GERTRUD VON LE FORT
Die Tochter Farinatas ERZÄHLUNG
IM INSEL-VERLAG
© Insel-Verlag Wiesbaden 1950
Kurze Zeit nach...
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GERTRUD VON LE FORT
Die Tochter Farinatas ERZÄHLUNG
IM INSEL-VERLAG
© Insel-Verlag Wiesbaden 1950
Kurze Zeit nach dem Sturz König Manfreds, des Hohenstaufen, als die verbannten Häupter der Florentiner Guelfen in ihre Heimat zurückkehrten — so wie nach der Schlacht von Montalperto die verbannten Ghibellinenhäupter dorthin zurückgekehrt waren —, also jedermann erkennen mußte, daß der fürchterliche Endkampf dieser mit jenen nun unausweichlich herannahte, unternahm der herrschende Popolo von Florenz einen letzten verzweifelten Versuch, diesem schauerlichen Ringen seiner großen Geschlechter zuvorzukommen und die feindlichen Parteien buchstäblich zu Paaren zu treiben. Der Rat der Sechsunddreißig verfügte: alle jene mächtigen Familien, die seit drei Menschenaltern gegenseitig ihr Blut in Strömen vergossen hatten, sollten jetzt die Ströme ihres Blutes miteinander vermischen und vermählen. Es wurde befohlen in die Ehe zu treten: einem Sohn der Buondelmonti mit einer Tochter der Adimari, einer Tochter der Lamberti mit einem Sohn der Ubaldini, einem Strimati mit einer della Tosa, einer Uguccione mit einem Scolari und so fort, immer einer Ghibellinin mit einem Guelfen und einer Guelfin mit einem Ghibellinen. Also sollte gleichsam über die ganze Stadt hin ein Netz von Brücken geschlagen werden, von einer mörderischen Turmspitze zur ändern und von Kastell zu Kastell und von Wehrbrust zu Wehrbrust, und überall, wo bisher die Steingewitter der großen Schleudermaschinen niedergeprasselt wa5
ren, da sollten nun die sanften Friedensküsse herabtauen, und auf den Treppen zu den schaurigen Verliesen, wo man sich am Röcheln sterbender Feinde berauscht hatte, da sollten künftighin die kleinen Kinder der verschwägerten Sippen Verstecken spielen. Der regierende Popolo sagte sich nämlich: wenn wir diese unbändigen Geschlechter erst einmal zu Paaren getrieben haben, dann hat jede Partei von der ändern so viel Geiseln, daß sich keine mehr rühren noch regen kann, denn die Bande des Blutes können sie nicht sprengen, die sind noch stärker als ihr Haß. Die zornig widerstrebenden Geschlechter suchten einzuwenden: ihre jungen unvermählten Söhne lägen auf den Schlachtfeldern begraben, und das Brautvermögen ihrer Töchter habe man in Kriegsgerät verwandeln müssen; sie brächten keine Paare auf, die sich dem Alter und der Mitgift nach zusammenfügten. Der Rat der Sechsunddreißig erwiderte: die großen Geschlechter befänden sich da offenbar in einem Irrtum. Es gehe hier nicht um die klägliche Wohlfahrt und den Fortbestand der einzelnen Geschlechter — also um die Hochzeit ihrer Söhne und Töchter und wie dieselben sich dem Alter und der Mitgift nach zusammenfügten —, sondern es gehe um den Fortbestand der Stadt: es gehe um die Hochzeit von Florenz, des guelfischen mit dem ghibellinischen, und allein zu dieser Hochzeit seien die Geschlechter eingeladen worden. Wer der Einladung nicht Folge leiste, dessen Türme sollten der Zerstörung und dessen Güter der Beschlagnahmung verfallen, sein Name solle in das Buch der Verbannten eingetragen werden und der Name seiner Kinder in das der künftig zu Verbannenden, desgleichen seine namenlosen Kindeskinder — alles unwiderruflich auf ewige Zeiten. Also mußten sich ja die Geschlechter zähneknirschend darein schicken, dem verhaßten Popolo Gehorsam zu leisten und die erzwungenen Eheverträge aufzustellen. 6
Einzig die guelfischen Cavalcanti, die sich mit den ghibellinisehen Uberti verschwägern sollten, gaben noch der Hoffnung Ausdruck — wiewohl nur in der Stille unter ihresgleichen —, daß man ihnen schwerlich werde beikommen können. Denn für die Cavalcanti lagen die Dinge wirklich so, wie die ändern nur vorgaben: ihre ganze unvermählte Jugend bestand in einem kleinen, noch dem Kindesalter angehörenden Knaben mit Namen Guidolino. Den Uberti aber war ausdrücklich befohlen worden, als besonders kostbares Pfand der Eintracht Bice in die Ehe zu geben, die Tochter des großen Farinata, der vor sechs Jahren in der blutigen Schlacht bei Montalperto die verbannten Florentiner Ghibellinen zum Siege über ihre guelfische VaterStadt geführt hatte. Da nun Bice bereits in der Blüte ihrer Mädchenjahre stand, freute sich Cavalcante Cavalcanti, der Vater des kleinen Knaben, schon auf das Hohngelächter, mit dem die gaffende Menge die Uberti, aber auch den Rat der Sechsunddreißig überschütten würde, wenn sie ihn, dieses Kind an der Hand, die Treppe zum Bargello emporsteigen sähe — dorthin waren die Geschlechter entboten worden, um die Eheverträge vor den Notaren zu unterzeichnen und öffentlich zu beschwören. Aber auch die Uberti bereiteten sich auf das Gelächter der Gaffenden vor — mit verhaltener Wut —, denn sie glaubten, daß man ihnen durch das kindliche Alter des kleinen Cavalcanti eine besondere Demütigung zugedacht habe, um ihnen darzutun, daß ihr Haupt, der große Farinata, seit zwei Jahren tot sei. Und die Uberti waren doch der Meinung gewesen, Farinata werde über seinen Tod hinaus zu Florenz leben und herrschen, denn Florenz selbst lebte doch nur durch den großen Farinata: der allein hatte es vom Untergang gerettet, eben damals nach der blutigen Schlacht von Montalperto im Kriegsrat zu Empoli, als die vereinigten Sieger, die Ghibellinen von Florenz, Pisa und Siena, dazu die 7
Ritter König Manfreds, einmütig beschlossen hatten, die überwundene guelfische Stadt dem Erdboden gleichzumachen, damit endlich Ruhe und eine ghibellinische Toscana werde — auf ewige Zeiten. Von dem Tag zu Emboli sprach man zu Florenz dieses: bei Montalperto haben die Guelfen vor Farinatas Schwert erzittern müssen, aber zu Empoli sind die Ghibellinen vor seinem Herzen erzittert; bei Montalperto hat er seine Feinde, aber bei Empoli hat er seine eigenen Kampf- und Sieggenossen vernichtend geschlagen, er ganz allein gegen alle stehend, nur mit seinem Herzen! Denn das muß fürchterlich für sie gewesen sein, als der große Farinata sie da plötzlich mit seinem losbrechenden Herzen überfallen hat — das muß für sie viel fürchterlicher gewesen sein als ein losbrechendes Schwert! Was ein Schwert ist und was ein solches vermag, das wußten sie alle, die zu Empoli versammelt saßen — mit einem Schwert hätte man keinen von ihnen ungestraft überfallen und erschrecken können, da hätten sie ja nur ihre eigenen Schwerter zu ziehen brauchen, um sich zu schützen! Aber was es um ein Herz ist und um die unversehrte Liebe zu der eigenen Vaterstadt, um das Erbarmen mit all den Wehrlosen darinnen, das wußte keiner von ihnen mehr — sie hatten sich doch alle in den schrecklichen Kämpfen längst ihrer Herzen entwöhnt und ihres Erbarmens entledigt, sie erkannten doch ihre Vaterstädte gar nicht mehr als Vaterstädte —, sie erkannten nur darin die Parte Guelfa und die Parte Ghibellina. Da war der große Farinata zu Empoli wahrlich in der Übermacht gewesen. Zwar im Anfang sollen sie sich noch gewehrt und ihn von allen Seiten angeschrieen haben: ob er etwa die Greuel vergessen wolle, die da in dem tief gesunkenen Florenz an den Ghibellinen 8
verübt worden seien, die scheußlichen Gefängnisse, darin ihre Freunde und Genossen geschmachtet hätten, und den grausamen Tod des Chiatuzzo Uberti und die schändliche Hinrichtung des Uberto Caini, und daß man ihnen ihre Türme und Wohnstatten in Trümmer gelegt und sie als Geächtete in die Verbannung gejagt habe, ja daß man sogar ihre Toten aus den Grüften gezerrt, weil sie um des Herrn Kaisers Friedrich willen im Bann verstorben und nicht würdig seien, an heiliger Stätte zu ruhen? Und einige von den Rufenden — es waren doch die übermutigen Sieger (und der Siegesübermut macht ja die Leute immer so einfältig) — einige von den Rufenden sollen auch gelacht haben, so als glaubten sie, daß Farinata sich vielleicht nur einen Scherz mit ihnen erlaube —, der gewaltige Farinata in der größten Stunde seines Lebens, da er sich vor Schmerz um seine Vaterstadt schüttelte! Aber diese Lachenden sind eilend ernst geworden. Denn da hat sie auf einmal solch ein fremder, sonderbarer Blick getroffen — nicht jener gefährliche Blick, den der große Farinata haben konnte, wenn ihm jemand im Wege stand: den Blick kannten sie alle, aber dieser Blick war ihnen unbekannt, der bestürzte sie, der machte sie fassungslos und hilflos, so als würden sie nackend ausgezogen und enterbt und entadelt. Sie kamen sich plötzlich so bettelarm vor, als hätten sie ihr Köstlichstes verloren oder seien Menschen, die am Straßenrand geboren sind und nirgends eine Heimat haben. Und sie waren doch noch eben große, reiche, hochgeborene Herren gewesen! Es hat sich dann nur eine einzige Stimme hervorgewagt, leise aber drohend, als beschreibe sie bei heiterem Himmel das Grollen eines fernen Gewitters: ob sich also Messer Farinata damit einverstanden erklärte, daß er und die Seinen in drei Jahren oder in fünf Jahren oder vielleicht auch erst in zehn Jahren wieder von zertrümmerten Wohnstätten hinweg in die Verbannung 9
gejagt würden? Und ob er sich damit abfinden könne, daß man seine Söhne und Enkel einst, wie den Uberto Caini, aufs Blutgerüst schaffe? Und ob er es darauf ankommen lasse, daß er selbst nach seinem Tode aus dem Grab hervorgezerrt und seine Gebeine in den Arno gestreut würden? Und darauf müsse er es eben ankommen lassen, wenn er jetzt nicht einwillige, diese unheilvolle Stadt bis auf den Grund zu vernichten, denn das Blatt könne sich doch wieder wenden, und die Guelfen könnten ihre Macht zurückgewinnen, und er selbst werde doch auch einst im Banne sterben wie alle, die dem Geschlecht des Herrn Kaisers Friedrich anhingen. Farinata soll dann darauf erwidert haben: ja, darauf lasse er es ankommen und damit sei er einverstanden. Lieber wolle er mit den Seinen noch einmal als Geächteter von seiner Vaterstadt verstoßen werden, als daß er seine Vaterstadt verstoße. Lieber sollten seine Söhne und Enkel auf dem Blutgerüst enden, als daß er seine Vaterstadt zum Tode verurteile. Lieber wolle er mit seinem ganzen Geschlecht untergehen, als daß Florenz untergehe. Und dieses Wort beschwöre er, und zu diesem Eide stehe er noch über den Tod hinaus: lieber solle man seine Gebeine einst aus dem Grabe reißen, als daß er der Heimat das Grab grabe und es also überhaupt keine Heimat mehr auf Erden gäbe. — Und dann hat Farinata plötzlich nicht mehr weiter gesprochen, sondern es ist den Versammelten zu Empoli gewesen, als würden seine Worte fortgeschwemmt und ertränken da vor ihrer aller Blikken in einem glänzenden, mächtigen und männlichen Strom, der aus seinen Augen hervorbrach und der auch ihre eigenen Worte hinwegzuschwemmen drohte wie die seinen. Sie vermochten nichts mehr hervorzubringen als dieses: »Messer Farinata, Ihr habt uns alle überwunden, und wir müssen uns beugen. Tut mit Eurer Vaterstadt wie es Euch gefällt — wir haben hier kein 10
Recht, das Urteil zu sprechen, denn wir haben keine Vaterstadt wie Ihr.« Also ist an diesem Tage zu Empoli das besiegte Florenz vor dem Untergang errettet worden, ohne einen einzigen Schwertstreich, allein durch das große Herz des großen Farinata. Die bleiche Wut stand den Uberti noch im Angesicht geschrieben, als sie vom Bargello zurückkamen, denn es hatte ihnen und den Cavalcanti nichts genutzt, daß Guidolino noch ein kleiner Knabe war. Auch das Gelächter der Menge war ausgeblieben — der Popolo, wenn er zur Herrschaft gelangt, nimmt sich doch immer todernst, und wenn er noch so lächerliche Sprüche tut —, über sich selbst lachen können nur die großen Herrn sich leisten. Im Bargello gelacht, laut und verächtlich, gemeinsam, wiewohl haßerfüllt, hatten nur die Cavalcanti und die Uberti selber beim Unterzeichnen des Ehevertrags. Und nun stand derselbe da und war öffentlich beschworen, und nun mußte ihre Schwester Bice es erfahren; das hatten sie aus guten Gründen bis zuletzt verschoben. Bice weilte wieder einmal an der Gruft ihres Vaters zu Santa Reparata, daher suchten sie nach ihrer Mutter Adaletta. Sie fanden sie in ihrem kleinen, abseitigen Wohngemach, in das sie sich so oft mit gerungenen Händen geflüchtet hatte, wenn die schweren Steingewitter der großen Schleudermaschinen über den Türmen von Florenz wüteten. Es war niemand bei ihr als ihr jüngster Sohn, der kleine Conticino, von dem jeder immer meinte, er könne ja wohl nur ihr Enkel sein. Zwar, Adaletta war bei seiner Geburt nach Jahren noch nicht alt gewesen, aber der Geschlechterkrieg von Florenz war alt gewesen und das Interdikt, das schon zum fünften Mal über der Stadt lag, und der Bann, der ihren Gemahl um des Herrn Kaisers Friedrich willen getroffen hatte — also war es Adaletta oftmals gewesen, als habe 11
sie der große Farinata, da er sie als junge Frau in sein Haus geführt, gleichsam in die Hölle geleitet. Denn Adaletta war in ihrer Jugend so fromm gewesen, daß sie fast vor Grauen vor dem allem zu vergehen gemeint: es hatte sie so tief empört, daß die Männer hart und grausam waren, und daß niemand Frieden machen wollte, und sich selbst die Kirche unversöhnlich zeigte. Das hatte sie von ihr und den Menschen fortgetrieben, das hatte sie in Zorn und Auflehnung versetzt, das hatte sie immer wieder verurteilt, und darüber war aus ihrem Antlitz alle Jugend und Weichheit verschwunden, wie von einer bitteren Lauge weggewaschen. Man hätte meinen können, alle Jahre ihres Lebens zählten doppelt und dreifach bis zum Tode ihres Gatten. Von dem Tode ihres Gatten an aber zählte kein einziges Jahr mehr, sondern wenn man Adaletta jetzt sah, so mußte man an ein Gebäude denken, in dem niemand mehr wohnt, so verfallen und leer, als wolle es bei der geringsten Erschütterung einstürzen. Es stürzte aber nicht ein, denn es war keinerlei Erschütterung ausgesetzt — Adaletta bewegte jetzt nicht einmal mehr der Gedanke an die Ewigkeit. Denn ihr Gemahl war doch im Bann gestorben, also hätte ihn ja Adaletta zum zweiten Mal in der Hölle suchen müssen, wenn anders es ein ewiges Leben gab! Das konnte sie nicht über sich gewinnen, da hätte sie vor Schmerz bei lebendigem Leib zu verbrennen gemeint, und sie war doch schon in der Hölle dieses Lebens fast verbrannt gewesen! So hatte sie sich nicht mehr anders zu helfen vermocht als durch das Sakrament der Ketzer, die Tröstung der Patarener, die in der Versicherung besteht, daß es kein ewiges Leben gibt. Vor dem Empfang dieser ›Tröstung‹ hatte sie gemeint, daß sie ihr wohltun werde, aber nach dem Empfang war es nur, als ob alle Dinge plötzlich ihren Sinn verloren hätten, und wenn sie ehedem zu verbrennen gemeint, so fror sie nun beständig. — Sie 12
blieb auch jetzt ganz still und unberührt, als ihre Söhne ihr sagten, der Rat der Sechsunddreißig habe die Ghibellinen gezwungen, Ehepakte mit den guelfischen Geschlechtern zu unterzeichnen, und auch Bice solle nach denselben vermählt werden. Sie schrak nur ein wenig zusammen, weil Conticino, der am Boden hockte, plötzlich wie ein kleines Raubtier empor- und wütend auf seine Brüder zusprang. Sie stießen sich lachend an, indessen sagte Adaletta gleichmütig: was Bice anlange, so könne man dem Befehl ja nachkommen, weil ihr Vater nicht mehr am Leben sei. Dieser nämlich hatte niemals davon wissen wollen, seine Tochter Bice zu vermählen, sondern immer, wenn ihm eine Ehe für sie vorgeschlagen worden, dann hatte der Entschlossene die Sache zögernd hin und her gewendet, dann war der Freund dem Freunde unzugänglich geworden, dann hatte der große, edle Farinata jenen gefährlichen Blick bekommen, den er haben konnte, wenn ihm jemand im Wege stand. Selbst den jungen Guido Novello, der ihm in der Schlacht bei Montalperto das Leben gerettet, hatte er als Freier abgewiesen. Also wagte schließlich niemand mehr um Bice zu werben, weil jedermann begriff, daß er sich nicht von ihr zu trennen vermochte — da hätte man wahrhaftig meinen können, Farinata sei ein ganz einsamer Mensch, keinem zugehörig außer dieser Tochter, und er besaß doch Söhne, und seit Empoli umjubelte ihn ganz Florenz. Das hatte alle immer sehr verwundert, daß Farinata so an seiner Tochter Bice hing, denn diese selbst fragte gar nicht viel nach ihrem Vater, Bice fragte nur nach ihrem kleinen Bruder Conticino, dem war sie so zärtlich zugetan, als ob sie seine junge Mutter wäre. Und so nannte Conticino sie ja auch zum Unterschied von Adaletta, die er seine alte Mutter nannte. Neben Conticino aber galten höchstens noch bei ihr die jungen Hündchen und Kätzchen, die sie aus der ganzen Turmgenossen13
schaft zusammenschleppte und versteckte, um sie vor dem Ersäuftwerden zu retten, oder auch die armen kleinen Obstbäume, die sie den Guastatori abbettelte, wenn sie wieder einmal ausziehen mußten, um die Blüte oder Ernte auf den Feldern eines feindlichen Geschlechtes zu verwüsten. Bice mußte doch, so schien es, immer etwas zum Behüten oder Pflegen haben, gerade so wie einst ihres Vaters Mutter, die gute Frau Gualdrada, die so viele Kinder gehabt und alle so zärtlich geliebt hatte — am zärtlichsten immer das, welches am meisten bedroht war. Von der guten Frau Gualdrada weiß man dieses: da es mit ihr zum Sterben kam, und immer noch der Bann auf dem Herrn Kaiser Friedrich lag, und auf allen, die ihm anhingen, also auch auf ihrem Sohn, dem großen Farinata — dieser fürchterliche Bann, darinnen es von den Gebannten heißt: ›Verflucht seien alle Glieder ihres Leibes, verflucht seien ihre Haupthaare, verflucht seien ihre Füße und ihre Sohlen, verflucht sei die Frucht ihres Leibes und die Frucht ihrer Felder, verflucht seien ihre Häuser, verflucht sei ihr Eingang und ihr Ausgang, sie seien verdammt mit dem Teufel und seinen Engeln und mit den Verdämmten im ewigen Feuer‹ — da sie also dieses fürchterlichen Bannes auf ihrem Sterbelager gedachte, da sprach sie: »Der Herr Papst hat alles verflucht, was meinem Sohn zu eigen ist, nur nicht sein erstes und eigenstes Eigentum, den Schoß und das Herz seiner Mutter, also sollen diese auch sein letztes Eigentum bleiben. Ich habe Tag und Nacht für den Herrn Papst gebetet, daß er sich erbarmt und meinen Sohn vom Banne löst, da er ihn aber nicht gelöst hat, so will ich nun in meiner Todesstunde Christus, den Herrn, bitten, wenn anders er mir die Seligkeit zugedacht hat, daß ich um eben dieser Seligkeit willen meinen Sohn in seiner Todesstunde abholen und in die Hölle begleiten darf.«
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Inzwischen fragte Adaletta ihre Söhne, wem denn Bice vermahlt werden solle. Also war es ja den Uberti auf einmal, als schnüre ihnen eine unsichtbare Hand die Kehle zusammen, daß sie kein Wort hervorbringen konnten. Sie blickten verlegen zur Seite. Da fielen ihre Augen auf ihren kleinen Bruder Conticino, der stand da noch immer wie ein junges aufgeschrecktes Raubtier vor ihnen, ein Kind wie Guidolino Cavalcanti. Sie fuhren plötzlich auf ihn los: er solle sich fortmachen! Hier würden die Geschäfte großer Leute verhandelt und nicht die von kleinen Knaben — sie brachen jählings ab, denn da fuhr schon wieder diese unsichtbare Hand nach ihrer Kehle. Allein sie schüttelten sie zornig ab und fielen mit Stimmengetümmel über den Rat der Sechsunddreißig her: es sei nicht ihre, sondern dessen Schuld, wenn sie sich diesen elenden Cavalcanti verschwägern müßten, man habe ihnen alle Macht entrissen! Das komme eben davon her, daß ihr Vater die unheilvolle Stadt Florenz dereinst geschont habe. Aber bei Gott, wenn sie selber je wieder zur Herrschaft gelangten, dann solle es anders ausgehen als zu Empoli, dann solle hier kein Stein auf dem ändern bleiben! Bei dem Namen Cavalcanti hatte Adaletta ihr verblichenes Gesieht ein wenig erhoben, so als fange da ein fast ertaubtes Ohr einen fernen Laut auf. Sie sagte: »Aber bei den Cavalcanti ist doch kein Sohn vorhanden außer dem Knaben Guidolino.« Indem schrie Conticino laut auf und stürzte mit geballten Fäusten aus dem Gemach. Sie bemerkten das aber nicht, sondern sie starrten entsetzt auf ihre Mutter Adaletta, die sah plötzlich aus wie eine Tote, die aus dem Grabe zurückkehrt, um wieder bei den Lebenden zu wohnen: sie bewegte die Hände, als wolle sie sie ringen, wie einst, wenn die Steingewitter der großen Schleudermaschinen über Florenz wüteten. Unwillkürlich wichen die Uberti-Brüder einen Schritt zurück, denn ihre Mutter hatte 15
früher oft so zornig werden können, wenn sie in Verzweiflung geriet. Und schon rang Adaletta wirklich die Hände und rief unaufhörlich:» Ach, die arme Bice! Die Ärmste, die Allerärmste!« — die Uberti verstummten nun gänzlich. Schließlich brachte einer mühsam hervor: »Mutter, es wird für Bice nicht so schlimm sein, wie es für andere wäre, denn sie hat doch immer die kleinen Kinder so gern gehabt.« Indem sprang Adaletta auf und schrie ihn an: »Ihr verfluchten Männer, daß doch die Erde euch verschlänge! Immer müßt ihr kämpfen, und nun ihr kämpfen solltet, weicht ihr feige zurück! Alles, was ihr beginnt, führt zum Tode, und ihr merkt es nicht einmal! Wahrlich man sollte euch —« sie schlug ihm schallend ins Gesicht. Bice weilte unterdessen immer noch im Atrium der Kirche Santa Reparata bei der Gruft ihres Vaters und sann über seinen Tod nach. Von dem Tod des großen Farinata hat man viele Jahre später zu Florenz gesprochen: da Farinata im Sterben lag, mutterseelenallein — denn die gute Frau Gualdrada war damals schon lange verschieden, und allen ändern graute doch so furchtbar vor der letzten Stunde des Gebannten —, da ist seine tote Mutter hereingekommen und hat sich an sein Lager gesetzt und hat ihn in die Arme genommen und darinnen gehalten bis zum letzten Atemzuge. Danach ist sie aufgestanden und mit ihm in die Hölle gegangen. Dort sitzt sie nun an seinem Flammensarg und bewacht seinen glühenden Schlaf. Dante Alighieri, als er Farinata daselbst erblickte, soll auch sie erblickt haben, er hat nur nicht aufzuschreiben gewagt, daß es eine Seele in der Hölle gibt, die aus Liebe hineingegangen ist. — Da saß nun also Bice bei dem Sarkophag ihres Vaters und bewachte seinen kühlen Schlaf, wie die Frau Gualdrada drunten 16
in der Hölle seinen glühenden bewachte. Das mußte Bice tun, denn es drang jetzt oft ein sonderbares Rieseln aus den alten Mauern der Kirche, so als fließe und schieße ein unsichtbarer Strom, leise aber schnell wie die wandelhafte Zeit, zwischen den grauen Pfeilern hindurch gerade auf den Sarkophag des Vaters zu — der stand da in dem kleinen Atrium, ein mächtiger alter Marmorsarg aus Römertagen, darüber eine Tafel, darauf las man diesen Spruch: ›Hier ruht am Herzen seiner Vaterstadt der, dessen Herz die Rettung seiner Vaterstadt war, Manente degli Uberti, genannt il Farinata, er sei unvergessen in Ewigkeit. Amen.‹ Der Spruch schien tröstlich zu lesen, und er war doch auch in Stein geschrieben — einen steinernen Spruch kann niemand wieder auslöschen; allein das sonderbare Rieseln in den Mauern wollte nicht verstummen. Denn die Kirche Santa Reparata war baufällig, und es hieß, man werde sie abbrechen und einen neuen Dom an ihre Stelle setzen. Der Gedanke flößte Bice Angst ein, er erinnerte sie daran, wie man in ihrer Kindheit die Häuser und Türme ihres Vaters abgebrochen und ihn in die Verbannung gestoßen hatte. Würde man wohl seinen Sarg in das Atrium des neuen Domes tragen, oder würden das die Guelfen nicht erlauben? Die Guelfen hatten doch nun wiederum das Haupt erhoben, und ihr Vater war im Banne der Kirche gestorben wie alle, die dem Geschlecht des Herrn Kaisers Friedrich anhingen, und wie König Manfred, den man zu Benevent aus seinem Grab gerissen hatte, denn die Gebannten dürfen kein ehrliches Grab haben — Bice sah sich entsetzt um. Die Flügeltür des Atriums stand nach der Kirche hin offen. In dem ganzen weiten Schiff derselben war alles unheimlich still und verödet, als ob das Interdikt, das man nun der Guelfen wegen aufgehoben hatte, noch immer über der Stadt läge: niemand ließ sich blicken, der zu Hilfe kommen konnte. Und der Tote 17
selbst war doch ganz hilflos, der lag da unter dem schweren Deckel seines Sarkophags so ohnmächtig, wie eben nur die Toten sind — was sollte dieser Tote wohl beginnen, wenn hier etwas Schreckliches geschähe? Das erschütterte Bice immer so tief, daß ihr Vater da so hilflos liegen mußte; das erinnerte sie so schmerzlich daran, wie sie sich früher immer gegen seine Kraft gewehrt hatte, so als stehe ihr diese dort im Wege, wohin sie selbst mit allen Fibern ihres Lebens strebte — und es war doch gar nicht seine Kraft gewesen, sondern seines Herzens zarte Zärtlichkeit! Aber das hatte Bice damals nicht verstehen können, sondern immer, wenn er ihre Hände in den seinen gehalten, dann hatte sie sich trotzig an die Hände seiner Guastatori erinnert, wie sie da die Wurzeln der armen Obstbäumchen ausgerissen hatten, und wenn er sie um ihre kleinen Wünsche befragt, dann hatte sie sich stumm hinter den einen verschanzt, den er nicht verstehen wollte; und wenn die ändern ihn gepriesen, daß er einst zu Empoli die Vaterstadt gerettet habe, dann hatte sie in ihrem Innern aufbegehrt: aber bei Montalperto hat er seine Vaterstadt aufs Haupt geschlagen! Das war wunderlich und schrecklich zwischen ihm und ihr gewesen. Ihre Brüder hatten manchmal zu ihr gesagt: »Weißt du auch, daß du unseren Vater gerade so anblickst wie er deine Freier? Du hast seine gefährlichen Augen, man könnte meinen, daß er in dir sein eigenes Bildnis liebe, und du bist doch gar nicht sein Bildnis, du gleichst doch seiner Mutter Gualdrada.« — Ja, wahrhaftig, das war wunderlich und schrecklich zwischen ihm und ihr gewesen! Aber dann zuletzt, da war auf einmal alles ganz anders geworden, da hatte sie sich nicht mehr seiner Kraft zu erwehren brauchen, sondern da hatte sie um seine Kraft gerungen; da war ihr kein entwurzeltes Bäumchen mehr eingefallen, sondern seine eigenen Wurzeln hatten qualvoll bloßgelegen — da war alles 18
umgekehrt gewesen als bisher, so als ob sie seine Nähe, wie er einst die ihre, niemand gönne. Sie hatte Tag und Nacht an seinem Krankenbett gesessen, darauf er nun hingestreckt lag, die Brust so keuchend schwer, als laste ganz Florenz auf seinem Herzen. Und es lastete auch ganz Florenz darauf! Denn Farinata hatte doch seine Feinde damals bei Empoli nicht zermalmt, sondem er hatte sich ihrer erbarmt — also mußte nun der nie Erzitterte noch in seiner Todeskrankheit das Erzittern lernen. Ja, wahrlich, in seiner Todeskrankheit hat Farinata erkannt, daß ihn das Geschick, in das er da bei Empoli gewilligt, noch einmal beim Wort nehmen wollte. Denn Gnade am Feind üben, das ist ein gefährliches Ding, das kann nicht nur dem Gnade Übenden, das kann auch seinem Werk den Untergang bedeuten. Und darum glauben wir von Farinata, daß er einen zweifachen Todeskampf hat kämpfen müssen: den eigenen, den jeder Sterbende zu kämpfen hat, und den, den seine Vaterstadt nach seinem Tode kämpfen sollte. Und der zweite Todeskampf ist ihm am schwersten gefallen. Wie er nun so dalag, die eisernen Arme so schwach, das mächtige Haupt so unmächtig wie das eines kleinen Kindes, auf den bläulich-blassen Lippen immerdar das Wort ›Florenz! Florenz!‹, da hatte Bice ihn gefragt, ob sie einen seiner Söhne rufen solle, daß er ihm die Stadt vertrauen könne. Aber Farinata hatte keinen seiner Söhne verlangt, sondern den jungen Guido Novello, denselben, der ihm bei Montalperto das Leben gerettet. Man hatte nach ihm gesandt, aber er war nicht gekommen, denn er grollte seinem großen Meister, seit dieser ihm die Hand der Tochter abgeschlagen hatte. Bice wußte nicht, daß der Novello ihre Hand begehrt, sie glaubte, daß es ihm wie allen ändern vor dem Tode des Gebannten grause — es traute sich ja niemand mehr in diesen Raum, sie war ganz allein mit dem Vater. Das 19
hatte Bice so ans Herz gegriffen, daß der Einzige, nach dem derselbe noch verlangt, nicht kommen wollte; das hatte sie kaum zu glauben vermocht, und das wollte Bice auch nicht glauben. Immer wieder hatte sie dem Sterbenden ins Ohr geflüstert: »Vater, er wird kommen, und Ihr werdet ihm die Stadt vertrauen.« Und geduldig wartend hatte ihr der Sterbende zurückgehaucht: »Ja, er wird noch kommen, denn ich muß ihm meine Stadt vertrauen.« Aber dann zuletzt, zuallerletzt in jenen schauerlichen Augenblicken, als das Gesinde draußen bereits laut zu jammern anhob, weil sein großer, edler Herr im Bann verscheidend, gleich zur Hölle fahren werde, da hatte Bice von des Vaters Lippen dieses Wort erlauscht: »Nein, er kommt nicht — ich sterbe wie Verdammte ohne Hoffnung.« Also war es ihr wie Schleier von den Augen gefallen, und sie hatte ihren Vater, zum letzten Mal ihn erblickend, gleichsam zum ersten Mal erblickt — den gewaltigen Farinata, der alle seine Feinde bei Montalperto aufs Haupt geschlagen und ihnen doch immer wieder so wehrlos geworden war wie bei Empoli, den Stürmen seines Herzens und Erbarmens preisgegeben, die hatten ihn über alle ändern empor aber auch von allen ändern fortgewirbelt, daß er nun so einsam und verlassen sterben mußte wie ein Tier in der stumpfen Wildnis. Da hatte Bice sich mit ihrer ganzen Liebe über ihn gebeugt: »Vater, wenn er nicht mehr kommt, so laßt mich Eure Hoffnung sein.«Indem hatte der Sterbende sich noch einmal aufgerichtet und mit großen geisterhaften Augen nach der Tür geblickt, als sei da lautlos doch noch jemand eingetreten, den er lang erwartet habe. Also hatte Bice ihn in seiner letzten Not umschlungen, bereit, ihn wie die gute Frau Gualdrada durch den Tod hindurch bis in die Hölle zu begleiten. Da war Farinata in den Armen seiner Tochter so sanft und friedlich verschieden wie in seiner Mutter Armen. Wir sagen aber heute von dem Höllengrab des großen Farinata: 20
ob seine Mutter dort an seinem Flammensarge bei ihm sitzt, das wissen wir nicht, denn Dante Alighieri hat uns nichts darüber aufgezeichnet. Aber daß Bice bei dem Grabe ihres Vaters geblieben ist, das wissen wir, nämlich in jener Hölle, die in diesen unsren Tagen aus dem Abgrund heraufgestiegen ist in die Stadt Florenz, und von dieser Hölle allein wollen wir erzählen. Unterdessen war es in der Kirche noch immer stiller geworden und das Rieseln in den alten Mauern immer unheimlicher, so als könnte sich hier wirklich einmal etwas Schreckliches ereignen. Denn seit dem Interdikt fürchtete sich doch niemand mehr, diesen heiligen Raum zu beleidigen: die Leute hatten sich daran gewöhnt, daß hier jahrelang kein Segen und kein Sakrament mehr ausgespendet worden war, wirklich, dieser Raum galt ihnen fast wie jeder andere! Selbst die Kinder fühlten keine Scheu mehr vor dem Gotteshause; es geschah oft, daß sie beim Spielen hier hereingestürmt kamen und ihr ungebärdiges Wesen trieben. Denn die Kinder von Florenz spielten immer ›Guelfen und Ghibellinen‹ und schlugen einander wie die Erwachsenen und stritten um den Namen des großen Farinata wie jene, und die kleinen Guelfen warfen mit Steinen nach seinem Grab. Das hatte Bice selber schon erlebt, und das konnte sich jeden Tag wiederholen. Und wirklich, da vernahm sie auch bereits ein verdächtiges Gerausch vom Schiff der Kirche her, ganz ähnlich, wie wenn junge Raubtiere aufeinander losgehen und sich beißen wollen. Aufblickend sah sie, wie zwei junge Wildlinge heranstoben: die schmale, schmächtige Gestalt des Guidolino Cavalcanti, hinter ihm um einen halben Kopf größer und um eine halbe Schulter breiter ihr eigener Bruder Conticino. Er schlug wütend auf den Fliehenden ein, und gerade vor Bice, die von den zornigen Kin21
dem nicht bemerkt worden war, warf er den Verfolgten zu Boden und begann ihn mit seinen grausamen Kinderfäusten unbarmherzig zu bearbeiten, so daß Bice ganz entsetzt zusprang und Conticino von seinem Opfer hinwegriß. Nun standen die zwei kleinen Feinde einander gegenüber, der schmächtige Guidolino, totenblaß im Bewußtsein der erlittenen Schmach, der stämmige Conticino, zornrot, zwischen beiden Bice, die sie mühsam auseinanderdrängte. Dabei schwang ihr weiter Mantel wie ein Flügel hin und her, und ihr liebes, weiches Mädchenantlitz glühte vor Anstrengung. Sie fragte nun die Kinder, was es zwischen ihnen gegeben habe. Conticino schreiend: »Guidolino sagt, du würdest seine Frau, und das will ich nicht! Du sollst meine junge Mutter sein und bei mir bleiben!« Darauf der andere: »Aber sie wird doch eben meine Frau, und du brauchst keine junge Mutter, Conticino, denn du hast noch eine alte Mutter, aber ich habe überhaupt keine Mutter, meine Mutter ist gestorben!« Bei den letzten Worten bebten seine Lippen, und die großen, bösen Kinderaugen flössen über. Bice verstand, daß sich die Knaben um sie gestritten hatten, und das war nichts Neues und Sonderbares, denn alles was klein und unfertig war, das hing ihr an, die Kinder nicht anders wie die jungen Hündchen und Kätzchen, die sie überall versteckt hielt. Sie haben gespielt, daß sie mich heiraten, dachte sie lachend. Alsdann zu den beiden Knaben: »Aber wenn ich Guidolinos Frau werde, müßt ihr einander liebhaben und zusammenhalten, denn dann seid ihr doch Schwäher.« Aber nun schrieen sie beide aus vollem Halse einmütig aber haßerfüllt, genau wie die Geschlechterhäupter im Bargello: »Nein, wir sind Guelfe und Ghibelline! Und warum sollen wir einander liebhaben, wenn wir doch einander hassen?« 22
Darauf Bice ganz einfach: »Weil ich es so haben will. Jetzt gebt euch die Hände, und dann geht ihr beide friedlich heim.« Und wahrhaftig, sie taten es! Denn das war merkwürdig, wenn Bice sagte: »Weil ich es so haben will«, dann folgten ihr alle Kinder aufs Wort, und wenn sie Gott weiß was von ihnen verlangte. »Fiele es ihr ein,« so sagten ihre Brüder, »sie könnte alle Kinder von Florenz hinwegführen wie jener wunderbare Spielmann, von dem uns die deutschen Soldritter des Guido Novello erzählen, daß er die Kinder der Stadt Hameln auf Nimmerwiedersehn in einen Berg gelockt habe — ja wahrhaftig, das könnte sie!« Es dauerte lange, bis man Bice zu gestehen wagte, welches Schicksal über sie beschlossen worden sei. Ihre Brüder zögerten es ihr zu sagen, denn sie fühlten sonderbarerweise immer etwas Scheu vor dieser kleinen mädchenhaften, mütterlichen Schwester. Sie wußten selbst nicht recht warum. Freilich, Bice konnte ihren Brüdern gegenüber manchmal etwas schnippisch werden, denn sie nahm dieselben doch im Grunde gar nicht ernst — wie sollte Bice diese ewig Waffenklirrenden auch ernst nehmen? Nach Bices Meinung hätte schon ein einziger Blütenbaum genügen müssen, damit den Männern die unseligen Waffen aus den Händen fielen. — Die Uberti-Brüder also wagten nicht mit Bice zu sprechen, sie wandten sich deshalb an ihre Mutter Adaletta. »Wenn du eine rechte Mutter wärest,« sprachen sie, »so würdest du Bice jetzt in deine Arme nehmen und ihr alles sagen.« Aber Adaletta fuhr sie zornig an: lieber wolle sie das Gelübde tun, ihr ganzes Leben lang kein einziges Wort mehr zu sprechen, ehe sie dieses Wort zu Bice über ihre Lippen brächte. Sie rief ihren Söhnen einen Fluch zu; denn Adaletta war ja nun an Bices Schicksal wiederum zum Leben erwacht, sie sah nicht mehr aus wie ein Gebäude, darinnen niemand wohnt — in Wirklichkeit wohnte eben doch einer darinnen, aber es war nicht mehr die Seele der 23
einstigen Adaletta, es war derselbe Geist, den sie ehedem so bitter gehaßt hatte! Denn überall wo einer auszieht, da zieht ein anderer ein, und jeden Ort, welchen die Liebe verläßt, den gewinnt der Haß. Schließlich erfuhr Bice von dem Hochzeitsplan des regierenden Popolo. Sie ging nun selbst zu ihren Brüdern und fragte sie unschuldig, aber doch mit merklicher Erregung, ob auch sie vermahlt werden solle. Nun mußten sie ihr Rede stehen, aber obwohl sie in ihrer zornigen Verlegenheit ganz kurz und bündig mit der Sache herauskamen, konnte Bice sie am Anfang nicht begreifen, genau wie Adaletta sie zu Anfang nicht begriffen hatte. — Bice wurde nicht zornig wie ihre Mutter, sondern sie fing an so bitterlich zu weinen, wie ihre Brüder noch nie jemand hatten weinen sehen. Es war, als wollten ihre Augen sich in einen Quell verwandeln, der die ganze Bice fortströmte. Ihre Brüder mußten plötzlich wieder einmal daran denken, daß sie selbst behauptet hatten, Bice habe die gefährlichen Augen ihres Vaters — es war ihnen, als ob der Strom dieser Augen nicht nur die ganze Bice, sondern auch sie selber und ihr eigenes Haus hinwegströmen könne. Sie sagten hastig und ungeschickt: »Du solltest dich nicht so grämen, Bice, weil du ein Kind zum Gemahl erhältst, denn wahrlich, du wirst nicht schlimmer daran sein als die ändern Bräute, die der elende Popolo sich erfrecht hat in die Ehe zu zwingen. Es wird keine einzige von ihnen je ein Kind ihr eigen nennen, denn keine einzige von ihnen wird je das Glück der Gattin genießen, ob man sie nun mit einem Knaben oder mit einem Greis oder mit einem Jüngling zusammentut, das gilt ganz gleich.« — Danach sagten sie zu ihr: so wie die feindlichen Geschlechter im Bargello gemeinsam, aber haßerfüllt dem Popolo ins Gesicht gelacht, so hätten sie jetzt, 24
gemeinsam aber haßerfüllt gelobt, daß keine dieser anbefohlenen Ehen je vollzogen werden dürfe. Sondern jede dieser Bräute solle auf der ganzen Welt niemand so bitterlich hassen wie den ihr aufgezwungenen Gatten, und jeder Gatte solle die ihm aufgezwungene Braut verschmähen und verachten, bis der Tod sie scheide. Und wenn es jemals dahin kommen sollte, daß einer unter diesen Paaren dennoch sein Ehegemahl liebe und begehre, dann solle der andere dieses Gefühl ausrotten und zertreten, wie die Guastatori die jungen Obstbäume der Gegner ausrotteten und ihnen die Wurzeln abschnitten. Aber Bice hörte nicht auf ihre Brüder. Es machte ihr gar keinen Eindruck, daß man sie damit trösten wollte, sie dürfe den ihr angetrauten Knaben hassen, sondern sie fuhr fort nur immer bitterlicher zu weinen, je länger die Uberti-Brüder sprachen. Aber dieses Weinen war viel schrecklicher als der Zorn Adalettas, sie hatten jetzt wirklich das Gefühl, daß dieser Tränenström sie alle hinwegspülen könne, so wie die Tränen Farinatas damals zu Empoli den Widerstand der ganzen Versammlung hinweggespült hatten. Schließlich verließen sie betreten das Gemach. Draußen sprachen sie zueinander: »Es ist wahrhaftig noch als ein Glück zu betrachten, daß man Bice einem Knaben zugedacht hat, denn sie wäre am Ende fähig gewesen, sich einem verruchten Guelfen hinzuschenken, so heiß, scheint es, verlangt es sie nach einem Gatten. Sie sollte einen Geliebten haben, der sie über diese lächerliche Ehe tröstet. Wir könnten ihr leicht einen zuführen, hat nicht Guido Novello Jahr und Tag um sie geworben? Unser Vater hat sie ihm nicht gegeben, weil er sie überhaupt niemand geben wollte, und jener hat längst ein anderes Weib gefreit. Aber wenn man Bices Namen vor ihm nennt, so wird er noch immer schneeweiß in seinem herrischen Gesicht, und man sagt, seine Sterndeuter hätten ihm zugeschwo25
ren, er werde sie doch noch einmal besitzen. Wenn wir sie ihm zuführten, so wäre ihm und ihr geholfen, aber auch uns wäre geholfen, denn seit unser Vater sie ihm abgeschlagen hat, ist er ein Unsicherer in unseren Reihen geworden, durch Bice könnten wir ihn kräftig an uns binden.« — Sie beschlossen, ihre Schwester dem Novello zuzuführen. Dieses war Guido Novello: ein schöner fürstlicher Mensch und mächtiger Ghibelline, hochgekommen in der Zeit des großen Farinata, derselbe hatte ihn vor vielen ändern ausgezeichnet, seit er ihm bei Montalperto das Leben gerettet. Guido Novello selbst aber hatte Farinata angehangen, wie ein Schüler seinem Meister und wie ein Sohn seinem Vater und wie ein hochfliegender Geist seinem bewunderten Vorbild. Farinata hatte ihm die deutsche Ritterschar vertraut, die seit den Tagen des Herrn Kaisers Friedrich zu Florenz lagerte, über diese führte er noch heute den Befehl. Also wurde er von Freund und Feind als ein sehr Mächtiger angesehen, denn die deutsche Ritterschar fürchtete ein jeder, die war der Ghibellinen stärkster Schutz, seit die Guelfen wieder in der Stadt das Haupt erhoben. Es war aber seltsam, daß die Gerüchte nicht verstummen wollten, Guido Novello sei den Ghibellinen ungewiß, denn es hatte ihn noch niemand bei der geringsten Untreue betroffen. Diese Gerüchte konnten wirklich nur entstanden sein, weil Farinata dem Bewerber einst die Tochter abgeschlagen hatte.--Guido Novello war wie gewöhnlich auf seiner Sternwarte draußen in der Toscana. Dieselbe war erbaut nach dem Plan der Sternwarte des Herrn Kaisers Friedrich, ein schönes, fremdartiges Gebäude, anzusehen wie von Zauberhänden hergetragen aus dem Morgenlande. Und aus dem Morgenland waren auch die Sterndeuter, mit denen der Novello Rat pflog. 26
Er empfing die Uberti wie immer mit höfischem Anstand, aber so, als lägen stets zehn Schritte zwischen ihm und ihnen, auch wenn sie einander die Hände schüttelten. Da standen sie nun vor ihm, in den Angesichtern diese sonderbare Leere, denn es fehlte darin alles, was man in dem Antlitz eines Ritters suchte, man dachte unwillkürlich: die Uberti sind noch jung und gleichsam unbeschriebene Blätter. Aber wenn man sie genauer ansah, ward man inne: das, was man gemeint, daß es erst kommen werde, war in Wirklichkeit bereits vorüber. Denn diese Uberti waren ein spätes Geschlecht, der Edelsaft ihres Blutes war verbraucht in einem frühen, rohen Leben und vielleicht auch schon in jenen langen unerbittlich schweren Kämpfen ihrer Ahnen, zuletzt noch einmal wie mit einem übervollen Becher ausgeschüttet in dem großen Farinata — und nun war kein Tropfen mehr vorhanden! Und nun hätten die Uberti abtreten müssen von der hohen Bühne der Geschicke, so wie die Staufer abgetreten waren, die ihrem Kampf einst Glanz und Ziel gegeben hatten. Aber davon wollten sie nichts wissen, das war ihnen noch niemals in den Sinn gekommen. — Sie schalten zunächst auf den Popolo und die von ihm befohlene niederträchtige Ehe ihrer Schwester mit dem kleinen Cavalcanti, aber sonderbarerweise machte es Guido Novello gar keinen Eindruck, daß diese Ehe eine Unnatur für Bice sei — es kam den Uberti beinahe der Gedanke an, es wäre ihm ganz recht, daß Bice einem kleinen Knaben angetraut werde, so als hätte er sie keinem Mann gegönnt. Das gab den Uberti-Brüdern Mut, und sie sagten dem Novello gerade heraus, sie wollten ihrer Schwester nun, um sie zu trösten, einen Geliebten verschaffen. Darauf fragte Guido Novello, ob sie Bice diesen Plan mitgeteilt hätten. Sie: Nein, das hätten sie nicht getan, man pflege ja die Mäd27
chen auch nicht lange wegen ihres Schicksals zu befragen, man stelle sie eben vor die getroffene Wahl. Darauf schwieg sie der Novello undurchdringlich an. Inzwischen hatten sich nun aber die Häupter der beiden Parteien von ihrem ersten Schreck und Zorn erholt und beschlossen — wiederum gemeinsam, aber haßerfüllt — zu versuchen, ob man nicht den Vollzug der anbefohlenen Ehepakte noch ein wenig hinausschieben könne. Wie sie ehedem behauptet hatten, es gebe keine heiratsfähigen Söhne mehr bei ihnen und das Brautgut ihrer Töchter sei in Kriegsgerät verwandelt worden, so behaupteten sie jetzt, sie hätten keine Hochzeitskleider. Es wird aber erzählt, man habe damals in den Kemenaten der großen Geschlechter von Florenz nach der Weise der griechischen Penelope gearbeitet und alle Nähte und Stickereien, die man bei Tag fertiggestellt, seien bei der Nacht wieder sorglich aufgetrennt worden. Also hätten da jeden Morgen die losen Seidenstücke gelegen, als könnten sie sich nie zusammenfinden, genauso wie die Paare, denen sie zugedacht waren, und wie die großen Geschlechter von Florenz. Auf diese Weise hofften sie, den regierenden Popolo so lange hinzuhalten, bis ihnen gegen diesen Hilfe werde. Sie hatten nämlich schon vor einiger Zeit Boten ausgesandt, die Ghibellinen nach Deutschland zu dem königliehen Knaben Konradin, und ihn aufgefordert, daß er, seinen Ahnen folgend, die Alpen überschreite; die Guelfen nach Rom zu dem Heiligen Vater, damit er dem Herrn Karl von Anjou, dem er nach König Manfreds Sturz die Krone von Sizilien vertraut hatte, die Hände löse, um nach der Lilie von Florenz zu greifen. Diese Boten kamen jetzt zurück: die der Ghibellinen brachten Grüße von dem Knaben Konradin, den sie auf dem Hoftag zu Augsburg angetroffen hatten, freilich noch allzu 28
jung und zart, aber doch schon kühn und voller Feuer, bereit dem Ruf zu folgen, eingedenk seines Großvaters, des Herrn Kaisers Friedrich, der auch schon als ein Knabe den Ritt um seine Krone gewagt hatte. Die guelfischen Boten aber trugen den Segen des Herrn Papstes heim und die Versicherung, derselbe werde ihnen durch den neuen König von Sizilien Hilfe senden. Also harrte jede der beiden Parteien auf einen Retter, es fragte sich nur, welcher eher da sein werde. Die Uberti sprachen damals zu ihrer Schwester: »Tröste dich, Bice, du hast immer Glück bei Kindern gehabt! Durch ein Kind will man dich unglücklich machen, aber durch ein Kind wirst du auch gerettet werden. Der königliche Knabe Konradin rüstet zur Romfahrt, und wenn er kommt, wird erden elenden Popolo aus dem Bargello treiben und uns darin einsetzen. Sorge nur mit deiner Mutter, daß die Brautgewänder noch lange nicht fertig werden.« Alsdann zeigten sie ihr ein Mäntelchen des Knaben Konradin, das sie von der Stadt Lucca entliehen hatten, deren Abgesandte es bereits vor einigen Jahren seiner Mutter, der Frau Elisabeth von Bayern, abgebettelt und wie eine kostbare Reliquie in der Kirche San Frederico zur Verehrung aufgehängt hatten, so als sei damit bereits ein Stück der königlichen Kinderherrlichkeit in dieses Land getragen. Die Uberti breiteten das Mäntelchen mit Stolz vor Bice aus: es war scharlachrot mit einem Krägelchen aus weißem Hermelin, anzusehen wie ein rechter, kleiner Königsmantel. Sie meinten wirklich, daß sich Bice seiner trösten werde, wie die von Lucca es zuvor getan hatten — denn mit dem Novello waren sie noch immer nicht weitergekommen. Aber Bice mochte das Mäntelchen nicht ansehen, sie vergrub das Gesicht in den Händen und fing wieder bitterlich zu weinen an, wie die Uberti noch nie jemand hatten weinen sehen. Sie fühlten aufs neue dieses sonderbare Unbehagen vor der Schwe29
ster, wahrhaftig nur vor ihrem Vater hatten sie zuweilen eine solche Scheu empfunden! Draußen sprachen sie zu ihrer Mutter Adaletta: »Unsere Schwester hat das Mäntelchen des Knaben Konradin kaum angeblickt, offenbar kann sie des kleinen unheilvollen Cavalcanti wegen nichts mehr sehen, was sie an Kinder mahnt, es scheint, sie mag dieselben nicht mehr leiden.« Adaletta antwortete ihnen: »Da könntet ihr euch wieder einmal gründlich irren, wenn ihr meint, daß Bice keine Kinder mehr leiden mag! Ach, Gott erbarme sich doch über euren Unverstand, an euch Männern geht noch einmal alles Leben dieser Welt zugründe!« Dabei hatten die Uberti-Brüder aber eigentlich ganz recht, denn Bice mochte wirklich nichts mehr sehen, was klein und zärtlich schien — und wäre es auch nur ein Kindermäntelchen, es verursachte ihr Qual und Not. Sie kümmerte sich weder um die neugeborenen Hündchen und Kätzchen der Turmgenossenschaft, die man ersäufen wollte, noch um die jungen Obstbäume der Gegner, denen die Guastatori nach wie vor die Wurzeln abzuschneiden suchten. Es war, als ob sie all ihre Schützlinge völlig vergessen habe, ja als ob ihr selbst der Anblick ihres kleinen Bruders Conticino unerträglich sei. Sie hielt sich die Ohren zu, wenn er nach ihr rief, so daß Adaletta die Tür vor ihm verschloß und ihn draußen toben ließ. Man erzählt sich aber, wenn sie dann angefangen habe mit Bice an den Brautgewändern zu nähen, habe sich manchmal unter den Fenstern der Uberti-Türme noch eine andere Knabenstimme erhoben und nach Bice gerufen, bis Adaletta ihr verblichenes Gesicht aus dem Fenster gesteckt und dem kleinen Cavalcanti drunten ein paar Flüche zugeschrieen habe. Alsdann sei das Stimmlein, wie von Steinwürfen hinweggetrieben, verstummt.--30
Ja, Bice zeigte ein wahres Grauen vor allem, dem sie einst so zärtlich zugetan gewesen. Nur um ihres Vaters Grab bekümmerte sie sich nach wie vor, obwohl doch der Tote noch viel zarter und hilfloser war als ihre ändern Schützlinge, und obwohl man jetzt das Mäntelchen des kleinen Staufers in das Atrium von Santa Reparata getragen hatte, damit es Farinatas Grab beschütze. Es hing dort wie die winzige Nachbildung eines mächtigen Königsmantels, die kleinen Ärmel hatte man weit ausgespannt, als stellten sie zwei herrscherliche Arme vor. Die Guelfen — denn um den Herrn Anjou war es seither stumm geblieben — wagten nicht dagegen vorzugehen. Selbst der regierende Popolo tat, als ob er diese kleine triumphierende Reliquie nicht bemerke, denn niemand wußte ja, ob der königliche Knabe oder der Herr Anjou früher kommen werde. Adaletta sah die Gänge ihrer Tochter nach Santa Reparata nicht gern, denn sie selber hatte ja die Tröstung der Patarener empfangen, welche in der Versicherung besteht, daß es kein Leben nach dem Tode gibt, und darin wollte sie sich niemals mehr beirren lassen. Sie sprach damals zu Bice: »Du meinst immer, dein Vater wisse und spüre, was mit seiner Gruft geschieht, aber hättest du die Tröstung empfangen, dann wüßtest du, daß er nichts mehr weiß, ob sie nun mit Steinen nach seinem Grab werfen, oder ob das Mäntelchen des kleinen Staufers es beschützt — das ficht ihn nicht mehr an. Komm doch mit in unsere Versammlung, dann kannst du ohne Sorgen um sein Grab sein.« Aber Bice ging nicht mit in die Versammlung, ihr graute vor den Patarenern, denn sie wollte gar nicht, daß ihr Vater nichts mehr wisse, sondern er sollte inne werden, wie sie seine Gruft behütete: all ihre Zärtlichkeit und Liebe, die sie ihm, da er noch lebte, vorenthalten hatte, die sollte er nun fühlen, und er fühlte sie ja auch, o ja, er fühlte sie! Bice spürte oft ganz deutlich diese 31
zarte Nähe, dies geheimnisvolle Grüßen und Umschweben, wie es den geliebten Toten eigen ist. Es war ihr, als wolle der Vater sie aus seiner Gruft hervor lautlos anreden, oder als habe sie das Schweigen des Toten erlernt wie eine fremde und doch schon vertraute Sprache. Denn Bice hatte ihren Vater doch auf seinem Totenbett getröstet, daß sie seine Hoffnung werden wollte, damals als er so erschütternd auf den warten mußte, dem er seine Stadt vertrauen konnte. An diese Hoffnung mahnte sie der Vater nun aus seinem Grabe, und diese Hoffnung mußte Bice ihm nun sein — und sie wollte sie ihm sein —, dieser Wunsch war jetzt das einzige Gefühl, das sie neben ihrem eigenen Jammer noch bewegte: innig, unablässig wie ein Liebesruf von drängend zarter, unentrinnbarer Gewalt. Hätte sie doch nur gewußt, wie ihm zu folgen — dafür hätte Bice gern ihr Leben hingegeben. Aber gerade dieses konnte Bice ja nicht mehr; sie fühlte sich selbst an den Rand des Lebens fortgedrängt, dorthin, wo es fast schon Sterben ist. Ein ganz, ganz schmaler Schicksalsstreif nur trennte sie noch von dem Schicksal ihres Vaters. Denn war nicht diese aufgezwungene Ehe mit dem kleinen Knaben auch eine Art von Tod, ein Ausgeschlossensein vom Licht des Lebens und der Hoffnung — wie konnte Bice noch die Hoffnung ihres Vaters werden? Nein, sie war dem Schicksal dieses Toten viel zu nah, sie konnte ihr Versprechen nicht mehr halten — sie konnte nur noch sterben. Aber wenn sie sich dann schluchzend und verzweifelt über ihres Vaters Sarkophag werfen und ihren Jammer gleichsam an seine Brust drängen wollte: »Hilf mir, Vater, hilf mir, damit ich dir helfe!« dann schien es plötzlich wiederum, als wiese eine unsichtbare Hand sie sanft gebieterisch zurück ins Leben. Denn es war doch eben so, daß Bice ihren Vater, da sie ihn zum letzten Mal erblickt, in Wirklichkeit zum ersten Mal erblickt hatte, die32
ses gewaltige Herz, das da einst zu Empoli sein ganzes Geschlecht für die Rettung von Florenz aufgeopfert hatte — sein ganzes Geschlecht, also auch sie, ja gerade sie! Denn in ihr hatte doch der Vater wie in keinem ändern seiner Kinder dieses sein Geschlecht erkennen wollen und geliebt! Und nun war es Bice ja auf einmal so, als fände hier am Grabe ihres Vaters eine tiefe, wundersame Wandlung ihres Schicksals statt, und sie empfänge ihr verhaßtes Los im Grunde gar nicht aus den Händen des sturen Popolo und ihrer rohen, feigen Brüder, sondern aus den Händen eben ihres Vaters; denn man sagte doch, daß diese anbefohlenen Ehen seiner Stadt die Rettung und den Frieden bringen sollten. Mußte Bice da nicht in ihr Schicksal willigen? War nicht gerade dieses die ersehnte Hoffnung, die sie dem geliebten Vater schenken wollte? Ihr war, als lehne sie für einen Augenblick das Haupt an seine Stirne — jetzt war sie ihm ganz nahe, ganz in seinen Willen hingeschmiegt. Freilich, sobald sie aus Santa Reparata heraustrat, erwachte sie wieder aus dieser innigen Verbundenheit mit dem Verstorbenen. Es war dann oft schon spät, denn Bice ließ sich meistens erst durch den Sakristan vertreiben, der die Kirche und das Atrium abends verschloß. Wenn sie sich dann auf dem Heimweg wiederum den wilden Türmen ihrer Brüder näherte, dann hörte sie oft schon von weitem aus dem dunklen Gedränge der umliegenden Straßenschluchten das gefürchtete Stimmlein des kleinen Cavalcanti und sein unglückseliges: »Bice, Bice, wann kommst du?« Der kleine Cavalcanti nämlich erschien jetzt nicht mehr bei Tage unter den Türmen der Uberti, denn er fürchtete sich, das verblichene Antlitz Adalettas zu erblicken, so, als könnten ihre bösen Worte sich am Ende doch noch in Steinwürfe verwandeln und ihn treffen. Zwar Adaletta tobte auch im Dunkeln: daß in dieser liederlichen Turmgenossenschaft der 33
Cavalcanti nicht ein einziges Weibsbild sei, um die junge mutterlose Brut derselben zu versorgen! Doch im Dunkeln, da behielt das Stimmlein Mut: es ließ seinen eintönigen Ruf forttönen wie ein armes Nachtvöglein oder wie eine kleine traurige Unke, oder eben wie ein mutterloses Kind. Wenn Bice das Stimmlein vernahm, so lief sie wie gehetzt mit zugehaltenen Ohren um die Türme ihrer Brüder herum und schlüpfte durch irgendein entlegenes Mauerpförtchen über die zurückliegenden Höfe ins Innere der Turmburg. Wehe aber, wenn ihr auf der Treppe dann ihr kleiner Bruder Conticino, der ihr dort aufzulauern pflegte, in den Weg trat! Sie stieß ihn erbarmungslos zurück, schlug die Türe ihrer Kammer hinter sich ins Schloß und schob den Riegel vor, und dann vernahm Conticino, wenn er draußen mit den derben Fäustchen an der Tür raste, nichts als den immer wiederholten Aufschrei: »Wenn doch der kleine Staufer aus Deutschland käme und dem Stimmlein ein Ende machte!« Der gewissenhafte, aber etwas schwerfällige Popolo hatte sich die zögernde Haltung der Geschlechter eine Weile ruhig angesehen. Es war dem Aufmerksamen nicht entgangen, daß die Brautgewänder zwar nicht fertig wurden, daß aber Boten nach Sizilien und nach Deutschland abgesandt und auch zurückgekommen waren. Also erließ man im Bargello eines Tages folgenden Befehl: ob die Hochzeitskleider fertig seien oder nicht, das gelte gleich, wer kein Festgewand besitze, solle sich mit einem Werktagskleid begnügen — wichtig sei allein der Vollzug der lange unterschriebenen Ehepakte. Aber mittlerweile hatten es die Geschlechter nun glücklich dahin gebracht, daß man bereits in die Zeit der Fasten eingetreten war. Die dem Papst verschriebenen Guelfen schwuren, daß sie lieber sterben würden, als 34
den Ernst der Fasten durch ein Hochzeitsfest entweihen zu lassen, die Ghibellinen aber, die jedwedes kirchliche Gebot verlachten, stimmten ihnen eifrig zu, denn hier konnten sie die Kirche wirklich einmal brauchen. Wiederum gemeinsam, aber haßerfüllt, zwangen sie den schwer besorgten Popolo zu einer letzten Gnadenfrist — derselbe setzte nun, erbittert über die Geschlechter, fest: gut, man werde, die Gewissen schonend, bis zum Schluß der Fasten warten, doch am ersten Tag danach seien unerbittlich auf der Arnobrücke bei dem alten Römermal die Friedensküsse auszutauschen und die Bräute ihren Ehegatten feierlich zu übergeben. Wer seine Tochter da nicht bringe oder seines Sohnes Gattin nicht empfange, dessen Habe werde der Beschlagnahmung verfallen und sein Name in die Liste der Verbannten eingetragen — nach der Sitte wiederum auf ewige Zeiten. Also mußten die Geschlechter damit rechnen, die verhaßte Hochzeit nicht länger hinauszögern zu können als bis zum ersten Ostertage. Sie fingen nun scheinbar an, sich zu fügen und die Einholung der Bräute vorzubereiten, aber dieses Fügen war viel unheimlicher als der bisherige Widerstand. Das waren sonderbare Fastenübungen, die jetzt bei den Geschlechtern von Florenz aufkamen! In allen Höfen und auf allen Türmen regte sich ein fieberhaftes Leben. Da wurden Waffen geschliffen und Harnische geputzt. Da wurden die Visiere der Helme geprüft und die Kettenhemden ausgebessert. Da rollte man die Banner auf, und selbst die schrecklichen Schleudermaschinen wurden aus ihren Verstecken hervorgezogen. Wenn aber jemand fragte, was dies sonderbare Tun bedeute, dann erhielt er immer nur die Antwort: man wolle die vom Popolo bestimmten Bräute mit großem Machtgepränge übergeben und empfangen. Im Volke aber raunte man sich zu: »Es ist ein gefährlicher Gedanke, unsere Geschlechter vermählen zu wollen. Gebt acht, dabei wird 35
etwas Schreckliches herauskommen! Wir fürchten, sie werden einander in der Brautnacht überfallen und erwürgen.« Nur die Kinder waren damals gläubigen und guten Mutes. Sie spielten jetzt auf einmal nicht mehr wie bisher das wilde Spiel ›Guelfe und Ghibelline‹, sondern sie spielten, wovon alle Welt sprach, sie spielten ›Hochzeit der Geschlechten. Da sah man täglich kleine, frohe Züge mit Gesang und Kränzen durch die Straßen ziehen, um Bräute abzuholen. Die Guelfenkinder holten Ghibellinenbräute und die Ghibellinenkinder Guelfenbräute ab. An der Arnobrücke bei dem alten Römermal trafen sich alsdann die Züge, und die kleinen Bräute wurden ihrem kindlichen Gemahl übergeben, das Gefolge aber tauschte Friedensküsse: alles, wie man es den großen Leuten anbefohlen hatte. Guidolino Cavalcanti erschien jetzt nicht mehr allein unter den Uberti-Türmen, sondern mit großem Gefolge: seine ganze kleine Turmgenossenschaft bis zum Kind des letzten Armbrustschützen zog hinter ihm drein. Er wartete auch nicht wie sonst das Dunkel ab, denn er brauchte Adaletta nicht zu fürchten, Adaletta kam jetzt überhaupt nicht mehr ans Fenster — sie konnte diese kleinen frohen Kinderzüge nicht ertragen, so hart bedrängte sie das Schicksal ihrer Tochter, das sich nun unabwendbar bald erfüllen mußte. Sie meinte immer, Bice werde sich noch einmal aus dem Fenster stürzen, wenn sie diesen Zug des kleinen Cavalcanti sehe, und sie müsse sie in ihre Arme nehmen und mit ihren Mutterküssen gleichsam festhalten. Aber Adaletta konnte ja schon lange nicht mehr küssen, also floh sie lieber in ihr einsames, abseitiges Gemach, wenn die Kinder kamen. Nur Conticino hob dann manchmal seinen dunklen Kopf über die Mauerbrüstung und äugte groß und starr, halb feindlich halb begehrlich, zu dem kleinen künftigen Schwäher nieder. 36
Er hatte nämlich seine großen Brüder sagen hören, er solle bei der Hochzeit der Geschlechter Bices Brautzug führen, und das hatte nun doch seinem Knabenstolz ein wenig wohlgetan — er wußte nicht, daß die Uberti, wenn sie solches sagten, nur die Cavalcanti vor sich selbst verhöhnen wollten. Also begann auch er sich, wie die ändern Kinder, nun zu freuen. Aber da geschah eines Tages etwas Schreckliches. Als der kleine Zug der Guelfenkinder wieder einmal singend durch die Straßen und bei den Uberti-Türmen vorbeizog — Guidolino rief sein wohlbekanntes: »Bice, wann kommst du?« —, da öffnete sich über ihm ein Fensterloch, und heraus flogen nicht etwa Adalettas steinwurfartige Flüche, sondern heraus flogen wirkliche Steine: Steine, dicht wie Hagelschauer, Steine, wie von einer jener schrecklichen Maschinen ausgeschleudert, Steine, deren Niederprasseln die armen Kinder drunten mitsamt ihrem Wehgeschrei zu Boden schmetterte. Einige von ihnen konnten noch mit blutigen Köpfen fliehen, andere blieben taumelnd unter den zerfetzten Kränzen und Girlanden liegen: da sah die ganze Gasse unter den Uberti-Türmen nur noch aus wie ein zerstampfter Blumengarten, über ihn hinweg erscholl das Hohngelächter der Uberti. Aber plötzlich hörten die Steinwürfe und das Gelächter auf, denn da unten, mitten unter den zerstampften Blumenkränzen und den am Boden hingestreckten Kindern, stand auf einmal eine Gestalt, welche die Uberti nicht zu sehen vermutet hatten. Sie stand da, als sei sie wirklich, wie es Adaletta immer fürchtete, vom Turm herabgesprungen oder aber auch herabgeweht, sie stand atemlos vom Lauf, die Arme flügelgleich weit ausgebreitet: zerbrechliche, ohnmächtige Mädchenarme, und doch hörten die Uberti plötzlich auf zu werfen, denn sie konnten doch nicht ihre eigene Schwester steinigen! — Sie starrten entsetzt 37
hinunter. Aber was sie da erblickten, das konnte doch unmöglich wahr sein! Mußte denn nicht Bice diesen Zug des kleinen Cavalcanti noch viel mehr verabscheuen als sie selber? Mußte sie nicht ihren Brüdern zujubeln, wenn sie ihn mit Steinen bewarfen? Sie trauten ihren Augen nicht — war denn das wirklich ihre Schwester Bice? Die Gestalt verharrte immer noch mit ausgespannten Armen, wie zur Salzsäule erstarrt, inmitten der zerfetzten Kränze und der schrecklichen kleinen Blutlachen. Sie verharrte, als ob sie sich überhaupt nicht mehr vom Fleck bewegen könne, sondern hier stehen bleiben wolle bis zum Jüngsten Tage als Denkmal einer unauslöschlichen Schande. Mitleidige eilten nun von allen Seiten herbei. Man zog den kleinen Cavalcanti unter Bices Mantel hervor — halb ohnmächtig, vor Angst und Schrecken stumm. Aber als man ihn von ihren Knieen lösen wollte — er hatte sich wie eine junge Katze daran festgekrallt —, erhob sich wiederum das wohlbekannte, aber, ach, nun ganz zerbrochene Stimmlein: »Bice, wann--.« Das zerbrochene Stimmlein ging in Schluchzen über. Alle Kinder fielen schluchzend ein — es war, als weine hier das ganze künftige Florenz zu Bices Füßen! Sie zuckte plötzlich auf und sah sich um; die ausgespannten Arme sanken nieder — sie bog sich zu dem Kind an ihren Knieen herab: »Geh, Guidolino, geh, laß dich nach Hause bringen — ich komme bald!« Sie küßte einer jungen Mutter gleich den Knaben auf die Stirne. Die Uberti droben auf dem Turm schrieen vor Zorn laut auf, aber im nächsten Augenblick wurden sie totenstill, denn die dort unten stand, das war ja wirklich nicht die Bice, die sie kannten, ihre kleine mädchenhafte, mütterliche Schwester, von der sie nie gewußt, warum sie sich eigentlich vor ihr fürchteten, sondern das war eine ganz andere, ihnen völlig unbekannte Bice 38
und doch eben die, welche sie immer geahnt, wenn sie sich vor ihr gefürchtet hatten — das war die Bice mit den gefährlichen Augen ihres Vaters! Sie hob die kleinen, zärtlichen Hände mit einer rührenden und zugleich fürchterlichen Gebärde und schüttelte sie zur Faust geballt gegen die Türme der Uberti und rief ihren Brüdern einen Fluch zu — nein, es war kein Fluch, es war der Name ihres Vaters: sie rief ihn einmal, zweimal, dreimal, immer wieder, und dabei war es, als richte sich da hinter ihrer kleinen zärtlichen Gestalt, die so hilflos ihre Hände ballte, ein ungeheurer Schatten auf und verschlüge ihnen allen den Atem, den Uberti auf den Türmen und den Leuten auf der Straße. Lautlos führten diese die verstummten Kinder hinweg, lautlos schlichen jene von den Türmen. Am anderen Tage sprach das Volk in ganz Florenz: »War es uns nicht, da dieses Mädchen seinen Brüdern mit dem Namen Farinatas drohte, als ob der Schatten desselben sich aus seinem Grab erheben wollte. Denn wahrlich, Farinata hat einst sein ganzes Geschlecht für unseren Frieden und den Frieden unserer Kinder aufgeopfert — wüßte er, was hier geschehen ist, er hätte keine Ruhe mehr in seinem Grabe!« Die ganze Stadt erbebte von der Untat der Uberti, und jedermann erwartete die Racheausbrüche der Guelfen. Aber sonderbarerweise blieb es totenstill. Nur geflüsterte Gerüchte irrten durch die Straßen, verflogenen und verschreckten Vögeln gleich, die einen Ausweg suchen. Die Brautgewänder der Geschlechter, hieß es, seien plötzlich fertig geworden, aber sie sähen kohlschwarz aus, als gehe es zu einer Leichenfeier. Und statt Kränzen würden alle Bräute Witwenschleier tragen, denn wahrhaftig, Witwen hofften sie alsbald zu werden! Weder mit Gesang 39
noch Flötenspiel, sondern mit nackten Schwertern wolle man den Paaren das Geleit geben, und wie sonst die Kirchenglocken, sollten nun die Kriegsglocken geläutet werden. Selbst dem Rat der Sechsunddreißig wurde angst und bange, aber stur, wie alle, welche diese Welt nach vorgefaßten Plänen meistern wollen, bestand er nun erst recht auf seinem Willen. Denn wenn irgendwo auf Erden ein Verhängnis reifen soll, dann befällt zwar die Beteiligten ein großes Zittern und Erblassen, aber keiner läßt von seinem Irrtum ab, sondern jeder setzt blindlings die Straße fort, die in den Abgrund führt. Unterdessen neigten sich die Fasten ihrem Ende zu. In den letzten Tagen derselben begannen die Leute plötzlich wieder in die Kirchen zu drängen und die, welche sich bisher damit gebrüstet hatten, der Herr Papst habe sie durch das Interdikt belehrt, daß man auch ohne Sakrament und Messe leben könne, die beteuerten jetzt am eifrigsten, sie wollten wieder Gott und seine Kirche ehren. Da erblickte man auf ihren Knieen viele, die man lange nicht mehr knieen sah. Denn es erhob sich in der ganzen Stadt ein großes Ängsten, ja, man kann wohl sagen, ein so großes Ängsten war noch niemals zu Florenz gewesen. Wie Verdurstete nach Wasser schreien, so beteten die Leute in den Kirchen um den Frieden der Geschlechter; »denn«, so sprachen sie, »was jetzt heraufdroht, das wird schrecklicher als alles, was wir schon erduldet haben! Soll denn wirklich unsere Stadt für eine Sache sterben, die, so scheint es uns, schon selbst im Sterben liegt?« Es war jetzt nämlich ruchbar geworden, daß die Astrologen des Guido Novello geweissagt hatten, das Gestirn der Staufer, welches seit dem Tode des Herrn Kaisers Friedrich unaufhaltsam sinke, werde sich nie wieder erheben, sondern, wenn der Knabe Konradin, auf den die Ghibellinen hofften, wirklich nach Italien 40
komme, so werde er daselbst elend zugrunde gehen. Bei den Geschlechtern lief daher das alte Munkeln um, der Novello werde von der Parte Ghibellina abfallen, das Volk von Florenz jedoch sprach abermals: »Bei den Türmen der Uberti, als die armen Kinder dort in ihrem Blute lagen, war es uns, als ob der Schatten Farinatas sich erhebe — es scheint, er hat den Untergang seines eigenen Geschlechtes verkündet, denn wenn der Novello von der Parte Ghibellina abfällt, kann diese nicht mehr kämpfen.« — Die Ghibellinen aber sprachen: »Die Astrologen des Guido Novello sind elende Lügner, man sollte sie ermorden.« Wenige Tage später wurde zu Santa Reparata ein Anschlag auf das Mäntelchen des kleinen Staufers verübt. Man fand es von der Wand des Atriums herabgezerrt, zerrissen und beschmutzt über dem Sarge Farinatas, diesen selbst mit Steinen und Mörtel überschüttet. Die ghibellinischen Geschlechter eilten zwar sogleich herbei, um die kleine, kostbare Reliquie wieder triumphierend aufzurichten, aber als sie von Santa Reparata zurückkehrten, rief man ihnen schon von allen Guelfentürmen zu: der Herr Papst habe verordnet, wenn der Knabe Konradin die Alpen überschreite, so solle er gebannt sein wie sein Ahn, der Kaiser Friedrich. Die ghibellinischen Geschlechter aber, die den Knaben Konradin gerufen hätten, die sollten schon von heute an gebannt sein, voran das ruchlose Geschlecht der Uberti. — Also erhob das Volk zum dritten Mal seine Stimme: »Ja, wahrlich, der Schatten Farinatas hat sich erhoben, um den Untergang seines eigenen Geschlechts zu verkünden, aber er hat auch unseren Untergang verkündet, denn ehe die Uberti und die Parte Ghibellina untergehen, lassen sie Florenz untergehen.« Am letzten Tage der Karwoche erschien zu Florenz ein fremder 41
Bruder, gekleidet nach der Weise des Armen von Assisi. Er ging vom Stadttor geraden Wegs nach Santa Reparata; dort auf dem Platz vor der Kirche, wo seit der Verkündigung des Interdikts noch immer die vielen Steinhaufen lagen, blieb er stehen, breitete die braunen Kuttenärmel aus und rief mit lauter Stimme: »Friede, Friede, versöhnt euch im Namen des gekreuzigten Gottes, der für die Versöhnung der Welt starb!« Die Vorübergehenden blieben kopfschüttelnd stehen und sprachen: »Woher magst du wohl kommen, Bruder, wenn du nicht weißt, daß es zu Florenz keinen Frieden gibt?« Der Bruder erwiderte: »Ich komme aus Sizilien, dort hat es auch keinen Frieden gegeben, wie es ja in ganz Italien keinen Frieden mehr gibt, sondern es gibt überall nur noch Guelfen und Ghibellinen. Einzig in Sizilien ist jetzt Friede, denn seit der Herr Anjou daselbst eingezogen ist, spricht niemand mehr von Guelfen oder Ghibellinen, denn er hat sie alle beide gleicherweise in die Kniee gezwungen. Also klagen sie nun miteinander, daß sie nicht einmütig gewesen seien, ihm zu widerstehen, solange es noch Zeit war. Und so wird es auch euren Geschlechtern ergehen — bald, bald wird es ihnen so ergehen: der Marschall des Herrn Anjou ist schon unterwegs nach eurer Stadt!« Alsdann rief der Bruder abermals: »Friede, Friede, versöhnt euch im Namen dessen, der für die Versöhnung der Welt starb! Erbarmt euch über eure eigene Stadt!« Die Leute sprachen traurig: »Unsere Geschlechter können keinen Frieden mehr machen. Sie streiten miteinander seit mehr denn fünfzig Jahren — man kann auch durch den Krieg den Frieden verlernen, wie man durch das Interdikt die Messe und das Heiligtum verlernen kann.« Der Bruder, sanft und heftig in einem: »Eure Geschlechter könnten sehr wohl Frieden haben, sie müssen nur Opfer bringen. 42
Wer Opfer bringen will, der kann zu jeder Stunde und in jedem Volk und Lande Frieden haben.« Darauf die Leute wiederum kopfschüttelnd: »Opfer bringen haben unsere Geschlechter nicht gelernt, keiner will von seiner Macht und seinem Vorteil lassen. Da möchten eher diese harten Steine von ihrem Platz weichen, ehe unsere Geschlechter den ihren aufgeben.« Nun erwiderte der Bruder nichts mehr, sondern er trat in ein Haus ein, entlieh dort einen Karren und begann die Steine, die vor der Kirchtür lagen, hinwegzusammeln. Dann schob er den gefüllten Karren vor das Tor und warf die Steine in den Stadtgraben. Als er von dort zurückkam, sprengte ein Reiter an ihm vorbei durch das Tor, der rief dem Wächter zu: »Führt mich auf dem schnellsten Wege vor den Rat der Sechsunddreißig, denn ich bringe eine Botschaft, die nicht eine Stunde Zeit verträgt. Jourdin de l'Isle, der Marschall des Herrn Anjou, steht bereits in der Toscana, und am Ostermorgen will er seinen Einzug zu Florenz halten!« Da ging einer der Wächter mit dem Boten, ihm den Weg zum Bargello zu zeigen, der fremde Bruder aber kehrte nach Santa Reparata zurück und fuhr fort, die Steine vor der Kirche wegzuräumen. Bice war nach dem Anschlag auf die Gruft ihres Vaters entsetzt nach Santa Reparata geeilt. Es war jetzt wieder still und leer dort geworden, die erschreckten Beter hatten sich verlaufen, selbst die spielenden Kinder, die Bice dort so oft getroffen hatte, fehlten — seit der Schandtat der Uberti ließen ihre Mütter sie nicht auf die Straße. Aber auch das Rieseln in den alten Mauern war verstummt, als habe hier, wie allenthalben zu Florenz, ein schrecklicher Zerstörungswille seine Vorbereitungen vollendet und halte nun — der Wirkung harrend — den Atem an.
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Die Flügeltür des Atriums stand nach dem Kirchenschiff hin offen. Man hatte einen Katafalk als Heiliges Grab darinnen aufgerichtet, denn es war Karsamstag. Die Todesruhe aus dem Kircheninneren strömte in das Atrium aus und vermischte sich mit der Todesstille der Gruft. Und dann war da noch eine andere tödliche Stille, die mußte wohl aus Bices eigenem Innern kommen. Bice lauschte jetzt nicht mehr auf das zarte Grüßen, das sie sonst an diesem Grabe zu empfangen glaubte — der Verstorbene schien ihr fern und stumm geworden. Es war nicht mehr, als ob er sie aus seiner Gruft hervor lautlos anrede, oder als könne sie sich ihm vernehmbar machen durch die edle Sprache des Schweigens, die sie von ihm erlernt hatte, es war fast so, als sei sie nun doch eine Patarenerin geworden, wie ihre Mutter Adaletta, und was da zwischen ihr und dem geliebten Vater vorgegangen schien, das sei ein bloßer Traum gewesen. Denn Bice selber wußte eben nichts davon, daß sich der Schatten Farinatas über ihr erhoben hatte, sie wußte nur, daß es ganz dunkel um sie her geworden war und immer dunkler wurde, so, als sei in ihrem Innern jede Hoffnung undurchdringlich eingehüllt. Und sie hatte doch ihr Herz unterworfen und den kleinen Cavalcanti angenommen. Sie hatte sich zu ihres Vaters Schwur bekannt, »denn«, so sprach sie bei sich selbst, »wie es mir war, da ich dieses Kind küßte, so muß es ihm bei Empoli gewesen sein, als er sich und sein Geschlecht für den Frieden der Vaterstadt aufgeopfert hatte, nur daß sein Opfer Sieg und Glück für diese Stadt bedeutete, das meine aber ist nur Ohnmacht und Vergeblichkeit«. Und Bice wußte jetzt auch, warum es so war. Da hing über dem Sarkophag das arme Mäntelchen des kleinen Staufers, von den Händen ihrer Brüder wieder an die Wand des Atriums geheftet, und täuschte die winzige Nachbildung eines mächtigen Königsmantels vor, aber wenn man genauer hinsah, 44
so ward man inne, daß es von oben bis unten zerfetzt war. Die Ärmel, sonst wie schützend ausgebreitet, hingen schlaff herab und klafften auseinander. Von dem feinen Krägelchen war der Hermelin herabgerissen, da schimmerte nur noch das rote Futtertuch — es sah aus, als liefe ein Streifen Blut rund um den zierlichen Knabenhals, zu dem das Krägelchen gehörte. Bice mußte bei seinem Anblick wieder an die Blutlachen unter den Türmen ihrer Brüder denken: was war das für eine Welt, in der man unschuldige Kinder steinigte und kleine Knaben mit Bannfluchen bedrohte! — Da gab in ihrem Innern eine Stimme Antwort: das ist nicht irgendeine Welt, neben der es auch noch eine andere geben könnte, etwa ihre eigene, Bices Welt, wo alles Lebende sein zartes, unveräußerliches Recht besaß, die kleinen Hunde und Katzen so gut wie die kleinen Bäume, und nun gar die kleinen süßen Kinder! Sondern die wirkliche Welt, das war die Welt, wo man alles Lebendige ungestraft zertreten durfte, das holdeste Blütenbäumchen und das lieblichste Kind, sobald es einer grausam-bösen Macht gefiel. Die wirkliche Welt, das war nicht Bices Welt, sondern die Welt, über die Bice so oft gelächelt hatte, wenn sie ihren waffenklirrenden Brüdern eine schnippische Antwort gab. In der wirklichen Welt, da regierte nicht ihr kleines, mädchenhaftes, mütterliches Herz, sondern da regierte das herzlose Geschlecht des Mannes, und der Mann, das waren ihre wilden Brüder, das war der nackte Wille zu Gewalt und Macht, das war die ständige Bereitschaft zur Zerstörung, der böse und verzeihungslose Drang von einem Krieg in den ändern. Nur ein Mann war gewesen, der diese seine eigene Welt durchbrochen hatte, und den ließen sie im Banne sterben, daß er nun nicht einmal mehr im Grabe friedlich schlafen durfte! Das kam Bice heute noch viel härter an als sonst, denn morgen liefen doch die Fasten ab, und der schauerliche Tag brach an, vor 45
dem die ganze Stadt erbebte — keiner wußte, ob er dessen Abend überleben, keiner, was alsdann mit diesem Grab geschehen werde! Und nun mußte Bice sich von diesem schutzlosen, geliebten Grabe trennen! Trostlos bei sich selbst: »Ich wollte doch die Hoffnung meines Vaters sein und vermag nicht einmal mehr sein armes Grab zu schützen!« Als sie das Atrium verließ, war der Bruder immer noch beschäftigt, die Steine von der Kirchtür fortzuschaffen. Bice verabscheute wie alle Uberti die Priester und Mönche, denn durch sie war der fürchterliche Bannfluch über Farinata ausgesprochen worden. Aber als sie diesen Mönch bei seinem Werk erblickte, wandelte sie das Verlangen an, ihm zu helfen. Denn was jener da beiseite schaffte, das waren doch die bösen Steine, mit denen man das Grab ihres Vaters verunehrt hatte — wenn sie dem Bruder half, sie fortzuräumen, so konnte sie vielleicht noch etwas zum Schütze der verlassenen Gruft tun. Sie begann sich nach den Steinen zu bücken. Der Bruder bemerkte es und sprach sie freundlich an: »Gott segne Euch, liebe Jungfrau, weil Ihr mir bei meinem guten Werk behilflich seid.« Bice erwiderte abweisend: »Ich bin nicht Euch und Eurem Werk behilflich — was ich tue, tue ich für meines Vaters Gruft, die man mit diesen bösen Steinen verunehrt hat und mit ihnennochmals verunehren könnte.« Der Bruder horchte auf, dann zögernd: »Ihr sprecht von einer Gruft, die man verunehrt hat, seid Ihr etwa die Tochter Farinatas?« Bice erwiderte trotzig: »Ja, ich bin die Tochter dessen, den ihr Priester in die Hölle verdammt habt — also dürfen alle Steine, die hier vor der Kirchentüre liegen, ungestraft auf seine Gruft geworfen werden.« 46
Darauf der Bruder seufzend in sich selbst hinein: »Ja, weiß Gott, es liegen Steine vor der Kirchentüre.« Alsdann zu Bice gewandt, mitleidig: »Ob Euer Vater in der Hölle ist, das weiß nur der allwissende Gott, aber ich weiß dieses: die Hölle, die beginnt schon hier auf Erden, und diese Hölle, die auf Erden ist, die hat Euer Vater besiegt, da er zu Empoli sich und sein Geschlecht für die Rettung dieser Stadt geopfert hat, dazu die Ruhe seines künftigen Grabes — also grämt Euch nicht zu sehr, wenn sie dasselbe verunehren. Euer Vater selber würde auch noch heute willig seinen Staub in alle Winde streuen lassen, hätte er die Hoffnung, damit seine Stadt zum zweiten Mal zu retten.« Bei dem Worte ›Hoffnung‹ füllten Bices Augen sich mit Tränen — Bice fühlte doch nun fast wie eine Patarenerin. Mit abgewandtem Antlitz: »Mein Vater kann nichts hoffen, er ist tot.« Wiederum der Bruder: »Was heißt tot, liebe Jungfrau? Morgen ist das Fest des Auferstandenen.« Sie, fast heftig: »Wir Uberti haben keinen Teil an eurem Auferstandenen — der Herr Papst hat unser ganzes Geschlecht gebannt.« Darauf der Bruder schnell: »Aber der Auf erstandene war selbst ein Gebannter. Es sind nicht die Gottlosen, es sind die Frommen seiner Zeit gewesen, die Christus ans Kreuz schlugen. Und darum tröstet Euch, liebe Jungfrau: auch Gebannte können Gottes Werkzeug sein — Euer Vater war es, und Ihr könnt es werden.« Nun glaubte Bice, daß der Bruder sie verhöhne, so tief mißtraute sie jedem geistlichen Mund. Verzweifelt, wie sie sich fühlte: »Mein Vater war ein Mann, und ich bin nur ein schwaches Weib. Gott will meinesgleichen nicht zum Werkzeug.« Abermals sah sie der Bruder mitleidig an, sie bemerkte das aber nicht, denn sie selber würdigte ihn keines Blickes. Indessen er: 47
»Ihr solltet nicht klagen, Jungfrau, weil Ihr ein Weib seid — das Weib ist sehr mächtig, große, wenn auch stille Dinge sind ihm anvertraut. Es ist der Mutterschoß alles Lebendigen — der Mann wird vom Weibe geboren, so gewiß, wie ihm Eva den Apfel und die Jungfrau Maria ihm die Barmherzigkeit Gottes geschenkt hat.« Bice hätte sich schon lange gern davongemacht, aber sie fühlte eine schlimme Lust, den Bruder zu kränken. Sie sprach: »Ihr seid sicherlich ein heiliger Mönch, aber ich kann Euch nicht verstehen, meine Mutter hat mich Eure Sprache nicht gelehrt, denn da sie sich noch zu den Frommen zählte, da war ich ein sprachloses Kind, und als ich sprechen konnte, hatte man den Vater schon gebannt, also haßte sie die Frommen und die Frömmigkeit — wahrlich, meine Mutter hat die Kirche ebenso mit ihrem Haß verfolgt, wie diese uns verfolgte! Da ist eine Mutter der ändern nichts schuldig geblieben.« Der Bruder erwiderte geduldig: »Ihr kommt immer wieder auf die Bannung Eures Vaters, liebe Jungfrau. Wißt Ihr aber auch, wie es bei dieser Bannung zugegangen ist?« Bice wußte es nicht, sie schwieg also verstockt. Der Bruder aber fuhr fort: »Euer Vater saß mit seiner Freundschaft und mit seinem Hausgesinde beim frohen Mahl, als ihm der Bannbrief des Herrn Papstes überbracht wurde. Da nun der Bote ihn verlesen hatte — diesen fürchterlichen Bann, darinnen alles verflucht wurde, was Euer Vater sein eigen nannte, einzig um desselben Treue willen gegen den Herrn Kaiser Friedrich — da hat sich Euer Vater feierlich von seinem Sitz erhoben, den gefährlichen Blick, den er haben konnte, wenn ihm jemand im Wege stand, geradenwegs zum Himmel gerichtet, die Hand gegen denselben erhoben, das Antlitz weiß bis in die Lippen, diese schon zum schauerlichen Widerfluch geöffnet gegen den, der ihm geflucht, 48
und gegen Den im Himmel, der es zugelassen. Aber noch bevor er sprechen konnte — denn der Zorn erwürgte ihm beinahe die Stimme — da hat sich auch seine Mutter, die gute Frau Gualdrada, von ihrem Sitz erhoben und ist auf ihren Sohn zugekommen, beide Arme ausgebreitet, und hat ihn an ihr Herz gedrückt lange — lange. Und dann — denn das Gesinde wagte doch zuerst nicht, Farinata zu bedienen — dann hat sie, die alte, gebrechliche Frau, ihrem Sohn selbst aufgewartet, ihm die Speisen vorgelegt und ihm den Becher gefüllt. Sie hat ihn an seine Lippen geführt — denn seine Hände konnten ihn vor Schmerz und Zorn nicht halten — und hat ihm jede Ehrfurcht erwiesen, die einem edlen Menschen gebührt, und jede Liebe angetan, die sie nur hat ersinnen können. Und zuletzt hat sie ihm die Hand aufs Haupt gelegt und mit ihrer sanften Stimme laut und klar den mütterliehen Segen über ihn gesprochen. Und von alledem ist dieser gewaltige Mensch so erschüttert worden, daß er den Widerfluch nicht mehr über die Lippen gebracht hat, sondern es ist gewesen, als falle da ein mildes Licht für immerdar in seine Seele. Also sprechen wir von Farinata dieses wunderbare Wort: in der Stunde, da der unbarmherzige Bann auf ihn fiel, da ist sein Herz reif geworden für die Barmherzigkeit. Die Frau Gualdrada hat ihn so fest an das ihre gedrückt, daß es ihn sein ganzes Leben nicht mehr losgelassen hat. Versteht Ihr nun, was ich von der Macht des Weibes gesagt habe? Mir scheint, sie ist in dieser Stunde stärker gewesen als der Fluch des Herrn Papstes und seiner Kirche.« Bice hatte während dieser Rede ihre großen lichten Augen staunend aufgeschlagen und den Bruder zum ersten Mal voll angeblickt. Er hatte ein plumpgeschnittenes Mönchsgesicht, schroff gleich der Landschaft eines rauhen Felsentales, zerklüftet wie von einem schweren Erdbeben, darüber aber war ein mildes 49
Licht ergossen. Sie sprach bei sich selbst: »Die Priester und Mönche sind verschlagen, laß dich nicht von diesem irre machen, vielleicht daß er dich fangen möchte.« Alsdann spöttisch: »Woher wißt Ihr, Bruder, was Ihr mir da erzählt habt? Seid Ihr etwa dabeigewesen, als man meinem Vater den Bannfluch brachte?« Da ging ein scheues, edles Rot über das zerklüftete Gesicht des Bruders: »Ja, es ist einer dabeigewesen, nämlich der, welcher den Bannfluch überbrachte. Er kam in Eures Vaters Saal hinein, aber er ist nicht wieder herausgekommen, sondern herausgekommen ist ein anderer Mensch — der welcher dabei war, als die Frau Gualdrada Euren Vater segnete. Und nun will ich Euch noch ein letztes Wort sagen: nicht die Frau Gualdrada war in jener Stunde stärker als der Papst und seine Kirche, sondern in jener Stunde war die Kirche in der Frau Gualdrada stark.«--Während dieser Rede hatte der Bruder die letzten Steine vor der Tür von Santa Reparata eingesammelt. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann breitete er nochmals seine braunen Kuttenärmel aus und rief mit lauter Stimme: »Friede, Friede! Erbarmt euch über eure Stadt in letzter Stunde!« Dabei sah er sich um, ob niemand mehr gekommen sei, um seine Botschaft zu vernehmen. Aber es war niemand da als Bice. Da segnete der Bruder diese, alsdann machte er sich auf, die letzte Steinlast vor das Tor der Stadt zu schieben. Bice aber sprach in ihrem Innern: »Was soll ich wohl mit dem beginnen, was mir dieser Bruder sagt? Ich bin keine Frau Gualdrada, denn ich habe über niemand Macht als über ein hilfloses Kind.« Als Bice die hochgetürmte Stadtburg ihrer Brüder betrat, hörte sie schon auf der untersten Treppenstufe das Geräusch vieler Stimmen. Die Häupter der ganzen Ghibellinengeschlechter waren bei den Uberti versammelt, denn der Rat der Sechsunddrei50
ßig hatte von Turm zu Turm verkünden lassen, daß der Marschall des Herrn Anjou bereits dicht vor Florenz stehe. Er hatte auch versucht, die feindlichen Geschlechter zu beschwören, sich im Bargello zu versammeln, damit man miteinander die Verteidigung der Stadt erwöge. Aber die Geschlechter hatten dies verweigert: die Guelfen jubelten, sie wollten dem Herrn Marschall als ersehntem Hochzeitsgast die Tore öffnen — die Ghibellinen schwuren, ihm dieselben zu verschließen und den Guelfen einen Festschmaus zuzurichten, von dem sie nicht so bald wieder aufstehen würden. Und nun tagten die Parteien getrennt, die Ghibellinen bei den Uberti, die Guelfen bei den Adimari, aber niemand erwog das gemeinsame Schicksal, sondern jeder ratschlagte mit den Seinen, wie er den ändern vernichten könne. Drunten in den Höfen der Burg traf man die letzten Vorbereitungen zum Kampf — von Zeit zu Zeit erklirrte eine Waffe. Aber auf den Treppen des Langhauses zwischen den beiden großen Türmen war es leer. Man hatte alle Diener fortgeschickt, so geheimnisvoll ging man zu Werk. Adaletta selber saß an der Kredenz, um den Versammelten Wein einzuschenken. — Als Bice an der Tür der großen Halle, wo sie tagten, vorbeikam, wäre sie beinahe über Conticino gefallen. Er kauerte dort auf dem Boden, das Ohr gegen die Schwelle der Tür gepreßt, das zu ihr aufgehobene Gesicht von Scham und Wut entstellt, denn seine Brüder hatten ihm gesagt, er sei ein Kind und dürfe nicht bei dem Geschlechterrat zugegen sein. Und Conticino hatte doch ihr Spottwort ernst genommen, daß er morgen Bices Brautzug führen solle, also sich als anerkannter Großer fühlen dürfe! Während sie sich zu ihm beugte, fühlte sie, wie er unter der Gewalt seines kindlichen Zornes bebte. Sie kauerte sich bei ihm nieder und drückte seinen wirren, dunklen Schöpf an ihre Wange: »Sei ruhig, Conticino, du und ich, wir hören draußen zu.« Also 51
lehnte sich — so meinte sie — wieder einmal eine Ohnmacht an die andere. Unter den Versammelten in der Halle fehlte nur noch Guido Novello. Das machte die Uberti so wunderlich beklommen, das brachte sie zum ersten Mal auf den Gedanken, den sie niemals hatten denken wollen, auch sie könnten einmal im Kampfe unterliegen — nein, an Unterliegen hatten sie nie denken wollen, nicht als der Bann sie traf und nicht als der Herr Papst den kleinen Staufer mit dem Bann bedrohte. Denn gebannt waren sie ja schon viele Male gewesen — das machte ihnen wenig aus, aber wenn Guido Novello, der über die deutschen Soldritter befahl, sie im Stich ließ, das konnte gefährlich werden! Es ist aber etwas Furchtbares, wenn die Uhr einer Zeit abläuft und die in ihr mächtig Gewesenen zu ahnen beginnen, daß ihre Stunde naht und die Geister des Untergangs ihnen winken. Alsdann bäumt sich ihr Lebenswille auf wie nie zuvor, und die Urgewalten ihres Schicksals steigen empor, und die Urgesetze ihres Seins erscheinen, also daß zuletzt noch einmal alles offenbar wird, was es um ein Geschlecht war und ist und wofür dasselbe sterben und was es zu verraten vermag. — Sie hatten nun begonnen, ihre waffenfähigen Männer aufzuzählen, um die Scharen für den morgigen Kampf zu verteilen. Man rief einen Namen um den ändern auf, und jeder der Anwesenden nannte die Zahl derer, über welche er gebot. Als man zu Guido Novello kam, trat Schweigen ein — er war noch immer nicht erschienen. Sie wollten sichs nicht eingestehen, also versuchte da einer für den Abwesenden zu sprechen: »Sodann haben wir noch die fünfhundert deutschen Soldritter, über welche Guido Novello befiehlt.« Aber schon erhob sich eine andere Stimme langsam und bedeutungsschwer: »Haben wir sie wirklieh noch?« Dabei blickten alle die Uberti-Brüder an, denn diese 52
hatten verlauten lassen, sie wüßten ein Mittel, um den Novello an die Parte Ghibellina zu binden, darüber verlangten die andem nun Auskunft. Die Uberti hatten sich seither nicht wieder zu Guido Novello getraut, um ihm ihre Schwester anzubieten, denn Bice war noch immer nicht von ihnen um ihr Einverständnis befragt worden, auf dem der Novello damals bestanden hatte. Denn die Uberti fühlten ja doch diese sonderbare Scheu vor ihrer Schwester, und seit sie ihnen jüngst gedroht hatte, wußten sie auch, weshalb. Aber daran durften sie in diesem Augenblick nicht denken! Und nun sagen wir noch einmal: es ist etwas Furchtbares, wenn die Uhr einer Zeit abläuft und die in ihr mächtig Gewesenen zu ahnen beginnen, daß die Gestalten des Unterganges ihnen winken. Wahrlich, es gibt alsdann nichts Verratbares, das nicht verraten werden kann! Wie ein sinkendes Schiff den letzten Ballast über Bord wirft, so warfen die Uberti nunmehr Scheu und Scham beiseite. Sie erröteten nicht, im offenen Saale auszusprechen, sie wollten ihre Schwester dem Novello zuführen, wenn sie auf ihn und seine Ritter zählen könnten. Aber auch die Hörenden erröteten nicht, diese stolzen Geschlechterhäupter, die täglich ihre Ehre im Munde führten, lauschten den Uberti ohne Widersprach, gierig nach der Rettungsplanke, die sie ihnen zuwarfen. Nur Adaletta hob ein wenig das verblichene Antlitz. Sie hatte bisher fast regungslos dagesessen, so, als sei sie ganz allein in ihrem kleinen, abseitigen Gemach, fest eingehüllt in ihren großen grauen Mantel, denn sie fror selbst hier, wo doch die vielen hitzigen Menschen waren. Sie nahm auch gar nicht teil an dem, was um sie her verhandelt wurde — die Männer planten wieder einmal Kampf und Mord, so war es immerdar gewesen und so würde es wohl immer bleiben; da brauchte Adaletta wahrlich nicht mehr hinzuhören! Aber als nun plötzlich Bices Name fiel, 53
zuckte sie zusammen und lauschte zu den Männern hinüber. Und auf einmal wurde Adalettas verblichenes Gesicht hochrot, sie sprang so heftig auf, daß ihr der große graue Mantel von den Schultern auf die Erde fiel. »Ihr unseligen Männer,« rief sie mit gellender Stimme, »erst habt ihr eure Schwester an ein Kind verkuppeln lassen, und nun wollt ihr sie auch noch zur Dirne machen!« Die Uberti stellten sich harmlos: wie sich nur die Mutter so erregen könne? Man denke heut nicht mehr so streng wie in den vorigen Tagen. Warum sollte Bice nicht die Geliebte eines schönen, vornehmen Mannes werden, wenn sie doch Macht über ihn habe? Adaletta: »Weil sie die Tochter ihres Vaters ist!« Aber das hörte niemand mehr, denn bei den letzten Worten der Uberti hatten alle von der Tür her oder hinter dieser einen leichten Schrei vernommen — war es Jubel oder Schrecken, der ihn färbte, oder beides in einem? Die Häupter der Geschlechter sahen sich betroffen an — sie hatten doch gemeint, hier unbelauscht zu tagen. Einer wollte sich erheben, um die Tür zu öffnen, aber schon ward sie von der andern Seite aufgetan, und Bice stand in ihrem Rahmen: nicht die kleine, mädchenhafte Bice, die sie alle kannten, auch nicht die unheimliche Bice, die ihren Brüdern jüngst gedroht, aber auch nicht die verzweifelte, die noch eben vom Grabe ihres Vaters Abschied genommen hatte, sondern da war abermals eine ganz neue, allen völlig unbekannte Bice! Sie ging mit großer, freier, freudiger Gebärde ohne alle Scheu vor den vielen fremden Männern durch den ganzen dichtgedrängten Raum auf die Uberti zu, blieb vor ihnen stehen und fragte mit heller Stimme allen vernehmbar: »Ist es wahr, meine Brüder, daß ich Macht über Guido Novello habe?« Sie starrten sie wie eine Erscheinung an, entsetzt vor Überraschung. Dann nahmen die Uberti sich zusammen: »Bice, der 54
Novello hat dich schon vor Jahren zum Gemahl begehrt, unser Vater hat dich ihm verweigert, aber er begehrt dich immer noch. Wenn wir dich in seine Arme führen, so dürfen wir von ihm verlangen, was uns in dieser Stunde frommt, und was dies ist, das hast du eben selbst vernommen — wir können ohne den Novello und sein deutsches Ritterheer nicht kämpfen. Wir haben aber auch an dich gedacht, denn wir wollten dir längst einen Geliebten zuführen, der dich über diesen lächerlichen Ehevertrag tröstet.« Bice: »Und ist dieser Guido Novello derselbe, der unserem Vater bei Montalperto das Leben gerettet hat, und dem er diese Stadt auf seinem Sterbebette anvertrauen wollte?« Die letzte Frage hörten die Uberti nicht gern, denn Farinata hätte damals doch nach ihrer Meinung seine Söhne rufen sollen. Sie wollten auffahren, aber das durften sie in diesem Augenblick nicht wagen — es war ihnen ohnehin nicht ganz wohl zumute, denn was würde geschehen, wenn sich Bice ihrem Plan verweigerte — die Gezwungene hätte der Novello wiederum verweigert, das hatte er ihnen deutlich zu verstehen gegeben. Sie sagten also etwas unsicher: ja, das sei derselbe Novello, welcher ihrem Vater bei Montalperto das Leben gerettet habe. Darauf Bice ohne Besinnen: »Also führt mir Guido Novello zu — schnell, schnell, meine Brüder, führt ihn mir zu!« Dabei verklärte sich ihr junges Antlitz wie das einer glückseligen Braut an ihrem Hochzeitstage. Und doch schauerte es ihre Brüder plötzlich wieder so eigen vor ihrer Schwester — und obwohl sie nun mit gutem Grund an ihre Rettung glauben konnten, war ihnen fast zumut, als seien sie in Wirklichkeit verloren. Indessen hatte Adaletta sich zu Bice durchgedrängt. »Hört sie nicht an,« rief sie ihren Söhnen zu, »sie weiß nicht, was sie redet!« Alsdann Bices Hand ergreifend: »Her zu mir, Mädchen, sonst bist du nicht mehr Farinatas Tochter!« 55
Bice hell und klar, daß alle es verstanden: »Mutter, ich bin es so gewiß wie nie zuvor!« Sie machte sich von Adaletta los und wandte sich wieder an ihre Brüder: »Führt mir Guido Novello zu!« Nun hatten diese endlich ihren Schauder abgeschüttelt. Die ganze Versammlung begriff, was es bedeutete, daß Bice eingewilligt hatte. Sie erhoben sich und riefen ihr von allen Seiten zu: »Recht so, Mädchen, zieh dich schön an und laß dich schmükken! Du sollst mit dem Novello glücklich sein und ihn kräftig an uns binden!« Bice abermals ganz hell und klar: »Ich werde ihn binden.« Man hat sich später vielerlei über den Auszug des Guido Novello aus Florenz erzählt: der Novello sei im Bann seiner Astrologen gewesen, schon lange zum Abfall entschlossen, ein Wissender um die Gestirne einer abgelaufenen Zeit. Andere haben vorgebracht, daß er durch den Anjou bestochen, oder gar, daß ihm das eigene Herz entsunken sei. Dieses alles ist nicht wahr, sondern wahr ist, was wir jetzt erzählen werden. Die Uberti hatten das einstige Schlafgemach ihres Vaters herrichten lassen, das Jahr und Tag verschlossen gewesen war, denn dem schreckhaften Gesinde graute immer noch vor dem im Bann Verschiedenen und vor der toten Frau Gualdrada, die damals zu dem Sterbenden hereingeglitten war. Da stand nun Guido Novello und wartete auf die Geliebte. Er trug ein prächtiges Gewand, rot mit goldenen Säumen, das hatte er an seinem Hochzeitstag getragen, aber er dachte nicht an seine Hochzeit und an sein Gemahl, er dachte nur an die kleine, mädchenhafte Bice, die er schon jahrelang begehrte. Das hatte Guido Novello selbst manchmal verwundert, daß er dies heftige Begehren nach Bice trug, er hatte doch gemeint, daß es erlöschen 56
werde, als er sich im Zorn und Groll von ihrem Vater abgewandt, aber es war nicht erloschen, es war nur immer stärker geworden — fast als könne dieser Groll und Zorn gegen den Vater sich nur im Triumph ihres Besitzes erfüllen. Und nun sollte ihm dieser Triumph zuteil werden. Der Novello sah sich um: das war derselbe Raum, in den sein großer Meister ihn so oft gerufen hatte, wenn die drängenden Geschäfte ihn bei Nacht nicht schlafen ließen. Da stand das feierliehe Ehebett, darauf Farinata einst an der Seite Adalettas geruht harte, aber das war lange her gewesen — Adaletta ruhte damals schon seit Jahren in ihrem kleinen abseitigen Gemach, denn wie heiß sie ihren Gatten auch geliebt, so eiskalt hatte es die Fromme doch vor dem Gebannten durchschauert. Und Adaletta war doch ehedem so fromm gewesen! Also hatte Farinata keine andere Schlafgenossin mehr gehabt als die Stadt Florenz, die hielt er gleichsam jede Nacht an seine Brust gedrückt, und die war auch bei ihm gewesen, als der Novello seinen Meister hier zum letzten Mal erblickt hatte. Das war damals gewesen, als die Todeskrankheit den scheinbar noch Rüstigen und Starken bereits zu umschleichen begann, also damals, da derselbe langsam innewerden sollte, daß Gnade am Feind üben ein gefährliches Ding ist und dem Werk des Gnade Spendenden den Untergang bedeuten kann. Denn Gnade vom Feind empfangen ist ja noch viel gefährlicher, das kann den Begnadeten reizen, mit dem Untergang seiner Seele zu spielen! Und mit diesem hatte ja der undankbare Guelfe Chiatta Ubaldini damals auch gespielt. Farinata hatte den Empörer nicht mehr niederkämpfen können, er hatte seinen jungen Freund damit betrauen müssen. Der Novello war an seines kranken Meisters Lagerstatt herangetreten in der ganzen unbekümmerten Pracht seines jungen grausamen Sieges: in der Rechten den blutgetränkten Hand57
schuh des Chiatta Ubaldini, dem er den Arm zerschmettert hatte, in der Linken einen Strauß von welken Wurzelfasern, zusammengebunden zu einer wilden, scheußlichen Trophäe — sie stellte sieben Vignien der Ubaldini dar, in denselben war kein einziger Rebstock und kein einziges junges Obstbäumchen unversehrt geblieben —, Guido Novello hatte ihnen allen die Wurzeln abschneiden lassen. Guido Novello — er hielt das Kinn herrisch vorgestreckt, sein schönes, braunes Gesicht strahlte: »Ich habe die Besiegten behandelt wie die Verbrecher! Sie werden sich niemals mehr von ihrer Niederlage erholen! Nie wieder werden ihre Vignien mit den unsern in Wettstreit treten, nie wieder werden ihre Ernten die unseren übertreffen, und nie« — er zog drei rußgeschwärzte Steine aus der Tasche —, »nie werden ihre verbrannten Kastelle sich wieder erheben: dies ist alles, was von ihnen übrig blieb! Und die darinnen hausten, hüten meine Burgverliese.« Und nun — so meinte der Novello — konnte ihm doch Farinata seine Tochter, um die er schon so oft geworben, nicht mehr verweigern! Aber da hatte ihn auch schon der gefährliche Blick seines Meisters getroffen, dieser wohlbekannte Blick, der jeden traf, der um Bices Hand zu werben wagte — ein Blick nunmehr aus todkranken Augen. Also trat ein langes, böses Schweigen ein. Endlich der junge Novello: »Messer Farinata, ist es denn wirklich wahr, daß Ihr Eure Tochter keinem Manne gönnt? Ihr seht mich an, als ob Ihr mich ermorden wolltet, aber auch wenn Ihr mich ermorden wollt, währet Ihr mir doch die Wahrheit schuldig. Habe ich Euch nicht bei Montalperto das Leben gerettet? Nennt Ihr mich nicht Euren Sohn und bin ich nicht der Treueste Eurer Treuen seit Empoli bis auf den heutigen Tag?« — Wieder langes Schweigen. Endlich Farinata mit schwerer Stimme, denn er wußte wohl, daß 58
er Guido Novello die Wahrheit schuldete — er war der Treueste seiner Treuen: »Ihr sprecht von Empoli, mein junger Freund, wißt Ihr auch noch, was ich daselbst geschworen habe?« Guido Novello: Damals habe Farinata geschworen, lieber wolle er mit seinem ganzen Geschlecht untergehen, ehe die Stadt Florenz untergehen dürfe. Farinata: »Recht so, Guido Novello! Und nun: Ihr wollt mein Sohn sein und der Treueste meiner Treuen, könnt Ihr also schwören, was ich zu Empoli geschworen habe?« Darauf der junge Novello betroffen: »Messer Farinata, wenn einer freien will, dann willigt er nicht in den Untergang seines Geschlechts, sondern er begehrt dessen Zukunft und Leben.« Traurig, denn er liebte seinen Meister über alles: »Was Ihr zu Empoli geschworen habt, das kann ich nicht schwören.« Farinata: »Ich weiß, daß Ihr es nicht könnt, denn wenn Ihr es könntet, dann müßtet Ihr jetzt Eure Guastatori anweisen, daß sie niemals mehr die Hand an die Obstbäume und Reben Eurer Feinde legen, und es dürfte Euch auch nicht bekümmern, wenn die Ernten der Besiegten wiederum in Wettstreit mit den unsern treten. Und dann müßtet Ihr auch den Chiatta Ubaldini aufsuchen und die blutige Hand, die Ihr zerschmettert habt, verbinden helfen und ihm die Eure brüderlich darreichen. Und Ihr müßtet auch Beistand leisten, die zerstörten Burgen wieder aufzubauen, und vor allem müßtet Ihr in Euren eigenen Kastellen die Falltüren der schrecklichen Verliese zumauern, damit Ihr nie mehr in Versuchung kämet, dort die besiegten Feinde schmachten zu lassen. Ja, das alles müßtet Ihr tun, Guido Novello, wenn ich Euch nämlich meine Tochter geben soll, denn wofern Ihr das nicht könntet, würdet Ihr das zärtliche Herz derselben zerstören wie die Wurzeln der jungen Obstbäume, denn meine Tochter Bice, die könnte einmal schwören, was ich geschworen 59
habe, und dann möchte es geschehen, daß Ihr von ihren Tränen hinweggespült würdet wie die zu Empoli von den meinen.« Der Novello: »Pah, die Tränen will ich ihr vom Antlitz küssen — was bedeuten eines Weibes Tränen?« Farinata: »Da habt Ihr recht, mein junger Freund, eines Weibes Tränen bedeuten wenig, und auch eines Weibes Barmherzigkeit bedeutet wenig, aber wenn ein Mann barmherzig wird, dann bewegt sich die Welt!« Guido Novello: »Allein die Weltbewegt sich nicht, Messer Farinata — Ihr habt die Gnade umsonst zu Empoli verschwendet, in den Ubaldini haben Euch die Guelfen Eure Gnade schlecht gelohnt.« Farinata: »Doch, die Welt hat sich bewegt, mein Freund — Florenz lebt. Wir haben nur den Preis dafür noch nicht bezahlt. Versteht Ihr, was ich damit sagen will?« Guido Novello: »Wenn ich das verstünde, Messer Farinata, dann würde ich mich ja dennoch zu Eurem Schwur bekennen, zu dem ich mich doch nicht bekennen kann! Und dann würde nicht nur mein Geschlecht, dann würde auch die ganze Parte Ghibellina untergehen.« Darauf Farinata, den todkranken gefährlichen Blick auf Guido Novello gerichtet: »Glaubt Ihr, daß Florenz vor dem Untergang gerettet werden kann, außer es geht entweder die Parte Guelfa oder die Parte Ghibellina unter?« Der junge Novello ohne sich zu besinnen: »Alsdann will ich, daß die Parte Guelfa untergeht.« Farinata: »Es werden beide untergehen. Aber was als Parte Guelfa oder Parte Ghibellina untergeht, das wird als Florenz leben.« Darauf hatte er den Novello entlassen, dieser war im Schmerz und Zorn aus dem Gemach gestürzt und hatte es seither nie wieder betreten.
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Das alles stand lebendig vor der Seele des Novello, als er jetzt auf Bice wartete. Die Demütigung von einst lag in ihm bloß wie eine offene Wunde, doch ihr Schmerz ward übertäubt durch den Triumph, daß er die Begehrte nun dennoch erlangen werde. Er sprach in seinem Innern: Ich habe den großen Farinata überwunden, denn ich werde seine Tochter besitzen! Die er mir als Gattin abgeschlagen, die hat nun selbst eingewilligt, meine Geliebte zu werden. Er kann es nicht verhindern, denn er ist tot, ich aber lebe! Hier in demselben Raum, in dem er sie mir einst verweigert hat, wird sie mein Eigen werden! Indem tat sich die Tür auf, und Bice trat herein. Sie war nicht geschmückt, wie ihre Brüder es verlangt hatten, dazu war gar keine Zeit mehr gewesen, denn die Stunde drängte, die Gefahr glich einer überreifen Frucht, die sich jeden Augenblick vom Baum des Schicksals lösen konnte — die Boten, welche Stunde um Stunde heransprengten, meldeten, der Marschall des Herrn Anjou reite die ganze Nacht. Die Uberti-Brüder gingen rechts und links von ihrer Schwester, nur Conticino fehlte, den hatten sie wohlweislich nicht mitgenommen — der törichte Knabe glaubte immer noch an den Brautzug, den er morgen führen wollte. — Die jungen, verwilderten Gesichter der Uberti waren rot von Wein, denn es war ihnen doch zuletzt nicht wohl gewesen bei ihrem Tun. Sie hatten viele Becher hinunterstürzen müssen, ehe sie die Tür zum Schlafgemach ihres Vaters zu öffnen vermocht, um Bice hineinzuführen. Kaum waren sie mit ihr darin, so eilten sie auch schon wieder hinaus und schlössen die Tür hinter sich zu, als fürchteten sie, daß Bice wieder umkehren könne. Aber Bice kehrte nicht um, sie blieb nur einen Augenblick beim Eingang stehen — auch sie fühlte sich wie der Novello durch das Wiedersehn mit diesem Räume seltsam erschüttert. In ihrem Innern: Hier hat mein 61
Vater einst umsonst gewartet — hier hab ich ihm versprochen, was ich heute halte. Guido Novello hatte es kaum zu erwarten vermocht, die Geliebte in die Arme zu schließen, so heftig wallte ihr sein Blut entgegen. Aber als sie nun vor ihm stand, waren seine Arme plötzlich wie gelähmt, so als folge ihrer lichten, lieblichen Gestalt ein Schatten, der fiele verdunkelnd über alle Dinge dieses Raumes und über seinen, des Novello, eigenen Triumph und Rausch. Es ging ihm, wie es den Uberti ergangen war; obwohl er doch nun der betörenden Erfüllung seines Traumes gegenüberstand, war es ihm zumut, als könne doch noch alles scheitern. Unterdessen hatte Bice sich ihm genauso furchtlos sicher genähert wie vorhin im Saale ihren Brüdern. Er nahm kein Erröten, keine zärtliche Verwirrung an ihr wahr, sondern da lag etwas Großes, Freies, beinahe Feierliches über diese kleine, zarte, mädchenhafte Bice ausgegossen — er erkannte sie kaum wieder. Und es war auch gar nicht so, wie wenn er nun mit ihr alleine wäre, sondern es ging da solch ein tiefes Atemholen durch den Raum, als sei plötzlich noch ein Dritter gegenwärtig, der hier unsichtbar auf den Novello gewartet haben mußte, während er auf die Geliebte wartete. Das verwirrte und bestürzte ihn so eigen, kaum vermochte er den ritterlichen Dank zu stammeln, daß sie hergekommen sei. Sie, freundlich und klar: »Ihr irrt, Guido Novello, wenn Ihr mir dankt, ich bin nicht hier, um Euren Dank zu erwerben. Ich komme, um Euch eine Bitte vorzutragen. Meine Brüder sagen, ich hätte Macht über Euer Herz, laßt mich also hoffen, daß ich nicht vergeblich bitte.« Der Novello legte beteuernd die Hand aufs Herz. Er wollte ihr sagen, wie er schon vor Jahr und Tag um sie geworben und sich nach dieser Stunde verzehrt habe, aber er brachte es nicht über 62
die Lippen — es war ihm, als könne sich, wenn er von seiner Werbung um sie spräche, dieser Raum hier unversehens um Jahre zurückverwandeln, und jener, der bei Bices Eintritt Gegenwart geworden, werde zwischen ihn und die Geliebte treten. Indessen sie, den Blick klar auf ihn gerichtet, immer gleich ruhig in ihrer mädchenhaften Würde, lieblich und auf eine zarte Weise feierlich und Feierlichkeit fordernd: »Ihr habt die Hand aufs Herz gelegt, Guido Novello — wenn ich nun also Macht über dieses Herz habe, so bitte ich Euch: verlaßt mit Eurer deutschen Reiterei noch diese Nacht die Stadt, denn es gibt kein anderes Mittel mehr, den Todeskampf unserer Geschlechter aufzuhalten und Florenz zu retten. Und wir müssen Florenz retten, denn mein Vater hat zu Empoli geschworen, er wolle lieber mit seinem ganzen Geschlecht untergehen, als Florenz untergehen lassen. An uns ist es, seinen Schwur zu halten: Euch hat er wie einen Sohn geliebt, und ich bin seine Tochter.« Und nun war es ja wirklich so, als werde dieser Raum um Jahre zurückversetzt und der Novello stünde wiederum vor seinem Meister, dessen gefährliche Augen blickten ihn da gleichsam durch die sanften Augen seiner Tochter Bice an und verlangten von ihm dasselbe, was jener einst von ihm verlangt hatte — genau dasselbe! Die Uberti hatten ihn belogen — es ging nicht um eine Liebesnacht, es ging um das nackte Opfer von Empoli — eben genau wie damals. Und auch die Entscheidung des Novello mußte die gleiche sein, nur daß ihm jetzt niemand mehr die Geliebte abzuschlagen vermochte! In seinem Innern: Was geht mich der tote Farinata an? Und was kümmert mich die Stadt Florenz? Männer müssen kämpfen bis zum letzten Augenblick — ehe die Parte Ghibellina untergeht, muß die Parte Guelfa untergehn! — Laut: »Jungfrau, ich bin nicht hier, um Eures Vaters Schwur zu wiederholen, ich bin hier, um Euch Liebe zu 63
schwören. Fühlt Ihr denn nicht selbst die zärtliche Gewalt, die Euch so ungestüm verlangt? Ihr habt Euch an mein Herz gewandt, wie könnt Ihr mir das Eure verweigern? Ihr seid so jung, und man hat Euch durch einen schändlichen Ehevertrag unglücklich gemacht, kommt doch in meine Arme und laßt uns das Schicksal küssen, daß Euch das Leid vergeht!« Sie schüttelte sanft das Haupt. »Ich habe mein Schicksal schon geküßt, Guido Novello — o ja, ich habe es geküßt! Nicht mich, Florenz müßt Ihr in Eure Arme nehmen, wenn ich etwas über Euch vermag! Ich weiß nicht mehr um mich, ich weiß nur noch um meinen Vater. Euch wollte er in seiner Todesstunde diese Stadt vertrauen, auf Euch hat er gewartet bis zum letzten Atemzuge, aber Ihr seid nicht gekommen — also komme ich zu Euch. Mein Vater wartet immer noch--« Der Novello war bei ihren Worten zusammengezuckt, wieder war es ihm, als gingen schwere Atemzüge durch den Raum. Woran hatte die Geliebte ihn gemahnt? Wollte sie ihn etwa Reue lehren? Entsetzt starrte er sie an. Er sah in ihrem mädchenhaften Antlitz eine ergreifende Hingebung, zart und stark, unbedingt und unbeirrbar, aber sie galt nicht ihm, nein ihm galt sie nicht! Er konnte plötzlich nichts mehr denken als: sie ist die Tochter Farinatas, sie ist nur noch seine Tochter! Wie jener sie einst niemand gönnen wollte, so will sie jetzt um seinetwillen niemand angehören. Nahm etwa dieser Tote sich heraus, ihm den Triumph zu entreißen? Wollte er ihm die Geliebte abermals verweigern, wie es einst der Lebende getan? Nein, jetzt würde er sie ihm verweigern! Das heiße Blut sprang in ihm auf, wild wie ein junges Roß, das seinen Reiter abgeworfen hat, oder auch wie der Sprudel eines kochenden Quells, dessen Strom sein Bett zu überborden droht. Er suchte ihn nicht einzudämmen. Bei sich selbst: Ich werde mir doch nicht von einem Toten diese 64
Liebesnacht rauben lassen! Ich werde doch noch über einen Toten triumphieren können! Was vermag denn ein Toter? — Laut: »Jungfrau, Ihr vertraut auf Eure Macht — wißt Ihr, daß Ihr in der meinen seid? Für mich seid Ihr nicht die Tochter Farinatas, sondern einzig die Geliebte und Begehrte, und — bei Gott — Ihr werdet auch die Meine sein!« Er drang leidenschaftlich auf sie ein. Sie wich jetzt ein wenig vor ihm zurück, erglühend, als spiegle sich ihr Antlitz in dem feurigen Strom seines Innern, während dies Antlitz selbst vollkommen ruhig blieb — geheimnisvoll ruhig. Er wollte sie umfangen, um sie auf das Ruhebett zu tragen, aber da ergriff sie selber seine Hand und führte ihn dorthin. Er ließ es bebend vor Erstaunen geschehen — bebend vor Erwartung hörte er sie sagen: »Jetzt seid Ihr da, Guido Novello —« Dann kniete sie vor dem Lager nieder. Er hob sie stürmisch auf — hoch auf wie im Triumph —, schon glaubte er ihr Antlitz in die Kissen hingesunken zu erblicken, allein da lag ja schon ein anderes Haupt — der Novello taumelte zurück: er sah die Geliebte plötzlich überhaupt nicht mehr — es war als hätten unsichtbare Arme sie im Niedersinken aufgefangen und in ihre mächtigen Schatten eingehüllt. Und nun lag da vor den inneren Augen des Novello nur das majestätische Haupt dessen, den er hier einst in seiner Sterbestunde vergeblich auf sich hatte warten lassen — er wartete noch immer, jahrlos, zeitlos, wie die Toten warten können, wartete, daß er Florenz in seine Arme nehme! Vom ersten Augenblick, da die Geliebte eingetreten, war er der übermächtig Gegenwärtige gewesen: ihn hatte sie gerufen, da er nach ihr rief, mit ihm hatte er gerungen, da er mit ihr rang, und von ihm war er nun auch bezwungen worden: es war dem Novello, als habe ihn der Tote niedergeschlagen wie einen tollen Hund. In seinem Inneren: Ich kann die Tochter Farinatas nicht zu meiner Buhle machen — ich kann sie nicht im 65
Sterbezimmer ihres Vaters und auf seinem Sterbebett entehren! — Er fühlte eine abgrundtiefe Scham, zugleich überkam ihn die Empörung der Verzweiflung — jetzt war er für immer aus dem Paradies vertrieben, niemals würde er den Schatten dieses Toten überwinden, niemals über ihn hinweg die Geliebte an sich reißen können — aber auch niemals würde er Florenz retten! Der Tote irrte sich, wenn er geglaubt, er werde nun wie ein verlorener Sohn an diesem Sterbelager reuig niederknieen, dem Rufe folgend, den er einst mit Willen überhört! Mochte doch der Tote weiter warten — die Toten hatten Zeit — mochte er vergeblich auf die Rettung seiner Stadt hoffen, dieser verhaßten Stadt, um deretwillen heut wie einst sein Liebestraum zerschlagen worden war! Jetzt würde er des Toten Traum zerschlagen! Wild und herrisch sprang der alte Ghibellinentrotz in ihm empor — jetzt sollte Florenz untergehen: »Verfluchtes Florenz, dreimal verfluchtes!« Bice hatte sich, als der Novello von ihr abließ, wieder von dem Sterbelager ihres Vaters auf die Kniee niedergelassen, bei dem Ruf ›Verfluchtes Florenz‹ hob sie das Haupt. Da sah sie das Antlitz eines Mannes versengt wie eine große ausgeglühte Sommerlandschaft, das brennende Verlangen einer Leidenschaft noch darin zuckend, unüberwindlich wie der Drang des Lebens selbst und doch dem unbarmherzig-ausweglosen Tod anheimgegeben, eben wie die herbstverfallene Landschaft eines ausgeglühten Sommers oder wie jene jungen Obstbäume, denen die Guastatori mitten im Schwellen und Drängen ihres Blütenüberschwangs die Wurzeln abgeschnitten hatten. Ihr war, als sehe sie noch einmal all den wilden Tränen, all dem Schmerz und den empörten Stunden ihres eigenen Schicksals in die Augen — ein Erbarmen ohnegleichen überkam sie, ein Erbarmen eben wie mit jenen jungen todgeweihten Bäumen, nur tiefer, viel tiefer — so tief wie 66
mit dem hilflosen Kind, das sich unter den Türmen ihrer Brüder an ihre Kniee geklammert — so tief wie einst mit ihrem sterbenden Vater, als er in ihr seine Mutter Gualdrada zu erkennen vermeint. Noch einmal verwandelte sich der Raum um Jahre zurück. Und nun tat die kleine mädchenhafte Bice etwas Unbegreifliches und Unerhörtes: sie ging mit tränenüberströmtem Antlitz auf diesen großen, empörten, seiner selbst im Zornschmerz nicht mehr mächtigen Mann zu, der ihr noch eben hatte Gewalt antun wollen, und zog ihn in ihre Arme, wie einst die Frau Gualdrada den gebannten und zum Fluch bereiten Farinata. Da geschah das zweite Unbegreifliche und Unerhörte: dieser große, zornige Mann ließ sein Antlitz von ihren Händen niederbeugen und empfing auf seiner Stirne ihren furchtlos sanften Kuß und wurde von den Tränen ihrer Liebe hinweggespült, wie sein großer Meister ihm vorausgesagt, daß es ihm noch einmal geschehen könne. Und während sie ihm doch nun wiederum ganz schutzlos ausgeliefert war, ward er erschüttert inne, daß es nichts Unberührbareres gibt als das Schutzlose und nichts Heiligeres als das Unbeschirmte und keine größere Ehre für einen Mann, als das Schwache zu verteidigen. Er hätte sich aller Schutzlosen auf Erden annehmen mögen, auch des schutzlosen Florenz: der Augenblick, da der Novello seinem Meister schwören konnte, was er niemals schwören zu können vermeinte, war da. Denn der Zerstörungswille dieser Welt zerschellt nur am Erbarmen und einzig an ihm. Aufblickend sah der Novello nicht mehr die von ihres Vaters Schatten Eingehüllte, sondern er sah wieder die kleine zärtlich-mütterliche Bice — der Wille des Toten, der ihn noch eben so grausam zermalmt hatte, war auf ihn selbst übergegangen. Noch in derselben Nacht erfolgte der kampflose Auszug des Guido Novello aus der Stadt Florenz. Gehorsam, stumm und 67
ernst, in geschlossener Ordnung und voller Rüstung, sichtbar zu jedem Kampf befähigt, bahnten sich die deutschen Soldritter den Weg durch die von Waffen starrenden Straßen, wo man jeden Augenblick den Ausbruch des tödlichen Geschlechterringens erwartete. Kaum hatte der letzte deutsche Ritter das Stadttor verlassen, so löste sich die Starrheit der entsetzten Ghibellinen in überstürzter Flucht — sie dauerte die ganze Nacht hindurch unaufhaltsam an. Während die Verratenen sich verzweifeit aus den Toren drängten, um in ihren ländlichen Kastellen Zuflucht zu suchen, warfen sich die triumphierenden Guelfen in die verlassenen Stadtburgen. Andere stürzten sich in jubelndem Haß über die Grüfte bei San Giovanni, um selbst die toten Gegner noch aus ihren stillen Kammern zu reißen. Als Jourdin de l'Isle, der Marschall des Herrn Anjou, im Grauen des Ostermorgens vor der Stadt erschien, empfingen ihn am Tor die verstörten Vertreter des verzweifelten Popolo, welche der Sieger sofort ihres Amtes entsetzte. Trotz der Versicherung, der Marschall werde nirgends in der Stadt auf Widerstand stoßen, war Jourdin de l'Isle geneigt, an eine bloße Kriegslist zu glauben — eigenwillig behauptete sich in seinen Reihen die Erwartung, der Novello und die ghibellinischen Geschlechter würden sich ihm auf der Piazza San Giovanni entgegenstellen. Vorsichtig reitend, die Hand schwertbereit, erreichten die französischen Ritter die alte Taufkirche. Die Piazza lag bleich und völlig verlassen im fahlen Morgengrauen da: zertrümmerte steinerne Sargdeckel, zerstreute Gebeine und Fetzen vermoderter Gewänder bedeckten den Boden. Es war totenstill, nur aus der Ferne scholl von den verlassenen Türmen der Ghibellinen her das Triumphgeschrei der plündernden Guelfen. Schweigend ritten die Franzosen weiter nach Santa Reparata. Dort erteilte der Marschall Befehl, sich der guelfischen Geschlechterhäupter rück68
sichtslos zu bemächtigen. Dann stieg er selbst vom Pferd, um in der Kirche das Dankgebet des Siegers zu verrichten. Als er das Atrium betrat, starrte ihm abermals ein geöffneter Sarkophag entgegen — vor ihm kniete unbeweglich eine gebeugte Frauengestalt. Jourdin de l'Isle warf einen flüchtigen Blick auf die über dem Sarkophag befestigte Tafel — betroffen fuhr er zurück: es war ein großer Name, der dort eingemeißelt stand — groß auch für den Feind. Der Schritt des ritterlichen Mannes stockte, unwillkürlich berührte seine Hand die Schulter der Knieenden: hatte man es wirklich über sich vermocht, auch dieses Grab zu schänden? Die Knieende erhob ein junges, mädchenhaftes Antlitz und sah den Fragenden still leuchtend an. Dann sprach sie die rätselhaften Worte: »Mein Vater wollte freudig seinen Staub in alle Winde streuen lassen, um diese Stadt vor dem Untergang zu bewahren — sein Wunsch ist ihm erfüllt, er hat Florenz zum zweiten Mal gerettet.« Der Marschall sah sie verständnislos an — er glaubte eine Schmerzverwirrte vor sich zu haben. Ehrfürchtig schweigend trat er zurück. — Die Franzosen ritten nun abermals weiter — um Santa Reparata und die Knieende ward es aufs neue still. — Nach einer Weile betrat ein Knabe die Piazza. Er sah sich spähend um, dann sprang er wie eine junge Wildkatze die Stufen des Atriums empor: »Die Mutter ist fort und die Brüder sind fort! Ich habe mich versteckt und bin nicht mitgeflohen — ich bleibe bei dir, ich will deinen Brautzug führen!« Er umschlang die knieende Gestalt, die ihn stumm an sich zog. Unterdessen war ein zweiter Knabe auf der Piazza erschienen. Er schlich erst ängstlich an den Häuserreihen entlang, dann aber, mit kindlich tapferem Entschluß, stieg er ebenfalls die Stufen 69
zum Atrium empor, kauerte sich neben dem knieenden Mädchen nieder und flüsterte: »Bice, wann kommst du?« Die Knieende stand auf, auch der andere Knabe erhob sich und trat an ihre Seite. Sie reichte beiden ihre Hände dar und ließ sich von ihnen hinwegführen, still leuchtenden Gesichts, hinüber zu den Türmen der Cavalcanti. Auf den verödeten Straßen zeigten sich jetzt wieder die ersten verschüchterten Bewohner. Priester und Volk erinnerten sich des hohen Feiertags und strebten den Kirchen zu. Als man Bice mit den beiden Knaben gewahrte, erhob sich eine Stimme: »Seht, da kommt die einzige Braut, die an diesem Hochzeitstag der Geschlechter wirklich heimgeführt wird!« Eine andere Stimme erwiderte: »Ja, da kommt das junge, das gerettete Florenz!« In diesem Augenblick begann das silberne Geläut der ersten zarten Osterglocke.
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Insel-Verlag Zweigstelle Wiesbaden 19. bis 33. Tausend der Gesamtauflage: 1959 Schrift: Linotype-Aldus-Buchschrift Gedruckt von Ludwig Oehms, Frankfurt a. M. Printed in Germany
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2002