Seewölfe 197 1
Roy Palmer 1.
Tückisch glimmende Augen zwischen den Blättern des Inseldschungels, schmatzende und blubb...
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Seewölfe 197 1
Roy Palmer 1.
Tückisch glimmende Augen zwischen den Blättern des Inseldschungels, schmatzende und blubbernde und andere abscheuliche Laute, Krallenhände, die vorsichtig die Zweige des Dickichts teilten - alles das schien Thomas Federmann plötzlich um sich herum wahrzunehmen. Das Grauen war erschienen, um ihn heimzusuchen und einen qualvollen Tod sterben zu lassen hier, im Paradies auf Erden. Die Dämonen der Südsee, die Mächte der Finsternis - plötzlich schienen sie überall zu sein. Sie hatten ihn umzingelt, schoben sich von allen Seiten auf ihn zu, krochen aus den Büschen hervor, griffen mit ihren feuchten, kalten, schwartigen Pfoten nach ihm. Ein würgendes Gefühl stieg in seiner Kehle auf. Die Sinne drohten ihm zu schwinden. Ihm wurde übel und grenzenlos schwach zumute. Der Urwald schien sich mit mahlenden und singenden Geräuschen um ihn herum zu drehen, schneller, immer schneller. Die Kreaturen hatten ihn umzingelt und duckten sich lauernd. Sie entblößten spitze Zähne, fuchtelten, keiften, heulten - und sprangen ihn ganz unvermittelt an. Ein entsetztes Keuchen, mehr brachte Thomas Federmann nicht mehr hervor. Der schwere Spaten mit dem groben, wuchtigen Holzstiel entglitt seinen Fäusten. Die Schatten der Nacht verwandelten sich in brüllende Wirbel, die ihn mitrissen und den Rachen der tobenden Bestien entgegenwarfen. Thomas lehnte sich zunächst vornüber, dann etwas nach rechts, dann gaben seine Knie nach, und er brach zusammen und blieb auf der rechten Körperseite liegen, reglos und zusammengekrümmt. Seine Ohnmacht war nur kurz. Er kam wieder zu sich und bemerkte als erstes, daß die grausige Vision gewichen war. Die Realität jedoch war bitterer als jeder Alptraum. Thomas wurde sich der Wirklichkeit wieder voll bewußt. Er preßte die Lippen
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zusammen, hielt die Augen fest geschlossen und wartete darauf, die Peitsche, die verdammte Peitsche wieder knallen zu hören. „Hund!“ tönte Masots rauhe Stimme über die dunkle Insellichtung. „Willst du wohl aufstehen? Denkst du im Ernst, ich falle auf deine närrischen Tricks herein? Auf die Beine mit dir, oder ich lasse dich wieder tanzen, du Bastard!“ Thomas wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Seine Gaumenhöhle war ausgetrocknet und ohne jedes Gefühl, die Zunge lag wie ein pelziger Klumpen darin. Die Peitsche knallte. Gierig griffen die Lederriemen mit den hinein geflochtenen Knoten nach seinem nackten Rücken und schienen sich darin festzukrallen. Neun Riemen, die dem Höllenwerkzeug seinen Namen gegeben hatten — die neunschwänzige Katze, die Geißel der Piraten. Heiß überrann es Thomas Federmann, stechend war der Schmerz, der seinen Rücken und den ganzen Körper durchfuhr. Er biß die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schrei. Nur ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen. Diesmal, dachte er, diesmal stirbst du wirklich. Es ist endgültig aus, aus und vorbei. Du warst ein Narr, dies alles zu beginnen und auch noch zu hoffen, daß es irgendwie schon klappen würde. „Hund!“ schrie Masot, der Piratenführer, noch einmal. „Ich will dein Gewinsel nicht hören. Zwing mich nicht, dich dauernd zu verdreschen! Grab weiter, schufte bis in die tiefe Nacht hinein, du kannst dich davor nicht drücken. Ich will den Schatz, hörst du? Den Schatz! Ehe du ihn mir nicht zeigst, gebe ich keine Ruhe. Er liegt doch hier, nicht wahr? Genau hier, an dieser Stelle, auf dieser elenden Lichtung ist er vergraben, stimmt's?“ Thomas war versucht, ihm die Wahrheit zu gestehen, aber dann bezwang er sich doch, denn er dachte an Zegú, den König von Hawaii, und an die Mädchen Mara und Hauula und an die anderen achtzehn Geiseln an Bord der Galeone „Saint
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Vincent“, die in der Lagune ankerte. Wenn er, Federmann, sich jetzt verriet, dann waren auch sie geliefert. „Ja“, preßte er darum hervor. „Es — stimmt — bin sicher ...“ Masot beugte sich etwas vor und fragte mit gespielter Freundlichkeit: „Du stehst also auf?“ „Ja.“ „Ich danke dir, mein Freund. Ich wußte, daß du wieder Vernunft annehmen würdest. Bist ein kluger Bursche, ich hab's von Anfang an gesagt.” Er richtete sich wieder auf und blickte zu den beiden anderen Piraten, die auf der Lichtung Wache hielten. „Gugnot und Saint Cyr, ist es nicht so? Sagt mir, daß es wahr ist.“ „Ja“, brummte Gugnot. „Ein schlauer kleiner Hurensohn ist unser Freund. Das hast du gleich behauptet, als wir ihn auf Hawaii geschnappt haben.“ „Mhm“, machte Saint Cyr bestätigend. Thomas erhob sich wankend. Unter Schmerzen, die siedendheiß und pulsierend über seinen Rücken jagten, griff er von neuem nach dem Spaten, stellte den rechten Fuß auf die Kante des Eisens, klammerte sich an dem Stiel fest und rammte die Spitze des Spatens in das Erdreich. Er verlor fast das Gleichgewicht, konnte sich aber im letzten Augenblick noch fangen. Masot, der bereits wieder drohend die Neunschwänzige schwang, entblößte seine großen, weißlich schimmernden Zähne. „Es ist klug von dir, folgsam zu sein. Was nutzt es dir, wenn ich dich windelweich schlage? Nun? Nichts, gar nichts, du hast recht. Mich beeindruckt dein Zustand nicht, ich habe kein Mitleid mit dir. Und jemand anderes stelle ich schon gar nicht an deinen Platz, denn ich will ja, daß du den Schatz hebst — du ganz allein. Du hast ihn hier eingekuhlt. Dir allein steht es nun zu, ihn wieder herauszuholen.“ Ätzender Hohn lag in seiner Stimme. Thomas grub mit verbissener Anstrengung und bemühte sich, nicht auf Masots Worte zu hören. Knirschend schob sich das zugespitzte Eisen in den weichen
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Untergrund, und mit leisem Schmatzen löste sich die Scholle. Scholle um Scholle packte Thomas nach rechts und nach links auf die Erde, die er bereits ausgestochen hatte. Jedesmal hatte er den Eindruck, viele Pfunde Gewicht zu bewegen. Die Grube, die er hier aushob, war noch keinen halben Yard tief. Er wußte, daß er es nicht schaffen würde, auch nur einen Yard tief zu graben, und war schon jetzt sicher, daß er vorher wieder zusammenbrechen würde. Dieses war nicht das erste Loch, das er in den Inselboden trieb, er hatte auf dem großen, seltsam geformten Eiland, das die Lagune umschloß, schon ein halbes Dutzend gegraben — jedes Mal ohne den gewünschten Erfolg. Damit aber nicht genug: Vor drei Tagen hatten sie mit der Piraten-Galeone „Saint Vincent“ die nördliche Nachbarinsel angelaufen — wie sie hieß, wußten weder Federmann noch die entführten Bewohner Hawaiis — und waren dort gelandet. Masot hatte den Behauptungen des Deutschen geglaubt, bei diesem Fleckchen Erde handele es sich garantiert um die Insel, auf der er „seinerzeit den immensen Schatz vergraben hätte“. Dieser „immense Schatz“ war ebenso erfunden wie die Aussage, daß Thomas Federmann vor Jahren die Inselwelt der Südsee bereist hätte. Thomas, der Deutsche, hatte außer Hawaii und dessen Nachbarinseln bislang kein einziges der vielen Eilande, die es in diesem riesigen Meer geben sollte, kennen gelernt. Er war dereinst aus Neu-Granada, das neuerdings auch Kolumbien genannt wurde, geflohen, und zwar an Bord einer spanischen Galeone — das stimmte. Was er für Masot, den französischen Freibeuterkapitän, jedoch hinzufabuliert hatte, war folgendes: Er, Thomas Federmann, hätte den Spaniern in der Neuen Welt einen Schatz entreißen können, ihn heimlich mit der Galeone fortgeschafft und nach einer gelungenen Meuterei an Bord des Schiffes, die ihm zum Kommando über die komplette
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Mannschaft verholfen hätte, auf zwei weit auseinander liegenden Inseln des Stillen Ozeans versteckt. Die eine Insel hatte keinen Namen, aber er hatte ihr Aussehen und ihre ungefähre geographische Lage auf einer Skizze festgehalten. Die zweite Insel war Hawaii, dort hätte er sich niedergelassen und Freundschaft mit den Insulanern geschlossen, hatte er Masot erzählt. Dieser Teil der Schilderung entsprach der Wahrheit, aber der Rest war wieder ein Produkt der reichen Phantasie des Deutschen: Bald hätte es Streit mit den übrigen Meuterern von der Galeone gegeben, hatte er behauptet, und ein Kampf wäre unvermeidlich gewesen. Aber die Insulaner hätten auf seiner Seite gestanden und bei einem Überraschungsangriff die Spanier dank ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit überwältigen können. Die letzten Überlebenden wären in einer Schaluppe davongejagt worden, man hätte sie nie wieder gesehen. Die Galeone, mit der Thomas aus Neu-Granada geflohen war, hätte man zwischen Hawaii und Maui versenkt. So hätte man gehofft, mit dem einen Teil des Schatzes für alle Zeit in Frieden leben zu können — bis vor wenigen Tagen Masot und seine Piratenbande an Bord von zwei Schiffen, der „Saint Vincent“ und der „Saint Croix“, erschienen waren, um Hawaii zu überfallen. Was Masot gesucht hatte? Nun, in erster Linie hatte er wohl mit seinen Kerlen über die hübschen Mädchen der Insel herfallen wollen. Weiter hatte er sicherlich vorgehabt, seine Proviantund Trinkwasservorräte zu erneuern. Ganz zufällig hatte er auf seiner Fahrt durch die Südsee dieses Inselparadies Hawaii entdeckt und sogleich beschlossen, ein wüstes Fest darauf zu feiern, eine Orgie. Thomas Federmann hatte ihn ablenken können. Natürlich hätte Masot ihm die abenteuerliche Geschichte niemals abgenommen, wenn nicht der „Beweis“ gewesen wäre: die spanischen Piaster, goldene und silberne Achterstücke, die der
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Deutsche vor einigen Jahren auf Anraten des Seewolfs hin im Inneren der Insel vergraben hatte. Es waren wohl fünfhunderttausend oder noch mehr Münzen, Thomas und die Polynesier hatten sie nie genau gezählt. Sie stellten den Anteil der Insulaner an dem gelungenen Überfall auf die legendäre Manila-Galeone dar — und sie hatten Federmann und den Ureinwohnern von Hawaii nun diesen einmaligen Dienst erwiesen, daß nämlich die Piraten von den Mädchen abgelassen hatten. Trunken vor Gier hatten sie in den Münzen gewühlt — und unter dem Einfluß dieses wilden Freudentaumels hatte Thomas dem Anführer Masot die Mär aufgebunden, es gäbe noch einen zweiten, größeren Teil von diesem Schatz. Schon seit Jahren fertigte Thomas, der ein begabter Maler und Zeichner war, Bilder und Skizzen von Phantasie-Inseln der Südsee an. Es waren Tagträume von der Beschaffenheit des weltabgeschiedenen Paradieses schlechthin, hier und da mit Hawaii identisch, meistens aber dem großen Vorstellungsvermögen des Deutschen entsprungen. Eine dieser Skizzen hatte Thomas dem Franzosen vorgelegt. Wie immer dieses Eiland, das als wichtigstes Merkmal über eine große Bucht im Westen verfügte, hieß, wo es lag und wer immer es bewohnte — Masot hatte beschlossen, es zu finden. Auf südlichem Kurs segelnd, so hatte er sich überlegt, müßte er auf die angegebene Position stoßen. Zuerst hatte er vermutet, bei der Insel handele es sich um einen Teil des HawaiiArchipels, aber das hatte sich bald als Irrtum herausgestellt. Südlich von Hawaii gab es zunächst keine Inseln mehr — nur Wasser, endlos wirkendes, tiefblaues Wasser. Masot hatte nicht aufgegeben. So war er mit seiner Meute und den Geiseln, die er von Hawaii mitgenommen hatte, zuerst auf der einen unbekannten Insel — die mit der Skizze hätte identisch sein können — und anschließend auf diesem Eiland gelandet,
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das genauso namenlos und unerforscht wie das erste war. Die Hauptinsel und einige winzige Eilande, die an sie anschlossen, bildeten ein Atoll, in dessen Zentrum sich die Lagune ausdehnte. Masot hatte eine Passage zwischen den gefährlichen Korallenriffen entdeckt und so mit dem Dreimaster in die Lagune einlaufen und dort ankern können. Die Insel selbst war öde und unbewohnt, wie sich bald herausgestellt hatte, es gab hier nur viele Schildkröten und Vögel, und in der Lagune konnte man Fische fangen, soviel man wollte. Unbewohnt — damit war eine Hoffnung von Thomas Federmann zerstört worden. Er hatte darauf gebaut, daß sie auf Eingeborene stoßen würden, mit denen Zegú und er sich verbünden konnten. Aber diese Illusion war nun zerstört. Es gab keine Hoffnungen mehr. Thomas hatte Masot gegenüber immer wieder bestätigt, daß er das genaue Versteck des Schatzes zwar auf der Skizze nicht eingezeichnet habe, es jedoch aus dem Gedächtnis wiederfinden würde. So hatte er behauptet, dies wäre nun die gesuchte Insel, und er würde auch den Schatz — gut eine Million spanische Achterstücke — heben. Er allein würde sich das zutrauen. Masot war nach den sechs vergeblichen Versuchen mißtrauisch geworden, daraus rührte jetzt sein Hohn her. Andererseits hielt ihn seine Gier nach noch größerem Reichtum davon ab, das Unternehmen abzubrechen. Masot stand mit gespreizten Beinen auf der kleinen, leicht erhöht liegenden Insellichtung und ließ seinen Gefangenen keinen Moment aus den Augen. Masot war ein großer, wuchtig gebauter Mann mit dunklen Augen, einer kleinen Nase und einem breiten Mund, der sich in einem mächtigen schwarzen Vollbart verbarg. Als Zierde und Symbol seiner Stellung trug er eine Art Dreispitz auf dem Kopf. Diese Kopfbedeckung war zwar an manchen Stellen eingerissen und verbeult, aber keinem der französischen Freibeuter wäre
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es eingefallen, über das ramponierte Stück zu grinsen. Masots mächtiger Körper war fast bis zu den Fußknöcheln in einen einstmals weinroten und jetzt kaum noch definierbar gefärbten Umhang gehüllt — eine Trophäe aus einer von vielen Seeschlachten. Seine Beine steckten in weiten schmutziggrauen Hosen, die am Bund von einem Rohledergürtel zusammengehalten wurden. Er trug Stiefel, richtige Stulpenstiefel, während seine Kerle barfuß liefen, und quer über seine Brust spannte sich von der linken Schulter herab bis zur Hüfte hinunter ein breiter, schwerer Gurt mit einer riesigen Schnalle. Zwei geladene Pistolen steckten darin, außerdem ein Schiffshauer mit leicht gekrümmter Klinge und ein Messer. Vom Strand der Lagune flackerte Feuerschein herüber. Gugnot wandte den Kopf, sah zu dem zuckenden Licht hinüber und brummte: „Die anderen braten jetzt den Fisch, den wir heute nachmittag in der Lagune gefangen haben.“ „Die haben's gut“, sagte Saint Cyr so leise, daß Masot ihn nicht verstehen konnte. Das Grölen der Piraten drang deutlich an ihre Ohren. Gugnot zerdrückte einen Fluch auf den Lippen, dann meinte er gedämpft: „Sie saufen Rum und machen sich's so richtig gemütlich. Ich wette, sie holen sich auch noch die Weiber. Ja, die Hunde toben sich aus, nur wir zwei Narren stehen uns hier die Beine in den Bauch. Wie lange? Bis zum Morgen? O Mann, möglich ist alles.“ Saint Cyr schüttelte den Kopf und deutete auf den wankenden, schwitzenden Deutschen. „Kaum, Gugnot, kaum. Der hält nicht mehr lange durch. Er krepiert noch heute nacht, entweder vor Erschöpfung oder unter Masots Hieben, das versichere ich dir.“ Er grinste gemein. * Hier, in der unmittelbaren Nähe des Äquators, ging die Sonne von einem Augenblick zum anderen unter, und die
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Dunkelheit senkte sich übergangslos auf die See. Die Schatten der Nacht drohten die Umrisse des großen Dreimasters, der sich mit südlichem Kurs durch die Fluten schob, zu schlucken. Es gelang ihnen, als sich eine Wolkenbank vor die Mondsichel schob. Die Konturen der Galeone verschmolzen mit der Finsternis. Old O'Flynn hatte das Achterdeck der „Isabella VIII.“ geentert und war zu Philip Hasard Killigrew und Siri-Tong getreten. Seine Miene war verkniffen und voll Mißtrauen, seine Augen schienen überall Unheil zu erspähen. „Der Wind schralt“, sagte er. „Es ziehen immer mehr Wolken herauf, und ich schwör's euch, bald ist der Himmel über uns dicht. Wir kriegen ein Wetter um die Ohren, das ist mal sicher — und die verfluchte Insel finden wir sowieso nicht mehr.“ „Donegal.“ Der Seewolf drehte sich langsam zu dem Alten um. „Du weißt schon, was ich dir jetzt sagen will.“ „Ja. Daß ich mal wieder die Geduld und das Vertrauen verloren habe.” „Eben.“ „Aber das stimmt nicht. Die Geduld, schön, die geht mir abhanden, das will ich gern zugeben. Aber das Vertrauen in dich und unser Schiff fehlt mir natürlich nicht, soweit führt's bei mir auch im allerdicksten Schlamassel nicht.“ Der Alte schnaufte verdrossen. „Nur das eine will ich dir verklaren, Sir: Allein mit dem Vertrauen und dem Glauben an das Glück ist es nun mal nicht getan. Und herzaubern kannst du die Insel, die wir suchen, auch nicht.“ „Dann tu du es doch, Donegal“, Meldete sich eine unfreundliche Stimme von achtern. Big Old Shane trat auf sie zu. Der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle hatte sich am Heck aufgehalten und offenbar den Befehl des Seewolfs abgewartet, die große Achterlaterne anzuzünden. „Streng dich an und zaubere sie her, die Insel, Donegal“, fuhr er fort. „Du bist doch so ein alter Hellseher und Geistermann, vielleicht hast du ja magische Kräfte. Statt so laut und beleidigt herumzuquaken wie ein alter
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Ochsenfrosch, würde ich an deiner Stelle lieber was Brauchbares unternehmen.“ Er blieb dicht vor Old O'Flynn stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ben Brighton und Ferris Tucker stiegen gerade den Backbordniedergang hoch, der das Achterdeck mit dem Quarterdeck verband. Sie hatten das meiste von dem Gesprochenen gehört, vor allem die Sätze von Old O’Flynn und Shane. Sie tauschten einen Blick und grinsten belustigt. Donegal Daniel O'Flynns Züge verfinsterten sich noch mehr. „Paß mal auf, Shane, was es gleich für einen Zauber gibt, wenn du dein Lästermaul nicht hältst“, sagte er drohend. „Lästermaul?“ Shane senkte den Kopf ein wenig und fixierte den Alten grimmig. „Das mußt du auch gerade sagen, du Stint. Soll ich dir mal verraten, was du bist?“ „Ja. Kann's kaum erwarten, die Wahrheit über mich zu erfahren“, sagte der grantige Alte. Siri-Tong lachte auf und sagte: „Nun hört aber auf, euch zu streiten, ihr beiden. Damit kommen wir auch nicht weiter. Donegal, auf was willst du überhaupt hinaus? Meinst du, es wäre besser, wenn wir umkehren?“ „Umkehren? Nein, das nicht. Aber wir können nach Westen ablaufen. Der Wind dreht immer mehr und bläst bald aus Südosten, wie's mir scheint. Mit der steifen Brise laufen wir bei westlichem Kurs verdammt gute Fahrt.“ „Da schau mal einer an“, sagte Ben Brighton, der jetzt hinzugetreten war. „Jetzt schlägt's aber dreizehn“, fügte Ferris Tucker hinter seinem Rücken ziemlich aufgebracht hinzu. Und Big Old Shane stemmte die Fäuste in die Seiten und rückte noch einen Schritt näher auf Old O'Flynn zu. Seine Stimme sackte tief in den Keller ab, klang grollend und Unheil verkündend. „So ist das also. Nach Westen, wie? Womöglich nach den Ladronen, den gottverfluchten DiebesInseln, hinüber und alte Bekannte besuchen, was? Das könnte dir so passen ...“ „He!“ stieß der Alte verblüfft aus. „Was
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glotzt ihr mich denn alle so an? Ihr tut ja fast so, als hätte ich euch zur Meuterei aufgefordert.“ Ferris Tucker ließ einen dumpfen, grunzenden Laut vernehmen. „Hölle und Teufel, Donegal“, sagte er. „Bist du dir dessen, was du eben erklärt hast, überhaupt bewußt?“ „Wenn du damit sagen willst, daß ich nicht richtig im Oberstübchen bin, kannst du dich auf was gefaßt machen!“ fuhr der Alte ihn an. „Nein, ich meine was anderes“, teilte. der rothaarige Schiffszimmermann der „Isabella“ ihm grimmig mit. „Mit dem, was du vorgeschlagen hast, lassen wir Thomas Federmann und die Leute von Hawaii nämlich im Stich. Mit anderen Worten, wir gewähren es diesem französischen Hurensohn Masot, den Deutschen und die einundzwanzig Insulaner Zegú inbegriffen abzuschlachten. Verzeihung, Madam.“ „Verzeihung?“ fragte Siri-Tong verwundert zurück. „Warum, Ferris?“ „Wegen des Hurensohnes.“ „Oh, bitte.“ Die Rote Korsarin lachte wieder auf. Sie wollte entgegnen, daß sie ja eigentlich noch ganz andere Ausdrücke gewohnt sei, aber sie unterließ es lieber. Die Männer fluchten auch so schon genug, es war nicht richtig, sie darin noch zu bestärken. Old O'Flynn hob seine Krücke an und begann damit zu fuchteln. „Du verlauster Quadratschädel, du wurmstichiger Klamphauer!“ wetterte er. „Du hast sie wohl nicht mehr alle, was? Ich bin weder ein Feigling noch ein Verräter unserer Sache, ich will lediglich darauf hindeuten, dass Masot, dieser Bastard, sich mit seiner Scheiß-Galeone ,Saint Vincent' genauso gut nach Westen gewandt haben könnte äh, tut mir leid, Siri-Tong.“ „Soll ich solange in meine Kammer gehen?“ erkundigte sie sich amüsiert. Es schwang aber auch ein wenig Angriffslust in ihren Worten mit, denn allmählich ging ihr die Debatte der Männer auf die Nerven. Von der Kuhl tönte Carberrys Stimme dröhnend zu ihnen herauf. „Was ist denn
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los da oben? Sir, ist was nicht in Ordnung? Hölle, wer brüllt denn da herum?“ „Schon gut, Ed“, rief Hasard zurück. „Bleib auf deinem Posten. Donegal meinte nur, es würde wohl Sturm geben.“ „Aber - Schockschwerenot noch mal, das braucht er doch nicht so herauszuposaunen. Wir merken's schon noch früh genug, wenn wir was aufs Haupt kriegen!“ Old O'Flynn wollte schon wieder aufbegehren, aber der Seewolf fuhr zu ihm herum und sagte: „Ruhe an Deck!“ Der alte Donegal blieb mit offenem Mund stehen, und Ferris Tucker, Big Old Shane und Ben Brighton wußten für einen Moment auch nicht mehr, wie sie sich verhalten sollten. Dann aber beschlossen sie, ein gemeinsames „Aye, aye, Sir“, zu murmeln. „Männer“, sagte Hasard. „Holt tief Luft und denkt mal darüber nach, was für ein Bild ihr vor der Crew abgebt, wenn ihr herumstreitet. Nun?“ Shane erwiderte: „Verzeihung, Sir, es war wohl meine Schuld. Ich nehme das gerne auf mich und erwarte eine Bestrafung.“ Old O'Flynn hob die rechte Hand. „Augenblick mal. Kommt gar nicht in Frage. Ich hab mich wohl ein bißchen verunglückt ausgedrückt, und das hat Shane und Ferris auf die Palme gebracht.” „Mich auch“, erklärte Ben Brighton. „Ich schließe mich da nicht aus.“ „Es war also meine Schuld“, sagte der Alte verdrossen. „Wie viele Stock- oder Peitschenhiebe kriege ich verabreicht?“ „Zwanzig, wenn du nicht sofort den Mund hältst“, versetzte der Seewolf lächelnd. „Ist ja gut, ich nehme euch die kleine Diskussion nicht übel. Zugegeben, unsere Geduld wurde in den letzten Tagen auf eine harte Probe gestellt, und ein Ende unserer Suche ist zur Stunde nicht abzusehen. Da kann ich es verstehen, wenn du zu zweifeln beginnst, Donegal. Ich selbst habe auch nicht mehr als die Vermutung, daß wir auf dem richtigen Kurs segeln. Das heißt, ich reise nach Gutdünken und Gefühl.“
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„Nicht ganz“, mischte sich die Rote Korsarin ein. „Unser Abstecher nach Kahoolawe hat sich zwar als Schlag ins Wasser erwiesen, zumindest, was die Suche nach den Verschleppten betrifft. Alewas Zeichnung von der Insel Thomas Federmanns war leider höchst unzureichend, so daß wir mehr oder weniger auf Verdacht nach Süden weitergesegelt sind. Aber dann haben wir ja dieses Eiland gefunden.“ „Ja, es lag in direkter Linie südlich von Hawaii“, bestätigte Ben Brighton. „Die Spuren im Sand waren frisch. Jemand war gelandet und hatte nach etwas gegraben. Mehr als dreißig Männer müssen sich über die Insel bewegt haben.“ „Dann, als sie nicht fündig wurden, verließen sie die Insel wieder“, fuhr SiriTong fort. „Es liegt doch auf der Hand, daß es sich um Masot und seine Kerle handelte. Und fast ebenso logisch ist es, daß sie weiter in südlicher Richtung segeln, aller Wahrscheinlichkeit nach auf Thomas Federmanns Angaben hin.“ Hasard sagte: „Von dieser Voraussetzung gehe ich aus. Aber wir müssen natürlich auch in Betracht ziehen, daß wir inzwischen jemand Falsches verfolgen und uns nur einbilden, dem Richtigen auf den Fersen zu sein. Daß wir ganz einfach einem Irrtum aufgesessen sind.“ „Dieses Risiko müssen wir eingehen“, meinte die Korsarin. „Und wir geben nicht auf“, sagte Ben Brighton. „Weder heute noch morgen, noch in einer Woche, Sir.“ Hasard grinste ihn an. „Den Sir kannst du dir an den Hut stecken Ben, das habe ich dir schon öfter gesagt.“ „Aber du bist doch von Elizabeth I. höchstpersönlich zum Ritter geschlagen worden ...“ „Und was nutzt mir das?“ „Eine ganze Menge, Sir!“ rief Ferris Tucker. „Ja“, sagte der Seewolf gedehnt. ,.Masot zum Beispiel wird vor Ehrfurcht erstarren, wenn er mir endlich gegenübersteht. Fehlt bloß noch, daß ich ihm dann unseren
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Kaperbrief zeige. Shane, was hältst du davon?“ „Soll ich ehrlich meine Meinung sagen?“ „Ich befehle es dir.“ „Meiner Ansicht nach hilft's mehr, wenn wir diesem Franzosen kräftig eins über die Rübe ziehen.“ Hasard lachte. „Ja, das finde ich auch.“ „Sir, soll ich jetzt die Hecklaterne anzünden?“ fragte Shane. „Nein. Es sieht zwar so aus, als befänden wir uns in einem gottverlassenen Winkel der Erde, aber dieser Schein kann auch trügen. Ich will nicht, daß Masot oder irgendjemand anderes uns schon aus der Ferne sehen kann.“ „Aye, Sir.“ Der Seewolf drehte sein Gesicht in den jetzt steif aus Ostsüdost heranpfeifenden Wind. Die Bewegungen der „Isabella“ wurden heftiger, rollender. Man mußte sich schon am Schanzkleid oder an der Schmuckbalustrade festhalten, wenn man das Gleichgewicht nicht verlieren wollte. „Wir knüppeln unsere alte Lady weiter nach Süden!“ rief Hasard. „Jedenfalls so lange wir den Kurs halten können!“ 2. Wie eine große schwarze Spinne war die Dunkelheit auch in das Innere der „Saint Vincent“ gekrochen und schien die Galeone der Piraten mit einem tödlichen Bann zu belegen. Mara, das Mädchen von Hawaii, blickte ihre Freundin Hauula von der Seite an. „Ich habe Angst“, wisperte sie ihr zu. „Heute nacht holen sie uns. Ich spüre es.“ „Bleib ganz ruhig“, flüsterte Hauula. „Ich kann es nicht ...“ „Es ist unsere stärkste Waffe gegen diese Bestien.“ „Du meinst, nicht die Ruhe zu verlieren?“ „Ja.“ „Ich schaffe es nicht“, stöhnte Mara. „Mir zittern die Knie. Und die Hände. Meine Zähne schlagen aufeinander. Ich sterbe noch vor Angst.“ „Thomas wird uns helfen.“ Hauula versuchte, Zuversicht in ihre Stimme zu
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legen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Mara schwieg, aber eine der jungen Frauen antwortete aus der Finsternis des engen Schiffsraumes: „Er kann nichts mehr für uns tun. Er muß froh sein, wenn er selbst überlebt. Sie haben ihn auf die Insel geschafft und peinigen ihn so lange, bis er den Schatz herangeschafft oder die Wahrheit gesteht.“ „Zegú, unser König, ist jetzt auch auf der Insel“, raunte eine andere Frau. „Was haben die Kerle mit ihm vor?“ wollte die entsetzte Mara wissen. Ihre Augen huschten unablässig hin und her, ihr Blick streifte die Gestalten der Leidensgefährtinnen. Sie waren zehn Mädchen und junge Frauen von der Insel Hawaii. Die französischen Freibeuter hatten sie bewußt von den zehn Männern getrennt, die sie ebenfalls als Faustpfand mitgeschleppt hatten. Die Trennung erhöhte die Furcht der völlig hilflosen Frauen und ließ sie zur Panik anwachsen. Von der Insel drangen das Grölen und Singen der Piraten herüber. „Sie feiern“, sagte Hauula. „Sie lassen die Mäuse auf dem Tisch tanzen, wie sie sagen. Sie haben lange kein Vergnügen mehr gehabt. Masot läßt es zu, daß sie sich betrinken. Er weiß, daß er es ihnen nach der Überfahrt und der sinnlosen Suche schuldig ist. Außerdem dürfen sie sich hier, in der Lagune, völlig sicher fühlen.“ „Es ist die Lagune des Teufels“, flüsterte Mara. „Zegú“, sagte die eine Frau, die vorher schon gesprochen hatte. „Sie werden ihn quälen und sich daran weiden.“ „Nein!“ stieß Mara entsetzt hervor. „Aber das ist nichts gegen das, was sie uns antun, wenn sie uns auf den Strand holen.“ „Sei still!“ zischte Hauula. „Hört ihr?“ wisperte eine andere junge Frau. „Sind das nicht Geräusche im Wasser? Das Eintauchen von Paddeln?“ „Sie nennen die Paddel ihrer Boote Riemen“, korrigierte ein Mädchen, das an der dem Schiffsgang zugewandten Raumwand hockte. „Thomas hat es uns beigebracht, wie er uns auch die spanische
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Sprache und Ausdrücke aus dem Englischen und dem Deutschen gelehrt hat.“ „Das alles ist jetzt nichts mehr wert“, murmelte Mara. „Sie kommen. Es geht zu Ende mit uns. Lebt wohl, Schwestern.“ „Unsinn!“ zischte Hauula wütend. „Ich höre kein Boot und keine Riemen. Das ist doch bloß eine Einbildung!“ „Nein!“ raunte die, die die Laute gehört zu haben glaubte. „Ich schwöre es euch, da nähert sich ein Boot!“ Mara zerrte verzweifelt an den Stricken, die ihre Hände und Füße zusammenhielten. „Wenn wir doch bloß nicht gefesselt wären“, schluchzte sie. „Dann wäre alles einfach gewesen“, sagte Hauula. „Dann hätten wir uns längst aus diesem Verlies befreit.“ „Still“, flüsterte das Mädchen an der Gangseite des Raumes. „Da ist was — Schritte! Schritte auf dem Gang! Nein, nein, ich täusche mich nicht. Schweigt und hört selbst hin.“ Sofort trat Totenstille ein. Dann konnten sie es alle vernehmen: tastende Schritte näherten sich dem Schott des Gefängnisses. Sie waren heran und verharrten. Gleich darauf begann jemand an der Verriegelung des Schotts herumzuhantieren. Pele, Pele, feuerspeiende Göttin von Hawaii, steh uns bei, dachte Mara, vernichte diese grausamen Kerle. Sie wollten verrichten, was sie schon die ganze Zeit über mit uns tun wollten, und nur du, nur du ganz allein kannst sie noch zurückhalten! * Mit geschickten Fingern hatte der Mann den schweren Eisenriegel beiseite geschoben. Jetzt legte er seine Hände an die Kante des Holzschotts, zerrte daran — und atmete lächelnd auf, als es leise knarrend in seinen Angeln aufglitt. Der Mann, dessen nackter Oberkörper schweißbedeckt war, schlüpfte durch die Öffnung, kniete sich vor die Mädchen und jungen Frauen hin und legte seinen
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Zeigefinger gegen die Lippen, als Mara und zwei, drei andere entnervt aufschreien wollten. „Das darf nicht wahr sein“, flüsterte Hauula völlig entgeistert. „Andai — bist du es wirklich?“ Der junge Polynesier schob sich auf sie zu. „Ja“, gab er genauso leise zurück. „Mir ist die Flucht gelungen. Aber verlieren wir keine weitere Zeit. Ich will euch von euren Fesseln befreien. Die anderen sind schon aus unserem gemeinsamen Verlies, dem Kabelgatt, heraus und suchen nach Waffen.“ „Wie habt ihr das geschafft?“ flüsterte Hauula. Er hatte kein Messer und mußte mühselig die Knoten ihrer Hand- und Fußfesseln lösen. Mit zusammengepreßten Lippen ging er an die Arbeit. Erst als er es geschafft hatte und die Tauenden schlaff zu Boden fielen, entgegnete er: „In tagelanger Arbeit konnte ich eine Bodenplanke lösen. Daran wetzte ich zunächst meine Stricke kaputt und half dann den neun anderen Brüdern, sich der Fesseln zu entledigen. Zu dritt vergrößerten wir die Lücken in den Planken und gelangten so in den unter dem Kabelgatt liegenden Schiffsraum. Von dort aus schlichen wir wieder ein Deck höher, öffneten von außen das Schott unseres Gefängnisses, und dann machte ich mich auf den Weg zu euch. Wenn die anderen Waffen finden, bringen sie bestimmt auch uns gleich ein paar Messer und Pistolen.“ Hauula küßte Andai auf die Stirn und auf die Wangen, dann half sie mit, die Stammesschwestern von ihren Fesseln zu befreien. Mara erlösten sie als erste von den dicken, in die Haut schneidenden Tampen, und das Mädchen brach daraufhin in Tränen aus. „Hör auf“, flüsterte Hauula ihr zu. „Hilf mir lieber.“ Mara wischte sich die Tränen ab und schickte sich an, ihrer Freundin Unterstützung zu leisten. Plötzlich aber erstarrte sie, denn zwei andere männliche Gestalten waren in dem halboffenen Schott aufgetaucht. Eine furchtbare Eingebung
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gaukelte Mara vor, die Wachtposten auf dem Schiff hätten alles bemerkt und wären nun erschienen, um den Ausbruch der Gefangenen im Keim zu ersticken. Sie preßte die Fäuste gegen den Mund und gab einen keuchenden Laut des Entsetzens von sich. Dann aber lockerte sich ihre Haltung wieder, denn sie erkannte trotz der Dunkelheit, daß es sich um zwei Stammesbrüder handelte. Sie bückten sich und glitten heran, um aktiv an dem Befreiungsunternehmen mitzuwirken. „Numil und Moho“, flüsterte Hauula begeistert. „Pele sei Dank! Wenn Zegú und Thomas nur wüßten, daß es euch geglückt ist ...“ „Warte“, raunte Andai ihr zu. „Wir haben erst den Anfang geschafft. He, ihr zwei, habt ihr die Waffen?“ „Nein“, erwiderte Numil. „Der Weg zur Waffenkammer im Achterdeck ist versperrt“, flüsterte Moho. „In dem einen Raum davor brennt Licht. Dort sitzen mehrere Kerle beisammen und trinken und fluchen.“ „Die Wachablösung in der Mannschaftsmesse“, murmelte Andai. „Es sind mindestens vier Mann, schätze ich. Die sind mit den Pistolen schnell bei der Hand, außerdem haben sie Musketen, Messer und Säbel. Ehe wir sie überwältigen können, haben sie die meisten von uns getötet. Nein, auf diesem Weg können wir nicht in die Waffenkammer.“ „Dann bleibt nur der Weg über die Kuhl“, sagte Hauula. „Oben stehen auch vier Männer“, gab Moho zu bedenken. „Die Ankerwache.“ „Vielleicht ist die leichter abzulenken“, wisperte Hauula. Andai schüttelte den Kopf. „Unmöglich, wie denn wohl? Wir können nur auf einen Zufall hoffen, anderenfalls sitzen wir hier unten fest und können uns nicht rühren. Es würde in jedem Fall ein Blutbad geben, wenn wir ...“ Hauula legte ihm die Hand auf den Mund. „Warte“, raunte sie. „Laß uns doch erst
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einmal alle zum Vordeck schleichen. Numil, wo sind die anderen Männer?“ „Draußen auf dem Gang.“ „Dann laßt uns keine Zeit verlieren“, wisperte das Mädchen. „Vom Schott des Vordecks aus können wir auf die Kuhl blicken und die Wache zumindest beobachten, nicht wahr, Andai?“ Er lächelte ihr im Dunkel des Schiffsraumes zu. „An dir ist ein richtiger Krieger verloren gegangen, Hauula. Glaubst du denn wirklich, daß wir ohne Blutvergießen von diesem Teufelsschiff fliehen können?“ „Pele wird uns dabei helfen.“ „Ja“, murmelte jetzt auch Mara. „Ich habe Pele, die allmächtige Göttin Hawaiis, angefleht — und sie hat mein Gebet erhört.“ „Sind alle von ihren Fesseln befreit?“ fragte Hauula leise. „Alle“, raunten die jungen Frauen. „Dann los.“ Hauula schlich zum offenen Schott. Sie folgte Andai, Numil und Moho, die jetzt bereits auf den Gang hinauspirschten. Mara und die anderen acht Mädchen und Frauen schlossen sich ihr lautlos an. * Grand Duc, ein Riese von Mann mit einem gelben Tuch um den Kopf, stand auf sicheren Beinen inmitten der Horde von zwanzig lärmenden Piraten und hob die Rumflasche. Der zuckende Feuerschein ließ sein Gesicht fratzenhaft erscheinen und hob die Narben und anderen Unregelmäßigkeiten darin hervor, die von Messerstichen und wüsten Schlägereien herrührten. Grand Duc — kein Mensch wußte, warum er diesen Namen angenommen hatte, nur alle waren sich darüber im klaren, daß kein einziger Tropfen adligen Geblüts in den Adern des Kerles pulsierte —, Grand Duc also hob die Flasche an den Mund, nahm einen kräftigen Schluck, setzte sie wieder ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen.
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„Gut!“ rief er. „Das lasse ich mir gefallen! Heda, wie weit seid ihr Himmelhunde mit dem Braten der Fische?“ Einer der Piraten, die sich auf dem Strand der Lagune um die zwei Lagerfeuer gekauert hatten, erhob sich, gestikulierte zu dem Riesen herüber und schrie: „Grand Duc, du kannst es wohl kaum erwarten, den ersten Happen herunter zu schlingen, was? Komm her und probiere, wir haben inzwischen auch den dicksten Brocken gar gekriegt.“ „Das ist ein Wort, Picou.“ Grand Duc stapfte mit der zu gut einem Drittel geleerten Flasche auf das Feuer zu, stieß einen der Sitzenden beiseite und trat dicht vor den eisernen Spieß hin, den die Kerle gerade aus den Flammen gezogen hatten. Auf dem Spieß steckte ein Fisch von imposanter Größe, er mochte gut und gern seine zwanzig Pfund wiegen. Grand Duc war sich nicht sicher, ob es ein Zackenbarsch oder ein Umber war, aber die genauere Bezeichnung der Art interessierte ihn nicht sonderlich. Er gab Picou, einem hageren Typ mit scharfgeschnittenen Zügen und gekrümmter Nase, ein Zeichen. Picou rückte dem Fisch daraufhin mit einem Messer zu Leibe und säbelte das beste Stück heraus, um es dem Riesen zu reichen. Grand Duc war Masots rechte Hand und bester Ratgeber. Auf der „Saint Vincent“ galt er als der erste Offizier, Bootsmann und Steuermann in einer Person. So war es mehr als gerechtfertigt, daß er die erste Portion von dem größten gefangenen Fisch empfing. Er griff mit der Hand zu und verbrannte sich fast die Finger, stieß einen Fluch aus, stopfte sich das weiße, dampfende Fleisch zwischen die Zähne und schluckte es fast unzerkaut herunter. Er spülte mit einem Schluck Rum nach, ließ die Flasche wieder sinken und rief: „Mehr Salz, Picou, du Laus, mehr Salz, zum Teufel, das schmeckt ja elend fad!“ „Sofort“, sagte der Hagere. Während er den Fisch zusätzlich mit Salz aus den Bordvorräten- der „Saint Vincent“
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einrieb, blickte sich Grand Duc im Kreise der wilden, abenteuerlich gekleideten Kerle um. Sie hatten ein ordinäres Lied angestimmt, und er sang völlig unmusikalisch die Melodie mit. Mitten in der Strophe unterbrach er sich jedoch und brüllte: „He, was meint ihr wohl, ob Louis und die anderen von der ,Saint Croix` sich auch so gut amüsieren wie wir?“ „Bestimmt!“ rief einer der Piraten zurück. „Sogar noch besser als wir, sage ich dir. Die Hundesöhne tummeln sich auf Hawaii und können sich die Zeit mit den Inselweibern vertreiben!“ „Die haben's gut!“ grölte ein anderer. Picou hatte den großen Fisch jetzt ausreichend gewürzt und schnitt wieder ein Stück für Grand Duc heraus. Grand Duc verspeiste diesen Brocken auf dieselbe Art wie den ersten, nickte, ließ einen undeutlichen, knurrenden Laut vernehmen und sagte dann: „Gut. So ist es recht. Eßt, trinkt, singt, ihr Höllenbraten, laßt uns lustig sein.“ „Wie wär's, wenn wir die Weiber holen?“ schrie jemand. Grand Duc achtete nicht auf ihn. Er nahm wieder einen großen Schluck aus der Rumflasche und schaute zu, wie Picou und ein zweiter Freibeuter zunächst den großen Fisch und dann andere gegrillte Fische und Schalentiere zerlegten und an die Kumpane verteilten. Grand Duc grübelte eine Weile herum, dann wandte er sich ab und schritt zu den Palmen hinüber, die den breiten Sandstrand landeinwärts säumten. Er blieb stehen und blickte zu dem hölzernen Käfig auf, der im zunehmenden Ostwind hin und her schwankte. Masot hatte diesen Käfig an Bord der „Saint Vincent“ zimmern lassen, um Zegú, den König von Hawaii, hineinzusperren und wie ein wildes Tier darin zu halten. Dies war eine zusätzliche Schmach und Erniedrigung für den stolzen Insulaner. Masot wußte sehr genau, wie er ihn zutiefst kränken konnte, und er hatte in der Absicht gehandelt, Zegú so sehr in seiner Ehre zu verletzen und seelisch zu quälen,
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wie er irgend konnte. Masot haßte die hochmütige Art, mit der der weißhaarige, hochgewachsene Polynesier ihm begegnet war. Grand Duc hatte auf Masots Anweisung hin den Käfig mit dem Gefangenen auf die Insel schaffen lassen. Zwei Männer waren auf eine Kokospalme gestiegen, hatten das Tau, das mit dem Dach des Käfigs verbunden war, oben auf eine Weise befestigt, daß man die Gitterkonstruktion hochziehen konnte, und dann hatte Grand Duc den Käfig hochhieven lassen, so daß er gut sechs Fuß über dem Sand hing. Das war eine weitere Schikane Masots. Er wollte Zegús Stolz brechen und ihn völlig demoralisieren. Zegú stand aufrecht in seinem hölzernen Gefängnis und sah voll Verachtung auf den Riesen hinunter. . „Geh fort“, sagte er auf spanisch. „Ich will dich nicht sehen, Pirat. Deine Gegenwart beleidigt mich.“ Wie fast alle Bewohner der Dörfer Hawaiis hatte er von Thomas Federmann, dem deutschen Freund, genügend Spanisch, Englisch und Deutsch gelernt, um sich Europäern gegenüber verständlich auszudrücken. Grand Duc zeigte sich unbeeindruckt. Er trank wieder aus seiner Flasche, spuckte aus und rief zu dem Gefangenen hinauf: „Ich hab schon verstanden, was du sagst, du braunhäutiger Affe. Soviel Spanisch kann ich, du Hund.“ „Verrecke“, sagte Zegú. „Weißt du, was ich mit dir anstelle?“ „Ich verstehe dein Gekläff nicht“, antwortete Zegú im reinsten Kastilisch – und das stimmte sogar, denn er war der französischen Sprache nicht mächtig. „Heute nacht lasse ich dich durchs Feuer tanzen, du Kannibale“, erklärte Grand Duc. „Fuego, kapiert? A to-da velocidad, comprendido? Ah, du wirst schon sehen. Du wirst tanzen und singen, in den hellsten Tönen singen, das schwöre ich dir.“ Er registrierte eine Bewegung hinter seinem Rücken und fuhr herum. Seine freie Hand fiel auf den Kolben der Steinschloßpistole, die in seinem
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Waffengurt steckte, aber er hielt in der Geste inne, als er Picou erkannte. „Gib dich das nächste Mal zu erkennen, du Idiot“, fuhr Grand Duc ihn an. „Ich kann es nicht leiden, wenn man hinter mir rumschleicht.“ „Ja, Grand Duc.“ „Was willst du? Ihr könnt es wohl kaum abwarten, den Kanaken durch die Flammen springen zu sehen, was?“ Picou schüttelte den Kopf. „Grand Duc, die Männer wollen die Weiber holen und ihren Spaß haben. Hörst du nicht, wie sie brüllen? Je mehr sie trinken, desto mehr geraten sie aus dem Häuschen.“ „Ich werde sie schon bändigen, die Bastarde ...“ „Grand Duc — Masot hatte es zumindest in Aussicht gestellt, daß wir uns die Frauenzimmer heute nacht mal so richtig vornehmen dürfen.“ Der Riese grinste plötzlich. „Ja, stimmt, ich kann mich daran erinnern. Du meinst also, es ist kein eigenmächtiges Handeln von mir, wenn ich die wilden Weiber an unserem kleinen Fest teilhaben lasse?“ „Genau das meine ich“, erwiderte Picou. Er grinste jetzt auch — noch ein wenig hinterhältiger und begieriger als Grand Duc. Grand Duc dachte wieder nach, dann hob er den Kopf und sagte entschlossen: „Also gut. Ich fahre selbst mit dem Boot zur ,Saint Vincent' 'rüber und hole die Frauenzimmer. Picou, du begleitest mich. Nimm noch zwei andere als Rudergasten mit, verstanden?“ „Ja.“ Picou drehte sich um und lief zu den Feuern zurück. Wenig später schwamm das eine Beiboot der Piraten-Galeone, das die Männer zum Übersetzen auf die Insel benutzt hatten, frei im flachen Wasser der Lagune. Grand Duc, Picou und zwei andere Freibeuter setzten sich unter den Hochrufen der anderen auf die Duchten und pullten los. 3. Sie hatten sich bis zum Vordecksschott der Backbordseite vorgepirscht, ohne auch nur
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den geringsten Laut zu verursachen. Andai öffnete behutsam das Schott zur Kuhl. Hauula war neben ihm, hinter ihnen drängten sich Mara, die beiden jungen Männer Numil und Moho, und weiter achtern im Schiffsgang standen geduckt die übrigen Mädchen, jungen Frauen und Männer. Das Schott stand nun spaltbreit offen, und Andai und Hauula spähten über die Kuhl zu den drei Männern, die sie nahe der Gräting undeutlich sehen konnten. „Wo ist der vierte?“ wisperte Hauula. „Vielleicht auf dem Achterdeck“, gab Andai genauso leise zurück. „Oder über uns?“ „Möglich ist es. Auf jeden Fall sind es vier Ankerwachen.“ „Wir müssen sie überlisten. Irgendwie.“ „Das schaffen wir nie“, flüsterte Andai. „Wir haben im Vordeck nur ein paar hölzerne Knüppel als Waffen gefunden. Damit können wir sie nicht überwältigen. Niemals!“ „Nur, wenn sie uns den Rücken zukehren“, raunte Hauula. „Den Gefallen tun sie uns nicht.“ Sie wandte ihm das Gesicht zu und musterte ihn im Dunkel des Niedergangsschachtes. Er konnte ihre Augen schimmern sehen. „Andai“, flüsterte sie. „Ich könnte dafür sorgen. Daß sie abgelenkt werden, meine ich. Ich gehe zu ihnen und dann ...“ „... schießen sie dich nieder. Nein.“ Er hielt sie am Arm fest. „Auf ein Mädchen schießen sie nicht.“ „Weißt du das?“ „Sie werden mich packen, um sich einen — einen Spaß mit mir zu erlauben. Ganz bestimmt tun sie es.“ Seine Finger schlossen sich noch fester um ihren Unterarm. „Und in der Zwischenzeit fallen wir über sie her? Ja, ich begreife schon, wie du das meinst. Aber es klappt nicht. Als erstes werden sie sich fragen, wie du überhaupt dein Verlies verlassen konntest. Hast du daran gedacht?“ „Still“, raunte sie. Über ihren Köpfen waren jetzt dumpfe Laute zu vernehmen. Schritte — sie
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bewegten sich auf den Planken der Back, also auf dem Deck, das sich genau über ihnen erstreckte. Die Schritte polterten die Stufen des Niedergangs der Backbordseite hinunter. Andai, Hauula, Mara, Numil, Moho und die anderen erstarrten und hielten unwillkürlich den Atem an. Eine Männerstimme sagte etwas in der seltsamen, für die Insulaner unverständlichen Sprache der Freibeuter. Mit den knarrenden Schritten, die sich zügig über die Planken bewegten, schien diese Stimme dem Vordecksschott näher und näher zu rücken. Andai hätte das Schott jetzt gern wieder geschlossen, aber er wagte es nicht. Er ließ Hauulas Arm los und umklammerte mit beiden Händen fest den hölzernen Belegnagel, den er beim Durchsuchen des leeren Mannschaftslogis' entdeckt hatte. Er hob die primitive Waffe und war bereit, sie dem Ankömmling kräftig übers Haupt zu ziehen. „He!“ sagte draußen die Stimme. „Grand Duc und drei andere von uns pullen mit der Jolle herüber, habt ihr's schon gesehen?“ „Nein“, antwortete eine der drei Ankerwachen bei der Kuhlgräting. „Hast du eine Ahnung, was die wollen?“ „Ja, ich hab so eine Ahnung, daß sie sich was zum Zeitvertreib holen wollen“, sagte der, der gerade von der Back heruntergestiegen war. Die anderen drei lachten. Andai, Hauula und ihre Brüder und Schwestern atmeten auf, denn die Stimme dieses Sprechers entfernte sich jetzt doch von ihnen. Im nächsten Moment vermochte Andai auch die Gestalt dieses Kerles zu sehen, denn der Pirat wanderte von der Backbord- zur Steuerbordseite des Schiffes hinüber, und das Schott versperrte dem Insulaner zu diesem Bereich der Galeone hinüber nicht die Sicht. Der Mann von der Back gesellte sich zu seinen drei Kumpanen. Alle Vier traten sie jetzt an das Schanzkleid der Steuerbordseite, lehnten sich leicht über und spähten in die Nacht. „Ja, es stimmt, da kommt die Jolle“, sagte der eine.
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Jolle — dieses Wort hatte Andai verstanden. Und er wußte auch, daß die „Saint Vincent“ ihre Steuerbordseite dem Strand der großen Lagune zugekehrt hielt. Die Wachtposten blickten jetzt also dort hinüber und mußten im flackernden Schein der Lagerfeuer die Umrisse des Bootes gut erkennen können. Andai wandte sich zu den anderen um. „Das Boot - diesmal nähert es sich wirklich“, flüsterte er ihnen zu: „Wir müssen jetzt handeln. Jetzt oder nie ...“ „Ich bleibe an deiner Seite, Andai“, wisperte Hauula. Andai schob das Schott noch ein Stück weiter auf - gerade so weit, daß der Spalt groß genug war, um einen Mann seiner Statur durchzulassen. Dann glitt er als erster hinaus auf die Kuhl, gefolgt von Hauula. Nach und nach schlüpften auch die anderen ins Freie. Als die Hälfte der Insulaner das Vordeck verlassen hatte, befanden sich Andai und Hauula bereits auf der Höhe der Gräting, schlichen sich an die Rücken der vier Piraten heran und hoben die Koffeynägel, die sie beide in den Händen hielten. Numil und Moho waren mit zwei, drei Schritten neben Andai und Hauula. Numil hatte sich mit einer Handspake bewaffnet, Moho verfügte nur über ein Stück Planke, das er aus der Werkstatt des Schiffszimmermanns hatte entwenden können. Die vier braunhäutigen Gestalten wuchsen hinter den Piraten hoch. Bevor ihre Schlagstöcke auf die Köpfe der Freibeuter niedersausten, nahm der Mann von der Back eine vage Regung hinter sich wahr, wandte den Kopf und gewahrte im nächsten Atemzug Moho, der mit drohend verzerrter Miene direkt hinter ihm stand. Der Mann von der Back gab einen heiseren Laut von sich, griff zur Pistole und wollte sie aus dem Gurt reißen, aber seine Reaktion erfolgte zu spät. Moho schlug zu. Im selben Moment ließen auch Andai, Hauula und Numil ihre Knüppel auf die Häupter der Gegner niederhageln. Alle Schläge waren gut gezielt und von größter
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Wirksamkeit. Die Franzosen brachen zusammen und sanken schlaff auf die Planken der Kuhl. Andai hielt seinen Belegnagel bereit, um gleich noch einmal zuzuhauen, aber er sah, daß dies nicht nötig war. Die vier Piraten waren bewußtlos. Andai blickte über das Steuerbordschanzkleid zu den Lagerfeuern und konnte nun auch die Konturen des näher gleitenden Bootes erkennen. Hauula, Numil und Moho hatten sich über die reglosen Gestalten gebeugt und waren dabei, ihnen die Waffen abzunehmen - die Pistolen, Entermesser. Säbel und Messer. Die anderen Insulaner huschten kreuz und quer über die Kuhl und bemächtigten sich einiger Musketen und Tromblons, die bei den Geschützen beider Batterien gegen das Schanzkleid gelehnt standen. Andai wandte sich zu ihnen um. Sein Blick fiel auf das zweite Beiboot der „Saint Vincent“, das festgezurrt und mit einem Stück gewachstem Segeltuch bedeckt auf der Backbordseite der Kuhl lag. „Rasch“, zischte er seinen Stammesbrüdern zu. „Wir müssen das Boot aussetzen und damit fliehen. Das Schiff können wir nie und nimmer aus der Lagune manövrieren, wir verstehen es nicht, mit so einem großen Segler umzugehen. Rasch, rasch.“ Numil, Moho und die anderen jungen Männer eilten auf das Beiboot, eine Jolle, zu und lösten die Zurrings. Sie zerrten die Persenning herunter und schickten sich an, das Boot zunächst hoch- und dann außenbords zu hieven, um es anschließend an Backbord abfieren zu können - da wurden sie jäh in ihrer hastigen Tätigkeit gestört. * Einer der vier Piraten von der Wachablösung, die beim Würfelspiel um einen wuchtigen Holztisch in der Mannschaftsmesse versammelt saßen, richtete sich plötzlich kerzengerade auf und wandte mit mißtrauischer Miene den Kopf.
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„Was war das?“ sagte er. „Still! Habt ihr das nicht gehört?“ Sein Kumpan zur Rechten grinste und griff zur Muck, die bis zur Hälfte mit Rum gefüllt war. „Du glaubst doch wohl nicht. daß wir darauf hereinfallen, Henri. Hältst du uns wirklich für so dämlich?“ „Ich erzähle keine Witze. Ich habe jemanden stöhnen hören.“ „Stöhnen?“ wiederholte der, der ihm gegenübersaß. „Hölle und Teufel, du hörst und siehst wohl Gespenster, was?“ „Nein.“ Henri stand auf. „Ich gehe nach oben und sehe nach, was los ist.“ „Du hast zuviel Rum getrunken“, sagte der vierte. „Das ist es. He, wir sollten überhaupt mit der Sauferei aufhören, denn bald ist Wachwechsel. Masot und Grand Duc drehen uns die Hälse um, wenn sie uns stinkbesoffen bei der Mittelwache erwischen.“ Henri rückte seinen Hocker beiseite und schritt auf das achtern befindliche Schott der Mannschaftsmesse zu. Er öffnete es, wandte sich dem Niedergang zu, der ihn nach oben, ein Deck höher, führte und zog dabei vorsorglich seine Pistole. „Er spinnt“, sagte der zweite Freibeuter in der Messe. Er hob die Muck an den Mund und nahm einen Schluck Rum. „Der Alkohol ist ihm wirklich zu Kopf gestiegen. Statt friedlich seine Freiwache abzusitzen, steckt er seine Nase in Angelegenheiten, die ihn nichts angehen.“ Der dritte erhob sich aber auch und zückte wie Henri seine Pistole. „Mag sein, aber sicher ist sicher“, sagte er. „Ich gehe mit Henri rauf an Oberdeck und sehe nach dem Rechten.“ Der vierte hob verwundert die Augenbrauen. „Verdammt, denkst du etwa, die Gefangenen ...“ „Ich denke gar nichts, ich finde nur, wir müssen ständig auf der Hut sein, ganz gleich, ob wir Wache haben oder nicht. Ihr zwei - kontrolliert mal das Kabelgatt und das Verlies der Weiber. Hölle, glotzt mich nicht so blöd an. Sie können da nicht raus, das weiß ich so gut wie ihr, aber Vorsicht ist immer noch besser als plötzlich überrascht zu werden, oder?“
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Damit war er beim Schott und stürmte Henri nach. Die beiden anderen verließen die Messe leicht schwankenden Schrittes in der entgegengesetzten Richtung und wandten sich dem Vordeck zu. Wenige Augenblicke später sollten sie die erschütternde Feststellung treffen, daß das Kabelgatt und auch der Gefängnisraum der jungen Frauen und Mädchen verlassen waren. Henri rannte ein Deck höher durch den Mittelgang der Hütte, stieß das Schott zur Kuhl auf — und sah die Polynesier, die an dem Beiboot hantierten. Er sah die reglos daliegenden Kumpane an der Steuerbordseite der Kuhl, sah Andai und Hauula und Mara, die verblüfft zu ihm herumfuhren — und dann brachte er seine Pistole in Anschlag auf die ausgebrochenen Gefangenen. Andai duckte sich tief und lief auf den Piraten zu. Henri stieß einen Fluch aus und krümmte den Zeigefinger um den Abzug der Pistole. Die Ladung zündete mit einem wahren Donnerhall. Schwer brach der Schuß, ein Feuerblitz stach auf Andai zu, und weißlicher Pulverqualm stieg zu den Rahen der „Saint Vincent“ auf. Fast im selben Augenblick fiel ein zweiter Schuß. Numil hatte die Muskete, die er auf der Kuhl erbeutet hatte, hochgerissen und mit dem Kolben gegen seine rechte Schulter gestemmt. Er stand hinter einem Backbordgeschütz und hatte geistesgegenwärtig auf den französischen Piraten gezielt. Jetzt raste die Musketenkugel auf Henri zu. Während Andai sich durch einen tigerhaften Satz nach links in Deckung warf, beging Henri den großen, folgenschweren Fehler, sich nicht um einen Zoll von seinem Platz im offenen Achterdecksschott wegzurühren. Die Kugel traf seine Brust und warf ihn zurück. Sein Körper prallte gegen den des nachdrängenden Piraten. Dieser Mann strauchelte und fiel, rappelte sich aber flink wieder auf. „Henri“, stammelte er entgeistert. „Teufel, was ...“
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Er sprach nicht weiter, denn er hatte jetzt den feuchten Fleck auf Henris Brust ertastet und spürte, daß jegliches Leben aus dem Leib des Kumpanen gewichen war. Mit einem mörderischen Fluch sprang er zum offenen Schott vor. Die anderen beiden Freibeuter aus der Mannschaftsmesse hatten sich derweil bis ins Vorschiff vorgearbeitet und trafen jetzt gerade Anstalten, dieses durch genau dasselbe Schott zu verlassen, das vorher auch die Insulaner benutzt hatten. Moho feuerte seine Muskete auf Henris Kumpan ab, der gerade in dem offenen Schott der Poop erschien. Es nutzte diesem Franzosen nichts mehr, daß er sich auf die Planken warf. Die Kugel traf seinen Kopf. Er hatte die Gefahr, der er sich hatte stellen wollen, unterschätzt. Hauula stieß einen Warnlaut aus. Die Männer von Hawaii fuhren daraufhin zum Vordeck herum. Buchstäblich im letzten Augenblick konnten sie sich hinter dem Beiboot und den Geschützen verstecken und sich so vor den Kugeln schützen, die die zwei Freibeuter vom Vordecksschott aus auf sie abfeuerten. Andai und ein anderer Insulaner rollten sich aus ihren Deckungen hervor und schossen aus zwei Pistolen, die sie vorher den Bordwachen abgenommen hatten, zurück, ehe die Piraten ihre leergeschossenen Musketen mit ihren Pistolen vertauschen konnten. Der eine Franzose brach getroffen zusammen und blieb halb auf dem Niedergang, halb auf den Planken der Kuhl liegen. Sein Mitstreiter schrie auf, warf sich herum und ergriff die Flucht. Zwei Polynesier hetzten ihm nach und waren im Vordeck verschwunden, bevor Andai sie daran hindern konnte. Andai blickte zu den Stammesbrüdern, die sich mit dem Beiboot beschäftigt hatten. „Schnell, hievt das Boot hoch!“ rief er ihnen zu. „Wir müssen fort, ehe die anderen Kerle über uns herfallen! Gegen sie können wir uns nicht behaupten!“ Flüche in der Sprache der Freibeuter hallten vom Wasser der Lagune zu ihnen herüber.
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Mara, die einen Blick über das Steuerbordschanzkleid riskiert hatte, fuhr erschrocken zu den ihren herum und sagte: „Das Boot! Es ist uns jetzt sehr nahe!“ „Andai“, stieß Hauula hervor. „Die Kanonen — sind sie nicht geladen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Und keiner von uns kann mit diesen Geschützen umgehen.“ Im Inneren des Schiffes krachte dumpf ein Pistolenschuß. Moho lief zum Vordecksschott, gefolgt von zwei anderen jungen Männern. Hauula hastete plötzlich auf das Kombüsenschott zu, das dicht daneben lag, riß es auf und tauchte in dem stockfinsteren Rechteck der Öffnung unter. Andai verfolgte es verstört und wußte nicht, ob er das Mädchen zurückholen oder gewähren lassen sollte. Er stand für einen Moment recht ratlos da, wandte sich dann aber den übrigen Männern und jungen Frauen zu, die jetzt mit vereinten Kräften das Beiboot der Galeone hochhievten, indem sie die Zugtaue Hand über Hand durchholten. Die Taue liefen durch Taljen, die an der Großrah und der Fockrah befestigt waren. Langsam hob sich die Jolle. Andai warf wieder einen Blick zum Vordeck und atmete auf, als er Moho und gleich darauf auch die anderen vier Stammesbrüder aus dem Schott stürmen sah. Moho gab durch eine Gebärde zu verstehen, daß der kurze Kampf gegen den vierten Mann der Wachablösung erfolgreich verlaufen war — zugunsten der Polynesier. Hauula erschien mit einemmal auch wieder auf der Kuhl. Sie trug ein kleines, stark abgeflachtes Metallbecken in ihren Händen, balancierte es vorsichtig vor sich her und transportierte es zu dem ersten Steuerbordgeschütz der Piratengaleone. Andai sah die Holzkohlenglut darin glimmen und begriff, was das Mädchen vorhatte. Wieder erstaunte es ihn, welche Tapferkeit Hauula an den Tag legte. Er lief zu ihr, half ihr, das Kohlebecken neben der Geschützlafette abzusetzen und griff dann instinktiv zu dem Luntenstock mit der
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Zündschnur, der mit dem anderen Zubehör der Kanone neben der Lafette bereitlag. Hauula wies auf das Kohlebecken. „Ich habe es auf dem Kombüsenherd vorgefunden“, erklärte sie. „Die Piraten müssen es dort für alle Fälle bereitgehalten haben.“ „Und du meinst wirklich, daß die Kanone geladen ist?“ fragte Andai atemlos. „Versuchen wir es wenigstens.“ Schüsse peitschten in der Lagune auf, Feuerblitze waren zu sehen. Andai und das Mädchen zogen augenblicklich die Köpfe ein. Die Jolle mit Grand Duc und den drei anderen Piraten darin - soviel hatte Andai durch einen raschen Blick über das Schanzkleid eben noch sehen können - war der Galeone wirklich bedrohlich nahe. Andai deutete auf die Stückpforte. „Wir müssen diese Klappe öffnen, glaube ich. Hilf mir.“ Er zerrte an der Verriegelung der Pforte. Numil und Moho glitten heran, um ihnen bei dem Vorhaben zu helfen. Die anderen Polynesier hatten das Beiboot jetzt über das Backbordschanzkleid hinausbefördert und begannen, es in Lee abzufieren. Heftiger strich der ablandige Wind über das Deck der Galeone. Wieder fiel in der heran schwimmenden Jolle ein Schuß, und diesmal glaubte Andai die Kugel haarscharf über seinen Kopf hinwegpfeifen zu hören. Er hatte die Verriegelung der Stückpforte gelöst. Numil zog sie vermittels des dazugehörigen Tampens auf, und sie konnten jetzt durch die Öffnung genau auf die Jolle mit den vier Seeräubern blicken. Hauula und Moho mühten sich damit ab, das Rohr der Kanone zu senken und sie in Feuerstellung zu bringen. Sie schafften es aber erst, als auch Andai und Numil mit zupackten. Die Mündung des schweren 17-Pfünders richtete sich durch den Lukensüll auf die Jolle der Piraten. Andai und seine Freunde taten dies alles zum erstenmal in ihrem Leben, aber sie wußten in etwa, wie sie mit der Culverine umzugehen hatten, denn Thomas
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Federmann hatte es ihnen zumindest theoretisch beigebracht. Der Erfolg, den sie mit den Handfeuerwaffen im Kampf gegen die Piraten zu verzeichnen gehabt hatten, bestärkte sie in ihrem Unternehmen. Ehe die Jolle sich noch näher an den Segler heranschieben konnte, hatte Andai die Lunte in der glühenden Holzkohle entfacht und senkte den Stock auf das Bodenstück 4er Culverine. Hauula, Moho und Numil wichen zu den Seiten fort und hielten die Hände gegen die Ohren. Andai sah, wie die Glut von der Lunte auf das Pulver im Zündkanal des Bodenstückes übersprang, und hörte es vernehmlich knistern. Dann rückte auch er aus der unmittelbaren Nähe des Geschützes fort keinen Augenblick zu spät. Das Wummern der Explosion war ohrenbetäubend, Andai schützte seinen Kopf mit den Händen, weil er glaubte, die Culverine würde ihnen nun um die Ohren fliegen. Hauula stieß einen Schreckensschrei aus. Numil verlor vor lauter Aufregung das Gleichgewicht und stürzte auf die Planken. Der 17-Pfünder raste auf seiner Lafette zurück und spuckte Feuer und Eisen aus. Das Deck erbebte und schien zerspringen zu wollen. Es mutete wie ein Wunder an, daß die Planken diesem höllischen Rumpeln und Zittern doch standhielten. Die Brook stoppte den Rückstoß. Plötzlich stand das Geschütz still. Im Heulen der 17-Pfünder-Kugel war das Brüllen der Piraten in der Jolle zu vernehmen. Grand Duc und seine drei Begleiter schrien in Todesangst. 4. Thomas Federmann grub und grub mit seinem Spaten, seine Hände hatten Blasen und waren an mehreren Stellen aufgeplatzt. Er keuchte und duckte sich unwillkürlich, als er einen mehrfachen Peitschenknall zu hören glaubte. Ließ Masot die Neunschwänzige jetzt ohne jeglichen Grund auf seinem Rücken tanzen? Hatte er die Geduld verloren? Wollte er ihn totschlagen?
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Die Gespenster der Nacht schienen wieder aus dem Busch zu schlüpfen und über den entkräfteten Deutschen herzufallen. Thomas fühlte es in seinem Kopf tosen und wirbeln, wankte wieder und vernahm kaum noch die Stimme Masots, die rief: „Teufel, was ist denn da unten in der Lagune los? Was...“ Wieder knallte es — zweimal kurz hintereinander. „Das kommt von der ,Saint Vincent“`, sagte Gugnot verdattert. Und Saint Cyr stieß fassungslos aus: „Beim Donner, das hört sich ja ganz so wie ein Überfall an.“ Masot drehte sich um, lief los und rief ihnen nur noch zu: „Paßt auf diesen Hurensohn von einem Deutschen auf! Ihr büßt mir mit eurem Kopf dafür, wenn er euch entwischt!“ Mit seinen letzten Worten verschwand er bereits im Dickicht, das die kleine Lichtung umsäumte. Thomas Federmann sank auf die Knie. Er kauerte jetzt in der fast einen Yard tiefen Grube, die weniger das Versteck eines riesigen Schatzes als vielmehr der Ort zu sein schien, an dem er sich zur ewigen Ruhe betten würde. Sein Grab! „Aufstehen und weitergraben, du Satansbraten!“ schrie Saint Cyr ihn an. „Bilde dir bloß nicht ein, du könntest jetzt faulenzen, weil Masot fort ist!“ „Wird's bald?“ rief Gugnot. Das Grollen, das jetzt von der Lagune herauf tönte, schien geradewegs den Schlünden der Finsternis zu entspringen. In einer grausigen Vision sah Thomas all die Dämonen und Teufel, die Zerberusse und Schimären, die am Tag der großen Abrechnung wohl dem Jenseits entschlüpfen mußten, um auf Erden die Apokalypse herbeizuführen. „Das war eine von unseren Kanonen“, stieß Saint Cyr entsetzt hervor. Er drehte sich um, trat an den westlichen Rand der Lichtung und reckte in der Hoffnung, dort unten in der Lagune etwas Genaueres erkennen zu können, den Hals. Gugnot blickte von Thomas Federmann zu Saint Cyr und von dem Kumpanen zurück
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zu dem erschöpften Deutschen. Er wußte plötzlich nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Sollte er Federmann hochpeitschen — oder verlangte das Geschehen in der Inselbucht ihre volle Aufmerksamkeit? Wurden sie dort gebraucht? „Mist“, fluchte er. „Was wird hier gespielt? Was ist los, he? Was, Saint Cyr?“ „Weiß ich das? Ich sage dir nur, das war eine unsrer Culverinen, da bin ich ganz sicher. Wessen Kanonen sollten hier wohl auch sonst in die Gegend feuern?“ Thomas hockte immer noch schwitzend und entkräftet in der ausgehobenen Grube, aber sein Geist war jetzt wieder imstande, klare Gedanken zu fassen. Nein, du bist nicht verrückt, sagte er sich, noch hat die Stunde deines Unterganges nicht geschlagen. Noch hast du eine Chance: Er wandte den Kopf, öffnete die Augen und sah Saint Cyr und Gugnot dort drüben, keine drei Yards entfernt, am Rand der Lichtung. Blickten sie nicht über das Dickicht hinweg nach Westen - zum Inselstrand? Sie hatten ihm den Rücken zugekehrt. Er hielt den Atem an. Dann kroch er so vorsichtig wie möglich aus der Grube heraus. Er robbte von dem elenden, modrig riechenden Loch fort, fühlte, wie der Hauch des drohenden Todes von ihm abglitt und schöpfte neue Hoffnung. Ein unbändiger Lebenswille beseelte ihn plötzlich. Er ahnte, was auf der „Saint Vincent“ vorgefallen war. Er kroch weiter, immer weiter, und erreichte das schützende Gebüsch. Saint Cyr drehte sich um, um einen prüfenden Blick auf den Gefangenen zu werfen, von dem er annahm, daß dieser nach wie vor schwer atmend und unfähig, sich zu regen, in der Grube kauerte. Gugnot zuckte zusammen, als Saint Cyr einen heiseren Schrei ausstieß. „Da! Er haut ab!“ rief Saint Cyr. „Verfluchter Mist, der Hund türmt! Gugnot, so tu doch was, du Idiot!“ Gugnot wirbelte herum. Saint Cyr hatte seine Muskete in Anschlag gebracht und drückte
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auf die Gestalt des Deutschen ab, die soeben im Dickicht verschwand. Der Schuß blaffte über die Lichtung, aber die Kugel traf nicht. Thomas Federmann hatte sich im Dickicht halb aufgerichtet und arbeitete sich schneller voran. Die Musketenkugel schlug hinter seinen nackten Füßen in den weichen Untergrund. Fluchend nahmen die Piraten die Verfolgung auf. Thomas lief um sein Leben. * Masot sah nicht, wie die 17-Pfünder-Kugel dicht bei der Jolle ins Wasser der Lagune schlug und eine mächtige Fontäne hochriß. Er wurde nicht Zeuge, wie die Woge, die sich aus der Fontäne entwickelte, auf das Boot zulief und es zum Kentern brachte. Ja. Grand Duc, Picou und die anderen beiden Freibeuter befanden sich in derart ungünstiger Position, daß die Welle ihr Fahrzeug glatt umwarf. Zu allem Übel hatten sie auch noch die Riemen eingeholt, um ihre ganze Konzentration dem Musketen- und Pistolenfeuer widmen zu können, das sie auf die Eingeborenen auf der Kuhl der „Saint Vincent“ eröffnet hatten - und so verfügte die Jolle über weitaus weniger Stabilität im Wasser als mit ausgefahrenen Riemen. Sie kenterte also, und Grand Duc, Picou und die anderen beiden landeten in den Fluten. Das Naß erstickte ihre lästerlichen Verwünschungen, und sie konnten heilfroh sein, daß sie nicht von dem niedersausenden Dollbord getroffen und erschlagen wurden. Sie strampelten unter Wasser mit den Beinen und tauchten wieder auf, und Grand Duc fand als erster die Sprache wieder. „Wir schwimmen“, keuchte er. „Wir schwimmen zum Schiff und entern und bringen sie alle um.“ Er zog sein Entermesser aus dem Gurt und schob sich die Klinge zwischen die Zähne. Er verging fast vor Wut auf die Feinde, schloß kurz die Augen, öffnete sie wieder
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und glitt mit weit ausholenden, kräftigen Zügen auf die Galeone zu. Picou und die anderen folgten seinem Beispiel. Sie rechneten damit, von einem zweiten Kanonenböller empfangen zu werden. Deshalb hatte Grand Duc nichts Eiligeres zu tun, als sich und seine Mannen in die Nähe der schwarz aufragenden Bordwand zu bringen. Dort befanden sie sich im toten Schußwinkel - zumindest, was die Culverinen betraf. Mit Musketen und Tromblons und Pistolen konnten die Gegner immer noch auf sie feuern. Grand Duc erreichte die Bordwand und stellte in ohnmächtigem Zorn fest, daß die Jakobsleiter, die hier vorher heruntergebaumelt hatte, jetzt verschwunden war. Er trat Wasser und überlegte krampfhaft, was zu tun sei. Wie sollten sie entern, wenn sie keine Taue und Haken zur Verfügung hatten? Es gab nur noch eine vernünftige, wenn auch zeitraubende Möglichkeit, an Bord der Galeone zu gelangen. Er mußte bis zum Ruder schwimmen und daran hochklimmen. Grand Duc zögerte nicht. Er schwamm weiter, gelangte an das Heck des Dreimasters, tastete sich an das Ruderblatt, umklammerte es, holte zwischen seinen Zähnen und der dazwischen festgeklemmten Entermesserklinge ein paarmal tief Luft und kletterte dann hoch, dem Hennegat und dem Rudersteven entgegen. Masot hatte derweil den Inseldschungel hinter sich gebracht und stürmte unter Palmen, die stark vom Ostwind gekrümmt wurden, auf den Strand zu. Er sah jetzt endlich die Lagerfeuer, die ziemlich weit heruntergebrannt waren, und erkannte die Gestalten seiner Leute. Vergebens suchte er mit dem Blick nach Grand Duc. Die Piraten standen dicht bei der Brandung und hielten die Augen auf die Lagune und die „Saint Vincent“ gerichtet. Stumm waren sie jetzt, betreten wirkte ihre Körperhaltung, alles Grölen und Singen
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und Trinken und Witze reißen war vergessen. An einer der größten Kokospalmen hing der hölzerne Käfig mit dem Tau. Zegú, der König von Hawaii, hatte sich in seinem Verlies aufgerichtet, hielt die Gitterstäbe mit den Händen umschlossen und sah unverwandt zu der Galeone hinüber. „Pele, Pele“, murmelte er immer wieder. „Feuerspeiende Göttin der Vulkane, hilf meinen Brüdern und Schwestern, daß sie entkommen. Um mein Leben ist es nicht schade, mir ist nicht mehr daran gelegen, dieses Eiland zu verlassen, aber sie sind alle noch jung, sie sind die Zukunft unserer Heimat, Pele.“ Masot langte schwer atmend bei seinen Männern an. Er spähte über ihre Schultern und sah jetzt undeutlich etwas im Wasser — nicht weit von der Galeone entfernt. Wellenringe liefen in der Nähe des seltsamen Gegenstandes auseinander oder leckten über ihn weg. „Was ist das?“ brüllte Masot seine Meute an. „Das dort — was in aller Welt ist das für eine Teufelei?“ „Das ist unsere Jolle“, sagte einer der Kerle. Masot stieß einen japsenden Laut aus, rang nach Luft. „Sie ist ...“ „Gekentert“, sagte ein beherzter Freibeuter. Und er berichtete Masot auch gleich das, was sich seit dem ersten Schuß an Bord der „Saint Vincent“ ereignet hatte. Masot taumelte und suchte nach einem Halt. „Das kann nicht sein. Die dreckigen Hunde, die braunen Bastarde — sie sind ausgebrochen und jetzt — jetzt wollen sie mit unserem Schiff türmen?“ Er blickte sich wild nach allen Seiten um. „Ein Boot! Ich brauche sofort ein Boot!“ „Die zweite Jolle befindet sich noch an Bord der ,Saint Vincent“, sagte der Kerl. „Folglich sind uns die Hände gebunden, Masot.“ „Nein!“ schrie Masot. „Lieber schwimme ich zu meinem Schiff, als daß ich dastehe und tatenlos zusehen muß, wie ...“ Er brach ab, um sich seinen Rock vom Leib zu reißen.
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„Moment, da entert jemand am Ruder der ,Saint Vincent' auf“, sagte plötzlich einer der Piraten. „Hölle, ich verwette meinen Kopf darauf, daß es Grand Duc ist!“ „Stimmt!“ pflichtete ihm sofort ein anderer Kerl bei. „Und Picou ist dicht hinter ihm.“ Die Freibeuter sprachen plötzlich durcheinander. „Sie sind also nicht. ertrunken!“ „Sie leben — alle vier!“ „Sie schaffen es!“ „Still“, zischte Masot. „Wollt ihr die Kanaken etwa warnen, ihr Satansbraten? Grand Duc hat einen Überraschungsangriff auf sie vor — und den führt er auch radikal durch, das kann ich euch versichern. Schweigt, damit die braunen Hurensöhne nichts von dem, was er plant, merken.“ Er trat ein paar Schritte nach rechts, senkte sein bärtiges Haupt und sah angestrengt zur Galeone hinüber. ..Grand Duc, mein ganzer Dank gebührt dir, wenn du es fertig bringst. die ,Saint Vincent` zurückzuerobern“, sagte er. „Und du kannst es. Ich weiß, daß du es kannst. Nur zu, Freund, zeig es diesen Bastarden, wie du mit ihnen umspringst.“ Langsam drehte er sich zu Zegú um, der immer noch aufrecht in seinem hängenden Holzkäfig stand. „Und mit dir“, flüsterte Masot. „Mit dir rechne ich nachher noch gründlich ab. Du hast deine Leute aufgewiegelt, als du noch an Bord der 'Saint Vincent` warst. Nur weil du es ihnen befohlen hast, haben sie diesen Ausbruch gewagt. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben, aber du wirst dafür büßen.“ Er hob die Faust und schüttelte sie zu Zegú hinüber. Zegú maß ihn mit einem so kalten und verächtlichen Blick, daß Masot am liebsten seinen Schiffshauer gezückt und ihn damit umgebracht hätte. 5. Die „Isabella“ krängte schwer nach Steuerbord. Mit Backbordhalsen hoch am Wind segelnd, hielt sie den vom Seewolf befohlenen Südkurs, aber es wurde für
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Rudergänger Pete Ballie und die Deckswache, die die Segelmanöver durchzuführen hatte, immer schwerer, nicht davon abzuweichen. „Sir!“ rief Carberry von der Kuhl zum Quarterdeck hoch. „Mir scheint, der Wind dreht noch weiter und pfeift uns gleich aus Südosten entgegen!“ Der Seewolf hatte Pete Ballie im Ruderhaus einen kurzen Besuch abgestattet, jetzt trat er wieder aufs Quarterdeck hinaus und hielt mit nachdenklicher Miene die Nase in den Wind. „Ja“, sagte er. „Donegal behält also doch recht mit seiner Vorhersage. Und auch der Rest wird wohl zutreffen.“ „Wir kriegen Sturm!“ rief Siri-Tong vom Achterdeck her. „Ben, Ed!“ schrie der Seewolf. „Laßt vorsorglich die Manntaue spannen und haltet die Sturmsegel bereit!“ „Aye, aye, Sir!“ Hasard wandte sich zum Ruderhaus um und sagte im zunehmenden Heulen des Windes: „Pete, abfallen! Ruder etwas Steuerbord!“ „Abfallen, Sir“, wiederholte Pete Ballie. Das Rad drehte sich unter seinen schwieligen Händen. „Ruder liegt etwas Steuerbord.“ „Abfallen“, gab Ben Brighton, der auf dem Backbordniedergang zur Kuhl stand, den Befehl weiter. Die Crew bestätigte ihn. „Sir!“ schrie hoch über den Köpfen der Männer und der Roten Korsarin plötzlich Bill, der Moses. Er hatte sich auf seinem Posten, dem Großmars, kerzengerade aufgerichtet und wies mit der ausgestreckten Hand Steuerbord voraus. „Ich sehe Licht! Steuerbord voraus!“ Hasard und alle anderen auf den Decks fuhren herum und blickten in die von Bill angegebene Richtung. Hasard sah noch das Zucken des Feuerblitzes in der Ferne, dann hörte er trotz des Jaulens und Summens des Windes das tiefe Grollen, das über die gefurchte See heranrollte. „Kanonendonner“, sagte er. „Nur ein einziger Schuß, Sir!“ rief Bill. „Es scheint kein weiterer abgegeben zu
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werden. Aber ich habe ein paar schwächere Blitze gesehen.“ „Schwächere Blitze?“ brüllte Carberry zum Großmars hinauf. „Was zum Teufel meinst du Kakerlak damit? Drück dich gefälligst deutlicher aus, oder du kriegst es mit mir zu tun.“ Hasard war an die Querbalustrade des Quarterdecks getreten und blickte zu den Männern, die er wie schemenhafte Wesen auf der Kuhl hin und her eilen sah. Carberry stand wie ein allgewaltiger Felsen in ihrer Mitte. „Ed!“ rief er ihm zu. „Ich schätze, es könnte sich um Musketenfeuer gehandelt haben.“ „Aber ich hab's nicht krachen hören, Sir!“ „Der Wind heult zu laut, und die See rauscht zu stark, Ed. Wir haben nur den Kanonenböller vernehmen können.“ „Jawohl., Sir. Wir haben da also ein fremdes Schiff vor der Nase?“ „Wahrscheinlich“,. erwiderte der Seewolf. Dan O'Flynn rief: „Was denn wohl sonst, Profos? Eine Reiterschwadron mit Kanonen vielleicht - oder eine fliegende Festung?“ „Mister O'Flynn!“ brüllte Carberry, daß es von den Querwänden der Schiffskastelle widerhallte. „Es könnte immerhin angehen, daß es eine Inselfestung ist, von der aus in die Gegend geballert wird, oder? Dein schwacher Geist braucht eine zünftige Behandlung, du Stint!“ „Ruhe!“ schrie der Seewolf. „Pete, weiter abfallen. Ruder Steuerbord!“ „Ruder liegt Steuerbord, Sir!“ „Abfallen, ihr Rübenschweine!“ tönte Carberrys Stimme über die Kuhl. „Habt ihr nicht gehört? He, ihr triefäugigen Seegurken, muß ich euch erst wachrütteln, was, wie?“ „Gott bewahre uns davor“, sagte der Kutscher, der soeben die Kombüse verlassen hatte, um sich an den Manövern zu beteiligen. Philip und Hasard, die Zwillinge, waren jetzt auch an Oberdeck und lachten hinter der vorgehaltenen Hand. Carberry gewahrte sie, brüllte sie an und scheuchte sie quer über die Kuhl, damit sie beim
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Spannen der Manntaue mithalfen, und ihr Lachen war jetzt wie weggewischt. Sir John, der karmesinrote Aracanga, schrie von irgendwoher seine wüsten Flüche, und zwar auf englisch und auf spanisch. Arwenack, der Schimpanse, hatte den Großmars, wo er Bill Gesellschaft geleistet hatte, verlassen und turnte keckernd in der Takelage herum. Es herrschte Aufregung an Bord. „Den Feuerblitz ansteuern, Pete!“ rief der Seewolf. „Aye, Sir. Ich hab's mir gemerkt, wo die Stelle war!“ rief Pete Ballie aus dem Ruderhaus zurück. Höher türmten sich die Wellen auf, dichter ballten sich die schwarzen Wolken am Nachthimmel zusammen. Gischt sprühte am Bug und an den Bordwänden der „Isabella“ hoch und näßte die Decksplanken und die Gestalten der Männer und der schwarzhaarigen Frau. Siri-Tong war dicht neben Hasard getreten und fragte: „Sollten wir nicht lieber die Sturmsegel setzen?“ „Noch nicht“, erwiderte er. „Ich will so viel Fahrt wie möglich laufen und den Punkt erreichen, an dem geschossen wurde.“ Die „Isabella“ segelte immer noch mit Backbordhalsen und über Steuerbordbug liegend, aber die Gefahr, daß die Segel zu killen begannen, war gebannt, denn der Wind blies jetzt zwar steif bis stürmisch aus Südost, doch der neue Kurs lag Richtung Südwesten an. „Was meinst du?“ fragte die Rote Korsarin vorsichtig. „Ob das wohl die ,Saint Vincent' gewesen sein könnte?“ Hasard wandte den Kopf und blickte sie an. „Zu solch einer Hoffnung mag ich mich nicht versteigen. Ich kann nach wie vor nur alles dem Zufall überlassen. Was immer der Anlaß für die Schüsse war, was immer wir dort im Südwesten vorfinden ich kann erst urteilen und handeln, wenn ich weiß, mit wem ich es dort zu tun habe.“ Sie richteten beide ihren Blick voraus und warteten darauf, wieder einen Feuerblitz in der Nacht zu sehen.
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Aber es fielen keine Schüsse mehr. Die „Isabella“ kämpfte sich mit gut sieben Knoten Fahrtgeschwindigkeit durch die stark kabbelige See und schien es selbst eilig zu haben, den Dingen auf den Grund zu gehen. * Grand Duc hatte es nie bedauert, daß die „Saint Vincent“ keine Heckgalerie hatte wie viele andere Segelschiffe ihrer Zeit, aber jetzt, als er triefendnaß mit dem Entermesser zwischen den Zähnen an dem riesigen Steuerruder hochkletterte, verfluchte er diese Tatsache. Eine Heckgalerie hätte sein Unternehmen wesentlich erleichtert. Er hätte sich über die Reling schwingen und in die Kapitänskammer eindringen können, um von dort aus quer durch die Hütte bis auf die Kuhl zu gelangen. So aber mußte er ganz bis zum hoch aufragenden Heck hinaufklettern. Gewiß, er hätte eins der Bleiglasfenster der Kapitänskammer zertrümmern können, aber dieses Geräusch hätten die Insulaner zweifellos vernommen. Sie wären daraufhin sofort mit ihren Beutewaffen herbeigeeilt und hätten vom Achterdeck aus ein Zielschießen auf ihn, Grand Duc, und auf Picou und die beiden anderen Kerle veranstaltet. Grand Duc arbeitete sich folglich vom Hennegat aus an den hölzernen Verzierungen des Schiffshecks hoch, um das Achterdeck zu erreichen. Er glitt zweimal mit den Händen ab und unterdrückte einen fürchterlichen Fluch, aber dann hatte er es endlich doch geschafft und konnte an der großen eisernen Hecklaterne vorbei über die Handleiste der Reling auf den hinteren Teil des Achterdecks entern. Hier verharrte er geduckt. Er hatte erwartet, daß die Polynesier wieder auf ihn und seine Kumpane schießen würden. Waren sie denn wirklich so einfältig, zu glauben, daß alle vier Piraten aus der Jolle ertrunken oder vom
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kenternden Boot erschlagen worden waren? Nein. Unmöglich. Sie konnten nicht so dumm sein. Vielmehr hatten sie sich jetzt wohl gesagt, daß es klüger sei, sich still zu verhalten und den Feinden auf dem Deck der Galeone aufzulauern. Eine Falle also. Grand Duc wandte sich zu Picou um, der in diesem Augenblick über die Heckreling kroch. Er gab ihm ein Zeichen; sich vorsichtig zu verhalten. Picou begriff und verständigte seinerseits die beiden anderen Piraten. Kurz darauf bewegte sich das Quartett auf allen vieren über die Planken des Achterdecks. Grand Duc befand sich an der Spitze seines kleinen Stoßtrupps. Er hatte das Entermesser in die rechte Faust genommen. Jeden Moment rechnete er mit einem Angriff der Insulaner aus dem Hinterhalt. Er war sich im klaren darüber, daß sie den ausgebrochenen Geiseln gegenüber ohne Handfeuerwaffen auf jeden Fall unterlegen waren. Trotzdem drang er immer weiter vor. Die Wut und der Haß, die in ihm gärten, und der draufgängerische Mut des hartgesottenen Karibik-Piraten, der vor nichts zurückschreckte, trieben ihn voran. So langte er bei der Schmuckbalustrade an, die den Querabschluß zur Kuhl bildete. Der Wind — jetzt aus Südosten wehend — strich pfeifend über die Insel und die Lagune und setzte dem Wasser eine kräuselnde Dünung auf. Die „Saint Vincent“ bewegte sich schwerfällig und schwojte an der Ankertrosse, ihre Blöcke und Rahen knarrten, das Wasser umspülte gurgelnd ihren Rumpf. Dies war die unheimliche Begleitmusik zu der wahrhaft gespenstischen Szene, die sich Grand Ducs Augen bot. Er spähte zwischen zwei Pfosten der Schmuckbalustrade hindurch und konnte fünf reglose Gestalten erkennen. Vier lagen am Steuerbordschanzkleid, eine im offenen Vordeckschott. Grand Duc, dessen Augen sich ziemlich gut auf die Dunkelheit eingestellt hatten, sah, daß es sich nicht um Eingeborene von Hawaii,
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sondern um die Wachtposten des Schiffes handelte. Aus ihrer Kleidung konnte er .dies eindeutig schließen. Von den Insulanern war nichts zu entdecken. Grand Duc beschloß, die Lage zu forcieren, sein Schicksal sozusagen herauszufordern, und richtete sich an der Schmuckbalustrade auf. So bot er etwaigen Heckenschützen seinen gewaltigen Oberkörper als Zielfläche dar. Aber kein Schuß fiel. Grand Duc lehnte sich etwas vor, spähte senkrecht nach unten und sah eine sechste Gestalt auf der Kuhl liegen — verkrümmt und augenscheinlich ohne einen Funken Leben im Leib. Es war einer der Piraten, die sich zur Wachablösung in der Mannschaftsmesse bereitgehalten hatten. Bis zum Achterdecksschott hatte er es geschafft, weiter nicht. Unter seinem Körper hatte sich eine dunkle Lache gebildet. Grand Duc sah weder Picou noch die beiden anderen tropfnassen Männer neben sich. Er befand sich wie in Trance, als er jetzt zum Niedergang hinüberschlich, die Stufen hinunterstieg und auf die Kuhl trat. Wenn sie ihn töten wollten, dann war dies die ideale Gelegenheit dazu. Aber niemand griff ihn an, er konnte ungehindert zu dem Toten vor dem Achterdecksschott gehen und ihn einer kurzen Untersuchung unterziehen. Grand Duc konnte auch zu den vieren am Steuerbordschanzkleid hinüberwechseln und zu seinem Erstaunen registrieren, daß zwei von ihnen sich soeben bewegten und nach den Beulen an ihren Hinterköpfen tasteten, wobei sie üble Verwünschungen ausstießen. Grand Duc, Masots rechte Hand, begriff, daß alle vier nur bewußtlos geschlagen worden waren. Erst dann drehte er sich um, blickte nach Backbord und stellte fest, daß die zweite Jolle fehlte. Nein, er hatte von seinem Boot aus nicht sehen können, wie die Insulaner die zweite Jolle hochgehievt und dann außenbords abgefiert hatten. Jetzt erst fand er die Erklärung für die lange Feuerpause, für die geisterhafte Stille, die nach dem Gefecht
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eingetreten war - und er stürmte zum Backbordschanzkleid. Keine Jakobsleiter, nur zwei Taue waren dort belegt worden. Grand Duc lehnte sich über die Handleiste und sah die Taue außenbords baumeln. Daran also waren sie hinuntergehangelt. „Picou!“ schrie er blind vor Wut. Er hob den Blick etwas, spähte in die tiefe Finsternis der Lagune hinaus und glaubte plötzlich, die Umrisse der davongleitenden Jolle zu erkennen. Er wußte, daß es genauso gut eine Täuschung sein konnte, aber er klammerte sich an diese letzte Möglichkeit, die Tat der Gefangenen zu vergelten. „Picou, zu mir!“ brüllte er, dann löste er sich von dem Schanzkleid, eilte nach vorn und erklomm die Back mit zwei mächtigen Sätzen. Er stürzte an die linke der beiden auf der Balustrade der Back montierten Serpentinen, und dann erschien auch Picou, der natürlich begriffen und in aller Eile das Kupferbecken mit der immer noch glimmenden Holzkohle darin von der Kuhl mitgebracht hatte. Es war das Becken, in dem Andai kurz zuvor die Lunte für den 17Pfünder entzündet hatte. Grand Duc drehte das leichte Geschütz in der Gabellafette und richtete die Mündung auf jenen Punkt in der westlichen Lagune, an dem er die Jolle gesehen zu haben glaubte. Picou entfachte die Lunte, als Grand Duc die Serpentine justiert und festgeschraubt hatte. Grand Duc entriß ihm den Luntenstock und zündete die Ladung selbst. Die Serpentine krachte und rüttelte an der Gabellafette, als wollte sie sie aus der eisernen Verankerung reißen. Im Aufzucken des Mündungsblitzes glaubten Grand Duc und Picou die Jolle mit den Flüchtigen für einen Augenblick zu erkennen, aber dann erlosch der Schein, und die Wahrnehmung ging im finsteren Nichts unter. Rauschend stieg eine Wasserfontäne auf, aber das Bersten von Holz und die Schreie tödlich Verwundeter blieben aus.
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Grand Duc feuerte auch die zweite Serpentine ab - mit dem gleichen Mißerfolg. Zwei dröhnende Schüsse waren wirkungslos in der Nacht verpufft. „Unsere Jolle bergen“, stieß Grand Duc hervor. Seine Schläfen- und Halsadern traten beängstigend hervor, soviel vermochte Picou trotz der Dunkelheit zu sehen. „Sie aufrichten, das Wasser ausösen, an Land und die Kameraden holen. Wir müssen ankerauf gehen und diesen Teufeln nachsegeln, wir ...“ Er entdeckte die beiden anderen Kumpane. Sie hatten soeben die Back geentert und schnitten betretene Mienen. „Habt ihr die Schiffsräume durchsucht?“ fragte Picou. „Nun redet doch schon! Was habt ihr gefunden?“ „Einen Toten im Vordeck“, erwiderte der linke der beiden Kerle. „Ist es einer dieser braunen Hunde?“ fuhr Grand Duc ihn an. „Nein. Einer von uns.“ „Und im Achterdecksgang liegt Henri. Er ist auch tot“, erklärte der andere leise. Grand Duc sprach stockend, als bereite es ihm ungeheure Schwierigkeiten. „Die Geiseln — sind sie alle ...“ „Sie sind alle geflohen, Grand Duc, daran besteht kein Zweifel“, sagte Picou. Die beiden anderen bestätigten es durch Kopfnicken. „Die Jolle!“ brüllte Grand Duc sie an. „Die Jolle bergen, ihr Hunde!“ Er blieb stehen, als sie davonstoben und schüttelte den Kopf, als müsse er eine vernichtende Last abwerfen. Dann erst fiel ihm ein, daß er sich um ein Detail von außerordentlicher Wichtigkeit bislang noch nicht gekümmert hatte. „Der Schatz“, murmelte er bestürzt. „Mon Dieu, der Schatz ...“ Er verließ die Back, raste über die Kuhl, sprang über die Leichen, die den Achterdecksgang versperrten, und langte keuchend bei der Tür zur Kapitänskammer an. Er riß sie auf, stürzte zum Pult, öffnete die Schublade, entnahm ihr einen großen eisernen Schlüssel, verließ die Kammer wieder und eilte ein Deck tiefer zu einem verborgen liegenden Raum, zu dem nur
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Masot den Schlüssel hatte. Daß der Schlüssel im Kapitänspult aufbewahrt wurde, hatte er nur Grand Duc anvertraut. Der Riese öffnete mit fliegenden Fingern die Tür. Er konnte nicht erkennen, was dahinter lag, als er sie aufzog, tat zwei tastende Schritte vorwärts und strauchelte dann fast über die schwere Truhe, die unverändert in der Mitte des engen, niedrigen Raumes stand. Er bückte sich und öffnete sie, und er lachte heiser auf, als seine Finger bei der ersten flüchtigen Untersuchung voll in die prasselnden Gold- und Silberstücke griffen. Pieces of eight. Achterstücke. Spanische Piaster, mehr als eine halbe Million davon. Thomas Federmann hatte sie ihnen ausgehändigt, als sie Hawaii besetzt hatten. Er hatte es tun müssen, es war ihm nichts anderes übrig geblieben, denn sonst hätte Masot alle Männer der Insel töten und die Frauen vergewaltigen lassen. Grand Duc forschte weiter. Auch die zweite, kleinere Truhe, war noch da. Er hob auch ihren Deckel und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß der Inhalt komplett war. Smaragdbesetzte Ketten, Armreifen und Diademe — „Esmeraldas“ aus NeuGranada. Grand Duc hatte nicht die geringste Ahnung, wie dieser Deutsche jemals an die grünen Diamanten herangekommen sein mochte, aber er maß dem auch keinerlei Bedeutung bei. Mochte es Federmanns Geheimnis bleiben, die Hauptsache war, daß die auf Hawaii erbeuteten Schätze noch vollständig vorhanden waren. Bei ihrer Flucht hatten die Insulaner keine Zeit und keine Gelegenheit gehabt, noch danach zu suchen. Grand Duc schloß den Raum ab, brachte den Schlüssel wieder in die Kapitänskammer und kehrte zu den Kumpanen auf die Kuhl zurück. Der Wind hatte zugenommen und heulte mit Sturmstärke über die Lagune, das konstatierte er sofort. Die Lagune lag geschützt zwischen der großen Insel, kleineren Eilanden und Riffen, hier konnte kein starker Seegang entstehen, aber
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draußen, auf dem offenen Meer, mußten die Wogen jetzt höher und höher steigen. Picou wandte sich zu dem Riesen um und rief; „Grand Duc, wenn diese braunen Huren und Hurenböcke zwischen den Riffen hindurch auf die offene See pullen, dann haben sie ihr Todesurteil selbst unterschrieben. .Sie werden alle ersaufen, die Hunde, denn das Wetter hat eben erst begonnen und wird noch schlimmer werden.“ Grand Duc blieb stehen. Seine Züge hellten sich plötzlich etwas auf. „Ich schätze, das nimmt uns ein hübsches Stück Arbeit ab, Picou. Laß sie krepieren, die Kanaken, sie haben es nicht anders verdient.“ 6. Bill, der Moses, meldete sich zwar sofort wieder aus dem Großmars, als im Südwesten die zwei Geschützfeuer kurz hintereinander losdonnerten, aber er hätte seinen Kapitän nicht darauf hinzuweisen brauchen, denn dieser hatte die ganze Zeit über aufmerksam vorausgespäht und das Aufblitzen der Kanonen im selben Moment wie sein Ausguck bemerkt. „Al!“ rief er seinem Stückmeister und Waffenexperten zu. „Was für eine Art von Geschütz war das deiner Ansicht nach?“ „Hörte sich an wie das Feuer von zwei Minions!“ rief Al Conroy von der Kuhl aus zurück. „Aber genauso gut können es Hinterlader gewesen sein, also Drehbassen oder Serpentinen.“ „Du schätzt also, daß es auf jeden Fall Schiffsgeschütze waren?“ „Darauf würde ich fast meine Mütze verwetten.“ „Potztausend!“ rief der Profos. „Wer will denn deine speckige Mütze schon haben?“ Siri-Tong, die immer noch neben dem Seewolf auf dem Quarterdeck stand, konnte sich ein leises Auflachen nicht verkneifen. Hasard hatte das Spektiv auseinander gezogen und vors Auge gehoben, drehte daran herum und versuchte, etwas zu erkennen und die Schärfe richtig einzustellen. Aber vor ihm
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lag wieder das unendlich wirkende, tiefschwarze Dunkel der Nacht, und kein neuer Mündungsblitz zerriß den schwarzen Vorhang. Hasard hatte sich wieder genau eingeprägt, an welcher Stelle die Feuerblitze aufgeflammt waren. Er ließ Fete Ballie eine leichte Kurskorrektur vornehmen, spähte noch einmal versuchsweise durch das Spektiv, gab es dann aber auf und wandte sich, nachdem er das Rohr zusammengeschoben und in seiner Tasche hatte verschwinden lassen, an die Rote Korsarin. „Hast du es bemerkt, Siri-Tong?“ sagte er. „Die Distanz ist ganz erheblich zusammengeschrumpft. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die beiden Schüsse an demselben Ort wie zuvor abgegeben wurden, und dieser Ort liegt nur noch drei bis vier Meilen von uns entfernt.“ Sie war sehr schnell wieder ernst geworden und nickte ihm flüchtig zu. „Angenommen, wir haben das gesuchte Schiff der französischen Freibeuter vor uns ...“ „Was noch höchst unwahrscheinlich ist ...“ „Angenommen, es ist doch die ,Saint Vincent'„, sagte sie beharrlich. „Dann müssen wir doch voraussetzen, daß sie wieder vor einer Insel ankert, auf der Masot und seine Meute nach dem vermeintlichen Schatz forschen.“ „Auf was willst du hinaus?“ „Daß wir uns vor Korallenriffen in acht nehmen müssen, wenn wir uns an diese Insel heranpirschen.“ Er setzte eine grimmige Miene auf. „Keine Angst, ich lasse schon beizeiten das Zeug wegnehmen.“ Die „Isabella“ schob sich unter vollen Segeln auf ihr unbekanntes Ziel zu. Der Seewolf schätzte den Wind auf Sturmstärke, ließ sich aber von dem Heulen und Tosen und dem sprühenden Gischt rundherum nicht beeindrucken. Er wartete weiterhin damit, die Segel bergen und die kleineren, stärkeren Sturmsegel setzen zu lassen. Hart krängte die Dreimast-Galeone nach Steuerbord, so hart, daß die untere Leekante des
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Großsegels in die Fluten zu tauchen drohte. Das Steuerbordschanzkleid schnitt fast unter, und die Back, die Kuhl, das Quarterund Achterdeck hatten sich in eine feuchte Rutschbahn verwandelt, die für jeden Mann der Besatzung unvermittelt zum tödlichen Abhang werden konnte. Wild schlingernde und taumelnde Bewegungen vollführte die „Isabella“ in den aufgewühlten Fluten. Jedesmal, wenn sie einen Brecher mit ihrem Bug zerteilte, krachte es beinah ohrenbetäubend. Längst war auch die Freiwache auf Deck erschienen, keiner tat jetzt mehr ein Auge zu. Mit vereinten Kräften führten die Männer die Segelmanöver durch, prüften die Zurrings der Boote und Kanonen und achteten darauf, daß alles für die größtmögliche Sicherheit des Schiffes im Sturm getan wurde. „Haltet euch an den Manntauen fest!“ brüllte der Profos. „Daß mir ja keiner über Bord geht, ihr matschäugigen Heringe!“ „Der Teufel soll ihn holen“, schrie Matt Davies, der gerade ein loses Ende an der Nagelbank auf der Backbordseite der Kuhl belegte. „Wofür hält der uns eigentlich? Für blutige Anfänger?“ Plötzlich rutschte er aus und mußte sich an der Nagelbank festhalten, um nicht quer über die Kuhl zu schlittern. Batuti, der Mann aus Gambia, der ihm am nächsten stand, grinste breit und mußte einen Schwall von Matts Flüchen über sich ergehen lassen. „Soll ich die Zwillinge unter Deck begleiten?“ fragte die Rote Korsarin den Seewolf. Er blickte sie an. „Nein. Solange das Wetter sich nicht verschlechtert, versehen sie weiter ihren Dienst an Deck. Sie haben die gleichen Pflichten wie jeder andere auf diesem Schiff.“ „Mit dem feinen Unterschied, daß sie Jungen und keine Männer sind“, sagte die Eurasierin angriffslustig. „Das darfst du nicht vergessen.“ „Aber die richtigen Seebeine sind ihnen inzwischen gewachsen.“ „Hasard, das ...“
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„Das hast du mir gestern selbst gesagt“, unterbrach er sie mit dem Anflug eines harten Grinsens. „Und daraus schließt du — was?“ „Daß sie auch im Sturm ihren Mann zu stehen haben. Sie haben gefälligst aufzupassen, daß sie nicht über Bord gefegt werden“, sagte er. „Das erwarte ich von jedem Moses — und erst recht von meinen eigenen Söhnen.“ Sie stemmte die Fäuste in die Seiten und rief: „Also gut! Du hast ja recht. Wie immer hast du völlig recht mit dem, was du sagst und anordnest. Zufrieden?“ „Ja. Ich hasse nichts mehr als sinnlosen Widerspruch und Disziplinlosigkeit“, erwiderte er halb im Scherz, halb im Ernst. Sie wollte aufbegehren, bezwang sich dann aber und schwieg. Dies war sein Schiff, nicht das ihre. Trotz des einmalig guten Verhältnisses, das sie zueinander hatten, konnte sie ihm in seine Entscheidungen nicht hineinreden. Er war der Kapitän und hatte zu bestimmen. Gelegentlich waren sie darüber aneinander geraten, denn auch Siri-Tong verfügte über einen harten, unbeugsamen Charakter, aber sie war intelligent genug, einzusehen, daß dies der unpassendste Moment zum Diskutieren war. Hasard hielt sich an der Querbalustrade des Quarterdecks fest und schaute voraus. Er fragte sich. welches Geheimnis sich mit den Schüssen verband, welches Drama dort, drei Meilen im Südwesten, wohl seinen Lauf nahm. Er ahnte nicht, daß sich der Schleier der Ungewißheit schon bald auf ganz ungewöhnliche Weise lüften sollte. * Die Jolle der „Saint Vincent“ hatte die Korallenbänke vor der großen Lagune fast erreicht. Andai, der auf der Heckducht saß und die Ruderpinne übernommen hatte, feuerte die Männer an den Riemen durch Zurufe an. Er wußte, daß die namenlose Insel von gefährlichen Riffen umgeben sein mußte, und gab sich keinen Moment der Illusion hin, daß sie einfach aufs
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Geratewohl aus der Lagune steuern konnten. In diesem Punkt hatten er und die anderen Männer von Hawaii in ihrer Heimat reiche Erfahrungen sammeln können, denn auch dort gab es die tückischen Bänke, und sie hatten als geschickte Bootsfahrer und Fischer schon oft Berührung damit gehabt. Es war also in erster Linie seinem Fingerspitzengefühl überlassen, ob er die Jolle sicher aus dem natürlichen Hafenbecken zu dirigieren vermochte oder nicht. Moho kauerte vorn am Bug und hielt die Augen nach allen Seiten offen, aber er konnte kaum zwei, drei Schritte weit sehen und nahm nicht mehr wahr als das Schäumen der Wellenkronen, die sich, je näher sie der offenen See gelangten, höher und höher aufzutürmen schienen. Andais größte Besorgnis drehte sich aber darum, daß das Boot überladen war. Eigentlich für acht, höchstens zehn Insassen konstruiert, mußte es jetzt zwanzig Menschen befördern. Das hatte zur Folge, daß der Tiefgang zu groß war und die Jolle immer wieder Wasser übernahm. Hauula, Mara und die anderen Mädchen und Frauen ästen das Naß eifrig mit Schöpfkellen aus. Mara. schrie plötzlich auf, denn die Jolle neigte sich unter einer anrollenden Woge so stark nach Backbord, daß sie im nächsten Moment querzuschlagen drohte. Hauula hielt Mara fest und versuchte, sie zu beruhigen, die anderen klammerten sich fest, wo sie konnten, und warteten zitternd und mit angstgeweiteten Augen darauf, daß das Boot kenterte. Einige Mädchen rutschten nach Backbord, und durch die Gewichtsverlagerung krängte die Jolle noch weiter. Es schien das Ende der kurzen Fahrt zu sein. Dann aber glitt die Woge unter der Jolle hindurch und bauschte sich jenseits des Dollbordes auf, so daß sich das Fahrzeug aus seiner unglücklichen Lage aufrichtete und die normale Schwimmlage wiedergewann.
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Andai atmete erleichtert auf. Hauula lächelte ihm aufmunternd zu, und auch die anderen gaben durch ihr Verhalten klar zu verstehen, daß sie neue Hoffnung gefaßt hatten. Sie nahmen jede Entbehrung und Härte gern auf sich, wenn sie nur nicht wieder in ihre Gefängnisse an Bord der Piratengaleone zurück mußten. Nichts konnte schrecklicher sein als die Stunden, die Tage, die schier endlose Zeit, die sie dort in Furcht und Ungewißheit verbracht hatten. Moho stieß einen Warnruf aus. Andai drückte die Ruderpinne auf das Zeichen des Stammesbruders hin nach Steuerbord, und im nächsten Augenblick erblickten sie alle, was Moho vor ihnen entdeckt hatte: Drohend wuchs die schartige Korallenbank aus der aufgerührten See hervor, messerscharf schienen ihre Ränder zu sein. Die Jolle glitt nahe daran vorbei. Und die Riffe unter der Wasseroberfläche? Andai schauderte es bei dem Gedanken daran, was ihnen noch alles passieren konnte. Wenn ein Riff den Bootsrumpf aufschlitzte, dann nutzte alles Auslösen nichts mehr, dann konnten sie alle ihren Geist aufgeben und Pele und den anderen Gottheiten überantworten, die sie in diesen Augenblicken flehentlich anbeteten. Andai konnte einer Gefahr, die er nicht zu erspähen vermochte, durch kein Mittel ausweichen, er war ihr gemeinsam mit seinen Brüdern und Schwestern machtlos ausgeliefert. Die Männer pullten mit zusammengepreßten Lippen. Sie brachten die Jolle ziemlich schnell voran, denn sie mußten ja nicht gegen den Seegang arbeiten, sondern fuhren mit der Dünung. Der Wind aus Südosten fiel raumschots ein und drückte gegen das Heck des Bootes. Wie durch ein Wunder gelangte die Jolle unbeschadet über die Riffe hinweg und schob sich in die lärmende See hinaus. Zwanzig halbnackten, nassen Gestalten war die nahezu unmöglich erscheinende Flucht aus der Teufels-Lagune somit
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gelungen, aber alle Schwierigkeiten schienen erst jetzt richtig zu beginnen. Wütend packte die See das Boot, hob es hoch, ließ es in gähnende schwarze Wasserschluchten hinunterschießen und schüttelte es durch. Gnadenlos waren die Urgewalten der Natur, klein und ohnmächtig wirkte der Mensch. Andai und die anderen Männer hatten einen simplen Plan gefaßt. Sie wollten erst einmal aus der Lagune heraus und dann das Atoll umrunden. Masot würde ihrer Ansicht nach nicht damit rechnen, daß sie noch einmal zurückkehrten, aber genau das hatten sie vor, um Zegú, ihren König, und Thomas Federmann aus der Gewalt der Freibeuter zu befreien. An einem unbeobachteten Punkt der Hauptinsel wollten sie wieder landen .— irgendwo im Norden oder im Süden. Die Nacht und der Sturm wurden zu ihren Verbündeten, wenn ihnen dies gelang, denn die Seeräuber würden sich eher verkriechen, statt überall nach ihren flüchtigen Geiseln zu suchen. So rechnete Andai sich aus, daß sie sich in den Busch schlagen und bis zum Lagerplatz am Strand schleichen konnten. Der Regenwald war ein Element, in dem sie sich sicher fühlten und vorzüglich auskannten, ganz im Gegensatz zu den Franzosen. Aus dem Dickicht heraus konnten sie auch mit den wenigen Waffen, die sie hatten, einige erfolgreiche Schläge gegen die Freibeuter führen. Das würde die Kerle verunsichern, und genau diese Unruhe wollten die Insulaner ausnutzen, um in einer Blitzaktion ihre beiden Kameraden herauszuholen. Zu diesem Zeitpunkt aber schienen Welten die Polynesier von der Verwirklichung ihres Planes zu trennen. „Andai!“ rief Moho vom Bug her. „Wir schaffen es nicht! Wir müssen umkehren!“ „Niemals!“ schrie Andai zurück. „Darauf warten unsere Feinde doch nur“, keuchte Hauula, die die jammernde und schluchzende Mara inzwischen festhalten mußte. „Wir bringen uns selbst um, wenn wir das tun.“
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„Aber wir sterben so oder so!“ schrie eine junge Frau, die bei Numil hockte und sich mit beiden Händen verzweifelt an der Ducht festklammerte. „Das Wasser frißt uns auf, die Haie werden kommen und uns zerreißen!“ Andai begriff, daß er doch einen Fehler begangen hatte. Er hatte das offene Meer weit unterschätzt, hier drohte ihnen eine weit größere Gefahr als bei den Korallenbänken. Hastig drehte er sich auf seiner Ducht um und blickte nach achtern. Er konnte jedoch kein Land mehr sehen. Das Atoll schien nicht mehr zu existieren und sich aufgelöst zu haben. Er spürte Panik in sich aufsteigen, kämpfte aber energisch dagegen an. „Beruhigt euch!“ rief er den Freunden im Tosen des Wetters zu. „Wir versuchen jetzt, einen Bogen zu fahren. Wir halten auf eine Landzunge oder auf eine kleine Insel zu und gehen dort an Land. Wir warten ab, bis der Sturm vorbei` ist.“ „Ja, das ist eine gute Idee“, pflichtete Hauula ihm bei. Sie wollte noch mehr rufen, aber ein neuer Brecher hob die Jolle an, trug sie auf seinem Kamm fort und schien sie in die brausende Finsternis hinausschleudern zu wollen. Die Mädchen und Frauen schrien durcheinander und hielten sich gegenseitig fest. Die Männer taten alles, um das Boot zu halten, Andai durch die Arbeit mit der Ruderpinne, seine Brüder durch das Bewegen der Andai und die anderen Männer hatten einen simplen Plan gefaßt. Sie wollten erst einmal aus der Lagune heraus und dann das Atoll umrunden. Masot würde ihrer Ansicht nach nicht damit rechnen, daß sie noch einmal zurückkehrten, aber genau das hatten sie vor, um Zegú, ihren König, und Thomas Federmann aus der Gewalt der Freibeuter zu befreien. An einem unbeobachteten Punkt der Hauptinsel wollten sie wieder landen — irgendwo im Norden oder im Süden. Die Nacht und der Sturm wurden zu ihren Verbündeten, wenn ihnen dies gelang, denn die Seeräuber würden sich eher
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verkriechen, statt überall nach ihren flüchtigen Geiseln zu suchen. So rechnete Andai sich aus, daß sie sich in den Busch schlagen und bis zum Lagerplatz am Strand schleichen konnten. Der Regenwald war ein Element, in dem sie sich sicher fühlten und vorzüglich auskannten, ganz im Gegensatz zu den Franzosen. Aus dem Dickicht heraus konnten sie auch mit den wenigen Waffen, die sie hatten, einige erfolgreiche Schläge gegen die Freibeuter führen. Das würde die Kerle verunsichern, und genau diese Unruhe wollten die Insulaner ausnutzen, um in einer Blitzaktion ihre beiden Kameraden herauszuholen. Zu diesem Zeitpunkt aber schienen Welten die Polynesier von der Verwirklichung ihres Planes zu trennen. „Andai!“ rief Moho vom Bug her. „Wir schaffen es nicht! Wir müssen umkehren!“ „Niemals!“ schrie Andai zurück. „Darauf warten unsere Feinde doch nur“, keuchte Hauula, die die jammernde und schluchzende Mara inzwischen festhalten mußte. „Wir bringen uns selbst um, wenn wir das tun.“ „Aber wir sterben so oder so!“ schrie eine junge Frau, die bei Numil hockte und sich mit beiden Händen verzweifelt an der Ducht festklammerte. „Das Wasser frißt uns auf, die Haie werden kommen und uns zerreißen!“ Andai begriff, daß er doch einen Fehler begangen hatte. Er hatte das offene Meer weit unterschätzt, hier drohte ihnen eine weit größere Gefahr als bei den Korallenbänken. Hastig drehte er sich auf seiner Ducht um und blickte nach achtern. Er konnte jedoch kein Land mehr sehen. Das Atoll schien nicht mehr zu existieren und sich aufgelöst zu haben. Er spürte Panik in sich aufsteigen, kämpfte aber energisch dagegen an. „Beruhigt euch!“ rief er den Freunden im Tosen des Wetters zu. „Wir versuchen jetzt, einen Bogen zu fahren. Wir halten auf eine Landzunge oder auf eine kleine Insel zu und gehen dort an Land. Wir warten ab, bis der Sturm vorbei` ist.“
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„Ja, das ist eine gute Idee“, pflichtete Hauula ihm bei. Sie wollte noch mehr rufen, aber ein neuer Brecher hob die Jolle an, trug sie auf seinem Kamm fort und schien sie in die brausende Finsternis hinausschleudern zu wollen. Die Mädchen und Frauen schrien durcheinander und hielten sich gegenseitig fest. Die Männer taten alles, um das Boot zu halten, Andai durch die Arbeit mit der Ruderpinne, seine Brüder durch das Bewegen der Riemen. Doch es nutzte alles nichts. Wie von Geisterhand bewegt, drehte sich das Boot plötzlich. Dann kippte es nach Backbord über, bäumte sich auf, lud seine lebendige Fracht aus und kenterte. Andai fühlte sich gepackt und durch die Luft gewirbelt, dann traf etwas seinen Rücken — mit solcher Wucht, daß ihm die Schmerzen das Bewußtsein raubten. Er hörte Hauula verzweifelt schreien, aber dann endete jede Wahrnehmung. Unter ihm schienen die Fluten der mörderischen See auseinanderzuklaffen. Er raste in einen Abgrund hinunter, der in der glühenden Verdammnis endete. 7. Bill, der Moses, war in den Jahren an Bord der „Isabella“ zu einem kräftigen und mutigen jungen Mann herangewachsen, und er hätte es sich ohne weiteres zugetraut, seinen Posten im Großmars beizubehalten. Aber der Seewolf hatte es doch vorgezogen, ihn abentern zu lassen, denn der Sturm nahm zu und es hätte leicht passieren können, daß Bill durch eine Bö von der wild hin und her schwankenden Plattform gefegt worden wäre. Bill und Dan O'Flynn waren jetzt von der Back auf die Galionsplattform hinunter gestiegen, hatten sich mit Tauen festgebunden und spähten voraus, um ihren Kapitän auf jedes Riff und andere „unerfreuliche Erscheinungen“ aufmerksam machen zu können — wenn es auch in jedem Fall im allerletzten Augenblick
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geschehen würde. Die Finsternis und der Gischt ließen einen Ausblick auf mehr als zehn, fünf zehn Yards kaum zu, ja, manchmal konnte man im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr die Hand vor Augen sehen. „Das geht nicht gut aus!“ schrie Bill Dan O'Flynn zu. „Wir laufen heute nacht noch auf Grund!“ „Mal den Teufel bloß nicht an die Wand!“ rief Dan zurück. „Fängst du auch schon so an wie mein Alter?“ „Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich oben im Großmars geblieben wäre !“ „Das ist zu gefährlich!“ „Aber für einen Ausguck der richtige Platz ...“ „Nein, nicht bei diesen Bedingungen! Da oben siehst du nicht mehr als hier, ich schwör's dir! Ganz gleich, wo du stehst, die Nacht ist überall gleich schwarz — schwarz wie dicke Tinte!“ Dan mußte es wissen, er war lange Zeit der Ausguck der „Isabella“ gewesen. Und noch heute hatte er ebenso gute Augen wie der Moses. Bill wollte etwas erwidern, aber plötzlich hielt Dan ihn am Arm fest. „Da war doch was!“ stieß er hervor. „Ich hab was entdeckt — Backbord voraus!“ „Doch wohl kein Riff!“ rief Bill entsetzt. Er hielt selbst angestrengt Ausschau, aber vor ihnen schien nichts anderes als die brodelnde Wasserwelt zu sein. „Kein Riff!“ brüllte Dan. „Ein Mensch!“ „Du bist verrückt!“ „Da!“ schrie Dan. „Da, sieh doch selbst, Hölle und Teufel, da schwimmt einer in der See, Junge, der ist am Absaufen!“ Bill erstarrte fast, denn genau in diesem Moment konnte auch er die Gestalt erkennen, die gar nicht weit von ihnen aus einem Wellenhang hervor zu wachsen schien und gleich darauf wieder verschwand. „Allmächtiger Gott im Himmel“, stammelte er. Dann schrie er mit Dan O'Flynn zusammen: „Sir ein Schiffbrüchiger!“ Carberry hörte es als erster und fuhr auf der Kuhl nach achtern herum, um es mit
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seinem Stentororgan weiterzugeben: „Schiffbrüchiger voraus!“ Der Seewolf verließ unverzüglich seinen Platz auf dem Quarterdeck, sprang auf die Kuhl hinunter, hangelte an den Manntauen voraus und enterte schließlich die Back. „Beidrehen und die Segel aufgeien?“ schrie er Ben Brighton und Edwin Carberry im Vorbeilaufen zu. „Aye, Sir!“ riefen sie zurück. Und dann - während der Seewolf von der Back aus zu Dan O'Flynn und Bill auf die Galionsplattform hinunterstieg entwickelte sich eine geradezu fieberhafte Aktivität an Bord der „Isabella“. Das Ruderrad wirbelte unter Pete Ballies Fäusten, Pete legte Hartruder Backbord. Die Galeone drehte mit dem Vorschiff in den Wind und stemmte sich frontal gegen die anrollende See. Die Crew schrickte die Steuerbordschoten und Brassen weg, holte die Backbordschoten dicht, und die Rahen stellten sich gerade. Die Segel hätten jetzt wie verrückt zu killen begonnen, wenn Ben Brighton nicht dafür gesorgt hätte, daß sie schleunigst aufgegeit wurden. Die Männer arbeiteten mit atemberaubender Geschwindigkeit. Das Schiff gelangte zum Stillstand in den quirlenden, donnernden Fluten. Es war ein Manöver, das selbst einer erfahrenen Crew wie der des Seewolfes all ihr Können und ihre Geistesgegenwart abverlangte. Hasard stand bei Dan und Bill auf der Galionsplattform und verfolgte beim Herumschwenken der „Isabella“, wie die Gestalt des Schiffbrüchigen erneut aus den Fluten auftauchte, diesmal an der Steuerbordseite, unmittelbar vor dem Bugspriet und der Galion. Der Seewolf zögerte nicht. Er wand sich das Ende einer vor dem Schott bereitliegenden Taurolle um die Hüften, knotete es vor dem Bauchnabel zusammen, prüfte den Sitz und riß sich in aller Eile die lederne Weste, das Hemd und die Hose vom Leib. Er war jetzt nur noch mit einer kurzen Hose bekleidet. Er kletterte über die Umrandung der Plattform, hielt sich mit einer Hand am Vorgeschirr fest, spähte noch einmal zu
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dem ertrinkenden Mann, ließ dann seinen Halt los und stieß sich mit den Füßen ab. Kopfunter und mit vorgestreckten Armen tauchte er in die Fluten. Die Taurolle lief ab, er zog die Leine mit sich in die Tiefe. „Aufpassen!“ rief Dan O'Flynn Bill zu. „Wenn die Rolle zu Ende ist, müssen wir das Tau festhalten und irgendwo belegen.“ „In Ordnung!“ schrie Bill. Die Aufregung über das Auftauchen des fremden Mannes in der See und über das schnelle und unerschrockene Handeln des Seewolfes stand ihm im Gesicht geschrieben. Siri-Tong, Ben Brighton, Carberry, Ferris Tucker, Shane, Old O'Flynn und fast alle von der Crew waren ans Steuerbordschanzkleid der Kuhl gestürzt, lehnten sich über, so weit der Seegang und der Sturmwind es ihnen erlaubten, und verfolgten mit teils besorgten, teils verwegenen Mienen, was jetzt geschah. Der Seewolf tauchte wieder auf. Er schaute sich um, konnte den Schiffbrüchigen aber nicht entdecken. „Dort drüben, Hasard!“ schrie die Rote Korsarin. Mit dem ausgestreckten Arm wies sie ihm die Richtung, in die er zu schwimmen hatte. Sie hatte den bedauernswerten Mann eben gerade wieder in der See erspäht. Mehr noch, sie glaubte gesehen zu haben, daß dieser Mensch nicht weißer, sondern brauner Hautfarbe war. Und unwillkürlich verband sich in ihrem Geist die Beobachtung mit dem Gedanken an die verschleppten, verschollenen Insulaner, die sie suchten. Ihr Herz begann schneller und heftiger zu schlagen. Hasard schwamm wie in alten Zeiten mit kräftigen Armschlägen und ausgeglichenen Beinbewegungen. Es war sein ganz persönlicher Stil, sich im nassen Element voranzubringen – nicht sonderlich elegant, aber sehr zweckmäßig. Rasch glitt er dem armen Teufel näher. Eine Woge hob ihn hoch und brachte ihn von der Richtung ab, er arbeitete hart dagegen an. Der zischende Gischtkamm baute sich über seinem Kopf auf, drohte zu überlappen und ihn unter sich zu begraben. Hasard begann zu fluchen, verstummte
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dann aber gleich wieder, denn er riskierte, einen ordentlichen Schwall Wasser zu schlucken. Der Schaumkamm der Woge stülpte sich über ihm aus. Hasard tauchte unter, kam wieder hoch und sah den Schiffbrüchigen überraschenderweise vor sich, ganz nah, eher mit einem Schemen als mit einem menschlichen Wesen zu vergleichen. Mit zwei Zügen brachte der Seewolf sich dem Unbekannten noch näher, dann konnte er nach ihm greifen und ihn festhalten. Er registrierte, daß er einen polynesischen Eingeborenen vor sich hatte. Entweder hatte er so viel Wasser geschluckt und lag schon so lange in der See, daß er durch die erlebten Strapazen ohnmächtig geworden war, oder eine Verletzung hatte ihm das Bewußtsein geraubt. Wie auch immer, dieser arme Teufel trieb völlig hilflos in den Wogen, und erst jetzt, als Hasard sich in Rückenlage brachte und ihm unter die Achseln griff, um ihn abzuschleppen, regte sich der Fremde benommen. Plötzlich entwickelte der Mann jedoch bedenkliche Aktivitäten. Er begann zu strampeln und um sich zu schlagen. Die Panik ließ ihn aufschreien. Hasard blieb nichts anders übrig, als ihm einen Faustschlag an die Schläfe zu verpassen. Der Polynesier wurde gleich wieder besinnungslos. Aber auch jetzt hätte es dem Seewolf erhebliche Mühe bereitet, ihn abzuschleppen, ja, es wäre in der bewegten See ein nahezu aussichtsloses Unterfangen gewesen, den armen Teufel zu retten, wenn nicht das Tau gewesen wäre, das er sich vorsorglich um die Hüften geschlungen hatte. Er brauchte Dan O'Flynn und Bill, dem Moses, jetzt nur ein Handzeichen zu geben, und die beiden begannen kräftig an dem Tau zu ziehen. Mittlerweile hatten sie das andere Ende an der vorderen Querbalustrade der Back belegt. Oben standen Smoky und Al Conroy, um darauf aufzupassen, daß die Knoten sich auch ja nicht lösten. Carberry, Luke Morgan, Sam Roskill und Bob Grey kletterten gerade auf die Galionsplattform hinunter, banden sich mit
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kurzen Tauen fest und griffen nun mit zu, um das Tau, an dem ihr Kapitän und der Schiffbrüchige hingen, Hand über Hand durchzuholen. Wenig später hievten die Männer Hasard und den Fremden an Bord. „Kutscher!“ schrie der Seewolf zur Back hinauf, als er pudelnaß auf der Galionsplattform stand. „Kutscher, verarzte diesen Mann sofort, sonst stirbt er uns unter den Händen weg!“ „Aye, Sir!“ Der Kutscher stand auf der Back und bedachte den reglosen Eingeborenen mit prüfenden, besorgten Blicken. Sobald Hasard und die anderen den Mann von der Galionsplattform zur Back hochbugsiert hatten, übernahmen es der Kutscher, Smoky und Al Conroy, ihn über die Balustrade zu heben. „Wiederbelebung“, sagte der Kutscher hastig. „Hier hilft nur eine Radikalkur.“ Er gab Smoky und Al Conroy ein paar knappe Anweisungen. Dann legten sie den Polynesier mit dem Bauch auf die Holzleiste der Balustrade und drückten ein wenig zu. Mehrere Gallonen Wasser ergossen sich auf die Galionsplattform, die inzwischen von Hasard, Bill, Dan, Carberry und den anderen geräumt worden war. Der Kutscher griff nach den Schultern des Polynesiers, drehte ihn herum, ließ ihn vorsichtig auf die schwankenden Planken der Back sinken und begann mit der Wiederbelebung, indem er ihm in rhythmischen Abständen mit beiden Händen auf die Brust drückte und gleich wieder losließ. Dies alles wurde durch den Seegang und den Wind erheblich erschwert, aber der Kutscher hatte dennoch Erfolg: Der braunhäutige Fremde kam zu sich, schlug die Augen auf und stammelte ein paar Worte, die sie nicht verstanden. Hasard hatte sich neben den Kutscher gekniet. „Sir, der Mann ist von einem harten Gegenstand am Rücken getroffen worden“, erklärte der Kutscher. „Er kann dabei noch froh sein, daß es ihm nicht das Kreuz gebrochen hat.“
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„Und daß er nicht ersoffen ist“, fügte Carberry hinzu. „Wenn wir ihn nicht rausgefischt hätten, wäre es jeden Augenblick mit ihm aus gewesen.“ „Lange kann er noch nicht im Wasser gelegen haben“, meinte Dan O'Flynn. „Sonst wäre er nämlich so oder so abgekratzt, der arme Kerl.“ Der Eingeborene blickte den Seewolf an, und seine Augen weiteten sich plötzlich. Dann begann er zum großen Erstaunen der Männer und der Roten Korsarin, die unterdessen auch die Back geentert hatte, auf spanisch zu sprechen. „Du — ich kenne dich — du bist — El Lobo del Mar!“ Hasard spürte einen feinen, eisigen Schauer auf seinem Rücken. Es war unmöglich, daß der erste Eingeborene, dem sie in diesem Winkel der Welt durch einen geradezu unerhörten Zufall begegneten, diese Sprache beherrschte — er konnte es einfach nicht glauben. Und dann kannte er auch noch seinen Beinamen. Seewolf! Das setzte allem die Krone auf! Dafür gab es nur eine Erklärung. „Du kommst von der Insel Hawaii!“ sagte Hasard. „Ja.“ „Wie heißt du?“ „Andai.“ „Ich kann mich an dich nicht erinnern“, sagte der Seewolf. „Aber du mußt mir jetzt sofort erzählen, wo...“ „Die anderen - Brüder und Schwestern“, murmelte Andai. „Sie - wo sind sie - das Boot ...“ „Ein Boot“, sagte Hasard erschüttert. „Sie haben also in einem Boot gesessen und sich in diesen Sturm hinausgewagt entweder wurden sie von Masot, der ihrer überdrüssig war, einfach ausgesetzt, oder oder sie sind von Bord der ,Saint Vincent` geflohen ...“ „Sir!“ brüllte Bill mit einemmal aus vollem Hals. „Da, Steuerbord voraus! Da treibt ein gekentertes Boot' O Himmel, so was gibt's doch nicht!“ Er war kurzerhand in den Fockwanten aufgeentert, um nach dem gelungenen
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Bergungsmanöver des verunglückten Andai erneut Umschau zu halten. Er riskierte dabei sein Leben, denn der Südostwind drohte ihn aus den Webeleinen zu schütteln, aber nur so hatte er diese neue, gleichsam ungeheuerliche Entdeckung machen können. „Bill, du Höllenhund, reiß dich zusammen!“ schrie der Profos. „Aye, Sir! Sir, ich sehe mehr als ein Dutzend Leute, die sich alle an dem Boot festhalten!“ Hasard hatte sich aufgerichtet, war zum Schanzkleid der Back gestürzt und blickte erschüttert in die von Bill genannte Richtung. Siri-Tong war wieder neben ihm. Sie griff nach seinem Arm und sagte betroffen: „Das sind sie - die Geiseln der Freibeuter. Allmächtiger!“ „Kurs auf die Schiffbrüchigen!“ rief der Seewolf. „Wir setzen zwei Sturmsegel, um wieder Fahrt aufzunehmen. Wir manövrieren vorsichtig auf das Boot zu und fischen die Leute in Lee auf!“ Er rief es auf englisch, und Andai, der wieder völlig bei Bewußtsein war, verstand nicht alle Worte, weil Thomas Federmann ihm und den anderen Bewohnern Hawaiis ja in erster Linie spanisch beigebracht hatte. Aber das Wichtigste begriff er doch. Die Jolle der „Saint Vincent“ trieb in der Nähe der „Isabella“. Andai spürte instinktiv, daß nun auch seine Leute gerettet wurden und die Erlösung von allem Übel und Unglück sehr nah war. * Die Welt hatten sie mit ihrer „Isabella“ umsegelt, hatten Länder und Menschen kennen gelernt, mit denen noch kein anderer Europäer Kontakt gehabt hatte. Schier Unglaubliches hatten sie erlebt, und daher hatte so mancher der Crew angenommen, daß es nichts mehr gäbe, das sie noch aus der Fassung bringen könne. Aber das hier war denn doch fast zuviel. Wildeste Abenteuer und tolldreiste Amouren in allen Winkeln der Welt hatten sie nicht so erschüttern können wie diese
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Angelegenheit hier, bei Sturm mitten in der Nacht, mitten in der Südsee: ein Schwarm splitterfasernackter, nasser Mädchen enterte an den ausgebrachten Jakobsleitern an Bord der Galeone und stieß Jubellaute und kleine Schreie des Entzückens aus. Zehn waren es, allesamt hübsch, es war keine dabei, die man auch nur annähernd als „uninteressant“ bezeichnen konnte. Auf dem schlingernden Deck der „Isabella“ stürzten sie auf die Männer zu, lachten und weinten vor Freude, umarmten die entgeisterten Kerle und drückten ihnen jede Menge Küsse auf. Sogar der Kutscher, der als ein zurückhaltender Mensch galt, hatte plötzlich ein Mädchen am Hals hängen. „Kutscher, schämst du dich gar nicht, du alter Lustmolch?“ schrie Matt Davies. „Ist doch nicht meine Schuld ...“ Mehr kriegte der Kutscher nicht heraus, denn das Hawaii-Mädchen erstickte jeden weiteren Einwand und Protest durch eine Serie von weichen, salzig schmeckenden Küssen. Der Kutscher war so verdattert, daß er sein Mann tau losließ. Er verlor das Gleichgewicht. Das Mädchen kicherte und ging mit ihm zu Boden. Sie rutschten quer über die Planken der Kuhl, richteten sich in einer Krängung der „Isabella“ am Steuerbordschanzkleid wieder auf — und wären um ein Haar beide über Bord gegangen, wenn der Kutscher nicht auf den Boden der Realitäten zurückgekehrt und sich blitzschnell festgehalten hätte. Die jungen Männer von Hawaii waren zu Andai auf die Back gestiegen. Sie schienen es nicht beunruhigend oder gar skandalös zu finden, daß sich die Mädchen den Männern der „Isabella“ an den Hals warfen. Im Gegenteil — für sie schien das die natürlichste Sache der Welt zu sein. Eine Selbstverständlichkeit sozusagen. Siri-Tong stand ziemlich verdattert da und wußte nicht mehr, was sie sagen sollte. „Madam“, sagte Ben Brighton, der bislang von den stürmischen Ovationen verschont geblieben war. „Sie erinnern sich doch an Hawaii, nicht wahr?“ „An das Hawaii vor sechs Jahren, Ben?“ „Ja, genau das meine ich.“
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„Natürlich. Und ich weiß ja, was für eine freizügige Art die Inseldamen haben, uns zu begrüßen und sich bei uns zu bedanken. Aber das hier ...“ „Madam, Sie dürfen nicht vergessen, daß wir sie vor dem sicheren Tod bewahrt haben.“ Sie seufzte. „Ich vergesse es nicht. Und ich bilde mir ein, über den Dingen zu stehen.“ Der Blick, den sie Hasard zuwarf, war aber nicht gerade als liebenswürdig zu bezeichnen. Hauula und Mara hatten sich an Hasard festgeklammert und ließen ihn nicht mehr los. Eifersüchtig? dachte die Rote Korsarin. Mach dich nur nicht lächerlich... „Lobo del Mar!“ riefen Mara und Hauula immer wieder. „Daß wir dich wiedersehen dürfen! Pele sei Dank, sie hat uns wirklich geholfen. Wie bist du hierher gekommen? Hast du gewußt, daß wir hier sind?“ Sie überschütteten ihn mit ihren Fragen, aber er konnte sie endlich doch auf sanfte, aber nachdrückliche Art zum Schweigen bringen und sich auch bei den anderen Gehör verschaffen. „Ed!“ rief er. „Ben, Ferris, Shane!“ „Sir?“ „Habt ihr die geborgenen Schiffbrüchigen gezählt?“ „Hölle und Teufel“, wetterte der Profos los. „Ich hab's ja gewußt, daß wir was vergessen haben.“ Er wollte schon zum Schanzkleid rennen und sich überbeugen, um bei der gekenterten Jolle, die längsseits der Galeone lag, nach weiteren Insulanern zu suchen, aber die Rote Korsarin rief: „Es sind zwanzig, Hasard. Zehn Mädchen und zehn Männer.“ „Zwei fehlen!“ stieß Big Old Shane entsetzt hervor. „Thomas Federmann und Zegú, von denen wir wissen, daß sie auch mit verschleppt worden sind.“ „Nein!“ schrie Blacky von der Back aus. „Andai hat mir eben gesagt, daß Thomas und der Häuptling von Hawaii noch auf der Insel sind!“ „Demnach haben wir aus der See wohl alle herausgefischt“, meinte Carberry verwirrt. Andai stieg von der Back hinunter und bestätigte es auf spanisch. Er gesellte sich
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zu Moho und Numil, die inzwischen zu Siri-Tong getreten waren. Sie verbeugten sich alle drei vor der Korsarin, und Andai richtete sich als erster wieder auf und sagte wieder auf spanisch: „Schöne Frau, Perle der Südsee, gestatte es uns, daß wir uns auch bei dir bedanken - für die Rettung.“ Sie lächelte ihnen zu und entgegnete: „Es war selbstverständlich für uns, dies zu tun. Es war unsere Pflicht. Mehr noch, wir sind euch ja von Hawaii aus gefolgt, um euch herauszuhauen.“ Andai beugte sich vor, legte ihr die Hände auf die Schultern und küßte sie auf beide Wangen. Hasard stand da und staunte nicht schlecht. Er glaubte aber auch, den leicht spöttischen und auftrumpfenden Blick wahrzunehmen, den Siri-Tong ihm über Andais Schulter hinweg zuwarf. „Schöne Perle mit schwarzem Haar“, stieß Numil aufgeregt hervor. „Erzähle uns mehr von Hawaii' Ihr - dort gewesen? Was dort passiert?“ Hauula und Mara blickten den Seewolf aus großen Augen an, und Mara flüsterte: „Ist das wahr? Von Hawaii kommt ihr?“ „Wartet“, sagte er. Philip junior und Hasard junior hatten sich vorsichtig genähert und musterten die beiden Hawaii-Mädchen, die ihren Vater mit Beschlag belegt hatten, argwöhnisch. „Dad“, sagte Philip junior. „Was wollen die beiden Tanten eigentlich von dir?“ „Herhören!“ rief der Seewolf. „Wir gehen alle bis auf die Deckswache in die Mannschaftsmesse hinunter. Dort können wir uns besser unterhalten.“ „Was wird mit dem Boot, Sir?“ fragte der Profos. „Das bergen wir.“ „Aye, Sir - und welchen Kurs nehmen wir?“ Der Seewolf drehte sich zu ihm um. „Bevor ich das entscheide, muß ich den Bericht unserer Freunde von Hawaii gehört haben. Solange bleiben wir beigedreht im Sturm liegen, Ed.“ 8.
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In der Mannschaftsmesse der „Isabella“, die früher Teil des achteren Laderaums gewesen war und bis ins Quarterdeck reichte, stand der seltsame Ofen, den Ferris Tucker seinerzeit aus Mangel an Baumaterial aus Silberbarren errichtet hatte. Bei der Durchquerung der Nordwestpassage hatten sie diesen Ofen bitter nötig gehabt, aber inzwischen wurde er nicht mehr gebraucht. Auch in einer stürmischen Nacht wie dieser war es in diesen Breiten immer noch so warm, daß man bedenkenlos mit freiem Oberkörper herumlaufen konnte. Daran hielten sich auch die Insulaner. Unbekümmert gruppierten sie sich um den Silberbarrenofen mit der Tür aus Kupferblech. Ehe Big Old Shane jedoch zwei Öllampen entfachte, schickte SiriTong die Zwillinge los, damit sie saubere Leinentücher aus einer der Achterdeckskammern holten. Damit sollten sich die Männer und Frauen erstens abtrocknen und zweitens ihre Blößen verhüllen. Philip junior und Hasard junior brachten die Tücher — ganze Packen davon. Nachdem die Insulaner sich mit freundlichem Lächeln darin vermummt hatten, sorgte Shane für Licht. In dem schwankenden Schiffsraum zuckte der Lampenschein hin und her und zeichnete vage Muster auf die Gestalten. Hasard richtete sein Wort an Andai und stellte ihm gezielte Fragen über das, was seit ihrem Aufbruch wider Willen von Hawaii geschehen war. Wie bei Alewa, die ihnen in der Bucht vor Hawaii den Hergang der Ereignisse geschildert hatte, erforschte der Seewolf auch bei Andai das Geschehen, indem er ihn geschickt ausfragte. Für einen vollständigen, zusammenhängenden Bericht reichte Andais Spanisch nämlich nicht aus. Als Andai die Flucht von der PiratenGaleone und das Kentern des Bootes in allen Einzelheiten wiedergegeben hatte, sagte der Seewolf: „Und beim Kentern der Jolle erhieltest du das Dollbord ins Kreuz, Andai. So muß es gewesen sein. Himmel,
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deine Göttin Pele muß dir wirklich beigestanden haben, daß du es überlebt hast.“ „Ich dachte — tot zu sein“, sagte Andai in etwas schwerfälligem und fehlerhaftem Spanisch. „Nicht tot, sondern bewußtlos“, berichtigte der Kutscher. „Auf jeden Fall hast du ein höllisches Glück gehabt“, stellte der Profos noch einmal nachdrücklich fest. „Aber jetzt habe ich eine Frage, wenn sie mir gestattet ist. Sir?“ „Nur heraus damit, Ed.“ Carberrys Spanisch war auch nicht das beste, aber er gab sich redliche Mühe, sich der passenden Vokabeln zu bedienen, damit die Polynesier ihn auch verstanden. „Warum seid ihr von der ,Saint Vincent' getürmt? Ihr hättet nur noch den Anker zu lichten brauchen, dann hättet ihr euch heimlich aus der Bucht verholen können — und dieser Masot, dieser Bastard, hätte das Nachsehen dabei gehabt.“ „Zumal sich an Bord der ,Saint Vincent` wohl auch der Schatz befindet, den sie euch abgenommen haben“, sagte Ferris Tucker, auf die Worte Carberrys hin. „Ja, die Achterstücke, die wir damals erbeutet haben, als wir vor Hawaii die Manila-Galeone aufgebracht haben!“ rief Dan O'Flynn. Andai stand auf und begann zu gestikulieren. Moho sagte ihm etwas in ihrer Muttersprache, und Andai beruhigte sich daraufhin, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und erklärte: „Zu schwierig für uns. Können kein großes Schiff lenken. Brauchen dazu Hilfe von Thomas Federmann.“ „Ihr hattet Angst, zu stranden oder auf die Riffe zu laufen?“ erkundigte sich Old O'Flynn. „Hölle, nach dem, was wir eben über die Insel und das Atoll erfahren haben, kann ich das wirklich gut verstehen.“ „Erst einmal fort“, sagte Andai. „So dachten wir“, fügte Moho hinzu. „Aber großes Fehler von uns“, gestand Numil niedergeschlagen. „Zegú und
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Thomas allein bei Masot. Vielleicht jetzt schon tot.“ „Nein!“ schrie Mara. Hauula kroch zu ihr hinüber und sprach leise auf sie ein. Das sehr schreckhafte. verängstigte Mädchen ließ sich besänftigen. Damals, als Ciro de Galantes den schwarzen Segler entführt hatte, war sie mit Hauula, Alewa und Waialae an Bord gewesen. Damals hatte sie noch mehr Mut aufgebracht, aber bei der Landung von Masot und dessen Kerle auf Hawaii mußte sie einen nachhaltigen Schock erlitten haben, von dem sie sich erst nach und nach erholen würde. „Ich glaube nicht, daß sich die Franzosen an Thomas und Zegú vergriffen haben“, sagte der Seewolf nachdenklich. „Noch hoffen sie, den Schatz zu finden. Sie können die beiden nicht einfach umbringen, vor allem Thomas ist ihnen zu wichtig.“ „Wir müssen die beiden befreien“, sagte die Rote Korsarin. „Noch in dieser Nacht.“ Die Tür öffnete sich, und Blacky trat herein. „Sir“, meldete er. „Der Sturm hat etwas nachgelassen. Wir schätzen, daß er nicht mehr von langer Dauer ist.“ „Ein merkwürdiger Sturm“, sagte Old O'Flynn. „Aber uns kann das nur recht sein. Uns ist diese Entwicklung gerade recht, was, Hasard?“ „Ja“, erwiderte der Seewolf. „Ich will die Gefangenen der Piraten zu uns an Bord holen, und ich will Masot auch die ‚Piece of eight' und den Smaragdschmuck aus Neu-Granada abnehmen. Ich weiß schon, wie wir vorgehen. Obwohl wir nicht wissen, wie die Struktur des Atolls aussieht, und dadurch ziemlich im Nachteil sind, werden wir eine Landung auf der Hauptinsel unternehmen. Blacky, ist das Beiboot der ,Saint Vincent` geborgen und an Bord gehievt worden?“ „Ja. Sir. Die Jolle liegt an Deck und wird eben festgezurrt.“ „Vielleicht können wir sie noch gut gebrauchen“, sagte Hasard. Carberry grinste wissend. „Soll ich mal raten, wozu?“
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Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Das wäre verfrüht, Ed. Du weißt ja, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben — und die Nacht ist noch lang, das steht mal fest.“ Hauula hatte sich erhoben und trat auf den Seewolf zu. „Lobo del Mar“, sagte sie leise mit ihrer weichen, etwas heiseren Stimme. „Sag du uns jetzt — von Hawaii. Was ist dort? Die Piraten — ihr habt sie doch gesehen. Unsere Brüder und Schwestern, wie ist es ihnen ergangen?“ „Einen Augenblick noch“, stoppte der Seewolf ihren weiteren Redefluß. „Ben, Ed, Blacky, wir setzen wieder Vollzeug und segeln mit südlichem Kurs auf die Insel zu.“ „Aye, Sir“, sagten die Männer gleichzeitig. „Wir versuchen, sie im Südwesten zu runden und dann einen Landtrupp abzusetzen. Dieser Trupp wird wieder von mir geführt— wie auf Hawaii. Der Rest der Crew wird sich unter deinem Kommando mit der ,Isabella` an die Lagune heranpirschen, Ben.“ „Verstanden, Sir.“ „Das ist vorläufig alles“, sagte Hasard. Ben Brighton, Blacky, Carberry und noch ein paar andere verließen die Mannschaftsmesse, um an Oberdeck die erforderlichen Segelmanöver zu veranlassen und bei ihrer Durchführung mitzuhelfen. Hasard wandte sich unterdessen wieder an die zehn Mädchen und die zehn jungen Männer von Hawaii und erzählte ihnen, was sich dort, auf ihrer Heimatinsel, vor Tagen zugetragen hatte. Er begann mit der Schilderung dessen, was die Tsunami, die Riesenwelle, angerichtet hatte, und sie lauschten ihm mit geöffneten Mündern und verhaltenem Atem. Dann aber berichtete der Seewolf, wie sie Alewa gefunden und aus der Gewalt der französischen Piraten befreit hatten — wie sie die Gefangenen aus dem Hauptdorf der Insel herausgeholt und gleichzeitig die „Saint Croix“, das zweite Schiff der Karibik-Freibeuter, angegriffen hatten. Louis, der Anführer der Meute, hatte eine schmähliche Niederlage erlitten.
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„Euer Stamm ist wieder frei“, schloß Hasard. „Das Volk von Hawaii ist dabei, die erlittenen Schäden auszubessern. Alewa, Waialae, Koa, Lanoko und all die anderen warten jetzt nur noch auf eins — auf eure Heimkehr.“ Er schwieg. Eine Zeitlang herrschte Stille in der Mannschaftsmesse, dann aber sprangen die Insulaner auf, umtanzten auf fast groteske Weise den Silberbarrenofen und lachten unter Tränen. Neuer Jubel war ausgebrochen, die Erleichterung und Freude dieser einfachen, liebenswerten und friedlichen Menschen schien keine Grenzen mehr zu kennen. Hasard und seine Kameraden standen dabei und fühlten so etwas wie Verlegenheit in sich aufsteigen, als die Insulaner sie wieder mit Dankesworten überhäuften. „Fehlt bloß noch, daß sie uns Blumenkränze umhängen“, brummelte Smoky, der Decksälteste. „Das hätten sie längst getan, wenn sie welche zur Hand hätten“, sagte Old O'Flynn mit einem wohlwollenden Blick auf all die hübschen Mädchen. * Mit dem toten Henri und den anderen drei Leichen, die sie an Bord der „Saint Vincent“ gefunden hatten, hatte Grand Duc nicht viel Aufhebens gemacht. Er hatte sie kurzerhand übers Schanzkleid in die Lagune befördern lassen. Als die Jolle geborgen und wieder aufgerichtet war, lagen diese vier Toten längst auf dem Grund der Bucht. Picou und die beiden anderen Piraten, die mit Grand Duc die Galeone geentert hatten, waren in die Jolle, die jetzt längsseits der Bordwand lag, hinunter gestiegen und östen das letzte Wasser aus, das noch unter den Duchten schwappte. Ein Mann der vierköpfigen Deckswache trat auf der Kuhl auf den Riesen Grand Duc zu und sagte: „Grand Duc, hör zu. Ich habe dir etwas vorzuschlagen. Ich...“
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Grand Ducs Augen verengten sich zu Schlitzen. Die häßlichen Narben und anderen Kampfspuren in seinem Gesicht waren auch in der Finsternis deutlich genug zu erkennen, und nichts in seinem Aussehen wirkte vertrauenerweckend und aufrichtig. „Red nicht um den heißen Brei herum“, sagte er. „Komm zur Sache. Ich weiß, was du willst. Wollen wir wetten, daß ich es genau weiß?“ „Die Geiseln - sie haben sich von hinten an uns herangepirscht.“ „Und sie haben euch niedergeschlagen.“ „Wir waren durch euch abgelenkt, Grand Duc ...“ „Fehlt bloß noch, daß ihr mir und den drei anderen die Schuld daran zuschiebt, daß sie euch fertiggemacht haben. Wir wollten die Weiber holen und uns einen Spaß mit ihnen erlauben. Und was erleben wir? Ihr Satansbraten laßt euch wie die Narren zusammenprügeln. Und jetzt habt ihr Angst vor Masot. Die Hosen voll habt ihr, und die Knie schlottern euch nur so, weil er sich an euch rächen wird.“ „Grand Duc, laß uns verschwinden“, flehte der Pirat. „Wie? Mit der Jolle vielleicht? Du bist wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf, was?“ „Hör zu.“ Der Mann senkte seine Stimme und schlug einen verschwörerischen Tonfall an. „Ich meine das anders. Wir sind zu siebt. Und der Schatz befindet sich an Bord der ,Saint Vincent`. Wir sieben brauchen jetzt nur ankerauf zu gehen und mit. der Galeone aus der Lagune abzuhauen. Masot und die anderen können uns nicht folgen. Sie stehen völlig machtlos da, haben kein Boot, gar nichts sie werden womöglich den Rest ihrer Tage auf dieser elenden Insel verbringen, wenn wir jetzt abhauen. Und wir vier hier entgehen unserer Bestrafung.“ Der Riese mit dem gelben Kopftuch stand eine Weile da und überlegte. Was der Kumpan gesagt hatte, hörte sich verlockend an. „Grand Duc“, flüsterte der andere. „Wir brauchen den Schatz nur durch sieben zu
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teilen und booten alle anderen aus. Ist das nicht großartig?“ Grand Duc gab einen verhaltenen, brummenden Laut von sich. Er zwang sich dazu real zu denken. Draußen auf See wütete noch der Sturm. Dem konnten sie zwar trotzen, denn er hatte keine Orkanstärke. Aber die Gefahr, auf ein Riff zu laufen, war groß. Außerdem reichten sieben Mann nicht aus, um ein Schiff von der Größe der „Saint Vincent“ quer durch die Südsee zu steuern. Allein in dieser Hinsicht war der Vorschlag des anderen ein Hirngespinst. Und noch etwas ließ Grand Duc zögern. Masot hatte ihn an diesem Nachmittag beiseite genommen und ihm seinen geheimen Plan offenbart: Nach Hawaii wollte Masot niemals zurückkehren. Sollte Louis, dieser Narr, doch sehen, wie er zurechtkam, sollte die Mannschaft der „Saint Croix“ bis in die Ewigkeit auf sie warten, sie sahen die „Saint Vincent“ nicht wieder - und den Schatz, den sie ihrem Anführer leichtsinnigerweise überlassen hatten, schon gar nicht. Masot wollte zunächst in die Karibik zurückkehren und dort - nachdem er die Geiseln von Hawaii selbstverständlich unterwegs umgebracht hatte - in einem überraschenden Handstreich auch seine Schiffsbesatzung beseitigen. Nur Grand Duc, sein engster Vertrauter, sollte am Leben bleiben. So konnten sie den Schatz untereinander teilen und auf einer einsamen Insel vergraben, sich dann eine neue Bande suchen und zu neuen Taten aufbrechen. Es würde ein außerordentlich beruhigendes Gefühl für sie sein. ihr Schäfchen im trockenen zu haben: Noch drei, vier blutige Streifzüge zur See, und sie hatten bis an ihr Lebensende ausgesorgt. Grand Duc zog sehr schnell seine Pistole aus dem Waffengurt und richtete sie auf sein Gegenüber. Er war jetzt froh darüber, in der Zwischenzeit die Waffenkammer der Saint Vincent“ aufgesucht und sich dort mit einer neuen Pistole und trockenem Pulver versehen zu haben. Alle anderen Waffen außer seinem Entermesser hatte er
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ja bei seinem unfreiwilligen Bad in der Lagune verloren. „Fein hast du dir das ausgedacht, aber daraus wird nichts“, sagte er drohend. Er blickte auch zu den drei anderen, die nach wie vor ziemlich verstört am Schanzkleid standen und zu ihnen herüberschauten. Sicher, sie konnten ihn zu viert überwältigen, aber einen würde er durch den Pistolenschuß töten, und einen zweiten würde er durch einen Streich mit dem Entermesser wohl ebenfalls auf die Höllenfahrt schicken, ehe die beiden anderen ihm zu Leibe rückten. Unter diesem Aspekt fehlte den vier Kerlen der Mumm zu einem raschen Ausfall. Grand Duc winkte ihnen mit der Pistole zu. „Los, ihr entert jetzt in die Jolle ab. Begeht bloß keine Dummheiten. Der erste, der irgendwelche Tricks versucht, kriegt eine Kugel. Picou!“ Er schritt an dem Kerl, der ihn zur Flucht hatte überreden wollen, vorbei, behielt ihn aber im Augen. „Picou!“ rief er noch einmal. „Ja, wir sind mit dem Ausösen fertig!“ meldete Picou aus der Jolle. „Dann steig jetzt wieder herauf und bring die beiden anderen mit“, ordnete Grand Duc an. „Ihr übernehmt die Ankerwache. Ich steige mit diesen vier Hurensöhnen hier in die Jolle und lasse mich zu Masot hinüberpullen.“ Picou enterte als erster an der Jakobsleiter auf, sein Kopf erschien hinter dem Schanzkleid. „Paß auf“, raunte er dem Riesen zu. „Die werden alles versuchen, um der Bestrafung durch Masot zu entgehen.“ „Gib mir deine Pistole“, sagte Grand Duc. „Besorg dir eine neue aus der Waffenkammer.“ Er nahm die Miqueletschloß -Pistole aus Picous Hand entgegen, steckte sie sich in den Gurt und nickte dem Kumpanen zu. Mit zwei Pistolen, einem Entermesser und einem Messer konnte er sich besser gegen die vier Kerle behaupten. Er trug sein kleines Arsenal mit sich auf die Heckducht der Jolle hinunter, sobald Picou und die zwei anderen Piraten wieder an Deck
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waren, setzte sich hin und wartete darauf, daß die vier zu ihm abenterten. 9. Die Lagerfeuer am Strand der Lagune waren jetzt ganz heruntergebrannt, nur die Holzkohlenglut schimmerte rötlich und wurde, wenn sie zu erlöschen drohte, immer wieder von dem Südostwind neu entfacht. Masot schritt vor seinen Männern auf und ab, blickte immer wieder zur „Saint Vincent“ hinüber und wartete darauf, daß Grand Duc ihm signalisierte. Aber weder die große Hecklaterne noch eine andere Lampe leuchtete an Bord der DreimastGaleone auf. Die Erfolgsmeldung blieb aus. „Da stimmt was nicht“, sagte Masot mit mühsam verhaltenem Zorn. „Sie haben mit den vorderen Serpentinen gefeuert, das heißt, daß die Kanaken irgendwie von Bord gegangen und davongeschwommen sind. Hölle, stehen die denn mit dem Teufel im Bund?“ „Masot.“ Ein untersetzter Kerl zu seiner Linken wies auf das Schiff. „Sie haben die Jolle geborgen, und jetzt pullen sie zu uns herüber, scheint mir.“ „Das wird aber auch Zeit.“ Der Schwarzbart war kurz stehen geblieben, nahm seine Wanderung jetzt aber wieder auf. „Und Vignoc? Wo steckt bloß Vignoc? Verdammt, ich habe ihn doch zur Lichtung geschickt, damit er nachsieht, warum dort geschossen worden ist. Was haben Saint Cyr und Gugnot bloß angestellt?“ Er warf seinen Kumpanen wilde, herausfordernde Blicke zu, aber sie wußten auf seine Fragen auch keine Antworten. Sie konnten nur betreten zu Boden blicken und darauf hoffen, daß er seine unbändige Wut nicht an ihnen, sondern an denen ausließ, die jetzt mit der Jolle auf sie zupullten. „Holt Vignoc, diesen hirnverbrannten Idioten!“ brüllte Masot sie an. „Stellt fest, was für eine Schweinerei dort oben passiert ist! Wenn Saint Cyr und Gugnot
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den Deutschen niedergeschossen haben, können sie was erleben! Noch muß der Hund am Leben bleiben, denn ich will den Schatz, verflucht noch mal!“ Zwei Piraten wandten sich ab und rannten los. Sie überquerten den Strand und waren kurz darauf im Inseldickicht verschwunden. Masot und die anderen Freibeuter blickten ihnen nach, fuhren dann aber zur Lagune herum, denn in der Jolle war ein Schuß gefallen. Masot sah eine weißliche Qualmwolke von dem Beiboot hochpuffen und Grand Ducs große Gestalt, die sich von der achteren Ducht aufgerichtet hatte. Er konnte auch beobachten, wie die Gestalt eines anderen Mannes langsam über das rechte Dollbord nach außen sank, das Übergewicht erlangte und in den Fluten verschwand. Die Jolle schwankte ein wenig. Grand Duc glich die Bewegungen durch Beinarbeit aus, hantierte mit seinen beiden Pistolen herum und rief so laut, daß es auch am Strand klar zu verstehen war: „Hat noch jemand Lust, sich mit mir anzulegen? Wer will die nächste Kugel in den Kopf haben?“ Masot ballte die Hände zu Fäusten und stöhnte in ohnmächtigem Zorn auf. Er war am Ende seiner Selbstbeherrschung und wußte, daß er jeden Augenblick zu toben beginnen würde. Wenig später landete die Jolle. Masot und seine Leute wateten ein Stück durch die Brandung und empfingen die vier Männer. Grand Duc kletterte als erster aus dem Boot und rief: „Die Wilden sind uns entwischt, und sie haben die vier Mann von der Wachablösung umgebracht. Das alles haben wir nur diesen Hunden hier zu verdanken!“ Er wollte in seinem Lagebericht fortfahren, aber Masot stieß einen Wutschrei aus und warf sich auf die drei Männer in der Jolle. Er sprang zu ihnen in das schwankende Fahrzeug und schlug wie ein Wahnsinniger um sich, ehe sie sich auch nur ansatzweise wehren konnten. Zegú, der König von Hawaii, beobachtete dieses Geschehen von seinem hängenden
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Gitterverlies aus. „Die Bestien zerreißen sich untereinander“, murmelte er. „So ist es recht. Pele straft alle, die sich an ihren Kindern vergreifen. Feuerspeiende Göttin von Hawaii — steh meinen Leuten bei! Und hilf auch Thomas Federmann, daß er diesen Teufeln entkommt!“ * Die Hauptinsel des Atolls schloß sich von Osten her wie eine Klaue um die große Lagune, und die Greifzangen dieses Gebildes bestanden im Norden und im Süden aus langgestreckten, faserigen Landzungen. Am Südufer der unteren Landzunge war fast zur selben Zeit auch eine Jolle gelandet, aber davon ahnten Masot und seine Meute nichts. Vorsichtig hatte der schwarzhaarige Bootsführer die Jolle auf die Küste zumanövriert, in der ständigen Befürchtung, mit Untiefen zu kollidieren. Jetzt aber lag das Boot sicher und unbeschädigt auf dem Strand, und die Brandungswellen umspülten rauschend seinen Rumpf. Der Wind aus Südosten hatte erheblich nachgelassen, umfächelte jetzt fast nur noch die Gestalten der neun Männer und der schwarzhaarigen Frau mit den dunklen Leinenhosen und der roten Bluse. Der Trupp lief auf das Dickicht zu und tauchte darin unter. Hasard hatte die Spitze übernommen, gleich hinter ihm folgte Siri-Tong. Ed Carberry, Ferris Tucker, Smoky und Dan O'Flynn schlossen sich an, und hinter ihnen waren Batuti, Sam Roskill, Matt Davies und Jeff Bowie. Die „Isabella VIII.“ hatte das Westkap der Insel gerundet und war dann mit drei Kreuzschlägen bis dicht vor das südliche Ufer gesegelt. Jetzt hatte sie längst wieder gewendet, lief vor dem Wind nach Nordwesten ab und schickte sich unter Ben Brightons Kommando an, jenseits des Kaps auf Nordost-Kurs zu gehen. Andai, Moho und Numil fungierten als Lotsen, so gut sie konnten. Ben und der Rest der Besatzung sollten durch die Passage, die
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auch Masot benutzt hatte, um sein Ankergewässer zu erreichen, ganz behutsam in die Lagune lavieren. Hasard hatte aus seiner privaten Waffensammlung einen scharfgeschliffenen Cutlass mitgenommen, mit dem er sich jetzt einen Weg durch das Dickicht säbelte. Er hatte sich außerdem den Radschloß-Drehling über die linke Schulter gehängt, eine gewehrartige Waffe mit einem sechsschüssigen Cylinder, die sie seinerzeit von den Ladronen mitgebracht hatten. Die zweite „Wunderwaffe“ von den Diebes-Inseln war der SchnapphahnRevolverstutzen, den man wechselweise mit einer sechs- oder achtschüssigen Trommel benutzen konnte. Siri-Tong trug den Stutzen bei sich, und sie hatte die Achtkammer-Trommel eingesetzt, um so viele Schüsse wie möglich zur Verfügung zu haben. Der Profos, Ferris Tucker, Smoky und die fünf anderen hatten sich sowohl mit Pistolen als auch mit kurzläufigen Tromblons, Entermessern und Säbeln ausgestattet. Der schwarze Herkules aus Gambia hatte wie üblich Pfeil und Bogen mitgenommen. Ferris Tucker hatte sich vier prall gefüllte Flaschenbomben in die Jackentaschen gestopft — für alle Fälle. Kurzum, der Stoßtrupp der „Isabella“ war im wahrsten Sinne des Wortes bis an die Zähne bewaffnet. Hasard plante, in nördlicher Richtung zu wandern und so auf den Strand der Lagune zu stoßen, wo Masots Leute ihre Lagerfeuer entfacht hatten. Es sollte ein Überraschungsangriff werden, kurz, hart, kompromißlos, mit dem Ziel, Zegú und Thomas Federmann herauszuhauen. Masot mußte inzwischen wohl begriffen haben, daß es ein ausgesprochener Fehler gewesen war, das Lager am Strand einzurichten. Er hätte seine Bande lieber vollzählig an Bord der „Saint Vincent“ belassen sollen, dann wäre den zwanzig Geiseln die Flucht garantiert nicht geglückt. Ehe Masot veranlassen konnte, daß seine Mannschaft auf die Galeone übersetzte,
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wollte Hasard seinen Überfall durchgeführt haben. Ben Brighton sollte zur selben Zeit seinen Beitrag zu dem Unternehmen leisten — es hing viel davon ab, daß er die Passage fand und sich an die „Saint Vincent“ herantasten konnte. Hasard hatte seine Gruppe ungefähr vierhundert bis fünfhundert Yards tief in den Inseldschungel geführt, da vernahm er plötzlich einen Laut schräg vor sich und blieb abrupt stehen. Durch eine Geste bedeutete er seinen Gefährten, sich gleichfalls still zu verhalten. Er hatte sich nicht getäuscht — nah vor ihnen raschelte es im dichten Unterholz, und jemand schien mit einemmal in Todesangst zu keuchen. Der Seewolf konnte in der Finsternis nicht die geringste Kleinigkeit vor sich erkennen, im übrigen hätten auch die schweren, Feuchtigkeit ausschwitzenden Blätter des Gestrüpps seine Sicht behindert, aber er war sicher, daß dort vorn ein Kampf stattfand. Geduckt arbeitete er sich weiter vor, verzichtete jetzt aber darauf, den Cutlass zu benutzen. Er wollte keine unnötigen Geräusche hervorrufen, kroch nur noch flach auf dem modrig riechenden Untergrund entlang und teilte mit den Händen die Zweige und Blätter. Dann hatte er den Platz erreicht, an dem der Kampf stattfand. Ein hagerer Mann mit nacktem Oberkörper lag auf dem Rücken, und über ihm kniete ein zweiter Mann in Siegerpose, soviel konnte der Seewolf in der Dunkelheit gerade erkennen. Als nächstes hatte er den Eindruck, daß der unten liegende, schwer atmende, total erschöpft wirkende Mann Thomas Federmann, der Deutsche, war, und er brauchte keine wertvolle Zeit mehr zu vergeuden, um sich endgültig Gewißheit darüber zu verschaffen. „Fahr zur Hölle“, sagte der Besiegte nämlich — auf deutsch. Ein dritter Kerl trat soeben hinzu. Er hielt eine Muskete in den Fäusten. Ihrer abenteuerlichen Kostümierung nach konnten die beiden Bezwinger des Deutschen nur Freibeuter sein. Die
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Situation war klar genug — Thomas war seinen Wächtern entflohen, aber jetzt hatten sie ihn wieder gefaßt. Hasard schwang hoch, hechtete mit einem panthergleichen Satz auf den über Thomas Knienden zu und riß ihn mit sich von dem Deutschen fort. Der andere Pirat wollte eingreifen, aber Siri-Tong, Carberry und Ferris Tucker sprangen wie die Teufel aus dem Dickicht und warfen sich gegen ihn, ehe er schießen oder schreien oder seinen Säbel zücken konnte. Hasard wälzte sich mit dem ersten Kerl auf dem Boden. Es war Saint Cyr, mit dem er kämpfte, aber das sollte er erst später erfahren. Saint Cyr entwickelte beachtliche Kräfte und brachte den Seewolf für einige Augenblicke in Schwierigkeiten, aber dann hatte Hasard zumindest seinen rechten Arm so weit frei, daß er dem Kerl die Faust unter die Kinnlade rammen konnte. Siri-Tong hatte Gugnot, dem anderen Widersacher, beachtlich schnell die Muskete entrissen. Carberry wollte den Franzosen mit einem Hieb fällen, aber Ferris Tucker kam ihm zuvor. Seine Fingerknöchel massierten die Schläfe des Freibeuters, und dieser sank mit einem tiefen Seufzer zu Boden. „Fesselt und knebelt die Burschen“, zischte der Seewolf. „Wir nehmen sie ein Stück mit. Wir können sie hier nicht einfach liegen lassen. Immerhin könnten sie sich befreien und uns dann verraten.“ Thomas Federmann hatte sich halb aufgerichtet. Er stützte sich 'auf seine Arme und stammelte: „Das - das geht nicht mehr mit rechten Dingen zu. Ich glaube, ich sehe doch Gespenster. Philip Hasard Killigrew, Siri-Tong, Carberry, Tucker mein Gott, wie schrecklich ist doch der Wahnsinn.“ Smoky, Dan, Batuti, Sam, Matt und Jeff traten jetzt auch aus dem dichten Gebüsch hervor, und Hasards Decksältester wandte sich grinsend an den Deutschen. „Paß mal gut auf, was ich dir sage, mein Freund. Ich will auf der Stelle tot umkippen, wenn wir Geister oder so was Ähnliches sind. Unser Profos sieht zwar aus wie ein Monstrum
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aus dem Jenseits, aber das sollte dich nicht stören.“ „Wie war das?“ fragte Carberry. „Ruhe“, raunte der Seewolf ihnen zu. „Himmel, es könnten noch mehr von diesen Kerlen im Dickicht stecken.“ „Ja, das halte ich auch für möglich, Hasard“, sagte Thomas Federmann. „Die beiden hier haben auf mich geschossen, und Masot hat daraufhin bestimmt jemanden losgeschickt, der nachsehen soll, was los ist.“ „Aha, er ist aufgewacht“, sagte Matt Davies. „Den Rest kannst du uns später erzählen“, flüsterte Hasard dem Deutschen zu. „Mehr brauchen wir vorläufig nicht zu wissen. Kannst du dich auf den Beinen halten?“ „Ja. Jetzt sogar wieder sehr gut“, versetzte Thomas grimmig. „Aber wie seid ihr ...“ „Später“, unterbrach ihn der Seewolf. „Zeig uns jetzt lieber, wie wir am schnellsten zum Strand der Lagune gelangen. Dan, gib Thomas deine Pistole und dein Messer, damit er nicht unbewaffnet ist.“ Dan befolgte den Befehl. Thomas Federmann nahm mit dankbarem Lächeln die Waffen entgegen, hob dann auch noch Gugnots Muskete auf und trat zu Hasard und zu Siri-Tong. Batuti, Sam Roskill, Smoky und Dan O'Flynn hoben die reglosen Piraten Saint Cyr und Gugnot aus dem Dickicht auf. Hasard hatte sich wieder an den Kopf seines Trupps gebracht, blickte sich kurz um und fragte: „Alles in Ordnung da hinten?“ „Ja, Sir“, raunten die Männer. „Dann los“, sagte er.
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eine Untiefe ankündigte, dann war es schon zu spät, um durch ein Manöver noch rechtzeitig ausweichen zu können. So ein Atoll war in seiner Struktur unberechenbar und äußerst trügerisch. Ben Brighton stand auf der Back. Shane, Old O'Flynn und Al Conroy befanden sich in seiner unmittelbaren Nähe, und die Polynesier Andai, Moho und Numil hatten sich vorn über die Balustrade gebeugt, um nach allen Seiten Ausschau halten zu können und die „Isabella VIII.“ nach bestem Wissen und Vermögen durch die Passage zu schleusen. Keiner sprach ein Wort. Der Südostwind drückte die mit östlichem Kurs in die Lagune laufende Galeone immer weiter nach Norden hinauf. Ben mußte Überstag gehen und kreuzen, wenn er nicht ganz aus dem Kurs geraten wollte, aber er fragte sich verbissen, ob er überhaupt den Platz hatte, um auf den anderen Bug drehen zu können. Gary Andrews stieß plötzlich einen verhaltenen Laut aus. Ben wußte nicht, ob es eine Warnung oder eine Erfolgsmeldung sein sollte, aber dann drehte sich Andai lächelnd um und bedeutete ihm durch eine Gebärde, daß sie es geschafft hatten. Tieferes Wasser war erreicht, die Passage lag hinter ihnen. „Wir gehen auf Steuerbordbug und fahren einen Kreuzschlag nach Süden“, raunte Ben seinen Kameraden zu. „Al, gib das bitte nach achtern weiter.“ Al Conroy stieg zur Kuhl hinunter, um den Befehl weiterzuleiten. Fast lautlos glitt die „Isabella“ durch die Lagune. *
10. Ben Brighton holte. tief Luft und versuchte, nicht daran zu denken, was geschah, wenn sie auf ein Korallenriff liefen. Es wollte ihm nicht gelingen. Gary Andrews lag vorn auf der Galionsplattform und lotete die Wassertiefe aus, aber das nutzte eigentlich herzlich wenig, denn wenn sich plötzlich
Picou und seine beiden Begleiter marschierten auf der Kuhl der „Saint Vincent“ auf und ab, stiegen hin und wieder auf die Back und auf das Achterdeck und hielten die Augen nach allen Himmelsrichtungen offen, damit ihnen nicht ein ähnlicher Fehler unterlief wie den Kumpanen, die inzwischen von
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Masot geohrfeigt und niedergeschlagen worden waren. Picou überlegte sich, daß er durch sein tapferes und loyales Verhalten bestimmt in Grand Ducs Gunst gestiegen war. Der Riese würde dies Masot gegenüber gewiß nicht verschweigen, und das wiederum bedeutete, daß Picou sich einige Chancen ausrechnen durfte, bei der anteilmäßigen Vergabe der Schatzbeute besser als die anderen abzuschneiden. Picou malte sich dies in den schönsten Farben aus und sagte sich im stillen auch, daß es gut war, wenn die Besatzung der „Saint Vincent“ ein wenig schrumpfte. Fünf Mann hatten heute nacht schon das Zeitliche gesegnet - und vielleicht würden die drei übrigen Ankerwachen von Masot höchstpersönlich wegen ihres Versagens hingerichtet werden. Das waren dann acht Kerle weniger. Acht unnütze Parasiten, mit denen man nicht mehr zu teilen brauchte. Am Strand entstand plötzlich Bewegung. Picou fuhr herum. „Ein Angriff!“ riefen seine beiden Kumpane noch. Und dann ging es auch schon los: Zwei Explosionsfeuer stachen zwischen den Palmen himmelan, Donnerschläge rasten über den Strand. Masot, Grand Duc und all die anderen Kerle bei der Jolle schrien auf, zückten ihre Waffen und setzten sich gegen den unbekannten Gegner zur Wehr, der da aus dem Dickicht heraus, zu agieren schien. Die Piraten saßen in der Falle. Ihr Gebrüll hallte zur Galeone herüber, und Picou und seine beiden Kumpane stürzten entsetzt an das Steuerbordschanzkleid der Kuhl. Alle drei versuchten sie, Genaueres zu erkennen, aber weder mit dem bloßen Auge noch durch den Kieker war etwas von dem unheimlichen Feind im Dunkel zu erspähen. Er hatte sich im Gebüsch eingenistet und schien ein Zielschießen auf die französischen Freibeuter zu veranstalten. Und was hatte diese rätselhaften Explosionen hervorgerufen? „Wir müssen ihnen helfen!“ schrie Picou. „Los, feuern wir die Kanonen ab!“
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„Und wenn wir unsere eigenen Leute treffen?“ rief sein Kumpan zur Rechten. „Was ist dann? Wir können doch gar nicht richtig zielen!“ Picou kümmerte sich nicht um diesen Einwand. Er stürzte an das Geschütz der Steuerbordseite, das ihm am nächsten stand, wollte die Lunte mit Feuerstein und Feuerstahl entfachen, aber unvermittelt hielt er inne und wandte sich zur anderen Schiffsseite um, weil er dort eine schattenhafte Bewegung wahrgenommen hatte. Er fuhr zusammen, verschluckte sich und begann heftig zu husten. Ein Gigant schien sich aus den Schleiern der Nacht hervorzuschieben. Von Backbord achtern schlich er auf die „Saint Vincent“ zu, geräuschlos, unheimlich, unaufhaltsam. Die „Isabella“ hatte sich mit einem weiteren Kreuzschlag in der Lagune auf Ostkurs gebracht, war dann abgefallen und hatte sich in einer engen Schleife genau auf das Heck der Piraten-Galeone zugeschoben. Dank der ziemlich präzisen Angaben der Männer von Hawaii hatte Ben Brighton dieses Manöver trotz der tiefen Finsternis einwandfrei durchführen können. Jetzt war die „Isabella“ heran und schickte sich an, bei der „Saint Vincent“ längsseits zu gehen. Auf der Back standen schon die Männer zum Entern bereit, allen voran Ben Brighton, Shane und der alte O'Flynn. „An die Serpentinen!“ brüllte Picou. Er stürmte noch zum Achterdeck hinauf und wollte die beiden achteren Hinterlader der Galeone auf den Feind abfeuern, aber dazu kam er nicht mehr. Drohend schob sich die „Isabella“ neben den Franzosen, die Seewölfe jumpten von Bord zu Bord, gefolgt von den Insulanern — ein Menschenschwall schien sich auf das Piratenschiff zu ergießen. Picou hatte seine Pistole Grand. Duc überlassen und sich dummerweise keinen Nachschub aus der Waffenkammer des Schiffes geholt. Er merkte, daß er einen großen Fehler begangen hatte, wollte seinen Säbel zücken, sah sich auf dem
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Achterdeck aber plötzlich einer überragenden Zahl von Feinden gegenüber. Entschlossen rückten sie auf ihn zu. Knirschend und schabend drückte sich die „Isabella“ noch ein Stück weiter vor, ihre Kork- und Taufender verhinderten, daß die Bordwände eingedrückt wurden. „Streicht die Flagge!“ rief Ben Brighton Picou zu. Sein Französisch war nicht das beste, aber es reichte aus, um sich zu verständigen. Picou ließ den Säbel fallen. Seine Kumpane auf der Kuhl sahen ebenfalls ein, daß Widerstand zwecklos war. Was konnten drei Kerle schon gegen diese Übermacht ausrichten? Sie ließen also auch von ihren Waffen ab und hohen die Hände. „Na also“, sagte Ben zu seinen Begleitern. „Damit hätten wir den Zweck der Übung erreicht. Hasard wollte eine heile, seetüchtige ,Saint Vincent` haben - kein Wrack.“ * Die beiden Höllenflaschen, die Ferris Tucker und der Profos unter den Palmen hatten hochgehen lassen, hatten nur der Ablenkung gedient. Masot, Grand Duc und die übrigen Piraten waren verwirrt, hasteten quer über den Strand auf den Ort der Detonationen zu - und genau das hatte der Seewolf gewollt. Er brach mit seinem Trupp aus dem Dickicht hervor und fiel der Piratenbande in die Flanke, ehe diese richtig reagieren konnte. Hasard wollte ein Blutvergießen vermeiden. Im Handgemenge fielen nur wenige Schüsse, und den RadschloßDrehling brachte er überhaupt nicht zum Einsatz. Mit einigen gezielten Fausthieben trieb er eine Bresche in die Masse von Leibern, arbeitete sich zu Masot durch und forderte diesen vor die Klinge. Siri-Tong schlug zwei Kerle mit dem Kolben des Schnapphahnstutzens nieder, dann zückte sie ihren Degen und parierte einen wilden Entermesserhieb von Grand Duc.
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Smoky, Dan, Batuti, Sam, Matt und Jeff warfen sich derweil in den Kampf gegen die übrige Meute. Thomas Federmann griff ebenfalls mit ein, so gut er konnte. Die gefesselten und geknebelten Piraten Gugnot und Saint Cyr hatten sie im Dickicht hinter sich zurückgelassen. Carberry und Ferris wollten unter den Palmen hervortreten und die anstürmenden Piraten zurückwerfen, da gab es einen unerwarteten Zwischenfall. Von Süden her rückten Vignoc und die beiden anderen Freibeuter an, die nach dem Verbleib von Federmann und dessen Bewachern Gugnot und Saint Cyr geforscht hatten. Sie schossen auf den Profos und den rothaarigen Schiffszimmermann, und Ferris Tucker spürte es plötzlich siedendheiß über seine Schulter brennen. Er warf sich hin, überrollte sich und brachte die dritte Höllenflasche zum Vorschein. „Ferris!“ schrie der Profos, der sich hinter dem Stamm einer Palme in Deckung geworfen hatte. „Hölle, du alter Klamphauer, hat es dich etwa erwischt?“ „Nur ein Streifer“, stieß Tucker undeutlich aus. Dann hatte er die Flaschenbombe gezündet und ließ sie mit einem wilden Schlenker des linken Armes zu den anstürmenden drei Franzosen hinübersegeln. Die Ladung ging im richtigen Moment hoch, und die Todesschreie der Angreifer gellten über den Strand bis auf die Lagune hinaus. Dies gab den Ausschlag - die meisten Piraten ergaben sich plötzlich. Carberry sah aber, daß Grand Duc die Rote Korsarin immer noch mit dem Entermesser bedrängte. Mit einem Fluch sprang der Profos auf, war mit zwei Sätzen bei Grand Duc und hieb diesem die Faust in die Körperseite. Der Riese mit dem gelben Kopftuch ächzte und ließ seine Hiebwaffe unwillkürlich sinken. Carberry schlug noch zweimal zu, ehe Grand Duc sich richtig gegen ihn zur Wehr setzen konnte. Der Pirat sank in den Knien ein und brach auf dem weißen Sand zusammen. „Edwin“, sagte die Rote Korsarin lächelnd. „Ich danke dir für die Unterstützung. Es
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stimmt eben doch - wo der Profos hinhaut, da wächst kein Gras mehr.“ „Och“, meinte Carberry. „War doch nicht der Rede wert, das ...“ Plötzlich wirbelte etwas durch die Luft - es war Masots Schiffshauer. Der Seewolf stand mit leicht gespreizten Beinen auf dem Strand und hielt dem Schwarzbart die Spitze seines Cutlass gegen die Gurgel. „Töte mich!“ schrie Masot. „Warum zögerst du noch?“ „Fesselt ihn“, sagte Hasard, ohne auf das Geschrei des Kerls zu achten. Ferris Tucker und Carberry packten den vor Zorn bebenden Mann. Hasard ließ den Cutlass sinken, steckte ihn weg und ging zu dem leicht hin und her schwankenden Holzkäfig hinüber, um Zegú, den König von Hawaii, aus seiner schmählichen Lage zu befreien. Die Schlacht war geschlagen. * In dieser Nacht fand keiner Schlaf. Es gab eine turbulente Wiedersehensfeier der Seewölfe und der Männer und Frauen von Hawaii. Der Morgen kündigte sich mit strahlendem Sonnenschein an, und die See hatte sich wieder beruhigt. Zwei Schiffe verließen die Lagune und segelten an den hier und da aus dem Wasser ragenden Mastspitzen gesunkener Schiffe vorbei - die „Isabella VIII.“ und die „Saint Vincent“. Fliegende Fische waren aufgetaucht und begleiteten
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beide Galeonen zur - Passage, als wollten sie ihnen eine gute Reise wünschen. Masot, Grand Duc und die anderen überlebenden von der Piratenbande blieben auf der Koralleninsel zurück. Sie würden einige Zeit brauchen, bis sie sich von ihren Fesseln befreit hatten, und auch danach würde es ihnen nicht so leicht fallen, den ungastlichen Ort zu verlassen. Hasard hatte ihnen zwar die beiden Jollen der „Saint Vincent“ gelassen, aber er hatte sie weitab vom Ufer der Lagune an verschiedenen Küsten des Eilandes versteckt. Die „Saint Vincent“ segelte mit Thomas Federmann, Zegú, Andai, Moho, Numil, Hauula, Mara und den anderen Insulanern an Bord nach Norden davon - zurück nach Hawaii mit dem Schatz an Bord. Es hatte eine ergreifende Abschiedszene gegeben, doch nichts hatte den Seewolf davon abhalten können, seine Absichten zu verfolgen. Er lief mit der „Isabella“ an dem nun wieder aus Osten blasenden Wind nach Süden ab. So sehr Thomas und dessen Freunde ihn auch gebeten hatten, mit ihnen nach Hawaii zurückzukehren - er wollte tiefer in die unbekannte, bisher noch unerforschte Wasserwelt vordringen, die südlich des Atolls lag, und davon konnte ihn nichts und niemand abbringen. Nicht einmal Siri-Tong hätte es vermocht und das wollte schon etwas heißen. Aber sie versuchte es auch gar nicht. Sie war selbst versessen darauf, zu erfahren, was jenseits des Äquators in den Weiten des Stillen Ozeans lag...
ENDE