Marcus Ingendaay Die TAXIfahrerin Roman
Rowohlt
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Marcus Ingendaay Die TAXIfahrerin Roman
Rowohlt
Umschlaggestaltung: any.way, Walter Hellmann Eigentlich will die 24-jährige Chris nur eine Art normales Leben führen. Vorzugsweise nachts fährt sie mit ihrem Taxi durch die Stadt, die mit all ihren fragwürdigen Begegnungen leichter zu ertragen ist als ihre launische Freundin Yve und ihr chaotisches Privatleben. Das ändert sich, als Yve sie endgültig verlässt und sie einen faszinierenden Fahrgast kennen lernt: die elegante Geschäftsfrau Gudrun. Chris wird von der selbstbewussten, geheimnisvollen Frau völlig in den Bann gezogen, auch als immer deutlicher wird, dass sie an eine Psychopathin geraten ist, die ihr leben planmäßig in den Abgrund steuert und nicht zögert, andere dabei mitzunehmen. «Die Taxifahrerin» ist eine abgründige Liebesgeschichte und ein Roman über psy chische Abhängigkeit, kaltblütige Mordpläne und mysteriöse Unfälle. Doch vor allem ist es der Roman über eine eigenwillige, unangepasste junge Frau, die sich ihren eigenen Weg durchs Leben suchen will. Marcus Ingendaay erzählt diese Geschichte über Rauheit und Sehnsucht, Intrigen und Liebe, große Gefühle und falsche Momente spannend, temporeich, mit Lakonie und Witz. Ein literarisches Roadmovie aus der Großstadtnacht. 1. Auflage September 2003 Copyright © 2003 by Rowohlt Verlag GmbH ISBN 3 498 03218 6
Über den Autor :
Marcus Ingendaay 1958 geboren, studierte Anglistik und Germanistik in Köln und Cambridge. Nach Stationen als Reporter und Werbetexter arbeitet er seit vielen Jahren als freier Übersetzer. Für seine Übersetzungen von Werken u. a. von William Gaddis und David Foster Wallace wurde er mehrfach ausgezeichnet. «Die Taxifahrerin» ist sein erster Roman.
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Marcus Ingendaay
Die TAXIfahrerin Roman
Rowohlt 3
1. Auflage September 2003 Copyright © 2003 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten Satz aus der Foundry Wilson PostScript von hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 498 03218 6 Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
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Die TAXIfahrerin
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1 Kodak-Moment
Auf der Rückfahrt vom Flughafen, gerade als sie das alte Taxi auf eine Geschwindigkeit beschleunigen wollte, bei der die Lenkung anfing zu zittern, sah sie am Himmel eine Erscheinung. Eine gestreckte, dunkle Scheibe hinter gelblichen Wolkenschleiern, aus der Hunderte laserscharfer Lichtpfeile die durchweichte Erde trafen. Es war zwar nichts weiter als eine Wolke oder vielleicht nur der Schatten einer Wolke, aber das Ganze sah aus wie ein extraterrestrisches Raumschiff, das sich auf langen dünnen Energie -Stelzen über die wie verwundet daliegenden Äcker bewegte und die kahlen, windigen Forststreifen durchleuchtete, dann weiter auf die Ausläufer der Stadt zu, auf Firmenlogos inmitten von struppigen Industriebrachen, auf Hochspannungspylone, Lagerhäuser, Schrottplätze, blätternde, ehemals pastellfarbene Wohnblocks, die sich Chris nur zu gut von innen vorstellen konnte, obwohl diese hinter den Staffeln von riesigen Plakatwänden fast verschwanden. Willkommen... Bienvenu... Welcome in... Worte, die mehrmals täglich an ihr vorbeiflirrten, deren Einzelteile ihr aber so rätselhaft blieben wie Schlüssel-Kratzer im Lack oder flatternde Regenschlieren an der Seitenscheibe. Fast immer trat sie an dieser Stelle aufs Gas, trotzig, denn sie wollte das alles gar nicht so genau wissen. Für Chris bestand kein Unterschied zwischen diesen Buchstaben und den anderen, wulstig aufgeblähten Gebilden, die an Hauswänden hochkrochen, bis in düstere Flure hinein, in Treppenhäuser und zerbeulte Aufzüge. Vor Buchstaben, Totems, gab es überhaupt kein Entrinnen. Sie waren überall, sie waren bösartig und unberechenbar. Und sie veränderten sich, sobald Chris ihnen den Rücken zukehrte. Das Alien-Raumschiff schwebte langsam in nordöstliche Richtung, so, als wolle es mit der Auslöschung dieser Stadt noch warten, bis
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alles mit größter Genauigkeit erfasst war. Sollte es doch. Sie, Chris, hatte sowieso nichts mehr zu verlieren. «Siebzehn von 6-38, eine Hausnummer 97 gibt es hier aber nicht...» « Warten, ich hör mal nach...»
Aber wohin das Raumschiff auch kam, es tauchte mit seinen Strahlenfingern noch die letzte Hässlichkeit in ein licht, das sonst auf der Erde nicht vorkam. Der Anblick faszinierte Chris so, dass sie, die Hand am Winker, den Kopf zur Seite geneigt und weit nach vorn über das Lenkrad gereckt, den Fuß vom Gas nahm und ihr Taxi langsam auf die rechte Spur driften ließ, um das Schauspiel besser beobachten zu können. Nein, sie glaubte nicht an Zeichen und Wunder, nicht einmal in ihrer jetzigen Situation, aber sie hatte einfach nicht mehr mit so viel Schönheit gerechnet. Ein Kodak-Moment: Tödliches Raumschiff, das von dummen Terranern willkommen geheißen wurde, weil es so wunderschön war. «6-38 von Siebzehn, das war die 79, nicht 97.» «Ja, richtig. Der Fahrgast hat sich auch schon bemerkbar gemacht.»
«Penner...», murmelte Chris, während sie in das glitzernde Kaleidoskop des Himmels blinzelte. Es schien, als wollte er die Erde kitzeln - was die Erde schon lange nicht mehr gewöhnt war. Im nächsten Moment spürte sie diesen ungeheuren Luftstoß, der einen Sekundenbruchteil später wie eine fliegende Faust auf der Standspur an ihr vorbeischoss. «-!!! Ja toll, du Arschloch!», rief sie, eher aus alter Gewohnheit. Hier war Stadtautobahn, erlaubt waren achtzig. Erst dann hielt sie erschrocken den Atem an, starrte, die plötzlich weißkalten Hände um das Lenkrad gekrampft, auf das Loch, das der - was war das eigentlich? - in die Luft gerissen hatte. Genau, ein Maverick, ein roter Ford Maverick. Gott, wie schnell war der? Und sofort war da auch wieder diese Mischung aus Angst und Wut, aber hauptsächlich Angst, die wie ein Roter Riese in ihrem Magen
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aufging und ihr bis in die Kehle stieg. Es war einfach zu viel passiert in der letzten Zeit, ihr Unfall, die Sache mit Yve, das alles wirkte nach, und sie, Chris, war definitiv nicht mehr cool. Dieses Wissen war vielleicht das Schlimmste an allem: Sie war nicht mehr unberührbar. Auch wenn es vielleicht eine Weile so ausgesehen hatte, die Kräfte des Bösen hatten sie nie wirklich vergessen. Und es brauchte gar nicht viel, um viel von dem zu zerstören, was sie sich aufgebaut hatte. Einmal die falschen Leute getroffen, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, einmal nicht aufgepasst... Niemand, der an die Kräfte des Bösen glaubte, konnte noch cool sein. Für Chris waren sie eine Realität, nachweisbar, so ihre Theorie, bis in den subatomaren Bereich. Berühr einen dieser Bildschirme im Planetarium und sieh, wie alles angefangen hat, nämlich bei 0,0000000000000000000000000000000000000000001 Sekunden, und was alles passiert, bis auch nur die erste Nanosekunde vorbei ist. Wie sich bereits in dieser Spanne die Ur-Ungerechtigkeit anbahnt, die angeblich keinen Verursacher hat, nämlich der Tod der Antimaterie. Dabei war Antimaterie nicht schlechter und nicht weniger real als Materie auch, das Anti in dem Wort bedeutete einen Scheiß. Trotzdem gab es heute im ganzen Universum keine Antimaterie mehr - außer ihr, Chris. Sie starrte dem roten Offroader hinterher, reine Materie, die jetzt auf die erste von mehreren Unterführungen zuraste, wartete auf das, was jeden Moment passieren musste: entweder die panisch aufgerissenen Bremslichter oder den gelblichen Blitz der Radarfalle, je nachdem. Doch dann brach der Wagen durch einen gleißenden Lichtfächer und verschwand im nächsten Moment hinter einem Schleier aus aufgewirbeltem Wasser. Als Chris kurz darauf die Stelle passierte, war das Licht erloschen. Keine intergalaktische Strahlung für sie, die Aliens waren an ihr nicht interessiert. Sie erinnerte sich an das Strafmandat, das sie hier vor einiger Zeit kassiert hatte. Und an den Morgen, an dem ihr Foto an der Pinnwand im Fahrerraum hing, ein rotes Zettelchen daneben, auf dem der Alte mit auftrumpfenden Ausrufezeichen notiert hatte: 150 DM!!! 3 Punkte!!! Wall of fame sagte der Coyote dazu.
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Der Coyote war praktisch der Einzige ihrer Kollegen, mit dem Chris überhaupt je ein Wort wechselte. Von dem Kölschen Klüngel, der bei KaRo-Taxi den Ton angab, hielt sie sich demonstrativ fern, reagierte nicht einmal, wenn sie sie «Kleine» nannten, diese primitiven Säcke und fettärschigen Prolls, die sich Gott weiß was einbildeten, weil sie schon zwanzig Jahre «dabei» waren, wie sie sagten. Aber eben immer noch ohne eigenes Fahrzeug und ohne eigene Konzession. Die die eigene Frau zum Putzen schickten, aber auf die faulen Studenten schimpften, die bei KaRo als Aushilfsfahrer beschäftigt waren. Nur: Eines Tages zogen die Studenten weiter, während sich diese Typen bis in alle Ewigkeit hinters Steuer klemmten. Chris dachte an eine Veränderung. Und vielleicht war die Veränderung - unbemerkt - ja längst eingetreten. Etwas war anders geworden, und begonnen hatte es an jenem Morgen im Fahrerraum, als ihr Radarfallen-Bild an der Wand hing und die ganze Bande davor herumstand und sich wegschmiss vor Lachen. Seit der Alte die Ablösung am Halteplatz abgeschafft hatte, ließen sich diese Begegnungen bei Schichtwechsel kaum vermeiden. Klar, die Feindseligkeit hinter der vermeintlich nur dämlichen Anmache war nicht neu, weswegen sich Chris normalerweise mit einem Vakuum umgab, in dem blöde Sprüche den Kältetod starben. Doch was sollte sie unternehmen gegen das Gekrakel auf ihrem Foto, Buchstaben in rotem Filzstift wie flatternde Regenhieroglyphen. Jemand hatte etwas auf ihr Foto geschrieben, das alle im Fahrerraum offenbar unheimlich komisch fanden, das sie, Chris, jedoch nicht entziffern konnte. Eines der Wörter, eines mit vier Buchstaben, da war sie sicher, hatte sie sogar schon einmal irgendwo gesehen. Aber wo? An unterschiedlichen Orten begegnete man immer auch unterschiedlichen Wörtern. Beispiel: Straßennamen. Sie hatte 6.000 Straßen im Kopf, allerdings nach einem System, das nur sie verstand, obwohl es so einleuchtend war. Schau in den Nachthimmel. Vom Bekannten zum Unbekannten, über Virgo zum Haar der Berenike. Sie spürte, wie ihr sogar in der Erinnerung an den Vorfall das Blut in den Kopf schoss und sich dort zu einer grau verrauschten Galaxie dehnte, in der sie kaum noch etwas wahrnahm. Wie damals in der Schule, wenn alle sie auslachten, wenn der Lärm in ihrem Kopf zunahm und die Wörter auf dem weißen Blatt anfingen zu tanzen wie
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eine kleine hässliche Boygroup - push, hit, turn, kick -, alle diese Buchstaben, denen ständig neue Arme wuchsen und sie, Chris, je länger sie starrte, in ein Gespinst einwoben, das sie fast nur mit einem Schrei zerreißen konnte. Und einem Schmerz, der so scharf war, dass er sogar durch das graue Rauschen in ihrem Kopf schnitt. In diesen Momenten verlor sie jede Kontrolle über sich, geschahen Dinge mit ihr, mit denen niemand rechnen konnte, schon gar nicht diese dummen Säcke von KaRo. In diesen Momenten, wenn der Lärm in ihrem Kopf anschwoll wie im Inneren einer Turbine (oder wie bei den Nahaufnahmen fliegender Streitäxte in ihrer Lieblingsserie Xena), in diesen Momenten hätte sie sterben können. Später, wenn alles vorbei war, war ihr oft so schlecht, dass sie sich übergeben musste. Aber wessen Schuld war das? Sie, Chris, hatte ja nicht angefangen. Sie hätten sie eben nicht anfassen dürfen. Diese widerlichen Hände. Pack, eklig wie Algen. Feige Bande. Wichser. Rötliche Gesichter, speckige Lederwesten, nikotingelbe Augen, die in Kölsch schwammen, und diese Schnurrbarte, ihr Stammeszeichen. Irgendetwas an ihr, Chris, musste ihnen verraten haben, dass sie reif war. Und in diesem Punkt hatten sie sogar Recht. Sie war Antimaterie, die letzte ihrer Art, aber an schlechten Tagen ahnte sie längst, dass sie nicht mehr allzu viel von diesen Ärschen unterschied. Sie war nicht mehr unberührbar, und das hatten sie gespürt, eher als Chris selbst. Die Kräfte des Bösen hatten alle Zeit der Welt. Sie trat das Gaspedal bis zum Anschlag nieder, und der Diesel meldete sich nagelnd, die Tachonadel begann zu beben, aber von Beschleunigung keine Spur. Dieser Wagen war ein Zustand, kein Fortbewegungsmittel, eine Zeitkapsel, in der die Gespenster von tausenden Fahrgästen mitreisten. Er war der Strafwagen. Den Strafwagen hatte immer einer, auch der Coyote hatte ihn schon gehabt, weil er während der Schicht heimlich seiner Frau hinterhergefahren war und keinen Umsatz gemacht hatte, so wurde jedenfalls geredet. Mit seinem eigenen Auto, einem antiken, mittelgroßen AmiSchlitten aus den Sechzigern, wäre es auch schlecht gegangen. Viel zu auffällig. Um das Radio einzuschalten, musste sie mehrmals gegen die Blende schlagen. Manchmal half auch nur ein Tritt.
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«Glückwunsch, Sandra, du hast gerade 150 Mark gewonnen. Freust du dich?» «Ja.» «Was wirst du mit dem Geld machen?» «Ich weiß noch nicht...»
Sie drehte am Senderknopf. «Achtung, Autofahrer, auf der A 3 kommt Ihnen ein...» «... the queerest of the Q U E E R... the strangest of the STRANGE...»
Dann hatte plötzlich der Coyote im Fahrerraum gestanden. Chris weigerte sich zu sagen «zum Glück», denn sie wollte ihm nichts schuldig sein, und mit dem Gesindel wurde sie allemal fertig. Aber alles war auf einmal so still gewesen, dass man sogar hören konnte, wie der Pirelli-Wandkalender im Luftzug seine Titten schwenkte. Der Coyote gehörte nicht zum Kölschen Klüngel, er war, wie Chris, eine Klasse für sich, doch anders als Chris respektierten ihn die Männer. Und niemand erhob Einspruch, als er wortlos, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, deren Rauchsäule fast unbewegt vor den grünen Gläsern seiner Sonnenbrille emporstieg, Chris' bekritzeltes Foto von der Wand nahm und in seiner hellbraunen Wildlederjacke verschwinden ließ. Ein Typ von unbestimmbarem Alter, lang, schlaksig, mit schwarzen gelgetränkten Haaren, die wie gefärbt wirkten, mit seinen ewigen grünen Shades, die er selbst in geschlossenen Räumen nie absetzte, und mit Cowboy-stiefeln, die völlig daneben waren. Doch ein Blick von ihm (durch seine grünen Shades) hatte genügt, dass selbst diese hirnlose Meute im Fahrerraum betreten zu Boden schaute. ... the queerest of the QUEER...
Der Coyote schien zu wissen, dass er aussah wie das Klischee von etwas, das es eigentlich nicht mehr geben durfte. Genau wie sein Auto mit dieser seltsamen Sonnenblende aus grünem Plexi, die, wie bei südländischen LKWs, außen angebracht war. (Ein Auto mit Shades!)
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Auf Chris wirkte er wie ein Mann mit einer Mission, die nicht das Geringste mit seinem Taxijob zu tun hatte, ja, nicht einmal, was nahe gelegen hätte, mit der Tatsache, dass er wochenlang seine Frau beschattet hatte - falls diese Geschichte überhaupt stimmte. Dafür sprach auch seine gleich bleibende, gewissermaßen hintergedankenfreie Freundlichkeit, die Chris besonders dubios fand. Sie war daran gewöhnt, dass die Kerle sie anstarrten. Dass sie aussah wie ein Junge, war nämlich überhaupt kein Schutz, im Gegenteil. Genauso wie ihre stoppelkurzen Haare von Männern nicht selten als Einladung verstanden wurden, mit der Hand darüber zu streichen. Nicht so der Coyote. Trotz seiner Shades, das spürte sie, gehörte er nicht zu den Glotzern, er schien einfach anderes, Wichtigeres zu tun zu haben. Und doch traute sie ihm noch weniger als all den anderen. Wäre sie ihm auf der Straße begegnet, hätte sie vermutlich nur gedacht: schräg. Der Coyote wusste übrigens nicht, dass er der Coyote war. Coyote hieß er allein in Chris' persönlichem System - nach dem Schriftzug CAJUN COYOTE auf der Sonnenblende (Shades!) seines antiken Autos. Die Entzifferung hatte sie mehrere Wochen gekostet, denn Wörter, die zwei oder mehrere identische Buchstaben enthielten, waren für sie wie rotierende Asteroiden, die jeweils nur für Sekunden von der Sonne beschienen wurden. Immerhin, ihre Vermutung bestätigte sich, der Name passte wie kein zweiter. Alles an ihm war Coyote, und das war sehr verschieden von Hund, Bär oder Stier, Sternen und Nebelobjekten. «... monstermäßig gefloppt. Der Neueinsteiger der Woche in den Hörercharts, nach Scheidung und Drogenexzessen von null auf Platz vierzehn...» «... von 6-38. Hat jemand noch Wechselgeld?» «Dieter, alter Funkquäler, geh nach Hause...»
Der Stau begann schon, für einen Samstag eher ungewöhnlich, in der Auslaufzone - mit jeder Menge auswärtiger Kennzeichen, Phantasialand-Aufklebern, Katzengesichtern in den hinteren Seitenscheiben. Alles Leute, die sich das Hochwasser ansehen wollten. Arschlöcher. Der Flughafen war für Chris die erste vernünftige Fahrt an diesem Morgen gewesen, aber es sah so aus, als
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sollte dies erst einmal so bleiben. Dabei hätte sie fahren müssen, ohne Pause bis zum Umfallen. Es war das Einzige, was jetzt noch half, um nicht wahnsinnig zu werden. Außerdem brauchte sie Geld, dringend. Gestern war schon wieder ein Brief von der Wohnungsgesellschaft gekommen, unten auf der Seite eine fett gedruckte Zahl, die mit jedem Mal größer wurde. Und mit Zahlen konnte sie. Sie hätte eben Yve nie vertrauen, sie schon gar nicht bei sich aufnehmen dürfen. Sie wusste doch, was für ein Miststück sie war. An welches Wunder hatte sie denn geglaubt? Wo steckte eigentlich der rote Maverick? Sie wünschte sich ein Killer-Auto, mit dem man sich ein Schneise durch so viel sinnloses Blech hätte bahnen können. Oder so ein Monstertruck wie die im Fernsehen, die alles platt walzten, was ihnen im Weg stand, und so blöd grinste wie diese Katzengesichter. Das hatten sie dann davon. Später, nach der Sache im Fahrerraum, als alles vorbei war, als sie auf den nassen Stufen vor der Zentrale saß und gegen eine Grundsee von Übelkeit anwürgte, stand plötzlich wieder der Coyote vor ihr (sie hatte ihn gar nicht kommen sehen), in der Hand ihre Lederjacke, die sie abgestoßen hatte wie etwas heillos Besudeltes, nachdem eines dieser Schweine versuchte, ihren Arm nach hinten zu biegen. Er wartete, bis sich ihre Augen in seinen grünen Shades verfingen, und kniff die Lippen zusammen. «Alles in Ordnung?» Chris nickte und schaute hoch in den gelblichen Himmel, wo ein Schwärm Möwen stets ein und denselben Punkt umkreiste. Ein Kodak-Moment: Möwen und ihr wundervolles Navigationssystem. «Hey, ich soll dir sagen, es tut ihnen Leid. Sie entschuldigen sich. Es war nicht böse gemeint, jedenfalls nicht so, wie es...» Chris schnaubte durch die Nase und vermied den Blick in die spiegelnden Gläser. Nur jetzt nicht anfangen zu heulen. «... vielleicht... ich meine, wie gesagt, es tut ihnen Leid. Okay? Okay?» Wobei er auf mitfühlende Art, wie man sie in amerikanischen Serien immer sah, das Gesicht verzog und Chris die Jacke hinhielt, ohne dass Chris den Kopf wandte. Dann sagte er: «Mann, ist die schwer. Sag mal, was schleppst du eigentlich alles mit dir rum?» «Gib her.»
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«Was ist das?» «Gib her!» «Mensch, das ist ja ein ganzes Arsenal! Wozu brauchst du das?» «Ich brauche es eben. Gib her, verdammt noch mal!» Aber er hatte ihren Elektro-Stunner bereits in der Hand und betrachtete ihn kopfschüttelnd. Und das war noch längst nicht alles. Eine Gaspistole, ein CS-Spray, eine Rettungsschere, ein Weltempfänger, ein Teleskopschlagstock, eine Taschenlampe, ein Springmesser und ihr Handy steckten in den anderen Taschen. «Du lieber Himmel!» «Gib her. Nicht auf den roten Knopf drücken, da kommen 320.000 Volt raus.» Aus der Hand des Coyoten antworteten ihr knatternde Lichtblitze. «Oops! Wow! Woooow!» Er zuckte zurück. «Sehr beeindruckend!» «Ich hab gesagt, gib her, verdammt.» Sie war aufgesprungen und riss erst den Stunner, dann die Jacke an sich. Die Jacke war noch warm und fühlte sich gut an, merkwürdig unbesudelt. Sie liebte den Druck von schweren Gegenständen auf ihrem Körper, und es beruhigte sie, als der Stunner wieder an seinen Platz glitt. Mit all den Sachen darin war ihre Lederjacke wie ein Kokon. Mit so einer Lederjacke konnte sie tagelang durchfahren, wenn es sein musste, das machte Chris gar nichts. Der Coyote sah sie an und strich sich über sein gelverklebtes Haar. «Frau, in was für einer Welt lebst du eigentlich?», sagte er. «In eurer, was dachtest du?» Sie schluckte und atmete, bis sie den kühlen Morgen schmecken konnte. «In einer, in der nie etwas so gemeint ist.» Sie dachte an Yve. «Tut mir Leid.» «Warum sagst du das? Warum sagt ihr dauernd, es tut euch Leid?» Sie dachte an den Mann hinter dem Bankschalter, der auch gesagt hatte, es täte ihm schrecklich Leid, aber so, wie die Dinge stünden, hätte sie sicher Verständnis dafür, dass... Und daran, dass sie dem Kassierer einen Augenblick lang sogar geglaubt hatte, so treuherzig, wie er sie ansah, immerhin auch nur ein Mensch. Doch diese Wichser kriegten das in speziellen Lehrgängen so beigebracht.
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«Naja...» Der Coyote hob die Hände in Unschuld. «So Leid, dass du nachts nicht schlafen kannst oder was?» Komisch, aber der Coyote sah morgens manchmal tatsächlich so fertig aus, als hätte er in seinem Auto übernachtet. Ein gestrandeter Rockabilly, ein zerzauster, hungriger Coyote unter einem blauen Mond in einem Auto mit Shades. Immer noch über ein und demselben Punkt schraubten sich die Möwen höher in den Februarhimmel. Die verebbende Übelkeit hinterließ eine riesige angenehme Leere. Der Coyote setzte sich auf die Treppe und hielt ihr eine Schachtel Zigaretten hin, aber Chris schüttelte den Kopf. «Wo hast du eigentlich gelernt, so zuzuschlagen?», fragte er. «Wieso?» «Ich meine nur.» Er grinste. «Ein paar von denen haben richtig was abgekriegt.» «Ich fasse diesen Abschaum nur nicht an, das ist mir zu eklig...» «Verständlich.» «Aber wenn sie es unbedingt so wollen, kriegen sie einen in die Fresse...» Wie bei Xena, der Kriegerprinzessin, ihrer Lieblingsheldin. Nur dass die Wirklichkeit immer viel hässlicher war als das, was sie in Xena sah. Nicht grell, sondern wie hinter grauem Nebel. Nicht schnell, sondern mit jener alptraumhaften Langsamkeit, aus der sie nur ein starker Schmerz erlösen konnte. Das lag daran, dass Xena immer sie selbst war, stark und von düsterer Schönheit, und dass selbst in der tiefsten Hölle die Kräfte des Bösen keine Macht über sie hatten. Während ihr, Chris, immer nur schlecht wurde, wenn sie anfing um sich zu treten und ihr Turnschuh auf etwas unerwartet Weiches traf. Xena fing Speere noch in der Luft. Sie konnte Götter töten. «Cool. Cool.» Der Coyote hob einen Daumen, doch sein schmales Gesicht blieb vollkommen unbewegt. «Das beantwortet aber meine Frage noch nicht.» «Wie war die Frage?» «Wo du das gelernt hast?»
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«Wieso?» «Interessiert mich eben.» «In der Schule. Da, wo man all die nützlichen Sachen lernt.» «Ist nicht wahr!» «Doch», sagte Chris und zögerte einen Moment. «AntiGewaltProgramm. Vom Jugendamt.» «Verstehe ich nicht.» «Wegen Selbstbewusstsein und so. Sie geben dir einen Karatekurs und reden darüber, wie man Probleme löst.» Sie zögerte. «Aber da waren nur die Blöden drin.» «Verstehe ich nicht. So kommst du mir gar nicht vor.» «Tja, so kann man sich täuschen.» «Und hat es die Probleme gelöst, dieses Anti...?» «Wie du siehst. Aber das Anti bedeutet einen Scheiß.» «Nein, was ich sagen wollte: Ist denen nichts anderes eingefallen für dich?» «Warum sollte ihnen? Den Blöden fällt nie etwas anderes ein, deswegen sind sie ja so.» «Nein, ich meinte wegen deiner...» «Hör mal, was soll die Fragerei? Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten, okay? Also kümmer dich um deinen eigenen Scheiß. Damit hast du genug zu tun.» «Schon gut, schon gut.» «Warum könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?» «Okay, kein Problem, überhaupt kein Problem.» Abermals diese Unschuldsgeste. «Lasst mich doch einfach in Ruhe.» «Kein Problem. Ein Wort von dir und...» Er beugte sich nach vorn und sah über seine Shades hinweg zum Tor, wo, mit einer Schürze aus Regenschmutz, Wagen 4-09, das ungeliebte Straf- und Ersatzfahrzeug, auf den Hof rollte und weiter zur Waschstation. «Da kommt ja mein Luxusauto», sagte er und zog, aufstehend, die Worte in die Länge. «My... very own... very private... limo... service.»
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«Das kommt davon», rief sie ihm hinterher. «Das kommt davon, wenn man sich um Sachen kümmert, die einen nichts angehen.» Okay, das war gemein, aber es tat ihr nicht Leid. Was wollte dieser Kerl eigentlich von ihr? Immer war er irgendwie in der Nähe. Sogar wenn sie fuhr. Wenn sie draußen überhaupt jemandem von ihrer Firma begegnete, dann ihm. Warum? Als sich der Coyote daraufhin noch einmal umdrehte, waren seine Shades wie zwei Schwarze Löcher, die alles Licht verschluckten. Sein ewiges Grinsen war versiegt. Wortlos und mit steifen Schritten ging er auf Nr. 4-09 zu. Unterdessen schob sich die Blechschlange mit ihren Grinsekatzen und ihrer Gier nach einer Katastrophe für die ganze Familie auf den Ausgang des Arena-Tunnels zu. Leute, die Beifall klatschten, wenn das Wasser über die Barriere schwappte wie über den Rand eines übervollen Brunnens. Angeblich hatte die Flut ihren Höchststand bereits überschritten, aber die Nerven «lagen blank», wie sie im Radio sagten. Erst sagten es nur die Reporter, dann sogar die, deren Häuser unter Wasser standen. Überall lagen die Nerven blank, selbst der Diesel döste nur scheinbar in jener satten Vibration, die Chris manchmal bis in den Schlaf verfolgte. In Wirklichkeit brodelte es in seinem verrußten Herz. Sie hielt den zitternden Spiegel fest und schaute hinein. Ihre kräftigen Brauen, gerade wie ein Strich, die ihre Augen größer machten, als sie waren, und irgendwie weniger blau, so wenig blau, dass sich vermutlich nicht einmal ihre Mutter daran erinnerte. Sie sah auf ihren großen Mund mit den zweifelnden Lippen. Mit der linken Hand fuhr sie sich durch ihr Stoppelhaar. Gott, das sah aus wie Sigourney Weaver in Alien 3. Aber es musste sein, es war ihr Zeichen dafür, dass sie sich im Krieg befand gegen die Kräfte des Bösen und dass sie sich nie, nie geschlagen geben würde, auch wenn es bedeutete, wie ein Tier zu leben. Nachdem sie sich allerdings seit vierzehn Tagen nur von trockenen Cornflakes ernährte und im Schlafsack in ihrer kahlen Wohnung übernachtete, verlor solche Entschlossenheit zunehmend an Bedeutung, und alles ging mehr oder weniger über in eine einzige große Scheiße. Außerdem glänzte ihre Haut wieder so fettig, dass die nächste Akne eigentlich nur noch eine Frage der Zeit war. Aber was konnte sie schon groß tun, wenn sie
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zwölf Stunden in dieser Karre saß? Mit einem Fingerknöchel rieb sie an ihren Nasenflügeln entlang. «... kriegt offenbar den Hals nicht voll, letzt hat sie auch noch ihren Manager verklagt. Angeblich geht es um die stolze Summe von...»
Sie drehte am Senderknopf. So, wie diese Affen fuhren, kamen auf der Linksabbiegerspur jedes Mal höchstens fünf Autos über die Kreuzung. «... vergisst dabei, dass die Entwicklung des Fortschritts exponentiell verläuft, das heißt, wir sprechen mittlerweile von einer Verdopplung des Wissens innerhalb von vier Jahren. Es ist daher gar nicht mehr ausgeschlossen, dass die Menschheit bereits in naher Zukunft auch genetisch in zwei Hälften zerfällt, und zwar in...»
Chris sah das ähnlich. Eines führte zum anderen. Beispiel: Der kleine Modeladen, der direkt gegenüber ihrem Halteplatz an der Kirche lag und dessen Schaufenster nachts noch leuchtete, lange nachdem die Scheinwerfer, die die Fassade der Kirche anstrahlten, erloschen waren. Die Kleider dort im Fenster waren nie im Leben für jemanden wie sie gemacht, und selbst mit Taschen voller Kohle hätte Chris sich nicht in einen solchen Laden getraut. (Anders als Yve übrigens, die sich sehr veränderte, wenn sie Geld hatte, vermutlich weil sie viel besser wusste, wie sehr es alles veränderte.) Und trotzdem hätte sie, die nur Jeans und Sweatshirts und Joggingklamotten kannte, nur zu gern gewusst, wie es war, sich in einem solchen Kleid zu bewegen, wie sich der Stoff auf der Haut anfühlte, wenn man fast nackt war, jedenfalls ohne ihre gewohnte Lederjacke und ohne einen Haufen schwerer Sachen am Leib, die einen beschützten. Oder überhaupt, wie sehr sich ein Leben von ihrem, Chris' Dasein, unterscheiden musste, damit man ein solches Geschäft betreten konnte. Aber der Gedanke war ohnehin absurd. Sie hatte es im Fernsehen gesehen: Es gab Wüstentiere und solche, die in einer Oase lebten. Trotzdem herrschte dort kein Gedränge, und beide Arten von Tieren begegneten sich selten. Der Wagen auf der Mittelspur starrte interessiert zu ihr herüber - wie lange eigentlich schon? «Was willst du? Meine Flirtnummer?» Der
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fremde Blick klebte aber weiter an ihr. Vielleicht dachte er ja, sie wäre am Heulen. «Was gibt's denn da zu gucken?... Wichser.» Sie rieb ihre Nase heftiger, tat dann so, als müsse sie den Innenspiegel einstellen, fummelte abermals am Senderknopf, zündete sich eine Zigarette an (womit sie ihr selbst gesetztes Limit für die Schicht bereits überschritt) und blies, als die Ampel immer noch nicht umschaltete, genervt den Rauch gegen das Armaturenbrett. Nach der darauf folgenden Grünphase fuhr sie über Rot. Auf der anderen Seite der Unterführung, Fahrtrichtung Süden, brach die Sonne durch den graugelben Himmel und verwandelte die Straße in ein gleißendes Band. Sie kurbelte die Seitenscheibe herunter, kühle Luft, Wasserluft vom Fluss, strömte herein, schauerte eisig über ihre Kopfhaut. Sie mochte das Geräusch der Reifen auf dem regennassen Asphalt. Es klang so sauber und frisch. Im Gegenlicht hätte sie beinahe den alten Mann übersehen, der winkend am Straßenrand stand. Sie bremste scharf und kam etwa zehn Meter hinter ihm zum Stehen. Doch der Alte, in seinem braunen Anzug und offenen weißen Hemd, gestikulierte nur und lief mit steifen Schritten wieder auf den Bürgersteig. «Ja was denn nun?» Chris setzte langsam zurück und sah ihn weiter hinten vor der Markise eines italienischen Cafés fuchtelnd auf eine junge Frau einreden. Die junge Frau trug einen dunklen Mantel und stand still neben einer Art Geigenkasten, ein Ding so groß wie ein Tanzbär, so groß wie ein Sarg. Der alte Mann zeigte dann auf sie, Chris und das Taxi, und wollte der jungen Frau mit diesem Ungetüm behilflich sein. Die junge Frau hingegen, weit entfernt, sich den Geigenkasten aus der Hand nehmen zu lassen, schob den Alten energisch, aber nicht unfreundlich fort und beendete die Unterhaltung mit einer Gebärde, die aussah wie ein komplizierter Segen. «Na, komm schon, Lady, mach vorwärts. Ich kann hier nicht ewig warten.» Die Frau näherte sich, den riesigen Kasten in der Hand und ohne den Radfahrer zu beachten, der klingelnd und schimpfend ausweichen musste. Chris stieg aus dem Wagen und öffnete den Kofferraum.
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Es war ein Kontrabass, in dem Kasten war ein Kontrabass. Ein Kontrabass war nicht schlechter als jeder andere Bass, das Kontra bedeutete einen Scheiß. Und natürlich passte er nicht in den Kofferraum. Misstrauisch verfolgte die Frau, wie Chris sich abmühte. Mehrmals zitterte ihre Oberlippe, als wolle sie etwas sagen. Dieser wie hingehauchte Flaum auf den Wangenknochen, der unter der Märzsonne aufleuchtete und den Chris, sie wusste es, nie vergessen würde! Doch die junge Frau blieb stumm, nur ihre Hände waren immer wieder im Weg, feingliedrig, ängstlich vorschnellend, sobald Chris mit dem Kasten irgendwo aneckte, jedoch ebenso schnell zurückschreckend, wenn sie Chris' Hand zu nahe kamen, vor allem dem Skorpion-Tattoo auf ihrem rechten Handrücken. Auch das würde sie nie vergessen. Ein KodakMoment: Zwei Hände, die sich nie berührten, weil sie zu verschieden waren. Die junge Frau konnte nicht älter sein als Chris, aber sie kam von einem anderen Planeten. Eine von denen, die je derzeit jeden Modeladen betreten konnten, als sei es das Normalste der Welt. In diesem Augenblick schämte sich Chris für ihr Tattoo. Sie tat das eigentlich nie, aber vor der jungen Frau war die Botschaft, die es enthielt, vollkommen lächerlich. «Okay, so müsste es gehen.» Das schmale Ende des Geigenkastens ragte über die Ladekante hinaus wie eine Zigarre. Passte irgendwie zu dem alten Stinker. Was bedeutete es noch einmal, wenn schwarzer Qualm aus dem Auspuff kam? Schließlich gab es auch weißen, blauen, braunen Qualm. Und jeder erzählte eine andere Geschichte aus dem Inneren des Motors. Chris wickelte die alte Decke um den Hals des Kastens und schloss die Kofferraumklappe mit einem Zurrgurt. Wortlos stieg die junge Frau hinten ein. «Und wohin?», fragte Chris in den Rückspiegel, als der Diesel ansprang. Die junge Frau, die langen Beine eng aneinander gepresst, schrieb mit einem winzigen goldenen Kuli etwas auf einen Block. Sie riss den Zettel ab und reichte ihn Chris. Nein! Nicht schon wieder. Nicht schon wieder!
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Sie spürte, wie ihr Herz anfing zu klopfen. Von einer Sekunde auf die andere, wie böse Kobolde, veränderten die Buchstaben auf dem Zettel ihr Aussehen, setzten sich Hüte auf und lange Nasen, zauberten Spazierstöcke hervor (zähl sie!), standen auf einem Bein, renkten sich Arme aus. So würde sie das nie entziffern können. «Hören Sie, ich... ich kann Ihre Schrift so schlecht lesen. Wo soll das sein?» Diese Scheiß -Lügerei. Die junge Frau antwortete mit einer Salve von Gebärden, wies abwechselnd auf ihre Ohren und ihren Mund, was anfangs komisch aussah, ohne es zu sein, denn sie endeten jedes Mal entschieden und mit einem feingliedrigen Finger auf dem Zettel in Chris' Hand. «Nein, so geht das nicht. Sie müssen mir schon sagen, wo Sie hinwollen.» «Können Sie mich verstehen? Verstehen Sie, was ich sage? Can you... understand? Understand?» «...» Dieselbe Reaktion wie zuvor. Chris ahnte, dass sich hier der größte annehmbare Unfall überhaupt anbahnte. Die Frau konnte nicht sprechen. Und wahrscheinlich auch nicht hören. Die junge Frau war taubstumm. «Ach du Scheiße.» Wider Erwarten zeigte die Frau auch nicht die geringste Einsicht in ihre Lage. Nicht einmal der Anflug von Hilflosigkeit. Im Gegenteil, sie verdrehte ungeduldig die Augen, wandte ihr sogar das Profil zu und schaute einfach aus dem Fenster. Das half zwar nicht weiter, machte aber eines klar: Sie dachte nicht daran, sich für irgendetwas zu entschuldigen, sondern verhielt sich, als sei ihre Behinderung nicht ihr Problem, sondern das der anderen, und das wiederum war etwas, das Chris zutiefst respektierte. Außerdem war ihr Hals, gerade in dieser Drehung, so wunderschön, dass Chris ihn hätte anfassen mögen. Ein Hals für Serientäter. «... cause I grab the mic and flip my tongue like a dyke...»
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Was tun? Denk nach. Denk nach. «... ding ding dang, ring-gading ding ding dong...»
Sie hatte den Zettel in der Hand. So viele identische Buchstaben. Welche Straßen hatten identische Buchstaben? Aachener, Neusser, Nesselrode, Statthalterhofallee, Klapperhof. Das brachte nichts, sie war umzingelt von Straßen mit identischen Buchstaben. «... keep their headz ringing...»
Sie wühlte im Seitenfach nach dem Stadtatlas und schaffte es, die Aufmerksamkeit der jungen Frau zu erregen. «Hier, zeigen Sie mir die Straße. Zeigen Sie mir, wo Sie hinwollen.» Wozu hatte sie sechstausend Straßen im Kopf? Die Orientierung im Stadtatlas war leic ht. Erst kamen die Seitenzahlen (mit Zahlen konnte sie), dann die markanten Punkte wie Parks, Brücken, Tiefgaragen, Kirchen, Postämter, grau unterlegte Häuserblocks, an denen die Straßen hingen wie Tang. Also nicht anders wie beim Blick in den Nachthimmel, vom Bekannten zum Unbekannten, über Virgo zum Haar der Berenike. Auch Sternbilder galten ja nicht überall, sondern nur auf der Erde. Aber die Frau zuckte nur gleichgültig die Schultern. Eine, die auch taubstumm jeden Modeladen betreten, sich mit einem Nicken alles zeigen lassen konnte, ohne dass irgendwer die Chance hatte, sie zuzulabern, sondern abwarten musste, wie sie entschied. Venus war nicht länger Abendstern. Gerade als Chris sich wieder umdrehen wollte, spürte sie hinter ihrem Rücken die Aura eines fremden Parfums wie eine Berührung. Die junge Frau hatte sich nach vorn gebeugt und hielt ihr etwas hin, das aussah wie ein Stapel Werbeflyer oder Autogrammkarten. Das kam vor, besonders zu Messezeiten. Ob Chris die Dinger später an den Mann brachte, entschied das Trinkgeld. Sie streckte die Hand danach aus, doch die junge Frau drehte die Karten um und zeigte mit einem roten, extrem kurzen Fingernagel auf eine Kolonne von Zahlen, die später in Buchstaben übergingen, die Chris nicht lesen konnte.
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Sie musste jetzt etwas sagen, auch wenn die Frau sie nicht verstand. «... keep their headz ringing...»
Okay, aber linksrheinisch oder rechtsrheinisch, das wissen Sie doch, oder?», fragte sie und deutete mit den Händen eine Brücke an. «Andere Seite...? Bridge...? River...?» Die Frau schüttelte den Kopf. Chris legte die Karten auf die Ablage über dem Handschuhfach. O Mann, wo sollte das enden? «... keep their motherfuckin headz ringin...»
«Gut, dann... Aber sagen Sie Bescheid, wenn ich abbiegen muss, okay?» Dröhnend reihte sich das Taxi in den Verkehr ein. Chris schwamm mit, Richtung Messekreisel, das war nie verkehrt, und auf diese Weise hatte sie wenigstens etwas Zeit gewonnen. Aber es musste etwas geschehen, denn es war kaum anzunehmen, dass die junge Frau begriffen hatte, was sie meinte, geschweige denn den Weg wusste. Die junge Frau sah reglos aus dem Fenster, allein in ihrer Stille. Dann steckten sie im Stau. Eine endlose Schlange bis zum Rhein hinunter, mit Baby an Bord, Phantasialand-Aufklebern, Grinsekatzen, das volle Programm. «An alle Fahrzeuge: Folgende Straßen und Ortsteile sind nach wie vor gesperrt: Altstadt mit Rheinufertunnel und RheinuferstraBe bis Rodenkirchen...»
Chris blickte geradeaus in den Spiegel und in das bernsteinfarbene Gesicht der jungen Frau, dessen Ebenmaß, umrahmt von einem hohen, präzisen Pony, beinahe wehtat. «...Poll, Kasselberg, DAB -Abfahrt Wiesdorf, BAB-Abfahrt Rheindorf...»
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Eine Schönheit, eins mit der Stille und auch nur dort möglich. Sie musste sich eben nicht jeden Mist anhören, das merkte man gleich. «... von 6-38: auch die Schönhauser?» «Hab ich doch gesagt. Schönhauser frei bis Antonius.»
Chris ließ den Wagen einige Meter vorrollen und musterte nach einem Blick auf die Temperaturanzeige wieder das Gesicht dieser Frau. Biss sich auf die Lippen, als sie unter dem roten Pulli und den Ausläufern tiefdunkler Haare diese großen, sinnlichen, wundervollen Titten sah, die sie in ähnlicher Gestalt, bei Yve etwa, immer als ziemlich ordinär empfunden hatte. Aber die Schweigsamkeit der jungen Frau veränderte alles. Und ihre Titten gaben auch nicht so an, sondern waren einfach nur da. Wie ja überhaupt schöne Sachen nie laut waren. Sie beobachtete den Temperaturzeiger, der sich stetig dem roten Bereich näherte. Wenn sie hier noch länger standen, fing der Motor an, Kühlmittel herauszudrücken. Vielleicht war das die Lösung. Einfach warten, bis der Kühler kochte, dann wegen Motorschaden die Fahrt abgeben. Gut möglich auch, dass sie dann endlich einen besseren Wagen bekam. Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Wahrscheinlich erhöhte sich durch so eine Sache nur die Einlage auf ihrem Sündenkonto. Sah außerdem blöd aus. Und tausend Leute, die an ihr vorbeifuhren und sie anstarrten, hätte sie an diesem Tag nicht ertragen. Die Ampel war noch nicht einmal ganz gelb, da trat Chris aufs Gas, zog vorbei an Phantasialand und grinsenden Katzengesichtern, dann über den schraffierten Bereich auf die Busspur. Endlich. Kühle Luft, Wasserluft vom Fluss drang bis tief in das verrußte Herz des Motors, und jetzt rauschten sie nur so dahin. Gewiegt von den abgenutzten Stoßdämpfern, die Hand mit dem Skorpion-Tattoo tätschelnd locker am Steuer, glitt sie im vierten Gang an der Schlange vorbei und streichelte jede Kurve. Bis sie zwei Kreuzungen weiter, etwa in Höhe dieses neuen Skateboardladens, von einer heftig rüttelnden Kopfstütze geweckt wurde. «Hgnnnnn hgnnnnn hgnnnnn!» «He, was soll das...»
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«Hgnnnnn!» Im nächsten Moment riss es den Wagen nach rechts, ohne dass Chris das Vorschnellen einer feingliedrigen Hand aufgefallen wäre. Sie sah nicht einmal den schweren roten Schatten dicht hinter ihrer rechten Schläfe, obwohl sie diesen wundervollen Titten in ihrem ganzen Leben niemals mehr so nahe kommen würde. Aber sie konnte eben ihre Augen nicht überall haben. «Verdammt, was...» O nein, nicht schon wieder ein Crash. Ihre Prämie für unfallfreies Fahren hatte sie schon verloren. Chris stieg mit aller Gewalt auf die Bremse, und irgendetwas am Fahrwerk ächzte erbebend wie unter dem Griff der Schrottpresse. Immerhin kam sie zum Stehen, eine Handbreit vor der Metalliclackierung eines vorschriftswidrig parkenden Audi. Das war knapp. Es stimmte übrigens, was der Coyote gesagt hatte. Der Wagen zog bei Vollbremsung tatsächlich extrem nach links. Ihr Glück. Chris fuhr auf ihrem Sitz herum. «Hören Sie mal, Sie sind wohl verrückt? Sie greifen hier nicht ins Steuer, ist das klar? Egal, was ist, Sie behalten Ihre Hände bei sich!» «Hgnnnn hgnnnn hgnnnnn.» «Ist das klar? Oder Sie gehen zu Fuß! Scheiße, verdammt. Wegen Ihnen hätte ich fast einen Unfall gebaut.» Sie gab wieder Gas. Ihre wundervollen, stillen Titten. «Hgnnnn hgnnnn hgnnnnn.» «Ja ja, schon verstanden. Aber das kann man auch anders sagen, oder?» «Hgnnnn hgnnnn.» «Verdammt, ich weiß, dass wir falsch sind! Aber ich kann hier nicht wenden, das hier ist eine Einbahnstraße.» «Hgnnnn hgnnnn.» «Ein. Bahn. Straße. One way, understand? No go, Scheiße.» «Hgnnnn hgnnnn.»
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Abermals bremste sie hart. «Gut, Sie wollen aussteigen? Steigen Sie aus, hauen Sie ab. Nehmen Sie Ihren Geigenkasten und hauen Sie ab.» Sie blickte voller Wut in den Innenspiegel, wartete auf eine Antwort. Die junge Frau hatte die Arme unter ihren wundervollen Titten verschränkt und blickte mit glänzenden Augen starr geradeaus. Ihre Unterlippe zitterte. «Na was ist, hat es Ihnen die Sprache verschlagen?» Dann kurbelte sie die Seitenscheibe herunter und trommelte mit der flachen Hand von außen gegen die Tür. Doch als sie abermals in den Spiegel sah, sagte sie nur: «Auch das noch.» Und wühlte im Handschuhfach nach dem Päckchen Papiertaschentücher, die man jedes Mal in der Apotheke dazubekam, wenn man diese Tabletten kaufte. Und alle diese winzig kleinen, goldenen Sonnenstrahlen - Wellen, denn Quanten mochte sie nicht, schon das Wort klang bescheuert -, die sich vor acht Minuten, also etwa zu dem Zeitpunkt, an dem die junge Frau in Chris' Wagen gestiegen war, auf ihre 150.000.000 Kilometer lange Reise gemacht hatten, zusammen mit ihren Ionen, Alpha-Teilchen und Elektronen, um sich hier in Tränen zu brechen, die so hell waren, dass Chris sich fragte, ob sie auf ihren stillen Titten eher nach Salz schmeckten oder nach Sonne. Auch so eine kosmische Ungerechtigkeit: Manche Frauen sahen beim Heulen schön aus, andere sahen einfach nur so aus, wie es ihnen ging: schlecht. «Keine Angst, ich will Sie nicht entführen, okay?» Sie hätte sowieso nicht schreien können. «... aber ich kann hier nicht stehen bleiben.» Oder konnten Taubstumme schreien? «... the motherfucking O-R-E will keep their motherfuckin' heads ring in.»
Bei der nächsten Gelegenheit hielt sie an und sprang aus dem Wagen. (Den Zündschlüssel zog sie ab, denn wer wusste, auf was für Ideen diese Verrückte noch kam?) Und dem dauerhupenden 5er-BMW, der die ganze Zeit so dicht auf den Geigenkasten aufgefahren war, jetzt
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aber nicht weiterkam, rief sie zu: «Lauter! Sie kann dich nicht hören, Blödmann. Sie kann dich nicht hören!» Fluchend, den Zettel in der Hand, lief sie quer über die Straße auf den Halteplatz zu, wo ein einzelnes Taxi stand, glücklicherweise nicht von KaRo. Sie klopfte an die getönte Scheibe, und surrend kam das Gesicht des Kölschen Klüngel zum Vorschein, die Vollversion, komplett mit Handy- und Kaffeetassenhalter, Bild-Zeitung und Meteorismusverdacht. Der Mann kaute sie durch ein krümelndes Brötchen an. «Hör mal, ich habe da eine Ausländerin im Wagen», begann Chris. «Die hat mir hier was aufgeschrieben. Kannst du was damit anfangen?» Sie reichte ihm den Zettel. «Wieso, was ist denn daran unklar?», erwiderte er krümelspeiend nach kurzem Blick. Und setzte hinzu: «Mädchen, da hast du dich aber verfranst.» «Ich weiß, aber darum geht es jetzt nicht, ich...» «Bei euch lassen sie am Wochenende wohl auch jeden fahren, was?» «Nein, pass auf, ich will nur...» «Und jetzt weißt du nicht, wo das ist? Tja, schlecht.» «Nein, ich...» «Es ist doch immer dasselbe.» «Nein, die Sache ist die, ich...» «Sei froh, dass dein Fahrgast noch nicht ausgestiegen ist.» «Mann, hör mir doch mal zu...» «Große Schnauze habt ihr, aber dann...» «Mensch, ich will doch nur wissen, was hie r steht. Wenn ich weiß, was da steht, weiß ich auch, wo es ist.» «Wie soll denn das gehen? Kannst du nicht lesen?» «Ich kann zählen, reicht das?» Das schmutzige Weiß seiner Augen inmitten von so viel gedunsenem Rot. Dummheit war magnetisch, nahm ein Leben lang zu.
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«Mann, sag mir bloß, was da steht. Mehr will ich doch nicht, verdammt.» «Aber nicht in diesem Ton, Mädchen, nicht in dem Ton.» «Dann eben nicht. Vielen Dank auch.» Sie riss ihm den Zettel aus der Hand und lief zurück über die vierspurige Straße, wobei sie sich vor einem heranbrausenden Lieferwagen nur knapp auf den Mittelstreifen retten konnte. «Leck mich.» Dann diese Stimme von hinten. Der Kerl vom Halteplatz hing halb aus dem Fenster und schrie ihr durch den tosenden Verkehr etwas zu. Sein rotes Kürbisgesicht schien beinahe zu platzen. «Was?» «Neue Langgasse.» «Leck mich!» «Neue Langgasse! Das ist hinter der Oper!» Chris hob die Hand zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Ein Wort mit vielen identischen Buchstaben. «Leck mich!» Als Chris zu ihrem Fahrzeug zurückkam, saß die junge Frau nicht mehr hinten, sondern vorne auf dem Beifahrersitz und klappte, als Chris einstieg, ihre Puderdose mit einer Entschlossenheit zu, die Chris anrührender fand als ihre wundervollen Titten. Nicht einmal zwei Minuten später standen sie wieder in ihrem alten Stau. «Geht's wieder?», fragte Chris, obwohl die junge Frau nur reglos geradeaus starrte. Sie kann dic h nicht hören, Blödi. «I can never be your woman ...»
Erst als sich Chris eine Zigarette aus der Packung klopfte und diese anschließend auch der jungen Frau hinhielt, wandte sie den Kopf. Zu Chris' Überraschung nahm sie die Zigarette an, nur der flackernden Spritflamme des Zippo und dem blauen Skorpion misstraute sie
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offenbar, denn sie hielt Chris' Hand vorsichtig auf Abstand, indem sie mit beiden Händen eine Art Dreieck bildete. Chris probierte daraufhin ein Lächeln und suchte den Blick der jungen Frau, drang aber nicht durch die gesenkten Wimpern. Sie versuchte, sich eine Stille vorzustellen, in der sich sogar Blicke verloren, und ihr fiel nur der Weltraum ein. Nachts, wenn sie auf dem Dach saß, auf ihrer aus zusammengeschraubten Euro-Paletten improvisierten Dachterrasse, wenn sie in den schwarzen Himmel schaute und mit dem Walkman diese Kassetten vom Planetarium hörte, mit der Space-Musik zwischendurch, bei der man durch endlose leere Räume driftete und meinte, die Stille anfassen zu können wie zerbrechliche Planetoiden. Manchmal waren diese Nächte auf dem Dach, Nächte wie hinter immensen schwarzen Wimpern, ihr einziger Trost. «I can never be your woman ...»
«Tut mir Leid wegen eben», sagte sie. «Sie können nichts dafür.» Die junge Frau stieß den Rauch aus den feinen Nüstern, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und besah sich die Zigarette, die Chris ihr gegeben hatte. Sie hatte so weiches Haar. Weiter hinten, in der lang gezogenen Kurve vor der Brückenrampe, hatten Blaulichter zwei ganze Fahrspuren dichtgemacht. Chris warf einen Blick auf das Display mit dem Fahrpreis und seufzte. Die Tour war schon jetzt deutlich teurer, als sie hätte sein müssen. « I can never be your woman...»
«Auf jeden Fall sind wir diesmal richtig», sagte sie und wies mit dem Kopf in Richtung Messekomplex, hinter dem jetzt die beiden Domspitzen auftauchten. Die junge Frau drehte ihr das Gesicht gerade in dem Augenblick zu, in dem Chris in den Außenspiegel schaute. Im Schritttempo fuhren sie an der Unfallstelle vorbei, wo ein grüner Golf, älteres Modell, auf einen gelben Abschleppwagen gezogen
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wurde wie ein verendendes Tier. Die rechte Seite war regelrecht aufgeschlitzt, Blech hing herab wie Hautfetzen. Dann dieser gequälte, metallische Schrei, als die Winde das Kabel straffte und das Tier seine gebrochenen Vorderläufe gegen den Abtransport stemmte. Die junge Frau konnte all das nicht hören, aber niemand machte ihr einen Vorwurf daraus. Es war eben so und im Grunde auch nicht so schlimm, dachte Chris. Es gab Nachrichten in Gebärdensprache, Filme mit Untertiteln, und man konnte direkt neben der Autobahn wohnen, ohne durchzudrehen. Alles Vorteile. Aber wenn man nicht schreiben konnte, verlor man seinen Job. Chris nahm die Autogrammkarten von der Ablage und betrachtete das Bild. Es zeigte eine Art Tanzkapelle zusammen mit mehreren Tänzern und Tänzerinnen in spanischen Kostümen. Chris hatte so etwas schon im Fernsehen gesehen. «Hey, das sind ja Sie.» Sogar ganz im Hintergrund war sie unschwer zu erkennen, schlank wie ein Pfeil neben ihrer Bassgeige. « I can never be your woman ...»
«Ich verteile das für Sie, wenn Sie wollen», sagte sie zu der jungen Frau, die nicht reagierte. Aber wie spielte sie dieses Instrument, wenn sie doch taub war. Vibration? Schwingung? Schall-Wellen? Wie auf diesen HousePartys, auf die Tina sie immer mitgeschleppt hatte und wo sich jedes Mal tief in ihren Eingeweiden etwas Weiches zu bewegen begann, das sie war und zugleich nicht sie, Wellen minus Schall, ein Gefühl, als wäre sie schwanger. Aber was blieb von Musik dann noch übrig? Man musste schon sehr allein sein in der Stille, um so etwas schön zu finden. So allein wie der Mensch im schwarzen Weltraum. Der war am Ende auch froh über ein paar Röntgen- oder Gammastrahlen, die er von fernen Galaxien erhielt. «Wie gesagt, mach ich gerne...» « I can never be your woman ...»
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Aber die junge Frau blieb gänzlich unbeeindruckt. Sie kurbelte die Seitenscheibe einen Spaltbreit herunter und warf die Zigarette hinaus. Von da an sah sie nur noch aus dem Fenster. So etwas musste man können. Und diese Scheiß -Billigzigaretten von Strabo. Sahen aus wie Marlboros, waren aber keine. Warum nahm sie sich kein Beispiel und hielt endlich die Schnauze, hatte sie sich nicht genug blamiert? Der braune Fluss kam in Sicht, noch breiter als sonst, lichtlos ohne die Spiegelung dieses immensen gelblichen Himmels. Chris trieb den grimmigen Diesel die Rampe hoch. Die Brücken waren das Schönste an dieser Stadt. Ein Gefühl, als könne der Wagen fliegen, wenn mitten über dem Strom negative Schwerkräfte auftraten. Aber an diesem Tag waren die Geländer gesäumt von bunten Menschentrauben, was jede Illusion von Freiheit zerstörte. Offiziell ging das Hochwasser zwar zurück, doch der Durchzug eines neuen Regengebiets war angekündigt, und das Prollvolk stand bis auf die Fahrbahn, spritzte mit Dosenbier und sang «Jetzt geht's lo-hos». Chris schaltete die Scheibenwischer ein und wünschte sich einen Monstertruck, mit dem sie diesen Abschaum von ihrer Brücke schieben konnte. Eilig legte die junge Frau später mehrere Scheine auf die Mittelkonsole und stieg aus, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Nachdem sie mit vereinten Kräften den riesigen Geigenkasten aus dem Kofferraum gehievt hatten - die junge Frau mit ihren furchtsamen Händen, Chris mit ihrem Skorpion-Tattoo -, würdigte sie Chris keines Blickes mehr. Chris faltete die Decke zusammen, schloss den Kofferraum und sah der jungen Frau nach, bis diese unter den Kolonnaden verschwand. Ihr Blick fiel auf das Straßenschild Neue Langgasse, aber sie unternahm gar nicht erst den Versuch, eine Verbindung zwischen Buchstaben und Laut herzustellen. Neue Langgasse, hgnnnnn, hgnnnnn, hgnnnnn. Sie rieb den Handrücken mit dem Skorpion an ihrer Trainingshose und spürte auf einmal diesen sengenden Stich in der Brust, der gut tat nach der Demütigung, weil er etwas Existenzielles war und sie nicht runterzog wie beispielsweise die Tatsache, dass ihr Wagen schon wieder so dreckig war und offenbar auch viel schneller dreckig wurde als alle
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anderen, Kleinscheiß letztlich, für den sie jedoch bei alledem immer noch Zeit und Energie übrig hatte, Tochter ihrer Mutter. Und da sie hielt, was sie versprach, steckte sie die Autogrammkarten der Taubstummen kurzerhand in den Broschürenhalter hinter dem Beifahrersitz. Sie hatte keine Lust, sofort an ihren Halteplatz zurückzukehren. Dort lief zurzeit ebenso wenig wie über Funk. Sie kurvte ein bisschen herum, stellte sich dann in einer dunklen Seitenstraße der Fußgängerzone zwischen zwei Müllcontainer und hoffte, dass kein Kollege sie sah. Aber auch hier war die Chance, an eine Fahrt zu kommen, um halb zwei Uhr nachmittags ziemlich gering. Alle Welt war mit Einkaufen beschäftigt und hatte danach garantiert kein Geld mehr fürs Taxi. Sie zündete sich eine neue Zigarette an und schaute den Menschen zu, die vorn durch den Ausschnitt der Straße liefen. Der Rastaman mit dem Silberschmuck-Stand, umstrudelt von Mädchen in einem Alter, in dem die Unterschiede am größten waren. Die einen mit weiblichen Hüften und heftigen Titten, die anderen mit langen staksigen Beinen und einer ersten Vorstellung von den Kräften des Bösen. Der Luftballon-Mann, der lange Luftballon-Würste in erstaunlicher Geschwindigkeit zu allen möglichen Tieren knautschte, Dackel, Spinnen, Playboy-Häschen. Ein Kodak-Moment: Alle diese Tiere, die an Schnüren über dem Menschengewimmel tanzten, ehemalige Würste, die nun als Tiere endeten und nicht gefragt worden waren, ob sie das auch werden wollten, Dackel, Spinne oder Playboy-Häschen, gefüllt mit Helium, dem zweithäufigsten Element im Universum. «Spiderman is having you for dinner tonight...»
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal durch diese Straßen gegangen war, sie wusste nur, es war mit Tina gewesen. Tina war ein manischer Shopper. «Sind Sie frei?» Der Typ mit dem amorph gelockten Haar steckte seinen Kopf durch die hintere Beifahrertür und stützte sich dabei auf den Aktenkoffer, den er, zugleich mit seinem Regenmantel, auf dem Sitz platzierte, als müsse er jemandem zuvorkommen. Chris nickte.
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«Die Lessingstraße, kennen Sie die?» «Welche? In Rodenkirchen?» Sie startete den Motor. Es gab Leute, die gerne redeten, und andere, die lieber den Mund hielten. Es gab Leute, die hatten zu tun, und es gab die HandyQuatscher, Wichtigtuer, Angeber, Lügner. Bei Chris waren alle willkommen, solange sie nicht mit ihr redeten. Oder mit sich selbst. Wie dieser Widerling am Morgen, Schauspieler angeblich (Chris hatte noch nie von ihm gehört), der sich ewig über das Hotel beschwerte, in dem sie ihn untergebracht hatten. Mit «sie» meinte er den Sender. Chris hatte versucht, ihn zu beruhigen, hatte auf die beginnende Möbelmesse verwiesen und darauf, dass man zu Messezeiten schon froh sein konnte, wenn man überhaupt ein Zimmer bekam. «... his arms are all around me ani his tongue in my eyes...»
Aber dann sagte er etwas, das ihr den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gehen sollte. Er sagte: «Ach, schweigen Sie. Schweigen Sie! Fahren Sie! Mehr wird von Ihnen nicht verlangt.» Viel zu spät fiel ihr auf, dass er nicht mit ihr, sondern mit sich selbst gesprochen hatte. Chris hätte es zwar nie zugegeben, aber solche Typen machten ihr Angst. Sie konnte mit Besoffenen. Sie konnte mit Leuten, die am Fahrtziel plötzlich kein Geld dabeihatten. Sie konnte mit Leuten, die dringend kotzen mussten oder die sich auf diese gönnerhafte Art aufgeilten an der Frage, was so eine hübsche junge Frau in einem Taxi machte. (Was wohl?) Aber schon ein sekundenschneller Blick in den Rückspiegel und in in unerreichbare Fernen verbohrte Augen verriet ihr, dass dies einer von den Typen war, die gefährlich werden konnten. Vielleicht noch nicht hier, vielleicht noch nicht jetzt, aber der Tag würde kommen, wenn sich diese grauen Augen ein Ziel suchten, und dann wollte sie nicht dabei sein. Der hier mit dem Aktenkoffer hingegen, mit der wollenen, halb geöffneten Krawatte unter einem Pullover, der aussah wie ein Testbild, der hier war nur ein Wichtigtuer. Den Koffer aufgeklackt, das Handy gezückt, hatte er im Nu sein halbes Büro auf der Rückbank verteilt.
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«... also: Holt euren alten Konfirmationsanzug raus, leiht euch 'nen Schlips von Daddy und stellt eure verquarzten Trompetenöhrchen auf Empfang: Flamenco del silencio, Tickets überall da, wo es Tickets gibt.»
«Sagen Sie, könnten Sie bitte das Radio ausmachen?» «Kein Problem», sagte Chris. Arschloch. Warum mussten so viele Leute eigentlich immer eine Show abziehen? Wieso konnten sie sich nicht entspannen? Etwa in Höhe Hahnentorburg (wo sich die anderen gerade die Reifen eckig standen) sprach der Typ in sein Handy, aber auf eine Weise, die es ihm unmöglich machte, seinen Gesprächspartner zu hören: «Von unserer Seite besteht derzeit keine Veranlassung Komma...» Er drückte auf den Tasten herum. «... keine Veranlassung Komma...»
«... einer Fortsetzung der stationären Behandlung Punkt die Patie ntin...» «...etzung der stationären...»
«... Weiterbehandlung Punkt seitens der Patientin besteht Einsicht in die Notwendigkeit einer dauerhaften Medikation Punkt nicht zuletzt aufgrund des...» «... etzt aufgrund der...»
«... günstigen häuslichen Umfelds...» «... häuslichen...»
«... Umstände Klammer auf Patientin wohnt zurzeit bei Angehörigen Klammer zu...»
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«... Klammer zu...»
«... Klammer zu und...» «Klammer zu und geht...» Das war gar kein Handy, sondern vermutlich ein Diktiergerät obwohl Chris noch nie eines gesehen hatte. «... einer regelmäßigen Tätigkeit nach Quatsch hier Klammer zu...» «... geht einer geregelten Tätigkeit nach Klammer zu befürworte ich eine ambulante Therapie mit engem Komma anfangs zweimal wöchentlichem Monitoring Punkt aufgrund einer leichten Gewichts-zunahme während des Klinikaufenthalts wird derzeit eine Umstellung von Risperidon auf Olanzapin Klammer auf einschleichend auf 10 mg Schrägstrich Tag Klammer zu geprüft...»
Er hatte eine der Karten der jungen Frau mit dem Geigenkasten aus der Halterung genommen und tippte sich damit leicht gegen die Lippen. «... mit kollegialem Gruß bla bla... Sagen Sie, wie fahren Sie denn?» «Geht nicht anders», sagte Chris. «Alles andere ist gesperrt. Wir müssen uns von hinten ranschleichen.» «Na, hoffentlich haben Sie Recht.» Sie kamen genau bis zum Auenweg, wo der Fluss längst nicht mehr als Fluss in Erscheinung trat, eher wie ein Meer, das von unten in die Stadt eindrang wie in ein leckgeschlagenes Schiff, kalt und lautlos aus Kellerluken und Kanaldeckeln, und dabei allerhand nach oben spülte, was der Mensch am liebsten vergessen hätte. «Oh, da muss ich wohl laufen», sagte der Mann. «Können Sie hier warten? Ich bin in zehn Minuten wieder da.» Er reichte einen Geldschein nach vorn, und Chris nickte. Kopfschüttelnd betrat er daraufhin einen der aufgebauten Stege. Komische Gegenstände dümpelten auf der ölschillernden Wasserfläche hinter der Absperrung, ein Farbeimer, ein Schrubber, rote Styropor-Lettern - ausgerechnet. Ein Einkaufswagen zeigte an,
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wie tief das Wasser auf der abschüssigen Straße schon nach wenigen Metern wurde. So ein Einkaufswagen setzte der schlammigen Flut praktisch keinen Widerstand entgegen und würde später wieder auftauchen, als wäre nichts gewesen. Umströmt von den Kräften des Bösen, aber nahezu unversehrt, sobald das Wasser abfloss. Welcher verunsicherte Verbraucher hatte den hier stehen lassen? Wahrscheinlich steckte sogar noch die Mark drin. Die roten Lettern hingegen kreisten wie verängstigt zwischen einer unterseeischen Quelle und der Sandsackbarriere vor einer Toreinfahrt. Ein Kodak-Moment. D, ein Wal. E, ein elektronisches Grinsen. G, ein Känguru. G, eine Schlange. L, eine Welle. N, ein Z. 0, eine Ellipse. R, der Narr. U, Corona Borealis. U, eine geköpfte Null. V... Chris hätte nichts dagegen gehabt, wenn in diesem Moment tote Schweine und Fernseher vorbeigeschwommen wären. Sie wünschte sich, dass endlich der große Regen kam, der sie und dieses verdammte Taxi einfach fortschwemmte.
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2 Keine Einstellung
Die Metallgegenstände in ihrer Jacke drückten angenehm schwer gegen ihren Körper, als sie sich gegen den Tresen in der Zentrale lehnte. Sie hatte alles unter Kontrolle, auch wenn der Alte ihre Frage offenbar überhört hatte. Als Erstes spannte sich das Pilotenhemd, dann schwang sein erheblicher Bauch im Drehstuhl herum, allerdings ohne den massigen Schädel mitzuziehen, der wie ein Kreiselkompass im Magnetfeld des Computerbildschirms verharrte. «Weißt du, was mit euch jungen Leuten nicht stimmt?», fragte er unvermittelt, und als er Chris endlich auch sein Gesicht zuwandte, leuchteten seine dünnen Haare als bläuliche Aura vor dem Bildschirm. «Euer Problem ist, ihr habt überhaupt keine Einstellung. Ihr denkt immer, das, was wir hier tun, wäre nur für irgendwelche Clowns, denen gerade nichts Besseres eingefallen ist, jedenfalls kein richtiger Beruf. Und das, Fräulein, ist einfach keine Einstellung.» Dabei hatte Chris ihn nur gefragt, ob sie einen anderen Wagen haben könnte. Der Alte verschränkte die Arme vor der Brust, was beinahe die Hemdknöpfe sprengte, und sah sie an. «Wie lang bist du jetzt hier? Zwei Jahre? Zwei Jahre, richtig? Dann will ich dir mal eines sagen: Du hast gerade mal angefangen. Gerade mal angefangen, mehr nicht.» «Aber der Motor wird zu heiß.» «Quatsch.» «Und er verbrennt Öl.» «Unsinn, was verstehst du davon?» «Und ab 110 fängt die Lenkung an zu zittern, das ist nicht normal.»
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«Na und? Der Wagen war vor zwei Monaten in der Inspektio n, mit dem Wagen ist alles in Ordnung.» «Und außerdem war ich an dem Unfall gar nicht schuld.» «Du sagst es. Genau auf diese Antwort habe ich gewartet.» Er machte ein angewidertes Gesicht. «Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten? Ein echter Profi würde mir nie so eine Scheiße erzählen, von wegen nicht schuld. Was soll das heißen: nicht schuld? Ein echter Profi übernimmt die Verantwortung für alles, was passiert. Er ist verantwortlich, weil er für die anderen mitdenkt, weil er kommen sieht, was passiert, weil er eben Profi ist und die anderen nicht. Nur Luschen stellen sich hin und sagen, sie wären nicht schuld. Weißt du, das ist das Ekelhafte heutzutage: Dass eigentlich niemand mehr seine Arbeit tun will. Oder gar die Verantwortung für diese Arbeit übernimmt. Heutzutage muss ich selbst für Selbstverständlichkeiten extra blechen. Jahraus, jahrein zahle ich euch dicke fette Prämien dafür, dass ihr mir keinen Blötsch in den Wagen fahrt. Warum? Darf ich nicht davon ausgehen, dass ihr das nicht tut? Oder die Nachtschicht. Will einfach keiner mehr machen. Wenn ich nicht gleich mit Standheizung, Minibar und Satelliten-TV komme, sind sie schon nicht mehr interessiert. Zum Kotzen, das. Keine Einstellung mehr, kein Stolz. Warst du mal in Mallorca?» «Nein.» «Nie?» «Nein.» «Na gut, aber schon auf dem Flug dorthin kannst du erleben, wo wir hinkommen in diesem Scheißland. Ein ganzer Flieger voller Arschgeigen, die aber alle der festen Überzeugung sind, sie hätten wirklich verdient, was sie da verbraten. Und weißt du, woran man das merkt? Weißt du, was das Deprimierendste ist an so einem Flug? Dass die Leute nach der Landung Beifall klatschen. Ich sage dir, das ist der Moment der Wahrheit.» «Sir?» «Hör mal, versuch nicht, mich zu verarschen. Alle, die hier reinkommen, versuchen mich zu verarschen.» «Sorry.»
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«Noch merke ich das.» «Entschuldigung.» «Ich versuche dir gerade etwas zu erklären. Also. Weißt du, warum? Warum plötzlich ein ganzer Flieger voll besoffener Arschgeigen anfängt zu klatschen?» Chris zuckte mit den Schultern. «Weil es eben Arschgeigen sind, aus keinem anderen Grund.» Chris nickte und wandte sich zum Gehen. «Bleib hier, ich bin noch nicht fertig.» Er griff nach der Schachtel Zigaretten neben dem Bildschirm. «Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Die Leute klatschen Beifall, weil sie bei der Landung, in diesem kurzen, kritischen Moment, tief in ihr eigenes Herz sehen und ahnen: Wäre der Pilot jetzt genau so ein lustloses, nutzloses, verantwortungsloses Gesindel wie sie selber, könnten sie ihr Testament machen. Sie klatschen, weil sie glauben, sie kriegen etwas geschenkt, wenn jemand seine Arbeit erstens machen kann und zweitens auch... Augenblick mal.» Das Telefon schellte, Chris seufzte, und der Alte nahm den Hörer ab. «Rottenberg...ja, am Apparat... Wen hast du denn erwartet?... Und da rufst du jetzt erst an?» Sein mächtiger Oberkörper baute sich vor dem bläulichen Bildschirm auf wie ein Berg, in dem Kopf und Nacken beinahe versanken, während dahinter die ersten Rauchwolken aufstiegen. An hektischen Tagen glommen gleich mehrere Zigaretten in verschiedenen Aschenbechern, dann ging man besser gleich wieder. «Aber deine Prüfung ist doch wohl nicht mein Problem...» Chris drehte sich vom Tresen weg und betrachtete die gerahmten Bilder aus der stolzen Geschichte von KaRo-Taxi samt unzähligen Fotos von ausländischen Taxis, die der Alte in langen Jahren angesammelt hatte. Da war der Alte, ohne Bauch und unglaublich jung, mit seinem ersten Funktaxi, einem schwarzer Daimler 190D. Da war der Alte, zusammen mit einem Londoner Kollegen vor einem FX4. Da war ein thailändisches Tuk-tuk und ein finnisches Taksi, das mit den
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Spitzendeckchen in den hinteren Seitenfenstern aussah wie ein Leichenwagen. Oder die Rostlaube von Taxi Parisien und das Yellow Cab aus New York. «Leider kann ich mir immer noch keinen Fahrer stricken...» Da war der Alte mit Russenmütze vor einem Wolga der Mafia. Aus welchem Film war das? Sie nehmen dich mit, aber sie fahren dich nicht immer dorthin, wohin du willst. «Wenn du mich jetzt hängen lässt, brauchst du auch nicht wiederzukommen...» Oder mit Hawaiihemd vor einem ehemals hellgrünen Dodge mit handgemaltem Dachzeichen, das musste auf Kuba sein. Oder mit Sonnenbrand im Gesicht vor einem lustigen Coco-Taxi. Chris kam es manchmal so vor, als habe er alle Reisen nur unternommen, um diese Bilder mitzubringen. Der Alte knallte den Hörer auf die Gabel. «Studenten! Kein Verlass auf diese Clowns.» Studenten. Er brauchte sie, aber er mochte sie nicht, wie eigentlich keiner hier. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Chris das Gefühl, dass mit ihr alles in Ordnung war. Mit Daumen und Mittelfinger rieb sich der Alte die buschigen weißen Augenbrauen und starrte, die Zigarette in der Hand, hinauf zur Tafel mit dem Dienstplan. Dann schwang er seinen Bauch abermals herum und sagte: «Hör mal, du hast doch morgen frei, oder? Kannst du den Minibus fahren, auf Stundenbasis?» Chris stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen und spürte, wie sich das Metall von ihrem Körper löste und in seiner warmen Präsenz fast schwerelos wurde. Sie sagte: «Bekomme ich einen anderen Wagen?» «Ach, komm, Mädchen, nicht auf die Tour. Ich kann auch jemand anderen fragen.» Er griff hinter sich nach der Zeitung, die zusammengefaltet auf dem Schreibtisch lag. «Hier, schon gelesen?» Hart landete ein erstaunlich kompaktes Etwas vor ihr auf dem Tresen. Chris schüttelte den Kopf. «Dann lies. Seite drei.»
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Sie breitete knistriges Papier vor sich aus, bemüht, die Orgie aus tanzenden Buchstaben auf dem schmalen Tresen wenigstens halbwegs zu glätten. «Andersrum», unterbrach der Alte. Sie sah ihn an. «Andersrum», wiederholte er lauter. «Und nicht nur die Titten angucken, da steht es nicht.» «Danke, dawäre ich jetzt nicht drauf gekommen.» Chris blickte auf die unerschrockenen Titten von Seite drei, deren Silikon-Konturen dem Betrachter keinen Funken Vorstellungsvermögen mehr abverlangten und die sich in ihrer perfekten Rundung auch nicht veränderten, als sie die Zeitung umdrehte, weil sie nämlich von allen Seiten gleich waren, beinahe wie Achsen, um die ein aufgewühltes Planetarium von gedruckten Wörtern kreiste. «Hier fährt irgendein Verrückter durch die Stadt, der wahllos andere Autos rammt», bemerkte der Alte. «Ein Maverick?», fragte Chris mit starrem Blick auf das Chaos. «Das wissen sie noch nicht», sagte der Alte. «Auf jeden Fall ein Geländewagen.» Er nahm seinen Kaffeebecher vom Tisch und sah hinein. «Aber wenn du meine Meinung hören willst, es ist nicht nur ein Bekloppter, es sind Tausende. Mein Gott, Leute, da müsst ihr doch langsam von träumen, verdammt. Träumen müsst ihr davon. So viel zum Thema ‹nicht schuld» Er stellte den Kaffeebecher zurück auf den Tisch. «Also was ist jetzt?» «Okay.» «Heißt das Ja?» Chris nickte. «Gut, dann sehen wir uns morgen früh um acht. Erinnere mich, wir müssen vorher den Hänger ankoppeln, die Leute haben Gepäck ohne Ende. Punkt halb neun bist du am Hyatt und nimmst da eine Hostess auf, die hat die Liste und kümmert sich um alles Weitere. Du brauchst nur zu fahren.» «Und wie lange?» «22 Uhr. Kann auch später werden, du kennst das ja.»
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Sie zögerte, ehe sie sagte: «Könnte ich das Geld in bar haben?» «Sicher. Reicht Montag?» Chris nickte. «Kann ich vielleicht auch den Wagen mitnehmen? Sonntags brauche ich mit der Bahn über eine Stunde.» «Liebe Freunde, habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Ich will euch sehen, und ich will den Wagen sehen. Ich will wissen, was läuft.» «Aber ich würde ja sowieso erst über die Zentrale fahren.» «Die Antwort ist Nein. Ich diskutiere das nicht. Und zieh dir morgen zur Abwechslung mal was Anständiges an, du repräsentierst die Firma. Ich habe schon tausend Mal gesagt, keine Sportklamotten auf dem Fahrzeug, wir fahren hier Mercedes, Scheiße noch mal.» Karl Rottenberg, der Alte, war Herr über eine Flotte von Taxis. Er hatte ein großes Haus mit Swimmingpool, eine Frau, die früher einmal die gesamte Buchhaltung erledigt hatte und jetzt mit einem Alkoholproblem allein im Grünen saß, dazu eine ziemlich gut aussehende Tochter, die, zumindest bei der einen Gelegenheit, in der Chris sie erlebt hatte, zu allem, was der Alte sagte, nur angeödet die Augen verdrehte. (Aber mit ihren Titten kam sie damit durch.) Wahrscheinlich, dachte Chris, wäre er ein sehr viel umgänglicherer Mensch gewesen, hätten ihn die Kräfte des Bösen nicht in dieses verqualmte Büro gesetzt, in dem er sieben Tage die Woche zubrachte, sondern einfach wieder ans Steuer eines Taxis. In Chris' Augen veränderte das alles, seine eklige Art, die ewigen Vorträge, und auf eine gewisse Art mochte sie ihn sogar, auch wenn sie dafür keinen Grund angeben konnte. Es war längst dunkel, als sie die Zentrale verließ. Bei Bizim Mutfak, wo man sie kannte, aß sie eine Türkische Pizza, sah türkischen Fußball im Fernseher hinter der Theke, schaute aus dem großen Fenster auf die Straße, eingehüllt in die gedämpften Gespräche türkischer Männer, die Tee aus Gläsern tranken, Domino spielten oder Fußball guckten und die sie nicht verstand. Der Laden war ideal für jemanden, der so allein war wie sie. Die Leute, die draußen vorbeigingen, wirkten dagegen alle so, als hätten sie an diesem Abend noch viel vor. Die Frauen, schön gemacht, hatten diesen entschlossen trippelnden Gang, der nicht nur von den hohen Absätzen herrührte,
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und diesen hektischen Glanz im Gesicht, den das Makeup eigentlich verdecken sollte. Es war etwas, das man fast nur am Wochenende sah. Zum ersten Mal seit Monaten vermisste sie Tina. Tina, die nie müde geworden war, sie mitzuschleppen, obwohl sie, Chris, selten Lust auf die Sonnenbanktussen-Musikclubs hatte, die Tina so liebte. Es war eine Art Normalität gewesen, eine, die ausschließlich auf Tina beruhte, aber die einzige, die Chris je gekannt hatte und die jetzt weg war. Tina konnte reden, mit jedem, über alles. Sie war der Checker und der Kommunikator. Sie sprach mit ihren hellen braunen Augen, mit ihren Händen, sogar mit ihren kleinen unscheinbaren Titten. Und sie kam überall hinein. Warum bloß hatte Chris sie nie zurückgerufen? Ein Anruf war nicht so schwer, oder? Vom Rudolf platz lief sie Richtung Ebertplatz, vorbei an Kaufhäusern und Sexshops, Touristencafes und Discos für die Bauern aus Bergheim. Sie hätte auch die U-Bahn nehmen können, aber nach einem ganzen Tag in der verstunkenen Karre tat das Gehen gut. Im Gedränge vor dem Ufa-Multiplex blieb sie stehen und schaute hoch zu den erleuchteten Plakaten. Ihr dunkler Blick saugte sich fest an der schlanken weiblichen Gestalt mit der engen Tarnhose, die eine schwere Maschinenpistole an ihr Tank-Top drückte wie etwas, dem sie mehr als allem in der Welt vertraute. Die Frau trug eine rote Bandana und hatte weiche, ziemlich normale Titten, die nicht auf einen Betrachter spekulierten, wodurch Chris auch die tiefen schwarzen Augen überzeugend fand, die, knapp an ihr vorbei, in eine unbewachte Ferne blickten, als käme von dort die nächste verdächtige Bewegung. Samstagabend war eigentlich die schlechteste Zeit, um allein ins Kino zu gehen, es sah so verzweifelt aus vor all den Pärchen und Cliquen, die sich amüsierten. Noch mehr allerdings graute ihr vor der leeren, kalten Wohnung. Sie griff in die linke Hosentasche und zählte ihre Tageseinnahme an Trinkgeld. Viel war es nicht, außerdem brauchte sie noch Zigaretten für den nächsten Tag. Auf der Straße vor dem Kino hatte, wie an jedem Wochenende, das Schaufahren begonnen. Das Gesindel aus den miesesten Ecken der Stadt forderte seinen Anteil an Spaß und zeigte, was es hatte, immer den Ring hinauf und wieder hinunter. Tiefer gelegte Fiestas und Polos, an denen Lichtmetallfelgen und aufgeklebte Luftschlitze das Teuerste
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gewesen waren. Ältere Golfs und Mantas, in beschissenen Farben umgespritzt, die schwarzen Seitenscheiben heruntergelassen, voll besetzt mit kranken Siffköpfen, Scheißkerlen, Schlägern, kleinen Drogenpushern, die aussehen wollten wie 2Pac, aber so schwul waren, dass sie, durch den hämmernden Bass ihrer Anlagen, selbst einzelnen Frauen nur gemeinsam hinterherrufen konnten. Dazwischen, in USCars mit roten Händlerkennzeichen, prollige Loddel, die trotz der Kälte bereits mit offenem Verdeck ums Karree kutschierten. Und natürlich die schwarzen BMW und Daimler des Abschaums, der es geschafft hatte, ganz oben mitzuschwimmen. Die Türken bevorzugten schnelle Autos, die Russen fuhren große, und die Deutschen standen auf Exoten, und alles zusammen ergab mehrere hundert Jahre Knast. Ihre Mutter hatte Recht gehabt, als sie vor fünf Jahren aus der Siedlung weggezogen war, nur noch Gesocks, Asi-Pack, Verbrecher. Und die allerdümmsten Pussys standen auch an diesem Abend zu zweit oder zu dritt in ihren Webpelzjäckchen an der Straße, reagierten auf Pfiffe, ließen sich anquatschen, mitnehmen. Um genau zu sein, war ihre Mutter, als sie Rudi kennen lernte, aus der Siedlung weggezogen, um sich später, in einem zweiten Schritt, kein halbes Jahr danach, auch ihrer Tochter zu entledigen, nämlich Chris, was in gewisser Weise nur konsequent war, denn Chris war der Fluch ihres Lebens. Chris hätte gern auch so eine rote Bandana gehabt. Der Bus, den sie nach dem Kino nahm, war beinahe leer, denn niemand fuhr um diese Zeit schon nach Hause, und sie setzte sich ganz nach hinten in die letzte Reihe. Der Film war reiner Mist gewesen. Keine Bilder zum Verlieben und eine Handlung so bescheuert, dass man nur noch heulen konnte. Denn dass ein Gruppe junger Strafgefangener, darunter die Frau mit der roten Bandana, von der Regierung amnestiert wurde, wenn sie in einem Himmelfahrtskommando einen Atomwissenschaftler aus der Hand von Terroristen befreiten, der in Wahrheit der Kopf der terroristischen Verschwörung war, das überforderte sogar ihre Glaubensbereitschaft. Vor allem war es die perfekte Asi-Phantasie, es war das, wovon das Gesindel da draußen träumte, der Abschaum, das Pack mit seinem ewigen Anspruch auf «Respect». Dass irgendeine Macht zu ihnen kam und sagte:
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«Hey, wir haben dich beobachtet. So etwas wie dich haben wir gesucht. Wenn du tust, was wir sagen, vergessen wir die Vergangenheit und machen dich wie neu. Und wenn du für uns töten willst, willkommen an Bord!» Xena, die Kriegerprinzessin, würde auf so eine Scheiße nie eingehen, Xena würde darauf spucken. Xena tat, was sie tat, ausschließlich für ihre Freundin Gabrielle, die ganz anders war als Xena und in der Serie so etwas verkörperte wie das menschliche Prinzip. Doch auch wenn Xena ihr Leben längst in Gabrielles Hände gelegt hatte, wusste sie doch, dass man niemanden wie neu machen konnte und dass die Kräfte des Bösen bis in alle Ewigkeit um sie sein würden. Beispiel: Die Episode vom vergangenen Sonntag, den Titel wusste Chris nicht, aber es war, da sie nie eine Folge verpasste und genau Buch führte, Folge 14 der dritten Staffel, wo Xena und Gabrielle dieser Mörderbande die Urne des Apollo wieder abjagen mussten, ohne die es für die Gläubigen im Tempel keine Vergebung für begangene Missetaten geben konnte (sie nannten es nicht Sünden). Keine besonders gute Folge eigentlich, eher unterer Durchschnitt - bis auf die Szene am Schluss, als alle vor dem Priester und der wundertätigen Urne niederknieten, um sich ihre Missetaten vergeben zu lassen, nur Xena nicht, die sich abwandte und langsam hinausging in einen Sonnenuntergang, der viel goldener war, als Chris erwartet hatte. Xena, so viel stand fest, wollte gar keine Vergebung. Und wahrscheinlich hätte auch Xena nie zurückgerufen. Auf einmal, ohne Vorwarnung, kitzelten Tränen über ihre Wangen, weil sie ahnte, dass dies so ziemlich der größte Bullshit war, den man dazu sagen konnte, wenn man schon unfähig war, unfähig, unfähig, einfach nur hallo zu sagen und diese nette, normale, platonische, viele Jahre alte Freundschaft mit Tina aufrechtzuerhalten. Es war einfach keine... keine Einstellung! (Aber daran war nur ihre Mutter schuld.) Außerdem war Xena nicht real, nicht real, nicht real, sondern nur eine Figur in einer Fantasy-Serie. Doch statt sich die Tränen abzuwischen und nach dem Handy zu greifen, warm und sperrig in ihrer Jacke, fuhr sie mit der flachen Hand über die beschlagene Fensterscheibe und starrte hinaus auf die Straße,
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die mit jeder Haltestelle ein Stück dunkler wurde, bis sie fast zu Hause war.
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«Okay, dann gib mir vier.» «Geht nicht.» «Vier Schachteln für einen Zehner, komm schon.» Chris hielt ihm den Geldschein hin. «Verkaufe ich Stange 20 Mark, nicht einzeln.» Strabo, der Grieche vom Halteplatz, Strabo, der komischerweise immer vor ihr in der Reihe stand, nie hinter ihr, Strabo war ein Zwerg, ein Gnom, gut einen Kopf kleiner als Chris, und er besaß auch die Sturheit eines Zwergs. Daneben war er ein Händler, sein Kofferraum ein Kaufladen, wo es alles gab: zollfreie Zigaretten, Whisky, Wodka, imitierte Luxusparfüms, Uhren, Lederjacken. Er nahm sogar Bestellungen entgegen. «Komm, sei nicht so, unter Kollegen...» «Zehn Mark? Zehn Mark? Muss gucken.» Strabo kletterte in den erleuchteten Kofferraum, wühlte in Plastiktüten und kam mit einer weißen Schachtel zurück. «Hier. Emporio Donna. Gleich wie Laura Bigotti. Zehn Mark, bester Preis. Gleich wie Laura.» «Nee, ich will Zigaretten, nicht dieses Zeug, Mann.» «Hier, Geschenk für Freundin, zehn Mark, bester Preis.» Sie sah zu ihm hinunter und auf seinen überproportionierten blanken Schädel, der im Licht der Natriumlampen aus diesem olivenfarbenen, stets leicht feuchten Gummizeugs zu bestehen schien, aus dem auch HalloweenMasken gemacht wurden. Ein Gesicht, das gut in die Xena-Welt gepasst hätte, vielleicht auf das Deck einer griechischen Handelsgaleere. «Hör mal, mehr habe ich im Augenblick nicht. Vier Schachteln, was ist denn dabei? Den Rest kaufe ich dir morgen ab. Kollega, hm? Kollega...» «Zigaretten nur Stange. Zehn Mark für Freundin...» «Witzig. Und warum nicht?»
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«Regel von Schwager. Zigaretten nur Stange, sonst nicht. Willst du, sag Ja. Oder Nein. Für Freundin.» «Du meinst, das wäre jetzt unheimlich schlau? Weißt du, es interessiert mich nicht, was du und dein Schwager nachts zusammen macht, was ihr verkauft und wo und wie und was eure Regeln sind, es interessiert mich nicht. Du bist Kollege, also geht es mich nichts an. Aber ich weiß, dass du schon eine Abmahnung hast wegen dieser Scheiße. Und dann sollte man ein bisschen netter sein zu seinen Kollegen. Sonst kann es nämlich schnell passieren, dass der Alte davon erfährt. Wenn du verstehst, was ich meine. Verstehst du, was ich meine?» Auf dem gummifeuchten Monsterschädel begann es zu blinken wie in der Geisterbahn, aber Chris hatte alles unter Kontrolle. Kleines geldgieriges Kanakenarschloch. Wer stieg eigentlich nachts in ein Taxi, das mit zwei Kanaken besetzt war? «Ja, jetzt guck nicht so, als hätte ich dir was getan. Im Übrigen hast du eine Fahrt.» Sie nickte in Richtung des rotierenden Gelblichts auf der Rufsäule und sah ihm nach, wie er mit schaukelnden Zwergenschritten losrannte. «Hopp-hopp, du Missgeburt», sagte sie, als er außer Reichweite war, setzte sich auf die warme Motorhaube und beobachtete, wie sich Strabo, auf Zehenspitzen, den Hörer unters viereckige Kinn klemmte. Zottiges schwarzes Haar quoll ihm hinten aus dem Kragen seines Flanellhemds, was als Silhouette vor dem Schaufenster des Modeladens noch ekliger aussah, als es in Wirklichkeit war. Ein rotes Kleid hing im Schaufenster des Modeladens, ein Kleid an einer kopflosen Puppe, nicht für sie gemacht. Und selbst wenn, sie hätte dafür ohnehin keine Verwendung gehabt, in einer Welt voller Monster. «Hier hast du», sagte er, nachdem er den Kofferraum zugeknallt hatte, und stieß ihr eine Stange Zigaretten vor die Brust. «Hier, nimm, aber wenn...wenn noch mal... dann, dann... kannst du... bist du...» «Was dann? Was bin ich dann? Hey, reg dich ab, ich will es nicht umsonst.» Abermals hielt sie ihm den Zehner hin, den eine reptilienhaft vorschnellende Hand ohne Freude an sich riss. «Du scheisseschwuleiki...»
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Da war es auf einmal, das wahre Gesicht des Verbrechens, wie sie es kannte. So hässlich wegen nichts. So sinnlos vor allem, so vollkommen sinnlos. Und all der Danny-DeVito-Charme, den er manchmal hatte, zerfressen von den Kräften des Bösen. «Ganz ruhig, Alter, ich vergesse es schon nicht, ich bezahl das.» «... glastra... dalikieris...» Sie hatte keine Angst, aber vergessen würde sie es tatsächlich nicht, weder das eine noch das andere. «...betadzis...betadzis...» Dann sprang hustend der Diesel an und ließ sie allein in einer Abgaswolke zurück. Sie ging zurück in ihr Auto, rollte eine Wagenlänge vor und stellte den Motor wieder ab. Je länger sie jetzt wartete, umso schwieriger wurde es, ihre Mutter anzurufen. Aber wenigstens so lange, sagte sie sich, bis das Flutlicht ausgegangen war, das nicht nur das missmutige Gesicht der Kirche erhellte, sondern auch den Innenraum ihres Taxis. Die Scheinwerfer vor der Kirche gingen um halb zehn aus, das Licht im Modeladen um eins. Sie schaute auf ihre Uhr. Sie konnte nicht sprechen, wenn es so hell war. Sie schaute auf ihr Uhr und auf das kalte Licht des Handy-Displays. Sie schaltete das Radio an, dann aus, dann wieder an. Sie hatte schon zwei Tage zuvor versucht, ihre Mutter zu erreichen, am Flughafen, als diese Martina, die Hostess vom Hotel, in der Ankunftshalle ihre Schäfchen einsammelte. Auch ein Scheißjob, dauernd zu jedem Wichser freundlich zu sein, der sich aufführte, als wären die Titten inklusive. (Allerdings war Chris in diesem Punkt nicht mehr so sicher, als sie hörte, was man dort in einer Woche verdienen konnte.) «...Thema in unserem heutigen Nighttalk: ‹Warum gerade ich?› Die Leitungen sind ab sofort geschaltet. Wenn auch ihr meint, immer zu kurz zu kommen oder vom Leben mehr als normal gebeutelt zu werden und mit mir sprechen wollt, ruft an, kostenfrei für euch, unter der Nummer Null-Achthundert...»
Im selben Moment, in dem Chris das Radio endgültig ausschaltete, erlosch auch die Kirche und erstarrte zu einer gezackten Riesenkröte aus Dunkler Materie.
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«Mama?», sprach sie in ihr Handy, als am anderen Ende abgenommen wurde. «Ich bin's, Chris... ich, ich glaube, wir sind am Sonntag getrennt worden...» Oder was auch immer. Auf jeden Fall waren sie auf dem Weg zum Golfplatz gewesen, Rudi und ihre Mutter. Das war neu, Golf. Obwohl Chris sich Rudi unmöglich auf einem Golfplatz vorstellen konnte, nicht einmal auf einem dieser umgewandelten Rübenäcker, die jetzt überall entstanden. «Nein, ich... rufe noch mal an wegen... wegen der Sache mit meinem Konto, ich weiß nämlich wirklich nicht, wie ich die nächste... wieso? Nein, habe ich nicht. Wieso sollte ich Rudi...? Bestimmt nicht, ich habe Rudi nicht angerufen, wie kommst du darauf? Ich habe dich gefragt, Mama, dich, nicht Rudi... Warum denkst du immer gleich, ich hätte Rudi... Nein, ich sage es dir noch mal, der Einzige, den ich angerufen habe, warst du, aber wir wurden ja unterbrochen... Mama...? Ja, aber woher soll ich wissen, warum Rudi auf einmal so komisch... Okay: Was drückst du mich auch weg! Meinst du, ich merke das nicht?... Nein, ich will dir gar nichts unterstellen, mir ist diese Scheiße von dir schon lange egal... Mama, ich weiß, dass das meine Schuld ist, aber... Mama, ich weiß, was du gesagt hast über Yve und alles, aber das nutzt mir jetzt nichts...Ja, war ich...Ja, Mama, sicher. Mama, ich werde doch wissen, ob ich auf der Bank war oder nicht...Ja. Aber da ich die Geheimzahl selber weitergegeben habe, können sie überhaupt nichts machen...und die Karte auch, ja... Ach, das glaubt doch kein Mensch. Vor allem, weil es ja schon länger so ging, mindestens seit Januar... Aber woher denn? Dass Yve in der Zeit mein ganzes Konto geplündert hat, habe ich ja nie erfahren, sie hat die Briefe von der Bank ja immer verschwinden lassen. Erst als ich am Automaten selber kein Geld mehr... aber da war sie schon weg... Nein, Mama, das merkt man überhaupt nicht so, das merkt man, wenn man Pech hat, gar nicht... Mama, ich weiß, was du gesagt hast... Polizei? Wieso denn Polizei?...? Was soll denn deiner Meinung nach die Polizei machen? Yve hat bei mir gewohnt, Mama, und ich habe die Geheimnummer selber... nein, aber nur ein einziges Mal, und wer ahnt denn, dass... Viertausend, über viertausend, ja , bis gar nichts mehr ging... auch der gesamte Dispo, ja... Mama, sie machen das eben so, sie fragen dich gar nicht, sie machen das, und meiner war viertausend.
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Mama, hallo: Ich arbeite, Mama, falls dir das entgangen ist, im Gegensatz zu... arbeite ich... Aber ich brauche das Geld sofort... Was hat denn das damit zu tun...? Wieso leichtes Opfer? Mama, das ist Blödsinn... Mir egal, wo du das gelesen hast, es ist Quatsch... Mama, kapier endlich, dass es Leute gibt, die anders sind als du, anders, hörst du, anders, als du dir das jemals vorstellen kannst...» Auf dem Gehweg neben dem Halteplatz kam eine Gruppe Fußballfans auf sie zu, still in ihre Schals und FC-Trikots gekehrt, die Fahnen zusammengerollt und geschultert wie etwas, das Landsknechte mit sich trugen. Wohl verloren. War denn heute überhaupt Spiel? Sie folgte ihnen mit den Augen. Wehe, einer fasste ihren Wagen an. «... Nein, und es hat auch nichts damit zu tun, ob man auf dem Dorf lebt oder hier, sondern... jetzt lenk nicht ab, Mama, was hat denn die kleine Brinkmann... was hat Beate damit zu tun...? Ach? Ach wirklich? Wann ist es denn so weit...? Wieso von Glück reden? Eher umgekehrt, würde ich mal sagen, diese total verblödeten Bauern da... Mama, es ist überhaupt nichts passiert, überhaupt nichts, wir haben nur geknutscht, mehr nicht... Oh, entschuldige, ich wusste ja nicht, dass du auf einmal so empfindlich... außerdem ist das schon eine Ewigkeit her...Mama, ich nehme ja Rücksicht - auf jede kleine Scheiße von euch, aber es gibt Sachen, da frage ich dich nicht, da ist es mir egal, was du denkst...Ja, genau so sehe ich das. Im Übrigen hat Rudi sich nie so aufgeregt wie du, weißt du noch? Im Gegenteil... denn darauf kommt es auch gar nicht an, Rudi hat das kapiert, bloß du nicht. Am Ende kommt es nur darauf an, dass man zu einem steht und sich nicht... ach, dauernd diese Scheißleute, als gäbe es nichts Wichtigeres... Und noch etwas, Mama: Rudi ist ein Fremder, er hat überhaupt keinen Grund, mich besonders zu... er ist nicht mein Vater, Mama, aber du... Trotzdem, er hat mich akzeptiert, Mama. Und er stammt aus diesem Scheißkaff, Mama, hast du dir das mal überlegt? Aber er war der Einzige, der Einzige, Mama, der jemals zu mir gestanden hat und der nett war und mir geholfen hat und dem das alles scheißegal war, weil er mich einfach... und weil ich für ihn nicht nur ein Scheißstörfaktor war, den man loswerden muss...» Aus der einzelnen Gruppe war ein Strom geworden, ein Strom in Rot-Weiß, ausgeschüttet von Bahnen im Minutentakt. Es berührte sie seltsam, alle diese Fans zu sehen, die bemalten Gesichter, die mit
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wachsender Zahl immer unbeschwerter grölten. In der Horde war wohl alles erträglich. Im Vorbeigehen sangen sie jetzt: «Wir sind nur ein Karnevalsverein... Karnevalsverein... Karnevalsverein!», und schwenkten ihre Fahnen, weil es im Grunde nämlich völlig egal war, wie tief diese Schwachbananen in der Tabelle noch sanken - sie würden wieder und wieder nach Müngersdorf rausfahren zum Spiel, solange es nachher ein gutes Kölsch gab. Chris dachte: «Fuck you, Mother.» Sie dachte: «Wehe, einer fasst meinen Wagen an.» «... Nein, Mama, ich habe Rudi nicht angerufen, das habe ich doch schon gesagt, warum fängst du dauernd wieder davon... Mama, wir drehen uns im Kreis, ich brauche eine Antwort. Ich habe dir gesagt, wie es ist, ich brauche eine Antwort, Mama... Mama, ich weiß, dass du das nicht allein entscheiden kannst, deshalb rufe ich ja an. Mama, ich weiß. Aber ich habe schon vor einer Woche angerufen, weißt du noch...? Du hast gesagt, du fragst ihn. Hast du Rudi gefragt, Mama, ehrlich? Ich habe auch am Sonntag angerufen, aber du drückst mich weg... Was heißt hier schlechter Zeitpunkt? Mama, Mama, ich brauche eine Lösung, hier läuft die Miete auf und die Versicherung und was weiß ich, ich kann das alles nicht mehr bezahlen, und irgendwann fliege ich aus der Wohnung raus und... Mama, und wenn du mich noch tausend Mal wegdrückst, dadurch verschwindet das Problem nicht - und ich auch nicht. Ich verschwinde nicht einfach so, Mama, ich bin noch da, ich werde immer da sein, Mama... Und wohin, glaubst du, kann ich gehen, wenn ich aus der Wohnung fliege, Mama, überleg mal... Das ist Quatsch, ich kann auf meinen eigenen Füßen... aber das ist jetzt nicht der... das ist ein Notfall, Mama... Mama, das hat keinen Sinn, wir drehen uns im Kreis... Ich weiß das, Mama, aber wenn du Rudi nicht fragst, dann frage ich ihn... doch...verlass dich drauf... Mama, ich brauche eine Antwort, ich bin da... ich bin da, was soll ich denn machen, Mama... Mama...? Hallo? Hörst du mich? Bist du noch... Mama?» Aber das leuchtende Display zeigte, dass das Gespräch beendet war. Chris warf das Handy auf den Beifahrersitz und starrte geradeaus auf das dunkle Armaturenbrett, ohne dass sich das drückende Gefühl, das wie eine üble Sonne aus ihrer Magengrube aufstieg, zu tröstlichem Selbstmitleid erwärmte.
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Der rot-weiße Strom auf dem Bürgersteig verebbte allmählich, die Gruppen wurden kleiner, die Stimmung leiser, und niemand brauchte ein Taxi. Chris hingegen wollte nur fahren, wollte den Wagen über die Autobahn prügeln, alles, nur weg von hier, wo Leute sie sahen. Trotzdem blieb sie, wo sie war, als sei hier an ihrem Halteplatz die Chance größer, dass ihre Mutter doch noch zurückrief. Aber da nachts, vor einem riesigen schwarznebligen Space-Himmel, alles schneller ablief als am Tag, war irgendwann die Straße leer und auch diese Hoffnung keine mehr. Sie betätigte den Radioknopf, aber nichts passierte. Sie trat gegen die Verkleidung, einmal, zweimal, dreimal, denn sie brauchte einen Schmerz, der nicht nur von innen kam. «... Pech für die Kölner, die auf ihrem Weg in die Zweitklassigkeit heute Abend wieder einen ganzen Schritt weitergekommen sind. Im Nachholspiel gegen den Hamburger SV unterlag das Geißbock-Team vor heimischer Kulisse nach komfortabler 3:0-Führung mit einem enttäuschenden 3:4... Aber nicht weinen, Leute, das Radio, das euch liebt, hat auch dazu die passende Musik. Hier ist die Blood-hound Gang...»
Sie drehte das Radio laut auf, auch wenn sie dann den Funk nicht mehr hören konnte. Sie wollte nur einen Augenblick allein sein. «... the roof, the r oof, the roof is on fire...»
Doch irgendein kranker Typ war wohl immer dabei. Ein Nachzügler, jemand, mit dem man unmöglich rechnen konnte, ein krankes Arschloch aus der Südkurve, das bis zu diesem Moment vielleicht nicht einmal wusste, dass es ein krankes Arschloch war, doch plötzlich eine Idee hatte und sich den Kräften des Bösen überließ. (Ein Punkt, den Chris bestreiten würde. Diese Typen wussten, was sie waren, und sie wussten, was sie taten, sie wachten ja schon morgens so auf.) «... the roof, the roof, the roof is on fire...»
Wie ein hässlicher Tiefseefisch tauchte sein Gesicht auf einmal ganz nah vor der rechten Seitenscheibe auf, starrte, umrahmt von Händen
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wie fahle Tentakeln, grinsend auf seine Beute, während die Lippen auf der Glasfläche erst breiter wurden (ein Fisch! ein Fisch!), dann aufgingen und eine Zunge durchließen, die anfing, an der Scheibe herumzulecken. «... we don't need no water, let the motherfucker burn...»
Was die Kräfte des Bösen diesem kranken Arschloch hingegen nicht verraten hatten: Jemand, der Autoscheiben ableckte, war angreifbar. Dummheit war angreifbar, und sie, Chris, hatte intakte Instinkte. Sie fuhr herum, ihre rechte Hand langte in die Innentasche ihrer Jacke, die linke an den Türgriff. Außerdem ging es ums Prinzip. Wenn sie jetzt auswich, würde dieses Schwein immer wiederkommen und der Halteplatz war für sie verloren, jedenfalls solange kein Kollege in der Nähe war. «... burn, motherfucker, burn...»
Doch da sie sogar in dieser Situation ein Profi blieb, der für die anderen mitdachte, sah sie in letzter Sekunde auch die beiden bläulichen Xenon-Scheinwerfer im Außenspiegel, die sich seltsamerweise kaum zu nähern schienen, bis der Schatten des Daimler schon an ihr vorbei war und mit rubbelndem Antiblockiersystem auf dem nassen Pflaster erst nach links schleuderte, dann nach rechts, ehe er zum Stehen kam. Das Gesicht vor der Seitenscheibe war verschwunden. Chris drehte sich um und sah einen mittelgroßen Mann weggehen, der mit keinem Schritt verriet, was für ein krankes Arschloch er war. War er es überhaupt? Wie viele von der Sorte gab es in dieser Stadt? Mit qualmendem Auspuff und leuchtenden Bremslichtern stand der Daimler noch immer quer zur Fahrbahn, und auch wenn zunächst nichts weiter passierte, wusste Chris, dass dort ein Stück ablief, das meistens nachts gespielt wurde. Sie wusste: Irgendjemand würde gleich diesen Wagen verlassen, freiwillig oder gezwungenermaßen, wütend oder erleichtert oder tödlich gekränkt.
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Dann schwang die rechte Beifahrertür auf, und eine Frau stieg aus, die sich bewegte wie ein Schlafwandler, auch wenn sie nicht weit kam, da der Mantel, den sie hinter sich herzog, von irgendwem oder irgendwas im Wageninneren festgehalten wurde. Sie trug ein Kleid genau der Art, wie es auch im Fenster des Modeladens hing, zwar nicht in Rot, sondern in Nachtblau, aber unverkennbar ein Teil, an dem einmal ein Preisschild gehangen hatte, bei dem man schlucken musste. Und das zu tragen sich verbot, wenn nicht auch der ganze Rest stimmte. Dies betraf nicht nur die Figur. Von der Figur her hätte Chris es sogar gekonnt, locker, mit ihren Beinen. Was nicht stimmte und warum sie nie so ein Kleid tragen könnte, war ihre ganze Existenz. Man konnte nicht tagaus, tagein gegen die Kräfte des Bösen ankämpfen und sich so anziehen. Man hatte auch keine Tattoos, wenn man so ein Teil trug. Aber warum kam sie immer wieder darauf zurück? Konnte sie nichts anderes denken? Schließlich wandte sich die Frau um, beugte sich nach unten und sagte etwas in die offene Wagentür, wobei sie sich mit einem nackten Arm auf dem Dach abstützte, als sei sie unendlich erschöpft. Durch das Haar, das ihr ins Gesicht fiel, konnte Chris ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie war blond, und ihr Atem unter den rötlichen Natriumlampen war weiß. Beim nächsten Versuch, den Mantel an sich zu ziehen, glitt dieser wie eine Leiche über die Schwelle und weiter auf das nasse Pflaster. Die Frau schien diesem Umstand nicht die geringste Beachtung zu schenken, sondern schleifte den Mantel einfach mit sich wie etwas, das sie längst vergessen hatte und dennoch nicht loslassen konnte. Dagegen war der nachlässige Schwung, mit dem sie daraufhin die Tür des Daimler zuknallte, ein Schwung, gewonnen aus einer beinahe anzüglichen Körperdrehung, reine Ironie. Ein Kodak-Moment: Die katzenträgen Bewegungen einer Frau, die längst nicht so betrunken war, wie sie hätte sein wollen. Chris biss sich auf die Lippen und wollte sich eine Zigarette anstecken, als sie eine Bewegung im Innenspiegel aufblicken ließ. Da war das Arschloch von eben wieder, das Fischgesicht. Das war der doch, oder? Solche Typen kamen immer wieder. Erst zufrieden, wenn sie richtig eins aufs Maul kriegten. Chris versuchte, sein Gewicht zu
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taxieren. Und wie normal der aussah! War er das überhaupt? Normal und trotzdem ein Arschloch. Ihr Herz begann zu pochen. Sie schaute am Innenspiegel vorbei nach vorn, wo die Frau, trotz ihrer Highheels, mit langen, überlegt-spielerischen Schritten auf den Bürgersteig zuging, gerade so, als dürfe sie nur auf ganz bestimmte Pflastersteine treten. Etwas, das sie als Kinder gespielt hatten: Himmel und Hölle. Hatte der Kerl sie etwa ebenfalls gesehen und kam deshalb zurück? Tatsächlich wirkte sie so schutzlos wie ein Kind. Wusste sie überhaupt, wo sie war? So, wie sie am Straßenrand stand und den Kopf kreisen ließ? Warum tat sie das? Das sah wirklich krass aus. Wie eine dieser Übungen bei der Frauen-Yoga-Gruppe, die sie ein Vierteljahr lang besucht hatte, bevor ihr der Zirkus zu blöd wurde, alle diese Weiber in ihren Dritte-Welt-Schlabberklamotten, die mit glasigem Blick ihrem «Frausein nachspürten», wie es hieß, und sie, Chris, als Einzige in einem schwarzen Karateanzug, die dabei überhaupt nichts fühlte. (Mal im Ernst: Wer brauchte so etwas? Außerdem war ja doch nie eine Nette dabei.) Aber das hier, die Frau im nachtblauen Kleid, mit dem Mantel im Schlepptau, das war Realität, nicht nur ein Kodak-Moment. Es war Showtime! Chris beobachtete den Mann, der jetzt den Lichtkegel einer Straßenlaterne durchschritt. Er war es. Er war es. Doch kurz vor Chris' Wagen, etwa in Höhe des rechten hinteren Kotflügels, zögerte er und blieb stehen. Was sollte diese Scheiße? Was machte er da? Es sah aus, als suche er etwas in seiner Hosentasche. Die Frau am Straßenrand hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte durch den Dampf ihres eigenen Atems in den dunklen Himmel. Sah sie es? Hydra? Direkt unter Cancer? Cancer konnte man eigentlich nicht sehen, nur im Planetarium. Aber die Gruppe von sechs Sternen darunter, das war der Kopf von Hydra, der Wasserschlange. Diese Sterne standen immer zusammen, man konnte sie gar nicht verfehlen. Vielleicht wenn die Wolken für einen Moment aufrissen oder sie den Atem anhielt, ihren warmen Atem... In der nächsten Sekunde sprang Chris aus dem Wagen, in ihrem Kopf brüllte eine Turbine, von der ihr schlecht wurde, wenn sie diese Unmenge von Energie nicht innerhalb von Sekunden verbrauchte. Sie
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spürte ihren Körper nicht mehr, keinen Widerstand, als sie zum ersten Mal zutrat, nur etwas ekliges Weiches, in dem ihr Fuß versank. In Panik sprang sie einen Schritt zurück. Sie musste härter treten, härter. Hey, spür deinem Frausein nach, hey, du, ich weiß, du kannst es. Aber sie spürte gar nichts, außer dass sie sich übergeben musste. «Was hast du gesagt? Sprichst du mit mir, du perverses Schwein?» Falls der Mann etwas gesagt hatte, dann hörte sie es nicht mehr. Sie hörte gar nichts mehr, nur das Radio im Wagen. Das Radio als einziges war übrig. Es sprach zu ihr, sprach zu Chris, der Sternenkämpferin. Durch das graue Brausen in ihrem Kopf drangen Radiowellen aus einer untergegangenen Welt. Sie, Chris, die Sternenkämpferin, sie hatte nichts mehr außer ein paar Radiowellen in ihrem Astronautenhelm, in dem es so laut war wie im Inneren einer Turbine. «Unser erster Anrufer: Mickey, 44 Jahre. Mickey, deine Geschichte!» «Hallo?»
«Hey, willst du mich anmachen? Du... machst... mich... an?» Und M48 im Sternbild von Hydra, der Wasserschlange, M48, mit bloßem Auge gerade noch zu erkennen an der Westgrenze zu Monoceros, war kein einzelner Stern, es waren mindestens achtzig! Achtzig! Achtzig Sterne, die in ihrem Bauch rotierten wie eine Wasserschlange und alles nach oben drückten. Und ihr Kopf eine Turbine, und wer im ganzen Universum hatte das noch unter Kontrolle? Aber sie durfte jetzt nicht aufhören, so schlecht wie ihr war. Hatte er etwas gesagt? «Ja, Mickey, du bist auf Sendung!» «Hallo?»
Ihr war so schlecht, sie würde noch in ihren Helm kotzen. Chris, die Sternenkämpferin, würde sich in ihren Helm übergeben, und was dann? «Findest du das komisch? Du findest das komisch?» Also spür dein Frausein. Tritt zu.
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In der Schwerelosigkeit immerhin keine ungewöhnliche Reaktion. Du musst härter sein. Nicht aufhören. Was machte ein Astronaut, dem schlecht wurde? Man konnte ja den Helm nicht einfach aufmachen. Wenn sie das versuchte, würde sie explodieren. Also durchhalten, nicht aufhören. «Mickey, dreh mal deinen Fernseher leise, das gibt hier eine Rück-kopplung, Entschuldigung, Rückkopplung, die sich... ich glaube, ich sagte das schon...» «Hallo?»
Und dieser kranke Typ. Das gab es doch gar nicht. Hatte er etwas gesagt? Er hatte den Mund geöffnet, seine Lippen bewegten sich. Das Rote auf seinen Lippen, war das Blut? Nicht nachlassen. Härter. «Du krankes Arschloch, du findest das komisch, ja? Dann sag es. Sprich mit mir!» Er war viel jünger, als sie gedacht hatte, höchstens dreißig. Er lag vor ihr auf der Erde und krümmte sich - vor Lachen. Kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Worüber? Über sie? Wer spinnt hier eigentlich? Also ein richtiger Scheißkerl. Sie war immer davon ausgegangen, so ein Scheißkerl müsste älter sein. Sie dachte sich das so. Aber diese Scheißkerle waren ein nachwachsender Rohstoff, und irgendwo mussten sie ja herkommen. Nur nicht aufhören. «…» «Hallo?»
«Sprich mit mir, du Scheißkerl. Was? Du meinst, das ist komisch, ja? Was ist so... komisch daran? Und daran? Und daran? Ist das auch komisch?» Ein letztes Mal trat sie mit aller Gewalt zu. «Schade, jetzt ist er weg...» «…» «Unser nächster Anrufer...»
«Hallo! Hey! Was ist denn hier los?»
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«Hau ab!», rief sie nach hinten, spürte zugleich jedoch diese plötzliche Leichtigkeit, als ihre Arme von vier Händen nach hinten gebogen wurden. «Hey! Hallo! Jetzt komm mal zu dir, hier ist die Polizei! Also Ruhe jetzt, sonst lernst du uns kennen...» Die Kommissare Ranger und Tonto sahen aus wie zwei Familienväter in den besten Jahren. Sie waren nicht ohne Humor, bekämpften jedoch das Verbrechen in dieser Stadt mit großer Entschlossenheit und knallten Chris' Oberkörper auf den Kofferraum ihres Taxis. «Ist es jetzt gut? Hör mal, wir haben Zeit, wir können das sehr lange so aushalten...» «... und das belastet dich jetzt?» «Auf jeden Fall.»
Trotzdem spürte sie keinen Schmerz. Sie sah nur die kleinen Wasserperlen auf dem Lack, wie kalte Tränen vom Himmel, die ihr Gesicht benetzten, während die Kommissare Ranger und Tonto ihren Kopf nach unten drückten. «Aber du musst mit ihm sprechen, du musst es ihm sagen...» «Auf jeden Fall.»
Alles war auf einmal so still. Die Nässe auf ihrem Gesicht verriet ihr, dass sie auf der Erde war, das Auto mit den Tränen war ihr Auto. Und jemand hatte ihr den Astronautenhelm abgenommen, sodass sie richtige Luft atmete, Luft, die eine Menge Sachen enthielt, die es in dieser Form nur auf der Erde gab wie Kohlenmonoxyd, Benzol, Asphalt, Wasser, den Geruch einer Kölsch-Kneipe, den Frühling. Denn der Frühling begann nicht irgendwann an einem Frühlingstag, der Frühling begann in einer Nacht wie dieser, wenn auf einmal etwas in der Luft lag, das so ganz anders war als im Winter, aber das die meisten Leute nicht bemerkten. «Bist du jetzt friedlich?» Chris nickte.
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«Na, so überzeugt klingt mir das nicht...» «Auf jeden Fall.»
Die Kommissare Ranger und Tonto waren Partner, solange sie denken konnten. Sie konnten sich in jeder Situation voll aufeinander verlassen, Ranger auf Tonto und Tonto auf Ranger. Jeder von ihnen wusste, was der andere in einer bestimmten Situation tat. Sie verstanden sich auch ohne große Worte. «Also: Meine Meinung kennst du... mach's gut.» «Auf jeden Fall.»
«Tonto?», sagte der eine. «Ranger?» Worauf Chris spürte, wie das eine Händepaar sie losließ und ein anderes sie nach oben zerrte. Sie waren ein eingespieltes Team, bei dem jeder Handgriff saß. «So. Was ist hier los?», sagte Ranger und: «Hoppla, das wird ja immer schöner.» Denn im Handgemenge war ihr der Stunner aus der Innentasche gerutscht. «Was ist das?» «Das sehen Sie doch.» «Hör mal, jetzt sei nicht so frech.» Ehe sie reagieren konnte, spürten seine Hände ihrem Frausein nach und förderten Weiteres zutage, bis ihr ganzes Arsenal auf dem Kofferraum lag. «Und das hier? Und das? Und das?» «Na und? Das ist nicht verboten.» «Das werden wir noch sehen, ob das nicht verboten ist. Was ist hier eigentlich los?» Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der eine, der Ranger genannt wurde, dem anderen zu, der Tonto genannt wurde. «Tonto, sieh mal nach dem Taxifahrer. Ich glaube, der hat was abgekriegt.» «Ich hab nichts gemacht. Ich hab nichts gemacht», lallte der Mann am Boden.
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«Ich sehe mal nach dem Taxifahrer», sagte Tonto. «Ich glaube, der hat was abgekriegt.» «Hey», Ranger fasste Chris am Arm. «Komm, sag was, ich habe dich etwas gefragt. Was war hier los?» «Er hat gegen meinen Wagen gepinkelt», erwiderte Chris und entriss ihm ihren Arm. «Welchen Wagen?» «Stimmt nicht, stimmt nicht», lallte der Mann von unten und versuchte, sich an der grünen Jacke des Polizisten in die Höhe zu ziehen. «Nur eine geplatzte Lippe. Für den RTW ist das nichts», rief Tonto, über den Mann gebeugt. «Mensch, lass mich doch mal los.» «Welchen Wagen?», wiederholte Ranger seine Frage. «Na, den hier», sagte Chris, wobei sie auf das Blech des Kofferraums klopfte. «Das ist dein Taxi?» «Sieht so aus.» «Okay, dann bekomme ich von dir: Führerschein, Fahrzeugschein und P-Schein...» «Wieso ich? Dieses perverse Schwein schleicht hier rum und pinkelt gegen meinen Wagen und...» «Stimmt nicht, stimmt nicht. Ich bin unschuldig. Ich hab gar nichts gemacht», krächzte der Mann am Boden. «Führerschein, Fahrzeugschein, P-Schein, wenn ich bitten darf», sagte Ranger und sah dann auf den Krauchenden hinunter, dem es nicht gelang aufzustehen. «Zu dir kommen wir später», sagte er. «Zu dir kommen wir später», sagte Tonto. Er trat einen Schritt zurück und legte die Hand an den Halfter seiner Dienstwaffe, während sich Ranger im Schein der Taschenlampe die Papiere von Chris ansah. Dies tat er sehr gewissenhaft, betrachtete sie mehrmals von beiden Seiten und leuchtete Chris mit der Taschenlampe ins Gesicht. Sie wandte sich ab, sie kannte das schon. «Bevor Sie mich erschießen: Dürfte ich vorher vielleicht meine Sachen wieder einpacken?», fragte sie Tonto.
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«Ranger, darf sie ihre Sachen wieder einpacken?», fragte Tonto. Ranger nickte. «He, ihr verdammten Nazis, macht das Licht aus, ich hab gar nichts gemacht», brüllte der Mann am Boden. «Tonto, tu du doch mal was», sagte Ranger. «Negativ, Ranger. Der ist total vollgesifft, den fasse ich nicht an.» «Dann hol einen RTW.» «Den nimmt der RTW auch nicht mit.» «Macht endlich das Licht aus, ihr Nazischweine. Ich bin unschuldig. Ich habe nichts gemacht.» Unendlich langsam, wie ein Fisch, der vor vielen Millionen Jahren zum ersten Mal an Land robbte, weil er sich entschlossen hatte, als Reptil weiterzuleben, kroch der Mann aus dem Lichtoval am Boden auf den Polizeiwagen zu. Ranger gab Chris die Papiere zurück. Er sagte: «Du kannst nicht einfach einen Mann krankenhausreif schlagen.» Methodisch krauchte das Reptil weiter. «Er hat gegen meinen Wagen gepinkelt. Was soll ich denn tun? Zusehen?» «Ja, weiß ich nicht. Aber das hier ist Körperverletzung.» «Wenn er aber gegen meinen Wagen pinkelt?» «Ist das Sachbeschädigung», sagte Ranger. «Wenn überhaupt», ergänzte Tonto. «Ihr macht euch das leicht», antwortete Chris. «Ihr habt mit nichts was zu tun. Ihr fahrt immer zu zweit, ihr habt jede Unterstützung, nur wir sind Freiwild für jedes Arschloch...» «Hör mal, Mädchen, übertreib es nicht.» «Niemand pinkelt gegen meinen Wagen.» «Wir können das auch auf der Wache klären», sagte Ranger. «Du kannst froh sein, wenn der junge Mann hier keine Anzeige erstattet.» «Genau. Und seit wann wird hier geduzt», sagte Tonto. Doch dann war da plötzlich diese Stimme: «Können wir jetzt bitte fahren? Ich bin müde.»
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Und alle drehten sich um, Ranger, Tonto, Chris, alle bis auf das Reptil, das weiter auf den Schatten des Streifenwagens zukroch. Die Stimme gehörte der Frau, die aus dem Daimler ausgestiegen war. Wie lange sie schon da gestanden hatte, konnte Chris nicht sagen, aber ihrem Ton nach zu urteilen wohl eine ganze Weile. Ihren Mantel hatte sie sich um die Schultern gehängt wie ein Cape. «Und wer sind Sie?», schnauzte Ranger. Da sie darauf nicht antwortete, sagte Tonto, immer noch mit der Hand über dem Pistolenhalfter. «Haben Sie vielleicht gesehen, was hier passiert ist?» «Nein, habe ich nicht», sagte sie. «Ich möchte nur ein Taxi.» «Hören Sie, Sie komplizieren hier alles. Wir sind noch nicht fertig.» «Ihr Scheißnazis», gurgelte das Reptil am Boden. «Ihr Scheißnazis.» Doch da es niemand beachtete, merkte auch niemand, wie es sich methodisch am Kühlergrill des Streifenwagens in die Höhe zog und irgendwann aufrecht stand. Die Frau wiederum beachtete weder das Reptil noch Ranger, noch Chris, sondern schaute aus ihrem blassen, fast dreieckigen Gesicht allein nur auf Tonto, bevor sie mit denselben überlegt-spielerischen Schritten wie zuvor auf der Straße an ihn herantrat und sagte: «Sie ahnen nicht, wie oft ich das in den letzten Wochen gehört habe. Offenbar kompliziere ich immer alles, ich kann machen, was ich will. Ich will nur ein Taxi, aber ich kompliziere alles, obwohl ein Taxi an sich nicht kompliziert ist. Offenbar mache ich es kompliziert. Es gibt Menschen, die machen alles kompliziert. Haben Sie Angst vor komplizierten Sachen?» «Also...» Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern tat etwas, was man bei Polizisten nie tun sollte: Sie fasste ihn an. Aus dem umgehängten Mantel glitt eine schmale, weiße Hand, die trotz der langen, flammroten Nägel vollkommen unschuldig wirkte, geradeso, als verfüge sie über die Macht, die Zeit zum Stillstand zu bringen, dachte Chris, oder ihr Gegenüber durch bloße Berührung in eine glühende Gaswolke zu verwandeln, und sie biss sich auf die Lippe, als diese Nägel flammenrot über das langweilige Grün einer Uniformjacke strichen.
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«Wissen Sie», sagte die Frau und legte den Kopf zur Seite, wobei zwischen ihren sanft geschwungenen Brauen zwei vertikale Falten erschienen, die zusammen ein V ergaben und weit weniger ironisch als schmerzlich waren. V..., dachte Chris, was war V...? U war Corona Borealis. U war eine geköpfte Null. Und V...? «Wissen Sie, ich mag starke Männer. Männer in Uniform. Männer, die handeln, auch wenn es kompliziert wird. Männer, die immer nur das Nächstliegende tun, weil sie wissen, dass sie schon morgen vielleicht... Was bedeuten eigentlich die vier Sterne an Ihrer Schulter?» Hydra. Vier Sterne waren der Kopf von Hydra, der Wasserschlange. Hydra war das größte Sternbild am Himmel. Bis der Schwanz von Hydra zu gleicher Nachtzeit den Meridian erreichte, vergingen drei Monate. «Kommissar. Ich bin Kommissar. Aber bei allem Verständnis, wir können jetzt nicht...», sagte Tonto, «aber vielleicht kann Ihnen die Taxifahrerin hier einen Wagen besorgen...» «Taxifahrerin?», entgegnete die Frau. Tatsächlich hatte sie Chris, die keine zwei Meter neben ihr stand, nicht einmal angesehen. Wie Ranger, so war auch Tonto ein erfahrener Polizist, der in fünfzehn Dienstjahren bereits viel Ungewöhnliches erlebt hatte. Und der trotzdem, dachte Chris, noch immer zu blöd war, um eine solche Situation zu genießen. Chris probierte ein Lächeln, in der Hoffnung, den Blick der Frau auf sich zu ziehen, doch nichts geschah. Vielmehr hörte sie auf einmal Rangers Stimme: «Tonto, du Idiot, wo hast du deine Augen?» (Was sie im ersten Moment auf sich bezog, denn sie hatte nur Augen für diese Frau, sie war so wunderwunderschön unter dem bernsteinfarbenen Schein der Natriumlampen, der auf ihrem Haar spielte wie Hydra, die Wasserschlange.) «Wieso, was ist denn los?» «Was los ist? Guck doch! Dieser Penner pisst in unseren Kühler.»
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«O mein Gott, er pisst in unseren Kühler!» Das Fischgesicht hatte seine Entwicklung beendet und war ein Mensch geworden. «Er pisst in unseren Kühler. Scheiße, wer ist eigentlich dran mit Sichern?» «Ich nicht.» «Doch, du. Heute ist Dienstag. Ich rede, du sicherst.» «Heute ist Montag!» «Heute ist Dienstag!» «Und wenn schon. Was spielst du dich auch immer so auf? Du lässt mir überhaupt keinen Raum zur Entfaltung.» «Jetzt quatsch nicht, komm endlich.» Die Kommissare Ranger und Tonto, Partner, solange sie denken konnten, stürzten auf den Mann zu, der mit selbstvergessen abgewandtem Gesicht vor ihrem verdächtig zischenden Kühler stand. «Aber anfassen tu ich den nicht, das sag ich dir gleich.» «Halt endlich die Schnauze und tu was!» Und als die Frau endlich auch Augen für Chris hatte, schaute diese nur auf den Mann am Boden, der in einem fort kicherte und nicht zu spüren schien, was mit ihm geschah, geradeso, als steckte er in einer Panzerjacke voller schwerer Gegenstände, die ihn beschützten, der arme Irre. Dann sah sie ihn nicht mehr, denn die Polizisten waren direkt über ihm. Sie rieb den Handrücken mit dem Skorpion an ihrer Jeans und sagte: «O Mann!» «Tut weh, nicht?», sagte die Frau und legte mit einem bekümmerten Lächeln den Kopf zur Seite. Dann sagte sie: «Sollen wir? Ich bin müde.»
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4 Flamenco del Silencio
«Aber ich kann Sie nicht irgendwohin fahren.» Chris hatte alles unter Kontrolle. «Wieso nicht?», fragte die Frau. «Sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen.» «Muss ich?» Ein Pizzabote auf seinem nervig knatternden Moped ließ sie in der engen Straße nicht vorbei. «Spätestens an der nächsten Ampel sollten wir uns entscheiden.» «Wir?» «Sie sind der Boss.» «Der Boss? Nein, ich heiße Gudrun. Und du kannst ruhig du zu mir sagen.» «Okay, Gudrun. Rechts oder geradeaus?» «Sag du.» Zum ersten Mal wandte sie Chris ihr Gesicht zu. «Also rechts.» «Kalt.» «Na, jetzt bin ich schon...jetzt ist es zu spät.» «Macht doch nichts. Wie heißt du?» «Chris.» «Chris. Von Christine, nicht? Das ist ein schöner Name, Christine. Ich liebe Christine.» «Nein, nicht Christine, nur Chris.» «Das heißt, Chris ist Chris?» «Genau. Und ich fahre Sie jetzt nach Hause, okay? Wo wohnen Sie denn?»
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Sie standen an der Kreuzung Aachener und Universitätsstraße, und die Frau namens Gudrun sah reglos nach vorn, während sie sagte: «In Bonn. Aber du kannst ruhig du zu mir sagen. Jeder tut das.» «Sie wohnen in Bonn?»
«Ja.» «Und soll ich Sie da hinfahren, nach Bonn?»
«Ja.» Chris zog auf die Linksabbiegerspur hinter der Kreuzung. Endlich mal eine fette Fahrt. «Weißt du, es gibt ein Buch, das heißt auch Christine, ich habe es vierzehn Mal gelesen.» «Tatsächlich?», fragte Chris. «Du liest wohl nicht so viel?» «Zeitschriften.» «Aber du kannst nachzählen, ich habe es vierzehn Mal, das Buch. Dreizehn davon sind gele sen. Ich habe es gern, wenn Sachen neu sind und nicht so zerbeult und zerknittert. Jedes Mal, wenn ich es wieder lesen will, kaufe ich mir ein neues.» «Dann haben Sie es also nur dreizehn Mal gelesen.» «Nein, das erste Mal war in der Bücherei von der Klinik. Hat mich sehr gewundert, dass sie so etwas in der Art von Christine überhaupt hatten. Ich meine, ich würde es all den Irren nicht in die Hand geben. Aber allein das zeigt, wie es da zugeht. Keiner hat irgendwelche Ahnung. Verstehst du, was ich meine, Chris-Christine?» «Nicht schwer zu verstehen.» «Und das vierzehnte Buch über Christine habe ich gekauft für den Fall, dass ich es zum fünfzehnten Mal lesen will.» «Klar. Und Sie sind sicher, dass Sie auch nach Bonn wollen?» «Ganz sicher, Chris-Christine.» «Okay.» «Aber ich weiß, was du jetzt denkst, Chris-Christine.» «Nein, es war nur eine Frage. Und ich heiße Chris.»
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«Hast du eigentlich keine Angst, Chris, nachts allein mit lauter Fremden im Wagen?» «Nein, habe ich nicht.» «Ich meine, man weiß doch nie, wer einsteigt.» «Leute wie Sie, meinen Sie?» «Wie du...» «Sicher, aber nachts sind die meisten Leute besser drauf, nicht so gestresst», erwiderte Chris. «Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Bin ich auch besser drauf?» «Nein, ich meinte nur. Die meisten Leute wollen nur nach Hause.» «Und reden wahrscheinlich nicht so viel.» «Kommt drauf an. Die sind nur froh, dass sie jemand nach Hause fährt.» «Wenn sie ein Zuhause haben.» Auf der linken Seite tauchte das Uni-Center auf wie eine erleuchtete Raumstation. Chris fragte sich, ob diese Gudrun bis Bonn so weiterreden würde. Aber egal, sie, Chris, würde cool bleiben. Sie würde die Frau nicht ansehen. Sie war der Fahrer und würde nur nach vorn sehen, wenn sie mit dieser Gudrun sprach. «Okay, das mal vorausgesetzt.» «Darf ich meine Schuhe ausziehen?», fragte die Frau namens Gudrun. «Bitte.» «Diese Schuhe bringen mich noch um. Du ahnst ja nicht, was die gekostet haben. Aber eng, sag ich dir, davon machst du dir keinen Begriff. Die ganze Vorstellung über wollte ich sie schon ausziehen, aber die Sitze in der Oper sind so komisch, da kommt man gar nicht an die Füße ran. Endlich! Tut das gut! Wirklich, du machst dir keine Vorstellung. Über zwei Stunden in diesen engen Sitzen in dieser Flamenco-Show aus Spanien, Flamenco del Silencio, kennst du die? Lauter Taubstumme.» «Nein, tut mir Leid.» «Ach, das braucht dir nicht Leid zu tun. Jedenfalls, du siehst diese Tänzer da unten auf der Bühne, wie sie mit den Absätzen stampfen,
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und du bist kurz davor, verrückt zu werden, weil du die Füße nicht bewegen kannst. Verstehst du, was ich meine, Chris-Christine? Das ist die Hölle.» Die Frau rutschte auf ihrem Sitz hin und her. «Verstehst du, was ich meine, Chris-Christine?» «Naja, ich trage meistens nur Turnschuhe.» «Aber das kann man natürlich nicht machen, besonders, wenn er dabei ist.» «Nein, kann man nicht.» «Dabei möchtest du am liebsten aus der Haut fahren, wirklich, wörtlich... aus der Haut fahren...» Sie fasste unter sich, als wolle sie sich das Kleid glatt ziehen. «Nee, schon klar.» «Aber das liegt nur an diesen Scheißmedikamenten. Von diesem Zeug kriege ich immer dicke Beine.» Ohne den Kopf zu drehen, blickte Chris auf ihre Beine. Sie waren schlank wie alles andere an dieser Frau. «Oder du wachst morgens auf und siehst aus wie ein Kugelfisch. Blubb, hallo, Kugelfisch!» «Das sieht man aber nun wirklich nicht», sagte Chris. «Nur weil man etwas nicht sieht, bedeutet das nicht, dass es nicht da ist.» «Auch wieder wahr.» Die Frau fummelte unter sich herum. «Hier», sagte sie und hielt das Handy so, dass Chris es sehen konnte. «Hier hat jemand sein Handy verloren.» «Oh. Tut mir Leid, das hatte ich ganz vergessen. Das ist meins.» «Das braucht dir nicht Leid zu tun, Chris-Christine. Wie gesagt: Nur weil man etwas nicht sieht, bedeutet das nicht, dass es nicht da ist.» Als die Straße dunkler wurde und sie sich der Autobahn näherten, wandte Chris den Kopf. Die Frau hatte Chris' Handy in der Hand und sah sie aus runden braunen Augen an, sodass Chris den Blick schnell wieder nach vorn richtete. «Punkt für Sie.»
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«Für dich...» Sie streckte ihre schlanken Beine und gähnte. «Wäre auch eine interessante Sache für Leute, die Stimmen hören. Erst mal nachsehen, ob sie nicht vielleicht auf ihrem Handy sitzen...» «Also an dich, meinetwegen, Sie sind der Boss», sagte Chris, sah kurz zu ihr hinüber, die am Verschluss ihrer Handtasche nestelte, und trieb den Diesel über die Tangente auf die Autobahn. «Oder, hey: Kennst du die Werbung für diese Handys mit Vibrationsalarm?» «Nein, tut mir Leid.» «Das braucht dir nicht Leid zu tun. Ich glaube, sie ist in Deutschland auch nicht gelaufen... Mist, warum geht denn diese Tasche nicht auf? Jedenfalls, da sitzt ein kleines Mädchen zu Hause auf dem Sofa, hat einen Telefonhörer in der Hand. Sie wählt eine Nummer, wartet einen Moment und legt dann den Hörer schnell wieder auf. So geht das eine ganze Weile. Sie wählt, lässt ein paar Mal klingeln und legt schnell wieder auf. Dann hört man von draußen Stimmen, offenbar kommen die Eltern zurück oder so, keine Ahnung. Und als sie aufsteht, sieht man, dass sie sich ein Handy zwischen die Beine geklemmt hat, ein Handy mit Vibrationsalarm... Ich meine, das ist doch witzig, oder?» «Ja, witzig.» «Okay, sie war ein böses Mädchen, aber das sind immer die besten, findest du nicht?» «…» Chris trat das Gas durch, bis die Lenkung anfing zu vibrieren und der Motor diese heiseren selbstzerstörerischen Geräusche machte. «Sie wählt und legt nach ein paar Mal schnell den Hörer auf und...» Als fräße er sein rußiges Herz von innen her auf. «Und dann stellt sich heraus, dass sie sich die ganze Zeit selber angerufen hat, auf ihrem Handy mit Vibrationsalarm. Sie hat sich selber angerufen und hatte ihr Handy...» «Ich habe das schon verstanden», sagte Chris, die Witze von Heteras generell irgendw ie nicht witzig fand. Irgendetwas an ihnen war einfach nicht komisch oder hatte irgendwann aufgehört, komisch zu sein.
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«Hier», sagte Gudrun, wobei sie Chris das Handy hinhielt. «Wenn du lieber telefonieren willst...» «Nein, wieso?» «Ich meine, ich hätte nichts dagegen, das stört mich überhaupt nicht.» «Ich habe aber keinen Vibrationsalarm.» «Das meinte ich nicht. Ich wollte nur sagen: Wenn du nicht mit mir sprechen willst, dann kannst du auch gerne telefonieren, das stört mich gar nicht. Diese verdammte Tasche...» «Nein, wieso?» «Oder bist du immer so? Du unterhältst dich nicht gern mit Leuten, oder?» «Doch, warum nicht?» «Weil du nie etwas sagst. Du lässt die anderen reden, aber sagst selber nichts.» «Nicht so viel, nein.» «Aber warum?» «Was soll ich denn sagen?» «Keine Ahnung, irgendwas. Oder vielleicht nur, weil es netter ist, wenn man sich unterhält.» «Ich habe eben nichts zu sagen.» Und das war cool so, das war das Coolste, was sie seit langem gesagt hatte. Und zugleich ein solcher Bullshit, dass sie ihn beinahe selbst glaubte. Hinter Kreuz Süd bog sie auf den beleuchteten Abschnitt der Autobahn ein. «Vielleicht», sagte Gudrun, die immer noch an ihrer Handtasche fummelte, «vielleicht hast du wirklich nichts zu sagen, ChrisChristine. Warum geht denn das Scheißding nicht auf... Aber dafür, dass du nichts zu sagen hast, kannst du ganz schön gemein sein.» «Wieso das denn?», fragte Chris und zog ganz nach rechts, denn hier begann die Rennstrecke ohne Tempolimit, auf der sie nicht mehr mitbieten konnte. Scheißkarre. «Weißt du das echt nicht mehr? Gerade eben noch. Ich habe dich gefragt, ob du keine Angst hast, nachts allein mit all den Fremden...»
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«Ach das.» «Siehst du? Du weißt es also noch. Weil man ja nie weiß, wer da alles einsteigt und so, keine Ahnung. Ich meine, im Grunde kann mir das völlig egal sein, wie du dich fühlst oder was mit dir passiert. Ich bezahle dich dafür, dass du mich dorthin fährst, wo ich hinwill, und Schluss. Aber das tue ich nicht, Chris-Christine, so bin ich nicht.» «Ich weiß. Tut mir Leid.» «Du weißt gar nichts. Und andauernd sagst du, es tut dir Leid. Aber es tut dir gar nicht Leid, sonst wärst du nicht so gemein. Du sagst das nur, damit die Leute endlich den Mund halten.» «Vielleicht. Aber jeder Zweite, der nachts hier einsteigt, fragt mich so einen Quatsch. Darauf kann ich wirklich verzichten. Männer sind die schlimmsten, schon die Art, wie sie einen ansprechen. Sie lassen sich fahren, aber sozusagen nur ausnahmsweise. Respektieren tun sie einen nicht. Oder wenn, ausnahmsweise, dann muss man noch gehörig was drauflegen. Was glaubst du, was die hören wollen, wenn sie ihr Scheißmitgefühl raushängen lassen?» «Ich bin aber kein Mann.» «Punkt für dich. Aber ich sage dir, was sie hören wollen. Sie wollen hören: ‹Ja, es ist ja so schlimm, so entsetzlich, gar nicht auszuhalten. Aber zum Glück bist gerade du armer kleiner Flachwichser eingestiegen, denn du bist ja so anders, so anders anders anders, dass ich dir aus lauter Dankbarkeit am liebsten...› Und so weiter. Aber wehe, wenn sie das nicht kriegen, dann fangen sie auch noch an, über den Fahrpreis zu meckern.» «Interessant.» «Nein, das ist nicht interessant, das ist Scheiße. Ich meine, warum können sie nicht einfach die Schnauze halten?» «Weil es netter ist, wenn man sich unterhalten kann.» «Netter für wen? Verlange ich etwa von ihnen, dass sie mir sagen, wie toll ich bin?» «Vielleicht. Möglich.» «Nein, bestimmt nicht.» «Den Tränen ist es egal, wer sie weint.»
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«Toll. Aber das ist von Kaydee.» «Wer?» «K. D. Lang. Ein Lied von K. D. Lang, Tears Don't Care Who Cries Them.» «Ich dachte immer, Taxifahrer wären gute Psychologen. Diese verdammte Tasche, vorhin ging sie doch noch auf...» «Unsinn. Die meisten sind nichts weiter als dumme Ärsche.» «Außer dir natürlich, Chris-Christine.» «Außer mir natürlich», sagte Chris und verzog den Mund zu einem halben Grinsen - wie Xena, wenn sie aus ihrer Rolle heraustrat, ihre Rolle nicht mehr verkörperte, sondern nur noch spielte (Gabrielle würde sagen «spielte-spielte»), wenn sie zu Lucy Lawless wurde, einer Schauspielerin aus Neuseeland mit einem Lächeln, das man in Hollywood nicht fand. Der Diesel hatte inzwischen die Schallmauer der großen Vibration durchstoßen, Frühling und Öldunst von der Raffinerie in Wesseling strömten durch sein System und besänftigten sein rußiges Herz. «Danke. Danke. Danke. Ein Lächeln von ihr!», rief sie und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind. «Das erste an diesem Abend! Wie schön! Danke!» «Nicht das erste», sagte Chris und wandte den Kopf, doch Gudrun schaute sie nur aus ihren runden braunen Augen an. «Das erste zählt nicht.» «Und wieso nicht?» «Ich habe meine Kontaktlinsen nicht an, von diesen Scheißtabletten kriege ich ohnehin so trockene Augen... Warum geht denn diese Tasche nicht auf? Im ersten Moment dachte ich, du wärst ein Junge. Ein hübscher Junge, aber ein Junge...jemand zum... der aber nicht so... ich meine, ich bin über dreißig, da erwartest du nicht, dass alles zusammen noch irgendwo... na, ist ja auch egal.» Und Chris wusste, dass die andere sie jetzt beobachtete. «Wäre dir ein Kerl lieber gewesen?» «Ja.» «Nur weil man etwas nicht sieht, bedeutet das nicht...»
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«Du machst dich schon wieder über mich lustig.» «Gib mal her.» «Was?» «Die Tasche, gib sie her.» «Aber ich nehme an, das passiert dir öfter, oder?», sagte Gudrun und reichte ihr die Handtasche. «Dass Leute dich für einen Jungen halten, zumindest auf den ersten Blick?» «Nein, überhaupt nicht.» «Echt nicht? Das hat dir noch niemand gesagt?» «Nicht, dass ich wüsste.» Und was die Leute hinter ihrem Rücken redeten, war ihr egal. Das Steuer mit den Knien haltend, nahm Chris die Tasche zwischen die Beine. «Das glaube ich dir nicht. Na, ist auch egal. Ich habe keine Vorurteile. Ich meine, wenn ich so darüber nachdenke: Ich kenne sonst niemanden, der so ist, ist das nicht seltsam? Früher ja, aber jetzt nicht mehr, ist das nicht komisch? He, nicht so grob, du machst sie noch kaputt.» «Hier. Schon auf.» «Wie hast du denn das gemacht?» «Du musst unten drücken, nicht oben.» «Richtig, ich wusste es...» Sie fing an, in ihrer Tasche zu wühlen, wo es silbrig knisterte. «Aber deswegen brauchst du nicht so gemein zu sein.» «Wann war ich denn gemein?» «Vorhin, als ich dich gefragt habe, ob du keine Angst hättest vor all den fremden Leuten, die in deinen Wagen einsteigen.» «Und?» «Du hast gesagt: ‹Leute wie Sie›. Also: Leute wie ich. Als wäre ich jemand, vor dem man Angst haben müsste. Oder als wäre ich gefährlich. Das war gemein.» «Ach das. Das war gar nicht so gemeint.» Gudrun begann, Tabletten aus Blisterpackungen zu drücken.
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«Gemein, aber nicht so gemeint! Wie war es denn gemeint?» «Weiß nicht, aber nicht so.» Chris sah kurz zu ihr hinüber. «Tut mir Leid.» «Sag das nicht. Hier, willst du auch welche?» Sie hielt Chris eine hohle Hand mit Pillen hin. «Danke, nein.» «Die sind aber wirklich gut. Sie sind das Ergebnis von fünfzig Jahren medizinischer Forschung. Ich meine, eigentlich ist es ja nichts weiter als eine Stoffwechselerkrankung. Stoffwechselerkrankung klingt gleich viel besser, fin dest du nicht? Zu viel Dopamin in der Blutbahn, weißt du? Sonst stimmt eigentlich alles.» «Wenn du einen Schluck Wasser willst, hinten habe ich eine Flasche mit...» «Nein danke, das geht schon», sagte sie und fing an, sich nacheinander die Tabletten in den Mund zu stecken. «Das ist das Erste, was du lernst: Wie du all das Zeug ohne Wasser runterkriegst. Das erfordert viel Disziplin. Nicht nur das Zeug zu nehmen, sondern auch Ja zu sagen zu dem, was es mit dir macht. Aber ich tue es, ich schlucke alles. Glia nimon, Risperdal, Seroquel, Solian, Haldol, Decentan, Neurocil, Fluanxol, Impromen, Zyprexa, Zeldox, Dogmatil, Taxilan... Taxilan ist für Anfänger... und für gemeine Taxifahrerinnen, Taxilan... Du musst Distanz gewinnen und nach vorn gucken.» «Ein wahres Wort», sagte Chris. «Du brauchst nicht wieder so gemein zu werden... Aber deswegen hat er mich auch mitgenommen zu Flamenco del Sïlencto. Lauter Taubstumme. Aber wenn man die Show sieht, merkt man gar nicht, das sie taubstumm sind.» «Sind eben Profis.» «Kennst du Flamenco del Silenzio?» «Nein.» «Er sagt, dass ich mir nicht genug Mühe gebe. Er meint, ich könnte viel mehr tun, als ich denke.» «Tja, das sagt sich so leicht.»
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«Ich meine, die Show war gut, wirklich gut, aber ich fürchte, es war eben nur eine gute Show. Wenn ich nicht wüsste, dass sie taubstumm sind, die Tänzer und Musiker und, keine Ahnung... Aber ich glaube es eigentlich nicht wirklich.» «Wer weiß. Vielleicht doch.» «Ach komm, ich bin vielleicht verrückt, aber ich bin nicht dumm. Ich meine, es war wirklich gut gemacht, es war brillant. Aber es war ein einziger Betrug. Irgendwie hat das wohl keiner gemerkt.» «Und wenn nicht? Wäre doch möglich.» «Wow! Bravo! Bravo!» Abermals klatschte sie in die Hände. «Chris-Christine, die Gemeine... sie hat doch ein weiches Herz.» «Moment mal», sagte Chris und langte nach dem Broschürenhalter hinter dem Beifahrersitz. «Hier, meinst du das?» Sie knipste das Kartenlämpchen an und reichte ihr eine der Autogrammkarten, welche die Frau mit den wundervollen Titten im Wagen gelassen hatte. «Genau, das sind sie: Flamenco del Silencio. Da waren wir heute Abend. Ist ja irre.» Zum ersten Mal sah Chris sie genauer an. Ihr zartes, fast dreieckiges Gesicht im schwachen Schein des Kartenlämpchens, die blonden Strähnen, die sie sich, über die Autogrammkarte gebeugt, immer wieder mit flammroten, flamencoroten Fingernägeln aus der Stirn wischte, die halb sinnliche, halb schnippische, leicht vorgeschobene Unterlippe, von der sich der Lippenstift teilweise abgelöst hatte... So viel Schönheit in ihrer dreckigen Karre. «Aber du hast doch gesagt, du kennst sie nicht.» «Ich kenne sie ja auch nicht. Aber ich habe eine von denen gefahren.» «Ja? Wann?» «Letzten Samstag.» «Irre. Und wen? Den Tänzer hier vorne?» Sie zeigte auf einen Punkt auf der Karte. «Den fand ich ja gut.» «Nein, die Frau mit dem Kontrabass.» «Echt?» «Echt.»
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«Ich wette, zu ihr warst du auch so gemein.» Chris machte das Kartenlämpchen wieder aus, ehe sie sagte: «Kann sein.» «Wie: kann sein? Du weißt nicht mehr, ob du zu ihr gemein warst oder nicht?» Chris sah kurz zu ihr hinüber. «Die Verständigung war etwas schwierig.» «Schwierig? Wundert mich nicht, ehrlich gesagt.» «Wieso?» «Wenn du nie etwas sagst.» Und dann: «Darf man hier eigentlich rauchen?» «Sicher.» «Weil ich gar kein Verbotszeichen sehe wie normalerweise immer.» «Das war denen bei der Kiste zu teuer.» «Herrgott, diese blöde Tasche...» «Unten drücken.» «Danke. Ich soll ja eigentlich nicht, aber manchmal muss es eben sein.» «Kein Problem.» «Ich meine, ich darf gar nichts mehr. Kein Alkohol, kein Kaffee, nichts, nicht mal eine Bloody Mary oder einen Grapefruitsaft.» «Und ich dachte immer, das wäre so gesund?» «Aber es erhöht die Plasmakonzentration, Grapefruitsaft.» «Verstehe.» «So? Wirklich? Du bist ziemlich cool, Chris-Christine.» Chris, die sich selber eine Zigarette genommen hatte, hielt ihr die tanzende Flamme des Zippo hin. «Hey, das habe ich ja noch gar nicht gesehen...» «Was?» «Die Tätowierung hier.» «Naja, das ist nicht so...» «Hey, lass doch mal sehen.»
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«Nein, bitte... bitte nicht.» Niemand durfte Chris anfassen, kein Fahrgast zumindest, das war ein Gesetz. Doch als sie die langen kühlen Finger spürte, die ihr das Feuerzeug entwanden, bevor sie ins Innere ihrer Faust vordrangen, um sie zu öffnen und gleichzeitig festzuhalten, da war Chris (wohl weil sie glaubte, sie hätte noch alles unter Kontrolle) erst belustigt und dann wie gelähmt. «Halt doch mal still, ich kann ja gar nichts erkennen.» «Nein, nicht, das ist blöd...» «Feigling. Feigling. Du bist ein Feigling, Chris-Christine. Du willst nicht kommunizieren, selbst wenn du es tust.» «Vielleicht, aber ich mag das nicht», erwiderte sie und hielt trotzdem still. «Echt nicht?» «Nein.» «Warum hast du es dir dann machen lassen - wenn es doch niemand ansehen darf.» «Weiß ich nicht mehr.» «Damit kämst du in einer Therapie nicht durch... Ein Skorpion, hübsch...» Niemand durfte den Skorpion anfassen, aber vor den kühlen Fingern, Finger wie Schlangen, versagten ihre Instinkte, und sie war nicht in der Lage, ihre Hand zurückzuziehen. «Nicht gerade ein Kuscheltier... Tut das eigentlich weh, wenn man es sich machen lässt?» «Nein.» «Echt nicht? Aber es blutet doch?» «Aber es tut nicht weh. Eher wie ein Sonnenbrand.» «Ein fieser kleiner Skorpion... Hast du noch mehr Tätowierungen?» Ihr Lächeln erlosch mit der Flamme, und sie ließ Chris' Hand los. «Ja.» «Viele?» «Einige.» «Und alles Skorpione?»
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«Natürlich nicht.» «Kann ich mal sehen?» «Nein.» Und 2000 Meter vor dem Autobahnkreuz Bonn-Nord fügte Chris hinzu: «Wie geht's jetzt weiter?» «Du meinst, wir müssen uns wieder entscheiden?» «Wäre gut.» «Weiter geradeaus. Es ist noch ein Stück.» Mit einem Klick flammte das Feuerzeug wieder auf, und rötlicher Schein flatterte dicht über Chris' Hand. Dann sagte sie: «Ein fieser kleiner Skorpion... Skorpion passt zu dir. Aber weißt du, was der kleine Skorpion nicht begreift? Dass die Leute, die bei dir einsteigen, ja auch nicht wissen, an wen sie geraten.» «Das ist etwas anderes. Und du kannst jederzeit aussteigen, wenn du willst.» «Das meinte ich nicht.» «Fahrgäste werden ja auch nicht überfallen und ausgeraubt», sagte Chris. «Werden sie nicht? Nie? Das ist noch nie passiert?» «Vielleicht in Afrika oder in der Dritten Welt, aber nicht hier.» «Oder wenn ich jetzt plötzlich ohnmächtig würde - ich meine, das kann vorkommen. Das ist schon vorgekommen. Was würdest du dann tun?» «Dann würde ich über Funk Hilfe holen oder dich ins nächste Krankenhaus fahren. Aber dir würde in jedem Fall geholfen, klar?» «Du meinst, ich kann dir vertrauen?» «Was dachtest denn du?» «Gar nichts, ich habe keine Vorurteile, aber das sagen alle. Warum, meinst du, bin ich vorhin ausgestiegen?» Chris warf ihre Zigarette aus dem Fenster und sagte: «Komm, gib her, du setzt sonst noch alles in Brand.» Sie nahm Gudrun die Zigarette aus der Hand, als sei es das Normalste der Welt, und war doch erstaunt, dass die andere es geschehen ließ. Dann sagte sie: «Du meinst aus dem Mercedes?» «Ja. Das war er übrigens.»
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«Wer?» «Mein Therapeut.» «Wie, du gehst mit deinem Therapeuten aus?», fragte Chris. «Ja, warum nicht? Wenn er mich einlädt.» Dröhnend erklomm der Diesel die Rampe zu einem gewundenen Viadukt, das irgendwann in eine Rheinbrücke überging und bei Chris jedes Mal den Eindruck erweckte, es sei nur gebaut worden, um davon abzulenken, wie langweilig diese Stadt in Wirklichkeit war. Wer hier wohnte, ging womöglich auch mit seinem Therapeuten aus. «Trotzdem, ich weiß ja nicht.» Chris kurbelte die Scheibe wieder hoch. «Ein bisschen seltsam ist das schon, oder?» «Warum seltsam?» «Naja, ich gehe ja auch nicht mit meinem Zahnarzt ins Kino.» «Du vielleicht nicht. Aber das ist auch kein Wunder.» Chris schüttelte den Kopf. «Na ja, es ist deine Sache», sagte sie. «Du brauchst nicht gleich wieder so gemein zu werden. Er ist ein Freund der Familie.» «Ein Grund mehr, das nicht zu tun. Bist du sicher, dass er nicht gleich alles weitergibt, was du ihm sagst?» «Natürlich tut er das. Aber es bleibt ja in der Familie. Immerhin hat er mich aus der Klinik geholt.» «Hat er das?» Sie fuhren über eine lange Brücke in die Dunkelheit. «Du würdest das also nicht machen?», fragte Gudrun und ließ das Feuerzeug aufflammen. «Auf keinen Fall.» «Und wenn ich wieder was anstelle?» «Jeder hat irgendeine Macke, aber du bist eine erwachsene Frau.» «Er kann Gedanken senden, weißt du?» «Gedanken lesen?» «Nicht lesen, senden. Ich meine, er ist komplett dumm. Ich meine, er ist eigentlich ganz nett, aber eben komplett dumm. Er kann nur die Gedanken von mir lesen, die er vorher gesendet hat. Das reicht ihm.»
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«Was für Gedanken denn?» «Kann ich nicht sagen.» «Genau. Geht mich ja auch nichts an.» Gudrun blies vorsichtig gegen die tanzende Flamme. Sie sagte: «Geht das Feuerzeug eigentlich nie aus?» «Doch. Wenn du es zumachst, was ich empfehlen würde, oder wenn der Sprit alle ist, was andernfalls nämlich ziemlich bald der Fall sein dürfte.» «Du brauchst nicht so gemein zu sein, ich habe gar nichts angestellt.» Sie wandte kurz ihren Kopf, ehe die Flamme erlosch, und rieb mit dem Feuerzeug an ihrer Stirn. «Aber deswegen bin ich vorhin ausgestiegen. Es war einfach zu viel.» «Wegen der Gedanken, die er gesendet hat?» «Ich meine, ich habe schon dauernd diese Kopfschmerzen, aber das ist normal, das steht auch auf dem Beipackzettel. Nur bei ungewöhnlich starken Kopfschmerzen soll man... das heißt, gewöhnlich starke Kopfschmerzen sind in Ordnung. Aber wenn das auch noch anfängt, dann kann ich irgendwann nicht mehr. Weißt du, es läuft bei ihm immer nach dem gleichen Muster. Erst sendet er mir seine Gedanken, aber egal, was ich dann sage, es ist immer falsch. Entweder mache ich keine Fortschritte oder ich habe angeblich kein Vertrauen zu ihm.» « Schweinesystem.» «Das kann einen verrückt machen.» «Warum lässt du dich denn darauf ein?» «Du verstehst das nicht.» «Offenbar nicht.» «Du denkst, das wäre alle s so einfach? Du meinst, ich brauchte bloß aufzustehen und rauszugehen und...» «Wieso nicht? Hast du vorhin doch auch gemacht.» «Ja, aber das hat garantiert ein Nachspiel. Wahrscheinlich wissen jetzt schon alle, was ich wieder angestellt habe. Deswegen wollte ich auch nicht nach Hause...» «Wieso, was hast du denn angestellt?»
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«... und dann zerren sie dich zurück. Wenn ich nichts tue, zerren sie an der Leine und sagen: ‹Mach was, lass dich nicht so hängen.› Und wenn ich was tue, habe ich gleich was angestellt, und sie zerren noch stärker an der Leine. Das kann einen verrückt machen. Ich darf nichts.» «Schweinesystem.» «Weißt du, was sein Lieblingsgedanke ist?» Gudrun ließ das Feuerzeug aufklicken, auf und wieder zu, auf und wieder zu. «Von deinem Therapeuten? Ich dachte, das geht mich nichts an.» «Stimmt, aber du hörst mir ja sow ieso nicht zu, also kann ich es dir auch erzählen.» «Okay, ich höre zu.» «Aber du willst dich nicht mit mir unterhalten.» «Bitte nicht schon wieder. Hör mal, Gudrun, das ist nicht mehr Bonn hier. Wo soll ich denn runterfahren?» «Siehst du, du willst dich nicht mit mir unterhalten.» «Nein, aber du hast gesagt nach Bonn, und wir sind inzwischen mitten in der Pampa, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wo du...» «Dreh um.» «Nächste Abfahrt?» «Dreh um. Die nächste, die übernächste, was spielt das für eine Rolle?» «Danke. Und dann?» «Richtung Zentrum. Den Rest zeig ich dir dann.» «Na prima, konntest du das nicht eher sagen?» Das Feuerzeug flammte auf, und ihr zartes, fast dreieckiges Gesicht erschien in der Windschutzscheibe. Chris starrte nur geradeaus. «Ich habe versucht, dir etwas über mich zu sagen, aber du hörst mir gar nicht zu.» «Das ist Quatsch.» «Kein Quatsch. Du willst mich nur loswerden.» «Okay, okay. Was war sein Gedanke?»
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«Was?» «Sein Lieblingsgedanke. Der Lieblingsgedanke von deinem Therapeuten, wie geht er?» Mit einem Klick erlosch die Flamme, Dunkelheit und Schweigen breiteten sich im Wageninneren aus. Sie waren fast allein auf der Autobahn. «Gar nicht so einfach, was?», sagte Chris. «Aber beklage ich mich? Beklage ich mich darüber, dass du dich nicht mit mir unterhalten willst? Oder dass du mir nicht gleich... Nein, das tue ich nicht. Weil ich nämlich der Meinung bin...» «... dass ich sein Glied in den Mund nehme», sagte Gudrun unvermittelt. «Was?» «Sein Lieblingsgedanke. Sein Lieblingsgedanke ist, wie ich sein Glied in den Mund nehme.» «Oh.» «Hey, es ist nur sein Lieblingsgedanke, okay? Er hat noch viel schlimmere. Manchmal will er mir auch mit bloßen Händen den Brustkorb aufreißen. Er will mit beiden Händen in mich hineinfahren und mir die Rippen auseinander biegen, bis sie brechen, um zu gucken, ob ich etwas vor ihm verberge. Aber das kommt eher nicht so häufig vor. Doch der Lieblingsgedanke, wie ich ihn in den Mund nehme, ist immer da, in seiner Praxis, vorhin im Wagen, in der Klinik... immer muss ich sein Glied in den Mund nehmen. Das ist wegen meines Gesichts, weißt du. Er findet mein Gesicht schön, er sagt, ich wäre eine sehr attraktive Frau und es wäre so schade, deswegen will er sein Glied in mein Gesicht stecken.» «Gudrun, du hast eine ganz schöne Macke, weißt du das?» «Ich weiß. Danke, dass du das sagst. Ich meine, ich weiß, dass das alles nur in meinem Kopf ist, wenn er mir den Brustkorb aufreißt oder ich sein Glied in den Mund nehme, aber es ist so plastisch...» «Plastisch?» «So plastisch, so real, dass du anfängst, darüber nachzudenken, ob es nicht vielleicht doch sein könnte, dass...» «Denk lieber nicht so viel nach.»
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«Kennst du das nicht?» «Was? Dass ich meinem Therapeuten einen blase?» «Nein, aber dass du auf einmal Gedanken denkst, die du gar nicht denken willst, aber denken musst, weil jemand dir seine Gedanken gesendet hat?» «Kein Ahnung. Nein.» «Echt nicht? Oder wenn da plötzlich Sachen sind, die du angucken musst, weil sie elektromagnetische Impulse aussenden und du gar nicht anders kannst, als sie anzugucken?» «Also ich fahre jetzt hier ab, in Ordnung?» Oben an der verlassenen Linksabbiegerampel sagte Gudrun: «Du bist ein Feigling, Chris-Christine, du bist wirklich ein Feigling. Du weißt genau, wovon ich spreche.» Und auf dem Beschleunigungsstreifen, inmitten von Nebelschwaden und dem erbitterten Dröhnen des Diesel, sagte Chris: «Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst: Titten!» «Was?» «Titten! Ich starre gern Titten an! Bist du jetzt zufrieden?» «Du liebst weibliche Brüste?» «Das habe ich nicht gesagt.» «Du hast gesagt, du guckst gern weibliche Brüste an?» «Ich meinte, ich starre sie an. Nicht mehr und nicht weniger. Zufrieden?» «Auch meine? Starrst du auch meine Brüste an, Chris-Christine?» «Hast du mir etwa ein paar von deinen Magnetimpulsen gesendet?» «Nein.» «Also starre ich sie auch nicht an. Eigentlich logisch, oder? Wenn ich sie anstarren soll, hätte ich bitte gern auch ein paar magnetische Impulse. Ohne Magnetismus läuft bei mir gar nichts.» «Du machst dich schon wieder über mich lustig, das ist gemein. Ich erzähle dir von mir, und du...» «Das mit dem Magnetismus ist deine Theorie.» «Und du bist eine Lesbierin.»
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«Ich wusste es. Du siehst aus wie ein Junge, du liebst weibliche Brüste, und du bist gemein.» «Auch eine Theorie von dir? Wer aussieht wie ein...» «Wie an der Uni früher. Da gab es auch welche. Im Seminar starren sie dich nur an, und wenn du in der Pause auf sie zugehst, drehen sie sich weg oder sie sind gemein.» «Warum machst du das auch? Du weißt doch, wie sie sind, diese Lesbierinnen.» «Damals wusste ich es nicht.» «Vielleicht haben sie dich ja auch gar nicht angestarrt.» «Doch, haben sie. Genau wie du.» «Wann habe ich dich angestarrt?» «Die ganze Zeit. Du kannst nur nicht so, wie du willst, weil du fahren musst. Aber ich merke es an der Energie, die du sendest.» «Super Logik.» «Deswegen wäre ich ja auch bei dir nie eingestiegen, wenn ich d*s vorher gewusst hätte.» «Danke. Aber wir können diesen unerträglichen Zustand schnell beenden, wenn du mir endlich sagen würdest, wo du eigentlich hinwillst.» «Weißt du, sie hassen dich regelrecht. Sie hassen dich besonders, wenn du versuchst, nett zu ihnen zu sein.» «Wer?» «Du weißt schon, die Lesbierinnen im Seminar.» «Das ist Unsinn. Warum sollten sie das tun?» «Weil sie mich nicht kriegen. Sogar wenn ich überhaupt keine Vorurteile habe, wissen sie, dass sie mich nie nie kriegen können.» «Du bist ja überhaupt nicht eingebildet.» «Doch, bin ich. Ich kann ziemlich arrogant sein, ich weiß das.» Mit einem Klick flackerte das Feuerzeug auf, und schemenhaft erschien wieder ihr blasses Gesicht in der Frontscheibe. «Es ist komisch, heute kenne ich überhaupt keine Lesbierin mehr. Weißt du, manchmal frage ich mich, was aus ihnen geworden ist. Oder was sie heute machen.»
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«Sie fahren Taxi», sagte Chris. «Echt?» «Das war ein Witz», sagte Chris, als sie den Schein des Feuerzeugs auf ihrem Gesicht spürte und sah, dass Gudrun den Kopf gewandt hatte. «Ich fahre jetzt von der Autobahn runter, okay?» «Hast du nicht studiert?» «Ich? Nein. Ich fahre jetzt hier ab, okay?» «Ich dachte.» «Dann säße ich wohl kaum in dieser Karre, oder?» «Das kann man nicht wissen. Aber du magst die Leute nicht, stimmt's? Du unterhältst dich nicht gerne.» «Sag mir lieber, wie ich jetzt fahren soll.» Die Flamme erlosch mit einem Klick. «Links, dann zweite rechts, dann eins, zwei, drei, vier, fünf, an der fünften Ampel links, dann sofort rechts, dann links, noch einmal links, dann nur noch geradeaus, die Straße macht dann einen Bogen, da ist es...» Und wieder entstand dieses Schweigen im Wagen, das Chris jedoch auf einmal Leid tat, auch wenn sie wusste, was diese Gudrun dazu sagen würden, nämlich dass es ihr nicht Leid zu tun brauchte. Wahrscheinlich war diese Gudrun vollkommen verrückt, aber dumm war sie wirklich nicht und insofern überhaupt nicht einzuschätzen, und allein dieser kleine Satz - Ich kann ziemlich arrogant sein - berührte sie jetzt so, dass sie sich auf die Unterlippe biss, während sie durch eine menschenleere Straße über ein, zwei, drei, vier gelbrote Ampeln hinweg Gas gab. Vielleicht war das ja wirklich ein Muster, dass sie immer Sachen machte, von denen sie wusste, dass sie ihr später noch Leid tun würden. Hinter der Kurve war auf einmal Schluss, nur die Scheinwerfer glitten weiter ins Leere, über unnatürlich grünes, verletzlich spitzes Gras, das, weil sich nichts bewegte, aus einer Fläche von geschmolzenem Glas zu wachsen schien, ehe es dort, wo die Scheinwerfer nichts mehr fanden, in einem unruhigen Schwarz versank. «Bist du sicher, wir sind hier richtig?», fragte Chris. «Hier ist doch gar nichts, nicht mal Häuser.»
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«Na und? Ich habe nicht gesagt, dass ich nach Hause will, oder?» «Nein, das nicht, und es geht mich auch alles nichts an, aber... Wir sind hier an der Rheinaue, was willst du denn hier?» «Weil du nicht zuhörst. Weil du einfach nicht zuhörst. Was ist denn daran so schwer zu verstehen? Wenn ich nur einen Moment Ruhe haben will, einen kleinen Augenblick, wo niemand an mir zieht? Aber selbst du ziehst an mir. Wir kennen uns nicht mal eine halbe Stunde, aber schon ziehst du an mir.» «Das war nicht meine Absicht...» «Du meinst, es tut dir Leid, Chris-Christine?» «Nein, aber du verfährst hier einen Haufen Geld, und ich weiß nicht mal, wo du überhaupt...» Chris schaltete den Motor ab. Gudrun zuckte mit den Schultern, legte mit einem bekümmerten Lächeln den Kopf zur Seite und schaute Chris an, wobei sich zwischen ihren Brauen ein V bildete. «Oh, du Arme, hast du Angst, dass du dein Geld nicht bekommst? Ich weiß, was du denkst, ChrisChristine. Du traust mir nicht, ts, ts, ts. Dabei bin ich so nett zu dir.» Ihr Lächeln versickerte schneller, als Chris gedacht hätte, allein das V zwischen den Brauen blieb. «Na, dann wollen wir mal sehen... ist ja ganz leicht.» Sie nahm ihre Handtasche. «Einfach nur unten drücken. Was schulde ich dir? Abgesehen davon, dass du mir gezeigt hast, wie ich meine Handtasche aufkriege.» Wortlos zeigte Chris auf das Taxameter. «Ach so, das ist ja nicht viel. Du bist ziemlich billig, ChrisChristine. Du bist so billig, ich könnte dich kaufen, wenn ich wollte. Aber ich will nicht.» Und als sie Chris zwei Hundertmarkscheine hinhielt und Chris daraufhin ihre Wechselgeldbörse aus der Jacke zog, sagte sie: «Nein, behalt den Rest.» «Aber das sind über hundert Mark...» «Stimmt, ich habe eine bessere Idee. Du kannst es behalten, wenn ich deine Tattoos sehen kann, was meinst du? Ist das ein Angebot? Diese hundert Mark gegen deine Tattoos? Du weißt doch, dass du immer was drauflegen musst. Sag Ja oder ich reiße den Schein durch.»
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Chris sah sie an und suchte in ihren runden braunen Augen nach irgendetwas, das sie verstehen konnte. Aber da war nur wieder dieses bekümmerte Lächeln und das V zwischen den Brauen. «Schade, da gehen sie hin», sagte sie, und der Schein flog in zwei Hälften erst hoch, dann, zumindest für Chris' Begriffe, ziemlich schnell und unspektakulär hinunter in den Fußraum. «Na gut, du bist zwar billig, aber du hast eine gewisse Integrität. Das gefällt mir. Weißt du, was deine Karte wäre? Der Ritter der Münzen. Deshalb bin ich bereit, mein Angebot zu erhöhen. Wenn du mir deine Tattoos zeigst, zeige ich dir meine... Titten? Obwohl ich ja so ordinäre Worte eigentlich nicht mag. Sie sind billig, aber das weißt du ja. Also? Wir sind hier ganz allein. Und wenn du es nicht weitererzählst, wird nie jemand davon erfahren. Na, was sagst du? Du darfst sie anfassen, wenn du willst und wenn ich deine Tattoos sehen darf, du darfst sie sogar küssen, wenn es dir was gibt... Lesbierin!» «Raus aus meinem Wagen!», sagte Chris, die bis jetzt reglos nach vorn gesehen hatte, wo die Scheinwerfer in die Dunkelheit hinausleuchteten. «Raus aus meinem Wagen! Verschwinde.» «Hey, Chris-Christine, was ist denn auf einmal mit dir los? Magst du mich nicht mehr?» «Du wolltest, dass ich dich hierhin fahre. Wir sind da. Jetzt steig aus.» Doch als sie sich nach rechts lehnte, um die Beifahrertür aufzustoßen, hielten die kühlen, schlangengleichen Finger auf einmal ihren Kopf fest. Ob tatsächlich fest oder nur durch die kalte Macht elektromagnetischer Impulse (was Quatsch war, oder?), wusste sie später nicht mehr zu sagen. Sie wusste nur, dass sie auf eine unheimliche Weise damit einverstanden war. Und weil sie damit einverstanden war, glaubte sie immer noch, sie hätte alles unter Kontrolle. Niemand durfte sie anfassen, das war ein Gesetz, aber alles war plötzlich so nah, so einfach, so unwichtig, sogar als die Haare dieser Frau über ihre Wangen strichen, was Chris normalerweise nicht leiden konnte. Sie ertrug es nicht, wenn Haar ihr Gesicht berührte, nicht einmal ihr eigenes, weswegen sie immer diese Kurzhaarfrisuren trug, durch die sie aussah wie ein Junge. Aber sie schaute nur in diese braunen, runden Augen und auf die schnippische Unterlippe, die unter dem brüchigen Lippenstift wie wund wirkte, und dachte: «Mach doch!» Sie spürte, umfangen von einem fremden Duft, den Atem
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dieser Frau und dachte für den Bruchteil einer Sekunde, dass selbst dann, wenn dies jetzt der namenlose Moment war, für den sie alle ihre Waffen bei sich trug, die angeblich doch nichts nützten, dass sie jetzt dazu bereit war, anzuerkennen, dass sie nichts nützten, und dass sie, was immer mit ihr geschah, mit sich geschehen lassen würde, als hätte sie schon ewig darauf gewartet. Sogar viel später erinnerte sie sich an diesen Moment als denjenigen, in dem sie zum ersten Mal gedacht hatte: «Mach doch!» - und daran, wie wenig sie dieser Gedanke erschreckt hatte. «Tut weh, nicht?», hörte sie, als die kühlen, schmalen Hände sie losließen oder fortstießen, und: «Aber ich hätte es sowieso nicht gemacht.» Dann registrierte sie den dumpfen Schlag der Wagentür und, durchs Seitenfenster, das Ende einer fast anzüglichen Körperdrehung, ehe die Frau durch das Licht der Scheinwerfer auf die halb überflutete Wiese zuging. Chris sah ihr nach, ihren langen, spielerischen Schritten und der Nachlässigkeit, mit der sie ihren Mantel hinter sich herschleifte. Chris konnte nicht sprechen, nicht einmal mit sich selber, und fast konnte sie auch nicht glauben, was sie soeben getan hatte. Es tat ihr Leid, obwohl es richtig gewesen war. Es war richtig gewesen. Es gab schon so viele Leute, die sie wie Scheiße behandelten. Obwohl es bei den anderen nicht so wehtat wie hier. Vieles konnte sie schon gar nicht mehr aufregen, so sehr hatte sie sich daran gewöhnt. Aber zuerst der Kerl, der gegen ihren Wagen gepinkelte hatte, dann die beiden Bullen, die so taten, als sei sie diejenige, die man eigentlich festnehmen müsste, und schließlich diese Frau, Gudrun, was für ein bescheuerter Name. Erst als ihr Herz sich etwas beruhigt hatte, merkte sie, dass sie feucht war. «Chris, du bist ein Riesenarschloch», sagte sie, als sie den Zündschlüssel umdrehte und am äußersten Rand des zitternden Lichtkegels schwach ein Paar Beine und einen Mantel erkannte, bevor ein jaulender Rückwärtsgang auch dieses letzte Bild der Dunkelheit hinterließ. Mann, da stand wirklich noch die ganze Wiese unter Wasser. Aber der abschwenkende Strahl des Scheinwerfers über der unbewegten Wasserfläche hatte etwas unbestreitbar Elegantes, er war
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wie ein Schlussstrich. Und Licht konnte man nicht verbiegen. (Außer in der Nähe von Schwarzen Löchern und dunkler Materie natürlich, und die kamen auf der Erde nicht vor.) Aber sonst hatte sie Recht, oder? Man musste sich nicht alles gefallen lassen. Und diese dumme... diese dumme... Fotze hatte von Anfang an mit ihr gespielt. Hatte sie erst zugelabert und am Ende gedemütigt, einfach weil sie glaubte, dass sie es konnte. Weil es irgendetwas gab, irgendetwas an ihr, Chris, das ihr gesagt hatte, dass sie es konnte. Eine Frau, die ihr Trinkgeld an eine Bedingung knüpfte, die entwürdigend war. Und die einen Geldschein zerriss, weil sie es komisch fand. Dabei war es überhaupt nicht komisch, dass diese Gudrun einen Geldschein zerreißen konnte, während sie, Chris, schon nicht mehr wusste, wie sie die nächste Miete aufbringen sollte. Oder war es, auf irgendeine unterirdische Art, doch komisch? Dualität des menschlichen Lebens. Dieses Scheißgeld immer. Doch das Geld war nicht einmal die bitterste Demütigung. Die bitterste Demütigung war, dass diese Gudrun sie anfassen durfte, ohne dass sie, Chris, irgendetwas dagegen unternehmen konnte. Klar, sie war eine Irre, aber das Entscheidende hatte sie begriffen: Dass nämlich sie die Schöne war und sie, Chris, berührbar. Berührbar und verstoßbar, je nachdem. Nein, nicht nur berührbar, sondern berührt. Sie, Chris, war diejenige, die feucht wurde, nicht die andere. Die andere fand das alles nur komisch. Warum fuhr sie nicht einfach nach Hause, nahm sich eine Flasche Rotwein und sah sich Xena an? Den Schluss von Staffel vier. Staffel vier, Folge 20 und 21 über den Untergang des Amazonenreichs, Trost in schweren Zeiten, mindestens schon vierzehn Mal gesehen, öfter. Wo Xena und Gabrielle von Cäsars Soldaten ans Kreuz geschlagen werden, umtanzt von eisigen Schneeflocken, wo Chris immer weinen musste, wenn Xena zu Gabrielle sagt: «Du warst das Beste in meinem Leben.» Warum also nicht einfach nach Hause, fragte sie sich, der Straf- und Ersatzwagen gehörte ihr, niemand wollte so eine Schrottkarre, während sie mit Tempo achtzig über Schlaglöcher und Bodenwellen hinweg über fünf, vier, drei, zwei Ampelkreuzungen rauschte und plötzlich auf die Bremse trat.
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«Weil du ein Idiot bist», sagte sie. «Nichts weiter als ein riesiges, dämliches Riesenarschloch», sagte sie, als sie mitten auf einer gottverlassenen Straße mit heulenden Reifen wendete, kurbelnd, fluchend: «Mann, so eine Scheiße, Scheiße, Scheiße.» Und natürlich weil sie ein Profi war. Ein Profi, der die Verantwortung übernahm für alles, was passierte, weil er für die anderen mitdachte, weil er eben Profi war und die anderen nicht. Und weil es irgendwie nicht komisch war, wenn diese Irre nachts auf der überfluteten Rheinwiese herumspazierte. Im zweiten Gang und mit eingeschaltetem Fernlicht jagte sie die lang gezogene Zufahrt hinunter und hielt an der Stelle, an der diese Gudrun ausgestiegen war, doch von ihr keine Spur. Trotzdem musste sie noch irgendwo sein, sonst wäre sie ihr auf der Straße entgegengekommen. Chris stieg aus und nahm ihre Taschenlampe aus der Innentasche ihrer Jacke, obwohl sie im dichter werdenden Nebel ohne Licht fast mehr sah als mit. Aber sie fühlte sich kompetenter so, professioneller. Aus demselben Grund rief sie auch nicht nach ihr, sondern ging nur langsam in dieselbe Richtung, in der die Frau verschwunden war. Bereits nach wenigen Metern versank sie bis über die Knöchel im schwarzen Wasser. Gott, es waren schon Leute in einer Pfütze ertrunken. Wie weit zog sich dieses Areal eigentlich hin? Und überall diese niedrigen Büsche. Manche sahen ganz hübsch aus im Wasser, wie moosbewachsene Felsen, andere arg gefleddert, an ihnen war der ganze Müll hängen geblieben. Wie im richtigen Leben. Als Chris das Wasser bis zu den Knien reichte, glaubte sie sie auf einer winzigen Insel zu sehen. Aber erst, als der schwarze Schatten eines riesigen Geisterschiffs (Idiot, das war nur ein leerer Frachter) weitergezogen war und das Wasser wieder glitzerte, wurde aus dem, was sie für einen bizarren Busch gehalten hatte, eine menschliche Gestalt. Wie ein kleines Mädchen in der Sandkiste hockte sie dort auf einem durchweichten Eiland, kaum größer als ein Handtuch, und zuckte zusammen, als Chris sie rief. «Hey, alles in Ordnung?» Chris watete näher. «Keine Angst, ich bin's. Komm, ich bring dich nach Hause.»
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«Ich will nicht nach Hause.» «Jetzt sei nicht mehr sauer. Hier kannst du doch nicht bleiben. Und morgen ist ein neuer Tag.» «Du meinst, der Abend ist zu Ende?» «Ja. Komm, gib mir deine Hand.» Sie zögerte. «Aber du wirst es ihnen sagen?» «Was sagen?» «Was ich wieder angestellt habe.» «Unsinn. Ich werde gar nichts sagen. Außerdem hast du nichts angestellt.» «Bestimmt nicht?» «Bestimmt nicht. Aber komm jetzt. Das ist Scheiße hier, viel zu kalt.» Chris streckte die Hand nach ihr aus und war erstaunt, wie leicht sie war. «Wo hast du denn deine Schuhe gelassen?» «Weiß nicht. Aber das Wasser ist schön kühl an den Beinen.» «Mensch, hier sind überall Glasscherben.» «Mir ist ein bisschen schwindlig. Kannst du...» «Dann leg deine Hand um meinen Hals. Aber du sagst mir nachher, wo du wohnst, sonst lasse ich dich hier verrotten.» «Schon gut, du brauchst nicht wieder so gemein zu werden. Uuh, hier dreht sich alles...» «Geht's?», fragte Chris und spürte ihre schmalen Hüften, ihre Wärme, ihre Nachgiebigkeit, ihren weißen Atem, während sie durch das Wasser langsam ans Ufer gingen. Weder sie noch diese Frau sagten ein Wort, weil sie beide viel zu früh ihre Krallen gezeigt hatten und jetzt nicht wussten, was sie damit machen sollten. Doch diese Gudrun machte es sich leicht, sie schloss die Augen und war von diesem Augenblick an einfach nicht mehr da. So blieb alles an Chris hängen. Wieder im Wagen, stellte Chris die Rückenlehne zurück, und Gudrun schlief ein, bevor sie die Autobahn erreichten. Einmal schreckte sie hoch und schaute Chris mit großen Augen an.
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«Alles okay?», fragte Chris und fühlte sich sehr kompetent (der Vorteil, wenn alles an ihr hängen blieb), aber Gudrun nickte nur und berührte mit ausgestrecktem Arm das Tattoo an Chris' rechter Hand. «Der arme kleine Skorpion. Tut weh, nicht?» Aus irgendeinem Grund schloss sich Chris' Linke fester um das Lenkrad, bevor sie den Kopf wandte. Doch Gudrun hatte die Augen bereits wieder geschlossen. Und weh hatte es eigentlich nie getan. Weder als sie entdeckte, wie schnell und scharf Papier sein kann und wie langsam dagegen Blut (ihre einzige echte Verwendung für Schulhefte, damals nach der Sache mit Yve, sie war gerade vierzehn), weder das noch später ihre Tattoos und Piercings. Die Schnitte an ihren Armen und Beinen, die beim Training immer wieder aufrissen, aber wegen des schwarzen Karateanzugs unentdeckt blieben. Erst später in der Bäckerei verlor sie ihren Job deswegen. Aber dem Typ im Personalbüro von der Bäckerei-Kette, wo sie ihre Papiere abholen sollte, war das ziemlich egal. Er suchte einen Fahrer für den VarioLangchassis, in dem die Halbfertigware mehrmals täglich ausgefahren wurde, und Chris log, was das Datum ihrer Fahrerlaubnis anging. So hatten die Kräfte des Bösen sie bald da, wo sie sie hinhaben wollten. «Hey, wir sind da... Wach auf.» «Was?», murmelte sie, und ihre Stirn kräuselte sich. «Hey du, wach auf, du bist zu Hause.» Sie standen vor einem großen schmiedeeisernen Gartentor, und die Scheinwerfer leuchteten in eine kiesbestreute Auffahrt, die halbmondförmig um ein Rasenstück herumführte, notdürftig erhellt von einer einzelnen Kutschenlampe. Außer einem licht über dem Eingang schien das zweistöckige Haus dahinter vollkommen dunkel zu sein. Als Chris ihre Schulter anfasste, machte Gudrun eine abwehrende Handbewegung. «Hey du, mach mal die Augen auf», flüsterte sie. «Wir sind da... du, hey... du,...guck mich mal an... hey... hey...», flüsterte sie und strich mit ihren Fingerspitzen leicht über ihr erschöpftes Gesicht, worauf Gudrun tief Luft holte, aber sofort wieder zurücksank und die
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Schatten um ihre Augen größer wurden. «Hey, du...», flüsterte Chris, näher kommend, nicht zuletzt, weil sie die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln gesehen hatte, die ihr Mut machten, «nicht wieder einschlafen», und wischte ihr das Haar aus der Stirn und streichelte ihre Schläfen und weiter hinunter zu den hohen Wangenknochen, bis ihre Lider anfingen zu zucken und sie seufzend die Augen aufschlug. «Was ist passiert?», sagte sie, blinzelte in Chris' Gesicht, ehe sie noch einmal die Augen schloss und tief durchatmete, während Chris sich fragte, ob das, was sie dabei sah, ein Lächeln war. «Du bist zu Hause», sagte Chris. «Oh», sagte Gudrun und fing an, am Verschluss ihrer Handtasche zu fummeln. Auch so etwas, das Chris nie besitzen würde. Sie trug alles lieber am Körper. «Unten drücken.» «Unten drücken», wiederholte Gudrun und kramte in der Tiefe der Tasche, bis sie die Fernbedienung gefunden hatte, die sie in einer jähen Peitschenbewegung nach vorn schnellen ließ, als sei das Funksignal zum Öffnen des Tors in Wahrheit ein Blitz. Ein Blitz, durch ihren Arm geschleudert und fähig, Eisen zu schmelzen. Doch die beiden Flügel des Tors verglühten keineswegs, sondern rollten nur mit höhnischer Langsamkeit auseinander. Chris fiel es auf einmal schwer zu glauben, dass diese Gudrun wirklich geschlafen hatte. Aber das Seltsamste war, dass ihr irgendetwas an der Geste mit der Fernbedienung bekannt vorkam. Und nicht nur diese Geste, selbst diese Frau, Gudrun, meinte sie vorher schon irgendwo einmal gesehen zu haben, irgendwann in einem anderen Leben vielleicht, denn sie vergaß nie ein Gesicht. Allerdings waren das solche Gedanken, die sich Chris nie lange gestattete. Sie hörten sich nicht nur wie dumme Anmache an, sie waren es auch, völlig bescheuert, ein Spiegeltrick ihrer eigenen Psyche. Als Chris die Auffahrt ein Stück weit hochgefahren war und den Motor abgeschaltet hatte, sagte Gudrun: «In mir dreht sich alles.» Chris stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. «Komm, ich helfe dir. Die Füße zuerst. So, okay,
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geschafft. Und jetzt leg die Arme um mich, nicht aus Leidenschaft, aber sonst kommst du heute nicht mehr in dein Bettchen...» Und als Gudrun anfing zu kichern, sagte sie: «Ich habe gar nichts gemacht.» «Nein, aber wer hätte das gedacht, dass ich noch einmal in den Armen einer... Lesbierin!» Und Chris war nur erschrocken über die Nähe die ses Kicherns. «Jetzt hör mal auf mit dem Scheiß, ich versuche dir zu helfen...» «Ich weiß», sagte sie, legte den Kopf in den Nacken, bot ihr den Hals an, wie ganz zu Anfang, als sie am Straßenrand gestanden hatte, nur so anders, dass sich Chris auf die Lippen biss. Ihr weißer Atem, als sie sagte: «Schade, was fehlt, ist der Mond. Leider kein Mond da.» «Der Mond ist immer da», erwiderte Chris. «Man sieht ihn bloß nicht. Und nur weil man etwas nicht sieht...» «Chris-Christine, du bist mit Abstand der... uuh, ist mir schwindlig, ich glaube, ich muss mich...» Und schwankte nach vorn, sodass Chris augenblicklich nach hinten gegen die B-Säule ihres Wagens gedrückt wurde. Chris spürte Gudruns schlangengleiche Hände, zuerst an ihrer Lederjacke, dann an ihrem Sweatshirt, dann an ihren Brüsten, immer auf der Suche nach Halt oder was auch immer, jedenfalls wanderten sie weiter und weiter, und Chris konnte überhaupt nichts tun, als Gudrun sagte: «Hey, Chris-Christine, hast du einen Revolver in der Tasche oder freust du dich nur, mich zu sehen?» «Ja, aber nur einen mit Gas.» Worauf Gudrun ihr das blonde Haar durchs Gesicht wischte und abermals in Kichern ausbrach. «Chris-Christine, du bist hoffnungslos... du bist der... du bist der... humorloseste... Mensch, den ich kenne.» Und ihre Hände, kühl und leicht, waren Chris mittlerweile so nah wie sonst nur ihre Waffen, die warm und schwer waren. Dennoch konnte sie das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden. «Oops, tatsächlich. Ist ja irre.» «Hey, gib das her. Die ist geladen.» Aber ihre eigene Hand ging ins Leere, denn Gudrun hatte sich unversehens von ihr gelöst. «Echt?» «Natürlich echt. Was dachtest du denn?» «Ts, ts, ts.»
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«Und ziel nicht auf mich, verdammt.» «Wieso, ist doch nur Gas.» «Los, gib her. Weißt du, was so ein Teil anrichten kann?» «Und wenn ich nicht will?» «Mensch, tu die Waffe weg.» «Dann komm nicht näher», sagte Gudrun und betrachtete den silbernen Revolver in ihrer Hand. Und als Chris einen Schritt auf sie zuging: «Oh-oh, ich sagte: nicht näher kommen.» «Tu die Waffe weg. Hier passiert noch ein Unglück.» «Ts, ts, ts», sagte Gudrun mit zur Seite gelegtem Kopf und diesem bekümmerten Lächeln im Gesicht. «Du bist nicht nur ein Feigling, Chris-Christine, du bist auch ein Lügner. Du hast mir gesagt, du hättest keine Angst, nachts allein in deinem Taxi, keine Angst. Und jetzt? Was müssen wir hier finden? Ts, ts, ts. Du bist ein böses Mädchen, Chris-Christine.» «Und hör auf, mit dem Ding auf mich zu zielen.» «Dann lass mich in Ruhe», sagte Gudrun, senkte den Revolver und ging mit schwankenden Schritten einige Meter auf das Haus zu, wo sich im selben Augenblick die Fenster im Erdgeschoss erhellten. «Ich wollte immer schon mal wissen, wie so etwas funktioniert.» Mit beiden Händen, so wie im Fernsehen, hob sie die Waffe gegen das Haus, und eher, als Chris gedacht hatte, ertönte ein kleiner scharfer Knall und verlor sich in den riesigen Bäumen und im nebligen Rachen des Universums. «Hey! Ist ja irre, geht ja ganz leicht. Man muss nicht mal fest drücken», rief Gudrun nach hinten und lachte. «Du bist wirklich ein böses Mädchen, Chris-Christine!» Zwei, drei, vier, fünf Mal knallte es noch ohne Hall durch die stille Nachtluft, dann nur noch Klicken. «Fünf», sagte Chris, die mitgezählt hatte, und sah Gudrun an, die immer weiter, aber immer vergebens abdrückte. Plötzlich ging hinten die Haustür auf, und ein Mann mit einem offenen weißen Hemd erschien auf dem Treppenabsatz. Er stand einfach nur da, rührte sich nicht, ebenso wie Gudrun, die ihn auch gesehen haben musste, ebenso wie Chris, die nur dachte: Kodak-Moment, ein Kodak-Moment. Denn
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sie alle, der Mann im hellen Rechteck der Haustür ebenso wie Gudrun ebenso wie Chris befanden sich während einer Spanne von wenigen Sekunden auf einer Achse, die identisch war mit dem Weg des Lichts aus der Tür. Dann war der Mann plötzlich verschwunden, und in dem nun silhouettenlosen Rechteck sah Chris, was sich vor Gudrun zusammenballte, eine galaktische Gaswolke, die in der Luft zu stehen schien, sich in Wirklichkeit jedoch, getrieben von einer unmerklichen Strömung und mit der unfehlbaren Gelassenheit der Kräfte des Bösen, auf Gudrun zubewegte. «Geh da weg», rief Chris. «Geh da weg, leg dich hin.» «Was?» Gudrun drehte sich um, lächelnd, den Revolver in der Hand, was auf Chris allerdings weniger befremdlich wirkte als ihre eigene Aufforderung, sich auf den Boden zu werfen. Aber die ersten Schwaden der Gaswolke hatten sie bereits erreicht, die Kräfte des Bösen umfingen sie. Sie ließ den Revolver fallen, riss die Hände vors Gesicht und sank in einer derart theatralischen Bewegung des Schmerzes zu Boden, dass Chris dem ersten Impuls, zu ihr zu laufen und ihren Kopf in ihre Arme zu betten, beinahe nachgegeben hätte. Als humorloser Profi jedoch, gewohnt, alles mitzubedenken, rannte sie statt in die Gaswolke zum Wagen, um die Wasserflasche zu holen. «Nicht reiben», sagte sie, als sie bei ihr war. «Du machst alles nur noch schlimmer.» Würgend kauerte Gudrun vor ihr auf dem Kies. «Dreh doch mal dein Gesicht zu mir, ich kann ja gar nichts sehen...» «Es geht schon», keuchte sie. «Es geht schon.» «Nicht reiben, verdammt...» «Lass mich, ich...» Sie richtete sich etwas auf, und ihr Nacken bildete eine perfekte Rundung, als sie ihre weinenden Augen betastete und immer wieder auf die schwarzen Tränen schaute, die ihre Finger benetzten. «Hier, spül dir die Augen aus», sagte Chris und bedrängte sie mit der Wasserflasche. «Das wird nicht besser, wenn du dauernd so reibst...»
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Doch Gudrun drehte ihren Kopf weg. «Nein, lass... lass», sagte sie, während die Tränen in ihre Hand hinabtropften. Auf einmal fing sie an zu kichern, und kichernd und mit fast kindlicher Verwunderung betastete sie ihre von Mascara und Eyeliner verschmierten Augen. Chris schüttelte den Kopf. «Na, wie sehe ich aus?» «Wie Rocky Horror. Aber warum tust du auch nicht, was ich sage?» Chris hob den Revolver auf, der sich gut anfühlte, als er wieder in ihrer Hand lag. «Mit so einem Teil kann man nicht einfach in der Gegend rumballern. Da gibt es einiges zu beachten.» «Ach Chris-Christine», sagte Gudrun und schaute sie aus seltsam glücklich verheulten Augen an. «Du bist wirklich der humorloseste und phantasieloseste Mensch, den ich kenne.» «Und billig. Du hast billig vergessen.» «Ach was. Vergiss das», sagte Gudrun und schniefte. «Und danke, dass du zurückgekommen bist. Sonst hätte es wieder geheißen, ich hätte etwas angestellt.» «Für diesen Abend reicht es», sagte Chris, musste jedoch ebenfalls lächeln. «Danke.» «Schon gut. Komm, ich bring dich zum Haus.» Und als Gudrun ihren Kopf gegen ihre Schulter lehnte, streichelte Chris ihr seidiges blondes Haar und überlegte nicht einmal, was die andere jetzt wohl von ihr dachte. An der Treppe vor dem Eingang drehte sich Gudrun zu ihr hin und sagte, ganz nah: «Ich weiß, du glaubst mir nicht, nach dem, wie es gelaufen ist. Aber ich hätte sie wirklich gern gesehen.» «Was denn gesehen?» «Deine Tattoos.» «Vielleicht das nächste Mal», sagte Chris, kniff die Lippen zusammen und hob zum Abschied die Hand. «Halt», sagte Gudrun, und Chris spürte die schlangengleichen Hände in ihrem Nacken, während Gudrun ihr einen Kuss auf die Wange drückte.
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Erst auf dem Weg zurück zum Auto fiel Chris auf, dass das Rasenrund, um das der Kiesweg verlief, eher einer Mud-Racing-Bahn glich, mit Reifenspuren, die sich tief ins Erdreich gegraben hatten, und Trümmern von Dingen, die einmal weiß und braun gewesen waren, aber auf jeden Fall zerbrechlich. Außerdem hatte die einzelne Kutschenlampe noch etliche Kollegen gehabt, die jetzt hingegen, allesamt in eine Richtung geknickt, den Wegrand säumten wie Gefallene. Saubere Arbeit. Aber sie wollte jetzt über nichts nachdenken. Und kaum hatte sie aus der Auffahrt zurückgesetzt, schloss sich hinter ihr das schmiedeeiserne Tor. Sie stoppte am ersten freien Halteplatz, wo sie das Wasser aus ihren Turnschuhen schüttete, ihre Socken auswrang und Radio und Funk wieder einschaltete. «Schön, dass ihr noch da seid bei dem Radio, das euch liebt und gut stimmt. In den nächsten zwei Stunden gibt es nicht nur was auf die Ohren, sondern auch was zu gewinnen...»
Als sie sich eine Zigarette anstecken wollte, konnte sie ihr Feuerzeug nicht finden. Sie suchte den ganzen Wagen ab, fand aber nur, zwischen den Sitzschienen, die beiden Hälften eines zerrissenen Hundertmarkscheins und ein Paar Pumps, und nicht einmal die große Patti Smith konnte sie trösten. «... Surely, goodness and mercy shall follow me all the days of my life. ini I shall dwell in the house of the lord forever. Damn, goddam, goddam, goddam. Here I am.»
«Zollstocker Treppchen», sagte der Funk. Und sie antwortete: «Der 409.» Sie hatte ihre Anschlussfahrt. Sie wollte jetzt über nichts
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nachdenken, aber etwas tat weh, als hätte sie etwas verloren, aber ganz anders als das, was sie in der letzten Zeit verloren hatte und das auf einmal völlig unwichtig war. «...jahrelang musste Frontmann Steve bei den Plattenfirmen in Los Angeles Klinken putzen, um das Fähnlein der hungernden Rock-'n'-Roller hochzuhalten, und dann avancierte er plötzlich zum Liebling der so genannten Alternative-Scene. Wenn ihr die Antwort wisst, ruft an, freecall, ihr kennt die Nummer. Wir verlosen unter euch eine echte E-Gitarre, um Popstar zu werden...»
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5 Die Periode der totalen Vermeidung
Dinge entwickelten sich, wuchsen. Besonders wenn man eine Weile nicht hinschaute. Das kleine Bäumchen etwa, auf dem Flachdach gegenüber von ihrem Küchenfenster, es sah aus wie eine Hand. Eine Hand, die aus dem Dach herauswuchs. Wovon ernährte es sich? Von Kies, Teer und Beton? Von den Menschen, die dort wohnten? Oder die schwangere Wölbung in der Wand hinter der Badewanne, wo selbst die Kacheln sich zu krümmen schienen. Welches Monster würde eines Tages aus diesem Bauch kommen? Chris beobachtete diese Entwicklungen, weil sie immer eine Botschaft enthielten. Zwar glaubte sie nicht wirklich daran, trotzdem war es gut, solche Dinge im Auge zu behalten. Genau wie Buchstaben änderten sich auch ganze Botschaften, wenn man eine Weile nicht hinsah. Früher als gewöhnlich saß Chris an diesem Morgen an dem kleinen Tisch in ihrer winzigen Küche, einen Toast mit Marmelade und eine Tasse Kaffee vor sich. Die Küche war der einzige Raum in ihrer Wohnung, der sich nicht verändert hatte, seit Yve nicht mehr da war. Und der einzige, der nicht leer war. Allerdings gab ihre Küche auch nicht viel her, denn wenn man nicht lesen konnte, konnte man meistens auch nicht kochen. Ihre neue Espressomaschine und der Sandwich-Maker waren weg, okay, aber das war wenig im Vergleich zu dem, was Yve sonst noch mitgenommen hatte. Nämlich praktisch alles, was sich Chris in den vergangenen zwei Jahren angeschafft hatte: ihr Futon-Bett, das Rattan-Sofa mit Tisch, zwei Schränke, das große Regal, die Waschmaschine, das beleuchtete Badezimmerschränkchen, die Lampen (außer denen an der Decke), die neue Stereoanlage mit S-fach CD-Wechsler. Übrig gelassen hatte sie lediglich ihre Klamotten (nicht Yves Stil, wie auch?), ihre Hip-HopCDs und ihre Xena-Videos (angeblich «voll pubertär») sowie ihren Fernseher und Videorecorder (denn Yve besaß ihren eigenen). Mitgenommen hatte sie außerdem - und das verwirrte Chris - die Pflanzen vor der verglasten Dachschräge im so genannten Wohnzimmer. Chris hatte nicht unbedingt an ihnen gehangen, sie waren
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lediglich eine Art Gardinen-Ersatz, damit nicht jeder reingucken konnte. Aber wie sah es in jemandem aus, der argloses Grünzeug wie Yucca und Ficus klaute? Die Frage hatte sie tatsächlich für längere Zeit beschäftigt, und sie war am Ende zu dem Schluss gekommen: wohl so ähnlich wie in Frauen, die Babys entführten. Das war ein völlig neuer Aspekt. Yve hatte etwas mitnehmen wollen, was man nicht kaufen konnte, etwas, das an einem bestimmten Ort gewachsen war und irgendwie zu diesem Ort gehörte, und beinahe hätte sie Chris Leid getan. Obwohl man Yucca und Ficus natürlich in jedem Supermarkt kaufen konnte - wie eines Tages wohl auch Babys. Aber darum, das merkte sie, ging es nicht. Dazu kam, dass Yve den Inhalt sämtlicher Schränke ordentlich in blaue Müllsäcke verpackt hatte, so, als sei es ihr wichtig gewesen, ihrer Plünderung den Anschein von Normalität zu geben, weniger aus Rücksicht gegenüber Chris als zur Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens. Chris war, trotz ihrer Erfahrungen mit Yve, zunächst darauf hereingefallen, hatte in den ersten Tagen sogar gehofft, dass sich, nur weil ihre Xena-Kassetten in der richtigen Reihenfolge in einem Bananenkarton verstaut waren, alles andere ebenfalls aufklären würde. Was natürlich nicht eintrat und also ziemlich bescheuert war. Yve war weg und... ... Chris saß allein in der Küche, schaute hinüber in ihr kahles Wohnzimmer im kalten Morgenlicht unter der verglasten Dachschräge und fragte sich, was dieser seltsame Raum in einem früheren Leben einmal gewesen war und womöglich sehr bald wieder sein würde, wenn sie hier rausflog, ein Taubenschlag, eine Fälscherwerkstatt, ein Observatorium? Die ganze Wohnung wirkte wie nachträglich aufs Dach des Wohnblocks geklebt, ohne echten Zusammenhang mit dem Rest des Gebäudes. Die Treppe, die von der obersten Etage zu ihrer Wohnungstür führte, war aus Eisen, und Rudi, klar, Rudi war sofort die primitive Installation aufgefallen. Auf jeden Fall sah nichts leerer aus als ein Zimmer, in dem sich nur ein Fernseher befand. Ein Fernseher und eine Hängematte, die im Augenblick aber, genauso wie der Schlafsack, zusammengerollt in der Ecke lag. Ordnung war wichtig, gerade jetzt. Dies und die Fähigkeit, immer nur das Nächstliegende zu tun. Drei Tage hatte sie auf dem Boden geschlafen, aber das war auf die Dauer sogar ihr zu hart. Dann
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hatte sie sich an die Hängematte erinnert, ein Geschenk von Rudi von der Karibik-Kreuzfahrt, die er und Chris' Mutter ein halbes Jahr nach dem Tod von Rudis Frau unternommen hatten. Rudis eigene Tochter Katie hatte Korallenschmuck bekommen, sie, Chris, die Hängematte, echte Handarbeit aus Cozumel und garantiert die Idee ihrer Mutter. Doch das sollte sich nun auszahlen. Der Moment, an dem sie das noch verschnürte Bündel aus dem Keller holte und genau unterhalb des Deckenbalkens auf den Boden knallte: Tschokk! Ein Geräusch wie ein Entschluss. Alles, was sie dann noch brauchte, waren zwei schwere Schraubhaken, um die Hängematte an den Deckenbalken zu befestigen. (Später, im Baumarkt, hatte sie sich allerdings gegen Schraubhaken und für Schraubringe entschieden, denn dafür benötigte sie zusätzlich noch zwei Karabinerhaken. Purer Luxus, zugegeben, in ihrer Situation, aber es sah nicht nur schöner aus, allein das professionelle Geräusch, das die Karabinerhaken machten, wenn sie nachts die Hängematte anbrachte, war den Mehraufwand wert.) Seitdem schlief sie einen Meter fünfzig hoch im bleichen Mondlicht, und wenn irgendwann die Blödmänner von rechts gegenüber die Festbeleuchtung auf dem Balkon abschalteten, konnte sie durch das schräge Glasdach sogar die Sterne erkennen. Behutsam fügte sie die beiden Hälften des Hundertmarkscheins aneinander und klebte sie mit dem vorbereiteten Tesastreifen zusammen. Perfekt. Es gab keinen Grund zur Sentimentalität, sie würde diese Frau nie wiedersehen. Aber ihretwegen hatte Chris nur vier Stunden geschlafen, war immer wieder aufgewacht in ihrer Hängematte, aus ein und demselben Traum, in dem sie am Steuer saß und diesen halb bekümmerten, halb spöttischen Blick aus den braunen Augen spürte, die aber jedes Mal nicht mehr da waren, sobald sie den Kopf wandte, nur Wasser, wo sie auch hinschaute, eine riesige schwarze Wasserfläche, auf der das Taxi zu schwimmen schien, ganz plastisch mit schönen und zerfledderten Büschen voller Müll. Und toten Schweinen und Fernsehern. Ganz krank von der Vergeblichkeit ihrer Versuche, den fremden Blick einzufangen, war Chris irgendwann aufgestanden. Es würde im besten Fall so enden wie immer. Und im schlimmsten so wie mit Yve.
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Sie trank einen Schluck lauwarmen Kaffee und griff nach dem Brief, der hinter der staubigen Sektflasche auf der Fensterbank lag, der Brief von Tina, zwei Monate alt, unbeantwortet seit dem Tag, an dem er gekommen war, einem Samstag im Januar, strahlend, stahlblau, eiskalt. Chris war einkaufen gewesen, und auf dem Rückweg hatte dieser Brief im Briefkasten gelegen. Eigentlich war zwar Yve mit Einkaufen dran, aber Yve nahm dazu neuerdings immer Chris' Portemonnaie («Nur heute, sei ein Schatz, dann muss ich nicht extra zum Automaten...»), und leider fehlte am Ende nicht nur das Geld für die eingekauften Lebensmittel. Wozu Chris immer geschwiegen hatte. «Bitte, lies mir das vor», sagte Chris, als sie in die Küche trat. «Komm, nerv mich nicht, ich bin gerade erst aufgestanden...» «Bitte, sei nicht so...» «... Manno, hast du eine kalte Hand, Frau. Geh weg.» Es war halb zwei nachmittags. Yve am Tisch in der winzigen Küche. Yve in ihrer silbernen, offenen Joggingjacke, die Löwenmähne aufgestützt über einer Schale extra starken Nescafes zwischen ihren vollen weichen Titten, senkte den Esslöffel mit genau fünf Aspirin vorsichtig in den schwarzen Sud, bis sie zerfallen waren. Chris nahm den Zuckerstreuer, es war ihr Ritual, das einzige, das sie hatten. «Sag stopp!» «Stopp!», sagte Yve und tauchte den Löffel mit Zucker und Aspirin gerade so tief ein, dass die Schwärze in den kleinen Hügel aus weißen Kristallen kroch wie die Kräfte des Bösen in ein reines Herz. Yve hatte ihre letzten tausend Mark - zweihundert stammten von Chris - an diese Modelagentur gezahlt und seitdem nichts mehr gehört. Sie hatte Jobs, angeblich bewegte sich etwas, wie sie sagte. Bloß was? Chris fragte erst gar nicht. Manchmal blie b Yve eine ganze Woche lang verschwunden, worüber Chris nicht unfroh war, dann wieder lag sie tagelang nur im Bett, in Chris' Futon-Bett («Du hast doch nichts dagegen?»), guckte fern und aß den Kühlschrank leer. Im Augenblick verzog sie das Gesicht und spülte die süße Pampe mit schwarzem Instantkaffee herunter. Instant musste es sein. («Sonst muss ich gleich wieder kotzen.»)
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«Na gib schon her», sagte sie dann. Chris hatte den Brief, aus Respekt vor allem Geschriebenen, noch nicht geöffnet. Yve schlitzte ihn am oberen Ende mit ihren spitz zugefeilten und silbern lackierten Nägeln auf und riss ihn dann, die gelben Blätter hervorzerrend, einfach in der Mitte auseinander. Ein Foto fiel aus dem seidigen Inneren, sofort knallte Yve die flache Hand darauf und fasste sich im selben Moment schmerzvoll an die Schläfe. «Aua!» «He, mach es nicht kaputt.» «Quatsch, wie denn?» Sie zog das Foto zu sich heran und betrachtete es kurz von beiden Seiten, ehe sie es zu Chris hinüberschnippte. «Da. Aussagekräftiges Ganzkörperfoto erbeten. Also hör zu: Liebe Chris, mein Gott, lila Tinte und mit Herzchen über dem i, das stirbt wohl nie aus, also: Liebe Chris, jetzt sind wir schon im neuen Jahr, und ich habe dir immer noch nicht geschrieben, ja, wieso auch, aber es ging alles so schnell, und es hat sich so viel getan, dass ich gar nicht dazu gekommen bin mit dem ganzen Stress, Stress e, t, e, bis alles wieder in der Reihe war, aber stell dir nur vor, es hat dann doch noch geklappt mit dem Job, das kleine Flittchen...» Tina hatte die unscheinbarsten Titten, die Chris jemals gesehen hatte, aber nicht deshalb hatte Chris nie mit ihr geschlafen oder auch nur schlafen wollen. Tina war einfach ihre erste und einzige, zuverlässigste und anhänglichste Freundin, die sie überhaupt im Leben gehabt hatte. Aber Tina war Materie und sie, Chris, Antimaterie, und es war an der Zeit, diesem fundamentalen Gegensatz Geltung zu verschaffen. Materie und Antimaterie gingen nicht zusammen, auch wenn es eine Zeit lang so ausgesehen hatte, sie löschten sich gegenseitig aus. Denn Tina hatte alles überlebt, die Siedlung, die beschissene Schule, eine allein erziehende Mutter, die Alkoholikerin war und sich nicht schämte, stundenlang vor ihrer Tochter zu heulen, während Chris, die der Anblick verlegen machte, die leeren Flaschen und Dosen zum Container brachte, weil es in der Wohnung schon anfing zu riechen. Doch die Kräfte des Bösen hatten nie Gewalt über sie gehabt, man sah das schon an Kleinigkeiten, beispielsweise an ihren Haarspangen oder der Art, wie sie einen Reißverschluss hochzog.
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Während Chris alles in sich aufnahm, das volle Programm, alle die negativen Teilchen, die sich Jahr für Jahr an sie anlagerten, bis sie sich nicht mehr rühren konnte, die Asi-Regeln der Siedlung, die Schule (für sie reine Zeitverschwendung), eine ehrgeizige, allein erziehende Mutter, die ihre Tochter hasste, weil sie nicht anders war, als sie war. Ach Tina... «... du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich war, endlich aus der alten Kanzlei weg zu sein, obwohl sie am Ende scheißfreundlich zu mir waren, aber das hätten sie sich früher überlegen müssen, ja, und umgezogen bin ich inzwischen auch, obwohl erst mal nur in eine WG, weil ich total pleite bin und hier alles so teuer nach dem ganzen Hin und Her e, t, c, zusammen mit einem Architekturstudenten, in Klammern schwul, und einer Stewardess von der Deutschen BA, die aber kaum da ist, sodass mein Leben hier sehr ruhig verläuft, was mir einerseits ganz recht ist, nur die Männer, die Tom, in Klammern der Architekturstudent, am Wochenende anschleppt, sind streckenweise ziemlich gewöhnungsbedürftig, Mann, die schreibt ja einen ganzen Roman...» «Lies weiter.» «... auch in der Arbeit klappt es prima, alle sind unheimlich nett und hilfsbereit, nicht so wie in der alten Kanzlei, obwohl ich mich natürlich erst einarbeiten muss, was leider mal wieder bedeutet Bänder schreiben, Bänder schreiben, Bänder schreiben, obwohl der Büroleiter schon gesagt hat, dass demnächst auch andere Aufgaben auf mich warten, ich hoffe bloß, ich kriege vorher nicht wieder eine Sehnenscheidenentzündung, aber die Probezeit ist ja bald vorbei, nur neue Leute kennen zu lernen ist hier doch schwerer, als ich dachte, es ist eben alles ganz anders als in Köln, so von den Leuten her, nicht so locker, neulich habe ich sogar überlegt, ich gehe mal zu so einer Single-Party, aber es war, weil ich mich ja hier nicht auskenne, es war eine Single-SCHAUM-Party, was immer das ist, ich hab nämlich gleich wieder kehrtgemacht, ja, lach nur, ich bin eben nicht so mutig wie du, aber man musste denen die Handynummer geben, dann bekam man eine andere dreistellige Nummer, die man sich ans Oberteil heften musste, kannst du dir das vorstelle n, und das in dieser verschnarchten Beamtenstadt, aber da hätte ich dann sowieso keine Schnitte... tja, schlecht, mit Tittchen 'wie Schneewittchen... denke ich
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mal, und mein Handy ist auch nicht wasserdicht, und ich bin auch keine Nummer. Ach, Chris, jetzt rede ich die ganze Zeit von mir... stimmt... aber sag, wie ist es dir denn so ergangen, fährst du immer noch Taxi, ich hätte dich vor meiner Abreise gerne noch getroffen, ich war ein bisschen enttäuscht, weil du dich nicht mehr gemeldet hast, ich habe mindestens zehn Mal angerufen, aber immer war nur deine Mitbewohnerin dran, die mir jedes Mal gesagt hat, sie hätte dir Bescheid gesagt... Moment mal, das stimmt überhaupt nicht...» «Ist doch egal.» «Gar nicht egal. Was schreibt diese kleine Schlampe da? Das ist glatt gelogen, hier hat überhaupt keiner angerufen, das wüsste ich.» «Ist doch jetzt egal, lies weiter.» «Fotze...jedes Mal, wenn ich hier ein Taxi sehe, muss ich an dich denken... wie rührend... besonders nachts, ich könnte das nicht, ich glaube, da hätte ich zu viel Angst, aber dann fällt mir auch wieder die Zeit ein, wo du mit mir immer auf dem Übungsplatz warst wegen AmBerg-Anfahren e, t, c, du weißt schon, ich habe dich immer bewundert, wie du das kannst, in Klammern naja, Kunststück, wo ich selber dreimal durchgefallen bin, hihi, aber mehr noch, wie du alle diese Straßen auswendig gelernt hast, damals dachte ich, hey, wie in Rain Man, die findet tatsächlich alles wieder, jede einzelne Straße, wo wir jemals gewesen sind, man brauchte es dir nur ein einziges Mal zu sagen, und es war wie abgespeichert, du bist ein richtiges Phäno, Phänomen, weißt du das, auch wenn das sicher nicht so toll ist, wie es sich anhört, ich habe mal im Internet nachgeguckt, es handelt sich um eine ernste Störung, die letztlich nicht heilbar ist, nicht so wie wenn man nicht einparken kann, das lernt man ja irgendwann, in Klammern oder auch nicht, trotzdem kann man eine Menge dafür tun, und es würde sich möglicherweise lohnen, darin etwas Mühe zu investieren, ruf mich doch mal an, auf jeden Fall waren wir schon ein verrücktes Paar, findest du nicht...» Die kleine Tina mit ihrem ostdeutschen Akzent, die immer die Beste in der Schule war und deshalb immer wieder von den anderen Mädchen herumgeschubst wurde, bis Chris dazwischenging mit ihren Fäusten und ihrer Wut auf alle und ihrer heimlichen Verachtung speziell gegenüber dieser anderen, die auch immer abseits stand, bis
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zu dem Tag, an dem sie zu Chris sagte: «Wenn du willst, kannst du von mir abschreiben.» Es war das Einzige, was sie hatte, das Einzige, was in dieser Umgebung nichts zählte und selbst wenn, das Einzige, mit dem Chris nichts anfangen konnte, außer der Art, wie sie es sagte. «... deswegen ist es ja so schade, dass wir uns jetzt etwas aus den Augen verloren haben, weißt du noch, die beiden Polizisten, so Jungsche, in der kleinen Straße, wo wir dachten, da kommt keiner und wo ich nicht in die Parklücke kam, wie die sich beömmelt haben, Mensch, und ich hatte ja noch keinen Führerschein, aber du warst ganz cool und hast gefragt, wie sie heißen e, t, c, und mit ihnen herumgeflirtet, und sie hatten ganz komische Namen, was ich im Nachhinein ziemlich egoistisch von mir fand, denn du hättest ja auch eine Menge Ärger kriegen können, zumal du gerade deinen Taxischein gemacht hattest, aber wenn ich heute so daran denke, dann war das die schönste Zeit überhaupt damals, besonders als wir dann noch nach Holland gefahren sind und die Nacht am Strand, das werde ich nie vergessen, und dann die beiden Typen in dieser Bar in Amsterdam, die wie verrückt am Baggern waren und uns eine Margarita nach der anderen ausgegeben haben, Gott, war mir hinterher schlecht... genau, und mit besoffenem Kopf soll man keinen Brief schreiben... aber egal, man muss nach vorne gucken, und bevor ich jetzt noch ganz traurig und deprimiert werde, höre ich lieber auf, schreib mir doch mal, in Klammern oh, sorry, oder wenn dir das lieber ist, schick mir ein Band, ich würde so gern wieder deine Stimme hören, aber anrufen will ich jetzt nicht mehr, und mit Bändern kenne ich mich halt aus, in Klammern hihi, ich umarme dich, deine Tina... PS: Und damit du keine Ausrede hast, lege ich dir einen Adressaufkleber bei, gemein, nicht?» Chris sagte nichts, sondern starrte auf das Foto in ihrer Hand. Tina vor einem Computerbildschirm in einem Büro. Den dunkelrot gefärbten Bubikopf leicht zur Seite geneigt, schaute sie von unten in den Blitz der Kamera, der außer einem leichten Lächeln und der sachlichen Designerbrille keine Konturen übrig gelassen hatte. Seit wann trug sie eine Brille? Und in dem hellgrauen Blazer glich sie eher einer Nachrichtensprecherin beim Fernsehen als einer Sekretärin. Chris legte sich keine Rechenschaft darüber ab, wie sie sich Tina in ihrem Job vorgestellt hatte, aber so jedenfalls nicht. Es versetzte ihr
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einen Stich, wie anders sie inzwischen geworden war, anders als sie, anders als Yve, anders als jeder, den sie kannte. Oder hatte sie das, was anders war, ebenso wie Tina selbst, damals nur nicht bemerkt? War also alles nur ein einziges, jahrelanges Missverständnis? Menschen wurden nicht über Nacht zu etwas ganz anderem, es kam nur heraus, was sie immer schon gewesen waren, weil alle die positiven und negativen Teilchen etwas Zeit brauchten, um sich zu sortieren. «Ich würde so gern wieder deine Stimme hören! Blöde Bürotusse», schaltete sich Yve ein, die schon bei einer Zeitarbeitsfirma gejobbt hatte. «Echt, da würde ich die Krätze kriegen, wenn ich so etwas noch einmal machen müsste.» Chris zündete sich eine Zigarette an und warf die Packung auf den Tisch. Yve griff sofort zu. «Das könntest du auch gar nicht», sagte Chris daraufhin, senkte jedoch sofort den Blick. «Wenigstens kann ich meine eigene Post lesen.» Sie nahm die Kaffeetasse zwischen beide Hände, als suche sie Schutz vor dem einzelnen Sonnenstrahl, der sich durch die grünen Flaschen auf der Fensterbank seinen Weg in die Küche suchte und als Allererstes auf ihre rötlich-goldenen Locken stieß und dann auf ihre silberne offene Joggingjacke. Mit nur halb gespielter Qual stand sie auf, nahm sich noch drei weitere Zigaretten aus Chris' Schachtel und sagte: «Mann, tut mir mein Arsch weh, das glaubst du nicht.» Bis zum Abend würde man sie nicht mehr sehen. Genau genommen sah sie Yve danach überhaupt nicht mehr. Endlich hatten sie ihr System der gegenseitigen Vermeidung perfektioniert, und es funktionierte volle sechs Wochen. Chris fuhr nur noch nachts, und wenn sie morgens gegen neun zurückkam, war Yve entweder gar nicht da gewesen oder gerade gegangen. Im zweiten Fall war das Badezimmer meist noch warm und dampfig, und ihr FutonBett, obwohl nicht mehr warm, roch nach Yve und Yves Parfüm. Yve sah es wohl nicht mehr ein, länger auf der Matratze zu nächtigen. In den ersten zwei der letzten sechs Wochen der totalen Vermeidung schlüpfte Chris jedes Mal schnell zwischen die Laken mit Yves Geruch und Yves Parfüm, stellte sich Yves kurz rasierte, rötlich-
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blonde Möse vor (Yve mochte es, wenn man ihr unter der Dusche zusah, anfangs zumindest), rieb dabei heftig an ihrer Clit, bevor sie ernst machte, sich ihre glatte, silbergepiercte Spalte einölte, um dann mit der ganzen Hand einzudringen, die sie erst mit ihren inneren Muskeln knetete, ehe sie sie zur Faust ballte und unter einer geübten Drehbewegung immer fester in sich hineinstieß, bis ihre Fotze weit offen stand. Wenn sie dann gegen drei Uhr nachmittags erwachte, angenehm wund und geweitet und noch feucht von dem Öl, in Yves Parfüm erwachte, glaubte sie einen kleinen Moment lang, Yve und sie hätten tatsächlich Sex gehabt, obwohl sie nicht sicher war, ob sie es tatsächlich noch wollte. Im zweiten Drittel der totalen Vermeidung entsprangen ihre Faustfick-Sessions immer mehr dem Wunsch, Yve zu bestrafen. Yve sollte wissen, wo sie sich breit machte, nämlich in ihrem, Chris', schönen Futon-Bett, ihrem Leben, und dass sie, wenn sie dies tat, einige Tatsachen zur Kenntnis nehmen musste, die an den Laken ablesbar waren, sie, Chris, war jedenfalls nicht länger bereit, immer so zu tun, als sei sie eigentlich gar nicht da. Doch ob und wie Yve darauf reagierte, erfuhr Chris nie, denn sie begegneten sich ja nicht mehr. Und dass Yve von sich aus die Bettwäsche wechselte, war auch vorher nicht vorgekommen. Stattdessen tat es Chris, denn Chris war der Profi, der die Verantwortung übernahm für alles, was passierte, sogar wenn Yve sich in ihrem Bett breit machte. Dass sie die Bettwäsche wechselte, sobald sie den Eindruck hatte, dass jemand anderes als sie selbst darin gelegen hatte, markierte Phase drei der totalen Vermeidung. Ihr war alles an Yve zuwider, der Yve-Dampf im Badezimmer, der Yve-Geruch im Bett, die nuttigen Klamotten, die überall herumlagen. Nicht einmal wichsen wollte sie zwischen all den fremden Sachen, denn fremde Sachen hatten eine Memory-Funktion, waren Zeugen gegen sie und mussten daher verschwinden. Wann begriff Yve endlich, dass sie hier nicht länger willkommen war? Auf eine gewisse Art, ihre Art, hatte sie es dann wohl begriffen. Und auf eine gewisse Art, ihre Art, konnte Chris erst dann wieder frei atmen, als sie in Nacht drei, nachdem Yve begriffen hatte, im bleichen Mondlicht in ihrer Hängematte lag.
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Aber warum bloß hatte sie sich nie mehr bei Tina gemeldet? Mannheim war nicht so weit, an den Wochenenden hätte sie gut kommen können, Platz gab es genug, und es wäre etwas gewesen, auf das sie sich hätte freuen können, ein Anlaufpunkt auf dem Ozean der Einsamkeit. Wieder einmal tanzen gehen im E-Werk oder im Cirra oder zur Karaoke-Night ins Van Dyke, mal dir einen Schnurrbart ins Gesicht, ich schlag dich beim Flipper... Aber der Brief war zwei Monate alt, und Tina war ein Checker. Tina war jemand, der alles überlebte und vermutlich längst wieder einen Freund hatte, genau wie früher dieser, wie hieß er noch gleich, genau, Jürgen, Jürgen, der ein Riesentheater gemacht hatte, sogar mitten in der Nacht zu Tinas Mutter gerannt war, nein, das war kein schöner Anblick, nur weil Tina und sie gemeinsam losgezogen waren und ihn nicht dabeihaben wollten, weshalb er sich dann gemeinsam mit der Mutter betrunken hatte und... und Tina, die die beiden am folgenden Morgen fand... ärks... war das widerlich, mit der eigenen Mutter. Natürlich alles Chris' Schuld. Chris starrte auf den Brief und zog das Foto hervor. Zwei Monate waren eine lange Zeit. Sie fragte sich, welche Haarfarbe Tina jetzt hatte. Auch Tina veränderte sich ständig. Besonders wenn man sie eine Weile nicht sah, musste man praktisch mit allem rechnen. Was sich nicht veränderte, war hingegen die winzige Schrift auf dem Briefumschlag. Lila Tinte, präzise wie mit einer Schablone. Das, was sie geschrieben hatte, war sie, Chris. Sie hatte ihren Namen auf den Umschlag geschrieben, und Chris wartete darauf, dass die Buchstaben anfingen zu tanzen. Aber das taten sie nicht. Sie erkannte alles ganz deutlich. Außerdem hielt sie es in dieser Wohnung ohnehin nicht aus. Sie musste raus, so oder so. Mit einem Flirren im Bauch, das noch von dieser Gudrun kam, und Tinas Beispiel... könnte es klappen! Sie hatte so etwas schon lange tun wollen. Sie brauchte so etwas, als Profi, oder nicht? Chris stand auf. Yes, Sir, sie würde nach den Sternen greifen, sie würde das Unmögliche versuchen. Die Augen der ganzen freien Welt waren auf sie gerichtet, und sie, Chris, würde jetzt da rausgehen und es tun.
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Und was jetzt? Sie hatte das Geld eingeworfen, aber da waren keine Knöpfe oder Tasten, die man drücken konnte, nur der blinkende Bildschirm mit einer Botschaft wie flirrende Regenschlieren, während Leute mit Einkaufswagen vorbeigingen, mit leeren vom, mit vollen zum Parkdeck, vorbei an Schlüsseldienst und Blumenmann und dem persischen Delikatessenstand, wo es phantastische Salate und eingelegte Sachen gab und wo man behandelt wurde, als gehörte man zur Familie, weswegen Chris dort immer mehr kaufte, als sie wollte. Aber jetzt stand sie vor diesem verdammten Ding, und ihr brach der Schweiß aus. Wahrscheinlich guckten sowieso schon alle. Wie hatte sie nur glauben können, es könne ihr gelingen? Ein verdammter Kartendrucker! Für ein paar Visitenkarten, die man als Profi gut brauchen konnte. Es wäre auch ein Zeichen gewesen, dass es weiterging mit ihr, dass sie sich nicht unterkriegen ließ - war das etwa zu viel verlangt, nur dieses eine Mal? Aber die Frage prallte an dem Bildschirm ab und ging zurück an sie, ebenso wie ihre Wut, und es würde auch gar nichts bringen, jetzt gegen den Apparat zu treten. Sie verachtete ja auch Leute, die an Flipperautomaten rüttelten. Sie starrte nur auf die flimmernde Mattscheibe wie in das Auge eines Götzen: He, was willst du, das ich tue? Was soll ich machen, sag's mir! Ich bin hier, ich bin hier! Goddam, goddam, goddam, HERE I AM! Ach, verdammt. «Na, klappt's?», hörte sie eine Stimme hinter sich und fuhr herum. «Coyote!» «Derselbe», sagte er und richtete seine grünen Shades auf sie. «Aber lass dich nicht stören, ich bin gar nicht da.» «Das bist du aber.» «Sorry. Soll ich wieder gehen?» Chris seufzte.
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«Okay, schon verstanden.» Er hob die Hand in Unschuld. «Wir sehen uns dann in der...» «Nein, warte. Dieses Scheißding, ich... das ist wohl zu hoch für mich.» «Wieso? Du brauchst nur... hier... auf den Bildschirm zu drücken, siehst du?» Und wundersame Dinge geschahen, als er, die Zigarette zwischen den Lippen und an Chris vorbei, das Auge des Götzen berührte. Etwas ging auf, und der Götze hatte sie vorgelassen. «Steht aber auch dabei.» «Klar, aber...», sagte sie. Und dann, unvermittelt: «Du bist ein Engel.» Es war sowieso zu spät, einen Rückzieher zu machen. Hatte er etwas gemerkt? Wo kam dieser Kerl eigentlich immer her? «Ich weiß», sagte er. «Aber jetzt musst du dich erst mal entscheiden.» «Was denn entscheiden?» «Welcher Karten-Typ du sein willst.» «Hör mal, kannst du das nicht für mich... ich...» «Nein, hör zu, hier steht's: Entscheiden Sie zunächst, welcher Karten-Typ Sie sind.› Und da haben wir... haben wir... haben wir: Business oder Fun, dann Freizeit, Romantik, Repräsentativ, Party oder Motiv... was meinen die mit Motiv? Aber das kann ich natürlich nicht entscheiden. Was für ein Typ, meinst du, bist du? Bist du der Romantische-Karten-Typ? » «Nein, ich...» «Dachte ich mir. Und Fun wohl auch nicht?» «Dann vielleicht repräsentativ?» «Hör mal, das ist unfair, ich...» «Party?» «...» «Okay, sagen wir mal Business, das ist nie verkehrt.» Er tippte auf ein Kästchen. «Ah, hier: ‹Motiv, ja oder nein›...?» «Möchtest du ein Motiv, Chris?» «Ein Motiv?»
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«Möchtest du ein Bildchen mit dabei, Chris?» Er tippte, und Zigarettenrauch kräuselte sich über seinen grünen Shades. «Hier sind jede Menge. Ein Herzchen. Möchtest du ein Herzchen, Chris?» «Blödsinn...» «Wieso? Ist doch ganz nett. Oder ein Pony?» «Kein Pony.» «Oder einen amerikanischen Straßenkreuzer? Nein, das ist wohl eher was für mich. Wie wär's mit einer Doppelaxt?» «Verarschen kann ich mich selber.» «Wirklich?» Die grünen Shades schauten sie an, Bezwinger des Götzen. «Okay, dann mach mal.» «Was?» «Schreib. Tu einfach so, als wäre ich nicht da.» «Wenn du dabei bist, kann ich das aber nicht.» «Okay, dann... ich fang einfach mal an, einverstanden? Also, wo sind wir? Hier, genau, erste Zeile: C-h-r-i-s-t-i-n-e... richtig so?» «Nicht Christine, nur Chris...» «Also dann: Kommando zurück und e-n-i-t wieder weg. So, das hätten wir. Und wie weiter?» Wortlos reichte ihm Chris den Brief mit Tinas Handschrift, Buchstaben, so ordentlich und konsequent, wie alles, was sie tat, und so unverrückbar, dass sogar Chris sich ihnen anvertraut hatte. Der Coyote peilte, den Brief von sich forthaltend, auf das Geschriebene und sagte: «Wie wird eigentlich dein Nachname ausgesprochen?» Chris sagte es ihm. «Muss man ja wissen...» Und als sie ihm schließlich auch ihre Handynummer gegeben hatte, sagte er: «So, fertig. Guck mal, ob alles richtig ist.» Doch sie fühlte sich beobachtet und sagte nur: «Ist okay. Und jetzt du.» Während der Automat mit einem murmelnden Geräusch die ersten Visitenkarten ausspuckte.
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«Nein, so etwas brauche ich nicht. Stammkunden schön und gut, aber ich mach das nicht mehr», sagte der Coyote. «Die Leute rufen immer an, wenn du gerade unter der Dusche stehst.» «Doch, mach mal.» «Und was soll ich schreiben?» Chris sah ihn herausfordernd an. «Schreib Coyote. Cajun Coyote.» Später, am Fenstertisch eines Coffeeshops, wo die Sonnenstrahlen mit ihren Ionen, Elektronen und Alpha-Teilchen seine Shades halb von hinten trafen, sagte sie: «Und sonst?» «Tja, frag die Engel», sagte er und strich mit der Hand durch sein gegeltes Haar. «Es hat sich ja wohl herumgesprochen, oder?» Chris sah ihn über den Milchschaum ihres Cappuccino hinweg an. «Weißt du, dass du aussiehst wie Nicolas Cage?» «Wer ist Nicolas Cage?» «Wie, du kennst Nicolas Cage nicht?» «Nein. War wohl nach meiner Zeit.» «Nicolas Cage, der Schauspieler.» «Kenne ich nicht. Und? Findest du ihn gut?» Chris zuckte mit den Schultern. «Es geht. Am besten ist er, wenn er so kaputte Typen spielt.» «Na, dann passt es ja», sagte der Coyote. «Entschuldige, so war das nicht...» «Schon gut.» «Was hast du eigentlich mit deinem Wagen gemacht? Man sieht ihn gar nicht mehr.» «Weg. Verkauft. Kein Cajun Coyote mehr. Meine Frau hat sich einen Anwalt genommen, und jetzt machen sie mich fertig. Ich besitze nichts mehr.» «Kenn ich.» «Ich meine, das allein wäre ja halb so schlimm. Aber ich darf mich ihr nicht einmal nähern, ich darf nicht mal meine Tochter sehen.
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Keine Ahnung, was sie diesem Rechtsverdreher erzählt hat, aber sie hauen mir die einstweiligen Anordnungen nur so um die Ohren.» «Das war ein schönes Auto.» «Das kannst du glauben. 1962-er Chevrolet Impala, 3-Gang-Automatik, 135 PS, rote Innenausstattung, das waren noch Autos damals. Und bis auf die Radkappen alles original. So ein Schlitten ist heute seltener als die großen. Aber wenn du ihn verkaufen willst, verkaufen musst, kriegst du trotzdem nichts mehr dafür. Und alles geht den Bach runter, geht drauf für Gerichtskosten und Anwälte und was weiß ich, ich begreife das nicht. Als ob sie noch möglichst viel kaputtmachen will, bevor wir uns endgültig trennen. Ich meine, das ist alles so sinnlos.» Er fuhr sich durch sein Haar. «Aber ich will dich mit dem Scheiß nicht nerven.» «Das tust du nicht.» «Weißt du, manchmal fühle ich mich, als würde ich immer weniger, jeden Tag ein bisschen weniger, bis irgendwann nichts mehr von mir da ist.» «Sag das nicht.» «Aber es ist auch meine eigene Dummheit. Ich hätte das alles schon sehr viel früher wissen können. Oder anders: Ich hab es gewusst und wollte es bloß nicht wahrhaben. Weißt du, wann mir das kla r geworden ist?» Er nippte an seinem doppelten Espresso und schüttelte sich eine Zigarette von der Packung direkt zwischen die Lippen, was cool aussah, aber auf eine Weise, die es schon lange nicht mehr gab. «Erzähl.» «Im Februar, als es so kalt war. Ich stehe am Halteplatz Roonstraße, der vor der Metzgerei, kennst du ja. Jedenfalls, es ist sieben Uhr abends, und jeden Tag um sieben Uhr putzt die Alte von der Metzgerei den Laden. Den Laden und danach die Stufen vor dem Laden. Jeden Abend und also auch an diesem Abend, nur leider sind an diesem Abend fünf Grad minus. Was soll's, es ist sieben Uhr, und sie putzt die Stufen, und innerhalb kürzester Zeit wird alles zu Eis, da kann sie wischen, wie sie will. Sie also geht zurück in den Laden und kommt mit einem neuen Eimer heißem Wasser zurück und versucht erst einmal, den Aufnehmer aufzutauen, der ist nämlich inzwischen festgefroren. Sie schüttet den Eimer Wasser über das Glatteis auf den
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Stufen, aber auch dieses Wasser gefriert sofort, also geht sie noch einmal zurück in den Laden und kommt mit einem weiteren Eimer heißem Wasser zurück und noch einmal und noch einmal. Vier Mal gießt sie heißes Wasser über die Stufen, die immer mehr zu einer Eislandschaft werden. Vier Mal, weißt du, was das heißt? Glaub mir, dieser Frau zuzusehen war phantastisch. Es war, wie soll ich sagen... absolut... es war, als würde man bei einem Experiment zugucken. Aber mir ist in diesem Moment etwas klar geworden...» «Was?» «Dass der Mensch blöd ist», sagte er, während Zigarettenrauch aus seinem Mund sprudelte. «Ich meine, jedes Kind weiß, dass Wasser bei null Grad anfängt zu frieren. Und diese Frau hatte den Beweis. Und nicht nur das, sie hat mit eigenen Augen gesehen, dass das Wasser friert. Trotzdem ist sie vier Mal mit neuem Wasser zurückgekommen. Ich meine, vier Mal, das ist eine erschütternde Zahl. Ich meine, man denkt, irgendwann muss sie doch mal kapieren. Aber nichts. Am Ende sehe ich den Alten, wie er das Eis mit dem Hammer wegklopft.» «Mann, so was Bescheuertes...», sagte Chris. «Lach nicht», sagte der Coyote. «Das kann jedem passieren, das ist es ja gerade.» «Ach komm...» «Im Ernst. Nicht so wie hier vielleicht, aber mit allem möglichen anderen. Deshalb macht man ja immer mehr oder weniger denselben Fehler. Selbst wenn man sieht, was passiert. Weil man denkt, dass bestimmte Naturgesetze vielleicht mal eine Pause einlegen, einfach weil es schöner wäre... Ich meine, damals, als wir geheiratet haben... es war wie ein neues Leben, es war so, als bekäme ich noch eine zweite Chance...» Er starrte in den Schlamm am Grund der Kaffeetasse. «Coyote», sagte Chris und schaute ihn an. «Schenkst du mir deine Sonnenbrille?» Der Coyote schien über die Frage nicht überrascht zu sein. «Geht nicht», sagte er, «sonst kann ich mich nicht mal mehr im Spiegel sehen. Und ein Weilchen bin ich noch hier.» «Spinner.»
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«Aber du kannst diese hier haben, ich brauche sie nicht mehr.» Er zog etwas aus der Brusttasche seiner Wildlederjacke. «Die ist blau.» «Blau ist auch nicht schlecht.» Chris setzte die blaue Sonnenbrille auf, und die Welt wurde blau. «Hier, ich habe noch etwas für dich», sagte er und hielt ihr zwischen Zeige- und Mittelfinger das Radarfoto aus dem Fahrerraum hin. «Du bist ein komischer Typ, Coyote.» Sie starrte auf das Gekrakel quer über ihrem Gesicht. «Diese dämlichen Ärsche», sagte sie. Die grünen Shades schauten sie an. «Was machst du eigentlich, wenn SKYC AB kommt?» «Wieso?» «Du kannst das nicht lesen, oder?», sagte der Coyote und zeigte auf das Foto. «Du verstehst nicht einmal die paar Wörter, die hier stehen, oder?» «Na und, dann lies sie mir vor.» «Nein.» «Na los, ihr seid doch alle gleich.» «Nein, das tue ich nicht. Und es wäre auch keine Lösung.» «Coyote, ich habe dir schon einmal gesagt: Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß.» «Aber was willst du tun, wenn SKYC AB wirklich kommt?» «Das ist noch nicht sicher.» «Verlass dich drauf, es kommt», sagte der Coyote, und Chris wusste, dass er Recht hatte. Der SKYC AB-Mensch war bereits da gewesen, an dem Morgen im Januar, als alle verfroren um den Vorführwagen herumgestanden waren und dieser Kerl das Prinzip von Datenfunk und Navigationssystem erklärt hatte. An diesem Morgen begriffen selbst die dämlichsten Ärsche vom Kölschen Klüngel, dass die Freiheit und Unabhängigkeit, auf die sie sich so viel einbildeten, für immer verloren war. Chris hatte den Stapel Visitenkarten hervorgezogen und schaute sie an.
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«Tja, dann gibt es keine verschobenen Fahrten mehr für das schöne Geschlecht», sagte der Coyote. «Quatsch, das stimmt sowieso nicht. Das behauptet ihr nur, weil ihr nicht so clever seid, das ist alles.» «Pass auf, irgendwann brauchen sie uns überhaupt nicht mehr», sagte der Coyote. «Dann kannst du jeden Heinz ans Steuer setzen, es geht ja alles wie von selbst.» «Lass uns von etwas anderem reden», sagte Chris, worauf sie beide hinausschauten in den verglasten Eingangsbereich des Einkaufszentrums, wo allmählich der Wachwechsel stattfand. Gehetzte Muttis hatten ihren Einkauf beendet, die Mail-Ratten fanden sich ein, Rentner, Schulschwänzer, Sozialhilfeempfänger, die sonst nirgendwo hinkonnten, eher gelangweilt beobachtet von der Security. Chris nahm die Sonnenbrille ab und begutachtete sie von allen Seiten, ehe sie schließlich ihr eigenes konvexes Spiegelbild in den blauen Gläsern sah. Hallo, Kugelfisch! «Bist du eigentlich noch mit dieser, wie hieß sie noch gleich, zusammen?», fragte der Coyote. «Yve?» «Hieß sie so, Yve?» «Woher weißt du das denn?», entgegnete Chris. «Sie war mal in der Zentrale. Hatte ihren Schlüssel verloren, schon eine Weile her.» «Davon weiß ich ja gar nichts.» «Sie haben dich aber gerufen. Und den Jungs sind fast die Augen rausgefallen. Mann, ein echter Feger.» «Ja, das stimmt... aber sie ist ausgezogen.» «Sei froh», sagte der Coyote. «War sowieso eine Nutte.» Chris setzte ihre Sonnenbrille wieder auf. «Wie kannst du so was sagen?» «Come on, Baby. Ich fahre seit hundert Jahren Taxi, okay? Ich erkenne eine Nutte, wenn ich sie sehe. Und du doch auch, oder? Du doch auch, wenn du ehrlich bist.»
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Chris senkte den Blick und schaute wieder auf den Stapel Visitenkarten vor ihr auf dem Tisch. «Misch dich da nicht ein», sagte sie. «Und pass auf, wem du die Dinger gibst. Ich bin vielleicht nicht mehr lange hier», sagte der Coyote. «Na und?» Chris schüttelte den Kopf. «Du Spinner.» Aber dann sagte sie: «Danke übrigens.» Und nahm den Stapel, um hinzuzufügen: «Aber nachdem du schon so viel über mich weißt, warum gibst du mir nicht auch eine von deinen - zum Abschied?» Der Coyote grinste und reichte ihr seine Karte, cool zwischen Zeigeund Mittelfinger. Chris schaute sie an, erst von der einen, dann von der anderen Seite. «Aber hier steht gar nichts drauf», sagte sie. «Schlauer Apparat, was? Lässt sich nicht täuschen. It's a mean Machine.» Als sie am selben Abend durch die triefenden Regenlichter der Südstadt kurvte, dachte sie, dass sie ihn noch etwas anderes hätte fragen können, nämlich ob er sich jemals in einen Fahrgast verliebt hatte. Natürlich hätte sie ihn das nicht wirklich gefragt, denn wer wusste schon, auf welche Gedanken er dann kam. Aber interessiert hätte es sie schon, und verrückt genug war er dafür.
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7 Das ist nicht mein Hollywood
Der Flughafen am Sonntagabend war ein unwirklicher Ort. Und wie schmutzig die gläsernen Hallen wirkten, wenn kaum Passagiere zu sehen waren, nur Leute in Uniform, die eine Enttäuschung bewachten. Trotzdem gab es natürlich Menschen, die so taten, als gäbe es ihn wirklich, ebenso wie sie taten, als seien die Destinationen auf den stummen Anzeigetafeln nicht vollkommen phantastisch. Einen von ihnen hatte Chris soeben vor Halle A abgesetzt und drückte sich nun, ohne Rücktour, hinter einem Catering-Truck herum. Aber es sah schlecht aus. Der Halteplatz weiter vorn war voll, und offenbar warteten sie dort auch schon länger. Manchmal, im Chaos der Koffer, ließ sich unauffällig ein eiliger Geschäftsmann aufgabeln, ohne dass sie sich vorne in die Reihe stellte, aber nicht jetzt. Die wenigen Leute, die aus der Drehtür nach draußen geschaufelt wurden, bewegten sich, ohne zu zögern, Richtung Busterminal. Und auch wenn es so schien, als seien sämtliche Taxen auf dem Halteplatz in den Tiefschlaf gesunken, hatten sie Chris vermutlich längst entdeckt und beobachteten sie genau. Klar, die Kerle ließen sich nic ht gern eine Fahrt wegnehmen, schon gar nicht an Frusttagen wie diesen. «For destiny, my china bird, is calling for you...»
Sie ließ das Dachzeichen ausgeschaltet und schaute hoch zu den Lichtern des Kontrollturms und dem rotierenden Radar. Sie fühlte sich im Einklang mit allem, das seine Aufmerksamkeit in den Himmel richtete, und hätte so einen Kontrollturm gerne mal von innen gesehen, von dort die startenden und landenden Maschinen beobachtet, die einen, die erst zu bloßen Lichtpunkten wurden, später zu Punkten auf einem Monitor, die anderen, die Lichtpunkte waren und sich im Anflug materialisierten. Nicht mehr lang und man konnte auch die Bewegungen eines Taxis genauso verfolgen wie die eines Fliegers, und was dann? Der Coyote hatte
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Recht. Was sollte sie dann tun? Wieder Brötchen ausfahren? Funkmietwagen? Kurierdienst? Aber selbst die hatten heutzutage diese kleinen Computer. Der Catering-Truck fuhr weg und ließ sie trotz der Mauer auf der Innenseite der halbmondförmigen Auffahrt fast wie auf dem Präsentierteller zurück. Im selben Augenblick sah sie sie aus der automatischen Drehtür von Halle B kommen. Sie trug einen dunklen Mantel, keinen hellen, aber Chris erkannte sie sofort an ihrem Gang und der Art, wie sie den kleinen Rollkoffer hinter sich herzog - wie etwas, das sie längst vergessen hatte, aber dennoch nicht loslassen konnte. Sie war höchstens zwanzig Meter entfernt. Chris kurbelte die Seitenscheibe herunter, zögerte. «Nein, nein, hierher», flüsterte Chris, als Gudrun an die Bordsteinkante trat, den Kopf in den Nacken legte, als wolle sie den Kräften des Bösen ihre Kehle anbieten. «Tu das nicht», flüsterte Chris. «Hier, guck nach links, hier bin ich, verdammt, nach links, nach links.» Wieder dieser spielerisch schlendernde Gang, bei dem sich jeder Schritt anscheinend erst im allerletzten Moment entschied. «Guck her, Gudrun, wo gehst du hin? Sieh hierher! Doch nicht zu den Ärschen vom Halteplatz, falsch, kalt, kalt, kalt!» Gudrun schlenderte auf den Zebrastreifen zu, der zum Busterminal führte. «Okay, gut, weiter, weiter, geh zur Busstation. Da kann ich dich holen, ohne dass sie mich sehen.» Doch abermals blieb sie am Bordsteinrand stehen. Chris' dunkle Augen konnten sie zu nichts zwingen. «Mensch, du machst mich wahnsinnig. Ja, schon besser, guck in meine Richtung, sei ein braves Mädchen. Hier, die alte Schrottkarre, erkennst du sie nicht? Hier bin ich! Heiß. Heiß!» Herrgott, was machte sie da? Zum einen sie, Chris. War sie eigentlich verrückt? Und dann Gudrun. Gudrun? Mit denselben überlegt-verspielten Schritten ging sie zurück bis vor die Drehtür von Halle B. Na gut, was sie jetzt tat, verstieß gegen alle Regeln, aber Chris war nicht bereit, diese Frau an die Kerle in der Taxireihe zu verlieren. Sie
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startete den Wagen, trieb den Diesel im Ersten und ohne Licht die zwanzig Meter hoch, bremste wie ein Gangster. Jetzt musste alles schnell gehen. O Gott, was machte sie da? Nur nicht nachdenken. Sie sprang aus dem Wagen und lief auf Gudrun zu. «Hey, hallo, kann ich dich mitnehmen?» Gudrun wandte den Kopf, ihr verschleierter Blick schien von weither zu kommen, ehe er sich an Chris erhärtete. Chris stockte das Herz. Was hatte sie sich eigentlich vorgestellt? Dass diese Frau sich an sie erinnerte? Und was wusste sie umgekehrt über diese Frau, außer dass sie eine Irre war? Sie hatte ja nicht einmal gewusst, wie schmal diese schnippisch geschwungenen Lippen werden konnten, und war trotzdem in ihr Leben eingedrungen. Man sollte das nicht tun, man sollte das einfach nicht tun. Sie war nicht besser als der Coyote. «Chris... Christine...», sagte sie, und ihre Lippen zitterten über dem dritten i, ohne sich ganz zu schließen. Immerhin hatte sie Chris wiedererkannt. «Was machst du denn hier?» Sie schien ehrlich überrascht. «Nein, ich war nur... ich habe nur zufällig gesehen, wie du...» Chris hob die Arme wie ein Idiot und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie hinten am Halteplatz einer ausstieg und an die Seitenscheibe seines Vordermannes klopfte. «Na, so ein Zufall!», sagte Gudrun spöttisch. «Ja, nicht?» Hinten öffnete sich eine weitere Wagentür, und ein zweiter stieg aus, ein Dicker. Sie waren jetzt zu zweit. Ein Schmaler und ein Dicker. Also doch! Sie hatten sie die ganze Zeit gesehen. Hatten abgewartet und kamen auf sie zu. «Hör mal, ich kann hier nicht stehen bleiben», sagte Chris. «Wieso denn das nicht?» «Ich darf eigentlich nicht mal mit dir sprechen», sagte Chris hastig und trat auf Gudrun zu, bis sie sich fast berührten. «Nicht mit mir sprechen?» Sie legte den Kopf zur Seite, und das halb ironische, halb bekümmerte Lächeln erschien auf ihren Lippen. «Bin ich denn so schlimm? Was haben sie dir über mich erzählt?»
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Der Dicke hatte seine Wampe in Bewegung gesetzt und trabte am Eingang von Halle C vorbei, der Schmale hinterher. Gott, die meinten das ernst! «Nichts, gar nichts. Aber darum geht es auch nicht, es ist nur: Ich bin noch nicht dran...», sagte Chris, wobei sie Gudrun einen Arm auf die Schulter legte. «Noch nicht dran?», fragte Gudrun so nah, dass Chris ihren Atem spüren könnte. «Nein», sagte Chris und sollte auch später noch lange nicht begreifen, warum sie Gudrun in diesem Moment küsste. Sie hatte es, ehrlich, gar nicht gewollt, es lag nicht an ihr, Chris, es lag nicht an Gudrun (trotz ihrer weichen, spöttisch geschwungenen Lippen), es lag auch nicht an den beiden Typen vom Halteplatz (die sich nur holen wollten, was ihnen gehörte, und Chris keine Wahl gelassen und sie, ja, genau, und sie geradezu gezwungen hatten, ihnen zu zeigen, dass dies hier eine Privatangelegenheit war, die sie nichts anging, was wäre denn die Alternative gewesen). Chris wusste später nicht einmal genau, ob sie oder nicht vielmehr Gudrun angefangen hatte zu küssen, denn sie hatte Gudrun zunächst auch gar nicht richtig geküsst, oder jedenfalls nicht auf den Mund geküsst, also fast eher nur so getan als ob, bis zu dem Moment, als sie den Kopf leicht nach links drehte, um durch Gudruns weiches blondes Haar hindurch zu sehen, was die beiden Kerle machten. (Sie waren stehen geblieben und standen doof da.) Erst in diesem Moment, nach dieser leichten Drehung, war es eigentlich passiert, dass Gudrun ihre Lippen öffnete (warum? warum? warum?) und Chris auch, oder vielleicht war Chris sogar die Erste, und dass sie dann beide nichts anderes tun konnten, als es geschehen zu lassen vor dem zugigen Eingang von Halle B, weil ja immer eines zum anderen führte oder es zumindest so aussah, als führte eines zum anderen, aber immer nur im Nachhinein, denn angefangen hatte es fast körperlos durch die Art, wie ihre letzten gesprochenen Worte endeten, durch einen Klang, eigentlich kein Klang, einen Hauch, ein Nichts, ein Nwie in Noch nicht dran?, ein N wie in Nein, das gar kein Nein war, sondern nur ein N, das nichts für sich wollte, ein N, das nur da war, langmütig, gütig und nicht wütend, das gab und nicht angab, nichts nachtrug, sondern ertrug, alles glaubte, alles hoffte, alles hinnahm, und niemals aufhörte, nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn...
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Chris begriff ja noch nicht einmal, dass sie in diesem Moment den ersten Buchstaben eines neuen Alphabets gelernt hatte. (G war eine Schlange, aber TV war kein Z, sondern die Wasserschlange.) Deshalb war sie auch die Erste, die die Umarmung löste. «Uuuuuh...», keuchte Gudrun und blinzelte sie an. Chris wusste plötzlich nicht mehr, wohin mit ihren Händen. Sie sagte: «Entschuldige, ich... ich...» Die Kerle glotzten immer noch, und Chris machte einen halben Schritt auf sie zu, doch Gudruns kühle Hand legte sich um ihren Hals und sagte: «Oder war das wieder nicht so gemeint? Wie schade! Wie gemein!» Chris senkte den Blick. Was sollte sie darauf antworten? Dass sie alles lieber selber kaputtmachte, bevor es andere taten? Dass sie den Mut, Gudrun zu küssen, überhaupt nur aufgebracht hatte, weil es gegen diese beiden Kerle ging, und nicht, weil sie hingenommen hätte, dass die andere, mit allem, was sie ausstrahlte, so viel stärker war als sie selber? «Weißt du, dass mich in vier Jahren hier keiner abgeholt hat? Oder nur, um mich zu kontrollieren?», sagte Gudrun. «Nein, das wusste ich nicht.» «Wie könntest du auch? Im ersten Moment dachte ich wirklich, du wärst meinetwegen hier.» «Immerhin bin ich da», sagte Chris, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte. «Stimmt. Und du warst nicht mal dran. Aber du fährst eine Menge Leute, Chris-Christine.» «Ich war nicht sicher, ob du überhaupt noch weißt, wer ich bin.» «Wieso denn nicht?» «Naja, nach dem letzten Mal...» «Ich weiß, was du denkst, Chris-Christine, und das ist gemein. Was haben sie dir über mich erzählt?» «Wer denn? Niemand. Mir hat niemand irgendetwas erzählt?»
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«Bist du sicher? Aber ich weiß trotzdem, was du denkst. Du denkst, weil ich nicht zurechnungsfähig bin, könnte ich mich auch an nichts erinnern.» «Nein, wirklich, das hat nicht das Geringste damit zu tun...!» «Nicht? Womit dann?» «Komm, ich nehme deinen Koffer», sagte Chris. «Auf jeden Fall sind wir jetzt quitt.» Erst später auf der Autobahn brach Gudrun das Schweigen. «Ich hätte dir vorhin eine knallen sollen.» «Mach doch», sagte Chris. «Jetzt nicht. Hier macht dir das nichts, das weiß ich. Aber vorhin, vor den Leuten. Und dann hätte ich mir irgendein Taxi genommen, nur nicht deines.» Sie hatte sich abgewandt und schaute aus dem Fenster. «Hast du eine Zigarette für mich?» «Hier, nimm dir», sagte Chris und legte die Packung aufs Handschuhfach. Der Lichtschein in der Windschutzscheibe war klein und kurz, bevor Gudrun den Rauch von sich blies. «Ich war in München, weißt du? Bei meinem Sohn und meinem geschiedenen Mann. Das hättest du nicht gedacht - dass ich einen Sohn habe? Ich meine, ich will ja gar nicht bestreiten, dass es ihm gut geht. Sie sind eine richtige kleine Familie da, mein Exmann, seine blöde Freundin, mein Sohn, und ich habe lange überlegt, ob ich sie überhaupt besuchen soll... Doch, und sie geben sich wirklich alle Mühe. Wir alle geben uns alle Mühe, uns wie erwachsene Menschen zu benehmen...» «Wie heißt er denn, dein Sohn?» «Tommy. Thomas. Er kommt im Herbst in die Schule, manchmal glaube ich selber nicht, wo die ganze Zeit geblieben ist», sagte Gudrun und inhalierte tief. «Aber für sie ist es leicht, leicht, sich wie erwachsene Menschen zu benehmen, ihnen wurde ja auch nichts weggenommen. Ich meine, ich würde nicht sagen, dass ich eine besonders gute Mutter war, aber wenn ich ihn heute in den Arm nehme, fühlt er sich an wie ein Fremdkörper.» «Ja, aber dafür kann das Kind nichts.»
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«Was weißt du davon?» «Kinder tun, was sie tun müssen. Verantwortlich für die ganze Scheiße sind Erwachsene.» Chris dachte an ihre Mutter. «Ich weiß. Und ich behaupte ja auch nicht, dass ich daran ganz unschuldig bin. Aber so, wie es heute ist, hätte es nicht sein müssen. Und das ist nicht meine Schuld. Und dann liegst du abends in diesem lächerlich kleinen Gästezimmer und bist nur froh, all diesen Blicken entronnen zu sein, und der Kleine kann sie noch nicht mal so gut verstecken wie sie. Als wäre ich ein... ein Monster, dem nicht zu trauen ist, keine Ahnung. Und früh am nächsten Morgen, wenn du in die Küche gehst, um dir ein Glas Wasser zu holen, merkst du, dass er in ihrem Schlafzimmer ist, zum Kuscheln, weil Sonntag ist und weil sie das am Sonntag so machen und... ich meine, das ist mein Kind, mein Kind, dazu haben sie kein Recht.» «Erwarte nicht so viel jetzt, das führt zu nichts.» Abermals wunderte sie sich über die eigenartige Vertrautheit, mit der sie zu Gudrun sprach. Obwohl sie sie doch kaum kannte, waren sie auf eine bestimmte Art so vertraut, dass sie sogar miteinander streiten konnten. Mit Yve hatte sie nie streiten können. Yve konnte sie nur aus dem Weg gehen. «Oh, Chris-Christine, ich wusste es, du hast doch ein weiches Herz. Aber du hast gut reden. Du hast ja keine Ahnung, wie schnell das geht. Und wie gründlich. Weißt du, in diesem Moment habe ich ihn gehasst, nicht nur meinen Mann und seine blöde neue Freundin - sie würde dir übrigens gefallen -, auch den Kleinen, obwohl er gar nichts dafür kann. Und das ist ihr Werk. Wie konnten sie das tun? Nicht mal an diesem Wochenende konnten sie darauf verzichten, sondern mussten mir zeigen, dass es mich im Grunde nicht mehr gibt.» «Ja, aber wie du zu deinem Sohn stehst, darüber entscheiden nicht sie, das ist allein deine Sache. Vielleicht ist es einfach wichtig, dass du trotzdem zu ihm stehst...» Gudrun warf die Zigarette aus dem Fenster. «Chris-Christine, ich habe dir schon einmal gesagt: Du bist der phantasieloseste Mensch, den man sich denken kann. Also spar dir deine Sprüche. Nur, als du dann plötzlich am Flughafen warst und... ich meine, ich mache dir
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keinen Vorwurf, verstehst du? Du bist der erste Mensch seit langem, der sich nicht anfühlt wie ein Fremdkörper. Ich sage nicht, dass du das ausgenutzt hast, obwohl... ich meine, es ist so erbärmlich, oder?» Chris griff zum Handschuhfach und nach den Zigaretten. Was jetzt kam, kannte sie schon. Das typische Hetera-Gesülze. Wussten nie, was sie wollten, und erwarteten ausgerechnet von ihr noch Verständnis dafür. Aber es war auch ihre eigene Dummheit. Sie ließ nach. Die vergangenen Wochen hatten sie nicht unbedingt stärker gemacht. Und alles für einen kleinen Moment der Schönheit, irgendetwas, auf das sie sich freuen konnte... «Wahrscheinlich», sagte Chris. «Wahrscheinlich ist es das.» «Nicht? Das findest du auch. Es ist erbärmlich. Vie lleicht werde ich meinen Sohn nie wiedersehen, und ich, was mache ich? Ich lasse mich...von einer Taxifahrerin... von einer Taxifahrerin! So weit bin ich schon.» «Ganz schön hart. Aber weh tut es eigentlich nicht, oder?» «Nein, das tut es nicht. Trotzdem, ich könnte mich ohrfeigen.» «Dann mach doch.» «Meinst du, ich bin eine schlechte Mutter?» «Da musst du deinen Sohn fragen, nicht mich.» «Du magst deine Mutter auch nicht?» «Wie kommst du denn darauf?» «Das höre ich.» Chris nickte. «Meine Mutter war beschissen. Aber ich habe es überlebt. Und dein Sohn wird es auch überleben.» «Das ist gemein. Warum bist du eigentlich immer so gemein?» «Mach das mit dir aus.» Sie waren ohnehin bald da. Chris fuhr durch die stillen nassen Straßen des Villenviertels und wunderte sich, wie viele Bushaltestellen es dort gab, fast an jeder Ecke, und das in einer Gegend, in der die Leute mindestens zwei Autos in der Garage hatten. «Bist du das?», fragte Gudrun. Sie hatte sich eine von Chris' neuen Visitenkarten von der Ablage genommen. «Ja.»
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«Chris-Christine S-c-z-e-s-s-n-y... Wie wird das denn ausgesprochen? » «So, wie man's spricht», sagte Chris und stoppte vor dem dunklen Gartentor. «Okay, da sind wir.» Gudrun fummelte an ihrer Handtasche. «Ich glaube, ich schulde dir noch etwas vom letzten Mal», und gab ihr ihre Kreditkarte. «Wir sind quitt.» «Das kannst du doch nicht machen. Wenigstens diese Fahrt.» «Wie du sagtest: Wir sind quitt. Außerdem habe ich keinen Rubbler dabei.» Und außerdem hätte sie auf dem Vordruck noch alle möglichen Sachen eintragen müssen, was sie nicht konnte. Und außerdem wollte sie nur noch nach Hause. «Rubbler?», lächelte Gudrun plötzlich, und Chris schaute in ihre runden braunen Augen mit diesen kleinen Fältchen an der Seite, die ihr ein eigenartiges Vertrauen einflößten. «Das Ding, wo man die Karte durchzieht. Ich gebe zu, das ist jetzt alles ungeheuer witzig.» Dann stieg sie aus, ging nach hinten und holte ihren Koffer aus dem Kofferraum, den sie entschlossen auf dem Bürgersteig absetzte. Beim Schließen des Kofferraums fiel ihr Blick auf die Pumps, die ganz hinten neben dem Glasrein lagen. Sie zögerte, schlug dann jedoch die Klappe zu. Gudrun ließ die Tür offen stehen, nachdem sie ausgestiegen war, und Chris schloss sie im Anfahren, wendete, ehe sich das Gartentor in Bewegung gesetzt hatte, und diesmal würde sie nicht zurückkommen. Sie drehte das Radio auf, trat den Diesel bis zum Anschlag und sang mit, so laut sie konnte und ohne auf die Worte zu achten. «... you'll always be there when I call, when I call, you'll always be there most of all, all, all, all...»
Vier Stunden später war Wega nicht mehr zu sehen. Wie auch? Es war zu spät, und selbst von ihrer improvisierten Dachterrasse aus war der
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Nordhorizont von Häusern verstellt. Die Luft kam ihr wärmer vor als in den vergangenen Wochen, aber auch dunstiger. Mit einer Weinflasche in der Hand stand sie vor der Balkontür und schaute in den Himmel. Das leere Wohnzimmer hinter ihr war dunkel. Sie nahm einen Schluck. Es gab auch viel Staub im Universum, zehnmal mehr, als man früher gedacht hatte, selbst in Spiralgalaxien wie der Milchstraße. Der Staub verschluckte das sichtbare Licht vor heißen Sternen und gab es als Infrarotstrahlung weiter. Trotz dieser Riesenmenge Staub war der Weltraum insgesamt ein reinerer Ort als das reinste Vakuum, das sich auf der Erde herstellen ließ. Sie trank einen Schluck Wein und ließ ihn in ihrem Mund hin und her fließen. Aber zumindest Arcturus war zu sehen. Arcturus, hellster Stern am Nordhimmel, vierthellster am gesamten Himmel. Man fand ihn, indem man die Deichsel des Großen Wagens verlängerte, ein auffälliger, gelb-oranger Stern, kaum zu verfehlen im Sternbild Bärenhüter. Den Himmelswagen kannte ja jeder, aber wenn sich der Himmelswagen im Dunst verlor wie der Rest des Großen Bären, dann musste man schon wissen, dass dies Arcturus war, vor allem wenn auch der Bärenhüter eigentlich nicht zu sehen war mit seinen vielen Doppelsternen, für die man aber ein richtiges Teleskop brauchte. Die Flasche an den Lippen, hielt sie inne. Sie hatte ein Piepsen gehört, war das ihres? Es gab so viele Handys und so viele verschie dene Klingeltöne. Die Handys auf den vier Seiten des Hofs verstummten eigentlich nie ganz, selbst nachts nicht, sie durchdrangen alles, sogar Träume. Sie setzte die Weinflasche auf dem Boden ab und ging in die Diele vor ihrer winzigen Küche. Um diese Doppelsterne auch als zwei Sterne sehen zu können, hatte sie daran gedacht, sich einen Feldstecher anzuschaffen, am besten in dem kleinen Laden halb zwischen Bahnhof und Eigelstein, wo es alle möglichen Sachen gab, die man gut brauchen konnte, wie zum Beispiel ihre Gaspistole, auch solche, die verboten waren, das heißt Sachen, die man zwar kaufen durfte, aber nicht benutzen, oder kaufen oder gleich weiterverkaufen musste wie zum Beispiel ihren Stunner... Nein, das war der Stunner, wo war ihr Handy? Da kaum jemand sie anrief, hatte sie nie diesen quasi verwandtschaftlichen Instinkt aus-
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gebildet, mit dem man das eigene Handy aus Tausenden anderer heraushörte, aber es hatte definitiv geklingelt, denn es war ja keines mit Vibrationsalarm... ... wie zum Beispiel ihr Stunner, wo die 320.000 Volt auch nur auf dem Papier standen, denn wenn man im Inneren des Geräts an einer Schraube drehte, ließ sich dieser Wert deutlich erhöhen, was allerdings illegal war. Das heißt, der Stunner an sich war le gal, die Schraube im Inneren war legal, die Schraube als solche, als bloße nackte Schraube, war legal, nicht jedoch das Drehen daran. Der freundliche Verkäufer, der nach eigenen Angaben viele Taxifahrer zu seinen Kunden zählte, hatte ihr gezeigt, wo, damit sie nicht aus Versehen daran drehte. Und im Planetarium hatte sie erfahren, worauf man beim Kauf eines astrotauglichen Feldstechers zu achten hatte. Aber daran war jetzt natürlich nicht mehr zu denken, so pleite, wie sie war. Endlich hatte sie das Handy gefunden. «Ja?... Wer?... Gudrun?... Nein, ich habe noch nicht geschlafen... wieso?... Nein, ich bin gerade erst nach Hause gekommen...» Das Handy am Ohr, ging sie zurück zur Balkontür, nahm die Weinflasche vom Boden, trank einen tiefen Schluck, dann noch einen und noch einen und starrte hinaus auf den dunklen Hof. Die kleine Mansardenwohnung genau gegenüber war nicht mehr leer. Nach dem Auszug des letzten Mieters zwei Monate zuvor hatte sie fast mit Erschrecken bemerkt, wie genau man die verschossenen Tapeten erkennen konnte, wenn die Gardinen nicht mehr da waren (und wie genau erst mit einem Feldstecher!). Jetzt hingen dort neue, weiße Jalousien, aber das Fenster war immer noch dunkel wie in der vorhanglosen Zeit. «Nein, du störst mich gar nicht... Nein, ic h bin auch nicht sauer... Und wann?... Tut mir Leid, um die Uhrzeit fahre ich noch nicht, warum rufst du nicht die Sammelnummer an?... Von zwei bis zwei, etwa... von zwei Uhr nachmittags bis zwei Uhr nachts, ich kann mir das aussuchen. Aber halb zehn ist mir einfach zu früh... Nein, ich bin nicht sauer, es gibt überhaupt keinen Grund, sauer zu sein, aber ich muss irgendwann auch schlafen.»
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Sie lehnte sich an den Türrahmen, steckte sich den Daumen der Hand, welche die Weinflasche hielt, in die Hose und kratzte sich den Venushügel, den sie mal wieder rasieren könnte. Und da sie sich stark fühlte, versuchte sie, sich die Situation vorzustellen, in der diese Gudrun sie anrief, erhielt aber kein klares Bild: Ein Seidenpyjama, ein weißer Bademantel mit Spuren von Make-up, ein Telefon mit total verdrehter Schnur, Tablettenschachteln, Unheil. Split-Screen wie aus Hollywood. Zwei Menschen, die nachts miteinander telefonierten, obgleich sie sich kaum kannten. Vertrautheit. «Hör mal, du kennst mich doch gar nicht, du weißt nichts über mich...Jetzt übertreib mal nicht... Und es ist mit Sicherheit ganz anders, als du denkst... Und wie du selber gesagt hast, fahre ich nur Taxi, aber ich bin... hallo...?, aber ich bin nicht irgendjemand, und man kann mich nicht kaufen... So, das weißt du?... Du musst dir mal überlegen, was du an einem Abend so alles von dir gibst...Ja, vielleicht. Aber ich schwalle die Leute nicht zu... Genau das ist meine Meinung... So ein Blödsinn, wem sollte ich das denn sagen? Es ist mir auch egal, was du wieder angestellt hast, wie du das nennst... Nein, hör zu, vielleicht rufst du einfach die Zentrale an, da ist immer jemand da... Schön, du hast zurzeit keinen Wagen... Deshalb sage ich ja: Ruf die Zentrale, die kommen sofort. Das ist überhaupt nicht gemein, sondern... Schuhe? Was für...? Ja, die habe ich noch... Ich bring sie dir vorbei, wenn ich... hallo? Nein, dafür bin ich überhaupt nicht verantwortlich... Nein, das ist nicht wahr, nur für das, was im Kofferraum liegt. Was du im Wagen liegen lässt, ist dein Problem... Doch, da kannst du gerne nachfragen... Hör mal, wenn du in der Bahn deinen Schirm vergisst, dreht der Zug auch nicht um und bringt ihn dir vorbei, Taxis sind öffentliche Verkehrsmittel... Stimmt, das habe ich getan... weil ich den Eindruck hatte, dass es dir nicht gut geht und weil ich dich nicht allein da unten am Wasser lassen wollte... Okay, das schon...Ja, ich geb's zu, na und? Ich geb's zu, ich habe mich... hallo? Aber du hast dich, was das angeht, ja auch sehr klar ausgedrückt. Und der eigentliche Punkt ist: Du hast vollkommen Recht. Deshalb... Nein, ich hätte das nicht tun dürfen, und ich entschuldige mich dafür... Na gut, dann nimmst du meine Entschuldigung eben nicht an, aber das bedeutet nicht, dass... und außerdem verstehe ich dann nicht, weswegen ausgerechnet ich dich abholen soll... Nein, das habe ich überhaupt
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nicht gedacht, im Gegenteil... Und nur, weil andere Leute dich so behandeln, bedeutet das nicht, dass ich es auch tue... Ich behandle niemanden so, aber ich lasse mich auch von niemandem so behandeln, klar? Klar?... Verdammt, du bist eine erwachsene Frau... Hör mal, mich behandeln auch alle wie Scheiße, aber deswegen breche ich nicht gleich zusammen, und ich heule auch nicht so rum deswegen... Mann, du hast alles, was du dir nur wünschen kannst, du siehst gut aus und kannst machen, was du... hallo?... Na gut, okay, du hast Recht, ich weiß das nicht, aber ich -weiß, dass du... genau das sage ich ja die ganze Zeit... also... nein, bitte nicht... Was ist denn so schlimm daran, wenn du... Bitte hör auf zu weinen oder ich... hallo?... hallo?... komm sag was... sag was... ich kann sonst nicht... Na gut... okay...ja. Die Antwort ist Ja. Aber ich brauche so eine Scheiße nicht, okay? Ich habe Ja gesagt, oder nicht? Halb zehn... sicher. Bis dann...Ja, ganz bestimmt... Wir sehen uns dann, halb zehn.» Als auch das Rauschen in ihrem Handy verstummt war, schaute sie auf ihre Armbanduhr und sagte: «Mann!» Und als sie die Weinflasche vom Boden nahm, fühlte sie sich unendlich stark in dem Wissen, dass sie einen Fehler gemacht hatte, der ihr aber nichts anhaben konnte. Außerdem war sie einfach zu müde, um darüber nachzudenken.
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8 Die kleinen Arkanen
Chris war früher da als verabredet und parkte ihr Taxi auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem schmiedeeisernen Tor, um später nicht wenden zu müssen. Sie schaute in den Innenspiegel und strich sich mit der angefeuchteten Hand über ihre immer noch sehr kurzen Haare, um ihnen wenigstens die Andeutung einer Richtung zu geben. Sie hatte unruhig geschlafen und befand sich in einem überwachen Zustand, für den sie später, das wusste sie, noch bezahlen würde, in den langen Mittagsstunden, wenn die Müdigkeit wie eine graue toxische Welle über ihr zusammenschlug. Schon öfter war sie mitten am Tag an ihrem Halteplatz eingeschlafen. «Chris, du bist völlig bekloppt. Für eine Fahrt!», sagte sie zu sich selbst, aber eher, weil sie meinte, es sich schuldig zu sein, als aus Überzeugung. Sie würde ihren Ent-schluss, sich zu verlieben, sowieso noch früh genug bereuen, denn wenn es überhaupt ein Entschluss war, dann einer über die totale Kapitulation. So, als hätte sie, die sonst niemanden an sich heranließ, nur auf die eine gewartet, zu der sie endlich und immer und immer wieder sagen konnte: «Mach doch! Mach, was du willst mit mir!» Und welche Frau wollte das schon? Und dann noch auf Dauer? Chris war ja keine siebzehn mehr, sondern vierundzwanzig, und wusste, dass ihrem Wunsch nach vollständiger Unterwerfung etwas Gieriges innewohnte, vor dem die anderen zurückschreckten, vielleicht weil sie ahnten, dass Chris' wahres Ziel die eigene Auslöschung war und dass sie, die andere, nur Verachtung traf, falls es ihr nicht gelingen sollte oder wenn sie, siehe Yve, vorher sogar jedes Interesse verlor, ihr, Chris, auch nur wehzutun, siehe die blauen Müllsäcke, sondern nur noch ihren kleinen egoistischen Vorteil im Sinn hatte. Letzteres dachte sie aber nur ganz selten, etwa, wenn sie nachts, gewärmt vom Alkohol, auf ihrer improvisierten Dachterrasse saß und einzelne Sterne zu Sternhaufen und Nebelobjekten verschwammen, Magellan, Orion, Andromeda, wo sie neulich einen Stern nach Kate Winslet benannt hatte, gerade mal 300 Lichtjahre ent-
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fernt. Denn sie wusste natürlich, dass dieses Konzept vom Ansatz her ziemlich bescheuert war, genauso wie ihre Art, Menschen nach Schauspielern ein zuteilen. Kurz und gut, in der Praxis sah es so aus, dass sie sich, auch wenn sie darunter litt, bevorzugt in heterosexuelle Frauen verliebte. Deren Überlegenheit stand von Anfang an fest. Sie konnten Chris auf eine Art verletzen, wie es die berechnendste Szeneratte nicht konnte, und auch daran war nur ihre Scheißmutter schuld. Doch vor der totalen Kapitulation gab es eine Phase euphorischer Stärke, die sich lang hinziehen konnte, aber trotzdem immer nur Vorspiel war. In dieser befand sie sich jetzt. Eine Bewegung im linken Augenwinkel ließ sie hochblicken, und sie sah gerade noch, wie ein dunkler Daimler das Grundstück verließ. Komisch, sie hatte gar nicht gemerkt, dass das Tor aufgegangen war. Sie schaute auf das Haus dahinter, ein grauer, dreistöckiger Kasten mit herrischen Simsen und streng blickenden Fenstern, wahrscheinlich noch vor dem Krieg gebaut wie vieles in dieser Gegend. Jedenfalls waren die Bäume ringsum riesig und uralt, was im Sommer schön duster sein dürfte. Auf der rechten Seite des Gebäudes befand sich eine Doppelgarage, die an eine kleine Feuerwache erinnerte, links ein Wintergarten aus neuerer Zeit, doch alles umgab die Aura einer leicht verwitterten Pracht - für Chris ein Indiz, dass hier Leute wohnten, die es längst nicht mehr nötig hatten, irgendjemanden mit irgendetwas zu beeindrucken wie in anderen, so genannten besseren Gegenden. Bei Autos war es übrigens dasselbe, Chris merkte sofort, ob irgendein Proli am Steuer eines 7-er saß oder jemand, der nie etwas anderes gefahren war. Trotzdem stimmte etwas an dem Haus nicht, irgendeine verstörende Kleinigkeit, die allenfalls von ihrem Unterbewusstsein registriert wurde. Doch was immer es war, es hatte nichts zu tun mit dem aufgewühlten Rasenrondell vor dem Eingang. Ohnehin schaute Chris an diesem Morgen vor allem auf die Tür, aus der Gudrun heraustreten musste, deshalb bemerkte sie relativ spät, dass sie tatsächlich über den Seitenweg hinter dem Wintergarten auf sie zukam, fast erst in dem Moment, in dem sich das Tor öffnete, ein Kodak-Moment, den sie nie vergessen würde: Zwei Bewegungen unter dem hellen Märzhimmel und den lichten Bäumen, das sich öffnende Tor und sie, Gudrun, in ihrem taubengrauen Kostüm, die beinahe auf Zehenspitzen über den
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Kies ging, den Kopf leicht gesenkt, sodass ihr einzelne Strähnen ins Gesicht fielen, und der halb ironische, halb verschämte Augenaufschlag, als sich ihre Blicke begegneten, und irgendwo (aber wo? wo?) hatte Chris das alles schon einmal gesehen. «Schön, dass du die Zeit gefunden hast», sagte Gudrun, als sie im Wagen saß, und auch das war ein Satz, den Chris nie vergessen würde, weil ihn noch nie jemand zu ihr gesagt hatte, schon gar nicht in ihrem Taxi, wo ein solcher Satz geradezu absurd war, denn gerade Zeit hatte Chris ohne Ende, sogar viel zu viel Zeit , ihr Hauptaufgabe bestand geradezu in der Vernichtung von Zeit, die brauchte sie nicht extra zu finden. «Kein Problem», sagte Chris. «Du musst mich für einen vollkommen unmöglichen Menschen halten», sagte Gudrun, während ihr frisches, unkompliziertes Parfüm den Wagen erfüllte. Chris schüttelte den Kopf. «Du hast mich noch nicht erlebt.» «Ein bisschen schon, meinst du nicht?» Chris schaute kurz zu ihr hinüber und biss sich auf die Lippen, musste aber schmunzeln. «Und du bringst mich immer zum Weinen...» «Man ballert ja auch nicht einfach in der Gegend rum.» «Das meinte ich nicht», sagte Gudrun. Und dann: «Bin ich eigentlich sehr egoistisch?» «Keine Ahnung, ich kenne dich ja nicht.» «Schwalle ich die Leute zu, schwalle ich dich zu?» «Du meinst, weil ich das gesagt habe?» «Ich meine, wahrscheinlich ist schon die Frage egoistisch. Was sollst du schon darauf antworten?» «Ich könnte zum Beispiel antworten: Ja.» «Ich meine, mir ist das gestern erst klar geworden, als du das über meinen Sohn gesagt hast. Dass nic ht die anderen bestimmen, wie ich zu ihm stehe, sondern ich selber. Oder dass ich die Leute zuschwalle.» «Das war nicht so gemeint.»
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«Aber es stimmt. Wahrscheinlich bin ich wirklich so geworden. Aber als du das gesagt hast, gestern, habe ich mir vorzustellen versucht, wo du gerade bist...» «Lieber nicht. Kann man keinem zeigen.» «... oder was du gerade gemacht hast, als ich angerufen habe, ich meine, das ist normalerweise nicht meine Art, so spät... oder überhaupt...» «Das habe ich mich bei dir auch gefragt.» «Wirklich?» «Ja, warum nicht? Für was hältst du mich eigentlich? Meinst du, nur du könntest das?» «Nein, das wollte ich damit nicht sagen...» «Nur weil ich Taxi fahre? Nur weil du glaubst, ich wäre nichts weiter als eine blöde Taxifahrerin?» «Aber nein, das hast du vollkommen missverstanden...» «Sag jetzt nichts Falsches», entgegnete Chris und verzog ironisch den Mund, denn sie fühlte sich so ungeheuer stark, dass ihr sogar das gelang. Die Boutique lag in dem Karree zwischen Hahnenstraße und Ehrenstraße und war von innen weit größer, als es von außen den Anschein hatte. Chris hielt sich eng hinter Gudrun, als diese von der einzigen Verkäuferin begrüßt wurde, einem Mädchen mit dem Gesicht einer beleidigten Perserkatze und einer Figur, bei der sogar Chris von engen Pullis abgeraten hätte, Titten hin oder her. Chris fühlte Gudruns Hand an ihrem Arm. «Damit du mal endlich dein Geld bekommst», sagte Gudrun und ging mit großen Schritten zum Kassentresen, wo sie die Verkäuferin anfuhr: «Sag mal, Britta, warum stehen eigentlich diese Kartons noch am Eingang?» «Die hat UPS gerade gebracht.» «Das sehe ich. Aber dann mal schnell weg damit.» «Und wohin?» «Wohin, wohin? Ins Lager natürlich.» «Da ist alles voll», entgegnete diese Britta patzig.
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«Dann in den Keller. Soll ich das jetzt auch noch selber machen?» «Im Keller ist auch kein Platz mehr. Die viele Ware, die Sie in den letzten Wochen bestellt haben...» «Die Ware lass mal meine Sorge sein , du tust gefälligst, was ich dir sage», entgegnete Gudrun und tippte etwas auf das Tastenfeld der Kasse. «Warum geht denn die Kasse nicht auf?» «Frau Reiter hat den Kassenschlüssel», maunzte die beleidigte Perserkatze, während sich Chris mehr und mehr von den vielen Spiegeln beobachtet fühlte. Sie hätte jetzt gern ihre Coyote-Shades dabeigehabt. «Und wo ist Frau Reiter?» «Sie kommt heute etwas später, sie musste zum Zahnarzt, ihr ist das Provisorium rausgefallen.» «Was für ein Provisorium?» «Von ihrer Brücke das Provisorium...» «Na toll. Muss ihr das gerade am Montagmorgen einfallen?» Gudrun zog ein kleines blaues Buch aus der Handtasche und schrieb etwas, das sie anschließend dieser Britta hinhielt. «Dann geh mal zur Bank und hol etwas Wechselgeld, das ist ja kein Zustand hier.» «Aber Frau Reiter hat gesagt, Sie sollen auf keinen Fall allein im Laden...wir sollen immer zu zweit im Laden sein.» Und Chris wusste nicht mehr, wo sie hinschauen sollte, als sich Gudruns Brauen zusammenzogen, als sie diese schmale n Lippen bekam und diese kalte Macht aus ihren großen braunen Augen loderte wie in Xena, dritte Staffel, Folge 22, wo Gabrielles böse Tochter Hope endlich aus ihrem Kokon herauskam, wiedergeboren als Tochter von Dahaak, Göttin des Blutes, und sagte: «Hallo, Mutter!», eine Stelle, die Chris bis in die letzte Millisekunde hinein kannte, weil sie so irre war und wo Gabrielles Tochter, eigentlich ja Gabrielle selbst, denn es war eine Doppelrolle, diesen Blick hatte, den man hören konnte wie das fürchterliche Brausen im Inneren einer Turbine, ein Blick, dem die Schwerter an der Wand gehorchten, die sich alle auf Xena richteten und loszischten wie lebendige Raketen, die schönste aller schönen Kampfszenen, Xena allein gegen Dutzende von fliegenden Schwertern, auch wenn da noch etwas anderes war, etwas Wichtiges, das ihr
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im Augenblick nicht einfiel. Sie musste sich die Folge noch ein weiteres Mal ansehen. Vorerst sagte sie nur: «Macht doch nichts. Hat doch Zeit.» «Hör mal», sagte Gudrun zu Britta, der Verkäuferin, «wer führt dieses Geschäft eigentlich, Frau Reiter oder ich?» «Sie natürlich», sagte die andere. «Also?» Gudrun verfolgte Britta mit ihrem gnadenlosen Blick, bis die Ladenglocke klingelte und sie verschwunden war. Dann sagte sie, den Blick immer noch zur Tür gerichtet: «Die ist auch nicht mehr lange hier, das schwöre ich dir», wobei ihre Linke aber durch Chris' kurze Haare fuhr, als suche sie Halt an etwas, das kein Fremdkörper war. Als Chris sie ansah, wandte sie sich ab und sagte: «Na, gefällt's dir? Das ist also mein kleines Reich.» Und beschrieb mit einem nachlässig gestreckten Arm einen Halbkreis über die Drehständer und die lange Wand mit Regalfächern, die aussahen wie von innen illuminierte Grotten oder Katakomben und die jedes Kleidungsstück in ein fast überirdisches Licht tauchten. Mit Erstaunen stellte Chris fest, wie viele verschiedene Orangetöne es gab, wie viele Rots und Gelbs, dieses Leuchten überall, so, als sähe sie diese Farben zum ersten Mal. Und wie unauffällig und harmonisch dagegen ihr eigenes Bild in den Spiegeln. Als sei sie in dieser Welt willkommen, Teil eines natürlichen Ganzen, trotz ihrer verwaschenen Jeans, ihres farblosen Sweatshirts und der zu großen Lederjacke - und nicht vorgeführt nach Art dieser brutalen Gegenüberstellung wie dort, wo sie sonst immer einkaufte. «Hier arbeitest du?», fragte Chris. «Sozusagen. Der Laden gehört mir», antwortete Gudrun und legte ihre Linke auf den Kopf einer nackten, filzbespannten Schaufensterpuppe, wobei sich ihre Finger auf dieselbe Weise verkrampften wie zuvor bei Chris. Aber als hätte sie irgendwo tief in sich einen Schalter umgelegt, sagte sie: «Du, das ist mir wirklich peinlich. Jetzt lassen wir dich auch noch warten. Kann ich dir wenigstens einen Kaffee anbieten?» «Das ist schon in Ordnung.»
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«Oder... nein, warte, ich habe eine bessere Idee.» Und mit diesen Worten fing sie an, zwischen den Drehständern zu wirbeln, zog, vor sich hin summend, einzelne Teile heraus, verwarf sie wieder, griff dafür anderswo zu und rief nach hinten, wo Chris stehen geblieben war: «Vierzig oder Zweiundvierzig?» Chris zuckte die Schultern. «Hör mal, du kannst ja später anrufen, okay? Das ist alles nicht wichtig.» «Unsinn. Jetzt, wo du schon mal hier bist.» Und kam mit einem Arm voller Hosen zurück. «Hier, probier mal», sagte sie und zog den Vorhang einer Umkleide zurück. «Nein, wirklich, ich... Außerdem stehe ich im Halteverbot.» «Warum denn nicht? Wenigstens diese eine Hose.» Sie trat einen Schritt zurück, betrachtete Chris und runzelte die Stirn. «Warum trägst du eigentlich nur so Schlabberklamotten? Dir stehen doch ganz andere Sachen.» «Ja, aber... nicht heute, okay?» «Du bist ein Feigling, Chris-Christine. Also zieh dich schon aus. Sieht ja keiner.» Chris seufzte. Ausgerechnet heute, da sie ihre ältesten Boxershorts anhatte. Sie zuckte zusammen, als Gudrun ihr die Lederjacke abnahm. «Himmel, was hast du denn da alles in deiner Jacke? Komm, zieh die Hose aus. Nur zum Anprobieren.» Aber dann, als Chris völlig wehrlos vor ihr stand, tätschelte sie ihr mit einem nachsichtigen Lächeln den Hintern und sagte, genau wie Chris befürchtet hatte: «Aber diese Shorts würde ich lassen. Oder eben nur zum Schlafen. Denn es trägt doch ein bisschen auf, findest du nicht, gerade bei Jodhpurs, das sieht man leider immer wieder. Als hätten die Leute keinen Spiegel.» Und Chris erstarrte, als sich Gudrun auf einmal vor sie hinkniete und an den Hosenbeinen zupfte. «Perfekt. Dreh dich mal um. Na bitte, da erkennt man doch mal was.» Gudruns Hände waren überall, aber die blonden Strähnen hingen ihr im Gesicht, und Chris erkannte gar nichts. «Du hast einen hübschen Po», sagte Gudrun und stand auf. «Mach doch da mal was draus. Ich meine, du glaubst ja gar nicht, was für fette Weiber es gibt. Das ist immer ein Drama. Da kann ich förmlich
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spüren, was für einen Traum ich ihnen verkaufen soll, und schuld ist dann die Kollektion oder wir oder ihre Mutter oder was weiß ich, dabei schneidern wir schon kostenlos um. Aber für manche Probleme gibt es einfach keine andere Lösung als einen großen Sack. Das gilt übrigens für alles.» Sie lächelte, als sie ihr Ergebnis betrachtete. «Aber bei dir? Du kannst doch alles tragen. Und mit diesen kleinen Stretcheinsätzen», über Chris' Hüfte streichend, «ideal fürs Auto... natürlich nicht mit diesem Wuffel», sagte sie und leierte mit einem spitzen Finger an Chris' Sweatshirt. «Na, jetzt guck nicht so böse, ich habe dir gar nichts getan...» «Nein, sicher nicht...» «Schau dich ruhig im Spiegel an...» Chris seufzte. «Feigling. Also runter damit, mach schon.» Aber erst als Gudrun gegangen war, warf sie einen Blick in einen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand, wo jetzt ihr schwarzes Skunk -AnansieTank-Top zum Vorschein kam, aber auf die Entfernung und vor allem wegen der Tattoos gar nicht so aussah wie ein Tank-Top, sondern wie ein langärmliges Trikot. «Keine Angst», hörte sie Gudrun aus einer Ecke, in der sie sie nicht sehen konnte, «ich suche dir schon nichts aus, was zu feminin ist, aber so wie jetzt muss es ja wohl auch nicht sein, oder?» «Nein, muss es nicht», sagte Chris leise und wagte sich nicht aus der Kabine heraus. Vielleicht sogar zu Recht, denn als Gudrun zurückkehrte, blieb sie zunächst wie erstarrt stehen. «Wow! WOW! Das ist heavy!» «Witzig. Na, jetzt hast du sie gesehen. Das wolltest du doch, oder?» Gudrun sagte nichts darauf, sondern starrte sie weiter an, und Chris fühlte sich ziemlich blöd. Dann zeigte Gudrun auf ihren linken Arm. «Ist das ein Todesengel?» Chris nickte. «Ich wusste gar nicht, dass die so sexy sind. Und das Zeichen darunter, was ist das?» «Das ist kein Zeichen, das ist ein Chakram.» «Chakram?»
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«Der Wurfring von Xena.» «Wer ist Xena?» «Kennst du nicht Xena, die Serie im Fernsehen, Xena, die Kriegerprinzessin?» «Nein.» «Das ist das Original-Chakram. Später, ab der vierten Staffel, kriegt sie so ein Yin-Yang-Chakram, aber das finde ich nicht so gut.» Gudrun musste plötzlich lachen. «Was ist?» «Entschuldige...» «Was ist so komisch daran?» «Nichts», sagte Gudrun, strich mit ihrer Rechten über Chris' linke Hand und betrachtete anschließend ihre eigenen Fingerspitzen. «Also, Xena, ausziehen», sagte sie. «Ich habe etwas Besseres für dich.» Chris zögerte. «Komm, ich tu dir nichts... Vergiss nicht, ich komme vom Fach. Wir haben schon ganz andere Leute angezogen. Na also, so schwer war das doch nicht.» Und ihr Schmunzeln war ansteckend. «Du ziehst sogar dein Unterhemd aus wie ein Junge, weißt du das?» «Idiot.» «Hör mal, diese extrem lockeren Sachen würde ich an deiner Stelle nicht mehr tragen, höchstens im Sommer mal... aber es ist schon wichtig, dass es auch ein bisschen stützt... das merkst du dann später, hier, zieh mal an...» Sie reichte Chris ein weißes Teil, das sich gut anfühlte. «Tut das eigentlich weh», fragte sie und fasste seitlich an ihren Busen, ohne den Ring in der Brustwarze zu berühren. «Ja», sagte Chris und sah zu ihr hoch. «Ja, tut es. Am Anfang.» In diesem Moment ging die Ladenglocke. Britta, das muffige Wesen, war wieder da. Gudrun strich Chris durchs Haar und sagte: «Hier, was hältst du von diesem Grün? Kannst du bei vierzig Grad in der Maschine waschen. Den Kragen fand ich ganz witzig.» Dann bückte sie sich, um, mit den blonden Haaren im Gesicht, Chris' alte Sachen aufzuheben. «Das hier
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schmeißen wir weg, oder? Würde ich sagen. Hier, deine Autoschlüssel.» Chris nickte, obwohl sie ihr Skunk-Anansie -Top gern behalten hätte. So alt war es noch gar nicht. Von da an fuhr sie Gudrun jeden Tag. Da sie den Wagen haben konnte, wann sie wollte, wechselte sie zur Tagschicht und hatte den Eindruck, dass ihr das gut tat. Die erste Fahrt am Morgen führte immer zu Gudrun. Sie fuhr sie morgens in die Stadt, abends wieder zurück und jeden Donnerstag zu «Shrinki», ihrem Therapeuten. Morgens war sie meist früh da, wartete mit Herzklopfen, bis der dunkle Daimler das Grundstück verlassen und ohne ein Zeichen des Wiedererkennens an ihr, die auf der anderen Straßenseite parkte, vorbeigefahren war. Abends war sie aus demselben Grund schon eine Stunde vor der vereinbarten Zeit nur widerwillig bereit, andere Fahrten anzunehmen. Sie fuhr sie sogar auch später am Abend, wenn Gudrun noch etwas vorhatte, stellte aber nie Fragen, denn als Profi wusste sie, dass sie dieser Frau nie näher kommen würde als jetzt, und das genügte ihr. Ihre Gemeinsamkeit beschränkte sich auf das Taxi, war umkompliziert und darin voller Zauber, denn dass sie nicht zusammenpassten, war ohnehin klar. Trotzdem wäre Chris ohne weiteres bereit gewesen, sie auch mitten in der Nacht noch irgendwo abzuholen, mehrmals bot sie es Gudrun an, aber Gudrun legte jedes Mal ihre kühle Hand auf das Skorpion-Tattoo und flüsterte: «Nein, lass mal. Wir sehen uns morgen.» Es gab lustige Tage, an denen Gudrun nur lachte - bis sie vor dem grauen Haus ankamen. (Sie drehte sich übrigens nie mehr nach Chris um, nachdem sie durch das schmiedeeiserne Tor gegangen war.) Es gab launische Tage, an denen Chris sie stärker liebte als sonst, in der Hoffnung, sie dadurch zu besänftigen, was natürlich bescheuert war, denn das hätte auch bei ihr, Chris, nicht funktioniert. Und es gab die Shrinki-Tage, an denen sich Gudrun auf dem Beifahrersitz mit beiden Händen die Haare raufte und irgendwann anfing zu hyperventilieren, bis es so schlimm wurde, dass Chris anhalten musste und in ihrer Hilflosigkeit am liebsten jedem eine reingehauen hätte, der hinter ihr
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hupte, wenn sie Gudrun dafür nicht hätte allein lassen müssen. Außerdem waren es die einzigen Gelegenheiten, in denen sie wagte, Gudrun anzufassen. «Hey, hey, du... beruhige dich, hey... geh da doch nicht mehr hin, warum machst du das?», sagte sie dann. «Das verstehst du nicht.» «Aber der Kerl ist dafür da, dir zu helfen. Mein Gott, wenn man dich so sieht, kriegt man ja Angst, und so soll es doch nicht sein.» «Ach, was weißt du? Ich muss da durch.» «Aber nicht so.» «Wie sehe ich aus?» «Gut. Schön. Du bist die Allerschönste.» «Schade, dass es so wenig nützt.» «Moment mal», sagte Chris, nachdem sie vor dem Praxenhaus rechts herangefahren war, «halt doch mal still.» Dann zog sie Gudruns Kinn zu sich heran und wischte ihr mit der Spitze eines angeleckten Taschentuchs den verschmierten Lidstrich gerade, auch wenn gar nichts verschmiert war. Es war schon nach kurzer Zeit ihr gemeinsames Ritual. «Muttis Spucke?», sagte Gudrun dann, die Augen gegen den Dachhimmel gedreht, und probierte ein Lächeln. «Muttis Spucke», sagte Chris. «Und du wartest auch auf mich?» «Ich warte auf dich.» «Sicher?» «Sicher.» «Ganz sicher-sicher?» «Du wirst das schon machen.» Nachher war Gudrun oft so erschöpft, dass sie kein Wort sagte, bis sie vor dem grauen Haus standen. Aber der Tag, an dem sie Chris zum ersten Mal fragte, ob sie noch mit hineinkommen wollte, war ein schöner Tag, der erste richtige Frühlingstag. Strabo stand wie üblich ganz vorn am Halteplatz, aber er
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hatte sich beruhigt und grüßte sie zumindest wieder. Ihr Taxi lag in der Mittagssonne wie ein alter, zufriedener Schäferhund, und sie trug ihre blauen Shades, als der Coyote sich hinter sie in die Reihe stellte. Er trug eine graue Windjacke mit Stars 'n' Bars am Arm und hatte eine McDonalds-Tüte dabei, und gemeinsam saßen sie dann auf seinem Kofferraum und vertilgten die Hamburger und sprachen nur wenig, weil es so schön war. Sogar die alte Stadtstreicherin mit dem Einkaufswagen war wieder da, die mit winzigen Schritten und so gebeugt, dass ihr vermummter Kopf den Griff des Einkaufswagens kaum überragte, an Chris' Halteplatz vorbeitrippelte wie früher. (Alter Kodak-Moment: Ob sie, Chris, irgendwann auch mal so enden würde?) Nachdem es im Februar so kalt war, hatte Chris nicht mehr damit gerechnet, sie überhaupt jemals wiederzusehen. Doch dieser Tag war ein schöner Tag, die Kneipen ringsum hatten die Türen aufgerissen und mieften trostreich vor sich hin. Die Höhlenmenschen und Gewohnheitstrinker, die normalerweise am Tresen festgewachsen waren, standen mit ihren Kölsch-Gläsern am Eingang und blinzelten ungläubig in die Sonne. Auf dem Platz vor dem missmutigen Antlitz der Kirche übten zwei türkische Mädchen Rollerblade. Sie trugen knallenge Jeans und bauchfreie Pullis, dazu Kopftücher, und Chris hätte es gern gewusst, welcher Hoodschah diesen Kompromiss ersonnen hatte. Wacklig auf ihren staksigen Beinen, hielten sie sich aneinander fest, drehten sich umeinander im Kreis, aus dem es kein Entrinnen gab, und kicherten in einem fort, verfolgt von den grünen Shades des Coyoten, die unbewegt über seinen mahlenden Kiefermuskeln blitzten. Der Tag, an dem Gudrun sie fragte, ob sie noch einen Moment mit hineinkommen wollte, war auch abends noch warm, und sie standen schon eine Weile still und mit heruntergekurbelten Scheiben vor dem Gartentor, als Gudrun sie fragte - um dann schnell hinzuzufügen: «Aber nur, wenn du Zeit hast.» «Klar.» «Schön. Dann komm mit.» Gudrun ging über den Kiesweg voraus, und trotz ihrer weiten schwarzen Hose und dem sandfarbenen Karoblazer wirkte sie in
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diesem Moment zerbrechlich auf eine Weise, die Chris ganz ratlos machte. Ein Kodak-Moment: Die Schönheit des ersten falschen Schritts? Chris liebte die Art, wie sie ging und sich dabei die Haare aus der Stirn strich. Als Gudrun den Schlüssel ins Schloss steckte, drehte sie sich um und sagte: «Ich wohne hier nicht wirklich, weißt du, nur übergangsweise.» Und als sie in der weitläufigen Eingangshalle standen, meinte Chris: «Naja, etwas eng, aber sonst ganz gemütlich.» Sie schaute auf die modernen Gemälde an der Wand, hell verwaschene Porträts von Leuten, stehenden Leuten oder solchen auf Sofas, deren Gesichter gewissermaßen in die Leinwand explodiert waren und von denen nur zerspritzte Hirne und Augenhöhlen geblieben waren. Vorbei an hängenden Kugellampen führte rechts eine geschwungene Marmortreppe in den ersten Stock. Gudrun warf ihren Blazer auf eine sperrige Sitzgruppe aus einer Zeit lange vor Chris. Sie schaute Chris mit ihren großen braunen Augen an und sagte: «Wenn es eines nicht ist, dann gemütlich.» Vor dem Kühlschrank in der altmodischen Küche sagte sie: «Was willst du trinken?» Chris war im Türrahmen stehen geblieben. «Eine Cola, wenn du hast.» «Geht auch Schweppes?», fragte Gudrun. «Tut mir Leid, wenn ich dir nicht mehr anbieten kann.» Aus einem Oberschrank hatte sie eine Tüte Salzstangen hervorgeholt, und Chris sah, wie sie sich, eine Weinflasche zwischen den Knien, mit dem Korkenzieher abmühte, die schlanken Finger weiß vor Anstrengung. «Lass mich das machen», sagte Chris und wollte ihr die Flasche abnehmen. «Das kriege ich gerade noch hin», entgegnete sie durch ihre Haarsträhnen, als der Korken ploppte. «Nimm du die Gläser.» Zusammen gingen sie zurück durch die Halle der zerspritzten Hirne und weiter durch eine breite Glastür, die in ein Wohnzimmer führte, so groß wie eine Wartehalle, wo sämtliche Möbel mit blauen Tüchern abgedeckt und zu seltsamen Gebilden gestapelt worden waren, ähnlich
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den Statuen in Aidans Palast, siehe Xena, vierte Staffel, Folge 13, die jedoch allesamt Menschen gewesen waren, arglose Gäste wie Xena und Gabrielle, denen Aidan nur alle «Gutheit» abgesaugt hatte, wodurch sie erstarrt waren. «Die Räume hier unten sind alle nicht mehr in Gebrauch», sagte Gudrun, während sie durch eine zweite Glastür voranging, hinter der es noch dunkler wurde, weil keine Wände mehr da waren, die das ferne Licht aus der Eingangshalle hätten reflektieren können, nur die Schwärze des Universums. Sie standen im Wintergarten. «Warte, ich mache Licht», sagte sie und beugte sich über einen niedrigen runden Tisch. Chris sah ein Stück ihres schmalen Rückens, wo ihre knappe Bluse hochgerutscht war, als Gudrun die Flaschen auf dem Tisch absetzte und die Kerzen anzündete. «Setz dich», sagte Gudrun. Der Tisch, der sich vor ihr allmählich zu einer leuchtenden Scheibe erhellte, war aus getriebenem Messing und wirkte entfernt orientalisch. Auf ihm lagen verschiedene Modezeitschriften, ein Kartenspiel und Chris' silbernés Zippo-Feuerzeug, das seit dem Abend verschwunden war, an dem sie Gudrun zu ersten Mal gefahren hatte. Eine Welle der Rührung überkam sie. Etwas, das ihr gehörte, war Gudrun die ganze Zeit so nah gewesen, und sie hatte es nicht gewusst. Vorsichtig ließ sie sich auf ein türkisches Sitzkissen nieder und schaute zu Gudrun hinüber, die vor der Fensterfront stand und weitere Lichter anzündete. «Die Öllämpchen gehören eigentlich in den Garten, aber hier sind sie auch schön», sagte Gudrun. Öllämpchen war untertrieben, denn es handelte sich um eine Phalanx von schweren Dreifüßen, aus denen nach und nach pfeilspitze Flämmchen wuchsen. Chris beobachtete Gudruns ernstes Profil und ihre blonden Haare, die mit jedem aufflammenden Licht jedes Mal aufs Neue erglühten, bis die Konturen des Raums aus der Dunkelheit hervortraten und ein Ordnungsprinzip sichtbar wurde, das Chris im ersten Moment unwirklich vorkam. In der Ecke neben den Öllampen drängte sich eine Herde vertrockneter Grünpflanzen wie um das letzte verbliebene Wasserloch. In einer anderen türmten sich Sonnenliegen aus Korb, die aussahen wie Eskimoschlitten. Rund um den Tisch lagen persische Läufer und markierten auf diese Weise den Bereich, der für Menschen vorgesehen
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war. Die einzige Unregelmäßigkeit bildete an der hinteren Wand eine kleine Stereoanlage, wie auch Chris eine besessen hatte. «Bizarr», sagte Chris, als sie im Raum umherblickte. «Das sieht hier ja aus wie in Xena.» «Du mit deiner Xena», erwiderte Gudrun und lächelte, während sie sich ein Glas Wein eingoss. «Aber nimm dir doch.» «Solltest du dir auch mal angucken. Läuft immer Sonntagnacht auf RTL. Die beste Serie, die jemals gedreht wurde.» «Vielleicht. Vielleicht mache ich das sogar mal», sagte Gudrun und trank. «Aber weißt du, was wirklich bizarr ist? Dass du hier bist.» Chris trank einen Schluck aus der kleinen Bitter-Lemon-Flasche, die Gudrun ihr hingestellt hatte und die man im Supermarkt so nicht kaufen konnte. Sie liebte diese kleinen Flaschen, sie sahen so professionell aus und fühlten sich gut an, wenn man aus ihnen trank. Sie zuckte die Schultern. «Findest du nicht?» «Doch. Irgendwie schon.» «Weißt du, manchmal beneide ich dich richtig.» «Wieso denn das?» «Nur so. Ich meine, du bist den ganzen Tag mit dem Auto unterwegs, frei, unerreichbar... Niemand sagt dir, was du zu tun hast, keiner kontrolliert dich... und alle können sie dich am Arsch lecken.» «Na!», entrüstete sich Chris. «Was ist?» «Wenn ich das jetzt gesagt hätte!» «Aber so bin ich doch gar nicht. Im Grunde ist es eher Neid. Du gehst mit allem so offen um, ich wünschte, ich könnte das. Du schimpfst und fluchst und sagst Sachen wie ‹blöder Wichser‹, wenn jemand nicht vorwärtsmacht...» «Die fahren zum Teil aber auch wie die letzten Menschen.» «Es macht Spaß, dir dabei zuzugucken.» «Man muss sich eben durchsetzen. Warum hast du eigentlich keinen Führerschein?»
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«Habe ich doch. Aber mit den Medikamenten darf ich nicht fahren.» Sie zögerte. «Und ich kann mir auch nichts mehr erlauben...» «Weil du wieder was angestellt hast?», fragte Chris. «Nein, im Ernst. Dann frage ich mich, was du für ein Mensch bist. Du fühlst dich nie schlecht bei dem, was du tust, oder?» Chris sah an der Flasche vorbei, während sie einen kleinen Schluck nahm. «Ganz so ist das auch nicht.» «Ich meine, du tust immer so, als könntest du jeden platt fahren, aber dann handelst du trotzdem ganz anders. Wie gestern bei den Kindern, ich hatte die gar nicht gesehen...» «Pänz sinn et anders», sagte Chris auf Kölsch. «Und obwohl sich alle hinter dir aufregen, bleibst du einfach stehen.» «Einer muss aufpassen.» «Aber trotzdem lässt du dir nie etwas gefallen. Im Grunde können sie dich alle...» «... am Arsch lecken?» «... gern haben.» «Schön wär's. Aber es lassen einen auch sehr viele Leute spüren, was man ist. Und mit manchen Sachen komme ich auch überhaupt nicht klar. Neulich zum Beispiel. Es ist drei Uhr früh, und ich habe diese... diese russische Nutte im Wagen und will in den Blauen Block einbiegen, kennst du den?» «Nein.» «Das ist so eine Siedlung, hinten in Ossendorf, der Blaue Block. Ich meine, ich komme da her, wir haben da gewohnt, bevor wir weggezogen sind. Eine tolle Gegend war das nie, aber es ließ sich leben dort, besonders im Sommer, es war manchmal sogar richtig schön. Jedenfalls bevor meine Mutter aufs Dorf gezogen ist, hinter Bergheim zu den Bauern, anfangs hatte ich sogar Heimweh nach dieser Kackgegend, man glaubt es nicht. Na ja, ich will also in den Blauen Block rein, und da stehen sie, mindestens zehn, Türkenboys, alles Schwuchteln, die aussehen wollen wie 2Pac mit ihren Goldketten und ihren angeklatschten Haaren und ‹eyh, voll konkret, Mann‹ und diese ganze Scheiße, sogar eine Tonne haben sie angesteckt, weil sie
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meinen, das müsste so sein. Und die Russennutte im Auto kriegt einen Schreikrampf, weil plötzlich eine ganze Türkengang um den Wagen herumsteht...» «Puh.» «Sie wollten 50 Mark, von jedem von uns, 100 Mark für 100 Meter Strecke, weiter wäre es nicht gewesen. Und einen Steinwurf entfernt hat die Polizei eine mobile Wache aufgestellt, ein Witz, so ein Container, weißt du, aber da ist um die Zeit natürlich keiner mehr da, wozu auch!» «Und wie ist es ausgegangen?» «Wir sind dann doch so durchgekommen. Ich kannte einen von denen, von früher her, dreizehn war der damals, Haus 15B. Ich wusste sogar noch, wie er hieß, dauernd mit seinem Skateboard unterwegs, aber immer schon mit den falschen Typen zusammen. Manchen siehst du es an, was eines Tages aus ihnen wird. Aber in dem Moment dachte ich: Mann, hierhin kannst du nie wieder zurück, diese Gegend ist ein für alle Mal verloren. Ich meine, es war einmal so etwas wie meine Heimat, wie gesagt nichts Tolles, wirklich nicht, aber zuzusehen, wie ein ganzes Viertel kaputtgeht, und keiner unternimmt etwas dagegen, im Gegenteil, die Stadt lädt sogar immer mehr Abschaum da ab, ich meine... entschuldige, das interessiert dich sicher alles nicht.» «Doch. Ich wusste es nur nicht.» «Sei froh.» Gudrun schwenkte nachdenklich ihr Glas und schaute durch den Wein in das Licht einer Kerze. «Weißt du, bei mir ist es genau umgekehrt. Ich wollte nie wieder in dieses Haus zurück, nie wieder, nicht hierhin.» «Ist das das Haus deiner Eltern?» «War es. Nach dem Tod meines Vaters ist meine Mutter zurück nach Luzern gezogen, meine Mutter ist Schweizerin. Und hat uns dieses Gemäuer hinterlassen, mir und meinem Bruder. Als wäre es ausgerechnet unsere Pflicht und Schuldigkeit, mit all den Gespenstern aufzuräumen, die hier noch sind. Manchmal ersticke ich in diesen Räumen. Dann setze ich mich in den Wagen und fahre stundenlang
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durch die Stadt, obwohl ich das nicht darf. Deswegen beneide ich dich ja so. Hast du eine Zigarette?» «Hier, nimm dir», sagte Chris und versuchte, die Ornamente auf der leuchtenden Messingscheibe zu ergründen. Gudrun nahm das Zippo-Feuerzeug vom Tisch und schaute es eine Zeit lang an. «Hättest du nicht gedacht, oder? Ich meine, es ist wohl immer deprimierend, wenn man mit Mitte dreißig wieder in sein Elternhaus ziehen muss. Aber ausgerechnet hierhin? Ich meine, ich habe es ihnen gesagt! Alle die verdammten Sitzungen, die vielen Stunden! Sie wissen, was hier passiert ist. Trotzdem, es war ihre Bedingung: Ich darf nicht allein sein. Sonst wäre ich wahrscheinlich jetzt noch in der verdammten Klinik. Aber sie stecken alle zusammen, dagegen kommst du nicht an. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, sie hätten mich dabehalten, bis ich alt und wacklig bin, dann wüsste ich zumindest, woran ich bin. Vielleicht wollen sie das sogar. Dass ich irgendwann von selber aufgebe, ohne dass sie noch irgendetwas tun müssen.» «Du musst eben kämpfen», sagte Chris in der Pause, in der sich Gudrun die Zigarette ansteckte, und hasste sich im selben Moment dafür. Sie stellte ihre leere Flasche genau in die untere Hälfte einer spitzen Ellipse. Gudrun legte den Kopf zur Seite und zeigte ihr ironischbekümmertes Lächeln: «Willst du mit mir tauschen?» «Wieso?» «Dann wüsste ich, was du denkst, Chris-Christine.» «Wenn man dich so hört, weißt du das sowieso.» «Das meinte ich nicht. Aber ich wüsste gerne, wie es sich anfühlt, du zu sein.» Gudrun drehte das Glas zwischen ihren weißen Fingern. «Kann ich mal von dir trinken», fragte Chris. «Nur einen Schluck, ich muss gleich noch fahren.» «Du willst nicht mit mir tauschen, aber du möchtest von mir trinken?» Das Ironische ihres Lächelns wandelte sich in Überle genheit, als sie Chris einen Blick zuwarf, der eine Sekunde zu lang war, um nicht darüber zu erschrecken.
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«Nee, ne?», sagte Chris. «Das ist jetzt nicht wahr, oder?» Unsicher lachte sie auf. «Sprache ist verräterisch. Hier», sagte sie und drehte den Stiel des Glases. «Fuck you», grinste Chris und zeigte ihr den Finger. «Das auch», sagte Gudrun. «Shut up», sagte Chris, als sie das Glas nahm. «Wer war eigentlich der, der uns gestern an der Ampel angeblinkt hat?» «Ach so, das war der Coyote. Kollege von mir.» «Schwul?» «Wieso? Nein, der nicht. Der Coyote bestimmt nicht. Aber ich mag ihn irgendwie. Genauso, wie ich dich mag. Das heißt natürlich nicht genauso, aber... ich mag ihn, obwohl er ein krasser Typ ist. Warum glaubst du eigentlich immer, ich würde dich irgendwie... Ich habe dir doch erklärt: Wie ich zu anderen Leuten stehe, ist allein meine Sache, unabhängig davon, ob du... oder ob ich je mais...» Sie hatte das Kartenspiel genommen, machte es auf und ließ das Deck in ihre offene Hand gleiten. «... ob du auch etwas zurückbekommst?» «Zum Beispiel.» «Das heißt, ich habe überhaupt keinen Einfluss darauf, und es wäre völlig egal, was ich tue?» «Auf eine gewisse Weise ja. Denn du weißt ja gar nicht, was du mir gibst. Ich meine, warum erwarten wir denn immer, dass andere genauso fühlen wie wir selber? Das stimmt sowieso nie, selbst wenn wir es tausend Mal sagen.» «Du meinst, ich könnte es gar nicht verhindern?» «Erst einmal nicht. Na gut, zerstören kann man immer etwas. Aber selbst das muss man richtig machen.» Sie schaute nacheinander die Karten an, auf denen verschiedene Figuren abgebildet waren, Ritter, Königinnen, Kelche, Schwerter, Münzen, die Sonne, der Teufel, zwei Nackte, ein alter Mann mit einer Laterne, ein Engel, ein Clown, fliegende Stäbe, die aussahen wie bei Xena...
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«Ich könnte also mit dir machen, was ich will?» Gudruns Lächeln war verschwunden. Chris sah in ihre ernsten braunen Augen. «Fast», sagte sie. «Auf jeden Fall will ich dich nicht anders, als du bist, da brauchst du keine Angst zu haben.» «Die habe ich auch nicht. Du aber schon, oder?» «Was sind das eigentlich für Karten?», fragte Chris und schaute auf das Bild einer Frau, die mit verbundenen Augen und gefesselten Händen zwischen einer Palisade aus Schwertern stand. «Da bist ein Feigling, Chris-Christine. Du hast meine Frage genau verstanden.» Sie richtete sich auf. «Das ist Tarot, kennst du das nicht?» Chris schüttelte den Kopf. «Das, was du gerade in der Hand hältst, ist die Acht der Schwerter. Schwerter kommen bei mir häufig.» «Und 'was bedeutet die Karte?» «Was glaubst du, was sie bedeutet?» «Auf jeden Fall nichts Gutes.» «Je nachdem. Es kommt immer darauf an, wo sie liegt. Willst du mal spielen?» «Willst du mal spielen?», ätzte Chris und verzog den Mund. «Du meinst, um mir die Zukunft vorauszusagen?» «Unsinn. Niemand kann die Zukunft voraussagen. Es ist nur ein Spiel, weiter nichts, ein Spiel mit deinem Un-bewussten. Was du dann daraus machst, ist allein deine Sache. Das müsste dir doch gefallen, oder?» «Ja, mach mal.» «Okay, gib her.» Chris sah, wie die schlanken Finger das Deck teilten und die beiden Hälften erst V-förmig anordneten, um sie dann an den Innenkanten energisch nach oben zu biegen und knatternd wieder zu einem Stapel zu vereinen. Gudruns spöttischer Gesichtsausdruck, als sie diesen Vorgang noch zweimal wiederholte, so, als ahnte sie, dass Chris ihr eine derart knappe, zielgerichtete Bewegung nicht zugetraut hatte, ebenso wie die Art, mit der ihr Fingernagel den
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Kartenstapel anschließend als gleichmäßigen Fächer auf den Messingtisch strich. «So, jetzt zieh vier Karten», sagte sie. Chris hob eine Hand, die jedoch sogleich von Gudrun angehalten wurde. «Du musst die Karten mit der linken Hand ziehen», sagte sie. «Und nicht so lange überlegen, lass dein Herz entscheiden.» «Okay.» «Und vor allem sag Shrinki nichts davon. Die sind in der Lage und sperren mich gleich wieder ein... Gut so, jetzt gib her. Wollen mal sehen... Platz 1: Der Ritter der Münzen. Siehst du, was habe ich gesagt? Der Ritter der Münzen...» Sie legte die Karten auf den Tisch. «Und was bedeutet der Ritter der Münzen?» «Die erste Karte ist das, was je der an dir sehen kann. Der Ritter der Münzen ist ein Erdsymbol, steht für Zuverlässigkeit und Beständigkeit, aber auch Sturheit und mangelnde Flexibilität. Ich schätze, das kommt hin, oder was meinst du, Chris-Christine? Sturheit stimmt auf jeden Fall. Die Karten lügen nicht.» Chris zuckte die Schultern und lachte unsicher. «Okay, dann Platz 2. Die zweite Karte bezieht sich auf das, was andere zwar an dir sehen können, aber du nicht, es ist sozusagen dein blinder Fleck. Und da haben wir: den Stern, die Sternenfee, die Wasserbringerin. Das ist jetzt interessant, aber ich habe mir fast schon so etwas gedacht...» Und wandte plötzlich den Kopf, als sie hinten in der Eingangshalle ein Geräusch hörte, eine Tür, wie Chris glaubte. Sie stand auf. «Du, entschuldige, ich muss mal kurz...», sagte sie, strich sich eine Strähne aus der Stirn, als Chris nickte, und hatte im nächsten Moment die Glastür zum Wintergarten hinter sich geschlossen. Chris sah ihr nach, ihrer schmalen Silhouette, die sich wie durch einen Tunnel auf das helle Quadrat der Eingangshalle zubewegte, ihre Schritte in der eleganten weiten Hose schneller als sonst, ihr Oberkörper merkwürdig starr, bis sie auch die zweite Glastür öffnete und schloss und in die Halle der zerspritzten Hirne trat wie in ein kleines Fernsehbild und, sich eine Strähne aus der Stirn wischend, nach links ging und dann nicht mehr zu sehen war.
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Von rechts trat jetzt ein Mann ins Bild, anscheinend derselbe, der an ihrem ersten Abend in der Haustür gestanden hatte, gefolgt von einer Frau mit langen schwarzen Haaren. Die Frau fasste den Mann an der Schulter und redete lautlos auf ihn ein. Der Mann drehte sich zu ihr um und sagte irgendetwas, bevor er durch die beiden Glastüren hindurch zu Chris herübersah. Trotz der Entfernung spürte Chris genau, dass er sie musterte wie etwas, das ärgerlich war, aber zugleich so unbedeutend, dass er sich im Augenblick nicht darum kümmern wollte. Wieder sagte er etwas zu der Frau mit den schwarzen Haaren, aber jemand hatte den Ton abgedreht, und Chris wich seinem Blick aus, indem sie auf die Spielkarten schaute, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Der Ritter der Münzen, den jeder sehen konnte, die Sternenfee, die sie sich schon gedacht hatte, dann eine Figur, die wohl eine Bube war mit eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun Stäben, daneben eine Königin mit nur einem Stab. Was bedeutete das alles? Als Chris die Augen hob, waren der Mann und die Frau nicht mehr da. Sie ergriff Gudruns Weinglas und drehte es im Kerzenschein, bis die Lippenstiftspuren vor ihr erschienen. Berührte sie mit ihren Lippen, bis sie meinte, sie schmecken zu können (war das sie? sie? ihre Lippen?), neigte dann das Glas, um ihre Weichheit in winzigen Schlucken mit dem kühlen Wein zu vergleichen, ohne für eine Sekunde das erleuchtete Rechteck im Hintergrund aus den Augen zu lassen, ein entferntes, leeres Bild hinter mehreren Schichten Glas, drei, um genau zu sein, erste Glastür, zweite Glastür, dazu die lippenstiftlose Wand des Weinglases. Jeder Eintritt von Licht in ein anderes Medium wandelte einen Teil dieses Lichts in Infrarotstrahlung. Und wenn sie jetzt das Glas gerade hielt, waren es sogar vier Schichten. Sogar noch mehr, nämlich sechs, wenn man bedachte, dass der Aggregatzustand von Glas eigentlich flüssig war, nicht fest, was man zum Beispiel an ihrer verglasten Dachschräge gut sehen konnte, wo die alten Scheiben unten dicker waren als oben. Ein halb leeres Weinglas war demnach eine von Flüssigkeit benetzte Flüssigkeit, man trank Flüssigkeit aus Flüssigkeit, und jede einzelne davon nahm dem Licht etwas von seiner Helligkeit, um es in... Das Erste, was sie von Gudrun wieder sah, ganz am äußeren linken Rand, war ein Teil ihres Rückens und ihr linker Arm, und beides bewegte sich rückwärts auf die Mitte des erleuchteten Vierecks zu. Sie
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redete, gestikulierte, schrie sogar, ihrem nach vorn gereckten Kopf nach zu urteilen, doch diesmal war keine Hand zur Stelle, die ihre Strähnen aus der Stirn wischte, und vielleicht war dies überhaupt das Erschreckendste an allem, erschreckend, weil es Chris an ihr zum ersten Mal sah, die lautlose Wut ihres angespannten Rückens in der engen Bluse, die sie so zerbrechlich erscheinen ließ, ihre heftigen Gesten gegen etwas, vor dem sie immer weiter zurückwich, bis schließlich der Mann und die schwarzhaarige Frau das Bild betraten und es so laut wurde, dass die Schallwellen endlich sogar durch zwei Glastüren zu Chris drangen, die immer noch das Weinglas an den Lippen hatte, ohne etwas verstehen zu können. Der Mann kam näher, und Gudrun, obwohl sie ihn, gestikulierend, in einem fort anschrie, wich weiter zurück, während die Frau bei dem Versuch, den Mann zurückzuhalten, durch eine barsche Schulterbewegung abgewiesen wurde. Bis er schließlich direkt vor Gudrun stand, deren Gesicht vor lauter Haaren nicht mehr zu sehen war. Bereits in diesem Moment, das sagte sich Chris später immer wieder, hätte das Chakram fliegen müssen. Ein Chakram, einmal rotierend in der Luft, konnte alles. Es zerschlug sirrende Pfeile, Äxte, Schwerter, atomisierte Giftfläschchen an kirschroten Lippen, es konnte an Mauern abprallen und die Richtung ändern und auf seinem Weg Dutzende niederstrecken, es konnte Götter töten, es durchtrennte Stahl, Stein und den Strick der Unglücklichen auf dem Scheiterhaufen, warum also nicht zwei blöde Glastüren, um die Hand eines brutalen Arschloches zu stoppen, das sich anders gegen Gudrun nicht zu helfen wusste? Die Antwort war zunächst leicht. Weil dies nicht Xena war und sie keine Kriegerprinzessin. Aber warum hatte sie, Chris, überhaupt nicht reagiert, als die Hand dieses Mannes Gudruns Gesicht traf? Nicht nur ein Mal traf, nicht nur zwei Mal, sondern drei Mal. Drei Mal! So unendlich viel Zeit, und sie hatte nichts unternommen. Stillstand war Tod. Wer sich nicht bewegen konnte, war tot. Und sie hatte es doch, den Instinkt, das Programm, das dann ablief, oder? Ein Heulen wie im Inneren einer Turbine, das sie in eine mentale Starre versetzte und dafür die körperliche aufhob, ein graues Rauschen, das jeden Schmerz willkommen hieß, der stärker war als dieses Grau.
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Warum hatte sie nur zugesehen, als dieser Mann Gudrun schlug? Das war kein Film, oder? Oder doch? Sekunden einsamer Schönheit, die sich zu Lichtjahren dehnten, als Gudruns Gesicht von der Hand getroffen wurde, ihr Kopf zur Seite schleuderte, die Haare wirbelten und Chris ihren Hals sah, so weiß und zart, so wunderwunderschön in seiner bedingungslosen Drehung, dass sie Gudrun in diesem Moment mehr als sonst um ihre Schönheit beneidete und fast enttäuscht war, als der Mann sich auf einmal umdrehte und verschwand und nur die schwarzhaarige Frau noch da war, die lautlos auf Gudrun einredete, während Chris, das zitternde Glas in der Hand, sich immer noch nicht rühren konnte und also auch nicht merkte, dass das erleuchtete Rechteck der Eingangsha lle irgendwann leer war, und sie erst dann hochzuckte, als Gudrun in der Tür stand, immer noch schön, aber anders, und sie, Chris, mit ihrem bekümmerten Lächeln anschaute. «Alles in Ordnung mit dir?», fragte sie, näher kommend, wobei Chris die nassen Haarspitzen bemerkte. Sie musste in der Zwischenzeit ihr Gesicht in kaltes Wasser getaucht haben. «Mit mir schon», sagte Chris, schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen. «Hey-hey-hey, nicht», flüsterte Gudrun, kniete sich vor sie hin und umfasste mit be iden Händen ihre Schultern. «Guck mich mal an, du. Hey! Es ist ja nichts passiert.» «Was?», sagte Chris halblaut und schaute, da sie ihr nicht in die Augen sehen konnte, auf ihren schlanken Hals. Sie holte tief Luft. «Sag mal, das kann doch wohl nicht wahr sein. Der Typ schlägt dich und...» «Schhh, nicht», unterbrach Gudrun sie und legte ihr einen Finger über die Lippen. «Sag nichts. Das bringt alles nichts.» «Wenn der Arsch das noch mal macht, breche ich ihm den Arm», sagte Chris, die sich wieder stärker fühlte. «Bitte nicht.» «Du glaubst, ich könnte das nicht?» «Doch, das glaube ich dir sofort. Ich habe dich ja gesehen, weißt du noch, an dem einen Abend?» «Mann, das fasse ich einfach nicht...»
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«Ich würde es dir trotzdem nicht raten. Mein Bruder ist Anwalt.» «Wie, das war dein Bruder? Ein Grund mehr!» «Schhh, nicht so laut», flüsterte sie und strich ihr durch die Haare. «Guck, dein Haar ist schon etwas gewachsen, Chris-Christine. Aber nicht gleich wieder abschneiden, es steht dir viel besser so.» «Mann...» «Du», sagte sie und suchte Chris' Blick mit einer Intensität, dass sogar Chris nicht länger wegsehen konnte. «Wärst du mir jetzt sehr böse, wenn wir für heute Abend Schluss machen, ich...» «Aber ich bin dir doch nicht böse...» «Gut. Wir gehen am besten hinten raus.» Sie stand auf und ging an den Öllampen vorbei zur Terrassentür. «Komm, ich bringe dich zum Auto.» Als sie die Tür hinter Chris schloss, sagte sie: «Hier kannst du übrigens immer rein. Wenn abgeschlossen ist, da oben auf dem Balken liegt ein Schlüssel.» Und Chris brach fast das Herz, als sie ihren unter der engen Bluse gestreckten Oberkörper sah, und den Arm, der ihr zeigte, wo. «Und das Tor vorne hat den Code 2424, es ist ganz einfach. Nur für den Fall.» Chris sah erst sie an und schaute dann hoch in die alten Bäume. Sie sog die warme Nachtluft ein. «Ich begreife nicht, wie du dir so etwas gefallen lassen kannst.» «Das verstehst du nicht.» Langsam ging sie den Gartenweg hinunter. «Nein. Und ich weiß nicht, ob ich bestimmte Sachen überhaupt noch verstehen will. Manches macht mich einfach krank.» «Bist du jetzt sauer auf mich?» «Nein, wieso?» «Es hat sich so angehört.» «Nein.» Der Weg führte an einer verwilderten Hecke entlang, die zugleich die Grenze zum Nachbaranwesen markierte. Hier, auf der blinden Seite des Hauses, war es stockfinster. Immer wieder fassten sie einzelne Zweige an, und sie dachte an das Bäumchen, das gegenüber ihrer Wohnung aus der Dachpappe wuchs wie eine Hand und an diese wunderwunderschöne Drehung von Gudruns Hals, als
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die Hand ihr Gesicht traf. «Ich bin nur sauer auf mich», sagte sie. «Ich hätte ihm gleich einen in die Schnauze hauen sollen.» «Das ist auch keine Lösung.» Gudrun war stehen geblieben. «Doch», sagte Chris. «Doch, das ist eine Lösung. Vielleicht nicht für alle Probleme, aber für dieses schon, meinst du nicht? Leute, die so etwas tun, sind der Abschaum der Menschheit. Die fangen erst an zu denken, wenn sie einen in die Schnauze kriegen. Überleg doch mal: Wenn dieser Dreckskerl jedes Mal, wenn er dich anfasst, einen in die Fresse kriegt. Und zwar so, dass er es merkt. Und zwar so, dass ihm die Zähne zum Arsch rausfliegen. Wie oft, glaubst du, würde er das noch machen, wie oft?» «Es ist ja nicht für ewig», sagte Gudrun leise. «Im Grunde können sie mir nichts tun. Sie brauchen mich noch.» «Wie beruhigend. Hör mal, das ist überhaupt kein Argument: Sie brauchen mich noch. Was heißt das? Das ist Bullshit. Irgendwann sagst du noch, dass der Kerl im Grunde gar nicht so übel ist.» «Wir versuchen, uns hier wie erwachsene Menschen zu benehmen. Aber es gelingt nicht immer.» «Und wer war die Frau bei ihm?» «Seine Exfrau. Sie und mein Bruder haben noch geschäftlich miteinander zu tun, sie können nicht anders, sonst würden sie sich gegenseitig umbringen. Sie liebt mich übrigens. Aber nur, weil ich ihn hasse.» «Aber er darf dich nicht...» «Schhh, nicht so laut.» Gudrun hatte den Kopf gesenkt, und ein unklares Lächeln hielt sich auf ihren Lippen. «Sie wissen ohnehin schon, wer du bist.» «Na und? Mir egal.» Gudrun hob den Blick und schaute sie an. Trotz der Dunkelheit glänzte etwas in ihren Augen. Sternenlicht von Hydra, der Wasserschlange. Sie sagte: «Muss ich dich trösten?» «Hör mal, mich musst du nicht trösten.» «Ich glaube doch.» Sie legte Chris die Hand auf die Schulter, schob sie vorwärts, und gemeinsam gingen sie bis unter die große Kiefer
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neben dem zerpflügten Rondell. «Warum bist du eigentlich immer so wütend?» «Glaubst du, so etwas passiert nur hier?» Chris machte eine Kopfbewegung Richtung Straße. Gudrun lachte leise auf. «Was ist? Was ist so komisch daran?» «Nichts», gluckste Gudrun. «Es hat sich nur so komisch angehört: nur hier!» «Etwa nicht? Wer dich anfasst, hat den Tod verdient.» «Schhh», sagte Gudrun. «Ich bin eben anders. Und das ist nicht Xena hier. Tut mir Leid, dass du das miterleben musstest.» «Gudrun, das braucht dir nicht Leid zu tun...» «Das war mein Spruch...» «Stimmt, aber Xena hat Recht. Irgendwann muss man handeln, verdammt.» «Schhh, sie können alles hören.» Dann sagte sie: «Soll ich es mir mal angucken, Xena, meine ich?» «Das tust du doch nicht», entgegnete Chris und musste plötzlich lächeln. «Doch, ich tu es. Wenn es dich tröstet. Muss ich dich trösten, ChrisChristine?» Chris spürte ihre kühle Hand im Nacken, die langsam höher glitt und ihr schließlich durch das kurze Haar fuhr. Gudruns Miene war ernst, aber in ihren Augen glimmerte Hydra, als sie sagte: «Wirklich, das hier ist mein Problem, es ist meine Sache.» Und drehte sich kurz zu den Lichtern im ersten Stock des Hauses um. «Es ist meine Sache, comprende? Nur meine Sache.» Sie nahm Chris' Gesicht in ihre beiden Hände. «Und auch das hier ist nur meine Sache, comprende?» Sie küsste Chris auf die Wange, einmal, zwei Mal, drei Mal und sagte: «Es tut mir Leid, dass es so gelaufen ist, du musst einen tollen Eindruck von uns haben. Aber es ist meine Sache, okay?» Sie küsste Chris erneut, diesmal auf den Mund und fester, ihre Lippen öffneten sich, doch als Chris ihre Schulter fasste und den Kuss erwidern wollte, flüsterte sie: «Nein-nein-nein, nicht, nicht hier. Sie gucken sowieso schon», wobei sie zwei Finger, die eben noch Chris' Wange gestreichelt hatten, über ihre Lippen schob. «Ich sagte, es ist
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meine Sache, nur meine Sache. Das verstehst du doch, oder? Du hast mir selbst einen la ngen Vortrag darüber gehalten. Alter Feigling.» Und wieder spürte Chris zuerst ihre schnippische Unterlippe, die mit ihr spielte, weil es ihre Sache war, wobei ihr eigener Mund ganz trocken war, bis sie handelte und endlich nichts mehr tat, sondern nur die Augen schloss und dachte: Mach doch! Als sich Chris später, draußen vor ihrer Autotür, nach ihr umdrehte, war sie nicht mehr da, und Chris hatte auch gar nichts anderes erwartet. Trotzdem blickte sie noch eine ganze Weile in das Dunkel hinter den Bäumen und in die schimmernde Ecke des Wintergartens, wo alle die Pflanzen verdorrt waren. Sie merkte, wie nass sie war, während sie langsam die Straße mit den vielen sinnlosen Bushaltestellen entlangfuhr, und sagte laut: «O Mann.» Aber erst als die dreckige Stadt sie wiederhatte, schaltete sie den Funk ein und dann auch das Radio. «... seine Songs versteht er als ‹leere Texas-Pride-Dosen auf den verlorenen Highways Amerikas›...»
Es war noch nicht so spät, wie sie gedacht hatte, und sie akzeptierte eine Fahrt, die eigentlich nicht mehr in ihrem Gebie t lag. Sollten sie doch meckern. Ihre Umsätze waren eh so schlecht, sie musste etwas tun. Nur ihre nasse Fotze fühlte sich gut an, wann immer sie die Kupplung trat. «... sozusagen ein weiteres Kapitel aus dem großen Rock-'n'-Roll-Buch des Lebens...»
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9 Echte Profis
Zwei Tage später, an einem jener schlechten Abende, an denen Gudrun auf der Heimfahrt schon zwei Zigaretten in den Aschenbecher gedrückt hatte, ehe sie auch nur den Stau auf dem Hohenzollernring erreichten, sagte sie: «Er hat einen neuen Wagen.» «Wer?», fragte Chris. «Mein Schutzengel», antwortete Gudrun. «Der graue Renault. Hinter uns. Dreh dich nicht um.» Chris schaute in den Rückspiegel. «Komisch, der war heute Morgen auch schon da.» «Siehst du? Ich spinne doch nicht.» «Wer ist das?» «Was weiß ich?», sagte sie gereizt. «Ein Privatdetektiv. Zuzutrauen wäre es ihnen. Sie haben es vorher auch schon gemacht. Warum können sie mich nicht in Ruhe lassen? Es ist derselbe wie früher, nur mit einem anderen Auto.» Sie griff sich ins Haar, als wolle sie es ausreißen. «Ich halte das allmählich nicht mehr aus.» «Aber warum?» «Warum, warum? Du kannst Fragen stellen!» Sie schaute auf die blonden Strähnen in ihrer Hand. «Ja, warum?» «Verdammt, woher soll ich das wissen? Sie tun es, weil sie es können. Sie wollen mir zeigen, dass sie da sind. Und dass sie Bescheid wissen. Ob ich es merke oder nicht, ist ihnen egal. Wenn ich es merke, umso besser. Ich soll keine ruhige Minute mehr haben. Ich darf nie allein sein.» «Hast du schon mit Shrinki darüber geredet?» «Mein Gott, bist du dumm! Das wollen sie doch gerade. Was, glaubst du, sagt Shrinki, wenn ich ihm erzähle, dass mich jemand verfolgt. Oder vielmehr, dass ich den Eindruck habe, dass mich
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jemand verfolgt. Oder mir einbilde, dass ich verfolgt werde, denn darauf läuft es doch hinaus. Etwas Besseres können sie sich gar nicht wünschen.» Chris bog nach links ab und beobachtete den Renault zwei Wagen hinter ihnen. Scheinbar beiläufig und ohne zu blinken folgte ihnen der graue Wagen auf den Ring, wartete mit heruntergeklappter Sonnenblende, sodass Chris kein Gesicht erkennen konnte. «Aber ic h habe ihn doch auch gesehen.» «Na und? Wer bist du denn schon? Meinst du, irgendje -manden interessiert, was du gesehen hast? Das nützt mir überhaupt nichts.» Sie schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. «Nein. Nein. Nein. Nein. NEIN!» «Komm, beruhig dic h», sagte Chris, aber Gudrun blickte nur starr geradeaus, kaute an ihrem Daumennagel und fing an, immer tiefer und schneller zu atmen. Chris kannte das schon. Es sah anfangs immer so aus wie bei einem Kind, das jeden Moment losheulen konnte. Nur dass bei Gudrun dieser Moment nie kam, auch wenn sie zu denjenigen Frauen gehörte, die dabei gut aussahen. Stattdessen versteinerte sich ihre Miene, konzentrierte sich ihr Blick auf etwas, das Chris nicht sehen konnte, und schien dabei Unmengen von Sauerstoff zu verbrauchen, den sie wie eine Süchtige in sich hineinpumpte, bis sie selber vor der kalten Macht in ihren Augen erstarrte und dann oft nur noch die Spucktüten von der Taxi-Innung halfen, in die sie hineinatmen konnte. «Hey, steigere dich nicht rein», sagte Chris und ergriff die Hand vor Gudruns Mund. «Fass mich nicht an», zischte Gudrun und zog ihre Hand weg. «Fass mich nicht an! Er muss das nicht auch noch sehen. Was glaubst du eigentlich, wer du bist! Wenn du unbedingt etwas tun willst, sieh zu, dass wir ihn loswerden.» «Mit der Karre?» «Wieso nicht? Du kannst doch sonst immer alles!» Und wieder bewegte sich der Stau um einige Meter weiter. «Komm, reg dich nicht so auf. Im Augenblick können wir nicht viel machen. Und was hat er schon davon, wenn er uns hinterherfährt?» «Das verstehst du nicht. Du verstehst gar nichts.»
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«Wir wissen, dass er da ist.» «Na und? Mach, dass er verschwindet.» Chris wandte den Kopf und sah sie an. «Das kann ich nicht. Und wo sollte er auch hin, in dem Stau?» «Siehst du? Was kannst du überhaupt?» Chris zuckte die Schultern. «Ich könnte aussteigen und ihm sagen, wo wir hinfahren. Dann kann er einen Kaffee trinken gehen.» «Hältst du das für witzig?» Chris zuckte die Schultern. «Wirklich sehr witzig. Du bist ja so cool, Chris-Christine. Aber nur, weil du absolut keine Ahnung hast.» Wieder zog sie an ihren Haaren. «Nein. Nein. NEIN!» «Jetzt reiß dich mal zusammen.» Chris versuchte, ihre Schulter anzufassen, doch Gudrun schüttelte sich. «Ich will mich aber nicht zusammenreißen. Und du... kotzt mich an, du bist ja so cool, so cool, die coole Chris...» «War nur ein Vorschlag. Kümmer dich doch erst einmal nicht um den Typ.» «So wie du, meinst du? Cool. Aber dir kann es ja auch egal sein.» «Nein, aber es bringt jetzt nichts, sich so aufzuregen. Was kann er schon tun?» «Er nicht. Aber sie. Sie wollen mich weiter quälen.» Chris wusste, dass sie die ganze Zeit den grauen Renault nicht aus den Augen gelassen hatte. Dann sagte Gudrun: «Also: Was haben sie dir über mich erzählt?» «Geht das schon wieder los?», antwortete Chris. «Frau, du nervst.» «Wieso? Möglich wäre es doch. Die stecken alle zusammen, ich kann niemandem mehr trauen.» «Genau, und das ist der beste Weg, sich endgültig verrückt zu machen», sagte Chris. «Hör mal, wie wäre es, wenn du...» «Nein», schrie sie plötzlich und boxte Chris mehrfach auf den Oberschenkel, dass es schmerzte und der Diesel ein dunkles Grollen von sich gab. «Du hörst mir jetzt zu! Du hörst mir zu, du...»
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«Ich höre dir zu, aber lass mich wenigstens fahren.» «Es interessiert dich sowieso nicht...», sagte Gudrun, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute rechts aus dem Fenster, doch als Chris nicht reagierte, wandte sie den Kopf. «Weißt du, manchmal könnte ich dich... manchmal würde ich dich am liebsten mit dem Kopf in dieselbe... dieselbe Scheiße stoßen, in der ich...», und boxte Chris gegen den Arm, ein Mal, zwei Mal, drei Mal und wiederum so fest, dass es wehtat. «Nur damit du diese ekelhafte Gleichgültigkeit loswirst, diese Art, diese Art, wo dir keiner was kann und alles an dir abperlt...» «Dann mach doch», hätte Chris fast erwidert, sagte stattdessen jedoch: «Hör mal, andere Leute haben auch Proble me. Aber du verbreitest permanent Stress um dich herum, ist dir das eigentlich klar? Dauernd dieses Theater. Und am nächsten Tag kommst du an und heulst rum: Bin ich eigentlich sehr egoistisch?» «Na und? Habe ich vielleicht keinen Grund?» «Keine Ahnung, ob du überhaupt noch einen Grund brauchst.» «Das ist gemein.» «Kann sein. Aber die Frage ist jetzt: Willst du den Kerl loswerden, ja oder nein. Falls ja, musst du was tun.» «Was soll ich denn tun?» «Du nimmst hier die U-Bahn bis zur Station Christophstraße oder Ebertplatz...» «Aber das geht nicht.» «Wieso geht das denn nicht?» «Ich bekomme Platzangst in der U-Bahn.» «Ich hab's gewusst. So wird das nie was.» «Du bekommst mich in so eine Röhre nicht rein.» «Hör mal, das sind nicht mehr als zwei, drei Stationen! Erzähl mir nicht, dass du das nicht irgendwie schaffst.» «Du weißt nicht, wie das ist», erwiderte sie, wischte sich eine Strähne aus der Stirn und öffnete ihre Handtasche. «Du kannst dir das nicht vorstellen, eingesperrt mit all den ekelhaften Leuten, da ersticke ich.»
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«Ich weiß nur, dass irgendetwas geschehen muss, und das geht eben nicht von selbst, Lady.» «Sprich nicht so mit mir», sagte Gudrun. «Du bist schon wie alle anderen. Dauernd zerrt ihr an mir.» Chris hörte das Knistern einer Blisterpackung, während sie auf die spiegelnde Frontscheibe des Renault starrte und Gudrun zu ignorieren versuchte, weil sie ein Profi war, der alles unternahm, um seine Fahrgäste zu schützen. Es war die Position, auf die sie sich zurückgezogen hatte. «Hast du gehört?», rief Gudrun. «Zerr nicht so an mir!» «Und du hör auf, mich zu boxen, ich muss nachdenken.» Sie war angefahren, ließ aber die Kupplung schleifen, bis der Hintermann anfing zu drängeln, nämlich als die Ampel vor ihr schon auf Gelbrot sprang, denn erst dann gab sie Gas und bog scharf in die Aachener ein. «Oh, die coole Chris-Christine muss nachdenken?», sagte Gudrun und boxte weiter gegen ihren Arm. «Lässt du uns an deinen Gedanken teilhaben?» Der Renault hatte sich durch dieses Manöver natürlich nicht abschütteln lassen. «Frau, hör auf mit dem Scheiß.» Sie hielt Gudruns Hand fest, um sie gleich wieder loszulassen. «Und wenn nicht? Manche Leute muss man hauen, bevor sie anfangen zu denken. Hast du selber gesagt. Na, was ist? Hm? Willst du es mir nicht sagen?» Mit der Beharrlichkeit eines kleinen Kindes schlug sie immer härter auf stets dieselbe Stelle ihres Arms, während Chris einen Umweg durchs Belgische Viertel fuhr - nur um sicherzugehen. Der graue Renault kam ihr mal näher, mal schien er sich im unübersichtlichen Geschehen zu verlieren, aber stets tauchte er wieder auf. «Was soll ich denn sagen?», erwiderte Chris. «Was ich tun muss, damit du mich ernst nimmst.» «Das tue ich doch.» «Tust du nicht. Du glaubst nämlich, dass die anderen im Grunde Recht haben.» «Und für wen kurve ich hier rum?»
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«Für dich. Ich weiß nämlich, was du denkst, Chris-Christine. Und so wirst du ihn sowieso nicht los», sagte sie nach einem Blick in den Rückspiegel und fing wieder an, Chris' Arm zu boxen. «Im Ernst, was muss ich tun, damit du mir glaubst? Sag, was? Ich tu's, wirklich. Aber nimm mich endlich ernst. Ich würde alles tun dafür. Was du willst.» «Das hatten wir doch schon, oder?», sagte Chris und kehrte auf die Aachener Straße zurück. «Ja, und damals warst du schon genauso gemein wie jetzt. Sag, was muss ich tun, damit du nicht mehr so bist?» Doch Chris, verstrickt in Girlanden der Scham, sagte: «Hör auf, so viel Stress zu machen.» «Also nicht? Du willst es mir nicht sagen?» Im darauf folgenden Schweigen gewann Chris einen Vorsprung von genau einer Ampel, der aber sogleich wieder verloren ging. Sie wendete. «Er ist aber immer noch hinter uns», sagte Gudrun schadenfroh. «Ich weiß. Und das soll er auch», entgegnete Chris, gleichfalls nicht ohne Genugtuung, weil es ihr immerhin gelungen war, Gudrun zu beruhigen, auch wenn diese es nicht einmal bemerkte. (Das konnten nur echte Profis, und Chris kam sich ungeheuer fähig vor.) Sie bog in eine kleine Seitenstraße ein, der sie bis zu einem Wendekreis folgte, wo es nicht weiterging außer nach rechts zu einer Kirche, die aussah wie ein Hangar für Zeppeline und geradeaus durch eine kleine Kastanienallee in einen Ausläufer des Stadtwalds. Auf der linken Seite war ein Halteplatz für drei Taxis - leer. Chris hielt an. «Okay, steig jetzt aus. Geh in den Park. Geh den Weg hinunter, bis du am Kanal bist, dann rechts, immer am Kanal entlang. Er kann dir dort mit dem Auto nicht mehr folgen, er muss zu Fuß gehen. Später kommen mehrere kleine Straßen, die du überqueren musst. Ich werde versuchen, dich da irgendwo aufzugabeln. Bis der Kerl wieder bei seinem Wagen ist, sind wir längst weg.» «Das klappt doch nie!» «Was soll daran nicht klappen?» «Weil er vielleicht gar nicht mir folgt, sondern dir!»
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«Na und? Soll er doch. Dann lotse ich ihn erst mal ganz weit weg. Und du gehst in aller Seelenruhe weiter bis zum Lindenthalgürtel, wo du dir die nächste Straßenbahn...» «Aber das geht nicht.» «Wieso?» «Du kriegst mich in so ein Ding nicht rein...» «Herrgott, da ist auch ein Taxistand, du weißt genau, was ich meine. Aber er ist allein, und wir sind zu zweit, dagegen kann er nichts machen. So oder so bist du ihn los.» «Und was wird aus dir?» Gudrun sah sie an. «Dann sehen wir uns morgen», sagte Chris und legte ihr die Hand aufs Knie. «Du, Chris», sagte Gudrun. «Ich nerve dich wirklich, oder?» Chris schüttelte den Kopf. «Nein, tust du nicht. Aber jetzt raus hier. Komm, beweg dich. Und schalte dein Handy an. Hast du dein Handy an?» «Handy an? Handy anschalten, richtig, ich muss noch...» Und wühlte in ihrer Handtasche auf diese Art, dass Chris am liebsten Gudruns Kinn zu sich herangezogen hätte, um ihr einen gar nicht verschmierten Lidstrich aus dem Augenwinkel zu wischen. Als Gudruns schlanke Gestalt aus dem Gesichtsfeld des Rückspiegels verschwunden war, sah sie ihn - falls er es war. Denn so, wie er vor dem gläsernen Schaukasten mit Kirchenmitteilungen stand, hätte er alles Mögliche sein können - oder nichts, was sogar das Wahrscheinlichste war. Ein Mann von vielleicht Mitte fünfzig, mit grauen, akkurat gescheitelten Haaren, einem blaugrauen Sakko, Schal und mit etwas in der Hand, das aussah wie ein Herrentäschchen. Ein Mann, der so desinteressiert, so selbstverständlich-zufällig Teil der Umgebung zu sein schien, dass er sich damit beinahe zum Verschwinden brachte und Chris sich fragte, ob so ein Privatdetektiv aussah. «Hey, Schnüffler, guck doch mal her zu mir», flüsterte sie. Doch das tat er nicht, sondern ging weiter die breiten Betonstufen zur Kirche hoch, wo er stehen blieb und den Blick schweifen ließ,
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über den kahlen Rosengarten, die Allee, die luftigen Kronen der Bäume. «Na, kannst du sie noch sehen?», sagte Chris halblaut. Der Mann kam langsam die Stufen hinunter. Unten, wo die Betonplatten bereits von den Kastanienwurzeln gesprengt worden waren, blieb er abermals stehen und zückte ein Taschentuch. Bäume konnten so etwas. Ihre Kraft war noch brutaler als Beton, und an vielen Stellen in dem Wendekreis wölbte sich bereits der Boden. Aber Bäume waren auch vielseitig. Beispiel: Die Hand, die aus dem Dach auf der anderen Hofseite wuchs. Sie würde eines Tages von oben durch die Decke brechen. Welche Bäume wuchsen eigentlich auf Dächern? Sie hatte keine Ahnung, wie auch? Die Natur war weg, seit sie denken konnte. Als der Mann sich schnäuzte, das lächerliche Herrentäschchen am Handgelenk, hatte Chris das Gefühl, dass er, aus der Deckung des Taschentuchs, zu ihr herüberschaute. Clever. Als Tätigkeit viel zu physisch, selbstbezogen, schleimig: Hey, guck rein, und das, was du dann siehst, bist du! Doch noch während er sich die Nase abtupfte, blickte er nach rechts in die Allee und anschließend wieder zu Chris. Er trug, wie Chris jetzt sah, einen kleinen grauen Schnurrbart. «Tja, Schnüffler», sagte Chris leise. «Jetzt weißt du nicht weiter, was? Wie stehen wir zueinander? Na, was meinst du? Gehören wir zusammen, oder bin ich nur die Taxifahrerin? Hey, guck doch mal her. Denn davon hängt alles ab.» Ein zweites Taxi rollte durch den Wendekreis und stellte sich hinter sie. Das war gut, denn dies würde ihr später erleichtern, sich unauffällig zu verdrücken. «Genau, sieh her, sieh mich an. Lass sie in Ruhe, nimm mich. Fahren wir ein bisschen spazieren? Außerdem hast du meine Frage noch nicht beantwortet. Was denkst du? Gehören wir zusammen oder nicht? Jetzt guck nicht so, ich weiß es auch nicht. Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich dachte, du kannst es mir sagen. Na, was ist? Entscheide dich, sonst ist sie weg.» Doch falls überhaupt eine Entscheidung fiel, so war sie ihm nicht anzumerken, denn auf einmal wandte er sich ab und ging auf die Allee zu, aber wiederum so absichtslos-normal, als existierte zwischen
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alledem kein Zusammenhang. Vielleicht sah sie ja auch schon Gespenster, und der echte Detektiv lauerte ganz woanders. Trotzdem beobachtete sie ihn, bis er hinter dem Rosengarten verschwand. Und als ein weiterer Wagen in den Wendekreis einbog, nutzte sie die Gelegenheit und raste los. Um in die kleine Seitenstraße zu gelangen, die den Park durchschnitt, musste sie um das ganze Viertel herum. Die Hecke, hinter der sie dann wartete, zeigte die ersten grünen Spitzen, und Gudruns verlegener Augenaufschlag, als sie das Taxi bemerkte, war so unwirklich schön, dass Chris sogar vergaß, was ihr noch eine Minute vorher durch den Kopf gegangen war, nämlich dass sie an diesem Abend den ersten Schritt in das Land des Wahnsinns getan hatte. Es war nur ein vages Gefühl, aber sie spürte, wie etwas nach ihr griff, das anders war als die dumpfe Bösartigkeit des Kölschen Klüngels oder Yves übel gelaunte Gier – und gefährlicher. «Hey, ist ja irre. Hast du gesehen, wie der geguckt hat?», rief Gudrun, als sie ihre langen Beine in den Wagen schwang und Chris um den Hals fiel. Allerdings, soweit Chris es erkennen konnte, hatte der Mann, gut hundert Meter entfernt, überhaupt nicht geguckt, nicht einmal gestutzt, sondern war gelassen an den Kanal getreten, hatte auf das Wasser geschaut, das die milchigen Wolken in ein glitzerndes Schuppenband verwandelte - als sei nur eingetreten, was er längst erwartet, vielleicht sogar gewollt hatte. Wer immer dieser Mann mit dem Schnurrbart war, er war ein Profi, der seine Rolle zu Ende spielte, auch wenn er dabei nicht gut aussah, schon deshalb wollte sich bei Chris kein Triumphgefühl einstellen. «Und was machen wir jetzt?», sagte Gudrun. «Sag, worauf hast du Lust?» «Wo willst du denn hin?», fragte Chris zurück. «Nach Hause?» «Doch nicht nach Hause. Um am Ende bloß nach Hause zu fahren, hätten wir das alles nicht machen müssen.» Sie schaute Chris an. «Ich finde, wir haben uns ein bisschen Spaß verdient. Wo wir mal frei haben.» «Aber ich muss arbeiten.»
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«Na und, tust du doch. Das war übrigens genial eben. Und wie der geguckt hat! Wo hast du das gelernt, Chris-Christine?» «Nicht der Rede wert. Aber ich muss wirklich noch arbeiten. Ich habe fast kein Geld mehr, es läuft so schlecht im Augenblick.» «Na und, ich geb dir welches, ist doch kein Problem.» «Das geht nicht.» «Wieso denn das nicht? Ich bezahle dich ja auch jetzt.» Sie hatte ihre Handtasche geöffnet, wühlte in den Innenfächern. «Das stimmt nicht. Du bezahlst die Taxifirma, und die Taxifirma gibt mir davon einen Teil ab.» «Gott, bist du schwierig. Ich dachte, wir wären Freundinnen. Wovor hast du Angst? Hier, nimm.» Und steckte ihr mehrere Geldscheine in die Seitentasche. «Eben. Dann kann man so etwas nicht machen. Ich will das nicht.» «Wieso nicht? Na los, nimm schon. Ist doch nur Geld.» «Für jemanden wie dich vielleicht.» «Ach, komm, was soll das? Ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber du brauchst mich nicht noch extra zu bestrafen für etwas, für das ich nichts kann», sagte Gudrun und fasste ihren Arm, als wollte sie ihn zu sich herüberziehen. «Weißt du, ich dachte mir, wir könnten vielleic ht schwimmen gehen, es wäre mal etwas anderes, etwas ganz Normales, was man abends eben so macht. Und später gehen wir etwas essen. Ich meine, es ist nicht mal sechs Uhr, und ich will einfach noch nicht nach Hause. Wieder einen Abend allein, das ertrage ic h nicht. Jetzt, wo die Tage immer länger werden, ist es noch schwerer zu ertragen als im Winter. Kennst du die Gereon-Therme?» «In Deutz? Meinetwegen. Ich fahre dich hin. Aber ich komme nicht mit.» «Du kennst in dieser Stadt auch alles, oder?», sagte Gudrun tapfer. «Nein, ich kenne gar nichts. Ich weiß nur, wo es ist.» «Dann komm mit, lern es kennen.» «Nein.» «Und warum nicht?»
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«Du kannst mich nicht dafür bezahlen, dass ich mit dir schwimmen gehe», sagte Chris, die Augen starr nach vorn gerichtet. «Und außerdem ist das für mich nicht so... außerdem habe ich keinen Badeanzug dabei...» «Na und? Können wir leihen. Mach doch nicht alles kaputt.» «Gerade das will ich ja nicht.» «Dann freu dich doch mal», sagte Gudrun und zog Chris' Kopf gewaltsam zu sich, sodass Chris das Steuer verriss. «He, Vorsicht...!» «Na und? Na und? Was muss ich tun, um dich wach zu machen?» «Das musst du gerade sagen, die sich täglich Tausende von Pillen reinzieht!» «Na und? Ich weiß es wenigstens. Aber deine blöden Posen nutzen dir jetzt nichts. Früher bin ich darauf hereingefallen. Chris, die Coole. Chris, die Gemeine. Aber du bist ein Feigling, Chris-Christine. Weißt du, du kannst so nett sein, wenn es mir schlecht geht. Manchmal denke ich, du kannst nur nett sein, wenn es mir schlecht geht. Nur freuen kannst du dich über nichts. Wovor hast du Angst? Aber deine Show imponiert mir nicht mehr. Weißt du, was mir imponiert hat? Das, was du damals am Flughafen gemacht hast.» «Hat sich aber nicht so angehört», erwiderte Chris. «Vielleicht, aber es kam alles so überraschend. Und es war ja auch verrückt, oder? So verrückt, dass man das eigentlich niemandem erzählen kann. Da kommst du einfach auf mich zu und küsst mich. Aber es war schön, denn in dem Moment hast du mir getraut. Das würdest du heute auch nicht mehr machen, oder?» Chris zuckte die Schultern. «Dachte ich mir. Weißt du, was ich in dem Moment gedacht habe? Ich dachte: Mein Gott, diese Frau ist genauso allein wie du, so etwas macht kein normaler Mensch.» «Aber das ist keine Basis», sagte Chris. «Du redest schon wie Shrinki. Auf jeden Fall akzeptiere ich dich viel mehr, als du denkst. Und viel mehr als du mich.»
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«Du weißt doch gar nichts über mich», sagte Chris. «Es geht doch immer nur um dich. Du führst dein Leben, und ich führe meines, beide haben nichts miteinander zu tun. Das ist eben so. Und irgendwann, wenn es dir wirklich besser geht, wirst du aufwachen und es ebenfalls merken.» «Das glaubst du wirklich?» «Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber guck mich doch an. Oder dich. Guck dich an, und dann guck mich an. Das geht nicht zusammen.» «Nicht mal zum Schwimmen? Schämst du dich für mich?» «Ich? Für dich?», entgegnete Chris und lachte kurz auf. «Eher wohl umgekehrt, oder? Irgendwann jedenfalls. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber der Tag wird kommen, das weiß ich. Ich meine, es ist okay, wenn ich dich fahre. Ich mach das gerne, ich mag dich sehr. Aber mehr sollten wir nicht machen.» «Und statt dich zu freuen, dass ich dich einlade, leidest du lieber still vor dich hin. Oder vielleicht ist stolz das bessere Wort: Du leidest stolz vor dich hin. Aber diesen Scheißstolz muss man sich erst mal leisten können. Ich kann das nicht mehr, nach alledem. Ist mir auch egal, Ritter der Münzen... dann eben nicht.» «Ich sagte ja, wir führen nicht dasselbe Leben.» «Stimmt», sagte Gudrun. «Das ist der Unterschied zwischen uns: Ich leide nicht mehr still.» Trotzdem saßen sie beide stumm und wie festgewachsen nebeneinander, während der Diesel, auf seinem Weg zu einem Ziel, das nicht mehr ihr gemeinsames war, die Zoobrücke erklomm und Chris die Metallfugen im Asphalt zählte wie einen Countdown, nach dessen Ablauf nur ein Wunder geschehen konnte, denn noch widerstand ihr störrisches Herz, vorbei an Willkommen... Bienvenu.... Welcome, der üblen Sonne, die in ihrer Brust aufging, sowie auch der Erkenntnis, dass sie zu weit gegangen war. Doch Wunder geschahen nicht, wenn niemand das Zauberwort sagte, und zumindest das war ihnen zuvor doch immer noch eingefallen, oder? Oder irgendetwas war passiert, etwas, das half wie Muttis Spucke, und wenn sie allein war, dachte sie ja längst in der Wir-Form, nur hier, unentschlossen auf der Fahrspur des Parkplatzes vor der Therme kam es ihr so absurd vor,
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dass sie Gudrun hätte anschreien mögen, was denn daran so schwer zu begreifen sei, zumal sie das schon mehrere Male mitgemacht habe, aber nie wieder, verdammt, Scheißheteras immer, und so weiter und so weiter, wobei sie, Gudrun, zugegebenermaßen nichts dafür könne, aber trotzdem, aufhören könne sie zumindest, aufhören zu existieren, und warum sie, Chris, nicht mal jemanden kennen lernen könne, der normal war, also so wie sie. Doch sie stand nur mit laufendem Motor auf der Mittelspur des Parkplatzes, starrte geradeaus, konnte sich nicht entscheiden, bis die Scheißkarre auch noch anfing, Kühlmittel herauszudrücken, ausgerechnet jetzt, zischende giftige Tränen, wütend, dass sie keiner weinte, während sie im rechten Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und jeden Moment das Türgeräusch erwartete, das ihren Wunsch wahr machte und die üble Sonne in ihrem Magen aufging und sie endlich den Kopf wandte und in Gudruns braune Augen sah, so groß und müde, so hilflos glänzend und achtlos verlaufen ihr Make-up, wo die kleinen Fältchen auf einmal so tief waren, wie sie sie noch nie gesehen hatte, und sie sich fragte: Bin ich das? War ich das? Worauf sie den Blick senkte, den Funk abstellte, der, da sie Profi war, selbst bei Gudrun immer mitlief, und in die nächste Parktasche fuhr, wo sie den Zündschlüssel zog und sich der zischende Kühler trotzdem lange nicht beruhigte. «Du hättest mich wirklich allein gehen lassen», sagte Gudrun schließlich. «Ja, aber nur fast», sagte Chris und probierte ein Lächeln, von dem sie wusste, dass es nichts rettete.
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10 Time-Warp der Schande oder
Princess of fucking Darkness
Auf jeden Fall hatte Chris kein gutes Gefühl. Ihr schien, als ginge bereits etwas zu Ende, was im Grunde noch nicht einmal begonnen hatte. Denn was jetzt kam, kannte sie schon, diese letzten verzweifelten Unternehmungen, die man zu zweit noch hinter sich brachte, weil man einfach nicht glauben wollte, dass es zu Ende war. Sie kannte den unbarmherzigen Blick in den Augen der anderen Frau und wohl auch in den eigenen, der Blick, der auf der Stelle ein Wunder verlangte, das alles neu machte, genauer gesagt alles genauso ließ, wie es war, nur anders, schöner, und sie beide zurückversetzte in den Stand der Unschuld, als sie noch nicht so viel voneinander wussten und nicht so viel über sich selbst. Und da war es am Ende auch egal, wer von ihnen weinte. Denn eine weinte immer, eine musste diese Rolle übernehmen, auch wenn sie nicht gut dabei aussah. Und selbst wenn es meistens nicht Chris war, so wusste sie doch, dass die andere für sie mit weinte - ihre letzte Gemeinsamkeit. Chris war einfach kein Optimist. Soweit sie sich erinnerte, fanden Trennungen immer halb in der Öffentlichkeit statt, in Situationen wie dieser, wenn die Kräfte des Bösen nur noch abwarten mussten. Das war eigentlich unausweichlich, denn allein ihre Liebe vor anderen Leuten zu zeigen kostete, obwohl sie das nie zugeben wollte, so viel Energie, Energie, die, zumindest nach Chris' Theorie, anderswo fehlte. Und wofür das alles? Nur um all den Glotzern standzuhalten, die ihr doch nur Schlechtes wünschten? Sie hatte hierzu längst ihre eigene Meinung. Und überhaupt war ihr Leben total scheiße und die Situation völlig verkorkst, weswegen sie am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht hätte.
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Aber Gudrun sagte nur: «Lass mich jetzt nicht allein», mehr nicht, wobei sie denselben Ausdruck im Gesicht hatte wie an dem Abend im Wintergarten, als sie aus der Halle der zerspritzten Hirne zurückkam, nur dass die Frage nach dem Schuldigen für Chris diesmal nicht so leicht zu beantworten war. Das Problem war, dass sich die Phase der Stärke dem Ende näherte. Chris fühlte sich machtlos vor dieser Frau. Die Offenheit, diese Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, mit der ihr Gudrun ihre Freundschaft anbot, erschreckte sie, nicht nur weil sie gegen alle die Regeln verstieß, die Chris für sich selber aufgestellt hatte, sondern auch weil sie jeder Erfahrung widersprach und sie nicht wusste, was sich hinter dieser Offenheit verbarg. Normal war das alles nicht. Was erwartete Gudrun von ihr? Sie, Chris, konnte doch nichts für sie tun. Am meisten hingegen fürchtete sie in diesem Moment die kalte Macht, die manchmal in Gudruns Augen entstand und die für Chris sogar in der vergleichsweise milden, spöttischen Form unerträglich war - etwa als sie unter Gudruns Blick alle diese schönen Sachen anprobieren musste. Sie hatte sie später übrigens kein zweites Mal getragen, sondern nur traurig und ordentlich in der Kiste begraben, die jetzt ihr Schrank war, obwohl der Coyote, als er sie in dem Outfit sah, das Daumenzeichen gemacht und gesagt hatte: «Hey, Babe, was ist denn mit dir passiert?» Und da sie das schon damals nicht gewusst hatte, vergrub sie jetzt wenigstens ihre Hände in ihrer Lederjacke mit all den schweren Gegenständen, die sie beschützten, doch steckte in der rechten Tasche noch Gudruns Geld, sodass sie die Hand schnell wieder herauszog, direkt in Gudruns kühle Finger, die sie festhielten und fortzogen, vorbei an dem strengen, viereckigen Brunnen und den römischen Säulen, hinein in ein submarines Mikroklima aus Algengrün, Kadmiumgelb, Azurit, das ihre Stimmen veränderte, Distanzen aufhob und wider Erwarten nicht nach Chlor roch wie dort, wo sie mit Tina immer hingegangen war, sondern nach Blumen. Die Scham kroch in ihr hoch, als Gudrun mit ihrer Kreditkarte bezahlen musste, weil Chris ihr ganzes Geld hatte, aber Gudrun drehte sich um, drückte ihr den Stapel mit Bademänteln und -tüchern in den Arm, damit sie endlich den Mund hielt, bloß Badeanzüge waren keine
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dabei, und Chris, mit dem Frotteestapel bis ans Kinn, ging schon mal vor und schaute durch ein Bullauge auf eine Wasserla ndschaft von reinstem Ultramarin, mit kleinen Brücken, Inseln, unterseeischen Quellen, Kaskaden und weiter hinten, umgeben von tropischen Farnen, einer Terrasse mit Liegestühlen, die sich der Urwald als Erstes zurückholen würde, Bäume waren so, und Chris dachte, dass sie das alles gar nicht wollte, vor allem wollte sie sich nicht noch einmal vor Gudrun ausziehen müssen, ihrem Blick preisgegeben, obwohl sie, wie aus einer Ahnung heraus, am Morgen ihre Pussy rasiert hatte, aber spätestens dann war ohnehin Schluss. Spätestens wenn Gudrun ihre Piercings sah, würde ihr spöttisches Lächeln in Befremden umschla gen, garantiert, und sogar sie, Gudrun, würde merken, dass sie und Chris auf eine fundamentale Weise nicht zusammenpassten, egal, wie viel Tabletten sie einwarf, und darauf wollte Chris nicht warten, denn dies war ein Bad für normale Leute, schau sie dir an, alles normale Leute, und sie, Chris, fühlte sich schon jetzt wie ein Freak. Aber es war der Preis, den man zahlte, wenn man gegen die Kräfte des Bösen kämpfte, nicht jeder verstand das, ihre Mutter zum Beispiel gar nicht, Rudi vielleicht ein bisschen, der Coyote höchstens so halb, Yve war zu primitiv, um überhaupt irgendetwas zu verstehen, blieb nur noch Tina, und sie hatten nie darüber geredet, Tina und sie, es schien auch nicht nötig zu sein, genauso wenig wie bei dem Typ vom Tattoo-Studio, ein Scheißnazi, ohne Scherz, aber eben auch ein genialer Tätowierer, ein Künstler, nur eben auch ein Scheißnazi, der fand, dass Schwule und Lesben weggesperrt gehörten, oder etwa nicht, bis er alle die Narben an Chris' Armen sah und begriff, dass hier nicht nur das typische Tussen-Tribal fällig war, sondern die große Lösung, the real thing gegen Kräfte des Bösen, Harlekin und Todesengel, die Vamps, Dämonen und Kreaturen stammten alle von ihm, waren sein Werk, das er im Lauf eines Jahres, je nachdem, wie viel Chris gespart hatte, ständig erweiterte, verfeinerte und zu einem Ganzen verband, ewig unzufriedener Profi, für den das ganze perverse Pack in den Knast gehörte, der aber darauf bestand, Chakram und Doppelaxt mit weißbläulichen Lichtreflexen zu versehen, Scheiß bright American Ami-Farben, denn nur so wurden sie richtig scharf, verstehst du, wie ich meine, sie werden pervers scharf, verstehst du, wie ich meine, rattenfotzenscharf, und warum auch nicht, als
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Scheißnazi verstand er was davon, von Narben, Dämonen und rattenfotzenscharfen, papierscharfen Klingen und was sonst alles nötig war gegen die Kräfte des Bösen, brauchst ihm nur zuzuhören. Bis dann Doro dazukam, seine Frau oder Freundin, keine Ahnung, ob sie verheiratet waren, und sagte: «Hör nicht auf ihn, er ist ein Arsch!», klar, sie konnte das, Doro in ihrem knatschgrünen Kunstleder-Mini, den Riesentitten in der Bluse, so speckröllcheneng, dass der Stoff fast durchsichtig wurde, Doro mit ihrem kaputtgefärbten Haar mit giftgrünen Spitzen, die aussah, als wäre sie früher mal mit den Hell's Angels mitgefahren, sie konnte das, durfte das, denn sie war diejenige, welche die Sachen machte, die wirklich wehtaten, und ein Scheißnazi wie er wusste schließlich Bescheid, was wehtat, zum Beispiel schon Titten, selbst wenn man nur kleine Ringe nahm, weniger weh der Bauchnabel, aber das hatte sowieso jede, also machte sie weiter, hungrig nach dem Schmerz und dem Ritual, und das war der Unterschied, Doro war immer ganz ernst, ernst und genau, kein spöttisches Lächeln von ihr, nicht mal ein kleines, nicht mal, als Chris ihre Schamlippen piercen wollte (Clit traute sie sich noch nicht), und ihr plötzliches Herzklopfen, als Doro sagte: «Gut, dann zeig mal her», wobei Chris erst nicht hinsehen konnte außer in ihre ernsten dunklen Augen, in denen dieselbe Traurigkeit lag wie jetzt bei Gudrun, trotz des heftigen Make-up, und auf Doros Urteil wartete, wie musste eine Fotze sein, dass man sie piercen konnte, und erst dann wieder Luft holte, als Doro sagte: «Klasse, sieht gut aus», ein Kodak-Moment von dunklen Augen und offener Fotze, ein Kodak-Moment totalen Ausgeliefertseins und sprachloser Dankbarkeit, denn das hatte noch nie jemand zu Chris gesagt. Weswegen es in der Folge auch nicht bei einem Piercing blieb, zwei mussten es mindestens sein, schon wegen der Symmetrie, Chris liebte Symmetrie, und so wurden es irgendwann vier, schließlich sechs, weil sie jetzt nicht aufhören wollte und weil ein Zeichen hermusste, sechs Silberringe in ihren kleinen Labien, ehe Doro sagte, sie solle es gut sein lassen, auch dies ohne jede Ironie, weil es auch nicht zum Lachen war, sondern ernst, weil sie auch ohne lange Erklärungen verstand, warum Chris es tat, Tochter von Dahaak, weil es wochenlang wehtat und sich anfühlte wie Piranhas, die sich in ihrem Fleisch verbissen hatten, nicht nur beim Gehen, auch bei Gas, Bremse, Kupplung, sodass sie sich lange nicht anfassen wollte und es Monate dauerte, bis sie stärker an den Ringen ziehen konnte, wie sie
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sich das vorgestellt hatte, aber dafür musste sie anfangs auch immer wieder hin, denn Doro nahm es ziemlich genau, damit sich nichts entzündete, und bald schon mochte sie sogar zusehen, wie Doro sie mit ihren OP-Handschuhen berührte, so ernst und genau, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, auch wenn es für andere vielleicht nur bescheuert war, wenn ihre eigene Fotze in dieser Zeit nicht mehr ihr gehörte, weil sie ihr abgenommen und den Piranhas zum Fraß vorgeworfen worden war, und zwar vollkommen zu Recht, weil sie Schindluder damit getrieben hatte, Princess of fucking Darkness, motherfucking dyke («Hallo, Mutter! Schau auf deine Tochter!», und das obwohl ihre Scheißmutter, hätte sie es gewusst, vermutlich nichts weiter gesagt hätte als «Das gute Geld!»), und dafür ins Land der Schmerzen und gieriger Piranhas verbannt worden war, ein Land, das nur sehr allmählich kleiner wurde, und erst Doro ihr zeigen musste, wie sorgfältig und nett man damit umgehen konnte und auch, dass man in Arme nicht hineinschnitt, weil sie schon alles durchgemacht hatten, wie man ja sah, und viel zu schön waren dafür, natürlich nicht für jeden, genauso wie ihre brennende, geschwollene Fotze (Klasse!), bloß nicht für jede, das war eben der Unterschied, aber keine Bange, das wird schon, alles wird gut, und erst ganz am Schluss mal eine Bemerkung hatte fallen lassen, die ironisch gemeint war, bei einem ihrer letzten Termine, als alles schon fast gut war, nämlich: «Stehst du auf Latex?», worauf Chris erschrocken an sich herunterschaute und bemerkte, wie nass sie war, seltsam, nach all den Wochen im Land der Schmerzen, wo ihre Fotze nicht einmal mehr ihr gehörte und sie also völlig unschuldig daran war, weil sie jemand anders geworden war, und trotzdem einen furchtbar roten Kopf bekam, Tochter von Dahaak, aber Doro mit einem Knall ihre Handschuhe abzog und lediglich meinte: «Es heilt eben.» Sie waren mittlerweile im Umkleidebereich angelangt, und Chris' Nervosität wuchs mit Gudruns Nähe. Sie wollte nur weg. Fast ein ganzes Jahr hatte sie gebraucht, bis sie so war, wie sie sein wollte, Princess of fucking Darkness, Tochter von Dahaak, und dafür hatte sie (ihre Scheißmutter hatte Recht) genauso viel Geld ausgegeben, dachte sie (dachte sie aber nur!), wie alle die fetten Weiber mit ihren Goldcards in Gudruns Laden. Man musste sich das mal vorstellen, und das nur, damit sie noch mehr zu dem wurde, was sie
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ohnehin schon war, erst recht zu mehr, als Gudrun akzeptieren würde, sie wusste es bloß noch nicht, also hör nicht auf sie, sie ist ein Arsch, sie, Chris, brauchte nur zuzusehen, wie Gudrun jetzt ihre halterlosen Nylons herunterrollte, diese warme Spannung im seitlichen Profil zwischen Taille, Po und ihrem schlanken Oberschenkel, an die Chris am liebsten die Wange geschmiegt hätte, die Augen geschlossen, um sich an ihr festzuhalten und ihren Duft einzuatmen, denn selbst der letzte kleine Vorzug, den sie sich im Vergleich zu Gudrun noch zugebilligt hatte, nämlich dass sie immerhin zehn Jahre jünger war (also was willst du?), ging in diesem Moment in einer Zeitschleife unter, und sie fühlte sich nur noch klein, dumm und vollkommen grotesk, und alles wurde komplett neurotisch. Dabei war sie doch sonst nicht so prüde und mochte die fremden Blicke, im Sommer zum Beispiel, mit Tina im Cirra oder wenn sie mit Tank-Top und Jeansweste durch die Stadt kurvte und ihren tätowierten Arm aus der offenen Seitenscheibe hängen ließ («Hey, Wichser, friss Scheiße!»), was nur der Alte nicht wissen durfte, denn wir fahren hier Mercedes, woran man aber wieder mal sah, am Ende zählte immer nur Geld, kein Scherz, man konnte es sehen, riechen und schmecken, das Scheißgeld immer, ohne Scherz, und das, was die Leute damit machten. Das war eben der Unterschie d, man sah es den Leuten an, meistens jedenfalls, und sie, Chris, Princess of fucking Darkness, Tochter von Dahaak, würde mit Mitte dreißig bestimmt nicht mehr so aussehen wie Gudrun, das war eben der Unterschied. Trotzdem, mit welchem Recht hatte sie, Gudrun, ihr Skunk-Anansie-Shirt weggeschmissen, doch einzig und allein deshalb, weil sie selber so etwas nie tragen würde, sondern nur schöne Sachen, wie jetzt etwa, als Chris mit rotem Kopf zu ihr aufschaute, ihre weiße Wäsche, die richtig teuer aussah und es vermutlich auch war und vor allem so weiß, wie nur neue Sachen waren und nicht schon hundertmal gewaschen und knüselig, und natürlich sah das immer schöner aus als alte vergammelte Sachen, besonders auf ihrer bernsteinfarbenen Haut, das war eben der Unterschied. Das war der Unterschied, aber eben nicht der Punkt, denn der Punkt war, dass man deswegen nicht auf andere Leute herabschaute oder Sachen wegschmiss, auch wenn man gleichzeitig etwas Neues schenkte, gerade dann tat man es nicht. Denn das bedeutete, dass Gudrun später vielleicht auch noch andere Sachen wegschmeißen wollte, irgendwann vielleicht sogar Chris selber, weil
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es an ihr so viel gab, was sich nicht wegschmeißen oder ändern ließ und dass sie sie deshalb lieber ganz wegschmiss, weil sie, Gudrun, keinen Respekt davor hatte, das war eben der Unterschied, dass es Leute gab, die sich für ihr kleines bisschen Leben den Arsch abarbeiten mussten und andere nicht, aber das gab ihnen noch nicht das Recht, auf sie herabzuschauen und anzufangen, Sachen wegzuschmeißen. Vielleicht hatte sie, Chris, es ja gerade so gewollt, hast du dich das mal gefragt? Und was sollte überhaupt der Spruch Ich leide nicht mehr still, vor allem, wenn man es von allen anderen erwartete, wie selbstverständlich erwartete, weil sie keinen Respekt davor hatte, aber alle Leute zuschwallte, das ist nun wirklich keine Kunst, nur weil sie nicht verstand, warum sie, Chris, so werden konnte, Princess of fucking Darkness, aber unerkannt, eher leise, trotz ihrer großen Klappe, überhaupt nic ht laut, weil sowieso keiner zuhörte, am allerwenigsten Gudrun, aber mit einer Fotze wie Piranhas, die du nicht mal mit der Zange anfassen würdest, wäre ja auch zu viel verlangt, du kleine verwöhnte Heulsuse, aber auf andere Leute hinabsehen, das geht immer, das könnt ihr immer, und jetzt hörte sie sich schon an wie dieser Asi-Abschaum mit seinem albernen Anspruch auf Respect, fuck you, wofür denn? Auch daran war nur Gudrun schuld, sie hatte sie dazu gemacht, ohne Gudrun würde sie sich jetzt ganz anders fühlen, und Gudrun würde sie sogar noch weiter herunterziehen, so schön, wie sie war, sie brauchte sie ja nur anzusehen, sie sie und sie sie, und dafür hasste sie sie, hast du gehört, ich hasse dich, ich hasse dich. «Jetzt trödel nicht so rum», sagte Gudrun, während sie sich, mit einer leichten Drehung zu Chris, auch das Oberteil abnahm und Chris ihre Brüste sehen konnte, die kleiner waren, als Chris gedacht hatte, kleiner als ihre eigenen auf jeden Fall, aber auch zarter, weicher und auf eine anrührende Weise erwachsen, Chris fand kein besseres Wort dafür, weswegen sie schnell die Augen niederschlug, doch nicht ohne zu bemerken, dass Gudruns leichter dunkelblonder Busch, weniger als einen Meter entfernt, auf gleicher Höhe mit ihrem Gesicht, exakt die Bikini-Linie einhielt, natürlich, wie auch anders, das war eben der Unterschied, sie gehörte zu den normalen Leuten, nicht zur Antimaterie. Wie kam sie jetzt da raus, stolze Tochter von Dahaak, erstorben vor Scham und klein und vornübergebeugt auf der Bank, um
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sich jetzt wenigstens die Turnschuhe auszuziehen, weiter war sie noch nicht, wobei sie Gudruns Blick im Nacken spürte wie einen Laser, o Gott, sie schämte sich so. Und dieser Scheißbademantel, in den sie sich flüchten wollte, als sie endlich aus ihren Klamotten gestiegen war, warum war der vorne zusammengebunden und so komisch gefaltet, dass sich gleich alles verhedderte und sie nicht hineinkam, wer machte das, wer kam auf so eine Idee? Sie litt. Sie litt auf dem Weg in den Wellness-Bereich, wo ihr die Duschen viel zu offen waren. Sie litt, als sie den Bademantel ausziehen musste. Sie litt, als ein schwerer warmer Strahl aus einer Art Wasserspeier ihren Körper traf und ihre Tattoos nicht abwusch. Sie litt, als die Leute sie ansahen, selbst nachdem sie mit einem scannerscharfen Rundblick feststellte, dass sie, Gudrun und sie, hier die Schönsten waren. Trotzdem litt sie, sobald Gudrun ihren Blick und ihr schwaches Lächeln auf sie richtete, und litt noch mehr, wenn Gudrun sich dann umdrehte und Chris nur noch auf das Rinnsal starrte, dass aus Gudruns golddunklen Haaren den Rücken hinabrann, und sich wegwünschte oder sich anders wünschte, normal, unauffällig, ohne die vielen Zeichen, die zeigten, was sie war, Tochter von Dahaak, Princess of fucking Darkness, und das war eben der Punkt, würde sie es tun, würde sie es rückgängig machen oder wenigstens rückgängig machen wollen, alle ihre Piercings und Tattoos, auch wenn das in diesem Leben nicht mehr ging, würde sie es tun, auch wenn sich alles in ihr dagegen aufbäumte, weil es bedeutete, dass sie so, wie sie war, nichts wert war, aber wenigstens für Gudrun, nur für sie, würde sie es tun? Und sie litt weiter, als dieser Fettsack schon zum dritten Mal an ihnen vorbeistolzierte, haarig wie ein Tier, und seinen kümmerlichen Schwanz vor sich hertrug, widerlicher Glotzer, diese Selbstgefälligkeit würde sie nie verstehen, sah Gudrun ihn denn nicht? Doch ihr trotzig gereckter Kopf und ein erster warnender Ausfallschritt in seine Richtung schien keinen Eindruck zu machen, im Gegenteil, der Scheißkerl, schien ihr, legte sogar ein Grinsen nach, oder was war das? Als hätte sie ihn regelrecht dazu ermutigt. (Du weißt nicht, was du tust, Arschloch!) Dabei erhob sich in ihr bereits ein graues Brausen wie im Inneren einer Turbine, sodass sie ihre Nacktheit vergaß und ihre Tattoos und
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ihre Scheißkomplexe und die anschwellende Übelkeit in Erwartung von etwas eklig Weichem, in das sie hineintreten würde. In diesem Moment hätte sie sehr gern jemandem sehr wehgetan - für all die Schande. Doch dann spürte sie Gudruns Hand an ihrer Schulter, die sie hinüberzog unter ihren eigenen Wasserspeier, wo sie etwas zu ihr sagte, was Chris nicht verstand, weil sie umgeben war von Rauschen und immer noch den ekligen Alien fixierte, weil man das eben so machte, dort, wo sie herkam, Tochter von Dahaak, und weil sie wollte, dass Gudrun sie noch fester an sich zog, damit sie nicht auf den Alien losgehen musste, sie fühlte sich plötzlich so müde, und weil es schön war, wenn Gudrun ihr Gesicht zwischen ihre Hände nahm und auf sie einredete, auch wenn sie kein Wort verstand, und weil ihr (zum ersten Mal?) auffiel, dass Gudrun einen halben Kopf größer war als sie, sodass sie sich gut an sie anlehnen, endlich die Augen zumachen konnte, während das Wasser an ihr hinabrauschte. Irgendetwas an dieser Geste musste den Alien atomisiert haben, denn als sie die Augen öffnete, war der Kerl weg und blieb weg, bis Gudrun sagte: «Komm», und sie weiterzog und Chris heilfroh war, als sie beide in einer Art Grotte saßen, wo es bis auf einige elektrische Flämmchen an der Wand fast dunkel war und voller Dampf und wo vor allem keine Leute waren und wo sie tief Luft holte und ihre Lungen spürte. «Lass dich doch nicht immer so provozieren», sagte Gudrun und wandte sich zu ihr, dass ihre Brüste sich beinahe berührten. «Warum bist du immer gleich so wütend?» Chris sah sie nicht an, denn das war eben der Unterschied. Es war die Reaktion von jemandem, der nichts Gutes erwartete, weil er nichts Gutes erlebte und auch nichts Gutes verdiente. Es war die Reaktion von Asi-Abschaum, der wusste, dass er Abschaum war, und bei jeder, selbst zufälliger, Begegnung nach Zeichen der Missachtung suchte und fand. Neunundneunzig Prozent der Scheiße, die in der Siedlung passiert war, ging auf diesen Reflex zurück, manchmal reichte schon ein Blick. Sie wusste das. Sie hatten es ihr tausend Mal gesagt, damals in dem Anti-Gewalt-Kurs, nämlich dass man das Verhalten anderer
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nicht vorwegnehmen sollte, weil es dann garantiert so eintrat. Das Problem war nur, dass man sich für diese Einstellung blöder machen musste, als man war, denn es passierte ja so oder so. Dazu kam, dass es die Schuldfrage auf geradezu perverse Weise umkehrte. Und wenn stimmen sollte, dass eintrat, was man innerlich vorwegnahm, warum passierte es nicht bei schönen Sachen, sondern nur bei schlechten? Sie hatte dazu längst ihre eigene Meinung. Und auch das war der Unterschied: dass ein kurzer Blick von Gudrun offenbar ausgereicht hatte, diesen ekligen Alien, der sich nicht schämte, völlig zu beschämen, indem sie Chris zugleich an sich drückte, als gehörten sie wirklich zusammen. Und vor allem: dass sie dabei nicht schwächer geworden war, sondern stärker. Auch das war neu. Bisher war die Rollenverteilung eher so gewesen, dass sie Gudrun beschützte und nicht umgekehrt. Aber was hieß das schon? Gudrun würde nie so kämpfen müssen wie sie. «War wohl keine so gute Idee, hierher zu kommen?», sagte Gudrun. «Aber das hat nichts mit dir zu tun», sagte Chris und schaute nach unten auf Gudruns schimmernde Schenkel wie auf etwas vollkommen Irreales. «Ich wollte dich nicht unter Druck setzen.» Selbst hier schien der Finger kühl, mit dem sie über Chris' linken Arm strich, Arabesken folgend, von Chakram über Harlekin und Todesengel in einem plötzlichen Bogen wieder zurück zu Chakram. Chris wartete nur darauf, dass Gudrun anschließend auf ihre Fingerspitzen schaute. Doch das tat sie nicht. «Du doch nicht», sagte Chris, wobei sie nur auf Gudruns spitz zulaufende Brüste starrte und sich fühlte wie ein kleines Kind. Sie verdarb noch alles. «Du glaubst mir nicht, oder?», sagte Gudrun. «Aber danke für alles, was du für mich getan hast.» «War doch nichts.» «Hey, guck mich doch wenigstens an. Bitte...», sagte Gudrun. Doch nachgeben konnte Chris erst, als sie abermals Gudruns Hände spürte, die sich in ihre kurzen Haare gekrallt hatten und ihren Kopf nach hinten bogen mit einer Kraft, in der genug Wut und Verzweiflung lag, dass Chris sich ihnen anheim geben konnte. Auch wenn es Wahnsinn
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war, dieser Zwang war das Einzige, dem sie jetzt traute, Gudruns Gesicht so nah, ihr bekümmertes Lächeln so anders mit den nassen Haaren. In diesem Moment hätte Gudrun sie schlagen, sie ohrfeigen können, während sie an ihren Haaren riss, sie wünschte es sich sogar, sie hätte trotzdem die Lippen geöffnet. Oder war es nur, weil sie erschrak, als sie am Eingang der Grotte fremde Stimmen hörte? Gudrun würde genau dies später behaupten («Feigling!»), und Chris würde sagen «Quatsch». Es sollte eine der Gründungsgeschichten ihrer Beziehung werden, dieser Moment im Dampfbad, als sie beide zurückzuckten, weil sie trotz allem längst nicht so cool waren, wie sie meinten. Ein Frau in Begleitung von zwei Männern trat in den halbdunklen Raum. Sie war zu dünn und hatte Cellulite. Die drei schienen irgendwie zusammenzugehören. Gudrun hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen, aber den Arm um Chris gelegt, die dadurch ziemlich steif dasaß und auf den aus funkelnden Mini-Lämpchen bestehenden Sternenhimmel an der Decke der Grotte starrte. Es war kein bestimmter Himmel, jedenfalls keiner, der von der Erde aus zu sehen war, vielleicht vom Mars. Wissenschaftler hatten festgestellt, dass es auf dem Mars erheblich weniger Wasser gab, als man früher vermutet hatte. Die auffälligen Rinnen und Canyons auf seiner Oberfläche stammten vielmehr von schmelzendem Kohlendioxid, das keinen flüssigen Aggregatzustand kannte, sondern von Eis direkt zu Gas wurde und wie eine Armada kleiner Luftkissenboote große Geröllmengen mitreißen konnte. Und auf der Venus schneite es Tellurium und regnete es Methan, und in den höheren Schichte ihrer Atmosphäre nieselte es Schwefelsäure. Venus war eine Hölle. Wenn überhaupt ein anderer Planet, dachte Chris, dann Mars. Chris schaute auf die Säule in der Mitte, wo der Dampf ausströmte. Wann dieser Dampf wohl zuletzt Eis gewesen war? Die kleine Gruppe auf der anderen Seite der Grotte, Schemen hinter den Schwaden, unterhielt sich leise. Keiner starrte. Sie entspannte sich etwas. Sie spürte, wie sich Gudruns Hand auf ihrer Schulter bewegte, und wandte den Kopf, sah sie an, ihre spöttischen Lippen, die nichts preisgaben als ein Abwarten, die geschlossenen Augen, die Chris gleichwohl anzusehen schienen, sodass sie jetzt sogar ein heimliches
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Lächeln wagte, während sie Gudruns Anblick mehr und mehr erregte. Chris war die Jüngere, oder nicht? Sie war die Jüngere und inzwischen auch die Schwächere, also durfte sie sie anfassen, vielleicht erwartete sie es sogar, auch wenn diese spöttische Unterlippe alles bedeuten konnte. Auf jeden Fall wusste sie, dass sie jetzt das dunkelblonde Dreieck zwischen ihren Beinen ansah, oder nicht? Die Hand auf Chris' Schulter, musste sie die Spannung in ihren Halsmuskeln spüren. Chris hätte jetzt gerne ihre Möse gesehen. Ob Gudrun es mochte, wenn sie ihre Titten härter anfasste? Oder an ihnen zog, biss? (Woran man das erkannte, darüber hatte Chris ebenfalls längst ihre eigene Theorie.) Oder ob sie Chris' Kopf auf dieselbe Weise festhielt, wenn sie an ihrer Clit saugte - oder sich gegen sie presste, wenn einmal ihre Möse in ihrem Mund zerschmolz, und ihre Küsse erwiderte, wenn sie nicht einmal mehr ihr Stöhnen hören konnte, so sehr drückte sie ihre Schenkel gegen ihren Kopf, dass bis auf ein kosmisches Rauschen plötzlich alles ganz still wurde und sie durch endlose Räume driftete und ganz woanders hätte sein können, ohne den Wunsch, jemals zurückzukehren. Aber sie konnte rein gar nichts sehen. Die dünne Frau unterhielt sich leise mit ihrem Begleiter zur Rechten. Der auf der linken Seite starrte jetzt offen zu Gudrun herüber. Konnte er ihre Möse sehen? Gudrun stellte ihren linken Fuß auf die erwärmte Bank (sodass, dachte Chris, nur noch sie ihre Möse sehen konnte - wenn der Schlagschatten ihres angewinkelten Beines nicht gewesen wäre) und lehnte sich an Chris, und zum ersten Mal kam Chris die Präsenz dieser Frau nicht mehr irreal vor. Rätselhaft ja und verwirrend wie der warme, dampfige Duft aus ihrer Halsbeuge, aber nicht irreal. Als die dünne Frau auf der anderen Seite bemerkte, dass sie die Aufmerksamkeit ihres Begleiters zur Linken verloren hatte, drehte sie sich zu ihm und sprach auch wieder mit ihm. Unbeobachtet hätte Chris jetzt gerne Gudruns Möse gestreichelt - nur um zu sehen. Aber sie war einfach kein Optimist, außerdem schämte sie sich, als sie in Gudruns schweißnasses Gesicht blickte und nicht wusste, ob die Ruhe darin nicht vielmehr doch eine tiefe Erschöpfung war. Gudrun sah so
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anders aus mit den nassen Haaren. Überhaupt war sie anders als jede, die Chris vorher gekannt hatte. Und als sie sie jetzt ansah, kam ihr jede frühere Beziehung (besser: ihre Versuche einer Beziehung, denn mehr waren es nicht) auf einmal furchtbar kindisch vor. Alle diese selbstbewussten, aber auch selbstbezogenen Studentinnen mit ihren zickigen Spielchen, die schnell alles kaputtgemacht hatten. Komisch, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Gudrun war nie so gewesen, eher sie selbst, Chris. Gudrun war manisch, durchgedreht, egoistisch, vielleicht sogar vollkommen verrückt, aber sie hatte nie gespielt, denn dafür brauchte man Zeit und Energie. Und beides hatte man nicht, wenn man gegen die Kräfte des Bösen kämpfte. Warum kam sie erst jetzt darauf? Chris hätte ihr das gerne gesagt, hätte sie gerne geküsst für all das. Sie tat es nicht. Sollte sie sich ausruhen, sie, Chris, würde ja bei ihr bleiben, für immer, dachte Chris, geradeso, als hätte sie es noch bei keiner anderen gedacht. Später schwammen sie - wie durch Licht oder durch ein kosmisches Plasma, das von den changierenden Farben der Unterwasserscheinwerfer in Bewegung gehalten wurde. Wiederum fühlte sie sich sehr nackt, sie war auch kein guter Schwimmer, hatte diesem Element nie getraut. Ihre Piercingringe spielten an ihrer Fotze wie kleine Fische, während Gudrun neben ihr durchs Wasser schlängelte, die Augen dicht über der Wasseroberfläche, als brauche sie nicht zu atmen. Aber die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln verrieten ihr Lächeln, deshalb war es in Ordnung, wenn keine von beiden etwas sagte. Es war das Beste, was sie tun konnten. Über siebzig Prozent des Universums bestand aus dunkler Energie, obwohl bis heute niemand wusste, was das war. Hinter dem Wasserfall küssten sie sich - heftig, sodass sogar Chris die Leute vergaß. Es war der erste richtige Kuss zwischen ihnen, und er schmeckte salzig, denn das Wasser im Becken war Salzwasser. Ihr nacktes Fleisch gegen Gudruns Bein gepresst, wunderte sie sich nur, wie ungeschickt sich Gudrun dabei anstellte. (Wie ein Teenager, dachte sie, obwohl sie selber als Teeny überhaupt niemanden geküsst hatte, nicht einmal Händchen gehalten, gar nichts, das war ja die Tragik, sie hatte alles viel später lernen müssen, was vielleicht einiges erklärte: warum also nicht auch Gudrun?) Auf jeden Fall bekam sie,
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gegen den Beckenrand und halb unter Wasser gedrückt, kaum noch Luft und musste sich an Gudruns Hüfte festhalten, um nicht unterzugehen. Nichts klappte. «Hey, nicht so fest», sagte sie. «Jetzt sei nicht so empfindlich», sagte Gudrun. «Ich bin nicht empfindlich.» «Bist du wohl», sagten Gudruns spöttische Lippen, dicht vor ihr. «Bin ich nicht.» Chris hatte die Hände in Gudruns Po gekrallt und wollte, dass es wehtat. «Du bist der empfindlichste Mensch, den ich kenne.» «Bin ich nicht.» «Bist du wohl.» Es sah aus wie ein Spiel, aber das gönnte sie Gudrun nicht. Chris hatte von Anfang an nicht mitgehen wollen. «Bin ich nicht», sagte sie und griff härter zu, während ihre beiden Mittelfinger nach Gudruns kleinem Loch suchten. Wer war hier empfindlich? Trotz des ringsum sprudelnden Wassers spürte sie die zarten Härchen in ihrer Spalte. Wie weich sie da unten war, dachte sie. Jetzt sag was, dachte sie. «Bist du wohl», sagte Gudrun - dieses blöde Spiel, das sie offenbar nicht aufgeben wollte, auch wenn sie aufseufzte, als Chris' Finger zur Strafe tief in ihren Hintern eindrangen. Chris suchte ihren Blick, begegnete aber zwei V-förmigen Falten zwischen halb geschlossenen Augen, die alles bedeuten konnten, obwohl Gudrun sich mit selbstvergessenen, schlangengleichen Bewegungen immer stärker an Chris rieb und sogar ihre Stöße erwiderte, was vielleicht nur ihre Art war, Chris' Gemeinheit zu ignorieren. Oder gefiel es ihr tatsächlich, wenn sie ihre Finger in ihren Po steckte? Aber warum sagte sie dann, als sie die Augen öffnete: «Na, geht's dir jetzt besser?» So oder so, ihr erster gemeinsamer Abend würde zugleich ihr letzter sein, da war sich Chris sicher. «Kannst du wirklich nicht schwimmen?», fragte Gudrun. Durch einen kurzen Tunnel, der aussah wie ein Stück römischer Wasserleitung, waren sie ins Außenbecken gelangt, wo das Wasser in der Abendluft
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dampfte und keine Stimmen hallten. Sie waren ziemlich allein. Hinten an den Stufen saßen drei monströs übergewichtige Frauen im Wasser und schauten über die neblige Fläche wie untergegangene Erdgöttinnen mit ihren traurigen Riesentitten, unfähig, sich zu rühren. «Man kann nicht alles können», sagte Chris vor dem dunkler werdenden Blau, wo der Boden jäh abfiel und sich eine neue Dimension auftat. Ihre kosmische Angst vor dem Raum als Raum. «Aber du schwimmst», sagte Gudrun. «Du kannst gar nicht untergehen. Guck.» Doch Gudrun hatte gut reden, ihre Beweglichkeit im Wasser hatte etwas Beängstigendes, etwa wenn sie sich gleitend um die eigene Achse drehte und sich scheinbar mühelos in die Tiefe schraubte, wo sie zwischen Chris' Beinen hindurchschwamm oder auch nur ihren Fuß berührte, um nach einem weiten Bogen zehn Meter weiter lautlos wieder aufzutauchen. Dann abermals der kleine Strudel hinter ihren lackierten Fußnägeln und abermals Stille und GudrunAbwesenheit, zehn, zwanzig, dreißig, vierzig und mehr Sekunden, in denen sie sich immer weiter von ihr entfernte, Sekunden, von Chris mit zunehmender Eifersucht registriert, weil sie sich immer mehr wie ein Zuschauer vorkam. Wasser war definitiv nicht ihr Freund. Aber Chris mochte, was das Wasser auf Gudruns Körper machte, wie es an ihren Hüftknochen leckte, über ihren Bauch strich, ohne ihn ganz zu bedecken, und dann in ihrem Busch versickerte, wie es sich zwischen ihren Beinen hob und senkte, wie es zwischen ihren Brüsten floss wie der Atem einer Liebhaberin und ihr Haar strählte wie eine Aura, während sie Chris zeigte, wie das ging: Toter Mann. Chris hätte so gern auch ihre Möse angefasst. «So, und jetzt du.» «Nein, nicht.» «Aber es ist ganz einfach. Du darfst nur keine Angst haben. Wenn du Angst hast, gehst du unter.» Gudrun schaute sie herausfordernd an. Die Prozedur glich dieser Entspannungsübung, die sie in dem AntiGewalt-Kurs gemacht hatten, als sie mit geschlossenen Augen auf dem Boden der Turnhalle lagen, alle die Irren und Idioten, und sich vorstellen sollten, sie hätten in der Stirn ein offenes Fenster, durch das
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Luft und Sonne hineingelangten, was bei Chris schon damals nicht funktioniert hatte. «Du musst Vertrauen haben», sagte Gudrun, «und dich konzentrieren...», als Chris Salzwasser in die Nase bekam und sich verschluckte. Sie konzentrierte sich, auf die kühle Präsenz von Gudruns Händen unter ihr, die umso unwirklicher wurden, je mehr sie sich selbst in einen Gegenstand verwandelte, der dahintrieb und sich, einmal angestoßen, drehte und drehte wie ein Himmelskörper. Sie schaute in den wolkigen Abendhimmel, der aus dem gleißenden Pool heraus dunkler wirkte, als er war, und keinen Orientierungspunkt bot. Hinter den Wolken, hoch oben im Orbit, kreisten zirka achttausendfünfhundert Objekte, Tag und Nacht. Siebenhundert davon waren Satelliten, der Rest war Schrott. Zwei Millionen Kilogramm Schrott, von einem gleißenden Pool aus betrachtet, hatten etwas Beruhigendes. Alles kreiste, sie auch, und mit einem guten Teleskop müsste so ein Pool selbst in vierhundert Kilometern Höhe noch zu erkennen sein, sie müsste zu erkennen sein, Sternenkriegerin, Tochter von Dahaak, schwimmend in ultramarinem Plasma. Als sie merkte, dass Gudrun nicht mehr da war, ruderte sie zurück, zog sich aus dem Wasser und setzte sich auf den Beckenrand. Die fetten Weiber auf den Stufen hatten Gesellschaft bekommen, es war jetzt eine ganze Herde. Wie Seekühe, dachte Chris. Sie schauten in ihre Richtung und unterhielten sich leise. Chris drehte sich weg und stellte fest, dass sie von dort, wo sie saß, den Rhein sehen konnte. Aber der Wind war ziemlich kalt, und bald war auch ihr kalt, und sie fing an zu zittern. Trotzdem blieb sie sitzen. Sie hasste die Leute, die sie anstarrten, und sie hasste sich selbst. Dafür, dass sie immer alles verdarb. Sie schaute auf ihre Beine und dann zu Gudrun, die hinten am Sprungbrett aus dem Wasser stieg. Sie mochte, was das Wasser an Gudruns Körper machte. Auf der anderen Seite, an den Seekühen vorbei, stieg ein Pärchen ins Wasser. Es war die dünne Frau mit einem ihrer Begleiter. Der Begleiter war derjenige, der Gudrun angestarrt hatte. Aber wo war der andere? Sie wollte das nicht wirklich wissen. Es war eines von diesen
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fragmentarischen Dramen, die sie auch im Taxi immer mitkriegte. Interessant, was die Leute lügen konnten. Aber sie mochte, was Wind und Wasser auf Gudruns Körper machten, als sie mit wippenden Knien auf dem Sprungbrett stand, die kleinen Tröpfchen, die silbern von ihrer Haut absprangen. Eine Bewegung, die Chris in ihrer ganzen Art von Gudrun nicht kannte. Als wolle sie ihr Gewicht taxieren, das in diesem Moment - nicht wie sonst angeblich immer - zu hoch war, sondern gerade richtig, die geschmeidige Kraft ihrer Beine, die Schönheit ihrer Möse - für die andere am Beckenrand. Doch dem Blick, den sie Chris zuwarf, fehlte der Augenaufschlag, er war kurz und scharf wie ein Laserstrahl, der sein Ziel streifte. Am Rand des überdachten Teils des Beckens erschien der Alien wieder, der Glotzer. In seinem Bademantel sah er aus wie ein Sultan der Selbstgefälligkeit, sodass Chris erst wieder den Kopf wandte, als sie das harte Geräusch des Sprungbretts hörte, die zischende Galaxie aus Luftbläschen, aus der Gudrun in das lautlose Blau der Tiefe vorstieß. Chris gefiel, was Gudruns Beine machten, obwohl sie sich so wenig oder eben gerade so viel zu bewegen schienen wie die Schwanzflosse eines Fischs. Als wollten sie das Wasser eher überreden als bezwingen. Tonnen von Wasser, rechne es aus. Und als wollte das Wasser nichts weiter dafür, als in ihren Haaren zu spielen, die träge Zärtlichkeit des Weltraums. Chris beobachtete, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen im kalten Luftstrom aufstellten. Sie fühlte sich allein, es war wie immer, auch als Gudrun plötzlich zwischen ihren Füßen aus dem Wasser auftauchte. «Hey, komm rein.» Chris sah sie an und schüttelte den Kopf. «Ist doch viel zu kalt draußen, komm.» «Aber nicht ins Tiefe.» «Dann komm.» Sie fasste Chris an den Fußgelenken, zog an ihnen, ohne Erfolg. «Hör auf zu ziehen», sagte Chris. «Dann komm rein.» «Lass los.»
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«Ich lass dich aber nicht los», sagte sie boshaft und bog Chris' Beine auseinander, ohne dass sich Chris dagegen wehren konnte. «Du... entkommst... mir... nicht...», sagte sie mit gespielter Mörderstimme. «Hey, bist du verrückt?», sagte Chris. Ihre Augen rirten umher, suchten den Glotzer, der garantiert noch irgendwo war. «Dann komm.» «Erst loslassen.» «Nein», sagte Gudrun und riss weiter an ihren Beinen, was fast etwas Kindliches gehabt hätte, wäre ihr Griff nicht so schmerzhaft gewesen. Und da sie nicht wagte, an sich hinabzusehen, offen, mit ihren frierenden Piercings, suchte sie Gudruns Blick, in dem nichts als Verachtung lag, als sie sagte: «Feigling. Feigling.» «Ich komme ja.» «Dann komm.» Die Wärme des Wassers war überwältigend wie eine Umarmung, als sie sich vom Beckenrand gleiten ließ, und tatsächlich wusste Chris anfangs nicht, was sie eigentlich fühlte, das Wasser oder Gudruns Nähe, die ihre Arme um ihren Hals und ihre langen geschmeidigen Beine um ihre Hüfte schlang. «Was soll ich nur mit dir machen?», sagte Gudrun traurig. «Wieso?» «Wir haben vielleicht nicht ewig Zeit», sagte sie. Aber da war Zeit, dachte Chris, als das Wasser über ihr zusammenschlug, so viel Zeit, auch wenn sich die Raumzeit auf sich selbst... richtig?... auf sich selbst? auf sich selbst zurückkrümmte?...war das für sich genommen noch kein Grund zur Panik, Zeit gab es genug, auch wenn das, was sie als Ebene angenommen hatte, jäh in den leeren Raum abstürzte, oder was sonst zog ihr den Boden unter den Füßen weg? und: waren das eigentlich Gudruns Beine oder ihre? und: hatte sie nicht gesagt, nicht ins Tiefe? egal, da war Zeit, zumal sie Gudruns Gewicht auf einmal als Leichtigkeit spürte, als etwas, das über ihr war und woran sie sich festhalten konnte und das den Schrecken darüber, dass unter ihr nichts mehr war, in etwas Kitzliges verwandelte, egal, da war Zeit, auch wenn sie mit dem Gesicht gegen
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Gudruns wunderschönes Schlüsselbein gepresst wurde, hatte sie ihr das eigentlich jemals gesagt, wie schön ihr Schlüsselbein hervortrat, wenn sie wütend war oder den Kopf wegdrehte? und sank und sank, kitzlig zwischen den Beinen, aber das war Absicht, zumindest wehrte sie sich nicht dagegen, so nah bei ihr, ihren weichen, anrührend erwachsenen Brüsten, und auf jeden Fall war ja noch Zeit, wie in Xena, Folge..., die Folge, wo sie sich aus dem Unterwasser-Käfig befreite, obwohl schon jeder dachte, sie sei längst ertrunken, aber nein... Problem waren nur die vielen Luftbläschen, die aus ihr hervorsprudelten wie bei einem Lachkrampf, konnte sie das nicht abstellen? denn sie reichten vielleicht nicht ewig, Xena hatte das gewusst, deshalb: keine Luftbläschen, weswegen ja auch jeder dachte, sie sei längst... andererseits, ehrlich, wurde Xena auch total überschätzt, ihre besten Tricks beispielsweise, waren gar nicht von ihr, sondern stammten von dieser äthiopischen Sklavin, wie hieß sie noch gleich? Bekka, genau, Bekka, die später sogar ihr Leben für Xena gab, was Chris immer ungerecht fand, aber das war eben der Unterschied, manche kamen nur zum Sterben in diese Serie, denn Bekka war diejenige, die Xena den Griff gezeigt hatte, mit dem man jeden, aber auch wirklich jeden zum Reden bringen konnte, weil er sonst nämlich innerhalb von dreißig Sekunden tot war, nicht gerade viel Zeit, dreißig Sekunden, obwohl, Quatsch, es war eine ägyptische Sklavin, keine äthiopische, oder war das heute dasselbe, äthiopisch und ägyptisch? und sie hieß auch nicht Bekka, Bekka war die äthiopische Krankenschwester, genau, so war's, die kleine Krankenschwester aus der zweiten Etage, die nie genug Alkohol im Haus hatte für all die Wichser von Oberärzten und falschen Musikproduzenten, mit denen sie sich einließ, und oft mitten in der Nacht vor der Tür stand mit ihren dunklen glänzenden Augen und diesem wunderschönen Schlüsselbein im Ausschnitt des dünnen Nachthemds, durch das die Schwärze ihrer Haut schimmerte, und fragte, ob sie «tauschen» könnten, Wein gegen Dope, Kummer und Elend gegen eine Pyjamaparty, ich bleib auch nicht lang, was immer das jetzt hieß, aber sie brauchte eben keinen Xena-Griff, um zu reden und zu reden, jedenfalls war das Gras, das sie mitbrachte, eine Substanz aus der Hölle, unheimlich stark oder mit etwas versetzt, das psychotisch machte, sodass Bekka am Ende auf dem drehbaren Fernsehsessel Karussell fuhr und immer wieder erklärte, warum das Schlimmste,
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was der Mensch außer Spüli kotzen konnte, Wein und Schokolade war, Wein, gemischt mit Schokolade, nämlich wegen einer chemischen Reaktion von Theobromin und...und Chris kichernd auf dem Fußboden lag und gar nicht mehr aufhören konnte zu lachen, ein Lachen, das aus ihr hervorsprudelte wie Pressluftbläschen, bis es wehtat, so verrückt das Ganze, während sie ihre Hand nach einem Karussell fahrenden schwarzen Fußgelenk ausstreckte, dem sie lediglich sagen wollte: Hey, aber ich liebe dich doch, ich liebe dich, also kein Grund, die ganze Schokolade in dich hineinzustopfen, kein Grund für den Xena-Griff, ich sage es dir doch auch so... Honey, Liebling, Schatz, so schöne Wörter, hey, siehst du, sogar ich kann sie sagen, ich bin gar nicht so, wie du denkst, bloß dass dann das ganze Zimmer auf einmal voller Polizei war, die jemanden suchte, der Chris hieß, aber offenbar nicht dieselbe Chris wie sie, weswegen sie dauernd über sie hinwegstiegen auf der hartnäckigen Suche nach Chris, klar, sie waren ja nicht blöd, aber vermutlich nur, weil Chris sich immer kleiner machte, kleiner und kleiner, bis sie von den Schlingen des Teppichs verschlungen wurde, die sie erst Stunden später wieder freigaben, als unförmiger Riese mit winzig kleinen Augen, allein auf dem endlosen Teppich, und sie trotzdem lange nicht glauben konnte, dass sie wirklich alle fort waren, Bekka, die Polizisten, die andere Chris, und sie deswegen noch einen ganzen Liter Wein auf das psychotische Gras gießen musste, nämlich wegen der chemischen Reaktion, bis wieder alles so war, wie es sein sollte, das Bäumchen auf dem Dach gegenüber ein Bäumchen, keine gepanzerte Faust, die hart und tief in sie eindrang, die Wölbung in den Kacheln im Bad kein Bauch, aus dem Dahaaks Tochter jeden Moment hervorbrechen konnte: Hallo, Mutter, Princess of fucking Darkness, erheb dich und leuchte über der Dünung des Wahnsinns, und Ratten, die in verrottenden Rohren bis in den vierten Stock kamen, willkommen zurück in der Normalität unserer schönen grauen... Krümmung der Raumzeit, siehst du, das wollte ich dir sagen, bevor du noch denkst, ich wäre wirklich so, aber das stimmt nicht, das ist nicht wahr, denn sie hatte sie geliebt, vom ersten Augenblick an, als sie mitten im Schuljahr in ihre Klasse kam, fast vierzehn war sie da, fast fertig als Tochter von Dahaak und eine, die das Leben ihrer Mutter kaputtmachte, und unglücklich über das, was ihr Körper machte, ohne dass sie gefragt worden war, und keine Ahnung, wo das noch alles
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hinführen sollte, bis sie in ihr Leben trat, Yve, mit ihren geschwungenen Hüften in der engen Jeans, mit richtigen Titten und ihrem Geruch, als die Lehrerin sie ganz nach hinten zu Chris in die letzte Reihe setzte, mit ihrer rotblonden Löwenmähne und ihrem rauen Lachen und den Silberringen an ihren Fingern, die Chris noch heute alle aufzählen könnte, der ist für Liebe, der ist für Treue, der für den Tod, und ihrem Grübchen und ihren funkelnden Augen, die alles veränderten, was sie ansahen, wirklich alles, sogar sie , Chris, fast fertig als Princess of Darkness, und vielleicht stimmte es ja, vielleicht brauchte es wirklich nur noch diesen kleinen... Wink?... Schubs?... Schlag? des Schicksals, nicht auszudenken, was aus ihr hätte werden können, hätte es damals mit Yve geklappt, obwohl man das natürlich immer fragen konnte: nicht auszudenken, wenn dies oder das ganz anders passiert wäre, aber das war kein Argument, denn Tatsache war eben, dass Yve, nachdem sie sich anfangs sehr an sie gehängt hatte, sie, Chris, schon bald nicht mehr brauchte, weil sie andere Freundinnen hatte, weil sie mit ihrem rauen Lachen und ihren funkelnden Augen alle in ihren Bann zog, insofern nicht schwer zu verstehen, oder? wer wollte sie schon? und vor allem: würdest du anders entscheiden an ihrer Stelle? und dass Chris sie trotzdem weiter liebte, aus der Ferne und vielleicht gerade wegen dieser Ferne spürte, wie stark Yves Macht über sie war, wenn schon das leiseste Lächeln von ihr reichte, Dahaaks Tochter in einen Engel zu verwandeln, weil ihre ganz persönliche Hölle ohne dieses Wissen, ohne wenigstens den Hauch einer Ahnung davon, was sie alles hätte sein können, nicht vollkommen war, denn Tatsache war eben auch, dass Tina sie gewarnt hatte: weißt du, was Yve über dich gesagt hat? aber wen interessierte, was die anderen sagten, was vielleicht der entscheidende Fehler war, weil es eben nicht die anderen waren, zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht, sondern Yve, und dass sie, Chris, nichts davon hören wollte, weil Tina doch nur eifersüchtig war, aber das verstand sie nicht... also willkommen im Wurmloch in die Vergangenheit, wenn plötzlich der Druck in den Ohren ansteigt zu einem technischen Geräusch absoluter Taubheit und nur noch Gesten bleiben, also mach die Augen auf, komm und sieh: ihre bernsteinfarbene Haut und keine Luftbläschen mehr außer im goldenen Tang ihrer Möse, die jetzt an ihr hoch glitten, weil sie selbst sank und sank, und dieses technische Geräusch in den Ohren wie damals in den Duschen hinter der
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Turnhalle, wo sie immer als eine der Letzten hinging, meistens sogar noch nach den kroatischen Mädchen, die damals in ihrer Klasse waren und die meistens für sich blieben, mit niemandem sprachen und von niemandem angesprochen wurden, fast schon wie Chris, und die so eine komische Art hatten, sich die Haare zu waschen, an die sich Chris Jahre später erinnern sollte, als sie die Folge Xena bei den nördlichen Amazonen sah, wo sie alle aussahen wie Björk, okay, aber mit Yve konnte doch keiner rechnen, dass sie plötzlich neben ihr stehen würde, dass Chris zuerst gar nicht wusste, wo sie hinsehen sollte, und was immer nachher alles erzählt wurde, und, weiß Gott, die Geschichte explodierte förmlich zu Myriaden kleiner Teilchen, die dann ihr Universum verseuchten, weil sie sich mit immer neuen, anderen Teilchen verbanden zu etwas, was zwischen ihnen angeblich passiert war, wer wen zuerst angefasst hatte und so weiter, auf jeden Fall nicht sie, Chris, wie denn? wie? und außerdem waren da noch die kroatischen Mädchen, die zwar so taten, als sähen sie nichts, aber das war eben Yves Macht, dass sie nur das sahen, was Yve wollte, obwohl sie, Chris, garantiert nicht angefangen hatte mit dem, was nachher so schlimm wurde, und es war auch gar nicht so, wie Yve später überall erzählte, nicht so, nicht so jedenfalls, dass Yve mit alledem nichts zu tun hatte, wie sie sagte, aber sie, Chris, war die Einzige, die das wusste, und sie, Chris, hatte keine Macht wie Yve, obwohl, was weiß man mit dreizehn, doch gar nichts, oder? erschrocken, als Yve plötzlich da war und ihre Hand nahm, und sie, Chris, unfähig, sie anzusehen, und verwirrt, denn das war ja gerade ihre Macht, als Yve mit dieser Hand über ihre großen, festen Titten strich, so anders als ihre, und, okay, insofern war sie es, die sie zuerst angefasst hatte, aber was weißt du schon mit dreizehn, wenn du weißt, dass die eigene Mutter dich seit der ersten Periode («das hat uns noda gefehlt!» - fuck you, Mother!) noch mehr hasst als vorher, aber warum, sie hatte doch gar nichts getan, sie hatte nichts angestellt, und zumal Yve ihre Hand auch sofort wieder fortstieß, so, als hätte sie sie nie genommen, aber das war eben der Unterschied, darin bestand gerade ihre Macht über sie, dass sie sich trotzdem nicht schlecht fühlte, obwohl, was fühlte man überhaupt, wenn man diesen Druck und dieses technische Geräusch in den Ohren hatte wie unter Wasser und keine Luft mehr bekam, als Yve abermals ihre Hand nahm, aber war das überhaupt ihre Hand oder waren das ihre Beine? die unter ihr wegsackten ins
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Kitzlige, Bodenlose, als sie sie da unten anfasste und sie die Augen jetzt nicht mehr abwenden konnte, wohin auch? Yves viel zu rote, viel zu weiche Möse, diese Wunde, ganz anders als ihre, in die sie ihre Hand legte, eine Hand noch ohne Skorpion, die Yve zwischen ihren Schenkeln zusammenkniff, um ihre Macht zu zeigen, ehe sie sich entzog und etwas sagte und Chris noch ihre funkelnden Augen zu ergründen suchte, während die Teilchen der Geschichte längst in einen anderen Orbit eintraten, wo es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie auf ihre ganze, damals bekannte Welt hinabstürzten und wo sie einsam herumirren würde, weil alles kaputt war, hallo und willkommen in einer völlig neuen Situation, hättest du nicht gedacht, was? wie allein du sein kannst, wenn dich plötzlich alle kennen und die Mädchen auf der Toilette den Lippenstift anhalten und dich im Spiegel beobachten, solange du da bist, wenn sie im Pausenhof an tuschelnden Inseln vorbeimusste und sämtliche Asis und Türkenschwuchteln der Schule aus einem völlig neuen Hass schöpfen konnten, bis sie, ohne auch nur ihre Sachen mitzunehmen, nach Hause lief und sich drei volle Wochen in ihrem Zimmer vergrub, selbst als sich herausstellte: alles nur ein Witz, eine Wette, sie hatten zusammengelegt, und Yve hatte es auf sich genommen, hatte gewagt und... gewonnen, aber wie waren sie nur darauf gekommen, gerade auf sie, Chris, was war so anders an ihr? als ihre Mutter sagte: was heulst du hier rum? du hast gar keinen Grund?, und ihr plötzlicher Schrecken: wusste sie es auch? aber das Schlimmste, das Schlimmste kam erst nach diesen drei Wochen, auf der Treppe vor dem Parkplatz, als diese beiden Mädchen an ihr vorbeiliefen, neun, höchstens zehn Jahre alt, mit ihren Schulranzen, also Kinder, Kids, wenn man noch solche Sachen hatte wie Schulranzen und die Kräfte des Bösen noch nicht solche Macht, als sie hinter sich hörte: ist sie das?, nur dies: ist sie das? und sie sie hätte erwürgen können oder sich selbst, weil sie noch erstickte, und Tina, die Einzige während dieser Zeit der großen Scheiße, Tina klingelnd und quengelnd an der Tür: Chris, mach auf, bitte, mach auf, aber was bedeutete das schon, wenn nur ein Zeichen von Yve die Erlösung bedeutet hätte? nicht wahr, das ist nicht mehr ganz so schön, wenn du dir sagen musst, was für ein Arsch du trotz allem gewesen bist und dass es eigentlich nie einen Unschuldigen trifft, wenn man nicht einmal weiß, wer deine Freunde sind, und weil du dir gedacht hast: na und, sie ist das... gewöhnt, Tina, verschlossene
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Türen war sie gewöhnt: Beispiel: wenn sich ihre Scheißmutter mal wieder die Kante gegeben hatte und der Schlüssel innen steckte, diese Ossimusik voll aufgedreht, bis die Nachbarn genervt ins Treppenhaus liefen und ausgerechnet Tina anmachten, was das denn solle, als wäre sie für ihre Scheißmutter verantwortlich, und Tina: bitte, mach auf, mach doch auf... aber so, wie du sie noch nie gesehen hast, sie hat auch nie darüber geredet, über nichts, nicht einmal über die Sache mit Yve, wofür du ihr heute noch dankbar bist, I'm a material girl, hat sie immer gesagt, und dabei blieb es, aber war das Wasser ihr Freund, oder Gudrun? wenn man sie nicht einmal unterscheiden konnte? Und als sie sich schließlich gegen die Umschlingung wehrte, war sie erst erstaunt, wie leicht sich Gudruns Glieder lösten, und dann alarmiert, als immer neue kühle Finger an ihr entlang strichen, bis sie die Wasseroberfläche erreichte, als sei dies der eigentliche Widerstand, die Zeit, wenn keine Zeit mehr war. Wasser hustend hielt sie sich am Beckenrand fest. «Alles okay?», sagte Gudrun. Willkommen zurück, sagte der schlürfende Abfluss. «Brauchen Sie Hilfe?», fragte der Alien und beugte sich vor, dass seine Glatze aufglänzte. «Was machen Sie für Sachen?» Und die dünne Frau sah an ihren Begleitern vorbei und fragte: «Soll ich den Bademeister holen?» Chris nickte zu allem. «Alles in Ordnung», sagte Gudrun. «Sie hat nur einen Krampf. Wir gehören zusammen.» «Sie sollten Magnesium nehmen», sagte die dünne Frau. «Sie sollten nicht mehr allein schwimmen», sagte der Alien. Ich warte auf dich, sagte der Abfluss. «Ist sie das?», fragte der Bademeister. «Vielen Dank», sagte Gudrun. «Es geht schon. Es ist alles in Ordnung. Wir gehören zusammen.» Am Horizont nahmen die Seekühe ihre Unterhaltung wieder auf. Sie hatten schon so viel gesehen. Herrschaften, gehen Sie doch weiter, sagte der Abfluss.
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«Komm», sagte Gudrun, als sie allein waren, «hören wir auf mit dem Unsinn, okay? Okay? Bitte. Was soll ich denn noch tun?» «Du könntest mich gleich ganz umbringen zum Beispiel», sagte Chris. «Ach, du Dummchen», sagte Gudrun und nahm Chris' Kopf zwischen beide Hände. «Du hättest mich umbringen können.» «Sei nicht albern. Dich? Das glaubst du wirklich?» «Nein.» «Na siehst du. Manche Menschen muss man zu ihrem Glück zwingen. Du bist der Typ. Und ich will dich, Chris. Ich will dich.» Ohne Chris loszulassen, legte sie ihre Stirn an Chris' Stirn. «Und du meinst, das geht so?» «Ja. Du bist der Typ. Du weißt das. Bei dir geht es nur so. Aber das erkennt nur jemand, der dich wirklich will.» «Kriegst du eigentlich immer, was du willst?», sagte Chris. «Ja», sagte Gudrun mit ihrem bekümmerten Lächeln, fügte dann aber hinzu: «Nein.» Fügte dann aber hinzu: «Haben wir hier ein Problem, Chris-Christine?» Und als Chris die Augen niederschlug, weil sie auf einmal lachen musste, sagte Gudrun: «Siehst du? Du weißt, dass ich Recht habe. Und du gehst mir eben nicht aus dem Kopf. Ich will dich, auch wenn du das nicht glaubst. Ich muss immer an dich denken, abends oder an den Wochenenden, wenn wir uns nicht sehen - wieso eigentlich nicht? Was für eine Verschwendung!» «Du bist eben nichts gewöhnt.» «Ach, du Dummchen. Hast du Lust auf einen kleinen Elendsvergleich? Weißt du, wie oft ich schon am Telefon gehangen habe und dann doch nicht angerufen habe? Du würdest nicht glauben, wie oft. Und der Gedanke, dass meine kleine Taxifahrerin da draußen irgendwo herumfährt und in einer Viertelstunde da sein könnte... Aber wahrscheinlich kennt ihr das schon, Leute, die euch durch die Gegend scheuchen und es sich dann anders überlegen, oder irgendwelche Verrückten, die...»
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Und Chris, überwältigt und bis in den Kern ihrer Existenz angerührt von der Art, wie sie «Dummchen» sagte und «meine kleine Taxifahrerin», fragte: «Du meinst eine Fehlfahrt?» «Ja. Aber ich will nur mein Leben zurück. Vor ein paar Wochen war mir das noch egal, aber jetzt nicht mehr. Daran bist nur du schuld.» «Aber ich habe doch gar nichts gemacht?» «Darauf kommt es auch gar nicht an.» «Und dann war es auch keine Fehlfahrt, oder?», sagte Chris. «Außerdem...» «Was?» «Für dich wäre ich gern mal... gern mal... das Dummchen?» Gudrun ließ ihren Kopf los. «Gehen wir rein. Es wird langsam frisch hier draußen.» Als sie sich drinnen, im submarinen Mikroklima aus Algengrün, Kadmiumgelb und Wasserrauschen, mit den sperrigen Liegestühlen abmühte, um sie ganz nah aneinander zu schieben, sagte sie: «Komm, hilf mir mal. Schließlich ist das mein Coming-out heute.» «Dein was?», fragte Chris. Und dachte: Das war eben der Unterschied. Sie konnte das. Sie konnte alles. Wann sie wollte. Wo sie wollte. Mit wem sie wollte. Schon die Art, wie sie sich in das Badetuch wickelte und dabei um sich sah! Chris liebte die Art, wie sie bestimmte Dinge tat, zum Beispiel, wie sie sich in ein Badetuch schlang, zum Beispiel, wie sie sich die Haare abtrocknete und dabei den Kopf zur Seite neigte, aber sie zeigten auch den Unterschied, zeigten all das, was sie, Chris, nie sein würde. Aber aufgehoben in diesem wirklich bequemen Liegestuhl, eingehüllt in einen flauschigen Bademantel, gab bald sogar ihr störrisches Herz Ruhe, und sie legte ihren Kopf an Gudruns Hals. Es war schön, den Leuten zuzuschauen, wenn man so zusammen war. Chris fühlte sich sicher in Gudruns Gegenwart, Teil eines Ganzen, das ihr erlaubte, sich noch enger an sie zu schmiegen und, die Hand zwischen ihren Brüsten, wo sie ihren Herzschlag spürte, die Augen zu schließen, während die Geräusche ringsum sie über immer größere Weiten der Stille erreichten und kleine Wassertropfen aus Gudruns Haar über ihr Gesicht kullerten wie
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Tränen, denen es egal war, wer sie weinte oder warum, denn sie hatte überhaupt keinen Grund mehr. «Warum hast du mich nicht geweckt?», fragte sie, als sie aufwachte. «Wieso denn?», sagte Gudrun. «Du siehst so lieb aus, wenn du schläfst.» «Nee, ne?» «Doch. Richtig süß. Und es war auch soo ein harter Tag für dich.» Aber vielleicht hätte sie es trotzdem nicht tun dürfen, einzuschlafen. Sie gab sich nicht die Schuld für Gudruns wechselnde Zustände, noch nicht jedenfalls, aber sie sah da einen Zusammenhang: Wenn sie nicht Acht gab, passierten Dinge, die nicht gut waren. Wie kurz darauf in der Umkleide, als Gudrun sich die Haare fönte und Chris ihr dabei zusah, verzaubert von der Art, wie sie den Kopf zur Seite legte und ihren Hals darbot, ein Moment, in dem sich ihre Blicke im Spiegel trafen und sie beide lächeln mussten, als hätten sie sich bei ein und demselben Gedanken ertappt, der Chris zufolge in eine einfache Frage mündete, nämlich wie es jetzt weiterging. Zu ihr oder zu mir? Womit Chris gleich vor dem nächsten Problem stand: Weder das Haus der spritzenden Hirne noch ihre eigene geplünderte Wohnung war eine annehmbare Option. Und genau in diesem Moment geschah es. Dass Gudrun zusammenzuckte. Als hätte hinter ihr jemand etwas gesagt. Aber Chris hatte nichts gesagt. Das, was Gudrun gehört hatte, schien eher aus dem Fön zu kommen. (Ein Witz, oder?) Das Problem war nur: Wenn man diesen Gedanken einmal zuließ, war er auch plausibel. Schau dir die Düse eines Föns an. Sieht sie nicht aus wie ein Maul? Der heiße Atem aus einem vergitterten Maul, so nah an deinem Ohr, so nah an deinem Hals? Und genügend elektrostatische Ladung, um einen Flieger zum Absturz zu bringen. Genügend elektrostatische Ladung für jede Art von Manipulation. Irgendetwas war passiert. Aber was? Gudrun blickte auf den stummen Fön in ihrer Hand und hängte ihn schnell in die Halterung zurück wie etwas, das beißen konnte. «Gehen wir», sagte sie, mehr nicht, und strich sich mit jenem tapferen Lächeln (wie Chris es mittlerweile nannte) eine halbnasse
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Strähne aus der Stirn. Und dennoch wusste Chris, dass sie sie erst einmal verloren hatte. An etwas, das aus einem Fön kam und das kein Witz war. Denn auch danach wurde es nicht besser, nicht im Wagen, wo es einen Moment lang so aussah, als würde sie wieder anfangen zu hyperventilieren, nicht an der Tankstelle, an der Chris Kühlwasser nachfüllen musste und wo Gudrun dauernd nach hinten sah, nicht in dem Sushi-Restaurant, wo Gudrun sie allein ließ und auf die Toilette verschwand, kurz nachdem die japanische Kellnerin sie an ihren Tisch geführt hatte. Aber ohne Gudrun fühlte sich Chris sofort deplatziert und falsch angezogen und überlegte schon, ob sie ihr nachgehen sollte, als die Kellnerin mit der Speisekarte und einem viereckigen Holzteller mit zwei seltsam geformten Frühlingsrollen kam, obwohl sie noch gar nichts bestellt hatten. Alles in diesem Restaurant war entweder aus Holz oder Papier. Die Kellnerin trug eine weiße Bluse mit einer schwarzen Fliege und hatte kurze, schwarze, glänzende Haare und sehr kleine Titten, die ihr gut standen. Als die Kellnerin gerade nicht in Chris' Richtung schaute, nahm sie die Stäbchen von dem länglichen Holzblock und piekste in die Frühlingsrollen. Sie waren weich und schwer und rochen nicht unangenehm nach etwas, das sie nicht kannte. «Na, hast du schon etwas ausgesucht?» Gudrun glitt geräuschlos auf ihren Stuhl. Chris schüttelte den Kopf. «Jetzt besser?», fragte sie. «Ja», flüsterte Gudrun mit einem Rest ihres tapferen Lächelns, während sie sich eine der Frühlingsrollen nahm, die in Wirklichkeit kleine heiße Tücher waren. Ein Kodak-Moment: Ihre Hände, die sich dem Tuch entwanden wie blasse Blütenblätter, als sie sagte: «Aber ich habe dich gar nicht gefragt: Magst du überhaupt Sushi?» «Klar, sicher», sagte Chris und schlug die Speisekarte auf. Da waren Zahlen und stille japanische Schriftzeichen und nervöse Boygroups von normalen Buchstaben - und Bilder! Bilder von all den Sachen, die man hier essen konnte. Nicht anders als bei McDonald's. Sie sagte: «Sieht aus wie Haribo.»
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«Haribo!», lachte Gudrun und ergriff ihre Skorpion-Hand. «Du Verrückte.» «Haribo Colorado. Aber danke trotzdem», sagte Chris. «Wofür?» «Woher hast du gewusst, dass ich nicht lesen kann?» «Das habe ich nicht gewusst», sagte Gudrun, während ihre kühlen Finger über den Skorpion strichen. «Aber das macht gar nichts. Wir werden das alles ändern. Wir werden alles ändern, hörst du? Aber du musst mir vertrauen, Chris.» «Ja», sagte Chris und schaute etwas hilflos zu, wie sich Gudruns Finger immer fester um ihre Hand krampften. «Wartest du auf mich?», fragte Gudrun unvermittelt. «Natürlich, wieso fragst du?» «Sicher?» «Sicher», sagte Chris. «Sicher-sicher? Du verlässt mich nicht?» «Sicher-sicher», sagte Chris, wobei der Blick der Kellnerin auf ihrer gefangenen Hand wie ein Laser brannte.
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11 The number you have called
Als sie Gudrun am nächsten Morgen abholen wollte, stand das Tor offen, und ein Kipper parkte seitlich in der Einfahrt. Männer arbeiteten im Garten. Um das zerwühlte Rondell vor dem Eingang zu heilen, hatten sie es in einen Krater verwandelt. Doch neue Pflanzen und Büsche warteten bereits auf dem Kipper. Die Männer hatten eine Kette gebildet, warfen sich nacheinander das Grünzeug zu, bis es seinen Bestimmungsort erreicht hatte - ähnlich wie Rudis Männer die Dachpfannen. Es machte Spaß, ihnen zuzusehen. Sie arbeiteten systematisch und würden nicht lange brauchen. Vielleicht hätte sie Rudis Angebot annehmen sollen. Ihr Leben wäre anders. So anders, dass sie Gudrun nie begegnet wäre. An diesem Morgen verließ kein dunkler Mercedes das Grundstück. Von Anfang an hatten sie sich gegenseitig belauert, Gudruns Bruder und Chris, der dunkle Daimler, der scharf wie eine Drohung in die Straße einfuhr, meist nur wenige Zentimeter an ihrem elfenbeinfarbenen Kotflügel vorbei, und das alte Taxi, das jeden Morgen wiederkam und stoisch auf der anderen Straßenseite wartete. Es war wie ein heimliches Duell, dessen Choreographie jedoch für Chris arbeitete. Denn er musste herauskommen, nicht sie, er musste durch das Blickfeld ihrer blauen Coyote-Shades, ein Mann, noch fast jugendlich, trotz seiner graumelierten Haare und nicht einmal unsympathisch, wenn man nicht wusste, was Chris wusste. Er erwiderte den Blick ihrer blauen Shades übrigens nie, aber er würde ihn zu deuten wissen, und das war nur gerecht. Wenn er Gudrun beobachten ließ, dann beobachtete Chris ihn. So war das Spiel wieder offen, dachte Chris, der Kampf um ihre Seele, wie sie sich schon nach kurzer Zeit einbildete. Aber an diesem Morgen kam auch Gudrun nicht. Chris versuchte, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Es war ausgeschaltet. Sie probierte ihre andere Nummer, doch auch da nahm keiner
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ab. Es kam vor, dass Gudrun verschlief. Das waren nicht die schlechtesten Momente. Ihre schlaftrunkene Stimme, so nah und körperwarm, dass sie glaubte, ihr Haar riechen zu können, Haar wie ein Mississippi-Delta-Blues, nichts für Kinder. Als wäre sie gerade neben ihr aufgewacht. Fast so gut wie richtiger Sex. «... Und was gibt's Neues von Volkers Stimme?» «Nur vom Feinsten, Noa: Köbes Underground und Die Fabulösen Thekenschlampen, heute Abend im E-Werk, Einlass 20 Uhr, Beginn 21 Uhr, Tickets überall da, wo es Tickets gibt...»
Sie wartete eine weitere Viertelstunde, dann stieg sie aus, ging an den Arbeitern vorbei zum Haus und klingelte an der Tür. Ihr öffnete eine Frau, die aussah wie eine Putzfrau und offenbar kein Deutsch konnte, denn sie antwortete auf jede von Chris' Fragen nur mit unwilligem Kopfschütteln. Chris versuchte, die Enttäuschung nicht an sich heranzulassen, und ging über den Kiesweg zurück, als ihr Blick auf die offene Garage fiel. In der Garage stand ein roter Geländewagen. (Warum nur hatte Gudrun nicht angerufen?) Es war ein Maverick, ein roter Ford Maverick. Chris blickte zurück zu den Arbeitern, aber die beachteten sie gar nicht. Sie trat in die Garage und sah sich den Wagen an. (Sie hatte alles versaut. Sie war wirklich kein Optimist. Sie war ein Profi.) In der Windschutzscheibe klaffte ein Sprung, und die gesamte Frontpartie wies erhebliche Schäden auf. Chris kniete sich neben den vorderen Kotflügel und strich mit der Hand über das verformte Blech wie über die Flanke eines verletzten Pferds. Sie zählte sieben fremde Lackspuren allein auf der rechten Seite, vier auf der linken. (Sie war gut, nicht?) Die Scheinwerfer hatte es glatt weggerissen, über die Achsspur und die Spaltmaße in den Türen brauchte man nicht lange zu reden. Da hatte es jemand wissen wollen.
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Da die Türen verschlossen waren, spähte sie, ihre Augen beschirmend, über die Seitenscheibe in das Innere des Wagens. Auf der Rückbank lag ein vertrockneter Blumenstrauß, merkwürdig intakt in seiner Zellophanhülle, als hätte er sich zum Sterben dorthin gelegt. Vorn quoll der Aschenbecher über, und auf dem Boden der Beifahrerseite lag ein Paar Pumps. Trotzdem wirkte der Wagen so unbewohnt und künstlich hergerichtet, dass Chris anfangs nicht auf die Idee kam, die Pumps könnten Gudrun gehören. Sie ging zurück zu ihrem Taxi und fuhr zur Boutique, wie jeden Morgen: Gudrun Greff Moden, ein Wort mit viel zu vielen identischen Buchstaben. Irgendetwas sagte ihr zwar, dass sie Gudrun dort nicht finden würde, aber fragen konnte sie zumindest. Die erste Fahrt des Tages war immer etwas Besonderes gewesen, und Chris hatte auch schon immer gewusst, dass sie sie eines Tages vermissen würde. «... denn aufgefallen ist die Formation aus dem englischen Sheffield hierzulande vor allem dadurch, dass sie meist schon betrunken auf die Bühne kommt. Aber wer auf drittklassigen Punk und englischen Gitarren-Schrott steht...»
Tatsächlich traf sie auch nur diese Frau Reiter im Laden an. Sie waren sich einige Male begegnet, aber Frau Reiter hatte sie konsequent ignoriert. Schon das strenge «Ja bitte?», mit dem sie Chris ansprach, als sie das Geschäft betrat, lie ß wenig Entgegenkommen erwarten, obwohl sie doch wissen musste, wer sie war. Aber vielleicht war es gerade das. «Tut mir Leid, aber wenn Sie Frau Greff meinen...», sagte sie und setzte ihre Brille mit dem goldenen Kettchen erst ab und sofort wieder auf. Chris hatte nach «Gudrun» gefragt. «...wenn Sie Frau Greff meinen, da kann ich Ihnen nicht helfen.» «Aber ich erreiche sie nirgendwo», sagte Chris. «Wie gesagt, wenn Sie mit Frau Greff nichts vereinbart haben, wüsste ich nicht, was ich jetzt für Sie tun kann.»
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«Aber das habe ich doch. Ich sollte sie heute Morgen abholen, aber sie war nicht da. Deswegen bin ich ja hier. Wissen Sie denn, wo sie sein könnte?» «Hören Sie, ich habe Kundschaft. Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte... Sie sehen doch, dass sie nicht hier ist.» So einfach war das. Chris ging zum Wagen zurück. Sie musste nachdenken. «... den vollen Monty erlebten gestern zwei Kölner Streifenpolizisten, als sie zu einer Streitigkeit bei der Eighties-Party auf dem Gelände der Uten Schokoladenfabrik gerufen wurden. Die Damen einer süddeutschen Hockeymannschaft rissen den Beamten nämlich kurzerhand die Klamotten vom Leib, da sie diese für Stripper der für den späteren Abend angekündigten HakedBike-Cops hielten. Erst der hinzugerufenen Verstärkung gelang es, den Irrtum aufzuklären. Das waren die Party-News - und damit zurück zu dir, Noa.» «Danke, Volker. Also, Mädels: Lasst die Finger von den Jungs in Grün. Ihr wisst nie, wo sie vorher gewesen sind...»
Gudruns flammrote Nägel auf dem langweiligen Grün der Uniformjacke. Wie lange war das jetzt her? Vier Wochen? Fünf? Es kam ihr viel länger vor und gleichzeitig wie gestern. Die Zeit verging wie im Flug, wenn man Spaß hatte. Und wie sie zu den Bullen gesagt hatte: «Ich liebe Männer, die immer nur das Nächstliegende tun.» Vielleicht sollte sie das auch tun: immer nur das Nächstliegende. Und nicht so viel nachdenken. Und nichts vorwegnehmen. Sie hatte es nicht versaut. Gudrun hatte sie gefragt, ob sie auf sie warten würde. Aber was bedeutete das? Und warten: wie lange? Wahrscheinlich gab es eine völlig harmlose Erklärung. Das Problem war nur: Auch für die letzte Scheiße gab es meist eine völlig harmlose Erklärung. An der Erklärung lag es ja nicht. «... sweet dreams are made of this...»
Eine Politesse klopfte aufs Wagendach und forderte sie auf weiterzufahren. Die wilde Halte kostete sonst 65 Mark.
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«... everybody is looking for something...»
Also das Nächstliegende. Und das bestand für Chris an diesem Tag darin, dass sie bis zum Abend noch dreimal an der Boutique vorbeifuhr (aber so, dass sie von innen nicht gesehen werden konnte) und viermal an dem Haus in Marienburg, wo die Vorgartenheilung und Verschönerung Fortschritte machte, bis um fünf Uhr der Kipper verschwunden war, das Tor geschlossen, auch die Garage geschlossen war und dort, wo früher die Kutschenlampen standen, kleine Kugellaternen glühten, die den Weg zu einem dunklen Haus erleuchteten. Das war um halb zehn. Zu diesem Zeitpunkt hasste sie schon die Bandansage, die ihr auf Deutsch und Englisch mitteilte, dass der gewünschte Teilnehmer «zurzeit» nicht erreichbar sei. Was hieß zurzeit? The number you have called is tempo-ra-ri-ly not available? Wann dann? Zu diesem Zeitpunkt konnte sie schon nicht mehr klar denken. Die vielen Bushaltestellen waren übrigens nicht für die Anwohner. Die Bushaltestellen waren für Hausangestellte, die in der Gegend arbeiteten. Aber warum, verdammt noch mal, meldete sie sich nicht? Was war passiert? Oder vielleicht war gar nichts passiert, außer dass Gudrun sie nicht mehr sehen wollte? Das wäre eine harmlose Erklärung gewesen. Es gab eigentlich nichts, was sie tun konnte. Es gab nichts Nächstliegendes. Deshalb fing sie in den darauf folgenden Tagen an, Überstunden zu machen. Ihre Umsätze blieben jedoch schlecht, weil sie immer wieder an Gudruns Haus vorbeifuhr. Aber solange sie fuhr, konnte sie wenigstens in einer Viertelstunde bei ihr sein. Je öfter sie nach dem verwaisten Haus sah, desto mehr erschien es ihr wie Stein gewordenes Unglück. Zumal sie schließlich entdeckte, worin das Mysteriöse an dem alten Kasten bestand, das sie bislang zwar gespürt hatte, aber nicht genau bestimmen konnte. Es waren die Gitter vor den Fenstern im zweiten Stock. In einer Gegend, in der an jedem Gartenzaun die Plakette eines Wachdienstes hing, durfte man im Erdgeschoss vergitterte Fenster erwarten. Aber in der zweiten
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Etage? Chris registrierte dieses Detail, ohne sich eine Meinung über seinen Zweck zu bilden. Aber es sah irgendwie ungut aus. Tag acht nach Gudruns Verschwinden kam ihr vor wie ein Jahrestag, und ihr Schmerz und ihr Herzklopfen verstärkten sich wie der, sobald sie an Gudrun dachte. Eine Woche! Zeit fliegt nämlich auch, wenn man keinen Spaß hat. Aber in gewisser Weise, sagte sie sich, war ihr Leben wieder in die Reihe gekommen, weitere Überraschungen unwahrscheinlich. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es wirklich geklappt hätte. Wer sie hätte sein können! Sie fuhr jetzt von morgens bis in die Nacht, bis sie nicht mehr konnte. Dann saß sie noch stundenlang traurig vor dem Fernseher, zappte von den Titten-Clips auf dem Sportkanal zu Spacenight und wieder zurück und versuchte, sich zu betrinken, was nicht gelang, da sie gleichzeitig auf das Handy aufpassen musste und eine klare Stimme haben wollte, falls Gudrun anrief, und überhaupt: Nimm dir ein Beispiel an diesem Kosmonauten! Sie hatte die Reportage mit Bildern aus der Mir zwar schon Dutzende Male gesehen, aber sie schaute sie sich immer noch gern an. So, als ginge es darin in Wirklichkeit um sie und nicht um Sergej Krikaljow. Sergej Krikaljow, letzter Kosmonaut der Sowjetunion, vergessen im All, als unten in Moskau die Panzer rollten. Länger als Sergej Krikaljow war noch nie ein Mensch im Weltraum gewesen, nämlich 311 Tage, 20 Stunden und 1 Minute, von wo er sein untergegangenes Land sah und den Dreck, den es auf der Erde hinterließ, wenn im Frühjahr der Neuschnee ausblieb. Manchmal fragte sie sich, was Sergej Krikaljow in der 1 Minute gemacht hatte. «Das Leben auf der Station», sagte Sergej Krikaljow, «ist eigentlich nur für Verrückte interessant. Man hat die einfachsten Dinge nicht mehr.» Das konnte Chris gut nachvollziehen, als sie später in ihrer Hängematte lag und sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und die Milchstraße durch das Dachfenster leuchtete und ihre Sehnsucht so wehtat, dass sie beim Gedanken an Gudrun nicht einmal masturbieren wollte. Sie war Gottes einsamste Frau.
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Aber da sie auch in dieser Situation Profi blieb, versuchte sie, ihren Schmerz zu nutzen, sich Gudruns würdig zu erweisen und Dinge zu erledigen, die sie sonst ewig aufgeschoben hätte. Beispiel: ihr Bankkonto. Da sie Woche für Woche alles, was sie irgendwie erübrigen konnte, bar einzahlte, war es nicht mehr ganz so tief in den Miesen. Aber sie musste unbedingt die aufgelaufenen Mietschulden überweisen, sonst flog sie wirklich noch aus der Wohnung. Problem: das Überweisungsformular. Allein die Vorstellung, jemanden zu bitten, für sie den Schein auszufüllen, hätte normalerweise gereicht, ihr den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Aber nicht jetzt. Dieser Aspekt ihrer Minderwertigkeit war ihr im Augenblick völlig egal, in ihr wüteten ganz andere Zweifel. Nachdem sie allerdings ihr ganzes Geld eingezahlt hatte, unter anderem auch das, was sie von Gudrun bekommen hatte, erfuhr sie, eine Überweisung sei «zurzeit» leider noch nicht möglich. «Und wieso nicht?» «Ihr Dispo wurde gekündigt, sehe ich gerade», sagte die Frau hinterm Schalter und starrte auf den Monitor, um Chris nicht in die Augen zu sehen. «Aber ich habe doch etwas eingezahlt», sagte Chris. «Das ist richtig, aber Ihr Konto steht Ihnen erst nach Ausgleich des Saldos wieder zur Verfügung.» «Könnte ich wenigstens das Geld, das ich Ihnen gerade gegeben habe, wieder zurückbekommen?», fragte Chris. «Glauben Sie mir, es tut mir wirklich sehr Leid», sagte die Frau mit einem empathischen Zucken unter dem Lippenstift, das sie vermutlich so beigebracht bekamen, damit Leute wie Chris nicht gleich die ganze Einrichtung zertrümmerten. Aber selbst das hatte sie vergessen, sobald sie die Schalterhalle verlassen und die Mahnung der Wohnungsgesellschaft (die wievielte eigentlich?) in den Mülleimer geworfen hatte. Sie trat gegen die Verkleidung des Radios und fuhr nur noch. «... der Verbraucher jedenfalls reagiert verunsichert...» «... wie Ferien für sensible Haut, denn eine Gurke hat man ja immer im Haus...» «... some of them want to get used by you...»
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«... die aktuelle Temperatur in der Innenstadt: Es wird allmählich wärmer...»
Und die Scheißkarre hatte keine Klimaanlage. Und die Leute waren bekloppt. Beispiel: Die elegante Frau vor dem Dom-Hotel, die ihre kleine überzüchtete Töle nicht bewegen konnte, in Chris' Taxi zu springen. Die Frau sagte: «Chico, wird's bald? Oder brauchst du eine schriftliche Einladung?» Und die Töle war zwar nur eine widerliche, sabbernde Wurst, aber sie hatte intakte Instinkte, sie roch die gespenstischen Spuren, die in ihrem Taxi begannen, aber nie wieder hinausführten. Auf ewig gefangene Phantome. Und Chris hätte am liebsten gesagt: «Lady, der Hund kann nicht lesen.» Aber das machte gar nichts. Denn wir werden das ändern. Du musst mir vertrauen. Warum hatte Gudrun das nur gesagt? Wusste sie nicht, dass Chris genau das tat? Sie fing an, Gudrun überall zu sehen, meistens im Vorbeifahren, aus den Augenwinkeln, eine Schrecksekunde der Hoffnung. Etwa am Eingang zur Zeppelinstraße, wo sich eine Frau auf eine Art das blonde Haar aus der Stirn wischte, die Chris veranlasste, noch einmal um den ganzen Neumarkt herumzufahren, ohne dass sie sie später wieder ausmachen konnte. Ein andermal sah sie sie in einem Mädchen vor dem Tauchsportgeschäft in der Nähe des Georges Sand, das mit nach hinten gedrehtem Hals hinab auf ihren hohen Absatz schaute. Ein andermal sogar nachts, auf ihrer, wie sie es nannte, Nuttenrunde über den Gereonswall, wo sie einfach Gas gegeben hatte, als sie erkannte, dass die am Straßenrand wartenden Fahrgäste drei Jugos waren («Dreckskerle! Mörder!») - und plötzlich, vor einem dunklen Hauseingang, diese wunderschöne Prostituierte, die sich den Mantel nachlässig um die Schulter gehängt hatte, weil es langsam frisch wurde, und mit weit zurückgelegtem Kopf den Rauch in den schwarzen Himmel blies, ihr weißer Atem... Und eines Nachts entdeckte sie Gudrun sogar in Xena. In einer uralten Kassette mit Folgen aus der ersten Staffel. Die erste Staffel, mein Gott, das war die Zeit, in der sie noch draußen bei den Bauern gewohnt hatte, in Rudis Haus. Die Figur hieß Callisto, eine Nebenfigur, aber keine, die nur zum Sterben in die Serie kam, sondern zum Töten. Und die Ähnlichkeit mit Gudrun war beunruhigend. Dasselbe ironisch-bekümmerte Lächeln, wenn sie den Kopf zur Seite
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neigte. Dieselbe kalte Macht in den runden braunen Augen. Sogar die Art, wie sie sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr. Wie hatte sie das vergessen können? Callisto war die Furie, die Rachegöttin, war Xenas Dämon und schlimmster Alptraum aus der Frühzeit der Serie. Callisto war das, was aus Xena hätte werden können, wäre sie Gabrielle nicht begegnet, hätte sie Gabrielle nicht geliebt und hätte Gabrielle sie nicht zurückgeliebt. Callisto, die Xena ins Gesicht spuckte, als sie sagte, der Gedanke, dass sie, Xena, Mitleid mit ihr haben könnte, sei schlimmer als der Tod. Callisto, die zu Xena sagte: «Du kämpfst mit dem Herzen. Das ist mein Vorteil. Denn ich selbst habe anscheinend keines mehr.» Callisto, die vor Freude in die Hände klatschte, als Dahaaks Tochter, Göttin des Blutes, ihren Kokon sprengte und mit diesem eiskalten Blick sagte: «Hallo, Mutter.» (Dass auch Callisto in ihrer Lieblingsfolge mitspielte, hatte sie irgendwie verdrängt.) Callisto, zweitgrößter Mond des Jupiter. Callisto, bestehend aus Eis und Staub, galt lange Zeit als das hässliche Entlein unter den Jupitermonden, doch unter seiner stark erodierten Oberfläche vermuteten Wissenschaftler einen Ozean. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte Gabrielle Callisto geliebt. Und da Gudrun so fern war, durchsuchte Chris eines Nachts im Schnelldurchlauf sämtliche 134 Xena-Folgen nach Callisto, der Erzfeindin, der Untoten, die immer wieder aus dem Schattenreich auftauchte. Callisto, die Gabrielles Mann tötete und dafür von Xena getötet wurde. Aber warum? Warum? Xena, du Heuchlerin! Freust du dich denn kein bisschen? Nur dadurch ist Gabrielle zu dir zurückgekehrt. Auf diese Weise fühlte sie sich Gudrun nahe. Sie legte sich keine Rechenschaft darüber ab, ob sie nicht langsam einen Knall hatte. Der Frühling kam, und mit jeder neuen Knospe glich das Bäumchen auf dem Dach gegenüber weniger einer Hand. Dafür war in der Wohnung gegenüber ein neuer Mieter eingezogen, den man aber nie sah, weil die Jalousien ständig unten waren. Nur nachts spielten sich seltsame Dinge ab. Jedes Mal, wenn Chris, egal wie kurz, an ihre gläserne Dachschräge trat, ging in der Wohnung
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gegenüber für eine Sekunde das Licht an - oder aus, je nachdem. Wenn hinter der Jalousie Licht war, wurde es für eine Sekunde dunkel, dann 'wieder hell. Wenn es dunkel war, wurde es für eine Sekunde hell, dann wieder dunkel. Mehr passierte nicht. Ob ein System dahinter steckte, konnte sie nicht sagen, wollte es auch nicht ausprobieren, aber sie würde die Sache im Auge behalten. Sie hatten schon einmal ein Anrufer-Problem gehabt, weil Yve sich auf ihrer improvisierten Dachterrasse ja unbedingt nackt in die Sonne legen musste. Scheiß -Yve, ich hoffe, du erstickst an deinen Pflanzen. Ansonsten fuhr sie ohne Ende, weil sie fand, dass ihr das half. Die Leute saßen bis abends in den Straßencafes, das Prollvolk in den tiefer gelegten Corsas ließ seine Basskisten wummern, ein EU-Gipfel tagte, die Innenstadt war an den unmöglichsten Stellen gesperrt, und Chris wunderte sich, wo die vielen hübschen Polizistinnen herkamen, die auf einmal an jeder Straßenecke standen. Chris liebte Frauen in Uniform, obwohl diese beigefarbenen Diensthosen immer einen dicken Arsch machten. Die Stadt und die Leute waren wie verwandelt in der lauen Luft, und sie fuhr Mädchen, die sie auf unter zwanzig schätzte, zu Single Schaum-Partys. Sie waren oft zu zweit, aufgeregt und hatten Glitter zwischen ihren Push-up-Titten. Chris fragte sich, ab wann man ein Single war und was der Schaum mit dem Glitter machte. Und auch sie selbst ging wieder aus. Cirra, SCHULZ, das Van Dyke, Plätze zum Sein und Gelten. Im Cirra konnte man psychoaktive Substanzen kaufen, und es war so laut, dass sie sich nicht ganz so allein fühlte. «... breathing, my beloved in...» «... die wahren Gewinner sind einmal mehr die Dot.Coms...» «... breathing, breathing her nicotine...»
Im Van Dyke war sie zwar mehr oder weniger «durch», niemand interessierte sich groß für sie. Trotzdem bewahrte sie sich einige freundliche Gefühle für den Laden, der in der Anfangszeit ihre wichtigste Anlaufstelle gewesen war, als sie noch gar niemanden
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kannte und wo man mit anderen Frauen reden, tanzen, knutschen und erstaunlich einfach auch mit ihnen schlafen konnte. Aber irgendetwas schien sie an dem Spiel nicht begriffen oder grundsätzlich falsch verstanden zu haben, denn eine echte dauerhafte Freundschaft kam nie dabei heraus. Ganz so, wie es jetzt den jungen Studentinnen ergehen mochte, das Frischfleisch zum Sommersemester, das in diesen Tagen zum ersten Mal in die ausgehungerte, pheromongesättigte Szene eintauchte, in der es laut Chris mehr Intrigen und Gemeinheiten gab, als ihr der Kölsche Klüngel je antun konnte. Der Kölsche Klüngel war nur unendlich blöd. Die Weiber hingegen wussten, was sie taten. Und das saß. Dabei konnte ihr niemand vorwerfen, sie hätte sich nicht eingebracht. Sie hatte sich an der Frauen-Aktions-Gruppe beteiligt, vermochte sich bloß nie so aufzuregen, wie es offenbar von ihr erwartet wurde, beispielsweise über diese bescheuerte Aids-Broschüre der Uni. «Sag mal, kannst du nicht lesen oder was?», hatte sie diese Paula, Sergeant Paula, die Anführerin, angefahren. «Lesben werden mit keinem Wort erwähnt. Wir werden glatt unterschlagen. Uns gibt es gar nicht.» Worauf Chris, trotz rotem Kopf, trotz Herzklopfen bis zum Hals, mit völlig unzittriger Stimme log: «Natürlich kann ich lesen. Aber jeder weiß doch auch so, was gemeint ist. Oder würdest du an einem Tampon lutschen - von jemandem, den du nicht kennst?» Sie war danach nie wieder hingegangen. Und davon mal abgesehen, was gab es nicht alles? Was war mit Candidose, Chorioamnionitis, Donavanosis, Mycoplasma hominis, Pedikulosis, Giariasis, Hepatitis B, C, D, G, Herpes simplex, Lymphogranuloma venerum, Vaginitis, Trichomonoasis, Zytomegalie? Chris war nicht dumm. Aber würde sie das nicht alles akzeptieren? Wenn sie sich ausdachte, was sie dann alles sein könnte? Und da waren die psychischen Macken noch nicht mal drin, siehe Gudrun. Was war mit sexuell übertragbarem Wahnsinn? Aber kam es darauf an? Würde sie das nicht alles akzeptieren, alles, alles, alles akzeptieren für eine Berührung von ihr.
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«... eine Frage der Ehre letztlich...» «... what a waste of all that Irmy dreamers, Irmy dreamers...» «... mein Tontechniker sagt mir, das wäre die richtige Platte, aber das stimmt nur bedingt, denn es ist die falsche Platte...» «... did-n-did-n-did-n-dum, irmy dreamers...»
Oder diese lesbische Volleyballgruppe («Voll-Les-Ball»), wo die halbe Mannschaft in die Trainingsleiterin verliebt war, Kirsten, eine Sportstudentin ohne Titten, aber mit endlosen athletischen Beinen und einer Möse, die sich scharf unter dem gespannten Body abzeichnete. Chris verstand die stummen professionellen Gesten, mit denen sie vom Rand aus das Spiel dirigierte, aber weder verstand sie, nach welchen Regeln sie ihre Gunst austeilte (vermutlich weil Chris auch nie zu ihren Lieblingen zählte), noch verstand sie, wie die Gruppe überhaupt funktionierte, erst recht, als sich diese Renate, der Panzerknacker mit dem signalroten Irokesenstreifen, nach einem von Chris' Schmetterbällen (gut, nicht?) den Ringfinger brach, weil die fette Qualle ihren Arsch wieder nicht hochkriegte und sowieso völlig verkehrt stand und... Chris auch dieser Aktivität bald fernblieb und einem ganz normalen Karate-Club beitrat, wo sie erst einmal aufatmete, weil sie sich nicht länger von vermeintlich gleich gesinnten Schwestern beobachtet und durchschaut wähnte. (Denn darauf lief es doch hinaus, oder? Sie hatte dazu längst ihre eigene Meinung. Wie sollte eine Mannschaft entstehen aus Menschen, die nichts teilten außer der sexuellen Orientierung? Okay, es waren in der Mehrzahl Studentin nen, und vielleicht konnte sie da nicht mitreden. Aber die Szene war sowieso schon so klein, dass man dauernd denselben Leuten begegnete. Und allein eine Callisto freute sich auf die Ewigkeit, die sie zusammen mit Xena in der derselben Hölle verbringen würde.) Aber Karate lag ihr. Karate war hart und durchsichtig in jenem asiatischen Ritual, bei dem man dem Meister für die Belehrung dankte, die erst weh- und dann gut tat, weil sie zeigte, was man war, und nicht, was man ändern musste, um in eine Gruppe zu passen, die auf einer Lüge beruhte. Das Van Dyke hatte noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Vorteil, wenn man allein hinging. Es verfügte über zwei FlipperAutomaten, Turbo Speed und Big in Japan. Flipper, ein nobles Spiel
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und manchmal ihr letzter Trost, ein Spiel mit Wurzeln, die tief in Chris' Vergangenheit zurückreichten, siehe das einzige Bild, das sie von ihrem Vater hatte. Das heißt, es war kein Bild ihres Vaters, sondern eines, das von ihm gemacht worden war, das Einzige, das sie überhaupt von ihrem Vater besaß, dafür hatte schon ihre Scheißmutter gesorgt. Und zwischendurch aus diesen kleinen handlichen BacardiBreezer-Flaschen zu trinken (einziges Van Dyke-Zugeständnis an die schwule Cocktail-Kultur), sah ziemlich cool aus, und sie spielte um die nächste Runde Turbo Speed gegen zwei Ledertrienen, die bei jedem Patzer kreischend die Hände über dem Kopf zusammenschlugen («Ich sag dir, Höll-lle!»), aber ansonsten ziemlich anale Typen waren, die ständig das Tempo aus dem Spiel nahmen, indem sie erst jede Kugel abfingen, um dann die Drop-Targets mit den fetten Punkten doch zu verfehlen. Chris zufolge eine Spielweise, die jeden echten Flipper nervte, denn mit Flipper war es wie mit der Liebe: ein Spiel, das Schnelligkeit, Risikobereitschaft und Antizipation verlangte und das man am Ende unweigerlich verlor, weil man nie um den Sieg spielen konnte, sondern immer nur um ein kleines bisschen mehr Zeit. Butches beispielsweise rissen gern an dem Apparat, aber das brachte es auch nicht, eine enigmatische Diva wie Big in Japan nahm das übel, und ihre funkelnden Augen erloschen sofort. Das Bild, das sie von ihrem Vater hatte, zeigte übrigens sie selbst, Chris, im Alter von fünf oder sechs, jedenfalls noch vor ihrer Schulzeit, und sie glaubte nach all den Jahren, sich sogar an die rote wollene Strumpfhose und das weite blaue Kleidchen erinnern zu können, weil sie es nie gern getragen hatte. Ihr Vater musste sie auf die Glasfläche des Flipperautomaten gesetzt haben, um sie zu fotografieren, wo sie mit leicht nach links gedrehtem Kopf, die kleine Hand auf die Glasscheibe gelegt, die langen Zöpfe baumelnd, hinabschaute auf den flimmernden Spieltisch wie Sergej Krikaljow durch das Fenster seiner Raumstation auf unseren schönen lichtverschmutzten Planeten, ein Jammer, denn aufgrund dieser Kopfdrehung gelang es später weder Scully und Mulder noch all ihren Spezialisten, wenigstens das Spiegelbild ihres Vaters in ihren blauen Augen zu isolieren.
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Und irgendwann war es echt spät, und sie konnte trotzdem noch nicht schlafen, saß stattdessen vollkommen leer im Geflacker der langen TV-Nacht und zappte von Sergej Krikaljow zu Miss Planet Aerobic mit Adduktoren, die keinen Lover je wieder freigeben würden, und weiter zum Shoppingsender, wo der String-Tanga Midnight Lady in den Größen 48 bis 52 bereits ausverkauft war - als das Handy piepste. Sie hechtete in den Flur zu ihrer Jacke, wühlte zwischen Stunner und Taschenlampe und war trotzdem zu langsam, denn als sie die Taste drückte, war das Gespräch weg. Aber es war Gudruns Nummer, eindeutig. Und sie, Chris, war nicht vorbereitet gewesen. Sie trat an die verglaste Dachschräge, wählte Gudruns Nummer, aber alles, was sie bekam, war die ewig gleiche Ansage: «The number you have called is tempo-ra-ri-ly...» «Scheiße, geh dran, geh dran, was machst du?» Sie probierte es erneut. Das Licht in der Wohnung gegenüber ging an und wieder aus. Sie probierte es noch weitere zwanzig Mal, denn Gudruns Handy hatte keine Mailbox. Auch so eine Scheiße. Warum hatte es keine Mailbox? Enttäuscht feuerte sie ihr Handy gegen die Kiste mit den XenaKassetten, worauf das bläuliche Licht ansprang und kleine Zeichen und Symbole über das Display tippelten. Komisch, das hatte es noch nie gemacht. Sie nahm das Handy und starrte auf das dunkle Display. Drückte irgendwelche Tasten, bis sich das Wunder wiederholte, tippelnde Buchstaben. War das eine SMS? Sie hatte noch nie eine bekommen, nie eine geschrieben. «Du Arsch», sagte sie laut, «warum glaubst du mir nicht?» Das war eben der Unterschied. «Du Dummchen, du blöder Arsch, du dummes...», sagte sie, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
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Von da an schaltete sie ihr Handy nicht mehr aus. Sie hatte Angst, dass das Einzige, was sie von Gudrun hatte, für immer verloren gehen konnte. Ohne Zahl waren ihre Versuche, die Botschaft zu entschlüsseln. Doch die Buchstaben auf dem Display waren ohnehin so seltsam. Und dann ihr Herzklopfen. Keine Chance. Sie schaffte es nicht. Chris nahm ihre Tour über Marienburg und die Boutique wieder auf. Dort war alles unverändert, das Haus wirkte wie ausgestorben, und in der Boutique befand sich nur Frau Reiter. Ihr blieben nur die SMS, die sie nicht lesen konnte. Oft wartete sie ab ein Uhr nachts hinter der Scheibe der Dachschräge oder an der Balkontür, um wenigstens ein einziges Mal mit ihrem Gegenanruf schneller zu sein als die verhasste Ansage. Aber das funktionierte nie, Gudrun war nicht kalkulierbar. Manchmal war die Nachricht schon da, wenn sie um halb zwölf nachts aus der UBahn kam, ein andermal piepste es erst um drei Uhr nachts und weckte sie aus ihrem leichten Schlaf. (Sie war dazu übergegangen, das Handy in den vorderen Teil der Hängematte einzuklinken - was sehr professionell aussah.) «... Army dreamers, Army dreamers...»
Kalkulierbar war allenfalls das Licht in der Wohnung gegenüber. Dann wurden die Nachrichten weniger und kleiner und blieben zwei Tage später ganz aus, und sie fühlte sich schlechter als zuvor. Was war der Grund dafür? Warum machte Gudrun das? Und als sie in derselben Nacht zum zehnten Mal den Anfang von Folge 12 der dritten Staffel anschaute, die Stelle, wo Callisto, eine wiedergeborene Callisto in einem Robin-Hood-Kostüm, sang: «Xena, sei wachsam, Xena sei klug/Seinen Augen zu trau'n ist hier lang nicht genug...» zweifelte sie sogar daran, dass die SMS überhaupt eine gute Nachricht enthielt. Denn die Frage blieb die alte: Warum rief sie nicht an? Warum war sie nie zu erreichen, nachdem sie praktisch eine Sekunde vorher selber eine SMS verschickt hatte? SMS waren eine ideale Methode, um Schluss zu machen, kurz, kategorisch, unkompli-
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ziert: Tut mir Leid, aber es klappt einfach nicht zwischen uns. Leb wohl. Mehr brauchte man nicht zu sagen. Keine Fragen, keine Tränen. Sie musste unbedingt herausfinden, was in den SMS stand, hatte aber niemanden, den sie fragen konnte. Vielleicht den Coyote? In buchstäblich letzter Sekunde schreckte sie davor zurück. Die Sache war zu heikel. Und Tina war nicht da. Mehrmals am Tag schaute sie nach, ob die Nachrichten nicht versickert waren. Wenn schon Buchstaben auf Papier sich verändern konnten, sobald sie ihnen auch nur den Rücken zukehrte, um wie viel mehr elektronische? Vielleicht waren sie es ja irgendwann leid, ungelesen in ihrem Handy zu schmoren. Die Zeit drängte, und Chris versuchte, ihr davonzufahren. Sie fuhr Mädchen um die Zwanzig, die sich für Singles hielten, zu Single Schaum-Partys. Und sie fuhr, Stunden später, den Abschaum der Schaum-Partys wieder nach Hause. «Echt, das mache ich nie wieder, echt, nie wieder...», sagte der Typ mit der Fahne, der sich für das Größte hielt. Dann lass es bleiben, Meister. «Verstehst du, was mit den Weibern los ist?», sagte der Typ, der sich für das Größte hielt. Klar, Meister, ist ja auch nicht schwer zu verstehen. «Kommen da hin und... dann läuft nichts.» Tja, Meister, so ist das. «Ich meine, ich bin bestimmt nicht anspruchsvoll...» Bist du nicht? «Aber so muss es doch wohl auch nicht sein, oder?» Muss es nicht. «Ich meine, da ist doch keine Logik drin...» Nicht die Spur, Meister. «Allmählich glaube ich, die suchen gar keinen echten, also keinen richtigen... Kontakt...» Vermutlich nicht, nein. «Verstehst du das?» Keine Ahnung, was du meinst. «... auch heute Abend könntet ihr wieder ziemlich coole Sachen gewinnen, unter anderem...» «... durch ein entgegenkommendes Fahrzeug...» «... under the freeway, the lights go shining on...»
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«Ich meine, das ist doch nicht normal, oder? Ich spendiere Drinks für über hundert Mark, und die wollen lediglich ihren Spaß...» Kein Spaß, Meister. «Am Ende hast du einen Haufen Geld ausgegeben, und es läuft nichts, rein gar nichts, null...» Zero. «... under the freeway, no one knows you're gone...»
«Also ich sehe das nicht mehr ein, da mache ich nicht mehr mit. Die ziehen einen glatt ab...» No one knows you're gone. «... die etwas zu Unrecht in Vergessenheit geratene Sylvia Juncosa...»
«Aber ich sag dir, woran das liegt...» Da bin ich gespannt. «Diese Weiber sind alle nicht mehr normal...» «... zugegeben, sie war nie der Welt beste Sängerin...»
«Ich meine, was verlangen sie, was wollen sie noch, kannst du mir das sagen?» Das weiß niemand. «... aber die Riffs der ungekrönten Queen und Post-Punk...»
«Wahrscheinlich irgendwelche gut aussehenden Jungspunde mit Waschbrettbauch und jeder Menge Kohle...» «... haben diesen zupackenden Impact-Style von reiner unverblümter Mucke, der von Amerikanern gern als ›gritty‹ bezeichnet wird...»
«Und die sagen dir das sogar offen ins Gesicht. Ich meine, wo sind wir denn hier?» Hier.
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«Da fragt man sich doch: Wo sind eigentlich alle die normalen Frauen geblieben, ich meine jetzt nicht dich...» Weg. «Du bist bestimmt nicht so, das habe ich gleich gemerkt. Also normale Frauen, ganz normale..., das begreife ich nicht, wo die plötzlich alle hin sind. Das war früher nicht so.» Aber wirklich sehr früher. Und am Telefon ist: Saskia. Hallo, Saskia.» «Hallo.»
«Stört dich eigentlich das Tattoo nicht? Ich meine, wenn man jung ist... aber später? Also mich würde das stören, als Mann, ich glaube, das könnte ich nicht, nicht so eines jedenfalls. Obwohl, man sieht es ja viel heute. Aber gibt ja Methoden, mit denen man es wegmachen kann.» Fass mich an, und ich mache dich weg. «Aber ansonsten, wirklich, Respekt. So was wie dich findet man nicht mehr so häufig. Zumindest nicht auf diesen Schaum-Partys, sowieso alles Quatsch. Hast du eigentlich keine Angst, nachts so allein? Ich meine, die Haare kann man wachsen lassen. Ich stehe eigentlich auf keinen bestimmten Typ, eher so normal, aber da gehörst du eindeutig dazu...» Fuck you. «Oder hast du keinen Freund? Ich wette, du hast keinen Freund. Ja, so ist das heute. Die nettesten Menschen sind heute allein. Und das an meinem Geburtstag. Ich habe Geburtstag, und ich bin ganz allein. So ist das heute.» Herzlichen Glückwunsch. «Weißt du, woher ich weiß, dass du keinen Freund hast? Es ist ganz einfach. Weil ich würde das nämlich nicht erlauben, dass du nachts Taxi fährst, so als Mann, würde ich das nicht erlauben. Man weiß ja nie. Da ist es übrigens. Du kannst hier anhalten. Nummer 237.»
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«Saskia, bist du bereit?» «Ja.» «Saskia, okay, hier kommt unsere Frage...»
«Hast du Lust, noch mit hochzukommen?» «Wie bitte?» Chris trat scharf auf die Bremse. «Nur so, ich meine, wir könnten aus meinem Geburtstag herausfeiern.» «Ich verstehe die Frage nicht.» «Nein? Ich habe gefragt, ob du noch mit hochkommst. Du bist allein, ich bin allein. Alles kann, nichts muss.» «Erst einmal kriege ich von Ihnen 27 Mark 80.» Sie konnte mit Besoffenen, sie konnte mit Widerlingen - und mit Kombinationen aus beidem. «Und wenn du mit hochkommst?» «250.» «Mark? Das soll wohl ein Witz sein.» «Dann 27 Mark 80. Geburtstagsangebot. Allerdings ohne Torte.» «Ich hab's gewusst. Ich seid alle gleich. Ihr wollt einen nur abzocken», sagte der Kerl, der sich für das Größte hielt, und legte 30 Mark auf die Mittelkonsole. Chris gab ihm 2 Mark 20 zurück und sagte: «Ich will niemanden abzocken. Ich sage nur, wie es ist. Du hast zwei Möglichkeiten, entweder du sagst Ja oder Nein.» «200», sagte der Mann. «Okay.» «Oder ISO, es dauert auch nicht lang», sagte der Mann. «200», sagte Chris. «Wofür sollte ich dir 200 Mark zahlen?» «Dafür, dass ich keine Nutte bin.» «Woher soll ich wissen, dass du kein Nutte bist?» «Du weißt es.» «Und du machst alles mit?» «Nicht alles, aber viel. Du wirst es ja sehen.»
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«Darauf falle ich nicht herein.» «Dann sag Nein. Aber wenn du Ja sagst, kriege ich jetzt 200 Mark. Und du gehst vor. Ich muss erst sehen, wo ich hier parken kann.» «Darauf falle ich nicht herein. Ihr seid doch alle gleich.» «Auch gut, dann lassen wir es. Aber ich gehe nicht zusammen mit dir ins Haus. Du gehst vor. Ich komme nach. Ich entscheide, was läuft. Sag Ja oder Nein.» Der Kerl, der sich für das Größte hielt, zögerte. Aber er hatte zwei Hunderter in der Hand. «... tataaaaaaa: Saskia, das war... RICHTIG!! Und damit gehören dir – unser Blue-Night-Special für die ganz Ausgeschlafenen - zwei Backstage-Bässe inklusive VIP -Lounge für den one and only, einzigen und wahren, ultimativen Smashing-Pumpkins-Gig während der Popkomm, hier im Herzen der Domstadt. Na, was sagst du dazu? Ist das ein Deal?» «Kann ich da auch im Rolli hin?»
«Da», sagte der Mann, der sich für das Größte hielt. «Ihr seid alle gleich.» Was aus seiner Perspektive, eben der größten, vielleicht nicht einmal verkehrt war. «Okay», sagte Chris. «Dann bis gleich.» «Haha, Saskia, das ist gut. Aber wenn ich dir einen ganz heißen Tipp geben darf: Zieh dir lieber das Schärfste an, was du hast, denn diese Chance, deine ganz persönlichen Helden kennen zu lernen, kommt vielleicht nicht wieder.» «Nein, ich meinte, kann ich da auch im Rollstuhl hin?»
«Aber ich merke mir deine Nummer. 409. KaRo-Taxi 409.» «Gern.» «Ohne Quatsch? Du bist... also, da bin ich jetzt überfragt, aber ich verspreche dir, das Radio, das dich liebt... Saskia, bist du noch dran?» «... tonight... tonight...»
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Chris wartete nicht einmal, bis er seinen verdammten Schlüssel gefunden hatte, sondern gab Gas bis zu Mike's Auto-Himmel, bog dort links ab und fuhr zurück in die Stadt. Sie kommentierte den Vorfall nicht, nicht einmal für sich, sie hatte nicht den Eindruck, dass sie etwas Böses getan hatte, eher im Gegenteil. Es war nie passiert. «Jetzt haben wir sie verloren...» «... tonight... tonight... so right»
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12 Hymne
Zu Hause angekommen, stellte sie sich ein halbe Stunde lang unter die Dusche, um den Schmutz der Stadt abzuwaschen. In ihrer Wohnung herrschten schon jetzt Temperaturen wie im Backofen, und es war erst April. Nackt tappte sie zum Kühlschrank, trank ein paar Schluck von dem sauren, eiskalten Wein, ging mit der Flasche zur offenen Balkontür, atmete den kosmischen Frieden, spürte die kühle Luft auf ihrer Haut, schloss die Augen - und öffnete sie wieder, als in der Wohnung gegenüber das Licht anging. An. Aus. Ein Augenaufschlag. Ein binäres System. «Hallo», sagte sie lautlos. «Auch wieder da? Schön. Denn wer immer du bist, ob Mann oder Frau, ob dumm oder alt, ich glaube, wir müssen uns mal unterhalten. Zunächst: Ich habe keine Vorurteile, nicht mal gegen Spanner, obwohl ich Grund dazu hätte. Den Spanner treibt eine unstillbare Neugier, und ohne Neugier gäbe es keine Voyager-Sonde, kein Hubble -Teleskop, keine Galileo. Aber es nervt eben. Zumal ich meine Dachterrasse noch für meine eigenen Beobachtungen brauche. Ein Beispiel: Der Danziger Astronom Jan Hevelius konnte das von ihm entdeckte Sternbild Luchs noch mit bloßem Auge erkennen. Luchs deshalb, weil man zu seiner Beobachtung wahre Luchsaugen benötigte. Aber mit deiner penetranten Licht-Scheiße hier hätten selbst seine Luchsaugen keine Chance gehabt. Kannst du mir folgen?» In der Wohnung gegenüber flammte ein grellblaues Pünktchen auf, das aussah wie der Strahl eines Schweißbrenners oder wie einer dieser Kugelblitze, aus denen sich Callisto materialisierte. Chris hielt zunächst einen Fernseher für die Ursache dieser Erscheinung, aber diese wurde so schnell größer, dass sie sich korrigierte: eine Sonnenbank.
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«Kannst du mich sehen? Du siehst mich? Wirklich? Schön. Denn ich muss dir leider sagen, dass du mich so nie wieder sehen wirst, egal, ob Yve hier alle Blumen geklaut hat, und erst recht egal, wie sehr du es später versuchst. Nur jetzt, dieses eine Mal, hast du die Chance und auch nur, damit dieser Scheiß einmal aufhört. Ich verbinde nichts Persönliches damit. Ich will nur in Ruhe gelassen werden. Deswegen will ich dir ein Geschäft anbieten, die Chance, deine ganz persönliche Heldin kennen zu lernen auf eine Art, wie du sie sonst nie kennen lernen würdest. Und diese Chance kriegst du nur hier und jetzt und kein zweites Mal.» Das seltsame Licht in der Wohnung gegenüber hatte eine Intensität erreicht, dass der Fensterrahmen bereits darin aufgegangen war, ehe die ersten Strahlen auf die Fassade übergriffen. Sie spürte die kurzen Wellen auf ihrer Haut und das, was sie in ihrem Nervensystem auslösten. Wie diese riesigen Scheinwerfer vor dem Luxor, wenn Viva-TV drehte, nur viel stärker. «Ich muss dazu sagen, dass ich im Kern ein netter Mensch bin. Echt. Auch wenn das vielleicht jetzt keiner glaubt, ich hasse niemanden. Außer vielleicht meine Mutter, Yve, den ganzen Kölschen Klüngel, Frau Reiter und etwa zwei, drei Dutzend anderer Wichser, denen man nicht aus dem Weg gehen kann. Aber auch die nicht so richtig. Dafür liebe ich eine Menge Leute. Gudrun, Tina, Rudi, den Coyoten und Millionen weitere. Die Tragik ist nur, dass mir die Leute, die ich hasse, immer so nahe sind, und die, die ich liebe, immer so fern. Und da du schon fragst: Ja, auch du bist mir nah, viel zu nah. Es ist eigentlich weniger Tragik, es liegt an den Kräften des Bösen. Sie entscheiden, was nah ist und was fern. Daraus spinnen sie dein Leben. In meinem Fall zumindest, denn ich bin die Tochter von Dahaak, Princess of fucking Darkness. Aber ich denke, ich habe mich trotzdem ganz gut geschlagen, und das meine ich jetzt nicht als Witz. Ich mache mich. Und ich wünsche allen nur Gutes. Ich wünsche meiner Mutter, dass sie das Leben, das ich ihr kaputtgemacht habe, wieder hinkriegt. Ich wünsche Frau Reiter, dass sie einen Laden findet, wo sie alle ungestraft tyrannisieren kann. Ich wünsche dem letzten Wichser, dass er eine Tusse findet, die noch blöder ist als er selbst, sonst geht das nie gut. Ganz besonders aber wünsche ich Tina, dass sie einen Freund findet, der sich nicht erst mit ihrer eigenen Mutter besäuft und dann
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auch noch mit ihr in die Kiste steigt und sich im Recht fühlt, weil sie, Tina, mit ihrer einzigen Freundin, einer Lesbe, ausgegangen ist. Und dem kleinen Mädchen im Rolli wünsche ich für jeden Gig einen Backstage-Pass mit einer langen roten Rampe zur VIP-Lounge, wo sie allen Agenten und falschen Producern, Art-Direktoren und Dummbeutel-Moderatoren über die Füße fahren kann und wo der Geist von Kurt Cobain ihnen ein großes Herz aufs T-Shirt malt. Und dem Coyoten wünsche ich, dass er eine neue Christine bekommt, die mit ihm unterm blauen Mond für immer und immer durchs Cajun-Land fährt, mit ‹Cloudy Day› von J. J. Cale in einem Radio, das ihn liebt. Und Gudrun, ihr wünsche ich: mich.» Chris musste ihre Luchsaugen beschirmen vor der ungeheuren Sonne, die mit Lux in Millionenstärke alles in kurze Wellen tauchte. Sogar die grün sprießende Hand auf dem Dach gegenüber schien Feuer zu fangen und in einem gleißenden See aus Licht unterzugehen. «Wo waren wir? Richtig, unsere Abmachung. Was, wirst du fragen, mag das für eine Abmachung sein? Okay, sie geht so: Du darfst mich ansehen. Die Bedingungen sind günstig wie nie. Du darfst mich angucken, alles, was du willst, von deiner Heldin, deiner Obsession, aber nur dieses eine Mal. Dann verschwindest du aus meinem Leben, und zwar für immer. Du merkst, ich vertraue dir. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, aber ich tue es trotzdem. Ein Deal auf Treu und Glauben. Mehr als jetzt wirst du ohnehin nie von mir zu Gesicht bekommen. Sag Ja oder Nein, sonst ist sofort Schluss. Hab ich das richtig verstanden, die Antwort ist Ja? Okay. Also du magst Titten? Ich auch, ich gucke auch gern Titten an, aber das finde ich nicht schlimm, sie sagen eine ganze Menge über jemanden, finde ich. Xenas Titten sind übrigens längst nicht so groß, wie sie unter dem albernen Brustpanzer scheinen, viel weicher und schöner, und das Schönste an ihr sind ohnehin ihre Beine, ihre Beine schaffen mich immer. Und ein Hintern sagt auch vie l, meiner Meinung nach, er ist fast so etwas wie die Seele vom Ganzen und schön kühl, wenn man den Kopf darauf legt. Findest du jetzt nicht? Siehst du, schon deshalb werden wir nie Freunde sein. Klar kann ich für dich meine Titten streicheln, hab ich ja gesagt. Ja, manchmal bin ich stolz auf sie, obwohl ich sie meistens verstecke. Nein, die Piercings tun nicht weh, auch nicht die an meiner Fotze, du wärst erstaunt, was ich damit alles machen kann. Nein, das
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zeige ich dir nicht, das geht dich nichts an. Und, ja, ich spüre die Wellen im sichtbaren Bereich, wie auch nicht? Ich weiß, dass du da bist. Sie erregen mich, wie du sehen kannst. Du siehst das, nicht? Es ist ja auch hell genug. Aber das alles hat mir dir persönlich nichts zu tun. Ich kommuniziere gerne. Meine beiden Löcher? Dafür müsste ich mich umdrehen. So etwa? Zufrieden? Reicht das? Ich drehe mich jetzt wieder um. Ich denke, hiermit habe ich meinen Teil getan. Jetzt liegt es an dir. Aber du wirst nie wieder in meine Wohnung schauen müssen, weil du so etwas nie wieder zu sehen kriegst. Und jetzt, wenn ich dich bitten darf... danke, ja, sie werden schon schwächer. Nein, ganz aus, wir haben eine Abmachung getroffen. Denn wie gesagt, ich brauche meine Dachterrasse noch. Anfang Mai werden am westlichen Abendhimmel Venus, Mars und Saturn zu erkennen sein, als Dreieck. Das kommt in dieser Konstellation nur etwa alle hundert Jahre vor und soll Glück bringen. Ich will es mit ihr angucken, das wünsche ich mir. Und dich will ich nicht mehr dabeihaben, egal, was auch passiert. Verschwinde aus meinem Leben.» Es war dunkel, als sie in die Wohnung zurückkehrte. Sie setzte sich nackt auf den warmen Boden und trank den sauren Wein. Einmal stand sie zwischendurch auf, trat an die offene Tür, sah an sich hinunter, um abzuschätzen, wie hell der Mond auf ihrer Haut glänzte. Sie war nicht unsichtbar, doch das Fenster gegenüber zeigte keine Reaktion. Gut. Sie schwang sich in ihre Hängematte und schlief schnell ein. Nichts von alledem war je passiert. Am nächsten Morgen hingegen passierte etwas, das wirklich passierte. Und zwar, als sie einmal mehr in der Nähe der Boutique parkte, weil ihr das zum Bedürfnis geworden war. Aber nur für eine Zigarette, nur eine... Und Callistos Beine waren so verschieden von Xenas, siehe Staffel zwei, Folge 7. Oder war es 14? Wo sie die Seelen tauschten, Callistos Seele in Xenas Körper, Xenas Seele in Callistos Körper. Die Stelle, wo sie an dem Wald entlanggehen und Callisto Xena überreden muss, ihre Hilfe anzunehmen. Xena, du bist so scheinheilig. Du brennst ihr Dorf nieder, du rottest ihre Familie aus, aber Callisto ist die Böse. Sie bietet dir ihre Hilfe an, aber du meinst, sie hätte den Tod verdient...
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Zwei Männer klopften kurz gegen ihre Seitenscheibe. Sie trugen etwas, das entweder sehr schwer oder sehr wertvoll war und das aussah wie ein Gemälde, in Packpapier eingeschlagen. Und hinter dem sie verschwanden, als sie sich, zusammen mit dem Gemälde, auf die Rückbank quetschten und nur noch ihre Finger zu sehen waren, mehr nicht. Ein Kodak-Moment. Ihre Unterhaltung schien schon früher begonnen zu haben, vielleicht schon vor Jahren. «Nie darf ich was», sagte Rechts. «Aber natürlich darfst du», sagte Links. «Aber das ist jetzt der fünfte Spiegel in vier Wochen.» «Aber wenn er mir gefällt?», sagte Rechts. «Gefällt, gefällt. Hast du mal dran gedacht, was das alles kostet?», sagte Links. «Wenn mir mal etwas gefällt!» «Darum geht es nicht. Aber dieser Kerl ist ein Gauner, das sag ich dir. Dieser Spiegel hat Venedig nie gesehen», sagte Links. «Hat er auch nicht.» «Was?» «Hat er auch nicht. Das ist ein Louis-Philippe-Spiegel.» «Na und? Dann hat er eben Louis-Philippe nie gesehen.» «Aber er passt gut in die Diele», sagte Rechts. «Er macht neurotisch», sagte Links. «Überall begegnet man seinem eigenen Spiegelbild.» «Warum hast du auch deine Therapie aufgegeben!», sagte Rechts. «Weil der Kerl ein Gauner war. 150 Mark für eine einzige Sitzung, nicht mal eine volle Stunde, hör mal. Aber wenn du unsere Wohnung unbedingt in ein Spiegelkabinett verwandeln willst, mach nur. Letzten Monat waren es noch Vasen. Überall stolpert man über diese verdammten Vasen. Ich möchte daran erinnern, dass ich auch noch da wohne.» «Wenn sie mir aber gefallen. Du bist eben nicht empfänglich... du hast nicht den geringsten Sinn für... für gar nichts», sagte Rechts.
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«Offenbar nicht. Ich weiß nur, dass wir allmählich... Ach, was soll's? Hat ja eh keinen Sinn.» Als Chris an der Schranke Luxemburger/Militärring halten musste, die - vielleicht - nach zehn Minuten eine einzelne Straßenbahn durchließ, sagte sie: «Hey, ihr beiden!» «Sei mal still», sagte Rechts. «Was?», sagte Links. Draußen langten Sonnenfinger durch die Wolken. «Da hat jemand was gesagt», sagte Rechts. «Entschuldigung, sprechen Sie mit uns?», fragte Links. «Ich will euch nicht unterbrechen», sagte Chris. «Aber könntet ihr mir einen Gefallen tun?» «Einen Gefallen?», fragte Rechts. «Worum geht's denn?», fragte Links. «Könnt ihr mir ein paar SMS vorlesen?», fragte Chris. «Eine SMS?», fragte Rechts. «Auf meinem Handy», sagte Chris. «Können Sie denn nicht lesen?», fragte Links. «Günther!», sagte Rechts. «Lass mich. Ich will es doch nur wissen», sagte Links. «Aber das fragt man die Leute nicht», sagte Rechts. «Schon in Ordnung», sagte Chris. «Er hat Recht, ich kann nicht lesen.» «Oh», sagte Rechts. «Na, siehst du?», sagte Links. «Wenn man darüber reden kann, ist es auch halb so schlimm.» Chris reichte das Handy blind hinter den Spiegel. Zwei rechte Hände lösten sich von Packpapier und griffen gleichzeitig nach dem Handy. «Lass los. Sie hat es mir gegeben», sagte Rechts. «Unsinn, sie hat es mir gegeben. Ich habe gefragt, also kriege ich auch das Handy. Halt du deinen blöden Spiegel fest», sagte Links.
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«Nie darf ich was», sagte Rechts. «Genau», sagte Links. «Ach, Mensch, du musst hier drücken, nicht da.» «Nein, hier, guck, da ist es.» «Jetzt lies schon.» «Dräng mich nicht. Also, also ich lese jetzt vor: Hallo, meine Kleine. Bitte glaub mir, das war nicht so geplant. Aber ich umarme dich sehr. G.» «Da kommt noch mehr», sagte Rechts. «Das sehe ich selbst. Bitte achten Sie nicht auf ihn, er ist manchmal ein ziemlicher... also ich lese noch mal alles von vorn. Und du unterbrich mich nicht. Also: Hallo, meine Kleine. Bitte glaub mir, das war nicht so geplant. Aber ich umarme dich sehr. G. Und dann: Liebe Chris, ich konnte es dir an unserem letzten Abend nicht sagen, ich hatte Angst, bitte verzeih mir. Ich liebe dich so. G. Chris, sind Sie das?» «Frag nicht so dumm», sagte Rechts. «Das siehst du doch.» «Ich sehe gar nichts, dank deines tollen Spiegels. Ich lese jetzt weiter: Geliebte Chris, bitte antworte mir. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll. Das Handy hat bald keinen Strom mehr, ich muss sehr vorsichtig sein. Und dann zwei ganz kurze, ich glaube, die gehören noch dazu: In Liebe. G. und: In Liebe. G. Und die nächste: Du hast gesagt, sicher-sicher. So steht das hier wirklich: sicher-sicher. Ich lese nur vor, was da steht. Bitte antworte mir. G. Und die nächste: Das wäre so wichtig für mich, wenn - hier geht's irgendwie nicht weiter. Aber hier: In Liebe G. Und noch eine letzte: G. Ich umarme dich sehr. Das war's.» «Umarme dich sehr ist schön, das gefällt mir», sagte Rechts. «Ach halt doch mal den Mund», sagte Links. «Nie darf ich was.» «Da sollten Sie sich aber mal melden», sagte Links, indem er das Handy zurückgab. «Klingt mir jedenfalls so. Wie heißt denn Ihr Freund?» «Günther!», sagte Rechts.
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«Wieso? Fragen kann man doch.» «Gudrun», sagte Chris mit einem Kloß im Hals, als sie Schranke hochging und sie den Wagen startete. «Willkommen im Klub», sagte Links. «Günther!», sagte Rechts. Und dann: «Gudrun? War das nicht die Böse?» «Das war Kriemhild», sagte Links. «Nein.» «Doch.» «Es heißt ja auch ‹Gudruns Rache› und nicht ‹Kriemhilds Rache›...» «Es heißt ‹Kriemhilds Rache›...» «Es heißt ‹Gudruns Rache›, das weiß ich zufällig ganz genau.» «Wie du willst, kein Problem. Hat ja eh keinen...» «Aber Sie sagen ja gar nichts», sagte Rechts. «Da siehst du, was du getan hast. Bist du jetzt zufrieden?» «Ich habe gar nichts getan», sagte Links. Kleine Lichtblitze flitzten durch das dichte Geäst der Bäume und glitzerten in Chris' Augen. Sie setzte ihre blauen Shades auf.
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13 «V»
Zwei Wochen später und Chris war müde. Gudrun blieb verschollen. Alles, was kam, waren Rechnungen. Das Telefon war schon gesperrt, sie hatte nur noch ihr Handy. Irgendwann würden sie auch den Strom abstellen. An diesem Dienstag war sie schon um vier Uhr zu Hause. Über sechs Wochen war sie pausenlos gefahren, aber es brachte nichts. Sie wollte nicht mehr, wenigstens nicht an diesem Nachmittag. Sie hatte versucht, Rudi zu erreichen. Das heißt, sie hatte es genau genommen gar nicht erst versucht. Nicht wegen ihrer Mutter, die außer sich gewesen wäre, sondern wegen Rudi. Sie hätte ihm erklären müssen, was passiert war, und das wollte sie nicht. Gerade weil er sie immer akzeptiert hatte, wollte sie ihn nicht enttäuschen. Sie war eine schlechte Tochter gewesen. Sie hatte alles versaut. Sie konnte ihm das mit Yve nicht sagen. Es war ja auch schon fast nicht mehr wahr, so lange lag es zurück. Ihre Mutter und Rudi hatten sich im Krankenhaus kennen gelernt, Uniklinik, Bettenhaus, Station 13, wo sich die Kräfte des Bösen um Rudis erste Frau versammelten und nur noch abwarten mussten. Und wo ihre Mutter in der Essenausgabe für die Patienten arbeitete. Sie brachte das Essen, das Rudis Frau nicht mehr essen konnte. Aber als sie dann ein halbes Jahr später aus der Siedlung weg und zu den Bauern zogen, schien weder Katie groß um ihre tote Mutter zu trauern, noch - und das schien Chris das weit größere Wunder - gab es irgendwelches Gerede im Dorf. Katie wurde im selben Jahr sogar Maikönigin. Gerede gab es erst wieder über sie, Chris, aber da hatte sich die Chemie der beiden Restfamilien bereits grundlegend geändert. Chris saß in der Küche und spielte an den Tasten des Handys. Ich umarme dich sehr. Sie glaubte das nicht mehr. Noch war Zeit, noch
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konnte sie Rudi auf der Baustelle erreichen, danach wurde es schwierig. Aber sie zögerte. Eines Samstags, nach der Sache mit der kleinen Brinkmann, nach der Sache mit dem Tattoo, durch die Chris ihren Job in der Bäckerei verloren hatte, hatten sie Chris' wenige Sachen auf den 609-er geladen und hatten gemeinsam diese Wohnung eingerichtet. Sie, Rudi und Chris, waren zusammen zu Ikea gefahren, hatten stundenlang Möbel zusammengebaut und - «Weißt du was? Wir sind blöd.» - wieder zerlegt, um von vorn anzufangen. Auch wenn sie nie viel redeten, irgendwie hatte es Spaß gemacht. In Gegenwart dieses schweren Mannes mit dem kurzen blonden Vollbart und den viel zu hellblauen, viel zu uns icheren Augen fühlte sie sich immer ein bisschen wie auf Montage, und das war kein schlechtes Gefühl. Wie er den Speicherofen und den Durchlauferhitzer («Alles Schrott!») ausgetauscht und dabei viermal hintereinander die Starkstromsicherung rausgehauen hatte («Quatsch! Ein Dachdecker kann alles!»), das war lustig gewesen. Er hatte ihr gezeigt, wie man in Metall bohrt, und sie hatte ihm die Teile für die Außenjalousie angereicht. («Das brauchst du. Sonst wirst du hier im Sommer gesotten.») Und wie sie ihn durchschaut hatte, als er sagte: «Nein, nichts zu danken. Die Jalousie hatten wir übrig.» Und wie es irgendwann, nach mehreren Wochen, wirklich nichts mehr zu tun gab und sie unter der roten Jalousie auf der Dachterrasse saßen, Bier aus Dosen tranken und er sie wegen der Lehre gefragt hatte. «Du meinst, ich soll mit euch auf die Dächer?» «Warum nicht? Es gibt viel zu tun in den nächsten Jahren. Du kannst was lernen bei uns.» «Nein, das ist nichts für mich.» Denn das hätte bedeutet: Berufsschule und neue Schande. Und es wäre nie etwas geworden. Und selbst das konnte sie ihm nicht sagen. «Aber immer nur Brötchen ausfahren?» «Ich mache einen Taxischein», sagte Chris. «Außerdem wäre das Mama nicht recht. Die ist doch froh, dass sie mich los ist.» «Was ist das eigentlich zwischen euch? Ich habe das nie verstanden.»
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Chris zuckte die Achseln. «Du kennst sie ja. Sie hat sich auch gleich mit Katie verbündet. Sie fahren ja schon zusammen nach Köln zum Shoppen.» Denn jede Scheißmutter war wohl relativ. «Ja, aber das kann man nicht...», sagte Rudi. «Das kann man nicht vergleichen?», unterbrach ihn Chris. Es war einer von Rudis Lieblingssprüchen - wenn er Chris gegen ihre Mutter verteidigte, die ihr Katie als leuchtendes Beispiel vorhielt, was gegen Ende ihrer Dorfzeit beinahe täglich der Fall gewesen war. Man konnte es auch nicht vergleichen. Sie, Chris, war unvergleichbar. Rudi hatte das begriffen. Aber warum musste sie ihm dann noch, fast schadenfroh, sagen: «Tja, jetzt bist du ganz allein mit den Weibern.» Ausgerechnet ihm? Schon in der nächsten Sekunde tat es ihr Leid, aber da glitten seine scheuen, wasserblauen Augen bereits über die umliegenden Dächer, als suchten sie Trost in ihrem sanierungsbedürftigen Anblick. Sie war danach auch nur noch ein einziges Mal, zu Weihnachten, zu den Bauern hinausgefahren und anschließend nie wieder. Sie konnte ihn jetzt nicht anrufen, schob das Handy weg und versank in ihrem Elend. Bis sie zusammenzuckte, weil es an der Tür schellte. «Überraschung», sagte Gudrun und posierte, den Kopf zur Seite gelegt, wie ein Model vor dem Treppenabsatz. «Na, erkennst du mich noch?» Und Chris warf sich ihr an den Hals. Es war tatsächlich so einfach. Sie hatte das noch nie getan, bei niemandem, nie. Aber das Leben konnte so einfach sein. Eingetaucht in den Duft ihrer Halsbeuge, an sie gepresst, bis aus dem schnellen Atem ein Schluchzen wurde, unter dem sie Gudrun gar nicht mehr freigeben wollte, selbst als sich durch die offene Tür ein gigantischer Luftzug aufbaute und Gudrun sagte: «Willst du mich nicht endlich reinlassen?» Chris hatte so etwas noch nie erlebt, in ihrem ganzen Leben nicht. Als würde sie davonfließen - nicht auszudenken, wohin. «Hast du denn meine SMS nicht bekommen?», sagte Gudrun. «Du Arsch!», sagte Chris. «Du Arsch!», und lachte und musste dann aber erst richtig losheulen.
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«Ich sagte ja, wir werden das ändern. Wir werden alles ändern», sagte Gudrun. Und dann: «So schlimm? So schlimm?», während sie Chris die Tränen von der Backe wischte. «Was dachtest du denn?» Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte. Und als Gudrun sagte: «Hier wohnst du also?», rannen die Tränen erneut, aber jetzt war ohnehin alles egal, und außerdem war es so schön, wie Gudrun sie streichelte und immer wieder dieselben Worte sagte, dieselben, mit denen auch sie, Chris, Gudrun getröstet hatte, wenn sie die Panik überkam. Chris fand, sie passten gut zusammen. Kurz nach fünf schellte es abermals an der Tür. Es gab Tage, an denen kam auch alles auf einmal. «Erwartest du jemanden?», fragte Gudrun. Chris schüttelte den Kopf. «Soll ich aufmachen?» «Nein, geht schon», sagte sie, obwohl sie vermutlich beschissen aussah. Mit seinem schlecht sitzenden Anzug und dem offenen Hemdkragen, außen auf dem Revers getragen, sah der Kerl aus wie einer von den Typen, die immer nach Yve gefragt hatten, wenn Yve mal wieder verschwunden war. Und da Yve eben nicht da war, hatten einige von ihnen sogar Chris gefragt, ob sie nicht auch mal Lust hätte «mitzumachen» (wobei auch immer), weil es typmäßig vielleicht ganz gut zusammenpasste, Yve und sie, und hatten sogar ihre Karte dagelassen für den Fall, dass sie es sich doch anders überlegte, worüber dann Yve regelmäßig ausgerastet war und ein Riesentheater angefangen hatte, als hätte Chris ihr etwas weggenommen. Dieser jedoch stellte sich vor als jemand von der Cento-Hausverwaltung GmbH. War ihre Wohnung von der Cento-Hausverwaltung GmbH? Sie hatte keine Ahnung. «Frau S-z-c-e-s-s-n-y, ich hoffe, ich spreche das richtig aus, darf ich kurz reinkommen?» «Das passt mir jetzt aber nicht so...»
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«Frau Szcessny, es dauert wirklich nur fünf Minuten...», sagte er in ihr verheultes Gesicht, vermutlich alles schon tausendmal gesehen. «Gehen wir in die Küche», sagte sie und warf einen schnellen Blick ins Wohnzimmer, wo Gudrun an der Balkontür stand, die Überraschung des Tages für den Spanner von gegenüber. «Als Erstes», sagte Cento Hausverwaltung, seinen Aktenkoffer aufklappend, «bitte ich Sie, hier zu quittieren, dass ich bei Ihnen gewesen bin. Und dann habe ich hier eine Aufstellung über Ihren Mietrückstand aus den vergangenen...» «Kann ich Ihnen helfen?», sagte Gudrun, die plötzlich im Türrahmen stand. «Zeigen Sie mal her», sagte sie und nahm ihm das Blatt aus der Hand. Sie hatte wieder diese kalte Macht in den Augen. Und die Art, wie sie da stand, schlank, streng in ihrem eng anliegenden hellgrauen Kostüm, ließ sogar Cento Hausverwaltung verstummen, obwohl er sicherlich einiges gewohnt war. Gudrun schaute kurz auf das Papier und sagte: «Und dafür bemühen Sie sich her? Komm, Liebling, mach mal Platz», rutschte zu Chris auf die wacklige Küchenbank und holte ihr blaues Scheckheft aus der Handtasche. Das Scheißgeld immer, dachte Chris und spürte, wie das Blut in ihre verheulten Augen schoss. «Hören Sie», sagte Cento Hausverwaltung, «wir dürfen eigentlich keine Schecks annehmen...» Aber Gudruns kleiner silberner Kuli sauste bereits über fein schraffierte Flächen. «So? Das dürfen Sie nicht?», sagte Gudrun, ohne aufzusehen. «Weswegen kommen Sie dann her? Was haben Sie denn erwartet? Einen Koffer voller Geld?» Sie gab ihm den Scheck, zusammen mit ihrer Visitenkarte. «Sie wollen Ihre Miete, das ist berechtigt. Sie bekommen die Miete. Und wenn noch einmal etwas sein sollte, wenden Sie sich doch bitte gleich an mich. Und Ihr Einverständnis vorausgesetzt, würde ich die Unterredung jetzt gerne beenden.» «Mann», sagte Chris, als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte. «Das hat der sicher auch noch nicht erlebt. Aber danke.»
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«Pfff», sagte Gudrun. «Ich bin nur froh, dass ich wieder da bin.» «Du hast mich gerettet.» «Übertreib nicht.» Später, als sie beide nackt auf dem ausgebreiteten Schlafsack lagen und die warme Luft von der Dachterrasse über ihre Haut fächelte, sagte Chris: «Doch, hast du.» Sie war schon mit dem ersten Kuss regelrecht zerflossen und streichelte Gudruns Möse, die sic h scharf und gerade wie ein Schnitt unter ihrem flaumigen Busch abzeichnete. «Bitte nicht», sagte Gudrun. «Ich bin so zugedröhnt von all den Tabletten, das wird heute nichts. Tut mir Leid, wirklich.» «Das macht nichts», sagte Chris. «Auf diese Weise tut es auch nicht so weh.» Gudrun sah sie an. «Das ist nicht lustig», und drehte sich auf den Bauch, schloss die Augen, lächelte jedoch, als Chris ihren Kopf auf ihren Po legte. «Ist das denn okay?», fragte Chris, als sie mit ihrer Wange über die zarte kühle Haut strich. «Oder das hier? Oder das? Oder das?» Als ihre Finger anfingen zu wandern, als ihre Nägel an den mikroskopisch kleinen Cellulite-Streifen entlangfuhren, nicht der Rede wert, eigentlich gar nicht zu sehen (oder wenn, dann nur für sie, Chris), aber anrührend auf eine Weise, die sie nicht beschreiben konnte (oder wenn, dann nur als die Seele vom Ganzen). Als ihre Zunge das Salz in ihrer Spalte schmeckte, ihre Hände mutiger wurden, je mehr Gudrun von sich preisgab, je mehr Gudrun das rechte Bein anzog, schließlich ihr ganz offen ihren Hintern anbot, die Frau mit der kalten Macht in den Augen, deren graues Kostüm, deren schöne, teure Wäsche achtlos auf dem Boden lagen, weil Chris' Atem bereits die kleinen Härchen rund um ihr weiches öliges Loch bewegte, das sie erst küsste, was sie so noch nie, aber wirklich noch nie gemacht hatte, kleine zärtliche Küsse für ihr kleines zartes Arschloch, das ihre Zunge anzog wie ein Strudel, der merkwürdigerweise immer weiter wurde, je schneller er sich drehte, also doch, also doch, sie hatte ihr nichts vorgespielt, damals im Schwimmbad, sie hatte überhaupt nie gespielt. Chris hatte nichts unter Kontrolle, meinte aber, etwas über Gudrun erfahren zu haben, das ihr Macht über sie gab, weil es stärker war als alle Tabletten. Als Gudrun laut aufstöhnte und ihr ganz offen ihren Po
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hinhielt, als ihre Zunge in sie eindrang, als sie mutiger wurde, als sie das Babyöl nahm (für ihr Baby!) und ihr Loch einölte und sie mit den Fingern fickte, erst mit zwei, dann mit dreien, wobei sie erst jetzt merkte, wie groß ihre Spalte geworden war, als ihr kleiner Finger in einer riesigen Weichheit versank, bevor sie Gudrun, aufgespießt, wie sie war, auf den Rücken warf und mit ihrem ganzen Gesicht durch ihre Fotze fuhr, ihren scharfen Duft einsog, ihren schweren Saft (du Ärmste!) zwischen ihren großen faltigen Lippen, die aussahen wie tropische Blätter, sich an ihrer braunen geschwollenen Clit festsaugte, denn darin, das wusste sie, war sie phantastisch, wenn sie sie biss und mit der Zunge umkreiste, bis die Abhängigkeit total war und die kleinste Berührung ein Aufbäumen hervorrief und ihr wie zufällig mehr und mehr ihrer Fotze in den Mund glitt, bis sie ihr das letzte Geheimnis entlockte, weil sie sich entmaterialisierte zu einem schmelzenden Kuss, bevor sich ihre Schenkel um ihren Kopf schlössen, ihr Stöhnen abriss und nur noch aquatisches Rauschen in ihrem Kopf war, submarines Driften, weltraumschwarzes süßes Nichts, und sie nicht sagen konnte, wo sie aufhörte und Gudrun begann, weil sie das alle s auch sein konnte, bis sie das Zittern in ihren Schenkeln spürte, ihre Hände in ihrem Haar, die sie erst an sich rissen und dann fort, fort, fort und sie die kühle Luft auf ihrem Gesicht spürte, ihr Keuchen hörte, willkommen zurück. «Hör auf... bitte, hör auf...», sagte Gudrun. «Aber warum?», sagte Chris. «Das geht nicht, wirklich, das geht nicht.» «Aber warum?» Gudrun schüttelte nur den Kopf und biss sich auf den Finger, während Krämpfe durch ihre Beine jagten. Chris sah auf sie hinab, auf das Auf und Ab ihres Bauchs und auf die Zuckungen ihrer Fotze, die kleinen Bewegungen eines kleinen, süßen, erschöpften Tiers. «O Gott... das darfst du nicht machen», sagte Gudrun. «Aber warum nicht?», sagte Chris, die wusste, wie gut sie war. «Das verstehst du nicht.»
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«Aber ich tue doch gar nichts», sagte Chris, als sie sich mit ihrem Atem wieder Gudruns dunklem glitzernden Fleisch näherte. «Bitte nicht.» «Ich tue nichts, siehst du? Gar nichts. Gar nichts.» Das kleine Tier atmete heftiger unter ihrem Hauch. «Sag Feigling.» Kaum dass ihre Zunge ihre Clit benetzte, kaum dass ihre zitternden Lippen ihre atmenden Lippen berührten, ehe sie sie verschlang und Gudrun aufschluchzte, ehe es zwischen ihren großen Fotzenlippen hervor spritzte und sie anfing zu weinen, weil sie Chris nicht mehr wegstoßen konnte, sondern sich im Gegenteil noch fester gegen ihr Gesicht presste, weil es nichts war, was sie noch kontrollieren konnte, als Welle um Welle aus ihr sprudelte und weil Chris sie nicht mehr losließ, einmal aus Stolz, denn was sie machte, machte sie zu Ende, aber auch weil sie endlich die Augen schließen konnte, während der an- und ab- und anschwellende Strom sich über ihr Gesicht ergoss, in ihre Haare, in ihren Mund, als hätte sie schon ein Leben lang darauf gewartet. «O Gott, o Scheiße...», sagte Gudrun. «Ist doch nichts passiert, hey...», sagte Chris und machte die Augen wieder auf. «Guck doch, alles nass...» «Ich weiß», sagte Chris mit triefendem Gesicht. «O Gott, ist das eklig», sagte Gudrun, als sie sich aufgerichtet hatte und den riesigen nassen Fleck auf dem Schlafsack sah. «Überhaupt nicht», sagte Chris und schmiegte ihr Gesicht gegen Gudruns tropfenden Busch. «Tut mir Leid. So eine... ach Mensch... guck dir das an», sagte sie und versuchte, etwas nach hinten, ins Trockene, zu rutschen, doch Chris hielt sie fest. «Hey», flüsterte sie. «Ist okay. Ist okay. Echt. Ich hol mal ein Handtuch.» Doch die fahrige, panische Art, wie Gudrun erst Chris - denn Chris genoss es, wie alles an ihr hinabrann -, dann sich selbst und schließlic h den Schlafsack abtrocknete, war erschütternd. Sie erinnerte
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Chris an ein kleines Mädchen, das etwas verschüttet hatte, das niemand wissen durfte. «Findest du das nicht eklig?» «Überhaupt nicht», sagte Chris. «Es war schön. Das bist eben du.» «Ach...» «Schhh... Schhh...», sagte Chris und küsste ihre Brust, bis sie sich wieder hinlegte. «Aber jetzt hast du überhaupt nichts davon gehabt...» «Schhh... Schhh...» «Im Grunde ein ziemlich klarer Fall», sagte Gudrun später, ein Glas sauren Wein in der Hand. «Es ist ihr gelungen, die Vergangenheit zu ändern. Und du hast es ihr erlaubt. Insofern geschieht es dir recht.» «Wieso?» «Wieso? Sie hat dich einmal verkauft, aber du nimmst sie bei dir auf. Und prompt hintergeht sie dich ein zweites Mal.» «Ich weiß.» «Wirklich? Sie hat die Vergangenheit geändert, aber sie hatte einen mächtigen Verbündeten: dich selber. Du wolltest es glauben. Dass alles nur ein Jux unter Freundinnen war - lächerlich! Wie hat es sich denn angefühlt? Wie ein Jux? Ritter der Münzen! Kann einfach nicht loslassen. Liebst du sie eigentlich noch?» «Ich? Yve? Nein.» «Auch nicht, wenn sie morgen hier hereinspaziert käme, und alles wäre wie früher?» «Nein.» «Na!», erwiderte Gudrun. «Weißt du, wenn es nicht so viele von denen geben würde. Leute, die die Vergangenheit ändern wollen, die dir erzählen, dass das, was nun mal passiert ist, eigentlich nie geschehen ist. Weil es besser ist für dich, wenn es nicht passiert ist. Shrinki ist auch so einer. Aber was ist das für eine Logik! Natürlich wäre es besser gewesen. Aber selbst die Erinnerung daran wollen sie dir noch nehmen. Aber ab einem bestimmten Punkt muss man sich
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entscheiden. Willst du durch die Welt wie ein zugedröhntes, glückliches, völlig belämmertes Schaf oder...» Sie trank einen Schluck. Chris strich ihr durchs Haar und sah sie an. «Aber der größte Witz ist ja wohl, dass es ausgerechnet dir passiert ist, Princess of Darkness.» «Wieso?» «Weil du der misstrauischste Mensch bist, den ich kenne. Alles an dir ist Abwehr.» «Wieso?», sagte Chris. «Guck doch. Überall Metall. Und Dämonen.» Mit dem Fingernagel bewegte sie einen der Piercing-Ringe an ihrer Fotze. «Shrinki wäre begeistert.» «Es gefällt dir nicht, stimmt's?» «Es stört mich an dir überhaupt nicht. Ich kenne dich ja nur so. Es beruhigt mich in gewisser Weise sogar. Insofern finde ich es auch schön. Andererseits traue ich mich nicht mal, dich anzufassen.» «Ich hab's gemerkt», sagte Chris und musste grinsen. «Sie beißt dich aber nicht. Oder hast du Angst, dass ich dich auffresse?» «Es sieht aus wie ein Gitter», sagte Gudrun. «Nicht alles ist so, wie es scheint.» Sie hatte die Flasche mit Babyöl genommen und ließ einen beständigen dünnen Strom über ihren Bauch nach unten rinnen, bis er auf Gudruns kühle Finger traf, die nicht aufgehört hatten, an den silbernen Ringen zu spielen. «Willst du?» «Aber ich küsse schon so schlecht», sagte Gudrun. «Nein, du küsst phantastisch», sagte Chris, Gudruns Gesicht plötzlich ganz nah. «Wirklich? Und wie heißt das Zauberwort?» Sie stieß Chris' Oberkörper zurück auf den Schlafsack. «Bitte-bitte?» «Bitte-bitte was?» Sie streifte sich ihre Ringe von den Fingern. «Bitte-bitte fick mich.»
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«Aber sag stopp... Lieb-ling... oo-kaaay?», während ihre Hand so schnell und direkt in Chris vordrang, dass sie nicht mehr stopp sagen konnte. Es war ohnehin die einzige Art, die sie wirklich akzeptierte. Sie wollte sie ganz. Und hart. Und kam ihr entgegen, während ihre Muskeln mit den schlangengleichen Fingern spielten. Bis Gudrun begriffen hatte und ihre langen Fingernägel im Inneren einer Faust barg, die Chris lange nicht mehr hergeben wollte, unersättlich, versehrend, als müsse dieser Moment ein ganzes Leben lang vorhalten. Alles andere war Kinderkram. «Hey, bleib von der Tür weg», sagte sie später, als Gudrun mit ihrem Weinglas auf die dunkle Dachterrasse trat. «Der von gegenüber guckt hier immer rein.» «Na und? Soll er doch», sagte Gudrun und summte: «... touched for the very first time, like a hm-hm-hm-hm-hm...you be hm...» Aber nichts geschah. Kein Augenaufschlag. An. Aus. Kein binäres System. Chris umarmte sie von hinten und presste ihre geweitete, brennende Fotze gegen Gudruns kühlen Po. Es war schön, sich hinter ihr zu verstecken. «Guck», sagte sie und beschrieb mit der ausgestreckten Hand ein Dreieck am Himmel. «Saturn, Mars, Venus. Letzte Woche standen sie noch in einer Reihe. Und auch die anderen beiden sind ganz in der Nähe, aber nur am Tag, wo man sie von hier aus nicht sehen kann.» «Welche beiden anderen?» «Jupiter und Merkur.» «Ist das nicht das Sommerdreieck?», sagte Gudrun. «Nein, diese Stellung ist etwas ganz Besonderes und bedeutet vollkommene Harmonie.» «Liebling, lern lieber lesen», sagte Gudrun traurig und drehte sich halb zu ihr um, was sich schön anfühlte. «Ich will keine Freundin, die nicht lesen kann.» Und noch später, im Bad, hielt sie die Flasche mit Emporio Donna (vormals ein Geschenk von Chris an Yve, von Yve verschmäht) nur für eine Sekunde an die Nase, ehe sie sagte: «Schmeiß das weg.»
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14 Mein schönstes Kodak-Album
Hier sind meine schönsten Bilder drin. Aus der schönsten Zeit meines Lebens. Obwohl es manchmal ziemlich schwierig war mit ihr, ich meine, wenn man sie so gekannt hat. Aber was eine Zeit wirklich gewesen ist, weiß man sowieso erst danach. Weil der Mensch eigentlich kein richtiges Gefühl für Glück hat. Man merkt es immer erst, wenn sich etwas ändert. Glück in Unglück, Unglück in Glück. Und auch wenn Gudrun jetzt sagen würde: «Sag nicht immer ‹man›, das macht mich wahnsinnig, sag doch mal ‹ich›!» - es war die schönste Zeit meines Lebens.
Raum 302 Tja, und hier habe ich lesen gelernt. Raum 302. Und was ich vor allen Dingen gelernt habe: Dass es so viele Leute gibt, die noch viel blöder sind als man selbst. Oder als ich. Leute, die es wohl nie lernen werden. Und denen beim Diktat die Zunge aus dem Mund-winkel hängt, wenn sie «b» mal wieder falsch herum schreiben, wie «d». Für manche Leute gibt es einfach keine Lösung. Viele waren auch nur da, weil sie jemand hingescheucht hat oder weil sie es mussten und deshalb nicht motiviert waren. Aber ich bin auch vielen klugen Leute begegnet, und das hat mir gleich doppelt Mut gemacht, sodass ich nach einiger Zeit die Zweitbeste war.
Gudrun hatte sie bereits gegen Mittag des folgenden Tages angerufen. Es war nicht weit. Das Beton-Karree rechts hinter dem Neumarkt, wo auch dieses Museum war und wo Gudrun zweimal an den Glaskasten klopfen musste (ein Klopfen, hart von den Ringen, die sie bei Chris vergessen und die Chris ihr wiedergegeben hatte), bis sich der Pförtner bequemte, den Blick von Bärbel Schäfer zu nehmen. Schon in diesem Moment, das spürte Chris, war Gudrun auf eine Weise
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gereizt, die nicht einmal die kalte Macht in ihren Augen bändigen konnte. Denn auch in dem großen Büro, in dem sie schließlich standen und in dem nur ein Schreibtisch besetzt war, sah es erst einmal so aus, als sei ihr großes Vorhaben bereits hier gescheitert. Weil die Kurse nämlich schon angefangen hätten, wie die Sachbearbeiterin kurz erklärte. Chris atmete auf. «Aber es sind noch Plätze frei?», fragte Gudrun. «Natürlich», sagte die Frau von Ende vierzig. «Aber mitten im Semster einzusteigen, hat erfahrungsgemäß wenig Sinn, zumal wir den Kursleitern auch nicht zumuten können, ständig auf die Nachzügler Rücksicht zu nehmen.» «Aber Sie kennen sie nicht, sie lernt schnell», sagte Gudrun, was Chris unmöglich fand. Und noch unmöglicher, als sie zu Chris sagte: «Chris, geh doch mal raus und warte draußen.» Als sie sich, seufzend, an der Tür noch einmal umdrehte, sah sie, dass Gudrun sich einen Stuhl ganz nah an den Schreibtisch gerückt hatte und, die Beine übergeschlagen, mit vorgebeugtem Rücken leise auf die Frau einredete, während ihre langen weißen Finger mit der Schere auf dem Schreibtisch spielten. «Na, wie ist es gelaufen?», fragte Chris, als Gudrun wieder herauskam. «Prima», sagte Gudrun. «Am Ende war sie doch ganz vernünftig. Man muss nur mit den Leuten reden.» «Und was hast du ihr gesagt?» «Das willst du nicht wirklich wissen, oder?», sagte Gudrun und zog Chris mit sich. Sie war voller Energie . «Hier ist übrigens deine Anmeldung, die bringst du morgen mit.» «Es geht morgen schon los?» «20 Uhr. Und jetzt schauen wir noch, wo dein Klassenzimmer ist, damit du keine Ausrede hast.» «Doch, ich will es wissen», sagte Chris, als sie vor Raum 302 standen. «Was hast du ihr gesagt? Du hast mich behandelt, als wäre ich ein, ein...»
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«Idiot? Aber du bist ein Idiot, Chris. So lange zu warten!» «Du weißt, was ich meine. Also, was?» Gudrun legte bekümmert den Kopf zur Seite und sah sie an. «Ich habe ihr gesagt, dass ich sie mit dieser Schere in Stücke schneide und ihr stinkendes Herz aus dem Fenster werfe, wenn sie deinen Namen nicht sofort auf die Liste setzt.» «Das hast du ihr nicht wirklich gesagt, oder?» «Doch.» «Bist du verrückt?» «Ja. Und ich habe ihr lediglich erklärt, dass kein Richter mich verurteilen wird, wenn ich ihr stinkendes Herz aus dem Fenster werfe.» «Mann!» «Worauf es hier ankommt, ist Glaubwürdigkeit. Und die habe ich. Sag mir Bescheid, wenn es Probleme gibt», sagte Gudrun, wobei sie Chris durchs Haar wuschelte und fest an sich zog, als sie an dem Pförtner vorbei ins Freie traten. «Aber es wird keine geben.» Und dann kauften sie noch ein Ringbuch und zwei schöne Kulis. «Du brauchst das», sagte Gudrun, als Chris sie davon abhalten wollte. Aber über einem Cappuccino in einem Straßencafe kam Chris wieder auf das Thema zurück. «Das kannst du doch nicht machen!» «Wieso nicht?», sagte Gudrun. Sie holte eine Sonnenbrille aus ihrer Tasche und schaute damit in die Sonne. «Dieses dumme Stück hat dich nicht einmal angesehen, hast du das gemerkt? Du warst ihr völlig egal. Dabei ist sie nur dafür da, dir zu helfen. Aber das tut sie nicht. Weil es ihr egal ist. Weil irgendwelche Fristen und die persönlichen Vorlieben irgendwelcher Kursleiter wichtiger sind. Weil auch die nur darüber nachdenken, wie sie möglichst wenig das tun, was ihre Aufgabe ist. Wenn ich das nicht schon tausend Mal selbst erlebt hätte! In tausend Kliniken, in tausend Praxen sitzen solche bösartigen dummen Weiber, kapieren gar nichts, zeigen dir aber sofort, wer hier auf wen angewiesen ist. Tun so, als wärst du ein unzurechnungsfähiges Nichts, ohne Rechte. Na gut, vielleicht stimmt das ja. Aber sie haben die Konsequenz nicht bedacht. Was nämlich passieren kann,
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wenn jemand nichts mehr zu verlieren hat, weil ihm alles genommen wurde.» «Aber ich habe etwas zu verlieren.» «Du ja», sagte Gudrun. «Ich wundere mich überhaupt, warum so etwas nicht häufiger passiert. Sie haben den Tod verdient. Sie wissen es sogar, aber sie verdrängen es. Ich erinnere sie daran, mehr nicht. Und plötzlich fangen sie an zu denken. Das wirkt manchmal Wunder.» «Schon gut, schon gut.» Chris legte ihre Hand auf Gudruns Hand. Leute guckten. «Allein diese alberne Broschüre hier. Woher sollst du wissen, wann so ein Scheißkurs anfängt? Man müsste das zehn Mal am Tag im Radio bringen, mindestens.» «Beruhige dich.» «Und wenn du da nicht hingehst, mache ich dasselbe mit dir.» Wütend sah sie im Profil am schönsten aus.
Kastanienblüte vor vergittertem Fenster Es war so ein seltsames Gefühl, als ich zum ersten Mal in ihrer Wohnung stand. Also dem Teil des Hauses, in dem sie wohnte. Alles in diesem matten Rosa, dass man erst gar nichts anfassen wollte oder auch gar nicht weitergehen konnte, selbst als sie sagte: «Mach's dir bequem. Willst du was trinken?» Nur ihr Arbeitszimmer und ihr Ankleidezimmer, in dem sie verschwand, waren in Grün. «Bis zehn Uhr haben wir Zeit», sagte sie aus dem Ankleidezimmer. Zehn Uhr abends. Dieses Bild hier ist so um halb fünf aufgenommen, wo die Wohnung schon im Schatten lag, aber die Kastanien vor dem Fenster noch von der Sonne beschienen wurden und regelrecht glühten. Alles in der Wohnung war so durchdrungen von Gudrun, dass ich es gar nicht beschreiben kann. Das Telefon auf dem Nachttisch mit den Tabletten daneben. Die CDs und Zeitschriften auf dem Boden. Die fünfzehn identischen Bücher hinten auf dem Bücherbord: «Christine» von einem Autor namens Stephen King. Die Jogginghose, achtlos über einen Sessel geworfen, aber doch wieder so, dass man sich ihre Beine darin vorstellen konnte. Und wenn sie in dem seidigen
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Bademantel aus dem Ankleidezimmer kam und ins Bad ging und sagte: «Ich bin gleich bei dir.» Selbst als ich später bei ihr wohnte, hatte ich noch lange dieses Gefühl, dass alles irgendwie heilig war. Und erst recht, als sie aus dem Bad wieder herauskam. Apropos Bad, so was hast du noch nicht gesehen. Alles mit Spiegeln und einem Waschbecken, das aussieht wie eine Muschel, und eine Badewanne, die eine ganze Ecke einnimmt und in der man wirklich zu zweit sitzen kann. Sie wollte am Anfang übrigens nie, dass ich mitgehe oder überhaupt vorher unter die Dusche gehe, was mir eher unangenehm war, immerhin hatte ich zu der Zeit am Nachmittag, wenn wir uns trafen, schon sieben Stunden in der verdammten Karre gesessen, ohne Klimaanlage, und im Sommer heißt das schon was. Aber sie sagte immer, wenn sie den Morgenmantel fallen ließ: «Ich will dich so, wie du bist.» Was ich mir erst überhaupt nicht vorstellen konnte. Aber das war eben das Schöne an dieser kühlen Satin-Bettwäsche oder wenn Gudrun sich mit Armen und Beinen um mich, fast in mich hineinschlang, ich war einfach nicht mehr dieselbe, der Schmutz der Stadt, alles, was ich sonst mit mir herumtrug, verwandelte sich in Goldstaub, wenn sie flüsterte: «Du tust mir so gut.» Ich glaube das übrigens auch, heute zumindest. Ich glaube das, weil es umgekehrt nämlich auch so war. Ich habe sogar eine Theorie dazu, obwohl diese Theorie ziemlich einseitig und ziemlich pervers ist, aber ich sage sie trotzdem. Sie hat sich in mir gewälzt wie ein Hund in einem toten Vogel. Um sich zu tarnen. Oder zu wappnen gegen die Kräfte des Bösen. Obwohl das andererseits wieder nicht stimmen kann, denn meiner Meinung nach zerfällt die Menschheit in zwei Gruppen, die der Hunde und die der Katzen. Und Gudrun war definitiv eine Katze. Die Art, wie sie sich auf dem Bett streckte, den Rücken durchgebogen, so etwas macht nur eine Katze. Und wenn sie dann das Zauberwort-Spiel spielte und maunzte: «Bitte-bitte!» - «Bittebitte was?» - «Bitte-bitte leck mir... die Arschfotze!», dann funkelte etwas in ihren Augen, das war reine Freude, weniger über ein schmutziges Wort, sondern darüber, dass sie den Kräften des Bösen etwas entrissen hatte, das einmal ihr gehörte und was ihr genommen worden war - was auch immer, ich kann das nicht anders erklären. Insofern, würde ich sagen, hat Dahaaks Tochter ihr gut getan, auch wenn mancher heute das Gegenteil behauptet.
«Wieso fragst du?» «Ich meine, ist doch seltsam, diese Gitter vor den Fenstern.» «Die haben eben an alles gedacht.» «Du verarschst mich schon wieder.»
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Gudrun hob den Kopf leicht von Chris' Brust. «Nein, es ist ganz einfach. Hier waren früher mal die Kinderzimmer. Die Leute hatten Angst, dass die Kinder rausfallen könnten.» «Aber Kinder fallen nicht einfach aus dem Fenster.» «Damals schon.»
Tanzflur der Aliens Das alte Haus war nur noch teilweise bewohnt. Es gab freundliche, moderne Bereiche wie Gudruns Zimmer und andere wie das ehemalige Esszimmer, das man erst sich selber und dann den Gespenstern überlassen hatte. Und es gab Niemandsland wie die Küche oder den Wintergarten oder eben diesen Flur mit dem welligen Linoleumbelag, um das täglich neu gerungen wurde. Gudrun hörte überall Geräusche, vor allem nachts, und das konnte Chris auf die Dauer nicht unbeeindruckt lassen. Irgendwann erschien auch ihr das Haus wie ein Raumschiff mit nur noch wenigen intakten Modulen und langen gefahrvollen Wegen dazwischen, in denen die Aliens herrschten.
Zwei durch Feuchtbiotope herausgeforderte Organismen Okay, das sieht man jetzt nicht, aber links, das bin ich. Und rechts, das ist Gudrun. Sie meinte immer, wir hätten uns das jetzt verdient. Und dann gingen wir schwimmen oder in die Sauna oder eben zur Kosmetikerin. Bei einer Kosmetikerin war ich vorher noch nie, aber es hat was, das muss man zugeben. Obwohl sie mich erst schon etwas komisch angeguckt haben. Aber die Aura von Gudruns Macht war so, dass sie auch zu mir total freundlich waren und nur Komplimente machten - trotz meiner Problemhaut. Und obwohl man erst einmal völlig scheiße aussieht, wenn sie mit einem fertig sind. Aber vielleicht ist das immer so bei nachhaltigem Erfolg. Erst muss etwas richtig scheiße werden, bevor es sich bessert.
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Gudrun sah natürlich immer gut aus, vorher, nachher, selbst mit all dem grünen Schlamm im Gesicht.
Unter ihrer knisternden, trocknenden Packung sagte Chris: «Ich möchte nicht mehr Sumpfmonster genannt werden...» «... sondern ein durch Feuchtbiotope herausgeforderter Organismus», antwortete Gudrun. Es war einer ihrer Witze. Zwei Monate später konnte es passieren, dass sich Gudrun die feuchte Gesichtsmaske in Panik mehr vom Gesicht riss als wischte und dann mit verschmierter Bluse keuchend am Waschbecken stand. Daraufhin kamen die Mädchen in den weißen Kitteln angerannt, während die Besitzerin zu Chris sagte: «Das kann eigentlich nicht sein, wir verwenden hier reine Naturprodukte.»
Van Dyke Gudrun wollte ja unbedingt hin, ich eher weniger. Den blöden Lesben im Van Dyke fiel erst mal die Kinnlade runter, als sie sie sahen. Einige taten zwar so, als hätten sie sie nicht gesehen, aber ich kannte ihr falsches Herz gut. Manchmal war ich kurz davor, einfach zu gehen. Oder Flipper zu spielen.
Gudrun war ganz in ihrem Element. Gerade weil sie überhaupt nicht dorthin passte. Gudrun hatte nie gespielt, deswegen war Chris auch später nie sicher, wer oder was sie wirklich war. Gudrun machte sich nicht die Mühe, sich in irgendeiner Weise in der Szene zu assimilieren, sie flirtete einfach mit allen. Ihr Flirten war immer echt. Dann ging Chris aufs Klo, um Gudrun Gelegenheit zu geben, sie zu vermissen. Auf dem Weg dorthin sagte Sergeant Paula: «Wie hast du denn das fertig gekriegt?» Und noch auf dem Nachhauseweg war Chris so eifersüchtig, dass sie sich am Barbarossaplatz von ihr trennte, worauf Gudrun sagte: «Das ist gemein. Nie darf ich was.»
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Cirra Aber sie konnte so süß sein, wenn sie etwas getrunken hatte. Die ganze Nacht tanzten wir im Cirra, saßen zwischendurch zum Chilien draußen auf der kleinen Mauer vor dem Parkplatz, wo all die Motorräder und Chopper standen und die anderen Pärchen, die sich gefunden hatten. «Du glaubst gar nicht, wie lange ich das schon nicht mehr gemacht habe», sagte Gudrun, legte den Kopf an meine Schulter - und ganz lieb: «Meinst du, wir werden uns immer lieben?» Wir schauten in den Himmel, der im Sommer ja nie ganz dunkel wird, jedenfalls nicht dunkel genug, dass man wirklich die Sterne sehen kann, auch wenn das viele Leute meinen. Am Ende war sie so erschöpft, dass sie sich mit geschlossenen Augen an mich hängte und mich machen ließ. Wir haben dann einfach die erste U-Bahn genommen, die später als Straßenbahn den Rhein überquert, dann zur ratternden Hochbahn wird, vorbei an Wohnblöcken, narbig von Graffiti und Satellitenschüsseln, wo die ersten Sonnenstrahlen auf ihr schlafendes Gesicht fielen und sie sagte: «Wo sind wir?» -«In der U-Bahn, mein Schatz.» Worauf sie nur sagte: «Schön.» Auch solche Sachen meine ich, wenn ich behaupte, ich war zumin-dest nicht so schlecht für sie, wie manche jetzt tun.
Futon mit Xena-Lampen Drei Wochen nach Beginn von Chris' Schreibkurs rief Gudrun sie im Taxi an und fragte, ob sie kurz zu ihrer Wohnung fahren könne. «Weswegen?», fragte Chris. «Überraschung», sagte Gudrun. Das Futon-Bett, das die Männer fünf Stockwerke hoch nach oben schleppten, war so breit, dass es nicht einmal durch die ausgehängte Tür des Schlafzimmers passte und deswegen im Wohnzimmer aufgestellt wurde. «Platz haben Sie ja», sagte einer der Männer.
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Trotzdem schlief Chris erst einmal weiter in ihrer Hängematte. Das Bett war nicht für sie. Auch die Dreifüße mit den filigranen Xena-Öllämpchen waren nicht für sie. Sie richtete nur alles her. Für Gudrun. «Darf ich?», sagte Gudrun später, die Hand an jenem kleinen Türchen im Kopfteil des Futons. «Ich finde immer interessant, was die Leute so alles in ihren Nachtkästchen haben.» «Klar, mach nur», sagte Chris. «Eyhiii, das ist ja ein Riesenschwanz!», sagte Gudrun. «Und das hier erst, damit kannst du ja jemanden erschlagen,... guter Gott... Gnade!» Chris musste lachen. «Du kennst mich ja. Bei mir darf es ruhig ein bisschen mehr sein.»
Doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, als sie auf die Handschellen stieß. Ich meine, was ist schon dabei, das hat heute ja jeder. «Sag mal, sind die für mich?», schrie sie ohne Vorwarnung, wie es nur Gudrun konnte. «Hast du diese Dinger für mich vorgesehen? Meinst du, du kannst mich... Glaubst du, du kannst das mit mir machen?» Und ich schwöre, gerade das war ja nicht der Fall. Überhaupt nicht. Ich hatte sie sogar noch nie benutzt, sie lagen nur da für die Nacht der Nächte. Aber in diesem Moment hörte sie mir schon gar nicht mehr zu, ich konnte sagen, was ich wollte, sie schrie nur in einem fort: «Sind die für mich?» Es war das erste Mal, dass wir uns schlugen. Es tat mir alles so Leid, aber dann prügelte sie mit den Handschellen auf mich ein, und es waren die echten aus dem Profi-Laden, nicht diese Modedinger mit Plüsch, und irgendwann blieb mir keine andere Wahl als zurückzuschlagen. Ich weiß auch nicht, wie das immer kommt. Sogar bei Gudrun gerate ich in eine Situation, in der ich mich schlagen muss. Warum immer ich? Das soll mir mal einer von diesem AntiGewalt-Kurs erklären. Als es vorbei war, ging ich ins Bad, wo sie jedes Mal, wenn sie da gewesen war, etwas anderes hinterlassen hatte, ein Parfüm, einen Lippenstift, ein Make-up, das zu mir passt. «Revier markieren» nannte sie das, und ich hätte beinahe angefangen zu heulen... und ging mit einem nassen Handtuch zurück ins Wohnzimmer, um ihr Nasenbluten zu stillen. Sie lag auf dem Bett und weinte, ich werde das nie vergessen, mein Leben lang nicht. «Du weißt nicht, wie das ist», sagte sie immer wieder. «Du weißt nicht, wie das ist. Du wachst morgens auf und kannst dich nicht bewegen, weil du an allen vieren ans Bett gefesselt bist,
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du weißt nicht einmal, wie du da hingekommen bist. Und die Manschetten, mit denen sie dich festgemacht haben, sind sogar gefüttert, wie nett! Aber keiner sagt dir was. Dauernd kommt eine Schwester rein und guckt, aber bevor du auch nur den Kopf drehen kannst, ist sie wieder weg, und keiner sagt dir was. Nichts. Und auf dem Nachttisch steht ein kleines Tablett mit einem Glas Tee und einem Käsebrötchen, und du hast solchen Durst, solchen Durst, und der Tee wird immer schwärzer, aber du kommst einfach nicht ran. Und dann kommt die nächste Schwester und die nächste, aber keiner sagt dir was, ich weiß nicht, wie lange. Ich sehe nur, dass das Käsebrötchen anfängt zu schwitzen und wie es sich wölbt und nach oben biegt, weil es keiner festgemacht hat, denn dieses Scheißkäsebrötchen bist du selber, und es biegt sich, es bäumt sich auf und biegt sich... und schwitzt... und du hast solchen Durst, und irgendwann am Nachmittag kommt endlich ein Arzt rein und fragt: ‹Wissen Sie, warum Sie hier sind?› Und du schaust auf dieses blöde Käsebrötchen und denkst nur: Guck doch, guck doch! Und der Arzt, der Gedanken senden kann, sagt bloß: ‹Aber Sie haben ja gar nichts gegessen...›» Und dann fing sie erst richtig an zu weinen, krallte sich an mich mit ihren kalten Händen, dass ich ihre Schluchzer durch und durch spüren konnte, und ich konnte gar nichts machen, außer selber anfangen zu heulen, eine Ewigkeit, sooft du ihr auch die Tränen aus dem Gesicht wischst, Lichtjahre, bis es draußen dunkel war und sie, immer noch weinend, aber ruhiger sagte: «Komm, mach die XenaLämpchen an.»
Mondschein-Bändiger Sie hatten stillschweigend vereinbart, dass niemand von ihrer Liebe erfahren sollte, erst recht nicht ihr Bruder, der, sogar wenn er nicht im Haus war, einen unguten Einfluss ausübte. Sich dagegen zu wehren kostete Kraft. Auch alles geheim zu ha lten kostete Kraft. Zwar kannte Chris nichts anderes, dennoch war sie enttäuscht, auch wenn sie das nicht zugeben wollte. Ihr schien, als sei damit immer schon die erste kleine Voraussetzung für eine Trennung geschaffen. Wenn sie nicht einmal nach außen hin zueinander stehen konnten! Denn das Eigentliche kam dann ja erst noch, so viel hatte sie begriffen. Oft rief Gudrun mitten in der Nacht an, und dann trafen sie sich. Heimlich. Im Niemandsland.
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War Chris schon zu Hause, rief sie den Coyoten an, denn mit der Bahn hätte sie zu lange gebraucht, und der Coyote war immer für sie da. «Ehrensache», sagte er hinter seinen grünen Shades. Chris, aufgeregt, wollte sich immer mit ihm unterhalten, aber er war merkwürdig schweigsam geworden, ganz anders als früher. Und er sah schlecht aus. Wie ein Geist. «Alles in Ordnung mit dir?», fragte Chris, beinahe schuldbewusst. Er nickte. «Geht schon. Aber du bist verliebt, was?» «Merkt man das?» «Yep!» Und als er hinter der Unterführung Escher Straße abbog, hatte sie den Eindruck, dass sich das Steuer bewegte, ohne dass sich seine Hand von der Stelle rührte. Wahrscheinlich einer seiner Tricks, ähnlich wie ein Moonwalk, sagte sie sich. Der Coyote war und blieb ein komischer Typ. Chris hielt sich für clever, als sie ihn jedes Mal einen halben Kilometer vor dem Haus anhalten ließ. «Schmeiß mich hier raus», sagte sie. «Ich kann dich auch weiter fahren», sagte er. «Nein, hier ist prima. Und danke.» «Bonne chance», sagte er. «Und pass auf dich auf.» Warum hatte er eigentlich immer diese blöden Star'n'Bars-Aufkleber am Heck? Doch Glück konnte sie gebrauchen, denn sie musste unentdeckt über Zaun und Kiesweg bis an den Wintergarten gelangen. Schon der Summer am Gartentor weckte Lichter in der Nachbarschaft, wie sie einmal erleben musste. Und ein andermal folgte ihr ein Security-Auto, bis sie es aufgab und die Gegend verließ.
Wenn alles gut ging, wartete Gudrun im Wintergarten, nur in Jogginghose und T-Shirt. Entweder wir stahlen uns dann nach oben und horchten am nächsten Morgen auf den wegfahrenden Daimler ihres Bruders, oder wir
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zogen uns sofort aus und schlichen hinaus in den Garten, wo wir uns auf dem Rasen liebten, bis wir ganz nach Gras rochen, was Gudrun auf eine Weise genoss, die mir wahrscheinlich nie ganz klar wurde. Ihr kurzer schelmischer Rundblick in die zirpende Dunkelheit war so rührend, bevor sie fragte: «Darf ich?» - «Wie heißt das Zauberwort?» -«Bitte-bitte.» «Bitte-bitte was?» - «Bitte-bitte darf ich dich anpinkeln?» Was sie nämlich echt gern gemacht hat. Sie hat es unheimlich gern auf mein Gesicht laufen lassen oder auf meine gerade von ihr durchgefickte Fotze, das hat ihr richtig was gegeben. Und sie dabei festzuhalten, meine Finger in ihren Po zu krallen, damit sie im letzten Moment nicht noch einen Rückzieher macht, unser Ausgeliefertsein, ihres und meines, ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas mal gefällt. Wird es vermutlich auch nie wieder. Und ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet, welche Medikamentenrückstände ich in diesen Momenten abgekriegt habe. Ich glaube nämlich, dass es uns damals gelungen ist, die Gespenster aus diesem Haus zu vertreiben, was später nie wieder so war.
Gudrun mit Shades «Überraschung!», rief Gudrun. «Wir haben für drei Wochen sturmfreie Bude, los, pack deine Sachen, du wohnst in der Zeit bei mir.» Und als Chris einen Moment lang zögerte, sagte sie: «Ach komm, du alter Feigling, das wird schön.»
Küche nach Gudrun Okay, das ist jetzt ein schlechter Moment. Die Küche sieht aus, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgegangen. Abends haben wir nämlich oft gekocht. Oder vielmehr Gudrun hat gekocht, und ich habe geholfen. Und leider auch eingekauft. Denn wenn irgendetwas fehlte oder anders war, als sie es sich vorgestellt hatte, konnte sie toben und mit Sachen um sich schmeißen, wie es kein normaler Mensch mehr versteht. Ich meine, ich weiß auch, dass man Lammragout nicht mit Kalbfleisch macht und dass Friséesalat nicht gleich Feldsalat ist, aber was soll's? Dann macht man eben das Nächstliegende. Ihre Einkaufszettel waren teilweise ziemlich schwer zu verstehen, obwohl ich Fortschritte machte. Und außerdem fängt Frisée und
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Feld mit dem gleichen Buchstaben an, sodass so etwas eben passiert, wenn man das alles noch nicht so gut kann. Aber ich konnte auch gemein sein. Wenn ich mich dann nämlich in die Zonen der Gespenster verdrückte, zum Beispiel in den alten Partykeller neben dem Weinkeller, für Gudrun eine echte No-go-Area. Und voll retro mit seiner komischen Bar und den Schalensitzen davor, alles in Orange und Braun, und den rundlichen, fleckigen Sofas und diesen Stahldingern an der Wand, die aussahen wie Titten. Dann kam sie meistens sehr schnell an und jammerte auf der Wendeltreppe, denn weiter traute sie sich nicht, ich soll bitte wieder hochkommen, wir könnten uns ja immer noch eine Pizza in den Ofen schieben. Trotzdem waren die Abende mit ihr schön, genau, wie sie gesagt hatte. Vielleicht hatte ich ja auch nur Angst, jemandem so nahe zu sein, denn dann gehört das Negative dazu. Ich bin ja, auf meine Art, auch nicht besser. Übrigens, die Streifen auf dem nächsten Bild sind nur die Schatten der Gitter.
Ein sonniger Morgen, ein offenes Fenster Es waren die vielen kleinen Dinge, die sie liebte. Wenn sie vom Bett aus beobachten konnte, wie Gudrun sich schminkte zum Beispiel. Oder wie sie Chris morgens den Kaffee ans Bett brachte. («Low-fatDecaf-Latte, kriegst du bei Starbucks auch nicht besser...») Die Art, wie sie ihre, Chris', Brüste anfasste, die Art, wie sie ihre eigene Möse verwöhnte, mit diesen kleinen harten Bewegungen, die Art, wie sie mit ihrer schmalen Hand auf ihre Möse schlug, wenn es ihr kam... Es passte, schien Chris, irgendwie zu ihren Sachen und der Art, wie sie sich anzog, wie sie sprach, ging und lächelte. Sie liebte die Art, wie sie sich die Haarsträhne aus dem Gesicht wischte, und die Art, wie sie die Strähne auf einen Finger wickelte, wenn sie im Liegestuhl auf der Terrasse saß und eine Zeitschrift oder in «Christine» las, während Chris an dem weißen eisernen Gartentisch ihre Hausaufgaben machte. Sie liebte die Art, wie Gudrun roch und wie sie ihre Haare berührte, wenn Gudrun sich von hinten über sie beugte, um zu sehen, was sie geschrieben hatte. «Was sind das eigentlich für Blumen hier überall?», fragte Chris.
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«Jasmin», sagte Gudrun und schaute kurz von ihrer Zeitschrift hoch. «Sie müssten mal zurückgeschnitten werden.»
Jasmin Jasmin! Ihr Duft hüllte uns ein. Eine kleine weiße Blüte, die aussieht wie ein fünfzackiger Stern. Ich glaube, ich kenne keine Blume, die schöner duftet als Jasmin. Im Ernst, dieser Duft zaubert Gefühle in einem hervor, die absolut unbeschreiblich sind und wo die ganze Scheiße endlos weit wegrückt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich diesen Duft jemals wieder riechen möchte. Ich meine, was ist die Hölle? Die Hölle ist etwas, das nie aufhört. Man kann sich das eigentlich gar nicht vorstellen, genauso wie man sich kosmische Entfernungen von einem bestimmten Punkt an nicht mehr vorstellen kann, 15 Milliarden Lichtjahre zum Beispiel, so weit, wie der Mensch ins All sehen kann, sind als Entfernung nicht mehr nachvollziehbar. Wir kennen nur kurze Distanzen, nicht die liegende Acht, obwohl sie mir als Zeichen gut gefällt. Ein Beispiel: Du ziehst dir dieses psychedelische Gras von Bekka rein, und alle Dinge verwandeln sich in einen Alptraum. Aber irgendwann wachst du wieder auf, spülst deine verquarzten Synapsen mit einem Liter Wein durch und hast am Ende nur einen bösen Kater. Willkommen zurück an einem neuen Morgen in eurer geliebten beschissenen Raumzeit, erhebt euch und strahlt! Aber so war es mit Gudrun irgendwann nicht mehr. Es hörte nicht mehr auf. Und es gab auch nichts, was man dagegen tun konnte, kein Zauberwort half, kein Schmusen, kein Low-fat-Decaf-Latte oder dass man einfach nur mal das Fenster aufgemacht hätte. Wenn du wissen willst, was die Kräfte des Bösen sind, das sind sie. Und Dahaaks Tochter, die große Princess of fucking Darkness («Du bist ja so cool!») war machtlos gegen die Gespenster, die Stimmen, die Geräusche, die Gudrun überall aus dem Niemandsland hörte, das sich immer enger um uns zusammenzog. Im Gegenteil, irgendwann hörte ich sie selber und traute mich nachts kaum mehr auf den Flur, nicht mal, um ihr aus der Küche eine Flasche Wasser zu holen. Wir waren gefangen in unserem Modul. Und ich meine das jetzt so, wie ich es sage: Ich habe sie auch gehört, die Geräusche, sie waren keine Einbildung. Das ist die Hölle. Ich meine, selbst die Zeit der Schande, damals, nach der Sache mit Yve, war irgendwann zu Ende. Aber das hier nicht. Kein Engel kam und ließ Goldstaub auf sie rieseln. Vielleicht schlief sie gegen Morgen für ein paar Stunden ein, aber ein neuer Morgen war das nicht, und er kam
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auch nicht, und es war auch so heiß in dem Sommer. Und die Princess of Darkness stand abgekämpft draußen vor dem Wintergarten, roch diesen holden Duft, sah diese kleinen weißen Blüten des Jasmin und erkannte, dass auch sie böse geworden waren.
Ein Kodak-Moment: Mann, der Geldscheine aufhebt Sie erkannte ihn nicht. Aber da sie die Fahrt über ihr Handy bekommen hatte, wunderte sie sich auch nicht, als der Mann zu ihr sagte: «Wir kennen uns.» Chris blickte in den Rückspiegel. Die grauen Augen, die sie von hinten ansahen, hatten ein klares Ziel. «Sie sind die neue Bekannte meiner Schwester, richtig?», sagte der Mann. «Bitte entschuldigen Sie, wenn ich diesen etwas unkonventionellen Weg einschla ge, um mit Ihnen zu reden, aber es geht nicht anders. Eines vorweg: Ich mache Ihnen nicht den geringsten Vorwurf. Ich weiß, dass Sie in der Zwischenzeit sogar bei uns gewohnt haben, und auch daraus mache ich Ihnen keinen Vorwurf, Gudrun hat Sie selber eingeladen. Doch Sie sollten wissen, dass es meiner Schwester sehr viel schlechter geht, seit sie Sie kennt. Wie gesagt, Sie persönlich trifft daran keine Schuld, aber Sie sind, wenn auch ungewollt, die Ursache, darüber müssen Sie sich im Klaren sein. Was ich Ihnen jetzt sage, mag schwer für Sie sein, es mag Ihnen willkürlich und vollkommen unverständlich erscheinen. Aber: Dürfte ich Sie bitten, meine Schwester in Ruhe zu lassen und sie nie wieder zu sehen? Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber es ist die Wahrheit. Von Ihnen geht ein Einfluss aus, der meine Schwester zerstört, ich sage das ganz offen. Ich betone noch einmal: Sie persönlich sind bisher dafür nicht verantwortlich zu machen. Doch von jetzt an sind Sie es, das sollten Sie sich immer wieder sagen. Für alles, was jetzt passiert, tragen Sie zumindest eine erhebliche Mitschuld. Mir ist bewusst, dass Sie erst darüber nachdenken wollen, diese Zeit will ich Ihnen auch geben. Zumal Ihre Beziehung zu meiner Schwester doch recht weit gediehen und gewissermaßen intensiverer Natur ist. Aber ich kann Ihnen versichern: Meine Schwester hat bisher keinerlei Anzeichen für derartige
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Neigungen zu erkennen gegeben, sodass ich... Wie gesagt, über Ihre persönlichen Motive möchte ich mir kein Urteil erlauben, aber ich habe einige vertrauliche Hinweise auf Ihre wirtschaftliche Lage erhalten, die mir im Falle einer Einigung Gelegenheit geben, Ihre Situation insofern zu berücksichtigen, dass Ihnen kein weiterer Schaden entsteht. Rufen Sie mich an. Machen Sie mal Urlaub.» Er beugte sich nach vorn und platzierte einen offenen Briefumschlag auf der Mittelkonsole. «Und wenn ich Sie bitten darf, unser Gespräch vertraulich zu behandeln - Sie können hier anhalten.» Im nächsten Moment war er ausgestiegen und ging nach hinten fort. Chris starrte auf den Briefumschlag. Dann rammte sie den Rückwärtsgang rein, setzte mit jaulendem Getriebe zurück, bis sie auf seiner Höhe war und er den Kopf wandte, und warf den Umschlag aus dem Fenster. Die Geldscheine umflatterten seine Füße wie Tauben.
Ein echter Kodak-Moment, keine Frage: Mann, der Geldscheine aufhebt. Ich weiß aber nicht, ob ich dieses Bild wirklich in meinem Album haben will. Mir ist lieber, es ist nie passiert.
Was glaubst denn du? Aber eines stimmte schon: Sie hatte diese Art, unsere gemeinsame Zeit von ihrem - soll ich sagen eigentlichen? - Leben abzutrennen, was mitunter ganz schön wehtat. Gut, vielleicht ist das eben der Unterschied, den man nie wegkriegt, egal, wie gut ich lesen lerne. Als gehörte ich nie wirklich dazu. Zum Beispiel, als sie auf dieser Vernissage war und ich sie nur gegen elf Uhr abholen sollte. Sie hat so getan, als kennt sie mich gar nicht, und hat mich sofort wieder weggeschickt, weil sie von jemand anderem nach Hause gefahren würde. Und ich stand dann an meinem Halteplatz und durfte mir überlegen, was ich jetzt wieder falsch gemacht hatte. In solchen Situationen spreche ich mit Xena. Wirklich, dann sitzt sie mit ihren langen Beinen hinten im Wagen, und ich spreche mit ihr. Der Vorteil von Xena ist, dass sie nicht viel redet, ich glaube, es gibt überhaupt keine Serienheldin, die so wenig redet wie Xena. Und wenn sie etwas sagt, dann häufig nur so Sachen wie «Das Wichtigste zuerst!» Es ist ein Satz, den sogar Callisto
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sagt, siehe zweite Staffel, Folge 7, als Xenas Seele in Callistos Körper fährt. Das Wichtigste ist nicht unbedingt das Nächstliegende, aber manchmal schon, bei mir zum Beispiel. Ich meine, was tut man, wenn das Wichtigste und Nächstliegende immer Gudrun ist und gerade die will mich nicht sehen? Wenn sie tagelang nicht zu erreichen war, genau wie Yve immer. Oder diesen komischen Geruch an sich hatte, wenn ich sie küsste. Dabei wusste ich doch längst, welchen unterschiedlichen Geschmack alle diese Tabletten auf ihrer Zunge hinterließen, ein Geschmack manchmal wie von rostigen Eisenspänen. Oder dieser zweite, den ich nur als synthetisches Nasenbluten beschreiben kann. Aber der Geruch, den Gudrun dann an sich hatte, war vollkommen anders und undefinierbar. Und auch ihre Möse schmeckte dann anders und war vor allem von Anfang an total glitschig, nicht nass, sondern glitschig, und ich meine, ich bin nicht ganz blöd, oder? Sie brauchte immer ihre Zeit. Und weil ich es irgendwann nicht mehr aushielt, habe ich ihr die eine Frage gestellt, die man eigentlich nie stellen darf, wenn man jemanden liebt. Denn wenn ich sie liebe, denke ich, sollte ich ihr auch vertrauen. Die Frage nämlieh: «Wo bist du gewesen?» Was sicher ein schlimmer Fehler war und mir auch gleich Leid getan hat, aber da hat sie mich schon angeschrien und auf mich eingeprügelt, und diesmal wehrte ich mich nicht einmal, weil ich wusste, dass ich es verdient hatte und deswegen auch gar nicht richtig mitkriegte, was sie genau sagte. Nämlich: «Was glaubst denn du? Was weißt denn du? Wofür mache ich das denn?» Erst viel später ist mir das klar geworden, und da hätte ich mich am liebsten umgebracht. Aber in dieser Situation damals in meiner Wohnung standen wir beide nur stumm da und hatten es wirklich versaut. Und in ihren Augen lag diese Mischung aus kalter Macht und abgrundtiefer Verzweiflung und konnte sich einfach nicht entscheiden, was es werden wollte, genau wie die vielen Gewitter damals in dem Sommer, die am Abend aufzogen wie das Raumschiff in Independence Day, aber dann nicht losbrachen, sodass irgendwann auch dieser schöne Jasmin -Duft etwas war, das im Hals brannte und wovon man Kopfschmerzen kriegte.
Taxi ohne alles Ein Funkruf beorderte sie auf den Taxihof. Schon in der Einfahrt erkannte Chris den Streifenwagen, sodass sie nur ärgerlich abwinkte, als ein Penner vom Kölschen Klüngel sagte: «Du sollst zum Alten kommen.»
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Als Chris die Tür zum Büro aufstieß, herrschte die entnervte Ruhe nach einer lauten Auseinandersetzung. Der Kopf des Alten war hochrot und schien seine weißen Flimmerhaare von innen zu beleuchten. Er wandte den Kopf und sah Chris an. «Wir machen hier nur unsere Arbeit», sagte Ranger. «Kennen wir uns nicht?», sagte Tonto. Ranger sagte: «Frau Szcessny, machen wir's kurz: Wir haben Hinweise darauf, dass in Ihrem Taxi mit Drogen gehandelt wird. Wollen Sie sich dazu äußern?» «Inwiefern?», sagte Chris. «Insofern, dass in Ihrem Wagen mit Drogen gehandelt wird.» Sie sah den Alten an und schüttelte unauffällig den Kopf. Erst einmal ihn beruhigen. «Keine Ahnung, ob in meinem Wagen mit Drogen gehandelt wird», sagte sie. «Von mir jedenfalls nicht.» «Wer außer ihr fährt den Wagen noch?» Die Frage galt dem Alten. «Zurzeit keiner», sagte er, und seine Hände zuckten eigenartig dabei. «Aber ich bin Steuerzahler. Ich vertraue ihr. Und ich lasse mich nicht wie einen Schwerverbrecher behandeln.» Chris glaubte, sie hätte sich verhört. Der Alte entwickelte ja echte Qualitäten. «Das hatten wir doch schon», sagte Ranger. «Niemand behandelt Sie wie einen Schwerverbrecher.» «Werden Sie sie mitnehmen?», fragte der Alte. «Eins nach dem anderen», sagte Ranger. «Frau Sczessny, würden Sie bitte Ihre Taschen ausleeren?» Und danach rückte Taxi 4-09 seine Schätze heraus. Begafft von denen, die gerade auf dem Hof waren, kamen zu Tage: Kugelschreiber, Kredit- und Telefonkarten, Kondome, ein MiniWörterbuch Japanisch - Deutsch, ein Faltblatt des RömischGermanischen Museums aus dem Jahr 1982, Schlüssel, leere Flachmänner, ein Zehndollarschein, zu einem kleinen Flamingo gefaltet, eine erstaunliche Anzahl Eheringe (männlich), Ohrringe (weiblich), Feuerzeuge, eine einzelne Zündkerze, eine Nagelfeile,
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Batterien, eine Musikkassette Happy Hammond, Zettel mit Telefonnummern, Kleingeld (in verschiedenen Währungen) und zirka 160 Tabletten einer unbekannten Substanz. Die Aktion dauerte eine Stunde, und Chris war nur erstaunt, wie weit sich der Innenraum ohne großes Werkzeug zerlegen ließ. Als sie Chris in den Streifenwagen schoben, stand der Alte auf der Treppe und sah viel kleiner aus als sonst. Auf der Wache nahmen sie ihr alles ab, was sie bei sich trug, einschließlich ihres Gürtels und ihrer Schnürsenkel, steckten sie in eine Gewahrsamszelle und vergaßen sie für vier Stunden. Chris legte sich auf die Pritsche und dachte an Gudrun und was sie ihr von dem fleckigen Sofa im Partykeller erzählt hatte. Dorthin kamen nämlich die bösen Mädchen. Es war das Sofa für die bösen Mädchen. Dort hatte sie warten müssen, sitzen und warten, ganze Nachmittage lang, die auch Nächte hätten sein können, weil kein Sonnenstrahl in den Raum fiel. Bis die Schatten Geräusche machten und ein seltsamer Geruch in der Luft das Namenlose anzog. Chris schien es, als sei der Geruch heute noch da. Ihre aktuellen Probleme mit Gudrun allerdings kamen Chris in diesem Moment unbedeutend vor.
Sport-Fische «Weißt du, was das ist?», fragte Ranger. «Tabletten.» «Und was für Tabletten?» «Keine Ahnung.» «Und zu dem Wort Rosch fällt Ihnen nichts ein?» «Nichts.» «Und du weißt natürlich auch nicht, wie die Dinger plötzlich in deinen Wagen kommen?»
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«Nein», sagte Chris. «Haben Sie etwa meine Fingerabdrücke daraufgefunden?» «Haben wir ihre Fingerabdrücke gefunden?», sagte Tonto zu Ranger. Ein schönes Büro hatten die beiden Kommissare Ranger und Tonto, dachte Chris. Viel schöner, als sie sich die Dienstzimmer bei der Polizei vorgestellt hatte, viel persönlicher. Und jeder hatte seinen eigenen Computer. Auch bei der Polizei blieb die Zeit ja nicht stehen. «Die brauchen wir nicht. Wir haben Zeugen», sagte Ranger. An der Wand hing ein Plakat mit der Aufschrift «SPORTFIS-CHE». Sie konnte das jetzt alles lesen. Sport-Fische. Kaum anzunehmen, dass diese Fische das auch so sahen. Und sie, Chris, war nur ein kleiner, das wusste sie, sie war unwichtig. «Und wer soll das sein?», fragte Chris. «Das erfährst du früh genug», sagte Tonto. «Von mir aus können Sie auch noch meine Wohnung filzen», sagte Chris. «Ich weiß nicht, wo das Zeug herkommt.» «Warum haben wir ihre Wohnung nicht überprüft?», fragte Tonto. «Wir hätten ihre Wohnung überprüfen müssen.» «Ach sei doch mal still. Ich führe die Vernehmung durch. Ich rede, du protokollierst.» «Irgendeine Idee, wer die Tabletten in deinem Wagen versteckt haben könnte?», sagte Ranger mit Kölscher Betonung. «Ja.» «Und wer?» «Das kann ich nicht sagen.» «Klar», sagte Ranger. «Mädchen, du gehst uns auf den Keks», sagte Tonto. Chris hatte keine Angst. Sie konnten ihr gar nichts. Sie hatte eine Arbeit, eine feste Adresse und keine Vorstrafen. Und sie wusste, welche Dreckskerle in der Siedlung immer wieder freigekommen waren, obwohl sie tausend Mal in so einem Büro gesessen hatten, oft wegen richtig heftiger Sachen. Irgendetwas an diesem System war nicht in Ordnung.
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Das Auge Es war dann schon nach zehn, als sie bei sich zu Hause ankam. Also doch, dachte sie, als sie die nur angelehnte Wohnungstür sah. Und: Warum hatten sie sie nicht gleich im Streifenwagen mitgenommen? Das wäre einfacher gewesen. Dass sie unten keinen Streifenwagen gesehen hatte, daran dachte sie nicht. Sie sagte: «Hallo?» Und stieß vorsichtig die Tür auf. «Kommen Sie rein», hörte sie von innen, «es ist offen.» Es war der Privatdetektiv vom Park. Er saß, halb mit dem Rücken zu ihr, auf dem Futonbett und balancierte die Kiste mit den XenaKassetten auf seinen Knien. Chris zog ihren Elektrostunner, sie hatte endgültig genug. «Nein, bitte...bitte lassen Sie das, ich trage einen Schrittmacher.» Der Detektiv hob abwehrend die Hände, auf eine Art, zu der auch gut ein Herrentäschchen gepasst hätte. Von oben schaute sie hinab auf seinen akkuraten, grauen Scheitel. «Ein Grund mehr, mir die Wahrheit zu sagen. Und glaub nicht, ich würde es nicht tun. Du bist in meine Wohnung eingebrochen, das reicht.» «Ach, eingebrochen! Hallo, bitte... machen Sie sich nicht unglücklich, bitte, das ist kindisch.» Vom Bett sah er zu ihr hoch. «Hat er dir den Auftrag gegeben?» «Nein, ich sehe mich nur um. Viel besitzen Sie ja nicht.» «Das meinte ich nicht», sagte Chris und drückte den Stunner fester gegen seine Brust. «Die Drogen in meinem Taxi? Haben Sie die da versteckt?» «Mais non», sagte der Detektiv. «Ich bitte Sie, ich ermittle, mehr nicht. Und, bitte, könnten Sie nicht dieses Ding, das ist doch sehr lästig... wie schnell ist etwas passiert.» «Ich komme gerade von der Polizei.»
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«Ach? Sie mussten zur Polizei? Ich ahne es. Etwa weil in Ihrem Wagen Drogen gefunden wurden?» «Genau.» «Und Sie wissen nicht, wie die dahingekommen sind?» «Du hast es erfasst.» «Sehen Sie, es geht schon los», sagte der Detektiv. «Was bedeutet das, es geht schon los?», fragte Chris. «Darüber wollte ich mit Ihnen reden. Aber tun Sie mir einen Gefallen, legen Sie das Ding weg. Das brauchen Sie bei mir nicht, ic h bin nur Detektiv. Und Sie sind wohl ein Fan dieser Serie, sehe ich», sagte er und setzte die Xena-Kiste auf dem Boden ab. «Reden? Worüber?» «Über Ihre Freundin Gudrun. Lassen Sie die Finger von dieser Frau.» «Das habe ich doch schon mal gehört.» «Ach? Und von wem?» «Von deinem Auftraggeber vermutlich. Sag bloß, du weißt das nicht.» Der Detektiv schüttelte den Kopf. «Nein, das wusste ich nicht. Aber hier müssen Sie mit allem rechnen. Hören Sie, Sie sind ein anständiges Mädchen, doch Sie werden da in etwas hineingezogen, was Sie garantiert nicht wollen.» «Und in was werde ich hineingezogen?» «Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.» «In was?» «Nicht schon wieder, bitte, ich will mich nur mit Ihnen unterhalten.» «Und?» «Hören Sie, diese Leute zerfleischen sich. Geraten Sie nicht dazwischen. Und auch Ihre Freundin Gudrun ist nicht so harmlos, wie sie aussieht.» «Was heißt das?»
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«Das werde ich Ihnen im Einzelnen nicht sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, wie ich sie kennen gelernt habe, so bin ich überhaupt an den Fall geraten.» «Und?» «Es war die übliche Sorgerechtsstreiterei. Oder es sah zumindest so aus. Gudrun Greff, Ihre Freundin, hatte damals das Sorgerecht für ihr Kind verloren und war plötzlich verschwunden, mit dem Kind. So fing es an. Wir haben sie dann schließlich in einem leeren Ferienhaus in Südfrankreich ausfindig gemacht. Das Kind war fast verhungert, wir mussten es ins Krankenhaus bringen. Und glauben Sie mir, das war nur der Anfang. Aber ich muss hier an meine Mandanten denken.» Er erhob sich. «Tut mir Leid, mehr als das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber das wollte ich wenigstens tun. Sie sind ein anständiges Mädchen. Halten Sie sich von diesen Leuten fern.» «Weißt du, dass du aussiehst wie Michel Serrault?», sagte Chris. «Wie wer?», sagte er und wandte sich um. «Übrigens, die Sache im Park vor einiger Zeit, Sie wissen, was ich meine: nicht schlecht. Nicht gerade neu, aber doch ganz überzeugend. Na ja, so halb.» Er stand an der Tür. «Und tauschen Sie bei Gelegenheit das Schloss aus, das hier taugt absolut nichts.»
Stücke, die Mut machen «Überraschung», sagte Gudrun und hielt zwei Theaterkarten hoch. «Von Shrinki. Hatte er übrig. Hast du Lust?» Dann stritten sie sich, weil Chris am Abend nicht den Rock anziehen wollte, den Gudrun für sie ausgesucht hatte. Aber Dahaaks Tochter setzte sich durch.
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Falsche Zeitung Ich war ja noch nie im Theater, aber auf eine gewisse Weise war es das Seltsamste, was ich je gesehen habe. Nicht so sehr, weil die Kampfszenen so scheiße waren, sondern wie die Leute geredet haben. Erst dachte ich, ich verstehe kein einziges Wort. Ich meine, das ist doch schrill, etwa das über das Gerücht: Ich, von dem Osten bis zum müden West rasch auf dem Winde reitend, mache kund, was auf dem Erdenball begonnen wird. Beständ'ger Leumund schwebt auf meinen Zungen, den ich in jeder Sprache bringe vor, der Menschen Ohr mit falscher Zeitung stopfend. Aber das regelt sich. Wenn man begreift, dass das alles genauso funktioniert wie meine innere Straßenkarte. Ich meine, ich habe sechstausend Straßen im Kopf, aber wenn ich sie aufzählen sollte, dann könnte ich es nicht. Trotzdem komme ich immer von jedem Punkt zu jedem anderen Punkt, weil ja alles zusammenhängt, das ist, glaube ich, das Wichtigste, dass man von jedem Punkt zu jedem anderen Punkt kommt und dass sich dann auch ein Gesamtbild zusammensetzt, es dauert nur etwas, und man darf es nicht erzwingen - auch wenn manche Sachen ein Rätsel bleiben wie diese falsche Zeitung, was meinen die damit? Egal, ich glaube, ich habe alles ganz gut mitgekriegt, im Grunde nicht anders als im Kino und vor allem, weil das Stück von der Handlung her ziemlich asimäßig war. Schön, vielleicht hätte ich ihr das nicht sagen sollen, nicht in der Bar jedenfalls, wo wir nachher hingingen, immerhin waren die Karten ziemlich teuer gewesen. Aber das eigentliche Problem war wohl eher, dass Gudrun nie wirklich hören wollte, was ich sage. Weil es entweder unwichtig oder blöd ist, angeblich, obwohl ich jetzt nicht weiß, was daran blöd sein soll, wenn man sagt, das Stück war ein Asi-Stück, da kann es so alt sein, wie es will, es ist und bleibt ein Asi-Stück.
«Entschuldigen Sie», sagte der Mann, der aussah wie ein Fernsehrichter und kurz zuvor noch in einer Gruppe gestanden hatte. «Ich habe eben mitgehört, was Sie gesagt haben. Ich bin Professor Blenheim. Eine interessante Theorie.» Doch die Karte, die er Chris reichen wollte, wurde sofort von Gudrun abgefangen. «Auch nicht so interessant», sagte Chris. «Von dieser Sorte gibt es unheimlich viele Filme.»
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Gudrun schaute kurz auf Blenheims Karte und dann ostentativ in eine andere Richtung. «Tatsächlich?» «Haben Sie Blood Trail gesehen?» «Leider nein.» «Oder Purple Berets 2?» «Auch nicht, tut mir Leid.» «Nikita? Den müssen Sie aber kennen.» «Ich fürchte, da bin ich überfragt.» «Es läuft immer nach demselben Muster. Man hat eine Gruppe von Kriminellen, die eigentlich für den Rest ihres Lebens in den Knast gehören, aber eine letzte Chance bekommen. Bedingung: Sie müssen für die Regierung die Drecksarbeit erledigen. Special Operations und so. Dieser Heinrich ist genauso. Am Ende kennt er nicht einmal seine alten Freunde, so sehr hat er die Seiten gewechselt. Xena ist manchmal auch ein bisschen so.» «Aber Shakespeares Henry ist kein Krimineller, und er erledigt keine...» «Das Prinzip ist trotzdem dasselbe. Das Prinzip heißt: Arbeite für die Regierung, leg andere Leute für uns um, dann gehörst du wieder zu uns, egal, was du vorher gemacht hast. Alle Asis dieser Welt träumen davon, deswegen sind diese Filme so erfolgreich.» «Interessant.» «Man muss das nur einmal begreifen...» «So habe ich das noch nie gesehen...» Auf dem Weg zum Parkhaus sagte Gudrun, die Visitenkarte ablesend: «Professor! Doktor! Helmuth! Blenheim!... ooooh, den haben wir aber beeindruckt!» Dann, mit einer anzüglichen Körperdrehung, warf sie die Karte weg. Das waren die Sachen, die an Gudrun nicht so schön waren, wenn man sie mal besser kannte. Dasselbe im Planetarium, wo wir uns die Lasershow ansahen und anschließend durch die Ausstellung wanderten. Ich glaube, sie hat gar nicht zugehört, als ich ihr erklärte, warum die so genannte
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Mondlandung eine einzige riesige Fälschung ist. Dabei sind die Beweise erdrückend: die unterschiedlich langen Schatten von Aldrin und Armstrong auf dem einen Bild, der Dämmerungseffekt, den es zwar auf der Erde gibt, aber nicht auf dem Mond, das seltsame Objekt in Aldrins Helmvisier, Schatten, wo eigentlich keine sein dürften, die fehlenden Vertiefungen unter der Mondfähre, die fehlenden Sterne, Fadenkreuze, die hinter Objekten verschwinden, von Brauns Verbindungen zu Disney, die ganze verdammte Studioatmosphäre der Bilder und so weiter und so weiter. Ich meine, das sind Fakten! Aber am Ende sagte sie nur: «Du bist ja noch verrückter als ich.»
Die großen Arkanen Gudrun hatte ihre Rituale. Und dann konnten wir auch reden. Oder sie hat mir zumindest einmal zugehört. Tarot gehörte eindeutig dazu. Wir haben es oft gespielt, im Wintergarten, an dem Messingtisch, im Schein der XenaLampen.
«Sei froh», sagte Gudrun, als sie die nächste Karte aufdeckte. «Ich weiß nicht», sagte Chris. «Mein Vater war so plötzlich und so vollständig weg, dass es mir manchmal vorkommt, als hätte es ihn nie gegeben. Auf dem einzigen Bild, das ich von ihm habe, ist er nicht einmal drauf. Aber an ein paar Dinge erinnere ich mich genau. Und zwar dass ich nachts in die Küche gegangen bin, weil ich wieder ins Bett gemacht hatte, ich muss etwa acht gewesen sein. Ich bin in die Küche gegangen, weil mein Vater da war. Er arbeitete irgendwo im Ölhafen und musste immer mitten in der Nacht raus. Und anders als meine Mutter hat er nie mit mir geschimpft, wenn ich wieder ins Bett gemacht hatte, sondern hat in der Spüle mein Höschen ausgewaschen und in den Ofen gelegt und den Ofen angemacht, und meistens war alles in zehn Minuten wieder schön trocken und warm. Nur einmal ist meine Mutter in die Küche gekommen, hat gesagt, ich soll auf mein Zimmer gehen und hat mich fürchterlich verdroschen. Kurz darauf war er weg. In der Schule habe ich dann gesagt, dass er Seemann wäre.»
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«Lass das bloß nicht Shrinki hören, der behält dich glatt da», sagte Gudrun und deckte die nächste Karte auf. Chris nahm die letzte Karte in die Hand und sagte: «Weißt du, dass das Robin-Hood-Kostüm von Callisto in Wirklichkeit der Narr aus dem Tarot ist?»
Die Boutique, verwüstet Ja, so habe ich sie eines Abends vorgefunden. Und den Laden. Weißt du, dann denkst du nicht mehr daran, dass sie manchmal echt hässlich zu dir war, das zählt alles nicht mehr, sobald man so etwas sieht. Ich meine, das ist etwas völlig anderes, als wenn jemand mal mit Tellern um sich schmeißt, was sie auch gut konnte. So etwas wie in der Boutique bricht dir das Herz, ehrlich. Alle die schönen Sachen, die Pullis, Blusen und Röcke lagen verstreut auf dem Boden, all die Rottöne und Grüns, die leuchtenden Blaus, die Beiges. Erst konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass Gudrun diese Verwüstung selber angerichtet hatte, Drehständer umgeschmissen, Spiegel zertrümmert, die Schaufensterpuppen zum Teil ohne Arme und Köpfe, die zerrissenen Sachen, auch an ihr, sie sah nicht besser aus. Und von allen Seiten glotzen dich die leeren Katakomben von Regalen an. Ich hatte schon so ein komisches Gefühl, als ich aus dem Wagen stieg - wegen der Leute vor dem Schaufenster, die in den Laden starrten. Einige kamen später sogar rein und fragten, ob sie die Polizei holen sollten, denn es sah tatsächlich so aus wie nach einem Überfall. Ich wusste nicht, wen ich zuerst beruhigen sollte, Gudrun, die, wirr und völlig aufgelöst, dauernd irgendetwas suchte, aber nicht sagen wollte, was, oder die Leute, damit sie uns endlich in Ruhe ließen, zumal diese Frau Reiter nicht da war und auch kein Schlüssel zu finden war. Vor allem aber, weil Gudrun mich zuerst gar nicht zu erkennen schien inmitten der Zerstörung und ich nichts anderes tun konnte, als einfach bei ihr zu bleiben, obwohl das Bei-ihr-Bleiben für sich nichts nutzte, diese Erfahrung hatte ich schon gemacht. Man tut es eigentlich eher zur eigenen Beruhigung. Ich wünschte, auch das wäre nie passiert. Und trotzdem gehört es mit in mein Kodak-Album. Um mich daran zu erinnern, was ich an ihr verloren habe. An diesem Tag jedenfalls ging ein großes Stück von ihr verloren, selbst in den schönen Momenten war es nie wieder wie vorher. Sie setzte danach auch nie wieder einen Fuß in den Laden, sondern blieb nur noch zu Hause, wo die Kräfte des Bösen leichtes Spiel
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hatten. Hätte ich sie wirklich beschützen können? Ein paar Tage später verlangte sie von mir, dass ich meinen Job aufgebe, um bei ihr zu bleiben, aber das wollte ich nicht und... und das quält mich bis heute, auch wenn es nicht viel genützt hätte, denn wann, wenn nicht dann, sollte man überhaupt zueinander stehen?
Strandkorb für zwei Oft fuhren sie übers Wochenende nach Holland an die See. Sie waren beide der Meinung, dass ihnen das guttat – und ihrer Beziehung. Gemeinsame Erlebnisse in der Sonne, der Salzwind, der den Sand um ihre Knöchel blies, dass es biss, kleine gemütliche Orte, Zimmer mit knarzenden Fußböden, die die Gespenster noch nicht kannten. Da der Maverick abgeschafft war, musste Gudrun jedes Mal einen Wagen mieten. Sie holte Chris von ihrer Wohnung ab und fuhr auch die ganze Strecke selbst. Chris fand das nicht richtig, aber Gudrun sagte: «Ich muss mich langsam wieder daran gewöhnen.» Ich wusste nicht, dass dies unsere letzte Reise werden würde. Es war gegen Ende August, das Wetter eher durchwachsen. Ich hatte meine Tage, und ich weiß noch, dass wir auf der Fahrt wieder unsere Coffee-shop-Diskussion führten. Wenigstens dieses eine Mal! Bitte-bitte, ich fühl mich so scheiße. Zumal es ja immer wieder regnete. Aber sie war strikt dagegen. Was wir uns verdient hatten und was nicht, war immer ihre Entscheidung. Und im Hotelzimmer (von unserem Hotel!) fühlte sie sich auf einmal von dem Wand-spiegel beobachtet. Ich also den Spiegel abgehängt, doch dann war es plötzlich der helle Fleck an der Wand, der sie beobachtete. Ich also den Spiegel wieder aufgehängt und ein Handtuch darüber geworfen. So ging das die ganze Zeit, bis ich mich am liebsten - und meinetwegen auch allein - in den nächsten Coffeeshop abgesetzt hätte. Das sind übrigens wir, in dem Café an der Promenade, das Foto haben die Leute am Nebentisch gemacht, Holländer, was man an den Wochenenden beinahe hervorheben muss, denn es wimmelt von Deutschen. Gudrun mit Shades. Komisch, man sieht ihr kein bisschen an, wie schlecht es ihr da schon ging. Und daran habe ich mich auch immer wieder festgehalten, habe immer gehofft, dass «es» nicht zurückkommt und dass das Wunder vielleicht geschieht, hallo und will-
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kommen zurück in unserer schönen, bekackten Raumzeit. Wir sind dann den ganzen Nachmittag in unseren Regenjacken am Strand spazieren gegangen, Hand in Hand, was sehr schön war, und Gudrun wurde auch allmählich ruhiger. Allerdings änderte sich das Wetter so schnell, dass man zusehen konnte. Helle Wolken mit Blau wechselten mit dunklen Wolken und Regen, Sonne, Schauer, an, aus, ein binäres System. Ich weiß nicht, ob Gudrun es auch bemerkte. Sowohl auf der Promenade als auch später in den Dünen war ein seltsames Schauspiel zu beobachten. Jedes Mal, wenn die Sonne hervorkam, saßen plötzlich alte Leute auf den Stühlen, Liegestühlen und in den Strandkörben, keine Ahnung, wo sie so schnell hergekommen waren. Aber es waren nur alte Paare, keine jungen. Sie waren weg, wenn sich der Himmel bezog, und wieder da, sobald es aufklarte. Sie haben keine Zeit zu verlieren, dachte ich. Diese Alten, sie waren zusammen, sie blieben zusammen und wollten von allem noch so viel wie möglich mitnehmen. Gudrun blieb dann stehen, sie hatte ihren fernen Blick und sagte: «Glaubst du, wir werden eines Tages da auch so sitzen wie diese beiden im Strandkorb?» Ich hatte mir diese Frage nie gestellt. Gudrun, wenn du sie gekannt hast, war reine Gegenwart und die Zukunft etwas so Phantastisches, dass das Denken daran nicht lohnte. Und, ehrlich, in diesem Moment fiel mir keine Antwort ein, nicht einmal eine ausweichende, ich wollte einfach nichts dazu sagen. Und das war vielleicht das Schlimmste von allem und das, was ich mir nie verzeihen werde.
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15 Die Kräfte des Bösen
Sie erreichte die angegebene Hausnummer, als der Rettungswagen gerade losfuhr. Der Kerl roch wie eine Brauerei, intrinsisch, aus jeder Zelle seines verkommenen Körpers. Und er trug eine Brille, die aussah wie ein Fernseher, genau wie dieser Mongo aus dem Kurs, der es nie lernen würde. Der Abend war heiß, schwitzig wie ein Treibhaus, unerlöst unter dem dunstigen Himmel. Sie hatte schließlich ihr Handy ausgeschaltet, dauernd rief Gudrun an und fragte, wann sie käme. Aber was sollte sie denn tun? Sie hatte doch auch keine Lösung. Dass sie ihr Handy ausschaltete, kam mittlerweile vor, für eine Stunde, zwei Stunden, und Chris litt darunter, mehr als sie sagen konnte. Dagegen waren Gudruns anschließende Vorhaltungen schon fast wie eine Erlösung, und sie hätte am liebsten gesagt: Dann schlag mich doch, bestraf mich, wenn du dich dann besser fühlst! Mach schon! Alles, was Gudrun auch nur ein bisschen ablenkte, war gut. «... Capitaine, Capitaine, voyage ton flag...» «... unser Gast im Studio in der Nacht der langen... Pardon, in der langen Nacht der...» «... and moner la charité...» «... das Versagen der Worte angesichts der Phänomene...» «... 6-38 von Siebzehn, das war Unter fetten Hennen, die dortige Gaststätte...» «... un 'tite poule grasse...»
Der Kerl zog einen Kamm durch sein nikotingelbes Haar, schaute anschließend den Kamm an und sagte: «Frauen, ne?... also Frauen, ne?... immer ist was gebacken... da machst du nichts dran... da hast du keine Chance, da kannst du machen, was du willst...» Halt die Schnauze, Arschloch.
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«Und der RTW wollte mich nicht mal mitnehmen, so ist das nämlich... Dabei müssen die das... das ist immer noch meine Frau, oder? Das ist immer noch meine Frau! Aber die wissen genau, bei wem sie das machen können... immer ist was gebacken... warum macht sie das auch?» Und am Krankenhaus hatte er natürlich kein Geld. Aber dafür kannte er sich aus, sodass sie kurz darauf vor der edelstählernen Schiebetür standen. «Meine Frau hat das Geld, sie gibt dir das Geld.» Sie konnte das je tzt alles lesen: NO-TFAL AMB-ULA-NZ. L, eine Welle. N, ein Z. Man musste es nur drehen. «Gleich.» Die Schiebetür öffnete sich, und die Sanitäter rollten ihre Trage zum Ausgang. Er nutzte die Gelegenheit, um auf seinen dürren Beinen in den hell erleuchteten Behandlungsraum zu schlüpfen. Chris blieb kurz hinter der Schiebetür stehen, während er sich auf Zehenspitzen der Frau auf dem Untersuchungstisch näherte. Chris seufzte, ihr war die Situation unangenehm. Eine Schwester mit einem Klemmbrett schaute durch den Vorhang herein und verschwand wieder. Eine andere Schwester trat schließlich in den Raum, löste die Kompresse am Kopf der Frau auf dem Untersuchungstisch und drückte sie nach kurzer Begutachtung wieder an. Die Frau auf dem Untersuchungstisch hatte vielleicht das Alter des Mannes, der jetzt leise auf sie einredete. Sie hatte rote Haare, die schon zur Hälfte graubraun nachgewachsen waren. Sie lag absolut starr da, die Arme eng am Körper, die Hände zu Fäusten geballt, während der Mann mit ihr sprach. Sie presste die Augen zusammen, sie presste die Lippen zusammen wie jemand, der die Luft anhielt oder nichts hören wollte. Das Ohr mit falscher Zeitung stopfend: Time-Warp der Schande. Tränen sickerten durch die geschlossenen Lider und kullerten eilig auf die Einwegunterlage. Durch die Anspannung hatte sich die MullTamponade in ihrem linken Nasenloch gelockert, zähes Blut kroch über Oberlippe. Sie trug einen rosa Strickpulli mit silbernen Stickbuchstaben, die Chris nur teilweise erkennen konnte, weil der Mann davor stand: BEA. Hieß sie so, Bea?
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Ein hochgewachsener Arzt, noch jung, schaute kurz durch den Vorhang. In seinem weiten Kittel glich er einem riesigen Vogel. «Ach, Sie schon wieder», sagte er. «Ich bin gleich bei Ihnen.» Die Frau presste die Lippen zusammen. Chris hatte genug gesehen, sie war nicht blöd. Sie ging auf den Mann zu, zerrte ihn, ohne die Frau anzusehen, zur Schiebetür, verlangte ihr Geld. «Oder sollen wir erst rausgehen, du mieses kleines Arschloch?» Chris drängte ihn weiter und rammte ihm ein Knie zwischen die Beine. Seine Brille fiel zu Boden. «HÖR AUF!», schrie jemand hinter ihr. «HÖR AUF!» Chris drehte sich um und sah: die Frau mit den halbroten Haaren. Sie hatte sich von der Einwegunterlage erhoben wie ein Vampir aus einem Sarg, Blut und Tränen hatten ihre Richtung geändert. Ihr Mund war ein ovales schwarzes Loch, als sie schrie: «HÖR AUF! HÖR AUF!» «Heda, Herrschaften, keine Handgreiflichkeiten, bitte», sagte der kittelrauschende Arzt und packte Chris am Arm, worauf der Mann unter ihr wegtauchte und sich hinter den Untersuchungstisch flüchtete. «Ich hab gar nichts gemacht», rief er. Was Chris in diesem Moment wunderte, war, dass die Frau ausgerechnet sie dabei ansah und offenbar auch nur sie meinte. Und sie hieß auch nicht Bea. Der silberne Schriftzug auf ihrem rosa Pulli sagte: BEAUTY. «Und wer sind Sie?», fragte der Arzt. «Beauty», sagte Chris. «Taxi.» «Ihr gebt es wohl nie auf», sagte der Arzt. «Werden Sie für Ihre Arbeit nicht bezahlt?», entgegnete sie. Er schaute auf seine Uhr: «Zurzeit nicht, nein.» Alles an ihm war Funktion, sein kurz geschorener Kopf, die schmale Brille, die Schatten unter den Augen. «Holen Sie wenigstens die Polizei», sagte Chris. «Wozu? Für die zwanzig Mark? Da werden Sie bei den be iden kein Glück haben.» «Das war doch nie im Leben ein Unfall», sagte Chris.
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«Nicht? Hier, schauen Sie mal», sagte er, indem er sich umwandte, eine Bewegung, die sein weiter Kittel nicht nachvollzog. Der Mann hatte sich über die Frau gebeugt und streichelte ihr über die blutverklebte Wange, während die Frau seine Hand ergriffen hatte. BEAUTY hob und senkte sich. «Rührend, was? Tja, hier lernst du fürs Leben, Baby. Schönen Dienst noch.» Am Severinstor überlegte sie, ob sie etwas essen sollte. Es war Viertel nach elf. Wenigstens einen Rattlesnake-Burger, sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Aber die Halteplätze waren alle dicht, und Hunger hatte sie ohnehin keinen. Sie spürte die Kräfte des Bösen in der Luft. «... Capitaine, Capitaine voyage ton flag...»
Also steuerte sie ihre Kirche an, schaltete dabei auch das Handy wieder ein. Keine Nachricht von Gudrun in der Zwischenzeit? Doch dann flirrten plötzlich Funksprüche durch den Flügelschlag des Bösen. «... von 6-40, ich brauche große Scheine, große Scheine, hört mich jemand, große Scheine...» «Wiederholen...» «Wo?» «... große Scheine...» «Ihr Standort, 6-40?»
Es war das Codewort. Es war das Wort, das gefürchtete, für das Chris alle ihre Waffen mit sich trug. «... on Mardi Gras...» «... und dann möchte ich noch meinen Freund Rolf grüßen...» «Wiederholen Sie Ihren Standort, 6-40.» «... Mike's Auto...» «Wo?» «... Auto-Himm...» «Siebzehn an alle: Ein Notfall vor Mike's Auto-Himmel.»
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«Wo soll das sein?» «Sag doch gleich Überfall, Mann...» «Das ist Strabo.» «Auto-Himmel, Mike's...» «Wo?» «Wer ist gestorben?» «Anfahrt über Venloer Straße. Polizei und Rettungsdienst sind verständigt.» «Wer braucht große Scheine?» «... das Versagen der...» «Aber bitte Eigenschutz beachten...» «Halt die Fresse, du Funkquäler...» «... angesichts der Phänomene...» «Strabo.» «... Capitaine, Capitaine voyage ton flaaag...» «Wer ist gestorben?»
Im selben Augenblick setzten sich zirka vierzig Taxen, darunter auch Nr. 4-09, in Richtung Mike's Auto-Himmel in Bewegung, drängten sich, mit bereit gelegten Schlagwerkzeugen, auf dem letzten Stück wie eine Herde Gnus über Kreuzungen und rote Ampeln, um dem Kollegen in Not beizustehen. Nichts konnte sie aufhalten. Sodass der Wendehammer vor Mike's Auto-Himmel schließlich so verstopft war, dass der Rettungswagen nicht mehr durchkam und sie Strabo bis zur Straße tragen mussten. Alle wollten helfen, aber niemand wusste, ob er überleben würde, auch der Notarzt nicht. Kaum war der Rettungswagen weg, löste sich der Blechhaufen auf wie ein Spuk. Sie waren nicht zum Spaß hier, und etwas tun konnten sie ohnehin nicht mehr. Nur die KaRo-Fahrzeuge blieben noch. Im Kreis der Scheinwerfer erwiesen sie ihrem gefallenen Kameraden die letzte Ehre, Gnus, froh, davongekommen zu sein. Gnus, die ihre Hörner nur gegeneinander einsetzten, wie Chris mal im Fernsehen erfahren hatte. «So eine Scheiße.» «Arme Sau.» «Ich wette, der Kerl ist hier noch irgendwo.» «Und wo?»
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«Hier auf dem Schrottplatz.» Er zeigte auf das Schild von Mike's Auto-Himmel. «Wer geht mit?» «Das hat doch keinen Sinn.» «Das habe ich auch mal erlebt», sagte der Coyote. «Er hat Recht.» Ein einzelnes Taxi näherte sich der Gruppe: «Braucht hier jemand große Scheine?» «Dieter, du Arschloch, geh nach Hause.» «Aber ich sag euch was, der hat das geahnt, dass so was wie das mal passiert. Der hat das irgendwie gewusst.» «Du meinst, weil er nachts immer zusammen mit seinem Schwager gefahren ist?» «Der Alte hat ihn ja auch mit Absicht immer auf Nacht gesetzt.» «Ich habe das auch mal erlebt», sagte der Coyote. «Hat er aber in letzter Zeit nicht mehr gemacht.» «Nein, er ist nur noch allein gefahren.» «Wie wir alle, und so soll es auch sein...» «Richtig finde ich das zwar nicht...» «Aber das war nicht der Grund.» «Irgend so ein Schwein wollte ihn beim Alten verpfeifen deswegen.» «Eine Abmahnung hatte er ja schon.» «Wer diesen Job nicht aushält, soll gehen, ist jedenfalls meine Meinung. Aber... nee, klar, hat er denn gesagt, 'wer?» «Nein.» «Arme Sau.» «Ich habe jedenfalls keine Angst. So was wie das musst du aus dem Kopf kriegen, sonst wirst du verrückt.» «Wen es trifft, den trifft es.» «Man braucht schon ein bisschen Menschenkenntnis.» «Wenn ich den in die Finger kriege.» «Schicksal.»
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«Und das war ja auch nicht alles.» «Ja, der hat ihn regelrecht erpresst.» «Hat er dir das auch erzählt?» «Musste stangenweise Zigaretten abdrücken an dieses Schwein.» «Aber wer es war, wollte er nicht sagen.» «Einer von uns jedenfalls.» «Womöglich sogar jemand, der jetzt hier unter uns ist.» «Auch kein schöner Gedanke.» «Das Schwein.» «Hast du gesehen, wie er ausgesehen hat?» «Das sah nicht gut aus.» «Nein, kein schöner Anblick.» «Der ganze Kopf... wie ein aufgeplatzte...» «Igitt, hör auf...» «Ob er wohl jemals wieder...» «Er hat auch Familie. Wir müssen für ihn sammeln.» «Das war ein Schädelbasisbruch, mindestens.» «Hat jemand den Alten angerufen?» «Ich habe das auch mal erlebt», sagte der Coyote. «Wann?» «15. Juli 1961, ein Samstag.» «Und das sollen wir jetzt glauben?» Chris beobachtete den Coyote aus der zweiten Reihe, in die sie sich vorsichtshalber zurückgezogen hatte. Er war weiß im Gesicht, fast durchsichtig, und seine Gestalt umgab ein Licht wie auf Bildern von der Mondlandung, unwirklich, Licht wie hundert Mal umgelenkt und gereinigt von allem, was nicht Welle war. «15. Juli 1961, Leesville, Louisiana...», sagte der Coyote. «Klar. Erzähl mehr.» «... Leesville, Highway 28 Richtung Alexandria, kurz hinter der Abfahrt nach Fort Polk...»
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«Verarschen können wir uns selber.» «Hat eigentlich jemand den Alten angerufen?» «... aber du kommst nicht mehr dazu, es geht einfach zu schnell, und es waren Weiße, keine Nigger. Ich nehme keine Nigger mit, nicht für noch so viel Geld, nicht mal heimlich, wenn keiner etwas davon mitkriegt...» «Hör auf mit dem Scheiß, das ist nicht komisch...» «... Highway 28, kurz hinter der Stelle, wo es rechts nach Fort Polk abgeht, es waren Weiße, keine Nigger, und du kommst nicht mehr dran. Ich hatte eine kleine 38-er unter dem Sitz, Stupsnase, nie gebraucht, es waren Weiße, und es waren zwei...» «Spinner.» Der Coyote hatte sich abgewandt und ging aus dem Kreis der Scheinwerfer auf seinen dunklen Wagen zu. Und Chris, ehrlich, Chris in der zweiten Reihe hätte später schwören können, dass das Licht seines Zippo-Feuer-zeugs, mit dem er sich eine Zigarette ansteckte, durch ihn hindurch schien unter dem zugigen Himmelsraum und Louisanas wachsam lodernden Sternen. «... aber das geht so schnell, da kommst du nicht mehr dran», murmelte der Coyote weiter. «Und wofür das alles? Ich hatte nicht mal zwanzig Dollar in der Tasche, nicht mal zwanzig Dollar, selbst an diesem Samstag, 15. Juli 1961, nur noch diese eine Fahrt, dachte ich, Highway 28, lag ohnehin auf meinem Weg...» «Dieser Blödmann. Der geht mir schon die ganze Zeit auf den Sack mit seiner Cowboy-Masche...» «Aber wo ist er denn hin? Ich sehe ihn gar nicht mehr.» «Der Wagen ist auch weg.» «Dieser Spinner.» «Apropos Wagen. Was machen wir eigentlich mit Stra-bos Wagen?» «Mike's Auto-Himmel.» «Witzig.»
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Zurück in ihrem Taxi, hörte Chris ihre Mailbox ab. Es war nichts drauf, nur ein Schluchzen und nach einer ganzen Weile Gudruns tränenerstickte Stimme: «Chris, ich habe was angestellt, ich glaube, ich habe was angestellt, Chris... Chris! Komm her, bitte. Chris!» Dann nur noch Weinen, bis sich nach zwei Minuten das Band abschaltete. Sie gab Gas. «... Capitaine, Capitaine, voyage ton flaaaag...»
Ungeschützt von der Herde setzte sie auf ihren ausgeleierten Stoßdämpfern über Kreuzungen hinweg, den rötlichen Blitz in den Augen, durch die heiße Nacht, in der sich die Kräfte des Bösen immer dichter zusammenballten, bis sie in die stille Straße einbog und direkt vor dem Gartentor bremste. Code? Was war der Code? Sie sah Licht im Haus. Sie lief an der Seite unter den Kastanien entlang, tauchte ein in die Jasmin-Hölle, diesen wunderschönen Duft, den sie nie wieder riechen wollte, und zum Glück stand der Wintergarten offen: Willkommen, wir haben schon mal angefangen, sagten die Kräfte des Bösen. Durch den Wintergarten, in dem die Xena-Lampen umgefallen waren, vorbei am Esszimmer unter den blauen Tüchern wie in Aidans Palast, Niemandsland, das alle «Gutheit» aufgesaugt hatte, fand sie ihn in der Halle der spritzenden Hirne. Er lag (jugendlich, fast sympathisch, wenn man nicht wusste, was Chris wusste) in einer Blutlache und bewegte den Kopf, als sie sich näherte. «Nicht!», stöhnte er. «Nicht!» Deshalb ging sie nicht näher, sah aber, dass hinten, am Ende des Korridors, die Kellertreppe erleuchtet war. Ein leichter Brandgeruch lag in der Luft. «Gudrun...? Gudrun...?» Sie kauerte in einer so merkwürdigen Haltung vor dem Sofa für die bösen Mädchen, die Frau mit den schwarzen Haaren (die Nette, so glaubte Chris, die Gudrun liebte, weil sie ihren Bruder hasste), dass sie erst nicht wahrhaben wollte, dass sie tot war, und sich das auch gar nicht vorstellen konnte. Wie viele ihrer Generation hatte sie im Laufe ihres Lebens an die vierzigtausend Tote gesehen, im Fernsehen, aber keine einzige Leiche. Aber das war eben der Unterschied. Das Haar
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der Frau fühlte sich an wie eine Perücke, als sie sie umdrehte, aber es war keine Perücke, sie war nur tot. Und im ersten Moment dachte sie nur: «Nee, ne? Das glaube ich jetzt nicht.» Doch die Kräfte des Bösen beeindruckte solche Ignoranz nicht. Chris stürzte die Kellertreppe hoch. «Gudrun! Gudrun!» «Da bist da ja endlich», sagte Gudrun, als Chris sie erreichte. Sie kniete neben der blutüberströmten Gestalt auf dem Boden. Sie hatte ihre weite schwarze Hose und die karierte Bluse an, als wollte sie noch ausgehen, und ihre Hand durchsuchte seine Taschen. «Na, komm schon, gib mir deinen Schlüssel, Mistkerl.» «Gudrun, was ist passiert?» «Das siehst du doch.» Sie stand auf, warf den Autoschlüssel in die Luft und sagte: «Danke schön.» Und zu Chris sagte sie: «Komm, gehen wir.» «Was ist denn los, Gudrun? Sag doch was!» «Wo bist du gewesen, Chris-Christine? Ich habe auf dich gewartet. Du hattest wieder dein Handy ausgeschaltet, nicht wahr? Aber ich merke das. Tu das nicht noch mal. Und fass mich nicht an. Gehen wir.» «Wohin willst du denn gehen?» «Weg. Und fass mich jetzt nicht an.» «Aber im Keller liegt eine Tote.» «Na und? Da ist sie nicht die Einzige, da unten.» «Aber wir können ihn hier nicht so liegen lassen...» «Wieso nicht?», sagte Gudrun. «Oder glaubst du, er würde mich nicht genauso verrotten lassen? Stimmt doch, Mistkerl, oder? Du hast es doch auch schon versucht.» Sie trat gegen ihn, und er stöhnte auf. «Siehst du, er weiß, dass ich Recht habe. Aber ich bin wiedergekommen. Und diesmal bin ich schneller.» «Gudrun, du kannst jetzt nicht weglaufen. Es gibt für alles eine Erklärung...» «Stimmt, aber die will keiner hören. Nicht wahr, Mistkerl? Das habt ihr euch schön ausgedacht.»
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«Aber sie werden dich finden, Gudrun, und dann wird alles noch schlimmer. Ich habe Angst davor, Gudrun, ich will das nicht, ich will dich nicht verlieren. Komm her, bitte...» Chris versuchte, sie festzuhalten. «Geh mir aus dem Weg.» «Es ist mir egal, wie lange es dauert. Wir fangen noch einmal von vorn an, bitte. Ich warte auf dich. Aber du darfst jetzt nicht weglaufen. Sie haben dich doch schon einmal gefunden, in Frankreich... Das ist doch kein Film hier, begreif das doch...» Im selben Augenblick spürte sie, wie etwas Weiches, Ekliges von hinten in ihre Kniekehlen stieß und sie zu Fall brachte, während sich gleichzeitig eine blutige Masse mit all ihren Organen über sie wälzte und Chris aufschrie vor Ekel, als sie sein blutgetränktes Hemd an der Haut spürte, seinen Atem auf ihrem Gesicht, der nicht von ihr abließ, seine grauen Augen, die nur ein Ziel hatten, sie festzuhalten, sosehr sie auch um sich trat, bis draußen erst der Mercedes und dann ein entsetzliches Scheppern zu hören waren und ein Gebrüll vor Schmerz und Triumph nah an ihrem Ohr, obwohl sie sich im selben Moment befreien konnte, zur Tür lief, über den Kiesweg bis zum Tor, wo ihr zerbeultes Taxi quer zur Straße stand, obwohl sie es da nicht abgestellt hatte, und sie nur noch auf eine leere Straße starrte, schwer atmend und über und über mit Blut besudelt, als hätte es ihr das Herz zerrissen. «Also noch mal von vorn», sagte Ranger. «Um 22 Uhr 30 hattest du die Fahrt zum Krankenhaus.» Sie saßen im Büro der Sport-Fische. Es war jetzt schon das dritte Mal in vier Tagen, und immer stellten sie dieselben Fragen. Chris jedoch fühlte sich so leer und tot, dass sie für den Rest ihres Lebens diese Fragen hätte beantworten können, denn solange sie fragten, war Gudrun noch irgendwie da. Sie nickte. «Und der Überfall auf Ihren Kollegen war wann?» «Fragen Sie doch nach», sagte Chris. «Und die Sache hat wie lange gedauert?» «Etwa bis ein Uhr, kann auch später gewesen sein, ich weiß nicht.» «Mädchen, du gehst uns auf den Keks», sagte Tonto.
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«Er behauptet aber, du wärst dabei gewesen», sagte Ranger. «Rein rechnerisch könnte es tatsächlich noch sein, deshalb überleg genau.» «Aber ich war dabei, ich bin nur zu spät gekommen.» «Und weshalb finden wir dann sein Blut auf deinen Sachen?» «Ich habe Ihnen erklärt, wie es war. Was soll ich noch sagen?» «In welchem Verhältnis standest du eigentlich zu der Frau?» «Hat er dazu auch etwas gesagt?» Und als Ranger darauf keine Antwort gab, sagte sie: «Sie war eine Stammkundin.» «Und diese Stammkundin ruft dich mitten in der Nacht an, und du kennst den Weg durch einen Hintereingang und du findest dich auch im Haus bestens zurecht... Was wollte sie denn von dir?» «Taxis laufen vierundzwanzig Stunden am Tag», sagte Chris. «Mädchen, du gehst uns auf den Keks», sagte Tonto. Es hatte endlich angefangen zu regnen, erst leicht, dann immer stärker, schließlich troff es von den Hauswänden, rauschte durch die Kanäle, flutete Unterführungen, die Autos krochen durch die Straßen, Menschen flüchteten vor dem Regen und sahen nichts. Chris war das recht. Sollte es sie wegspülen. Chris war das recht. So bemerkte auch niemand, dass sie den ganzen Weg über heulte. Nur für das letzte Stück, völlig durchnässt, nahm sie den Bus, wo sie mit der flachen Hand über die beschlagene Fensterscheibe fuhr und hinaus auf die Straße starrte, die mit jeder Haltestelle ein Stück dunkler wurde, bis sie fast zu Hause war. Was ihr beim Öffnen der Tür als Erstes auffiel, war der Lichtschein der lodernden Xena-Lampen. «Überraschung», sagte Gudrun vom Wohnzimmer aus. «Ich bin hier.» Sie stand vom Bett auf, kam auf Chris zu. «Ich dachte, du kommst nicht mehr.» «Das dachte ich auch», sagte Chris und legte wortlos ihren Kopf auf Gudruns Schulter. «Du bist ja ganz nass.» Gudruns schmale Finger berührten ihre Brust. Doch dann: «Oops, was haben wir denn hier? Nett. Danke schön.» Sie hatte den Stunner in der Hand.
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Chris wich unwillkürlich einen Schritt zurück. «Gudrun, lass den Blödsinn. Das Ding ist gefährlich.» «Blödsinn? Nein. Es ist der alte Trick. Chris-Christine, du hast nichts dazugelernt. Weißt du noch, unsere erste Begegnung, der erste Abend, deine Pistole?» «Ja.» Gudrun näherte sich mit dem Stunner, und Chris wich weiter zurück. Im unruhigen Geflacker der Xena-Lampen bewegten sie sich im Kreis, Gudrun vorwärts, Chris rückwärts, wie bei einem Tanz. «Hast du dich eigentlich schon am ersten Abend in mich verliebt?» «Ja.» «Ich mich auch. Dabei warst du so gemein zu mir. Ich weiß sogar noch, wie du mich zum Weinen gebracht hast. Und später hast du mich betrogen, Chris-Christine.» Sie sagte das ruhig, beinahe zärtlich. «Ich hätte es wissen müssen.» «So war das nicht», sagte Chris. «Komm, gib das Ding her.» «Oh-oh, Finger weg, das würde ich lassen. Du nimmst mich immer noch nicht ernst, Chris-Christine. Warum hast du den anderen immer mehr geglaubt als mir? Was habe ich dir getan? Warum warst du nicht da, als ich dich gebraucht habe?» «Aber das stimmt doch nicht...» «Warum hast du mich allein gelassen, Chris, allein... allein... allein!» Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie nicht mehr damit gerechnet. Dass Gudruns Hand tatsächlich vorschnellen, die beiden Zähne des Elektrostunners tatsächlich zubeißen könnten und ein Blitz durch ihren Körper schoss, der in Lichtgeschwindigkeit sämtliche Muskeln zu glühenden Eisenstangen zerschmolz, so fühlte es sich an. «Oops!», sagte Gudrun, als Chris nach hinten aufs Bett fiel, unfähig, sich abzufedern, unfähig, etwas anderes zu denken als diesen knochensplitternden Schmerz, der die Neuordnung ihres gesamten Organismus anstrebte, sie in eine Rennstrecke für Krämpfe verwandelte, und sie, je öfter Gudrun die knatternden Elektroden auf sie niederstieß, weiter entmenschlichte, bis nur noch ein zuckendes Skelett von ihr übrig blieb.
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«Na, komm schon, du Mistkerl», hörte sie, als Gudrun versuchte, ihre Arme nach hinten zu biegen, «oder willst du noch mehr?», und sich erst um das linke, dann um das rechte Gelenk eine Handschelle schloss, ein Geräusch wie eine Ratsche. Sie wagte noch nicht, irgendetwas außer ihren Augen zu bewegen, aber sie spürte, dass die Handschellen durch den Metallrahmen des Bettes liefen und dass sie gefangen war. Zumindest schwiegen die Blitze, und das war viel wert. Sie schaute zu Gudrun hoch, die keuchend auf ihrer Brust saß. Goldene Reflexe der Xena-Lampen tanzten auf ihrem Haar und auf ihren Wangen. Obwohl ihr Gesicht im Schatten lag, sah Chris, dass sie weinte. Jetzt wird alles gut, dachte sie. Gudrun beugte sich nach vorn, umfasste Chris' Gesicht. Ihr Haar fiel übers Gesicht, und sie waren zusammen wie unter einem Wasserfall, während ihre Tränen Chris' Gesicht benetzten. Und immer wieder, wie in größter Verwunderung, berührte sie ihr Gesicht und sagte: «Es hätte so schön werden können mit uns, so schön.» In diesem Moment hatte Chris vergessen, dass sie sich nicht rühren konnte. Sie dachte nur: Beauty! Schönheit. Und Gudrun hatte sie gefesselt, weil sie sie wirklich haben wollte. Sie dachte: Dann mach schon, ich bin hier, nimm mich. Und öffnete ihre Lippen, als sie Gudruns Mund spürte, ich bin hier... als Gudrun mit einem wimmernden Laut zurückschreckte und mit dem linken Ellbogen gegen die linke Xena-Lampe stieß. Und vielleicht war dies wirklich das Allerschlimmste, nicht, dass ihr, Chris, am Strand nichts eingefallen war, das sagte man oder man sagte es nicht, das Allerschlimmste war, dass Gudrun sie jetzt aus denselben panischen Augen ansah wie damals den Fön, wie den Spiegel, wie den duftenden Jasmin mit Blüten wie kleine weiße Sterne, weil die Kräfte des Bösen endlich auch in ihr, Chris, angekommen waren und sie übernommen hatten, das war das Allerschlimmste, das kein Zauberwort je wieder rückgängig machen konnte. Das tat so weh. Und weil Gudrun schon im nächsten Augenblick verschwunden war. Weil sie, Chris, sie, Gudrun, nicht verdient hatte, weil sie, ohne es zu wissen, längst ebenfalls zu den Kräften des Bösen gehörte. Sie wusste das alles, sie erwartete nichts, aber es tat so weh.
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Denn schau dich um. Es hätte so schön werden können. Beauty! Schönheit. Alles strebte danach, nach einer Neuordnung, und da kam es auf jede 0,00000000000000-00000000000000000000000000001 Sekunde an. Die lodernde Xena-Lampe zum Beispiel, von Gudruns Ellenbogen angestoßen, hätte standhaft bleiben können wie der Ritter der Münzen, und in einer bestimmten Phase von 0,0000000000000000000000000000000000000000001 Sekunden sah es auch so aus. Dennoch, sie tat es nicht, weil sie sich für die Schönheit entschied, die wehende Flamme, Capitaine, Capitaine, voyage ton flag, was sie nämlich auch sein konnte, und dann sogar ihre Schwester von rechts mitriss, was Dreifüße normalerweise nicht tun, das lag in der Natur des 120-Grad-Winkels, es sei denn, jemand wie Chris hatte das Potenzial ihrer Schönheit schon früh erkannt und ihre Füße am Fußende des Futon-Betts von Anfang an symmetrisch ausgerichtet. So kam es, dass sich die wehende, lohende Flamme der rechten Xena-Lampe wie eine Springflut aus Feuer über den runden Wollteppich ergoss, ein Geschenk von Gudrun, und die linke in ihre alte Xena-Kiste. Aber keine Panik, wollte sie sagen, es handelt sich nur um zwei stationäre Brandherde, lustig anzusehen und im Grunde harmlos, weil es nur zwei Xena-Lampen sind, die sich für die Schönheit entschieden haben. Chris zerrte nicht einmal an den Handschellen, als beißendes Qualmgewölle bereits die obere Hälfte der Dachschräge ausfüllte und langsam auf sie zukroch. Überhaupt, der Brandgeruch bedeutete einen Scheiß. Beispiel: Der Sommer, in dem sie mit Tina in Portugal war, sechs Wochen, nach denen ihnen die Siedlung auf einmal so klein vorkam, als sie mit Rucksäcken endlich wieder im Blauen Block ankamen und die Feuerwehr vor der Tür stand, weil jemand Feuer gerochen hatte. Bullshit, es handelt sich nur um eine etwas schneller ablaufende Oxidation. Und wie sie gerade im richtigen Moment kamen, weil es nämlich Tinas Wohnung war, aus der der Brandgeruch drang, genauer gesagt die Wohnung von Tinas Mutter, sodass die Feuerwehr die Tür nicht aufbrechen musste, was im Blauen Block laufend vorkam, brauchst dir bloß den Flur anzusehen, irgendjemand trat immer irgendeine Tür ein, Polizei, Feuerwehr, besoffene Ehemänner, Gang-Mitglieder, die etwas zu besprechen hatten, hallo, willkommen und: Überraschung! Es war nur ein riesiger Haufen Müll,
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in dem Tinas Mutter lag, weil sie das gern machte, Sachen sammeln und zugucken, wie über ihr Delirium allmählich ein schneeweißer Pelz wuchs, ein Pelz aus Pilz, der alles neu machte, alles eine Frage der Perspektive, weil es beschissene Mütter wahrscheinlich in unheimlich vielen Variationen gab, genauso wie Schönheit, Beauty! Und wo der Feuerwehrmann nur meinte: «Das verbuchen wir jetzt unter Erfahrung!» Also rückt wieder ab, ihr braven Brandbekämpfer, mir geht's gut, ich bin nur traurig, zerrt nicht so an mir, alle zerren immer nur an mir, und macht nicht solchen Krach, ich will nur ein bisschen träumen. «Mund auf, Augen zu...» «Scheiße, jetzt krampft die auch noch...» «... ich höre nichts... raus damit, schnell... gib mir einen größeren Tubus...»
Und wie sie abends immer aus dem Bad kam, ein großes Handtuch um sich geschlungen, Überraschung! Und wie sie ihr die Augen verbunden hatte. Ihr Spiel. Mund auf, Augen zu. Na, was fühlst du? Ihre Fingerspitzen auf Chris' Lippen. Ihre Brüste. Ihre Nase. Kommst du nicht drauf? Sie war nicht darauf gekommen, weil sie, Überraschung, an diesem Abend ihre Möse rasiert hatte, sie war so kühl und fest wie ein Muskel, weil sie immer ihre Zeit brauchte. «Jetzt aber... komm, gib Gas!» «Hundert Prozent?» «Ich bitte darum!»
Und wie ihre kühlen schlanken Finger sich in ihre Fotze schlängelten, sodass sie anfangs gar nicht merkte, wie hart Gudrun sie fickte, erst später, was sich unheimlich gut anfühlte, weil sie sie den ganzen folgenden Tag spürte. «Franziskus ist dicht, aber Uni kann aufnehmen...» «Wie sieht's mit der Druckkammer aus?» «Ist zurzeit nicht verfügbar.»
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«Scheiße...»
Dann fuhr sie. Auf schönen harten Stoßdämpfern. Highway 28, der Weg nach Hause. Eckte an. Rumpelte. Und strudelte wieder frei wie in dem Pool aus leuchtendem Plasma. Ist doch gleich was ganz anderes. Hallo, Sergej, siehst du mich? Sternenkämpferin. Nein, nein, nicht, bitte! Der Gedanke, dass du Mitleid mit mir haben könntest, wäre schlimmer als der Tod. Und das Leben hier ist wohl nur für Verrückte interessant. Es musste wohl so enden, denke ich. Und knallte gegen immer neue Türen: Hallo, wir haben schon mal angefangen. «Und Professor Blenheim operiert so schnell, da hast du gar keine Zeit zum Sterben.»
Sagte Bekka, die hübsche Krankenschwester, die Xena so viel beigebracht hatte. Sollen wir tauschen? Dann wartete sie. Sie konnte das jetzt alles lesen. INTE-NSI-VABT. Aber könnte vielleicht jemand das Ding aus meinem Hals ziehen, es brennt so. Während zehn schwarz verschleierte Frauen ebenfalls vor der Schleuse standen und ein Geschrei erhoben um ihren lieben Vater, Sohn, Bruder, Onkel, Großonkel und Opa Strabo, weil sie, schicksalserprobt, einen Zusammenhang sahen: Warum jetzt die Verlegung? Und warum ausgerechnet die? Glastra! Glastra! Und spuckten ihr ins Gesicht. Meinetwegen, das kümmert mich nicht: Versammelt die Kräfte des Bösen um mein Bett. Ich bin Dahaaks Tochter, Princess of fucking Darkness. Und es ist alles nicht passiert. «Meine Damen, bitte, es geht ihm gut. Es besteht kein Änlass zur Beunruhigung. Aber Intensiv-Betten sind nun mal knapp.» «Meine Fresse, nix wie Ärger mit diesen Kanakenweibern... Warum können die das nicht den Profis überlassen?» «Das ist eben der Unterschied, mein junger Freund. Sie können es nicht, dafür ist ihre Kultur zu alt. Genauso, wie Sie immer damit rechnen müssen, dass selbst Koma-Patienten alles mitkriegen, was um sie geschieht.»
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Zum Beispiel, dass ihre Betten, Strabos Bett mit Chris' Bett, in der Schleuse zusammenstießen. «Na, auch hier? » «Ist Leben. Was ist? Emporio Donna? Bester Preis.» «Leben?» «Emporio Donna. Genug. Nicht abheben.»
Als sie erwachte, blubberte ihre Lunge bei jedem Atemzug wie ein Strohhalm in einem Glas Limo. Und ihr Hals schmerzte, als hätte man sie vom Strang geschnitten. Sie war zu schwach, um über irgendetwas nachzudenken. Sie wusste nur, dies war nicht die Hölle, sondern nur die normale graue Raumzeit ohne besondere Steigerungsmöglichkeiten. Der Alte kam schon am übernächsten Tag und brachte eine Schachtel mit New Yorker Schokoladentaxis. «Tut mir Leid wegen dem Wagen», sagte Chris mit rasselnder Stimme. «Kind, ich habe dir tausend Mal gesagt: Pass auf!» Trotzdem war er irgendwie stolz, weil die Sache, obwohl völlig falsch, sogar in der Zeitung gestanden hatte. Denn dass sie, die Kölner Taxifahrerin Christine S., eine Familientragödie verhindert hatte, war eine glatte Lüge, die aber als Wahrheit noch lange danach am schwarzen Brett im Fahrerraum hängen sollte. Wall of fame. Und Rudi kam, mit einem riesigen Strauß, stand da, linkisch wie ein Braunbär: «Hättest du doch was gesagt...» Und auch die Kommissare Ranger und Tonto kamen und hatten wieder jede Menge Fragen. «Warum willst du denn keine Aussage machen? Wir wissen ohnehin, wer es war», sagte Ranger. «Dann ist es ja gut», rasselte Chris' Stimme. «Trotzdem würde ich gerne verstehen, was wirklich passiert ist, sowohl in dem Haus als auch später in deiner Wohnung.» «Kann ich sie sehen?», fragte Chris.
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«Wen?» «Gudrun.» «Oh, das kann ich dir nicht versprechen. Ich kann dir nicht mal versprechen, dass es überhaupt zu einer Anklage kommt.» «Wo ist sie jetzt?» «In einer Klinik. Wie war denn euer Verhältnis?» «Und wie lange muss sie da bleiben?» «Das weiß ich nicht. Aber wie es aussieht, kann es länger dauern. Verrat mir doch, wie ihr euch kennen gelernt habt.» «Hör mal, Mädchen, du gehst mir auf den Keks», unterbrach Tonto. «Wir sprechen hier von versuchtem Mord, nein, von einem vollendeten Tötungsdelikt und zwei Mordversuchen, und du willst sie unbedingt sehen. Warum?» «Nein, so war das nicht», sagte Chris. «Die Handschellen hast du dir doch nicht selber angelegt - und das Feuer gelegt wohl auch nicht. Also?» «Wie war es denn?», fragte Ranger. «Heißt das, ich werde sie nie wiedersehen?» «Bedank dich lieber bei deinem Nachbarn», sagte Tonto. «Wenn der dich nicht da rausgeholt hätte, wärst du nur noch ein Häufchen Asche.» Als sich Chris daraufhin wortlos zur Wand drehte, sagte Ranger: «Okay, wir kommen morgen noch mal wieder... Bravo, Tonto.» Und eines Mittags, als sie von der Lungenfunktionsprüfung zurückkam, stand ein weiterer Strauß Blumen neben ihrem Bett, mit einer Karte, auf der lediglich stand: GU-TGEM-ACH-T. Ihr war das alles gleich. Je besser sie wieder Luft bekam, desto mehr schmerzte die Fraktur in ihrem Herzen. Sie wartete auf nichts.
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16 Liebe Tina
...ja, so war's, so hat es sich abgespielt. Die Wohnung ist wieder ganz, alles in Gelb jetzt, Rudi war echt süß, aber ich fühle mich, als hätte man mir ein riesiges Stück von mir selbst aus dem Leib gerissen, es wird überhaupt nicht besser. Vor allem weil niemand mir etwas sagt. Alle wollen etwas von mir wissen, aber niemand sagt mir etwas, nicht mal dieses Schwein von Anwalt. Als würde ich gar nicht existieren. Er hat zwar seine Aussage zurückgezogen, weil es am Ende nicht hinkommen konnte, zeitlich, meine ich, aber auch er will mir nicht sagen, wo Gudrun jetzt ist. Ich denke, manche Leute haben wirklich den Tod verdient. Und sie fehlt mir so, das glaubst du gar nicht. Ich bin wieder ganz allein und frage mich immer, was passiert wäre, wenn ich das Handy nicht ausgeschaltet hätte oder sie wenigstens nicht allein gelassen hätte, vielleicht wäre dann alles ganz anders ausgegangen. Wie auch immer, sie hat keine Schuld. Wenn ich wenigstens mit ihr reden könnte, dann würde sie das Zauberwort sprechen, da bin ich mir sicher. Der Coyote ist übrigens auch nicht mehr da, einfach weg, ohne ein Wort. Aber da ist etwas Unheimliches passiert vor zwei Wochen, als ich mich bedanken wollte bei meinem Nachbarn, dem Spanner, der immer mit dem Lichtschalter gespielt hat, immerhin hat er mir das Leben gerettet. Da war nämlich so ein Zettel an der Tür, von der Hausverwaltung, Wohnungsbesichtigung ab 17 Uhr, obwohl die Tür schon offen war. Also bin ich reingegangen, und es war tatsächlich genau die Wohnung von gegenüber, vollständig leer. Nur auf dem Fensterbrett, ungelogen, da lag eine grüne Sonnenbrille. Grüne Shades! Also das glaube ich doch jetzt nicht, oder? Aber wie du selber geschrieben hast, man muss nach vorne gucken, auch wenn es schwer fällt. Ich weiß nämlich noch gar nicht genau, was ich jetzt mache. Hey, warum kommst du nicht einfach und besuchst mich? Dann könnten wir darüber reden, du hast davon ja viel mehr Ahnung als ich. Setz dich in den Zug, Köln ist nicht so weit. Und hier ist immer ein Platz für dich. Aber etwas muss anders werden, und das kann ich eben nur selber machen. Und wer weiß, vielleicht steigt dann ja auch Xena in meinen Wagen, solche Geschichten passieren immer wieder. Du müsstest mal den Kölschen Klüngel hören, wen die schon alles gefahren haben wollen, schließlich sind wir eine Medienstadt. Nee, ohne Quatsch, manchmal frage ich mich, welcher Blödmann mich in diese Serie über den Kampf gegen die Kräfte des Bösen reingeschrieben hat, wo immer eines zum anderen führt, bis man sich total verheddert hat, wie es in echten
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Filmen nie vorkommt. Als wäre ich dauernd im falschen Film. Diese Serie hat überhaupt nur ein Gutes: dass ich offenbar nicht nur zum Sterben darin bin, bloß für eine Episode, sondern dass es weitergeht. Ich lass mich mal überraschen.
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Inhalt 1
Kodak-Moment 6 2 Keine Einstellung 37 3 Hydra 47 4 Flamenco del Silencio 66 5 Die Periode der totalen Vermeidung 101 6 Cajun Coyote 112 7 Das ist nicht mein Hollywood 121 8 Die kleinen Arkanen 134 9 Echte Profis 162 10 Time-Warp der Schande oder Princess of fucking Darkness 175 11 The number you have called 204 12 Hymne 225 13 «V» 233 14 Mein schönstes Kodak-Album 244 15 Die Kräfte des Bösen 273 16 Liebe Tina 292
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Die Taxifahrerin hört gerne Radio. Hier sind ihre Lieder: Garbage, «Queer» Dr. Ore, «Keep Their Heads Ringing» White Town, «[I Can Never Be] Your Woman» Close Encounters, «Lullaby» Bloodhound Gang, «Fire, Water, Burn» Patti Smith, «Privilege» [«Set Me Free»] Patti Smith, «China Bird» The Cranberries, «Hollywood» Eurythmies, «Sweet Dreams [Are Made Of This]» Kate Bush, «Breathing» Kate Bush, «Army Dreamers» Sylvia Juncosa, «Under The Freeway» Smashing Pumpkins, «Tonight» Steve Riley S The Mamou Playboys, «La Danse De Mardi Gras»
S/L 2003•11•15
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