel nutzen.« Mit gesenktem Kopf trottete er hinter mir her. Duncan saß in der Küche am Tisch und aß den Rest seines kalten Steaks. Er aß auch das kalte Bohnengemüse und die kalten Röstkartoffeln, und er behauptete hinterher, es hätte noch nie so gut geschmeckt. Aber Nap war auf diese Weise nicht aufzuheitern. Er hatte Angst, ich spürte es – Angst nicht nur um sich, sondern auch um uns. Er sang nicht mehr, wie er es sonst bei der Arbeit zu tun pflegte. Sein ganzes Wesen änderte sich. Er wurde unruhig, schreckte bei jeder Kleinigkeit zusammen und sprach nur noch wenig. Wir arbeiteten nebeneinander, um die beim Sturm beschädigten Bewässerungsgräben in Ordnung zu bringen, aber die Atmosphäre auf der Farm hatte sich verändert, und ich spürte, daß etwas in der Luft lag. Auch Shita spürte es. Er lag dicht neben der Tür im warmen Staub des Hofes und starrte trübsinnig vor sich hin. * Die Tage verstrichen. Es passierte nichts, und die Anspannung, unter der wir auf der Duncan-Farm seit dem Zwischenfall mit dem seltsamen Jonathan Miller lebten, ließ nach. Nur Nap blieb schweigsam. Manchmal sah ich ihn, wenn die Sonne schon untergegangen war, auf dem dunklen Hof stehen und in die Ferne schauen. Ich beobachtete ihn vom Fenster meiner Kammer aus, und manchmal drängte es mich, ihn anzurufen. Aber ich ließ es, zumal ich sicher war, daß er mich ohnehin nicht gehört hätte. Nap tat alle Arbeiten, die getan werden mußten, aber mit seinen Gedanken war er weit fort von der Duncan-Farm, und ich befürchtete, eines Tages
aufzuwachen und Nap nicht mehr vorzufinden. Es verging eine Woche. Mr. Duncan zahlte mir meinen Wochenlohn aus, drei Dollar. Das war ein anständiger Lohn. Damals verdiente ein erwachsener Farmhelfer höchstens fünfzehn Dollar im ganzen Monat, die meisten kriegten erheblich weniger. Am Abend dieses Tages gingen wir früh zu Bett. Wir hatten den ganzen Tag ein Stück von der Farm entfernte Bäume gefällt und wollten das Land morgen roden. Es war ein schweres Stück Arbeit, das uns bevorstand, und wir hatten unseren Schlaf bitter nötig. In der Nacht weckte mich Shita. Er stand am Fenster und knurrte leise, als ich verschlafen den Oberkörper aufrichtete. Mondlicht fiel durch die Fensterscheiben, und Shitas Augen glitzerten wie Edelsteine. »Was ist los?« Ich streifte die Decke ab und stieg aus dem Bett. Shita blickte sich nicht nach mir um. Er starrte auf das Fenster, das zu hoch für ihn lag, als daß er hätte hinausblicken können, und knurrte weiter. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und trat ans Fenster. Ich bemerkte nichts Auffallendes. Milchig lag das Mondlicht auf dem Land. Lautlos öffnete ich das Fenster und beugte mich hinaus. Kühl umspielte ein leichter Nordwind meinen bloßen Oberkörper. Es war still draußen. Ich fluchte leise und wollte das Fenster wieder schließen. Da bemerkte ich südlich der Scheune eine Bewegung. Ich duckte mich sofort, legte Shita die Linke auf den Kopf und flüsterte ihm zu, er solle still sein. Angestrengt spähte ich in die Nacht hinaus. Ein Pferd schnaubte plötzlich. Dann sah ich Männer auf den Hof laufen. Sie mußten ihre Pferde am Zügel mitgeführt haben und zu Fuß bis zur Farm gelangt sein. Am Brunnen blieben sie stehen. Ich hockte wie gelähmt am Fenster und starrte auf den Hof hinunter. Im bleichen Mondlicht sah ich ihre Gesichter. Einer trug einen dünnen Oberlippenbart. Er war groß und breitschultrig und schien der Anführer zu sein. Ein anderer hatte ein blasses, mageres Kindergesicht. Mir fiel die Nacht ein, in der die Jackson-Farm niedergebrannt worden war, ich dachte an die Reiter, die ich gesehen hatte. Die Todesreiter!
Mit einem Schlag wich alle Müdigkeit aus meinem Körper. Ich riß mich vom Fenster los, eilte geduckt durch die Kammer zum Bett und streifte mein Hemd über. Ich steckte den Navy-Colt in den Gürtel und nahm Pulver, Kugeln und Zündhütchen an mich. Den SharpsKarabiner ließ ich stehen. Die einzige Patrone im Lauf war bei dem großen Regen, als ich hergekommen war, unbrauchbar geworden. Weitere Munition für den Karabiner besaß ich nicht. Ich lief zur Tür. Shita war dicht neben mir. In der Nebenkammer wohnte Nap. Ich stieß die Tür auf und huschte zu seinem Bett. Zu wecken brauchte ich ihn nicht. Er lag mit offenen Augen da und schaute an die Decke. »Steh auf«, flüsterte ich. »Da draußen sind Männer. Ich glaube, das sind dieselben, die die Jackson-Farm angezündet haben.« Nap wandte den Kopf. Er schien durch mich hindurch zu blicken. »Wir können nichts tun«, sagte er. »Ich habe gewußt, daß was passiert, aber wir können nichts dagegen tun.« »Und wie wir können«, sagte ich heftig. »Steh auf, und nimm dir ein Gewehr, dann heizen wir diesen Kerlen ein, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.« »Es hat keinen Sinn, Ronco. Du meinst es gut, aber wir können nicht gegen sie an. Sie sind stärker. Ich habe jeden Tag darauf gewartet, daß sie hier auftauchen, seit dieser Miller hier war.« »So ein Quatsch«, sagte ich. Ich drehte mich um und lief aus der Kammer und die Treppe hinunter. Im selben Moment hämmerten krachend eisenbeschlagene Gewehrkolben gegen die Haustür. Shita sprang bellend an mir vorbei und warf sich rasend vor Wut gegen die Tür. »Zurück!« schrie ich. Das Holz brach. Die Tür erzitterte in den Angeln. Ich riß meinen Revolver aus dem Gürtel und schoß blindlings auf die Tür. Die Kugel durchschlug glatt das Holz, und auf dem Hof ertönte ein gellender Schrei. Dann ein Fluch. Hinter mir riß Chet Duncan die Tür seiner Kammer auf. Er trug nur eine Hose. Sein muskulöser, schwerer Oberkörper war nackt. »Die Todesreiter«, stieß ich hervor. »Die Männer, die Jacksons Farm abgebrannt haben.«
»Wo ist Nap?« »Oben. Er sagt, es habe alles keinen Sinn. Er sagt, dieser Miller hätte uns das eingebrockt.« »Da hat er recht.« Duncan drehte sich um und lief in seine Kammer. Im selben Augenblick hörte ich das Splittern von Glas. Dann schrie Duncan auf. Ich lief zu Duncans Kammer und prallte erschrocken zurück, als ich sah, daß ein Mann durch das Fenster in den Raum stieg. Einer war bereits drin. Er wälzte sich mit Duncan am Boden. Der Farmer kämpfte verbissen, aber er hatte keine Chance, denn sein Gegner war jünger und stärker, und durch das Fenster stieg ein dritter Mann ins Innere. Ein Mündungsfeuer leckte mir gierig entgegen. Ich ließ mich zur Seite fallen und hörte das dumpfe Krachen der Detonation. Die Kugel schlug in den Türrahmen und fetzte einen handlangen Splitter aus dem Holz. »Shita!« schrie ich. »Komm Raus hier!« Wir hatten keine Chance. Nap hatte recht gehabt. Ich war zu spät aufgewacht. Jetzt ging es um Leben oder Tod. Duncan konnte ich nicht mehr helfen. Es waren zu viele Gegner. Ich hatte nur die Wahl, mit Duncan zu sterben oder wenigstens den Versuch zu unternehmen, zu entwischen. Ich erreichte die Hintertür und riß sie auf. Shita jagte an mir vorbei. Auch er schien begriffen zu haben, um was es ging. »Da läuft der Bengel!« schrie ein Mann hinter mir. Dann war ich draußen und hetzte über den hinteren Teil des Hofes. Knapp hundert Yards östlich von der Farm begann ein ausgedehntes Buschland. Darauf lief ich zu. Ich bezweifelte, daß ich es erreichen würde. Hinter mir krachten Schüsse. Kugeln flogen mir um die Ohren. Ich ließ mich fallen und rief nach Shita. Er schien die Gefahr zu begreifen, in der wir beide schwebten. Auch er legte sich ins Gras. Ich schaute zurück. Der Mann, der auf mich geschossen hatte, stand in der hellerleuchteten Hintertür. Ich war sicher, daß ich ihn hätte treffen können, aber ich schoß nicht. Es wäre Wahnsinn gewesen. Ich hätte damit verraten, wo ich lag, und die Killer hätten mich zusammengeschossen. Sie waren die Stärkeren. Der Mann rief etwas ins Haus, dann kehrte er um und warf die Tür
zu. Ich blieb noch einen Moment liegen, bevor ich mich erhob und geduckt weiterlief. Zusammen mit Shita erreichte ich das Buschgebiet und hockte mich hinter einen Sagestrauch. Ich rang nach Atem und spähte zur Farm hinüber. Viel konnte ich nicht erkennen. Ich hörte Schüsse und Schreie und rauhes Lachen, und dann sah ich, daß die Mörder zwei Gestalten auf den Hof zerrten, Chet Duncan und Nap. Erkennen konnte ich fast nichts. Es war zu dunkel. Ich sah nur Schatten, die auf dem Farmhof gespenstisch hin und her huschten.
9. Shita drängte sich an mich. Er zitterte vor Erregung. Ich strich ihm mit der Rechten über den Kopf, ohne es selbst zu merken. Wie gebannt starrte ich zur Farm hinüber, wo jetzt Flammen aus den Fenstern des Wohnhauses schlugen. Der Hof wurde vom lodernden Schein des Feuers beleuchtet. Ich hörte einen Mann schreien. Es war unverkennbar Naps Stimme, dunkel, volltönend, aber erfüllt von Angst und entsetzlichen Schmerzen. Sehen konnte ich ihn nicht. Die Schreie ertönten von der Vorderseite der Scheune. Dafür sah ich Duncan. Er stand neben dem Brunnen, war noch immer halbnackt und offenbar verwundet, denn seine Haltung war verkrümmt, und er stützte sich auf die Brunnenfassung. Zwei Männer traten jetzt zu ihm. Das Dach des Farmhauses brannte bereits, loderte wie eine riesige Fackel und stürzte teilweise in sich zusammen. Die Männer packten Chet Duncan und stießen ihn über den Hof. Er taumelte und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie nahmen keine Rücksicht darauf, sondern schlugen nun auch noch mit ihren Gewehrkolben auf ihn ein. Er stürzte zu Boden. Sie versetzten ihm Fußtritte, bis er sich wieder hochgestemmt hatte. Dann jagten sie ihn weiter. Inzwischen waren Naps Schreie so laut geworden, daß sie das Prasseln und Krachen des Feuers übertönten. Ich fror, obwohl die Nacht schwül war, und Shita neben mir knurrte. Seine Nackenhaare waren gesträubt. Chet Duncan war bis zu dem Gerüst, das das Windrad hielt,
getrieben worden. Einer der Männer kletterte an dem Gerüst hoch. Er hielt einen Strick in den Händen, den er an einer Querverstrebung befestigte. Er entrollte den Strick, knüpfte eine Schlinge hinein und kletterte wieder hinunter. Chet Duncan mußte ein Stück am Gerüst hinaufsteigen. Ihm wurde die Schlinge um den Hals gelegt, dann stießen sie ihn hinunter. Sein Körper pendelte hin und her. Ich sah, daß er seine Arme noch bewegte. Er lebte noch. Dann peitschten in schneller Folge Schüsse. Die Geschoßeinschläge wirbelten den freihängenden Körper Duncans regelrecht durch die Luft. Er schwang hin und her und blieb dann reglos hängen. Ich wandte mich ab und vergrub mein Gesicht in beide Hände. Es fiel mir schwer, mich zu beherrschen. Heiße, wilde Wut erfüllte mich. Wenn ich mich nicht eisern zusammengerissen hätte, hätte ich meinen Revolver genommen und wäre zur Farm zurückgelaufen. Aber das hätte weder Duncan wieder lebendig werden lassen noch Nap geholfen. Es wäre lediglich mein Ende gewesen. Das aber war es nicht allein, das mich verbitterte. Nach wochenlangem unsteten Umherirren, nachdem ich gewaltsam aus dem Land der Apachen verschleppt worden war, hatte ich hier auf der Duncan-Farm endlich wieder einen Platz gefunden, wo ich mich zu Hause fühlen konnte, wo ich hätte Wurzeln schlagen können. Damit war es aus, aus und vorbei. Ich war wieder soweit wie vor einer Woche. Ein herumstreunender, elternloser Junge, ein Landstreicher, allein, ohne Freunde, im Grunde ohne Lebensberechtigung. Wenn mich jemand totschlug, würde mich niemand vermissen. Ich hätte heulen können, aber ich tat es nicht, ich hatte es längst verlernt, vor langer, langer Zeit schon. Ich registrierte die Schreie Naps, die von der brennenden Farm herüberhallten, aber ich empfand nichts mehr dabei. Ich fühlte mich ausgebrannt und leer, zu jeder Gefühlsregung unfähig. Shitas Knurren schreckte mich auf. Ich hob den Kopf und sah, daß die Mörder ihre Pferde bestiegen hatten. Sie sprengten über den Hof. Auch Scheune und Stall brannten jetzt. Die Flammen zeichneten ein Brandmal der Vernichtung an den Nachthimmel. Die Reiter umrundeten die brennenden Gebäude und jagten auf die
Ebene hinaus, auf das Buschland zu. Ich richtete mich auf und stürmte tiefer in das Buschgebiet. Ich handelte instinktiv, ohne lange nachzudenken. Der Wille, zu überleben, trieb mich voran. Tiefhängende Zweige peitschten mir ins Gesicht, blieben an meiner Kleidung hängen, rissen Löcher in mein Hemd. Ich blieb nicht stehen. Ich lief, bis ich völlig außer Atem war und nicht mehr wußte, wo ich mich befand. Um mich herum war es so finster, daß ich nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Ich tastete mich weiter, stieß hart gegen einen Baum und stürzte. Erschöpft blieb ich liegen. Mir war jetzt alles egal. Sollten sie mich doch kriegen. Mein Lebenswille schlug jäh in Gleichgültigkeit um. Ich hatte es satt, davonzulaufen. Dann fühlte ich die kühle Schnauze Shitas an meinen Händen, spürte das warme Fell des Hundes, wurde von seinem heißen Atem getroffen. Ich strich Shita über den Kopf und war froh, nicht ganz allein zu sein. Mein Atem wurde ruhiger. Ich lauschte angespannt. Hufschlag war zu hören. Wahrscheinlich suchten die Reiter die Ränder des Buschgebietes ab. Mehr konnten sie nicht tun, denn in der Finsternis würden sie sich ebensowenig wie ich in dem Buschland zurechtfinden. Ich hoffte, daß sie das Tageslicht scheuten und verschwinden würden, bevor die Sonne aufging, um den Ort ihrer Schandtat möglichst weit hinter sich zu lassen. Gewißheit hatte ich nicht. Immerhin war ich ein Zeuge, ein lebender Zeuge. Ich wußte nicht, wie wichtig es den Mördern war, keine lebenden Zeugen zurückzulassen. Schließlich war ich in ihren Augen nur ein Kind, und ich war sicher nicht der einzige, der sie einmal bei ihrem blutigen Handwerk beobachtet hatte. Immer wieder hörte ich laute Rufe, mit denen sich die Männer untereinander verständigten. Sie drangen nach einer Weile auch in das Buschgebiet ein, gelangten aber zu Pferde nicht sehr weit. So schienen sie es schließlich aufzugeben. Ich hörte, wie sich der Hufschlag entfernte, leiser wurde und ganz verstummte. Trotzdem blieb ich in meinem Versteck hocken. Ich wollte nicht in eine Falle laufen. Schließlich richtete ich mich auf und versuchte in der Dunkelheit den Rückweg zu finden. Wäre Shita nicht bei mir gewesen, wäre es mir nicht gelungen.
Dann sah ich das Feuer. Es war ziemlich niedergebrannt, aber es reichte aus, um mir den richtigen Weg zu zeigen. Am Rande des Buschlandes verhielt ich eine Weile und lauschte ins Land hinaus. Aber alles blieb ruhig. Die Mörder waren verschwunden. Zusammen mit Shita schritt ich zur Farm zurück. Als ich den Hof erreichte, stürzten mehrere Stützbalken des Wohnhauses ein, die bis zuletzt aufrecht aus der brennenden Ruine herausgeragt hatten. Von Westen war Wind aufgekommen. Er trieb Wolken feiner Ascheteilchen über den Hof und drückte den rußigen Qualm, der immer noch über den Brandherden schwebte, tief auf den Boden. Ich atmete ihn ein und hustete. Nur noch hier und da in den schwarzverkohlten Trümmern brannte es. Mal sackte ein Flämmchen in sich zusammen, dann flackerte an anderer Stelle noch einmal ein neues auf. Das Feuer spendete aber noch genügend Licht, so daß ich sehen konnte, was die Kerle angerichtet hatten. Ihrer Zerstörungswut war nichts entgangen. Es war wie auf der Jackson-Farm. Im Staub des Hofes entdeckte ich dunkle Flecken – Blut. Ich folgte der häßlichen Spur. Sie führte zu dem Gerüst des Windrades, an dem Chet Duncan hing. Auf der Spitze des Gerüsts hockten bereits ein paar Krähen. Ich verscheuchte sie und sah, daß der Farmer geradezu mit Geschossen perforiert worden war. Ich drehte mich um. Shita hockte mit eingezogenem Schwanz am Brunnen. Er winselte leise. Ich ging an ihm vorbei und suchte nach Nap. Ich fand ihn. Er hing an einem wie durch ein Wunder stehengebliebenen Eckbalken des Stallgebäudes. Er hing nicht an einem Strick, nicht in einer Schlinge. Die Mörder hatten ihn bei lebendigem Leib mit Händen und Füßen daran festgenagelt. Das Feuer hatte die untere Hälfte des Balkens und auch Naps Beine bis zu den Knien verkohlt, dann war es erloschen. Naps Brust war von Peitschenhieben zerrissen. Jetzt wußte ich, warum er so geschrien hatte. Es überlief mich kalt. Rückwärts gehend entfernte ich mich. Der entsetzliche Anblick bannte meinen Blick. Lange Zeit vermochte ich nicht, mich davon abzuwenden. Dann sank ich neben Shita in den Staub und barg mein Gesicht in den Armen. Ich schluchzte vor Wut,
Haß und Hilflosigkeit, und in diesem Augenblick wünschte ich mir, ich wäre mit Duncan und Nap hier auf der Farm gestorben. * Es wurde hell. Nebelbänke schoben sich aus den Tälern über die Ebenen. Weit im Osten brachen die grauen Schleier auf, es wurde Tag. Ich erwachte frierend. Mit steifen Gliedern wälzte ich mich auf den Bauch und stemmte den Oberkörper hoch. Die Luft war kalt und klamm. Schwerfällig richtete ich mich auf. Ich hatte auf dem nackten Boden neben dem Brunnen geschlafen. Shita hatte neben mir gelegen. Jetzt hob er den Kopf und schaute mich abwartend an. Der strenge Geruch von Brand und Tod lag noch immer auf dem Farmhof. Ich vermied es, mich umzuschauen, um Naps Leiche nicht zu sehen, holte für mich und Shita in einem alten Blecheimer, der unbeschädigt geblieben war, Wasser aus dem Brunnen, und sah Krähenschwärme durch den Nebel gleiten. Ich hörte die heiseren Schreie der Vögel, zog im ersten Impuls meinen Revolver und wollte auf sie schießen. Dann ließ ich es. Die Schüsse konnten gehört werden. Ich trank, und Shita trank. Wir stillten unseren Durst, aber für unseren Hunger fanden wir nichts. In der Nacht hatte ich noch lange wach neben dem Brunnen gelegen. Geschlafen hatte ich nur wenige Stunden, trotzdem fühlte ich mich ausgeruht. Bevor ich eingeschlafen war, war ich zu einem Entschluß gelangt, den ich jetzt noch einmal überdachte. Ich durfte den schrecklichen Mord an Nap und Chet Duncan nicht einfach hinnehmen. Ich war es den beiden schuldig, daß ich versuchte, ihre Mörder zu finden und den Tod von Nap und Duncan zu rächen. In diesem Moment war ich sogar bereit, wieder zu Henry Lane und den Freistaatlern zurückzukehren, aber das ging nicht mehr. Ich mußte es allein versuchen. Die Spur der Reiter war leicht zu verfolgen. Sie führte schnurgerade nach Nordosten. Ich hob den Kopf und schaute zum Himmel. Die Nebelschwaden lösten sich nach und nach auf. Da sah
ich die Krähen kreisen. Shita bellte und rannte wie verrückt im Kreis herum. Die Vögel ließen sich jedoch nicht vertreiben. Sie drehten über den stinkenden Trümmern der Farm ihre Runden, krächzten böse und schienen nur darauf zu warten, daß Shita und ich den Hof verließen. Der Gedanke, daß sie über die Leichen herfallen würden, war mir zuwider. Aber es gab nichts, womit ich die Toten hätte begraben können. Ich hätte Nap auch gar nicht vom Balken lösen können, und außerdem hätte ich dadurch zuviel Zeit verloren. Die Mörder hatten einen großen Vorsprung, und sie waren beritten. Es hatte wenig Sinn für mich, länger auf der niedergebrannten Farm zu bleiben. Ich mußte den Spuren der Todesreiter folgen, und ich mußte mir etwas Eßbares beschaffen. »Gehen wir«, sagte ich zu Shita. Dann setzte ich mich in Bewegung. Der Hund sprang hinter mir her. Wir folgten der Fährte der Reiter, und ich versuchte, nicht hinzuhören, als sich hinter uns der Krähenschwarm auf der Farm niederließ und mit einem Höllenspektakel über die Leichen herfiel. Wir liefen nordostwärts. Die Spur der Mörder war frisch. Wir folgten ihr Stunde um Stunde. Über uns stieg die Sonne. Es wurde heiß und immer heißer. Shita wirkte so frisch wie am Morgen, bei mir aber stellten sich Erschöpfungserscheinungen ein. Ich hatte Hunger, aber es gab nicht mal ein paar Beerensträucher in der Ebene, die Shita und ich durchschritten. Gegen Mittag stießen wir auf einen Lagerplatz der Todesreiter. Sie hatten sich nicht der Mühe unterzogen, ihre Spuren zu verwischen. Die Feuerstelle war kalt. Ein Stück Brot lag am Boden. Shita fraß es, es war so hart, daß es zwischen seinen Zähnen krachte und knackte. Das Lager war etwa drei Stunden alt. Die Reiter hatten einen Vorsprung, den ich zu Fuß kaum einholen konnte. Einen Moment hockte ich mutlos im Gras, dann raffte ich mich auf und zog mit knurrendem Magen weiter. Wenig später scheuchte ich einen Präriehasen auf, als ich auf ein Gebüsch zusteuerte, um im Schatten abzuwarten, bis die größte Tageshitze vorüber war. Ich reagierte schnell. Mit dem Navy-Colt schoß ich und traf sofort. Wenigstens schießen konnte ich noch.
Ich scharrte im Schatten des Gebüsches eine Mulde, sammelte Reisig, entfachte ein Feuer und briet den enthäuteten Hasen an einem Holzspieß. Mit Asche würzte ich das Fleisch, das ich mit Shita teilte. Eine Stunde später brach ich wieder auf. Gestärkt zogen wir weiter. Wir waren bis zum Abend unterwegs. Dann stießen wir auf einen schmalen Flußlauf. Wir stillten unseren Durst. Ich entkleidete mich danach und stieg ins Wasser. Es war nicht so tief, so daß ich hindurchwaten konnte. In den hochgestreckten Armen hielt ich mein Hemd und meine Hose, den Revolver, das Pulver, die Zündhütchen, die Kugeln und das Messer. Nachdem ich meine Sachen trocken ans andere Ufer gebracht hatte, schwamm ich noch im Fluß, bis die Sonne im Westen hinter den Bergen versank. Es tat gut, nach der Tageshitze und dem Staub. Shita war anderer Meinung darüber. Er hatte den Fluß durchschwommen, sich geschüttelt und dann im Gras ausgestreckt. Daß ich wieder ins Wasser stieg und zum Vergnügen darin schwamm, schien ihm völlig unverständlich zu sein. Es war bereits kühl, als ich das Wasser verließ. Ein leichter Wind fächerte heran. Ich schlüpfte in meine Kleider und verkroch mich unter einem Weidenbusch dicht am Ufer. Hier schlief ich ein. Mitten in der Nacht erwachte ich, in Schweiß gebadet. Mein Herz klopfte wild. Ich hatte von der Vernichtung der Duncan-Farm geträumt und noch einmal gesehen, wie sie Chet Duncan aufhängten. Und ich hatte mitansehen müssen – was mir in Wahrheit erspart geblieben war –, wie sie Nap an die Stallwand nagelten. Und dann war ich gejagt worden. Deutlich hatte ich die Gesichter der Anführer vor mir gesehen. Der große, breitschultrige, schnauzbärtige Mann und der magere, blasse, junge Killer hatten mich einen Berg hinauf gejagt, und oben hatte sich plötzlich ein Abgrund vor mir aufgetan. Ich hatte in der Falle gesessen. Und dann war ich gestürzt. Ich hatte den Halt auf der Klippe verloren und war wie ein Stein ins Nichts gefallen. Ich hatte geschrien, und jetzt war ich wach … Ich richtete mich langsam auf. Shita lag neben mir. Er hob den Kopf. Ich wankte zum Fluß, legte mich auf den Bauch, schöpfte mit den hohlen Händen Wasser heraus und trank. Dann wusch ich mein Gesicht. Nach und nach wurde ich wieder ruhiger. Ich wußte, daß ich die Ereignisse auf der Duncan-Farm nie
vergessen würde. Und bevor ich nicht alles darangesetzt hatte, die Mörder zu erledigen, würden sie mich nie mehr zur Ruhe kommen lassen. Ich kehrte zu Shita zurück und versuchte, noch einmal einzuschlafen. Es gelang nicht. Der Traum hatte mich innerlich zu sehr aufgewühlt. So stand ich auf und ging weiter. Shita trottete treu neben mir her. Gegen Morgen schoß ich einen Fasan. Während sich die Morgennebel über dem Land ausbreiteten, fachte ich ein Feuer an und briet den Vogel. Als die Nebel sich lichteten zogen wir weiter. * »Pierceville«, las ich auf der zolldicken Holztafel, die am Rand der Wagenstraße aufgestellt worden war. »Pierceville, Kansas, USA.« Ich blieb stehen und spähte voraus. Die Sonne stand schräg über mir und blendete mich ein wenig, trotzdem konnte ich den Ort, der ein paar hundert Yards vor mir lag, gut erkennen. Ich sah Häuser mit flachen Dächern. Hier und da überragten höhere Gebäude die einfachen Hütten, Silos, Lagerhäuser, Hotels und Geschäftsgebäude. Pierceville hatte eine Bahnstation. »Hast du Angst?« Ich schaute Shita an. Er wedelte mit dem Schwanz und gähnte mit weitaufgerissenem Maul. Skeptisch blickte ich wieder zur Stadt hinüber. In Ortschaften hatte ich bisher schlechte Erfahrungen gesammelt. Aber es half nichts. Ich mußte weiter. Die Fährte der Killer war ein paar Meilen nördlich von hier auf die Overlandstraße gestoßen und hatte sich hier verloren. Ich setzte mich lustlos in Bewegung und erreichte wenig später mit Shita den Ort. Es war früher Vormittag. Auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben. Frauen mit Einkaufskörben eilten auf den hölzernen Gehsteigen hin und her. Wagen standen vor den Stores und wurden von schwitzenden Männern beladen oder entladen. Ich blieb am Rand der Plaza des Ortes stehen und beobachtete das bunte Bild, das sich mir bot. Als ich einen Mann sah, der einen Stern am Hemd stecken hatte, setzte ich mich rasch wieder in Bewegung und schlenderte weiter, die Hände in den Hosentaschen.
Shita hielt sich dicht neben mir. Ihm gefiel es hier nicht. Es war ihm alles zu laut, zu lebhaft, es gab zu viele Menschen. Ich zog ziellos durch die Straßen und Gassen, blieb vor den Geschäften stehen, schaute hinein und betrat gegen Mittag ein Speiselokal. Hinter der Theke stand eine hagere Frau mit einem knochigen Kopf auf einem dürren Hals. Sie erinnerte mich an die Krähen, die ich über der niedergebrannten Duncan-Farm gesehen hatte, genauso klang ihre Stimme. »Schaff den Hund wieder 'raus, los, los, schaff ihn sofort wieder 'raus!« rief sie mir entgegen. »Ich geh gleich wieder«, sagte ich. Ich tastete in meiner linken Hosentasche nach den drei Dollar, die ich besaß, dem Wochenlohn, den Chet Duncan mir noch ausgezahlt hatte. »Was kostet ein Stück Fleisch?« fragte ich. »Ein Steak mit Bohnengemüse, Maisfladen, Speck und Eiern kostet einen Dollar«, krähte das hagere Weib hinter dem Tresen, Shita wie ein besonders übles Ungeziefer anstarrend. »Dazu gibt es eine Kanne Kaffee.« Ich überlegte. Ein ganzer Dollar für ein Mittagessen? Sicher, was die Frau aufgezählt hatte, hörte sich gut an, aber ich mußte sparsamer leben. Drei Dollar waren nicht viel. Ich warf einen Blick auf die Tabletts mit belegten Broten, die am Ende des Tresens standen. »Was kosten die Brote?« fragte ich. »Hast du überhaupt Geld?« fragte die Frau. »Du siehst nicht so aus.« »Ich habe Geld«, sagte ich. »Also, was kosten die Brote?« »Fünf Cent das Stück«, sagte sie. »Dann packen Sie mir zehn Stück ein.« Sie musterte mich zweifelnd mit ihren Krähenaugen, griff dann nach einer alten Zeitung, riß eine Seite heraus und stapelte zehn mit kaltem Fleisch belegte Brote darauf. Sie schlug das Papier um die Brote und legte das Paket auf den Tresen. Fordernd streckte sie mir die Hand entgegen. Ich legte einen Dollar hinein, was sie echt in Erstaunen versetzte. Aber dann gab sie mir einen halben Dollar zurück, und ich klemmte mir das Paket mit den Broten unter den Arm und verließ mit Shita das Lokal.
Am Stadtrand gab es ein paar Lagerhäuser mit leeren, unbewachten Hinterhöfen. Hierhin verzogen wir uns. In einer stillen Ecke, hinter ein paar leeren Fässern, die einst Pökelfleisch enthalten hatten, wie aus den verblichenen Aufschriften hervorging, hockte ich mich auf den Boden, und Shita setzte sich neben mich. Ich packte die Brote aus und begann mit Heißhunger zu essen. Shita erhielt seinen Teil. Zwei Brote bewahrte ich als eiserne Ration auf, packte sie wieder in das Zeitungspapier ein und erhob mich. Ich fragte mich, wie es weitergehen sollte. Vielleicht waren die Mörder längst nicht mehr hier, vielleicht hatten sie nur in Pierceville gerastet und waren dann sofort weitergeritten. Wie sollte ich sie jemals finden? Ich beschloß, bis zum nächsten Tag in der Stadt zu bleiben und weiterzusuchen. Die Sonne stand nahezu senkrecht über der Stadt. In dem verlassenen Hinterhof, in dem ich mein bescheidenes Mittagsmahl zu mir genommen hatte, waberte die Hitze wie in einem Backofen. Kein Lüftchen regte sich. Bei jedem Schritt erhob sich Staub in feinen Schleiern vom Boden und blieb lange Zeit in der Luft hängen. Als ich zurück auf die Gasse treten wollte, hörte ich Schritte, blieb stehen und schaute vorsichtig um den rechten Eckbalken des alten Hoftores. Drei Männer schritten die leere Gasse hinunter. Sie gingen nebeneinander. Ab und zu drehten sie sich um, um zu prüfen, ob ihnen jemand folgte. Sie bewegten sich etwas steifbeinig, denn sie trugen hochhackige Reitstiefel, die das Laufen erschwerten. Einer war groß und breitschultrig. Er hatte ein kantiges Kinn und trug einen dünnen Oberlippenbart. Ein anderer war sehr hager, sehr blaß und sehr jung. Der dritte war mittelgroß und untersetzt, wirkte aber schlank durch einen langen Staubmantel, der ihm etwas zu weit war. Er hatte ein Gesicht wie ein Affe. Ihn kannte ich nicht. Aber die beiden anderen, die kannte ich. Ich hätte sie immer wiedererkannt, unter Tausenden von Menschen, obwohl ich sie nur zweimal im flackernden Schein von brennenden Häusern gesehen hatte. Ich hatte die Mörder von Nap und Chet Duncan gefunden.
10. Ich drehte mich um und eilte hinter die leeren Fässer zurück, wo noch die Krümel meiner Mahlzeit am Boden lagen. Hier kauerte ich mich hin und hielt Shita die Schnauze zu. Ich wagte kaum zu atmen. Angespannt lauschte ich. Die Zeit schien stillzustehen, aus Sekunden wurden Ewigkeiten. Plötzlich tauchten die drei Männer im Hofeingang auf. Ich hatte das Gefühl, als gefriere das Blut in meinen Adern. Ein Kloß steckte auf einmal in meinem Hals. Durch eine Lücke zwischen den übereinandergestapelten Fässern sah ich, daß die drei Männer auf mein Versteck zusteuerten. Ich konnte nur eins denken: Ich war entdeckt! Mit der Linken hielt ich Shita weiter die Schnauze zu, mit der Rechten tastete ich zum Griff des Navy-Colts unter meinem Hemd. Da bogen die Männer um einen Kistenstapel und verschwanden aus meinem Blickfeld. Mir rann der Schweiß in dichten Bahnen über das Gesicht und in den Hals. Ich schmeckte ihn salzig auf den Lippen, und meine rechte Hand, die den Griff des Navy-Revolvers umklammerte, war feucht und klebte am Holz. Shita schüttelte heftig den Kopf und streifte meine Hand ab. Er warf mir einen unwilligen Blick zu, und bevor ich ihn halten konnte, schlüpfte er aus unserem Versteck und lief schnüffelnd, die Nase dicht am Boden, über den Hof. Mir stockte der Atem. Ich war sicher, daß jeden Moment die drei Kerle wieder hinter dem Kistenstapel auftauchen würden. Aber es geschah nichts. Ich richtete mich auf und folgte Shita. Er hatte jetzt den Kistenstapel erreicht und schnüffelte knurrend am Boden. »Still«, sagte ich leise. »Bleib hier, verdammt, die verarbeiten uns zu Hackfleisch, wenn sie uns kriegen.« Ich trat an Shita vorbei und warf einen Blick hinter die alten Kisten. Von den Männern war nichts zu sehen. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Zögernd tappte ich zwischen dem Gerümpel hindurch, das sich rechts und links der Kisten türmte. Dan bemerkte ich eine Lücke im Zaun des Hofes.
Der Zaun bestand aus ungehobelten, von Sonne und Regen ausgebleichten Brettern und war mehr als zwei Yards hoch. Zwei Bretter waren locker und konnten zur Seite geschoben werden. Ich tat es und spähte durch die Lücke. Meine Blicke glitten durch einen zweiten, mit Unrat vollgestopften Hof. Er gehörte zu einem verfallen wirkenden Gebäude, einem anscheinend lange nicht mehr benutzten Lagerhaus. Die Fensterscheiben waren zerschlagen, die Glassplitter, die noch in den Rahmen steckten, waren stumpf und staubig. Es gab keine Spur von den drei Killern. Ich wurde innerlich ruhiger, schätzte das Risiko ab und dachte dann an Nap und Chet Duncan, ich dachte daran, was ich mir vorgenommen hatte, und schlüpfte kurzentschlossen durch die Zaunlücke. Shita winselte leise und drängte sich hinter mir her. Ich hoffte, daß er mich nicht verraten, daß er nicht im Falle des Auftauchens der Kerle auf sie losgehen würde. Dennoch war ich froh, nicht allein zu sein. Ich bewegte mich hastig durch den Hof und hielt Ausschau nach einem guten Versteck. Gerade als ich dicht an der rückwärtigen Front des Lagerhauses einen auf der Seite liegenden, räderlosen Wagenkasten entdeckte, vernahm ich Stimmen aus dem alten Lagerhaus, und dann hörte ich, wie jemand hinter mir am Zaun hantierte. Mit einem mächtigen Satz sprang ich hinter den verrotteten Wagenkasten und zerrte Shita, am Nackenfell, mit. Kaum lag ich flach am Boden, umgeben von stinkenden Abfall, tauchte an der Lücke im Zaun ein magerer Mann auf. Er kroch gebückt durch den breiten Spalt, so daß ich zunächst nur seinen langen, dunklen Mantel, einen hohen, spitzen Hut und eine aus einem dunklen Tuch geknüpfte Schlinge sehen konnte, in der er seinen linken Arm trug. Erst als er sich aufrichtete und auf das alte Lagerhaus zuging, erkannte ich ihn. Es war Jonathan Miller. Es verschlug mir fast den Atem. Dann zuckte wilde Wut in mir auf, und ich bereute es, daß ich nicht besser gezielt hatte, als ich ihn auf der Duncan-Farm vor meinem Revolver gehabt hatte. Er trug die Schuld am Tod von Nap und Chet Duncan. Er hatte die Todesreiter auf die Duncan-Farm gehetzt. Miller erreichte das Lagerhaus und betrat es durch den
Hintereingang, dessen Türrahmen fast völlig herausgebrochen war. Ich wartete eine Weile. Als es still blieb, verließ ich meine Deckung und schlich an die Rückwand des Lagerhauses. Neben einem der zerschlagenen Fenster blieb ich stehen und lauschte. Aus dem Innern hörte ich Männerstimmen. Verstehen konnte ich nichts, sie waren zu weit entfernt. So drang ich in das Lagerhaus ein, zögernd, vorsichtig, Schritt für Schritt. Ich stand in einer großen Halle. Es lag ein wenig Gerümpel herum, sonst war sie leer. Die Luft war abgestanden, muffig und stickig und roch nach Staub. Zehn Schritte von der Tür zum Hof entfernt befand sich eine hölzerne Stiege, die zu einer Rampe hinaufführte. Von dort her ertönten die Männerstimmen. Ich ging bis zur Treppe, blieb stehen und lauschte. »… brauchen Waffen«, hörte ich einen Mann sagen. »… können tausend Leute kriegen, aber die Bewaffnung …« Mal wurde lauter, dann wieder leiser gesprochen. So konnte ich nur einzelne Satzfetzen verstehen. Mich weiter heranzupirschen, wagte ich nicht. Es wäre ein nicht mehr einkalkulierbares Risiko gewesen, glatter Selbstmord, nach allem, was ich mit den Männern erlebt hatte, die sich dort im oberen Teil des Lagerhauses befanden. »… hundertfünfzig Missourier«, sagte jemand. Das war die Stimme Jonathan Millers, ich erkannte sie genau. »Sie warten nur auf den Marschbefehl. Aber sie haben nur Steinschloßpistolen und …« Der Rest des Satzes war nicht zu verstehen, dann hörte ich Miller sagen: »… haben noch nicht gewonnen.« »Es ist ganz leicht«, sagte eine weitere Stimme. Der Mann sprach laut, deutlich und mit klarer Stimme. Sie klang energisch und befehlsgewohnt. »Der Zug ist kaum bewacht, der Transport ist geheim, und zuviel Deckung würde nur Aufsehen erregen. Es sind eintausend Gewehre und die entsprechende Munition sowie zweihundert Colt-Revolver. Die Wachmannschaft wird aus ungefähr fünfzehn Männer bestehen.« »Mit denen werden wir fertig«, sagte ein anderer Mann. Dann wurden die Stimmen wieder leiser. Ich konnte nichts mehr verstehen. Schließlich brach das Gespräch ganz ab, und eine Tür
wurde geöffnet. Sie knarrte in den Angeln. Ich erschrak, überlegte kurz und schlüpfte dann unter die hölzerne Stiege. Shita folgte mir sofort. Wir kauerten uns nebeneinander an die Wand. Das Versteck war nicht schlecht. Unter der Treppe herrschte fast absolute Dunkelheit. Die Stufen knarrten über mir, als die Männer die Treppe hinunterstiegen. Sie gingen schweigend. Ich konnte nur ihre Schatten sehen, die sich auf den Hinterausgang zubewegten. Reglos verharrte ich, abwartend und angespannt lauschend. Nach einer Zeit hörte ich wieder Schritte. Ich klopfte Shita beruhigend auf den Rücken, und er knurrte wirklich nicht. Die Männer gingen in Abständen, so wie sie gekommen waren, um nicht aufzufallen. Als ich einmal meinen Kopf vorschob und um die Ecke der alten Stiege schaute, sah ich gerade Jonathan Miller verschwinden. Sein Anblick löste sofort wieder Gefühle des Hasses in mir aus. Aber ich beherrschte mich und wartete weiter. Dann schließlich, als ich schon hervortreten wollte, weil ich sicher war, daß niemand mehr hier war, ging jemand die Treppe hinunter. Auch ihn sah ich nur von hinten. Es war ein mittelgroßer, drahtiger Mann, dessen Bewegungen knapp und abgezirkelt wirkten. Seine Haltung war steif, als habe er einen Ladestock verschluckt. Ich sah ihn nur kurz, dann war er auf dem Hof verschwunden. Abermals wartete ich eine Weile, dann stand ich auf und verließ mit Shita mein Versteck. Wir traten auf den Hof hinaus, nachdem ich mich entschlossen hatte, nicht die Treppe hinaufzusteigen, um mir den Raum anzusehen, in dem die Männer sich getroffen hatten. Ich wußte auch so genug. Ich kannte den Treffpunkt der Anführer der Todesreiter mit ihren Verbindungsleuten, denn um etwas anderes konnte es sich meiner Ansicht nach nicht handeln. Was ich unternehmen sollte, wußte ich noch nicht. Ich würde darüber nachdenken müssen. Zumindest brauchte ich nicht länger zu suchen. Ich hatte einen Ansatzpunkt. Während ich überlegte, daß ich mich von jetzt an ständig in der Nähe des alten Lagerhauses aufhalten mußte, um es stets im Auge zu haben, schlüpfte ich durch die Lücke im Zaun, ließ auch Shita hindurchspringen und rückte dann die Bretter wieder ordentlich an
ihren Platz. In Gedanken versunken schlenderte ich über den zweiten Hof zurück zur Gasse. Noch immer war es heiß. Die Sonne hatte den Zenit mittlerweile um ein gutes Stück überschritten, aber noch immer wehte kein Wind, brachte kein Lufthauch etwas Kühlung, stand die Hitze in den Hinterhöfen und engen Gassen, und die Luft war zum Schneiden. Am Hoftor blieb ich einen Moment stehen und spähte auf die Gasse hinaus. Sie war leer und lag wie ausgestorben da. Ich drehte mich zu Shita um, der zurückgeblieben war und mit erhobenem linken Hinterbein neben einer alten Kiste stand. »Komm!« rief ich. Dann ging ich auf die Gasse hinaus und lenkte meine Schritte auf die Hauptstraße zu. Unvermittelt tauchte aus einer Nische zwischen zwei Häusern ein Schatten vor mir auf. Eisiger Schreck durchzuckte mich. Ich dachte nur noch, daß die Halunken mich vorhin im Hof entdeckt und jetzt in eine Falle gelockt hatten, dann warf ich mich herum. Jemand sprang hinter mir her. Ich duckte mich, da umspannten Fäuste, so groß wie Schraubzwingen, meine Schultern und rissen mich zurück. Ich wollte mich losreißen und schreien. Eine kräftige Hand legte sich auf meinen Mund. Ein eiserner Griff erstickte jeden Widerstand. Dann wurde ich in die Nische gezerrt, in der der Mann auf der Lauer gelegen hatte. Sekunden später schoß Shita mit mächtigen Sätzen heran und jagte mit wildem Bellen auf den Mann los, der mich gepackt hielt. Er lehnte sich sofort gegen eine Hauswand und hielt mich wie ein Schutzschild vor sich. * »Halt den Hund zurück, oder ich knall ihn ab!« zischte der Mann hinter mir. Seine Griffe lockerten sich ein wenig. Er schien zur Waffe greifen zu wollen. Da Biß ich ihn in die Hand, die er mir auf den Mund gelegt hatte. Ich biß so fest zu, wie ich konnte, und schmeckte das Blut des Mannes in meinem Mund. Der Mann stöhnte auf und ließ mich los. Ich wirbelte herum und riß meinen Navy-Colt unter dem Hemd
hervor. »Hände hoch!« befahl ich. »Finger weg vom Revolver. Komm her, Shita.« Ich ging rückwärts auf die Straße zu. Der Mann hatte seine rechte Hand mit der Linken umklammert. Sein Gesicht war von Schmerzen, gezeichnet. Er war sehr groß, sehr breit, hatte einen kantigen Schädel und sah verdammt rauh aus. Trotzdem hatte ich das Gefühl, daß er nicht zu den Mordbrennern gehörte. »Steck die Waffe weg, Junge«, sagte er jetzt leise. »Wo hast du bloß die Kanone her? Mein Gott, laß den Blödsinn. Wir – ich will doch nur ein paar Fragen stellen.« Ich antwortete nicht, behielt den Finger am Abzug und bewegte mich weiter rückwärts, bis ich von hinten den harten Druck einer Revolvermündung im Rücken spürte. »Bleib stehen«, sagte eine knarrende Stimme. »Laß die Kanone fallen und marschier schön wieder vorwärts.« Shita fuhr knurrend herum, und ich schrie ihn an: »Sitz!« denn ich wollte nicht, daß einer der Kerle ihn abknallte. Meinen Revolver ließ ich jedoch nicht fallen. Ich zielte weiter auf den Mann vor mir, auch als sich der Druck in meinem Rücken verstärkte. »Schießen Sie nur«, sagte ich. »Ich schaffe es in jedem Fall, auch noch abzudrücken.« Es knackte metallisch, als ich den Hammer zurückzog. Dann krümmte ich den Zeigefinger um den Abzug. Auf der Stirn meines Gegenübers perlte der Schweiß. Er vollführte eine abwehrende Handbewegung. »Nimm die Waffe weg, Junge. Jim, laß ihn in Ruhe, der schießt, ich kann's ihm ansehen.« »Das gibt's doch nicht«, sagte der Mann hinter mir. »Sollen wir uns vor diesem Bengel in die Hosen scheißen?« »Er schießt, Jim«, sagte der Mann vor mir. Da nahm der andere die Revolvermündung von meinem Rücken weg. Ich ließ mir nichts anmerken, aber ich atmete auf. »Lassen Sie mich 'raus«, sagte ich. »Hör zu«, sagte der Mann vor mir. »Hinter dir, das ist Jim Corbett, und ich bin Fred Gally. Wir sind US Deputy Marshals.« Er langte vorsichtig in seine Hosentasche und zog einen silbern blinkenden
Sechszack heraus. »Wir wollen nur ein paar Fragen stellen.« Ich blieb mißtrauisch, schwieg und behielt meinen Revolver in der Faust. »Komm weg von der Straße«, sagte der Mann hinter mir, der Jim Corbett hieß. »Jeden Moment kann jemand vorbeigehen.« Gally drehte sich um und schritt den schmalen Gang zwischen den Häusern hinunter bis zum Hintereingang eines alten Stalls, dessen vorderes Tor auf eine andere Gasse führte. Ich folgte ihm. Shita hielt sich dicht neben mir, drehte sich häufiger zu Corbett um und knurrte ihn warnend an. Im Halbdunkel des Stalles blieben wir stehen. Ich sah zwei Pferde in den Boxen stehen, und im Stroh entdeckte ich zwei Deckenlager. »Wir wohnen hier«, sagte Gally. »Wenigstens im Moment.« »Was wollen Sie von mir?« fragte ich. Erst jetzt sah ich den zweiten Mann richtig. Er war schlank, nicht sehr groß, wirkte aber ungemein kräftig und geschmeidig. Sein Gesicht erinnerte mich an ein Pferd. Das Kinn war lang heruntergezogen, die Nase eingedrückt, die Lippen voll, fast wulstig. Unter einem breitrandigen Hut quoll strohblondes Haar hervor. »Du bist aus einem alten Hof gekommen. Was hast du da getan?« »Nichts.« »Hör zu«, sagte Corbett. Er musterte mich kalt. »Wir sind nicht hier, um Witze zu erzählen. Du verkennst deine Lage. Du steckst in einer Sache drin, die dir das Genick brechen kann, Kleiner.« »Der Teufel ist Ihr Kleiner«, erwiderte ich patzig. »Im Moment hast du den Revolver in der Hand«, sagte Corbett, ohne auf meinen Einwurf einzugehen. »Aber das kann sich ändern. Das wird sich sogar bestimmt ändern. Glaubst du, wir sind Anfänger?« »Glauben Sie, ich habe noch nie auf Menschen geschossen?« Er preßte die wulstigen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schwieg. Gally sagte: »Was wolltest du in dem Hof?« »Ich hab da gegessen«, erwiderte ich. »Lüg uns nichts vor.« »Ich lüge nicht«, sagte ich.
»Wir haben gesehen, daß ein paar Männer in den Hof gegangen sind. Dich haben wir nicht gesehen. Die Männer sind später wieder 'rausgekommen, und dann erschienst du. Was war da los?« »Nichts«, sagte ich. »Ich habe in dem Hof gegessen, und dann tauchten die Männer auf.« »Und die haben dich so einfach übersehen, wie?« schnappte Corbett. »Was hast du mit den Männern zu tun?« fragte Gally. »Nichts«, sagte ich. »Ich habe mit Mördern nichts zu tun, außer, daß ich zwei von ihnen umbringen werde, vielleicht auch drei.« Jetzt schwiegen die beiden Beamten. Nach einer Weile sagte Gally: »Ich glaube, wir sollten uns setzen.« Er ließ sich ins Stroh nieder. Corbett zögerte noch, musterte mich mißtrauisch und setzte sich dann auch. Ich kauerte mich unweit der Hintertür auf den Boden. »Warum willst du die Männer umbringen?« fragte Gally. »Weil sie zwei Freunde von mir viehisch ermordet haben«, sagte ich. »Erzähl uns doch nichts«, sagte Corbett scharf. »Du gehörst zu ihnen, du bist ein Kurier von ihnen.« »Sie haben vor ein paar Tagen die Duncan-Farm niedergebrannt«, erwiderte ich. »Dabei haben sie den Besitzer, Chet Duncan, und den Neger umgebracht. Ich habe auch dort gearbeitet und bin entwischt.« Die beiden Beamten schauten sich schweigend an. Ich bemerkte vor allem bei Corbett noch Skepsis. Nachdem ich wußte, daß sie mich für einen Kumpan der Mordbrenner hielten, hatte ich keine Veranlassung mehr, den Mund zu halten. »Ich habe auch gesehen, wie sie die Jackson-Farm niedergebrannt haben«, sagte ich. »Das ist eine Farm, die einen Tag Fußmarsch von der Bahnlinie entfernt liegt, und …« »Das wissen wir«, sagte Gally. »Du hast das beobachtet?« »Sicher. Dieser Hund hier stammt von der Jackson-Farm.« Ich strich Shita über den Kopf. »Woher wissen wir, daß du die Wahrheit sagst«, sagte Corbett. »Hör auf, Jim. Wenn er zu den Kerlen gehörte, würde er uns nicht erzählen, was sie alles angestellt haben«, sagte Gally. Er wandte sich
wieder an mich. »Also, was war auf dem Hof los?« »Nichts«, sagte ich. »Das habe ich doch schon gesagt. Ich war hinter ein paar Fässern versteckt. Die Kerle sind durch den Zaun in einen anderen Hof gekrochen und haben sich dort in einem Lagerhaus mit einen Mann getroffen, der vorher schon dagewesen sein muß.« »Naval«, sagte Corbett. »Ich kenne nur einen mit Namen«, erwiderte ich. »Jonathan Miller, diesen Drecksack. Dem habe ich auf der Duncan-Farm eine Kugel verpaßt. Ich hätte ihn in den Kopf schießen sollen.« »Woher weißt du, daß sie sich in dem Lagerhaus getroffen haben?« »Ich bin ihnen gefolgt.« »Hast du was gehört?« »Sie haben von Gewehren gesprochen«, erwiderte ich. »Und daß sie leicht tausend Mann haben könnten, wenn sie Waffen hätten. Und einer hat gesagt, daß ein Transport unterwegs sei, kaum bewacht, und daß es ganz einfach sei, ihn zu überfallen.« »Das haben sie gesagt?« »Jawohl.« »Dieses Schwein hat ihnen alles verraten«, sagte Corbett. »Diesen Naval sollte man aufhängen.« »Das wird wahrscheinlich auch geschehen«, sagte Gally. »Auf jeden Fall wissen wir jetzt genug. Wir brauche nicht länger abzuwarten.« »Die anderen müssen benachrichtigt werden«, sagte Corbett. Ich verstand kein Wort, aber ich hatte begriffen, daß die beiden Männer hinter den Mordbrennern her waren und ihnen das Handwerk legen wollten. Gally wandte sich wieder an mich. »Was du uns gesagt hast, ist sehr wichtig. Der Mann, mit dem die Halunken sich getroffen haben, dieser Naval, ist Offizier in Fort Courly. Er steht schon lange unter dem Verdacht, daß er mit den Südstaatlern, die hier in Kansas morden und plündern, unter einer Decke steckt. Bis jetzt haben wir ihm nichts beweisen können. Heute haben wir zum erstenmal beobachten können, daß er sich mit den Anführern der Rebellen
getroffen hat. Du bleibst bei uns. Wir brauchen dich als Zeugen.« »Ich will den Tod von Nap und Mr. Duncan rächen«, sagte ich. »Sonst will ich nichts damit zu tun haben.« »Hör zu«, sagte Corbett. »Entweder arbeitest du mit uns zusammen, oder wir sperren dich ein, bis wir die Kerle haben.« »Dann sage ich kein Wort«, erklärte ich. »So kommen wir nicht weiter«, unterbrach uns Gally. »Wenn du deine Rache willst, ist es das beste, du hilfst uns. Allein kannst du gegen diese Killer doch nichts unternehmen. Wenn du uns hilfst, kriegen wir die Kerle vielleicht, und dann werden sie bestraft, dann hast du, was du willst.« »Und was soll ich tun?« »Gar nichts, bis wir die Kerle haben. Dann mußt du sie identifizieren. Das ist alles.« »Warum haben Sie die Mörder nicht gleich festgenommen?« fragte ich. »Mich haben Sie ja auch geschnappt, als ich den Hof verließ.« »Weil wir erst wissen wollten, warum sie sich getroffen haben, was sie ausgeheckt haben. Wir hätten sie weiter beobachtet und dann zugepackt, wenn wir sie auf frischer Tat hätten ertappen können. Bei dir wußten wir nicht, woran wir waren.« »Jetzt wissen Sie es«, sagte ich. »Ich werde nicht hier herumsitzen und die Hände in den Schoß legen.« »Wir haben Freunde in der Nähe«, sagte Gally. »Sie lagern außerhalb der Stadt. Wir werden ihnen Bescheid geben und den Südstaatlern eine Falle stellen, wenn sie den Zug überfallen wollen. Du wartest hier ab. Wir holen dich, wenn alles vorbei ist.« »Ohne mich«, sagte ich. »Entweder bin ich dabei, oder die ganze Sache läuft ohne mich.« »Wir können keine Kinder brauchen«, sagte Corbett. »Mit Ihnen nehme ich es schon lange auf«, sagte ich. »Gut« sagte Fred Gally beschwichtigend. »Du bist dabei. Kannst du reiten?« »Ich habe ein paar Jahre bei den Apachen gelebt«, sagte ich. Jetzt staunten die beiden, und Jim Corbett hielt den Mund. Fred Gally richtete sich auf. »Ich reite los, um unsere Leute zu
benachrichtigen. Jim wird dir eine Decke besorgen. In der Nacht verlassen wir die Stadt. Ich bring ein Pferd für dich mit.« Ich nickte. Begeistert war ich nicht, aber vielleicht war das die einzige Möglichkeit, den Mordbrennern das Handwerk zu legen. Zumindest war ich nicht mehr allein, und ich hatte das Gesetz auf meiner Seite.
11. Ich war allein und hatte mich im Stroh ausgestreckt. Fred Gally war aus der Stadt geritten. Jim Corbett war unterwegs, um etwas zum Abendessen und eine Decke für mich zu organisieren. Ich hatte mir, seit ich allein war, noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen. Im Grunde hätte ich es nicht besser treffen können. Was war ich denn schon allein gegen eine Bande von Mordbrennern? Ein Nichts. Ich wußte ja nicht einmal, wie viele es wirklich waren. Gesehen hatte ich immer nur ein paar, und selbst gegen die, hätte ich im Ernstfall auf verlorenem Posten gestanden. Ich mußte froh sein, daß ich auf die US Marshals gestoßen war. Sie würden mit der Bande aufräumen, und ich würde meinen Anteil daran haben. Mehr konnte ich nicht verlangen. Und danach? Danach stand ich wieder ohne Ziel und im Grunde ohne Zukunft da. Ich würde weiterziehen, irgendwohin, zusammen mit Shita. Shita! Er lag nicht neben mir. Ich konnte ihn nicht sehen. Es war ziemlich dunkel im Stall. Ich erhob mich und lief zwischen den leeren Boxen auf und ab. Das Stalltor stand ein Stück offen, und ich schaute hinaus auf die schmale Gasse, die am Stall vorbeiführte. Shita stand an einer Hausecke gegenüber und schnüffelte an ein paar Abfällen herum, die jemand dort hingeschüttet hatte. Ich stieß einen leisen Pfiff aus. Er reagierte nicht. Da verließ ich den Stall und lief über die Straße. »Komm!« rief ich. »Komm her, verdammt, wir sollen im Stall bleiben, damit uns keiner sieht!« In diesem Moment zerrte Shita einen alten Knochen aus dem Abfall. Er schaute zu mir herüber und schien zu glauben, daß ich es
auf seine Beute abgesehen hätte. Also jagte er davon und sprang die Straße hinunter, den Knochen quer im Maul. Ich lief fluchend hinter ihm her. Plötzlich ließ er den Knochen fallen und stürmte bellend quer über die Hauptstraße von Pierceville. Mir blieb fast das Herz stehen, dann folgte ich ihm, und als ich die Main Street erreichte, sah ich ihn – Jonathan Miller. Shita folgte ihm, und auch Miller hatte den Hund entdeckt. Ob er ihn erkannt hatte, wußte ich nicht, aber anzunehmen war es. So lange war der Zwischenfall auf der Duncan-Ranch ja noch nicht her. Miller hastete die Straße hinunter. Sein langer Staubmantel flatterte um seinen mageren Körper. Leute blieben stehen und schauten ihm nach. Shita hatte ihn fast eingeholt, da begann auch ich, zu laufen. Fast im selben Moment sah ich Jim Corbett. Der US Marshal trat aus einem Store, einen Lederbeutel in der Hand und eine Decke unter dem Arm. Ich hetzte an ihm vorbei, ohne ein Wort zu sagen, und erreichte einen Saloon mit bunter Fassade, als Shita Miller ansprang. Millers Schreie hallten durch die Straße. Er stürzte vornüber, konnte den Fall mit seinem verletzten Arm nicht abfangen und rollte hilflos durch den Staub. Shita hatte seinen Mantel über der rechten Schulter gepackt und zerrte wie wild daran. Aus einer schmutzig wirkenden Spielhalle traten mehrere Männer. Ich erkannte sie sofort. Es waren die Anführer der Todesreiter. Miller schrie: »Das ist der Hund von der Farm, helft mir! Um Gottes willen, das Tier zerreißt mich.« Der breitschultrige Mann mit dem dünnen Oberlippenbart griff zum Revolver. Ich sprang von dem hölzernen Gehsteig auf die Straße und riß im vollen Lauf meinen Navy-Colt unter dem Hemd hervor. Gleichzeitig entdeckte Miller mich und schrie noch lauter. Einen Moment wandte sich die Aufmerksamkeit der Mörder mir zu. »Der Bengel!« kreischte Miller in wilder Angst. »Der Bengel, der mich fast erschossen hat!« Der Mann mit dem Oberlippenbart hielt jetzt seinen Revolver in der Faust. Bevor ich abdrücken konnte, schoß er. Ich sah den orangefarbenen Mündungsblitz auf mich zulecken. Wahrscheinlich wäre es das letzte gewesen, was ich in meinem
Leben gesehenhätte, wenn nicht die Sonne gegen die Banditen gestanden und den Killer geblendet hätte. Das Geschoß zerfetzte das Hemd über meinem linken Oberarm und hinterließ nur eine hauchfeine Schramme auf der Haut, die aber höllisch brannte. Dann lag ich flach am Boden, zielte und schoß. Meine Kugel bohrte sich mit häßlichem Laut in einen Stützpfosten des Vorbaudaches der Spielhalle, dicht neben dem Kopf des Killers. Da stürmte Jim Corbett über die Straße, und seine Stimme übertönte die Schußdetonationen und das Geschrei Jonathan Millers. »Im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika, ihr seid verhaftet.« Im Laufen zog er sein silbernes Abzeichen aus der Tasche und heftete es sich ans Hemd. Auf den Gehsteigen rechts und links der Main Street flüchteten die Bürger in ihre Häuser. Die Straße war im Nu wie leergefegt. »Helft mir doch, verdammt, laßt mich doch nicht allein!« brüllte Jonathan Miller. Er versuchte, sich aufzurichten. Shita riß ihn wieder zu Boden und biß zu, als er mit der rechten Faust nach ihm schlug. Blut tropfte plötzlich von Millers Hand, und dann fielen hintereinander mehrere Schüsse, während die Banditen auf dem Vorbau der Spielhalle auseinanderrannten. Corbett schoß, und ich feuerte, und die Banditen schossen. Shita jaulte schrill auf, taumelte, stürzte und blieb einen Moment liegen. In mir schien etwas zu zerreißen. Ich fühlte einen Schmerz, als hätte mich die Kugel getroffen. Ich riß den Hahn meines Navy-Colts zurück und schoß zwei- oder dreimal in wilder Wut. Der Mann, den ich am Mittag zum erstenmal gesehen hatte, der ein Gesicht wie ein Affe hatte, wurde vom Einschlag meiner Geschosse herumgeworfen und gegen die Tür der Spielhalle geschleudert. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und sackte zu Boden. Aus seiner Waffe löste sich ein Schuß. Die Kugel grub sich mit häßlichem Laut in die Stepwalkbohlen. Dann stürzte er mit dem Oberkörper, als die Schwingflügel der Tür bei seinem Anprall nachgaben, ins Innere der Spielhalle. Seine Beine ragten auf den Gehsteig hinaus. Er rührte sich nicht mehr. Im selben Moment richtete sich Shita winselnd wieder auf. Er
schwankte, taumelte und trottete mit hängendem Schwanz über die Straße, kroch in einen Hofeingang und leckte sich das Blut vom Fell. Erleichtert, sprang ich auf. Shita lebte. Er hatte offenbar nur einen Streifschuß abgekriegt. Was auch, passieren würde, wenn ich lebend aus Pierceville 'rauskam, würde ich nicht allein sein. Shita würde weiter bei mir sein, und das zu wissen war ein gutes Gefühl. Kugeln schlugen rechts und links von mir ein, als ich von der Straße laufen wollte. Ich hörte Jim Corbett rufen und sah Jonathan Miller, der sich aufrichtete und taumelnd flüchten wollte. Ich schoß, aber ich traf nicht. Mit einem mächtigen Satz warf ich mich auf den Vorbau des General Stores von Pierceville und brachte mich hinter einer Regentonne in Deckung. Einen Sekundenbruchteil später sah ich Jim Corbett, der geduckt und im Zickzack laufend auf die Spielhalle zustürmte, in die sich der Anführer der Killer zurückgezogen hatte. Plötzlich schien Corbett gegen eine unsichtbare Wand zu prallen. Er zuckte zurück, riß beide Arme hoch und schien für einen kurzen Augenblick in der Luft zu schweben. Sein Revolver wirbelte hoch, dann stürzte Corbett auf den Rücken. Sein breitrandiger Hut fiel ihm vom Kopf und rollte ein Stück durch den Staub. Corbett lag still, hatte Arme und Beine von sich gestreckt und starrte blicklos in den Himmel, über den die Dämmerung bereits ihr feinmaschiges Netz gezogen hatte. Auf seiner Hemdbrust breitete sich sehr schnell ein dunkler Feck aus.
12. Ich hatte Corbett kaum gekannt. Ich hatte ihn nicht leiden können. Aber er war ein tapferer Mann gewesen, und als er jetzt tot auf der Straße lag, während eine Windböe durch die Main Street strich und feine Staubschleier über die Leiche warf, krampfte sich in mir alles zusammen. Corbett war beileibe nicht die erste Leiche, die ich sah, trotzdem war mir jetzt schlecht. Überall waren Kampf und Tod, nicht nur im Land der Indianer. In der Welt der Weißen war es nicht besser. Es war erst ein paar Wochen her, daß ich versucht hatte, unter den Weißen erneut Fuß zu
fassen. Bis jetzt hatte ich dabei nur Gewalt kennengelernt. Hier war die Zivilisation – zumindest wurde sie so genannt –, aber wer hier keine Waffe hatte, war übel dran. Ich fragte mich wieder einmal, warum die Apachen Wilde genannt wurden. Bei ihnen hatte ich zumindest mehr Gerechtigkeit kennengelernt als in der für mich neuen Welt. Und mehr Tapferkeit. Ich schoß über das Faß hinweg, hinter dem ich saß. Sofort wurde das Feuer erwidert. Lange Schatten krochen durch die Stadt, je tiefer die Sonne im Westen sank, um so zahlreicher und dunkler wurden sie. Am Rande der Plaza, vielleicht fünfzig Yards von meiner Deckung entfernt, sah ich einen Mann stehen. Er trug einen Stern auf der schwarzledernen Weste. Wahrscheinlich war es der StadtMarshal. Er schien sich nicht heranzutrauen. Ich zog den Kopf ein, als Kugeln an mir vorüberschwirrten, dann hörte ich Hufschlag. Ich wandte den Kopf und sah einen Reiter von Osten auf die Stadt zujagen. Er passierte bereits die ersten Häuser am Stadtrand. Es war Fred Gally. Er sprengte durch die Main Street heran, trieb sein Pferd noch an, als er den Toten auf der Straße liegen sah, und warf sich aus dem Sattel, als die ersten Schüsse auf ihn abgefeuert wurden. Sein Pferd scheute, als Kugeln vor ihm im Boden einschlugen und Staubfontänen in die Höhe schleuderten. Es bäumte sich auf und jagte im wilden Galopp davon. Im selben Augenblick versuchte Jonathan Miller aus dem Schatten eines Vorbaudaches, der bisher seine einzige Deckung gewesen war, zu entfliehen. Er eilte mit unsicheren Schritten auf die Straße zu einem Hofeingang, wo einer seiner Kumpane stand. Er gelangte nicht weit. Er lief dem durchgehenden Pferd genau in den Weg. Sein Schrei gellte mir in den Ohren. Die breite Brust des Hengstes erfaßte ihn. Ein mächtiger Rammstoß schleuderte Jonathan Miller wie eine willenlose Gliederpuppe in die Luft. Er überschlug sich. Sein langer Mantel flatterte auseinander wie die Flügel eines riesigen, häßlichen Vogels. Gleich einem Bündel Lumpen prallte Miller in den Staub und wurde
im nächsten Augenblick von den wirbelnden Hufen des Pferdes getroffen. Millers Schrei brach jäh ab. Ich sah, wie die Hufe seinen Schädel trafen. Sein spitzer Hut rollte durch den Staub, Millers Kopf verwandelte sich in eine blutige Masse. Dann war das Pferd über ihn hinweg und sprengte über die Plaza davon. Miller rührte sich nicht mehr. Ich richtete mich auf und hetzte über den Gehsteig zu Fred Gally hinüber, der an der Westecke des Generalstores stand. Außer Atem blieb ich neben ihm stehen. Sein kantiges Gesicht wirkte noch härter. Scharfe Falten hatten sich hineingekerbt. »Shita war davongelaufen«, sagte ich. »Als ihm Miller über den Weg lief, griff er ihn sofort an. So fing alles an.« »Man soll keine Pläne schmieden«, sagte Gally. Er spähte auf die Straße hinaus, wo Jim Corbett lag. »Alles war so schön geplant. Wir hätten die ganze Bande ausheben können. Aber so ist das Leben …« »Ich habe einen erwischt«, sagte ich. »Er liegt in der Tür der Spielhalle.« »Die anderen kriegen wir auch«, sagte Gally. »Wie viele sind es noch?« »Zwei«, erwiderte ich. »Einen habe ich erwischt, und Ihr Pferd hat Miller zu Mus gestampft. Jetzt ist da noch der Anführer und ein junger Bursche mit bleichem Gesicht.« »Den zuerst«, sagte Gally. »Ist das der im Hofeingang dort drüben?« Ich nickte. »Du bleibst hier stehen. Ich hole ihn mir.« Gally wartete meine Antwort nicht erst ab. Er drehte sich um und lief durch den Hof, in dem wir standen. Er schwang sich über den rückwärtigen Zaun und war verschwunden. Ich wartete mit dem Revolver in der Faust. Während ich die andere Straßenseite beobachtete, dachte ich an Shita. Ob seine Verletzung schwer war? Ob er mich würde begleiten können, wenn ich meinen Weg fortsetzte? Der Abend sank auf die Stadt. Im Westen verglühte die Sonne. Ich nestelte die Pulverflasche von meinem Gürtel und lud die abgeschossenen Kammern der Trommel neu auf.
Unvermittelt sah ich Gally auftauchen. Er trat aus einer Seitengasse, die er auf dem Umweg über mehrere Höfe erreicht haben mußte, und überquerte so schnell die Straße, daß er bereits in Sicherheit war, als ein paar Schüsse krachten. Er arbeitete sich vorsichtig an den Hofeingang heran, in dem der Bandit mit dem bleichen Kindergesicht stand. Als er nur noch wenige Yards von der Deckung des Killers entfernt war, eröffnete ich das Feuer. Meine Kugeln beharkten die Toreinfassung. Der Bandit dahinter kam nicht zum Schuß. Dann hatte Gally das Tor erreicht, und ich stellte das Feuer ein. Dafür bellte Gallys Revolver auf. Ich hörte einen Schrei, und einen Sekundenbruchteil danach taumelte der Bandit aus dem Hofeingang. Er hielt beide Hände vor dem Leib verkrampft und bewegte sich schwankend, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt. Sein bleiches Kindergesicht war verzerrt. Er stolperte durch die Pulverdampfschwaden, die über der Straße schwebten, taumelte an der Leiche von Jonathan Miller vorbei und ging schließlich in die Knie. Er stieß einen letzten, qualvollen Schrei aus. Dann schoß Fred Gally ihm seitlich in den Schädel. Der Bandit kippte auf die Seite und rührte sich nicht mehr. Ich sah jede Phase seines Sterbens, aber ich verspürte kein Mitleid. Ich dachte an Nap, den dieser Mann und seine Kumpane an die Wand des Stalles genagelt hatten, und ich dachte an Chet Duncan, den sie am Gerüst des Windrades aufgehenkt und dann erschossen hatten. Nein, ich hatte keinen Grund, Mitleid zu empfinden. Dieser Mann hatte bedenkenlos gemordet. Er hatte Menschen abgeschlachtet, nur weil sie anders dachten als er. »Ronco!« rief Gally von der anderen Straßenseite. Seine Stimme schreckte mich aus den Gedanken. »Behalte die Tür im Auge. Ich geh hinten 'rum!« Er deutete auf die Spielhalle, in der sich der schnauzbärtige Anführer der Mordreiter aufhalten mußte. Ich antwortete dem US Marshal nicht. Er wartete auch nicht darauf. Ich sah ihn hinter dem Gebäude verschwinden. Dann erst bemerkte ich in der sich verdichtenden Dämmerung einen Schatten. Ein Mann rannte mit großen Sätzen davon. Er mußte aus einem Fenster an der Ostseite der Spielhalle gesprungen sein. Ohne sich
umzudrehen, flüchtete er in Richtung der Bahnstation von Pierceville. Es war der große, breitschultrige Mann mit dem dünnen Oberlippenbart. »Stehenbleiben!« schrie ich. Ich verließ meine Deckung, hob den Colt und feuerte. Aber ich traf nicht. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Diesen Mann wollte ich haben. Er sollte nicht entwischen. Er war verantwortlich für die Morde, er hatte sie befohlen. Seitlich von mir tauchte Fred Gally auf. Er hatte die Spielhalle von hinten betreten und verließ sie jetzt durch die Schwingtür an der Vorderfront. Auch er sah den Killer laufen und schloß sich mir sofort an. Gemeinsam stürmten wir hinter dem Mörder her die Straße hinunter. Einen Moment verloren wir ihn aus den Augen, als er in eine schmale Gasse einbog, die zu den Frachtschuppen der Bahnanlage führte, dann tauchte er wieder vor uns auf. Wir schossen beide, trafen wieder nicht. Der Mann drehte sich um und schoß zurück. Er schoß gut. Er zwang uns, Deckung zu nehmen. Aber als er weiterlief, waren wir wieder hinter ihm. »Wir kriegen ihn«, keuchte Gally neben mir. »Lauf hinterher nicht weg. Ich brauche einen Zeugen für meinen Bericht und für alles andere.« »Was heißt das?« »Du mußt aussagen, was du heute alles erlebt hast, was du auf den Farmen beobachtet hast, und wie die Schießerei hier abgelaufen ist.« Ich antwortete nicht. Mich interessierte das alles nicht. In mir breitete sich eine große Leere aus, und alles, was ich noch wollte, war, daß der Anführer der Mörder bestraft wurde. Mehr interessierte mich nicht. Ich wollte 'raus aus dieser Sache, wollte nichts mehr damit zu tun haben. Wir erreichten das Bahngelände. Der Killer hatte keinen sehr großen Vorsprung mehr. Er hastete über die Schienen auf eine Remise zu. Als er über eine Weiche sprang, stolperte er und stürzte hart auf einen Schienenstrang. Er stemmte sich mühsam hoch. Durch die Dämmerung rollte ein Zug heran, auf dem Gleis, auf dem sich der Bandit befand. Noch war er vom Führerstand der Lok aus wahrscheinlich nicht zu sehen. Der Zug fuhr mit unverminderter
Geschwindigkeit weiter. Der Killer lief wieder. Er hinkte stark und zog das linke Bein nach. Neben mir blieb Fred Gally stehen, faßte den Griff seines Revolvers mit beiden Händen, zielte und schoß. Trotz des Dämmerlichtes und trotz der Entfernung von über dreißig Yards traf er den Banditen. Der Killer zuckte zusammen und stürzte wieder auf die Schienen. Er versuchte verzweifelt, hochzukommen. Sekunden später erfaßte ihn der Lichtstrahl der Kerosinlaterne am Bug der Lokomotive. Er riß beide Hände vors Gesicht. Grell kreischte die Dampfpfeife, laut und durchdringend schrillten die Bremsbacken auf den Waggonrädern. Aber es war zu spät. Der Zug rollte über den Mann weg. Ich wandte mich rasch ab. * Shita lag auf der Seite und hatte alle viere von sich gestreckt, als ich ihn fand. Es war nun bereits dunkel. An ein paar Vorbauten hingen Laternen und verbreiteten ein trübes Licht. Ich hockte mich neben Shita auf den Boden. Er schlug müde mit dem Schwanz. Ich strich ihm über den Kopf und tastete mit spitzen Fingern über sein Fell. »Ist es schlimm?« murmelte ich sanft. »Dieser Marshal wollte mich dabehalten, als Augenzeugen. Aber ich habe mich verdrückt. Das beste ist es, wenn wir schleunigst die Stadt verlassen, bevor sie uns finden und festhalten. Die Sache ist erledigt. Was wir wollten, haben wir gekriegt. Die Mörder von Nap und Mr. Duncan sind tot. Alles andere geht uns beide nichts an. Haben sie dich schlimm erwischt?« Ich ertastete die Wunde mit den Fingerkuppen. Es war nur ein Streifschuß, bereits verkrustet. Shita hatte Glück gehabt. »Wirst du laufen können?« fragte ich. Ich schaute ihm in die Augen. Dann zog ich die beiden in Zeitungspapier gepackten Brote unter dem Hemd hervor, nahm eins und stopfte es Shita ins Maul. Dankbar schlang er es hinunter. Ich
verzehrte das zweite und warf das Papier weg. »Versuch es«, sagte ich, während ich aufstand. »Wenigstens für ein paar Meilen, so daß wir aus der Stadt 'raus sind und keine Fragen mehr beantworten müssen.« Er schien zu verstehen, um was es ging. Er winselte leise, dann richtete er sich auf, obwohl er bei jeder Bewegung Schmerzen zu haben schien. Ich warf einen Blick auf die Main Street. Sie war wie leergefegt. Wahrscheinlich saß Fred Gally noch immer geduldig im Office des verängstigten Town Marshals, der noch nie eine Schießerei in Pierceville erlebt hatte. Die Beamten warteten auf mich. Ich hatte mich mit der Begründung verdrückt, daß ich Shita holen müsse. Das war nicht gelogen gewesen. Ich hatte nicht versprochen, zurückzukehren. »Los«, flüsterte ich Shita zu. Und er setzte sich in Bewegung und folgte mir, nicht ganz so leichtfüßig und schnell wie sonst, aber mit recht sicheren Bewegungen. Wir verließen die Stadt in Richtung Osten. Erst gegen Mitternacht wagte ich es, eine Pause einzulegen. Zu diesem Zeitpunkt war auch Shita völlig erschöpft. Wir verkrochen uns unter einem dichten Weidenbusch, unmittelbar bei einem Bach, und schliefen rasch ein. Über mir sah ich den sternenübersäten Himmel, bevor ich die Augen schloß. Ich fragte mich, wie es weitergehen und wohin ich mich wenden sollte. Ich suchte Ruhe und Frieden, wie ich es eine Woche lang auf der Duncan-Farm erlebt hatte. Ich suchte eine neue Heimat, ein Zuhause. Ob ich es jemals finden würde? Vielleicht wollte ich zuviel. Ich war ja nur ein Waisenjunge. Ich durfte keine Ansprüche stellen, ich mußte zufrieden sein mit dem, was sich mir bot. Bei Sonnenaufgang würde ich weiterziehen, getrieben von der Hoffnung darauf, daß einer der vielen Sterne, die ich am Nachthimmel über mir sah, mir gehörte. Die Zukunft lag im Dunkel, genauso wie der Weg zu ihr. Trotzdem würde ich versuchen, ihn zu finden, mir das Morgen zu erkämpfen. Es war gut, zu wissen, daß ich nicht allein sein würde. Ich hatte
Shita bei mir, einen besseren Freund würde ich kaum finden …
ENDE
Vorschau Die Peitschen knallten und klatschten, Blut floß aus tiefen Striemen. Malo Carnigan konnte besser mit der Peitsche umgehen als Lobo, aber das Halbblut war hart, schnell und geschmeidig und ein Kämpfer durch und durch. Ein Mann wie Lobo gab nicht auf, und wenn er aussah wie durch den Fleischwolf gedreht. Malo Carnigan stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er die Peitschenschnur um Lobos Hals schlagen konnte. Er wollte das Halbblut zu Boden reißen, aber Lobo knallte ihm die Peitsche um die Ohren, daß sein Nasenbein brach und er einen tiefen Riß durch die Wange erhielt. Lobo löste die Peitschenschnur von seinem Hals und schlug weiter auf Malo Carnigan ein. Nun stellte sich heraus, daß der Peitscher im Austeilen besser war als im Einstecken. Er schrie vor Schmerzen und peitschte wild um sich, aber Lobo fing seine meisten Schläge mit dem durch die Jacke geschützten linken Arm ab und schlug seinerseits gnadenlos zu. Er sah, daß Malo Carnigan auf der Verliererstraße war … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie in der nächsten Woche Band 176 dieser großen deutschen WesternSerie:
Der Peitscher