Freder van Holk Die Tarnkappe
SUN KOH-Taschenbuch erscheint monatlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Ras...
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Freder van Holk Die Tarnkappe
SUN KOH-Taschenbuch erscheint monatlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1980 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13-2 41
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
November 1980
Scan by Tigerliebe 03/2006
Bearbeitet von Brrazo
1.
Eines Tages erhielten zwanzig Leute aus Manchester und Umgebung folgendes Schreiben: Sehr geehrter Herr! Besondere Umstände zwingen mich, Sie um sofor tige Übersendung von 5000 Pfund auf das Konto Nr. 845 für Maurice Poissier bei der Bank Daudier, Paris, zu bitten. Sollten Sie dieser Bitte nicht entsprechen, werden Sie in den nächsten Tagen sterben. Ich wäre Ihnen in meinem wie Ihrem Interesse dankbar, wenn Sie diese Warnung ernst nähmen. Um Ihnen das zu erleichtern, werde ich Ihnen einen Beweis meiner Macht und Rücksichtslosigkeit geben. Morgen abend werden – um Ihnen den richtigen Entschluß zu ermög lichen – in einem großen Hotel Manchesters verschie dene Leute eines plötzlichen Todes sterben. Den Na men kann ich Ihnen nicht angeben, um zu verhüten, daß etwa das betreffende Hotel von der Polizei ge räumt wird. Ich empfehle Ihnen auf alle Fälle, morgen kein Hotel in der Stadt aufzusuchen. Im übrigen stelle ich Ihnen frei, die Polizei zu verständigen, nur müßte ich Sie dann bitten, zur Sühne den doppelten Betrag umgehend nach Paris zu überweisen. Genehmigen Sie den Ausdruck meiner vorzüglich sten Hochachtung und erlauben Sie mir, auf eine Un terschrift zu verzichten.
Die Empfänger reagierten sehr verschieden auf die ses Gemisch von Höflichkeit, Drohung, Selbstbe wußtsein und Hohn. Der eine warf das Schreiben in den Papierkorb, der andere verständigte die Polizei, die meisten aber beschlossen abzuwarten, ob der Mann seine Gefährlichkeit unter Beweis stellen wür de. Fünftausend Pfund waren kein Pappenstiel, und in exponierter Stellung hatte man öfter mit Drohun gen zu tun. So leicht bekam der Kerl kein Geld zu sehen. Sollte sich jedoch eine ernsthafte Gefahr er weisen, so galten die fünftausend immer noch weni ger als das Leben. Die Polizei nahm von den ihr übergebenen Schrei ben Kenntnis, versicherte, daß sie alles tun würde und daß man sich keine Sorgen zu machen brauche. Sie schickte Sonderposten in die Hotels, zog die Ge schäftsführer vertraulich zu Rate und wartete im üb rigen ab, was der angesagte Abend bringen würde. Gar so weit konnte man sich nicht vorwagen, denn wenn irgendein Narr bluffte, konnte man sich nur lächerlich machen. Das Mißtrauen der Polizei schien gerechtfertigt. An dem fraglichen Abend gab es aus keinem der Ho tels Alarm. Erst gegen Mitternacht meldete der Geschäftsführer des »Lancaster«, eines der größten Hotels, daß sich ver schiedene Gäste wegen Übelkeit zurückgezogen hätten. 6
Die Polizei hielt das nicht weiter für wichtig, gab aber Anweisung, auf alle Fälle die betreffenden Per sonen im Auge zu behalten. Am nächsten Morgen war der Skandal da. Im »Lancaster« wurden fünfzehn Gäste – zwölf Herren und drei Damen – tot in ihren Betten gefun den. Obwohl die Polizei sofort das Hotel abriegelte und die Reporter nach Kräften belog, drang die Nachricht an die Öffentlichkeit. Die Folge war, daß noch am gleichen Tag be trächtliche Summen nach Paris überwiesen wurden. Die Polizei machte sich sofort an die Arbeit. Sämtliche Tote des »Lancaster« wurden von den Gerichtsärzten sorgfältig untersucht. Der Befund war bei allen der gleiche und lautete auf Lähmungser scheinungen der inneren Organe, die auf eine Vergif tung durch unbekanntes Gift zurückzuführen seien. Die Ärzte ließen jedoch offen, daß für die vorgefun denen Erscheinungen auch andere Ursachen als Gift vorliegen könnten. Das war ein Ergebnis, mit dem man nicht viel an fangen konnte. Kriminalkommissar Warton war mit dem Fall be traut worden. In ihm steckte noch allerhand Ehrgeiz, und so ging er mit Feuereifer an die Arbeit. Wenn fünfzehn Menschen an der gleichen geheim nisvollen Ursache starben, dann mußten sich leicht 7
andere Gemeinsamkeiten finden, die auf den Täter hinwiesen. Warton hatte zwei der Erpresserbriefempfänger zu betreuen, aber er zweifelte nicht daran, daß sich nur ein Teil der Betroffenen gemeldet hatte. Maghull und Cronton waren sehr entgegengesetzte Naturen. Maghull zahlte nicht an den Erpresser, weil er sich stark genug fühlte, um es mit dem Kerl auf zunehmen. Cronton galt als sehr geizig und verwei gerte wohl deshalb die Zahlung. Nach dem Vorfall im »Lancaster« wurde er allerdings sehr ängstlich und verbarrikadierte sich auf seinem Besitz. Warton untersuchte vor allem die Lebensumstände der Ermordeten, obwohl er sich von Anfang an nicht viel davon versprach. Es zeigte sich auch, daß die Toten aus den verschiedensten Verhältnissen stamm ten und kaum eine andere Gemeinsamkeit als die hat ten, daß sie eben an dem fraglichen Abend Gäste des Hotels »Lancaster« gewesen waren. Dieser Tod be deutete für sie ein rein zufälliges Ereignis. Darauf machte er sich an die vielversprechendste Beschäftigung. Er ließ genau feststellen, welche Nahrungsmittel und Getränke jene Gäste im Laufe des Tages und des Abends zu sich genommen hatten. Es war gar nicht so schwer, da das Personal darüber ganz genau Bescheid wußte. Kriminalkommissar Warton setzte voraus, daß der Tod durch Vergiftung erfolgt sei, und zwar auf dem 8
Weg über die Verdauungsorgane. Danach mußten die Betroffenen eine Speise oder ein Getränk zu sich ge nommen haben, die ihnen nicht bekommen war. Wenn man nun ermitteln konnte, was jene fünfzehn übereinstimmend genossen hatten, dann war erstens einmal der Giftträger ermittelt, und zweitens konnte man dann von ihm aus unter Umständen Fäden fin den, die aus dem Hotel hinausführten. Eine durchaus einwandfrei Überlegung. Leider hatten von den fünfzehn Personen fünfzehn die gleiche Suppe gegessen, fünfzehn die gleiche Nachspeise zu sich genommen, fünfzehn den glei chen Kaffee genossen und fünfzehn den gleichen Whisky mit Soda getrunken. Das war einigermaßen niederschmetternd, zumal ein paar Dutzend andere Gäste, die verschont geblie ben waren, sich die gleichen Speisen und Getränke einverleibt hatten. Immerhin, Warton gab nicht gleich auf, sondern ließ alles, was er an Speisen und Getränken in dem Hotel bekommen konnte, durch den Gerichtschemi ker untersuchen. Er machte sich den damit zum erbit terten Feind und erhielt außerdem den wenig auf schlußreichen Bescheid, daß in keiner der übersand ten Proben Gift oder ein fremder Bestandteil gefun den worden sei. Das Verhör des Personals und der übrigen Gäste, das mit größter Schärfe durchgeführt wurde, ergab 9
keine brauchbaren Hinweise. Niemand hatte etwas Auffälliges bemerkt, niemand einen Verdächtigen gesehen. Es blieb allein die bereits bekannte Feststel lung des Geschäftsführers, daß sich einige der er mordeten Personen gegen Mitternacht nicht wohlge fühlt hatten und sich deswegen in ihre Zimmer bega ben. Kurz und gut, der anfänglich so hoffnungsvolle Warton wurde immer nervöser und unruhiger. Nach dem er vierundzwanzig Stunden und länger nicht aus dem Hotel herausgekommen war, saß er im Büro des Geschäftsführers wie ein Stier, den man bis zur Er schöpfung gereizt hat, ohne ihm ein Ziel zu bieten. »Es ist, um aus der Haut zu fahren«, vertraute er seinem Kollegen Screeps an. »Nichts, nicht das Ge ringste, auch nicht die Andeutung einer Spur. Der größte und bedeutendste Fall, den wir je hier gehabt haben, zugleich aber auch der rätselhafteste. Die Leute können doch nicht an der Luft gestorben sein!« »Vielleicht doch«, warf Screeps ein. »Warum soll te die Vergiftung nicht auch eine Art Gasvergiftung sein?« »Weil man dann vor allem an der Lunge etwas merken müßte«, knurrte Warton. »Und außerdem, wie stellst du dir das vor? Wir wissen genau, was der einzelne im Laufe des Abends gemacht hat. Ich ver sichere dir, daß jeder von den Toten bis zum letzten Augenblick so dicht mit anderen zusammen gewesen 10
ist, daß eine Gasvergiftung noch unmöglicher er scheint als das andere.« »Na, dann viel Vergnügen«, wünschte Screeps und verabschiedete sich. »Du gehst doch noch nicht schlafen?« Warton schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich gehe hier nicht eher weg, als bis ich das Hotel bis aufs letzte Tüpfelchen ausgepreßt habe und die Spur finde.« »Oder bis du zusammenbrichst«, warnte sein Kol lege. »Auch das ist möglich«, brummte Warton. »Aber vorläufig ist es noch nicht soweit. Du könntest mal einem von den Kellnern Bescheid sagen, daß sie mir einen Whisky mit Soda herbringen sollen.« Screeps, der schon an der Tür stand, wandte sich erstaunt um. »Nanu, das ist doch sonst nicht dein Fall.« »Fünfzehn Tote ohne Spur sind sonst auch nicht mein Fall. Aber wenn es dir zuviel Mühe macht, dann …« »Keineswegs«, gab Screeps zurück und ging hin aus. Eine gute Stunde später spürte der Kriminalkom missar eine eigenartige dumpfe Übelkeit. »Der verdammte Alkohol«, brummte er vor sich hin und fuhr sich ärgerlich über die Stirn. Verdutzt starrte er auf seine Handfläche. Sie war 11
ganz naß von dem kalten Schweiß, den er sich von der Stirn gewischt hatte. Im gleichen Augenblick blitzte eine Erkenntnis durch Wartons Gehirn. Die Übelkeit. War es vorgestern abend nicht auch verschiedenen Leuten übel geworden, die man am nächsten Morgen tot in ihren Betten gefunden hatte? Sollte es das gleiche Gift… Warton sah plötzlich nichts mehr, es wurde ihm dunkel vor den Augen. Da begriff er, daß er das sechzehnte Opfer werden sollte, und erfaßte auch gleichzeitig, daß ihm nur noch Sekunden blieben. Sekunden – und draußen stand eine Masse Leute, die sich den Kopf über die Ursache dieser rätselhaf ten Todesfälle zerbrach. Es blieb nicht mehr genü gend Zeit, um ihnen das Geheimnis zu enthüllen. Da stand die Lösung vor ihm. Whisky mit Soda. Er hatte natürlich auch gegessen und eine Menge schwarzen Kaffee getrunken, aber das war schon viele Stunden her. Das Gift mußte entweder im Whisky oder im Sodawasser stecken. Kriminalkommissar Warton sah nichts mehr, aber ein Schreibstift befand sich in seiner Hand, und vor ihm lag ein großer Bogen mit seinen Notizen. Auf der Grenze zwischen Leben und Tod malte er schon halb im Umsinken groß über den Bogen: »Whisky un …« 12
Weiter kam er nicht. Sein Körper glitt zur Seite und schlug schwer auf die Erde. Dort fand man ihn eine Weile später. Der Gerichtsarzt stellte die gleiche Todesursache wie bei allen anderen Ermordeten fest. Kriminalkommissar Screeps übernahm die Unter suchung. Er verstand sehr wohl, daß Warton in der letzten Sekunde seines Lebens noch etwas Entscheidendes über den geheimnisvollen Fall hatte aussagen wollen. Er verstand, daß Warton eine wichtige Spur entdeckt hatte, die mit Whisky und Soda zusammenhing. Er ließ die beiden Getränke untersuchen. Der Gerichtschemiker stellte fest, daß sie nicht mehr und nicht weniger enthielten als das, was man von ihnen erwarten durfte. Weder der Whisky noch das Sodawasser enthielten fremde oder gar giftige Bestandteile. Das enttäuschte Screeps außerordentlich. Als Warton zu Grabe getragen wurde, starb Mag hull, der eine der beiden Männer, die die Polizei von dem Erpressungsversuch benachrichtigt hatten. Man fand ihn tot in seinem Arbeitszimmer, vergiftet wie alle übrigen. Screeps verlegte den Schauplatz seiner Tätigkeit dorthin, aber auch das half ihm nicht viel. Maghull war sehr unvorsichtig gewesen und hatte auf die Ge fahr wenig Rücksicht genommen. Infolgedessen hat 13
ten hundert Möglichkeiten bestanden, um ihm das Gift zu verabreichen. Einen Tag darauf starb Calbell, der zweite Diener Crontons, unter den gleichen Erscheinungen wie die fünfzehn aus dem »Lancaster«. Screeps war eine hal be Stunde nach seinem Tod zur Stelle. Er erwischte Cronton gerade noch in der Haustür. »Wo wollen Sie denn hin?« erkundigte er sich. Cronton fuchtelte unruhig mit den Händen in der Luft herum. »Fort. Ich habe mir ein Flugzeug bestellt. Keine Minute bleibe ich länger. Man ist seines Lebens nicht sicher, und die Polizei ist einfach nicht imstande, steuerzahlende Bürger zu schützen.« »Aber diesmal sind Sie doch nicht betroffen wor den?« wandte Screeps ein, nur um etwas zu sagen. »Wollen Sie mich verhöhnen?« kreischte ihn Cronton an. »Sie wissen genau so gut wie ich, daß der Anschlag mir gegolten hat. Irgendwie ist es auf Calbell gefallen, aber das nächstemal bin ich um so sicherer dran. Nein, ich verreise.« »Ich würde Ihnen davon abraten«, warnte der Kommissar. »Sie sind unterwegs genauso wenig si cher wie in Ihrem Haus.« »Das wollen wir sehen. Ich habe das schnellste Flugzeug genommen und werde mich so verstecken, daß mich niemand findet.« »Ich kann Sie aber nicht fortlassen, da ich Sie zur 14
Untersuchung benötige.« Cronton lachte nur wild auf und gab seinem Fahrer einen Schlag auf die Schulter. »Fahr los!« Der Wagen raste davon. Screeps fand nicht die Energie, Alarm zu schlagen und Cronton zurückho len zu lassen. Er erfuhr später, daß Cronton tatsäch lich bereits eine halbe Stunde später das Land im Flugzeug verlassen hatte, und noch viel später, daß diesem alten Geizkragen der richtige Einfall gekom men war. Cronton blieb am Leben. Der Diener Calbell konnte nicht mehr aussagen, es ließ sich jedoch leicht feststellen, was er im Laufe des Tages zu sich genommen hatte. Darunter befand sich ebenfalls ein heimischer Whisky mit Soda, aber das machte den Kommissar nicht mehr stutzig. Whisky mit Soda war Nationalgetränk, jeder anstän dige Mensch nahm es im Laufe des Tages in einer oder mehreren Auflagen zu sich. Und außerdem blieben ja die schon bedachten Gründe bestehen. Nach einigen Stunden sorgfältiger Arbeit wußte Screeps, daß auch Calbells Tod keine greifbaren An haltspunkte zur Lösung aller Rätsel bot. Er versuchte nunmehr auf einem gänzlich anderen Weg zum Ziel zu kommen. Der Erpresser hatte sich die Zahlungen an die Bank Daudier in Paris anweisen lassen. Über diese Bank mußte man ihn fangen können. Zweifellos 15
mußte sich der genannte Maurice Poissier – der wahrscheinlich der Verbrecher selbst war – melden, wenn er sein Geld haben wollte. Die Kriminalpolizei in Paris war bereits von War ton verständigt worden. Screeps schickte nun seinen besten Mann in die französische Hauptstadt, um die Franzosen in Bewegung zu bringen. Mulford fand folgenden Tatbestand vor: Die Bank Daudier war eine kleine, aber sehr angesehene Pri vatbank, die hauptsächlich französische Großgrund besitzer und Adlige zu ihren Kunden zählt. Der Ruf der Bank war über jeden Zweifel erhaben, ebenso der Ruf ihres Inhabers. Dieser weigerte sich entschieden, über das Konto Maurice Poissier nähere Auskünfte zu geben. Mulford mußte unverrichteter Dinge wieder abzie hen. Natürlich ließ er nicht locker. Die gesetzliche Lage war nicht ganz einfach, und es kostete ihn viel Mühe, seine französischen Kollegen zu veranlassen, alle Druckmittel gegen den Bankier anzuwenden. Man konnte eben eine französische Bank nicht ohne weiteres zwingen, zugunsten der Polizei eines ande ren Staates ihre sorgsam gewahrten Geheimnisse preiszugeben. Immerhin – nach allen möglichen Anstrengungen gab es einen beachtlichen Erfolg. Der Bankdirektor verriet, wer Maurice Poissier war. Doch Maurice Poissier erwies sich als einer der 16
angesehensten Anwälte der Stadt, den man nicht gut mit einem Verbrechen in Zusammenhang bringen konnte. Mulford suchte ihn auf, schilderte ihm nüchtern die Lage der Dinge und bat um Auskunft. Poissier befleißigte sich größter Zurückhaltung. »Sie sagen mir nichts Neues, mein Herr«, erwider te er. »Ich habe an Hand der Zeitungen die Ereignis se in Manchester verfolgt, kann Ihnen aber kaum mit Auskünften dienen. Es ist richtig, daß jenes Konto bei Daudier auf meinen Namen läuft, es ist aber nicht mein eigenes Konto, ich verwalte es nur für einen anderen. Wie Sie wissen, geschieht es nicht selten, daß jemand einem Anwalt Generalvollmacht über gewisse geschäftliche Angelegenheiten gibt.« »Hm, und wie heißt Ihr Auftraggeber?« »Das darf ich Ihnen selbstverständlich nicht sagen. Man vertraut mir und bezahlt mich dafür.« Es entwickelte sich eine Debatte, die von seiten Mulfords teilweise hitzig geführt wurde. Ihr Ergebnis war gleich Null. Der Anwalt erwies sich als noch schwieriger als der Bankdirektor. Mulford fuhr wütend nach England zurück. Später tröstete er sich, als er erfuhr, wieviel Arbeit ihm in Frankreich erspart geblieben war. Es zeigte sich, daß der Erpresser ein Kettensystem angewandt hatte. Der Bankdirektor kannte nur Poissier, der vor Mo 17
naten das Konto bei ihm eröffnet hatte. Poissier hatte das auf Grund eines schriftlichen Auftrags getan und kannte infolgedessen seinen Auftraggeber auch nicht. Er sandte gewisse Gelder auf Grund von Anweisun gen, an denen ihn letzten Endes nur die Echtheit der Unterschrift interessierte, an den angesehensten An walt einer Provinzstadt, der bei einer ebenso angese henen Bank ein Konto für einen Mann führte, der jetzt schon kaum mehr mit dem englischen Verbre cher in Zusammenhang gebracht werden konnte. Dieser Anwalt sandte die Gelder weiter an den näch sten Anwalt in einer ganz anderen Stadt, und so ging die Kette weiter, ohne daß sich genau verfolgen ließ, wer am Ende saß und das Geld in Empfang nahm. Aber auf solche Erkenntnisse kamen Mulford und Screeps erst nach geraumer Zeit. Eine Reihe von Leuten war ermordet worden, der Erpresser hatte seine Schäfchen geschoren und wur de von niemandem behelligt. Was Presse und Öffentlichkeit dazu zu sagen hat ten, ging auf keine Kuhhaut. Screeps knallte wütend seine Unterschrift unter sein Entlassungsgesuch, das ihm jedoch am nächsten Tag abschlägig beschieden wurde. Der Leiter des Kriminalamtes war vernünftig genug, nicht einen seiner besten Beamten gehen zu lassen, nur weil die Zeitungen es forderten. Es gab eben Verbrecher, die keine Fehler begingen. 18
Die Zeitungen tobten noch eine Weile, dann beru higten sie sich ebenso wie die Öffentlichkeit. Nach einigen Wochen begann über dem Fall das erste Gras zu sprießen. 2. New York. Ein nüchterner Zweckbau. In dem saalartigen nüchternen Raum war die eine Schmalwand weiße Projektionsfläche. Seitlich stand ein Sessel, davor ein Tischchen mit Telefon und Wasserglas. Im Sessel saß Sun Koh und arbeitete. Er sprach ein paar Worte in den Telefonhörer, dann erschien auf der weißen Wand die Gestalt eines Mannes. Der Mann bewegte sich, gestikulierte und sprach. Sun Koh unterhielt sich mit ihm, ohne sich aus dem Sessel zu bewegen oder das Telefon an den Mund zu nehmen. Bericht und Anweisungen gingen hin und her, dann wurde die Leinwand dunkel und das Licht wieder heller. Sun Koh griff von neuem zum Apparat, ein anderer Mann erschien. Diese Männer waren fast ausnahmslos junge Leute mit markanten Gesichtern, aber ihre Kleider und ihre Berichte zeugten davon, daß sie in den verschieden sten Teilen der Welt wohnten. Sie sprachen aus Alaska und Malakka, vom Süd 19
pol und vom Äquator, aus Kapstadt und aus Kalkut ta. Seit vierzehn Stunden saß Sun Koh ohne Unter brechung in diesem Raum und hörte die Berichte aus aller Welt. Der Schirm wurde leer. Der Ingenieur an der Ver mittlung meldete sich. »London bittet dringend um Vorrang, Sir.« »Gut, geben Sie Graham.« Ein neues Gesicht erschien auf dem Bildschirm, das noch junge, aber sehr beherrschte Gesicht eines Mannes, der ein Londoner Anwalt mit viel Familien tradition sein konnte. »Jim Wisborne wurde ermordet, Sir«, teilte er sachlich mit. »Er wurde schon seit Tagen in Liver pool von Unbekannten beschattet. Er sollte gestern nach London kommen, um den von der Zentrale an geforderten Teilbericht persönlich zu übergeben. Es handelt sich um eine Expertise über die wahrschein lichen Auswirkungen der zu erwartenden Verände rungen im Atlantik sowie über die erforderlichen Be reitstellungen an der Westküste. Für diesen Bericht schien uns die Post nicht zuverlässig genug zu sein. Wisborne fuhr über Stockport, eine kleine Stadt süd lich von Manchester. Er wurde in Stockport tot am Steuer seines Wagens gefunden. Der Bericht, den er in fünffacher Ausfertigung bei sich tragen mußte, war verschwunden.« 20
Sun Koh ließ sich nicht anmerken, wie stark ihn die Mitteilung traf. Wenn ein derartiger Bericht in die Hände von Gegnern kam, konnte das nicht nur unan genehmes Aufsehen erregen, sondern auch gewisse Pläne ernstlich gefährden. In diesen Berichten stand manches, was zu Gegenmaßnahmen herausforderte und sie ermöglichte. Vielleicht konnte sogar die ganze Tarnung, die er über das Projekt gelegt hatte, von ei nem derartigen Teilbericht aus aufgerissen werden. »Ich war selbst in Stockport«, fuhr Graham fort. »Wisborne starb ohne erkennbare Ursache. Auf die gleiche Weise starben vor einigen Wochen in Man chester fünfzehn Personen, die zufällig im gleichen Hotel wohnten. Nach Meinung der Polizei war ein Erpresser am Werk, der mit diesen Morden seine Möglichkeiten ausweisen wollte. Eine Beziehung zu Wisborne war bisher nicht festzustellen. Ich mußte Nachforschungen noch unterlassen, um die Auf merksamkeit nicht auf mich und das hiesige Büro zu ziehen, erbitte jedoch Anweisungen.« Sun Koh blickte nachdenklich auf den Bildschirm. Nach einer Pause sagte er: »Sie sichern Ihr Büro und kümmern sich nicht um die Angelegenheit Wis borne. Ich schicke jemand nach Stockport. Danke, Mr. Graham.« »Danke auch…«, setzte Graham an, aber da ver schwand sein Bild schon. Sun Koh drückte auf einen Knopf. 21
»Ich möchte Hal sprechen.« Zwei Minuten später trat Hal Mervin über die Schwelle. »Setz dich und hör zu«, sagte Sun Koh. Hal setzte sich, und Sun Koh wiederholte ihm, was von Graham gehört hatte. »Der verschwundene Bericht ist außerordentlich wichtig«, sagte er dann. »Wir müssen versuchen, ihn schnellstens wieder in unsere Hand zu bekommen. Ich kann heute und morgen noch nicht weg. Du fliegst mit Nimba zusammen nach England. Versu che, in Stockport alle nur erreichbaren Einzelheiten zu erfahren, damit ich mich damit nicht erst aufzu halten brauche. Notfalls mußt du auch in Manchester und Liverpool nachforschen. Ich möchte alles über Wisbornes Ermordung erfahren, möglichst auch den Namen seines Mörders, ferner, wer ihn beschattet hat und wohin die Papiere gegangen sind. Sieh zu, was sich erreichen läßt.« Hal reckte sich. »Gemacht, Sir. Ich bringe Ihnen die ganze Ge schichte auf dem Servierbrett. Die Londoner Polizei wird Scotland Yard in ein Waisenhaus verwandeln, wenn sie erfährt, was ich …« »Verschwinde! Und keinen Unfug, Hal.« »Für wen halten Sie mich, Sir?« fragte Hal würdig und ging. Eine halbe Stunde später waren Nimba und Hal 22
bereits unterwegs. Sie flogen jedoch gegen die Sonne und die Zeitdifferenz, so daß es in Stockport bereits früher Nachmittag war, als Hal das Büro des zustän digen Kommissars betrat. Kommissar Brooks war ein beleibter älterer Mann mit einem derben Gesicht. Man sah ihm an, daß er zur Polizei einer kleinen Stadt gehörte. Er besaß ei nen gutmütigen Charakter, der sich hinter einem bar schen Wesen versteckte. Seine Augen blinzelten ge legentlich recht schlau, doch erhob er selbst keinen Anspruch darauf, ein Sherlock Holmes zu sein. »Ich komme in der Angelegenheit Wisborne«, er klärte Hal ihm höflich, während er einige Papiere auf den Schreibtisch legte. »Hier sind meine Ausweise. Die International Manufacturing Company, für die Wisborne tätig war, hat mich beauftragt, die Um stände seines Todes aufzuklären.« »Dich?« platzte Brooks staunend heraus. »Hm, Sie – meinetwegen. Teufel noch mal, ich muß etwas im Auge haben. Mir kommt es gerade so vor, als steht da so ein halbflügges Bürschchen vor mir und …« »Ihre Schuld«, unterbrach Hal kühl. »Wenn Sie mir einen Stuhl angeboten hätten, würde ich nicht stehen, sondern sitzen. Im übrigen regen Sie sich nicht auf. Wir brauchen unsere erwachsenen Leute für andere Aufgaben. Für einen Mord in Stockport genügt ein Lehrling.« »Verdammt!« fluchte der Kommissar. »Wollen 23
Sie etwa im Ernst sagen, daß Sie hergekommen sind, um – da lachen ja die Spatzen!« »Na, und wenn?« fragte Hal. »Lassen Sie die Spat zen doch lachen. Haben Sie inzwischen feststellen können, woran Wisborne gestorben ist?« »Da soll doch …«, brauste der Kommissar auf, fing sich aber, kniff die Augen zusammen und brummte: »Also gut, er ist an überhaupt nichts ge storben. Kein Schuß, kein Stich, kein Hieb und kein Gift. Alles in bester Ordnung, nur eben tot.« »Wie bei den fünfzehn Leuten in Manchester?« »Genau so. Tot ohne Todesursache. Die Herren Sachverständigen vermuten ein unbekanntes Gift, aber sie hätten es nur mit dem Sodawasser zu sich nehmen können, und das war ungiftig, scheidet also aus.« »Na, na?« »Wieso na, na?« »Ich meine, daß Sie das Sodawasser nicht aus scheiden können, wenn es schon verdächtig ist. Es könnte sich doch um ein flüchtiges Gift handeln, das zwar im frischen Wasser enthalten war, nicht mehr aber im abgestandenen.« Brooks schielte in Hals Gesicht. »Hm? Gar nicht so dumm. Das wäre natürlich eine Möglichkeit.« »Und außerdem sind doch Art und Natur des Gif tes noch gar nicht festgestellt worden.« 24
»Na und?« »Oh, nicht viel. Ich frage mich nur, wieso man ein Wasser für ungiftig erklären kann, wenn es sich um ein unbekanntes Gift handelt, das sich den üblichen Methoden entzieht?« Der Kommissar reckte jetzt den Kopf weiter hoch und stierte Hal an. Erst nach einer ganzen Weile sag te er: »Verdammt will ich sein, wenn das nicht eine vernünftige Überlegung ist. Setzen Sie sich. Was wollen Sie eigentlich?« »Vor allem den Obduktionsbefund, möglichst auch die Befunde aus Manchester. Ich denke, daß wir am schnellsten vorankommen, wenn wir die Todes ursache feststellen. In einigen Stunden können wir Bescheid wissen. Ich habe da einen Bekannten in London, der sich auf solche Sachen versteht. Haben Sie den Befund hier?« Brooks zögerte, nahm dann aber ein Blatt aus der Akte, die vor ihm lag, und schob es Hal hin. »Da. Für die Toten in Manchester gilt das gleiche. Wahrscheinlich sollte ich Sie einfach hinauswerfen, aber…« »Ich möchte telefonieren. Würden Sie Ihre Zentra le anweisen, eine Verbindung mit London, Mayfair 14 67 25, herzustellen?« Brooks sah aus, als wollte er in die Luft gehen, aber er schaffte es, den Wunsch seines Besuchers zu erfüllen. Er war sichtlich entschlossen, glühende 25
Kohlen auf dessen Haupt zu sammeln, bevor er den jugendlichen Besucher in Kleinholz verwandelte. Hal kümmerte sich nicht darum. Er telefonierte mit London und wußte, daß Graham sofort mit der Zentrale in der Sonnenstadt in Verbindung treten würde. »So, das wär’s«, sagte er, während er den Hörer ablegte. »Jetzt kann es eine Stunde oder einen ganzen Tag dauern, aber Bescheid bekommen wir bestimmt hierher. Vielleicht könnte ich inzwischen die Akten einsehen?« Der Kommissar schob ihm die Mappe zu und knurrte grimmig: »Auch das, mein Freund. Wir ha ben hier schon immer einen Kundendienst gehabt, der sich sehen lassen konnte. Wenn Sie sich aber einbilden, daß Sie hier verschwinden können, und ich sitze da und warte die nächsten vier Wochen dar auf, daß einer anruft und mir erzählt, wie diese Leute umgebracht wurden, dann …« »Regen Sie sich nicht auf«, empfahl Hal gleich gültig und vertiefte sich in die Akten. Brooks quittierte mit einer Verwünschung und schwieg. Hal ersah aus den Akten, daß Wisborne in der Cheadle-Street gefunden wurde, am Steuer seines Wagens. Wenig später fiel ihm der Straßenname noch einmal auf. In der Cheadle-Street wohnte ein Chemiker Dr. Staple, der leitende Chemiker der So 26
dawasserfabrik, von der das verdächtige Sodawasser geliefert worden war. Bestand hier ein Zusammen hang? »Liegt die Cheadle-Street am Weg nach London?« »Wieso? Nein.« »Was wissen Sie über diesen Dr. Staple?« »Nichts«, erwiderte Brooks mit einiger Schärfe. »Bilden Sie sich nichts ein. Die gleiche Straße – na ja. Was ist das schon? Staple ist ein angesehener Mann mit gutem Einkommen und eigenem Vermö gen, dazu ein stiller Junggeselle. Er hat mit der An gelegenheit nichts zu tun.« »Vorausgesetzt, daß nicht das Sodawasser vergif tet war, nicht?« »Hm, das allerdings«, gab Brooks zu. Eine Viertelstunde später kam der erwartete Anruf aus London. Die Leute in der Zentrale mußten aus dem Handgelenk heraus Bescheid gesagt haben. Hal strahlte, als er den Hörer ablegte. »Wir haben sie!« »Die Todesursache?« »Ja.« »Na und?« »Wasser.« Brooks schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verflucht und zugenäht, wenn Sie nicht so fort…« »Schon gut, schon gut«, unterbrach Hal sachlich. 27
»Die Vergiftung wurde tatsächlich mit Wasser be wirkt. Unser gewöhnliches Leitungswasser ist Ihnen bekannt, ebenso dessen chemische Zusammenset zung aus Wasserstoff und Sauerstoff. Physikalisch gesehen besteht das Wasser aus Atomen. Diese Ato me haben ein bestimmtes, schon lange bekanntes Gewicht. Vor kurzem hat man nun entdeckt, daß es auch Wasser gibt, das ein höheres Atomgewicht hat als das gewöhnliche Wasser. Es unterscheidet sich in nichts von diesem als eben durch sein Atomgewicht. Das schweratomige Wasser kommt als üblicher Be standteil in jedem gewöhnlichen Wasser vor, aller dings zu geringen Prozentsätzen. Man kann es ohne große Schwierigkeiten abtrennen, also reines schwe ratomiges Wasser gewinnen, wobei Sie aber den Be griff Schwierigkeiten vom Standpunkt des Forschers beurteilen wollen. Solches reines schweratomiges Wasser hat die Eigenschaft, pflanzliche wie tierische Lebewesen durch Vergiftung und Lähmung der inne ren Organe in der an den Ermordeten bekannten Art zu töten.« Brooks umkrampfte die hölzernen Lehnen seines Sessels so scharf, daß seine Handgelenke weiß wur den. Dann stieß er heraus: »Donnerwetter – Donner wetter – das ist eine Lösung!« Dann sprang er auf und schüttelte Hal an den Schultern. »Mensch, Sie sind ja das reinste Wunderkind!« 28
»Wundermann, bitte«, verbesserte Hal lachend. »Dann wäre das Sodawasser …« »Schweratomiges Wasser. Der Unterschied gegen über gewöhnlichem Wasser dürfte nicht zu bemerken gewesen sein.« »Dann muß der Verbrecher in der Sodafabrik stek ken!« »Sehr wahrscheinlich!« Brooks stutzte. »Aber – der Mann müßte dann selbst einiges auf dem Kasten haben, wenn er eine solche Entdek kung …« »Warum nicht? Das wäre nicht der erste, der seine Begabung und sein Wissen mißbraucht. Ein kluger Kopf muß der Erpresser schon sein, aber ein kluger Kopf ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, der Mann müßte wissen, was er tut. Es ist traurig, wenn einer von der Natur so ausgezeichnete Geschenke bekommt und sie infolge eines minderwertigen Cha rakters aus Gewinnsucht und Eigennutz so in den Dreck zieht.« Brooks drohte mit der Faust. »Na, der kann sich auf etwas gefaßt machen. Es wird nicht weiter schwer sein, ihn festzustellen, und dann – gnade ihm Gott. Ich werde selbst zur Fabrik hinausfahren.« »Sie sind wohl verrückt?« entfuhr es Hal. »Sie würden doch alles verderben. Was denken Sie denn, 29
was passiert, wenn dort auf einmal ein Kriminalbe amter auftaucht? Der Mann ist doch sofort gewarnt und haut ab, bevor Sie zugreifen können.« »Ich würde ihn schon festhalten.« »Wie denn? Wenn Sie nun hinkommen und finden in der Fabrik, wie anzunehmen ist, mehrere Herren, die als Täter in Frage kommen könnten? Sie können doch nicht drei oder vier ohne Grund einsperren. Sie müssen warten und horchen und Beweise sammeln, und inzwischen gewinnt der Mann Zeit. Nee, lassen Sie mich nur lieber hinfahren, und tun Sie vorläufig so, als ob Sie von nichts wüßten. Mich hält keiner für einen Beamten, so daß ich in aller Gemütsruhe her umschnüffeln kann. Wenn alles geklärt ist, können Sie immer noch eingreifen.« Brooks dachte nach und fügte sich. »Gut, Sie haben recht. Ich glaube, Sie schaffend besser als ich, obwohl ich offengestanden anfangs wenig von Ihnen gehalten habe.« »Mancher gewinnt bei näherer Bekanntschaft«, feixte Hal. Dr. Staple bewohnte ein zweistöckiges Villenhaus, das gut und gern für zwei sechsköpfige Familien Platz geboten hätte. Viel konnte man von ihm nicht sehen, da es dicht mit alten Bäumen umstanden war. Die Nachbarhäuser lagen in größerem Abstand, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es überhaupt keine Bauten. 30
Hal und Nimba warteten. Sie beobachteten das Haus aus einiger Entfernung. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschien Dr. Staple, öffnete sein Gartentor, fuhr den Wagen her aus, schloß es wieder und fuhr weg. »Eigentlich müßten wir hinterher«, meinte Hal, »aber bevor wir unseren Wagen erreichen, haben wir ihn verloren. Wir wollen uns lieber im Haus umse hen. Da er fort ist, brauchen wir nicht zu warten, bis er schläft.« »Die Haushälterin?« »Sie wird uns kaum hindern.« Im Haus war es wider Erwarten völlig dunkel. Die Haushälterin schien überhaupt nicht anwesend zu sein. Allerdings war es auch nicht ausgeschlossen, daß sie hinter einem Fenster saß, das kein Licht durchließ. Es zeigte sich nämlich, daß alle Fenster im Unter geschoß durch eiserne Rolläden gesichert waren – bis auf eins. Das war bedenklich, da aber die Keller fenster stark vergittert waren und das Obergeschoß schwer zu erreichen war, wagten es die beiden und schlugen das eine Fenster ein. Sie gerieten in eine Küche, die sich in nichts von anderen Küchen unterschied. Von ihr aus gelangten sie auf einen Flur, der nach wenigen Metern durch eine zweiflügelige Tür, eine Art Pendeltür, abge schlossen wurde. 31
Hal und Nimba durchschritten sie und gerieten gleich darauf an eine ganz ähnliche Tür. Bevor sie die aber ganz erreicht hatten, gab es einen harten Schlag hinter ihnen, der sie herumfahren ließ. Sie fanden keine Erklärung, erst als sie weiter wollten, merkten sie, was passiert war. Eine Falle hatte sich geschlossen. Sie konnten we der vor noch zurück, denn die beiden Türen gaben nicht mehr nach. Nimba warf sich dagegen, aber das nützte nichts. In einem Moment der Stille hörten sie ein leichtes Zischen, kurz danach rochen sie die Bescherung. »Gas«, stellte Hal fest. »Wir sind reingefallen. Ich möchte wissen, wodurch der Kerl gewarnt worden ist.« »Vielleicht arbeitet die Falle automatisch.« »Leicht möglich und stark zu wünschen, denn dann verwendet er bestimmt kein Giftgas. Schlaf gut, ich denke, wir sehen uns bald wieder. Halt! Schnell die Messer, vielleicht bleibt uns noch Zeit!« Nimba, der nach seinem vergeblichen Ansprung sofort das Koppel heruntergerissen hatte, schnitt be reits mit seinem kurzen Blitzmesser durch den Stahl wie durch Butter. Eins, zwei, drei… Das Gas wirkte schon. Der vierte Schnitt. Nimba spürte, wie seine Sinne schwanden und warf sich noch schnell gegen das an geschnittene Stück. Es krachte durch, aber die ein 32
dringende Luft rettete die beiden nicht mehr. Als sie erwachten, saßen sie gefesselt auf Stühlen in einem fremden Zimmer. Vor ihnen stand Dr. Sta ple und begrüßte sie mit einem boshaften Grinsen. »Wieder munter, meine Herren?« erkundigte er sich. »Ich muß schon sagen, daß es ein Glück war, daß ich mich auf den Anruf meiner Haushälterin hin so beeilt habe. Es überrascht Sie wohl nicht zu erfah ren, daß Ihre Ankunft bemerkt und mir telefonisch mitgeteilt wurde, nicht wahr? Es überrascht Sie si cher ebensowenig, daß ich ein bißchen neugierig bin, zu erfahren, was Sie zu mir getrieben hat?« Hal warf Nimba einen warnenden Blick zu und erwiderte dann: »Nehmen Sie getrost an, daß wir uns das Haus ansehen wollten. Wir hörten nämlich, daß es zu vermieten sei, und da …« »Ach nee«, höhnte Staple. »Sie sind ja sehr witzig veranlagt.« »Das bin ich immer, wenn man mich fesselt. Was ist Ihnen überhaupt eingefallen, uns so zusammenzu schnüren? Und das mit dem Gas war auch so eine Gemeinheit. Das wird Ihnen teuer zu stehen kom men. Sie haben nicht das Recht, einen harmlosen Einbrecher so zu behandeln!« Staple hob scheinbar gleichmütig die Schultern. »Ich kann ja mal die Polizei fragen. Die wird Sie ja ohnehin abholen müssen.« Hal fiel auf den Trick nicht rein. 33
»Hm«, knurrte er, »für so viel Angst können Sie uns auch ruhig laufen lassen. Schließlich haben wir Ihnen ja nichts weggenommen.« Staple zog die Brauen zusammen. »Die Polizei scheint Ihnen unangenehm zu sein?« »Dumme Frage!« Staple schien diese Einstellung nicht erwartet zu haben, denn er sagte nach einem Augenblick des Nachdenkens ernsthaft: »So, so, Sie scheuen also die Polizei oder wollen den Eindruck erwecken, daß Sie harmlose Einbrecher sind. Was sind Sie wirklich?« »Vermutlich der Prinz von Persien«, höhnte Hal. »Sie sollten Ihre Lage nicht so leicht nehmen«, ta delte Staple sanft. »Selbstverständlich sind Sie keine gewöhnlichen Einbrecher, wie Sie mir weismachen wollen. Erstens bestand dann für Sie kein Grund, in der Fabrik nach mir zu fragen – der Pförtner hat mir nämlich telefonisch Bescheid gegeben – zweitens besäßen Sie Werkzeuge und drittens dürfte kein ge wöhnlicher Einbrecher solche erstaunlichen Messer bei sich tragen, wie Sie es tun. Ich bin wirklich ge spannt zu hören, wer Sie sind.« Hal verzichtete auf Antwort. »Hm, Sie schweigen? Nun, ich halte das für un klug von Ihnen. Wenn Sie mir befriedigende Aus kunft geben, besteht für Sie die Aussicht, daß ich Sie laufen lasse. Wenn nicht, dann werden Sie die heuti ge Nacht wohl kaum überleben.« 34
Hal verstand wohl, aber er stellte sich harmlos. »Ach, nehmen Sie den Mund nicht gar zu voll. So wild ist die Polizei nicht auf uns, und so schnell geht es auch nicht. Die Sache kann uns höchstens ein paar Monate einbringen.« »Nur scheinbar. Ich pflege Leute Ihres Schlages nicht der Polizei zu überliefern, sondern selbst zu bestrafen. Da ich Laie bin, könnte das sehr leicht zu einer fahrlässigen Tötung führen. Sehen Sie, ich habe da nebenan ein Laboratorium, in dem eine ganze Reihe Säuren und ähnlicher nützlicher Dinge stehen. Die Polizei wird zweifellos sehr bedauern, daß Sie in Unkenntnis der Verhältnisse bei dem Einbruchsver such infolge eines Unglücksfalles ums Leben kamen – aber ich beseitige die Gefahr, daß Sie hinter ihrem Schweigen für mich lebenswichtige Dinge verber gen. Ich würde Ihnen unbedingt raten, sich mir ge genüber offen auszusprechen.« »Ha, damit Sie uns nachher erst recht kaltmachen, nicht wahr?« Staple schüttelte den Kopf. »Sie drücken sich recht eigenartig aus. Vergessen Sie übrigens nicht, daß Ihre Lage augenblicklich zu keinen Hoffnungen berechtigt und daß Sie sie kei nesfalls verschlechtern, sondern nur verbessern kön nen, wenn Sie reden.« Hal zögerte und nickte dann: »Na gut, schließlich sind wir ja nicht verpflichtet, unser Leben zu opfern. 35
Wir sind beauftragt, bei Ihnen einzubrechen, aber nicht, um das Tafelsilber zu mausen, sondern um uns Ihre Papiere zu holen.« »Wer hat Sie beauftragt?« Hal kniff die Augen zusammen. »Tja, das ist nicht leicht zu sagen. Wenn Sie in un seren Kreisen Bescheid wüßten, würden Sie gar nicht danach fragen. Aber da wir nun einmal offen spielen, will ich Ihnen verraten, was ich weiß. Ich pflege mich nämlich meist zu erkundigen, wenn ich einen Auftrag übernehme.« »Sie oder Ihr Begleiter, der so hartnäckig schweigt?« »Der? Den können Sie lange fragen. Er ist meine Leibgarde, weiter nichts. Wenn Sie was wissen wol len, müssen Sie sich schon an den Tresorschlitzer wenden.« »Das sind Sie? In Ihrem Alter?« »Mancher lernt sein Handwerk früh und mancher nie«, konterte Hal. »Also ich kenne zwar nur meinen Verbindungsmann, aber ich weiß trotzdem, daß ein ausländisches Konsortium dahintersteckt.« Staple blickte verständnislos drein. »Was heißt das?« »Ein Gangsterclub.« »Ein Verbrecherverein?« »So etwas Ähnliches. Muß schon stimmen, denn ich weiß auch, was an Ihren Papieren so interessant ist.« 36
»Nämlich?« »Nun, Sie werden meine Auftragsgeber hoffentlich nicht enttäuschen. Die rechnen nämlich damit, daß ich bei Ihnen Aufzeichnungen über ein unbekanntes Gift finde, dessen Spuren nicht nachweisbar sind.« Staple war plötzlich fahl geworden. Seine Stimme klang heiser. »Soll das ein Witz sein?« »Wieso? Glauben Sie, daß die Leute heutzutage Geld für einen Witz ausgeben? Die sind davon über zeugt, daß Sie das Gift haben, und ich bin es auch.« Staple wahrte mühsam seine Haltung und schnauz te barsch: »Das ist doch alles Unsinn! Wie kommen Sie darauf?« Hal fühlte sich jetzt trotz der Fesseln überlegen und zeigte es. »Na, na, der Polizei können Sie etwas vormachen, aber uns doch nicht. Wir sehen schon ein bißchen schärfer, verstehen Sie. Die Toten in Manchester ha ben uns alle aufmerksam gemacht. Die Polizei konn te keine Vergiftung feststellen, obgleich die Leute zweifellos vergiftet worden waren. Sie können sich wohl ausdenken, daß sich gewisse Leute daraufhin ausrechneten, was ein Erpresser verdienen konnte, wenn er auf diese Weise vorging. Das machte natür lich Appetit. Und dann können Sie sich wohl vorstel len, daß die Berichte sehr genau studiert wurden. Die Polizei fand nichts, aber wir stolperten darüber, daß 37
die Toten alle Whisky mit Soda zu sich genommen hatten. Der Whisky schied aus verschiedenen Grün den aus, also blieb nur das Sodawasser. Das mußte vergiftet gewesen sein, selbst wenn die Polizei das Gegenteil meinte. Und damit führte der Weg zu Ih nen.« »Ein Irrweg!« behauptete Staple finster. »Ich habe mit der Angelegenheit nicht das Geringste zu tun.« »Hm, tatsächlich nicht?« fragte Hal. »Es würde mich wundern, aber natürlich ist ein Irrtum nie aus zuschließen. Jedenfalls hat man mich hergeschickt, um Ihren Safe aufzuschneiden und alle Papiere her auszuholen. Es kostet mich fünfhundert Pfund, daß Sie mich erwischten. Aber vielleicht läßt sich das Geld noch retten. Machen Sie dem Konsortium einen vernünftigen Vorschlag. Man wird Ihnen das Rezept sicher abkaufen, wenn es auf andere Weise nicht zu erhalten ist.« Staple musterte ihn mißtrauisch und wehrte schließlich mit einer energischen Handbewegung ab. »Ich habe nichts zu verkaufen. Im übrigen ist das alles ein dreister Schwindel, den Sie mir da vorset zen. Sie bluffen. Ihre Drohungen verfangen bei mir nicht. Sollten Sie wirklich einen Auftraggeber haben, wird er die Erfahrung machen, daß seine Handlanger spurlos verschwinden können.« Hal lachte ihm ins Gesicht. »Werden Sie doch nicht albern, Doktor Staple. 38
Meine Freunde wissen natürlich ganz genau, wohin wir gegangen sind. Glauben Sie im Ernst, daß sie sich damit zufrieden geben, einen Grabstein für uns zu kaufen? Sie können uns der Polizei übergeben – das ist Ihr gutes Recht in einem solchen Fall – aber mehr auch nicht. In unseren Kreisen nimmt man es verdammt übel, wenn einer Richter und Henker auf eigene Faust spielen will.« »Ihre Drohungen sind albern«, erwiderte Staple hochmütig. »Ich fürchte mich nicht vor Ihnen und Ih resgleichen, und ich werde das tun, was mir paßt. Einstweilen werde ich Sie sicher verwahren.« Er lockerte mit größter Vorsicht die Fuß fesseln der beiden, bis sie sich mit kleinen Schritten bewe gen konnten. Dann zwang er sie mit seinem Revol ver, vor ihm her durch das Haus in einen lichtlosen Kellerraum zu gehen. Dort schloß er sie ein. »Immer noch besser als begraben«, murmelte Hal, als sie allein waren. »Mein Bluff hat gewirkt. Er ist unsicher geworden. Vermutlich wird er sich jetzt erst einmal alles gründlich überlegen.« »Gib deine Handgelenke her«, brummte Nimba. »Ich will versuchen, die Knoten mit den Zähnen zu lösen.« Inzwischen untersuchte Dr. Staple die Gegenstän de, die er seinen Gefangenen abgenommen hatte. Die Sprechdosen, die er schnell als winzige KurzwellenAggregate erkannte, interessierten ihn am stärksten. 39
Er probierte an ihnen herum und war sehr überrascht, als sich plötzlich eine Männerstimme meldete. »Sun Koh. Wer spricht?« »Dr. Staple, Stockport«, entfuhr es Staple unwill kürlich. Nach einem winzigen Zögern kam gelassen die Frage: »Was wünschen Sie?« Staple entschloß sich so schnell, daß er es selbst kaum begriff. »Spreche ich mit dem Mann, der zwei Leute in mein Haus schickte, um gewisse Papiere zu steh len?« »Vielleicht? Sie haben die beiden überlistet?« »Möglich. Interessieren Sie sich tatsächlich für ein bestimmtes Gift?« »Das könnte sein.« »Wie hoch ist Ihr Angebot?« »Darüber müßten wir uns persönlich ausspre chen.« »Hm, na gut. Wann können Sie hier sein?« »Frühestens in acht Stunden.« »Dann kommen Sie. Wenn Sie nicht allein kom men oder einen Trick versuchen, sterben die beiden Leute.« »Ich komme allein«, schloß Sun Koh kühl ab. So hob Staple den Deckel von der Grube, in die er hineinfallen sollte. Sun Koh flog an der Grenze der Schallmauer nach 40
Stockport. Schon vor der englischen Küste funkte ihm Staple Straße, Hausnummer und sonstige An weisungen über die Sprechdosen zu. In der Nähe von Stockport stand die weiße Säule eines Polizeischeinwerfers gegen den Himmel und markierte den Landeplatz für die fremde Maschine. In der Nähe trat Kommissar Brooks unruhig hin und her. Er hatte bis vor kurzem telefonische Verbindung mit einem Unbekannten in London unterhalten und fühlte sich noch nicht ganz sicher, ob er nicht jemand aufgesessen war. Er atmete tief auf, als die Maschine aufsetzte und er hinüberlaufen konnte, um den Mann aus Amerika zu begrüßen. Sun Koh ließ sich von ihm bis in die Stadt hinein fahren. Am Anfang der Cheadle-Street stieg er aus. Dr. Staple stand neben dem Tor im Schlagschatten eines Baumes. Er trat vor, als Sun Koh die Hand auf den Klingelknopf legte. »Sind Sie der Mann, den ich erwarte?« »Ich bin mit Dr. Staple verabredet.« »Ich bin Dr. Staple. Gut, daß Sie allein kommen. Darf ich bitten?« Dann saßen sie sich gegenüber. Staples kalte Ge sicht war verkniffen und verriet zugleich eine gewis se Nervosität. »Sie unterlassen besser jede mißdeutige Bewe gung«, sagte er mit gezwungener Höflichkeit. »Sie verstehen, daß ich …« 41
»Ich verstehe vollkommen«, beruhigte Sun Koh. »Ich sehe, daß Ihre rechte Hand an einer entsicherten Waffe liegt.« »Um so besser«, sagte Staple aufatmend. »Spre chen wir also gleich vom Geschäft. Sie legen Wert darauf, ein gewisses Gift zu erwerben, dessen Rezept Sie bei mir vermuten. Was würden Sie dafür zah len?« »Was verlange Sie?« »Fünfzigtausend Pfund – und Ihre beiden Leute sind frei.« »Fünfzigtausend Pfund sind viel Geld für eine Sa che, die kein Geheimnis mehr ist.« »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie dorthin.« Dr. Staple drehte den Kopf. Er war ein gewissen loser Schurke, aber er besaß keine Erfahrung als Verbrecher und fiel auf den ältesten Trick herein. Sun Koh brauchte sich nicht einmal zu beeilen. Er konnte ihm die Waffe geradezu gemächlich abneh men. Ein Schuß löste sich zwar, aber er beschädigte nur die Jackentasche Staples. Staple wollte sich freimachen. Sun Koh griff etwas härter zu. Daraufhin wurde Staple zahm und still, wenn auch sein Gesicht verzerrt blieb. »So, jetzt werden Sie mich erst einmal zu Ihren Gefangenen führen«, sagte Sun Koh gelassen wie bisher. »Ihre Erfindung interessiert mich weniger. 42
Das Geheimnis des schweratomigen Wassers ist nicht mehr ganz unbekannt, Dr. Staple.« Daraufhin verlor Staple den letzten Rest seines Widerstands. Er führte Sun Koh in den Keller und schloß die Tür auf, hinter der sich Hal und Nimba bereits sprungbereit befanden. Sie waren schnell un terrichtet. »Der ist ja noch dümmer, als er aussieht«, meinte Hal und ging dann los, um die Polizei zu benachrich tigen. Staple wurde wieder lebendig, als er von Polizei hörte. »Polizei?« ächzte er. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Was hat die Polizei mit unserem Geschäft zu tun.« »Vermutlich schätzen Sie mich falsch ein«, ant wortete Sun Koh. »Ich bin nicht zuletzt hergekom men, um Sie der Polizei zu übergeben. Sie haben ei ne Reihe von Menschen durch schweratomiges Was ser getötet und andere erpreßt. Das geht die Polizei an. Schade um Sie, Dr. Staple. Ihr Wissen um das schweratomige Wasser stammt zwar von größeren Geistern, aber Sie haben offenbar ein Verfahren ge funden, es leicht zu gewinnen. Warum begnügten Sie sich nicht mit der wissenschaftlichen Leistung?« Staple schielte ihn haßerfüllt an. »Ich will nicht für andere schuften, sondern selbst reich werden. Die Natur hat mir bestimmte Gaben 43
geschenkt, und…« »Sie können das dem Richter erzählen«, unter brach Sun Koh kalt. »Mir kommen Ihre Gaben reich lich vielseitig vor. Warum haben Sie Wisborne er mordet?« Staple zog den Kopf ein und blickte tückisch. »Sie haben kein Recht, mich zu verhören. Bevor ich nicht mit meinem Anwalt gesprochen habe …« »Wie Sie wollen«, fiel Sun Koh abermals ein. »Tritt ihm auf die Füße, Nimba.« Staple brüllte vor Schmerzen, als ihn Sun Koh an den Haaren hochzog. Anschließend redete er, so schnell er konnte. Er war seit Jahren Vertrauensmann einer Agentur, die sich für chemische Fortschritte in allen Teilen der Welt interessierte. Sie zahlte gut und führte einen Titel, der nicht unbedingt an Wirtschaftsspionage denken ließ. Seit einiger Zeit vermutete sie offenbar Neuigkeiten bei einem gewissen Wisborne in Liver pool, denn sie hatten Auftrag gegeben, sich um ihn zu kümmern. Sie hatten sogar einige Gehilfen zur Verfügung gestellt. Einen von ihnen hatte sich Wis borne vorgenommen und den Namen seines Verbin dungsmannes, nämlich den von Staple, aus ihm her ausgeholt. Daraufhin war Wisborne auf der Fahrt nach London bei Staple vorbeigekommen und hatte ihn zur Rede gestellt. Staple sah sich vor aller Öf fentlichkeit bloßgestellt und gab ihm ein Glas Was 44
ser zu trinken, an dem Wisborne sterben mußte. Die Papiere? Ja. ja, er hatte Wisborne einen Um schlag mit einem Bericht in fünffacher Ausfertigung abgenommen. Die fünf Ausfertigungen hatte er in der vorgeschriebenen Weise dann verschickt – jedes Exemplar an einen anderen Empfänger. Sun Koh konnte ihm eben noch die Liste mit den Adressen abnehmen, dann trat der Kommissar ein und beschlagnahmte den Chemiker für sich. Sun Koh und seine Begleiter verschwanden unauffällig. »Wir werden uns rühren müssen«, sagte er später zu Hal und Nimba. »Irgend jemand ist stark an unse ren Unternehmungen interessiert. Die Briefe sind bereits unterwegs, und letztlich werden sie wohl alle bei dem gleichen Empfänger landen. Wir müssen versuchen, sie vorher abzufangen.« Der erste Brief war hauptpostlagernd an einen ge wissen Pedro Randana in Lissabon gerichtet. 3. Lissabon. Zwei Herren gingen schnellen Schrittes in das Hauptpostamt hinein und auf den Schalter zu, an dem die postlagernden Sendungen ausgegeben wur den. Der Beamte, ein grauhaariger, etwas müde wirkender Mann mit stark abgenutzter Brille, tastete durch 45
das offene Viereck mit den zahlreichen Fächern, wo bei er murmelte: »Bitte?« Der eine der beiden Herren beugte sich vor. »Ich erwarte einen Wertbrief über hundert engli sche Pfund an Pedro Randana, Lissabon. Ist er schon eingetroffen?« Der Beamte rückte seine Brille zurecht. »Nichts da, das wäre mir aufgefallen. Aber ich will gern einmal nachsehen.« Er schlurfte an den Tisch im Hinterzimmer zurück und sah dort einen Stoß Briefe durch. Eine Minute später brachte er einen dicken gelben Umschlag. »Der Brief ist da«, verkündete er mürrisch. »Ha ben Sie einen Ausweis?« »Bitte sehr.« Randana legte einen Paß hin. Der Beamte prüfte gewissenhaft, ließ abschließend den Empfang bestä tigen und händigte den Brief aus. Als sie einige Meter vom Schalter entfernt waren, gab Randana das Schreiben an seinen Begleiter wei ter. »Gott sei Dank«, sagte dieser, »das hat geklappt. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.« »Nicht der Rede wert«, meinte Randana. »Ich komme mir nun zwar ziemlich kriminell vor, aber ich vertraue Ihnen vollkommen, daß es sich um die gestohlenen Papiere handelt.« Der andere nickte. 46
»Kommen Sie mit zu mir, ich werde Sie davon überzeugen, bevor ich sie vernichte. Das war ein glücklicher Zufall, daß ich mit einem Pedro Randana in Lissabon bekannt war.« »Hoffentlich hatten Sie mich nicht in Verdacht, der richtige Empfänger zu sein?« »Nein, das schien mir von vornherein ausge schlossen, sonst hätte ich kaum so offen mit Ihnen gesprochen. Doch kommen Sie.« Inzwischen kam kurz nach dem Weggang der bei den Herren vom Schalter ein neuer Kunde, ein vier schrötiger Mann in einfacher Kleidung, auf dessen Gesicht aus lieber Gewohnheit ein Schmunzeln lag. »Für Pedro Randana«, brummte er über den Schal ter hinweg. »Ein Wertbrief.« Der Beamte setzte seine Brille zurecht. »Eben war einer da, aber der ist schon abgeholt worden.« Der Vierschrötige legte sich vor. »Was? Ein Brief an mich?« »Für Pedro Randana, Lissabon. Wert hundert Pfund«, sagte der Beamte gleichgültig. »Dort geht der Herr, der ihn abgeholt hat.« Der Vierschrötige riß seinen Ausweis an sich, drängte sich zwischen ein paar Leuten durch und rannte hinaus. Auf der Straße holte er die beiden Herren ein, die er vom Schalter aus gerade noch flüchtig bemerkt 47
hatte. Ziemlich unhöflich packte er Randanas Beglei ter beim Arm. »He, hören Sie, was fällt Ihnen ein, meinen Brief abzuholen?« schnauzte er. Die beiden Herren blieben stehen. Sun Koh mach te seinen Arm frei. »Bitte? Wovon reden Sie?« »Sie haben eben einen Brief abgeholt, der für mich bestimmt war. Ich bin Pedro Randana. Wie kommen Sie dazu, meine Briefe …« Sun Kohs Begleiter mischte sich ein. »Sie wenden sich an die falsche Adresse, mein Lieber. Ich habe den Brief abgeholt. Ich heiße näm lich auch Pedro Randana!« »Was?« fragte der andere. »Sie heißen auch …« »Welches Zusammentreffen! Natürlich, wenn man bedenkt, daß es über zwanzig Leute unseres Namens in der Stadt gibt, erklärt es sich schon. Aber Sie er warten wohl kaum ausgerechnet aus Stockport ein Schreiben?« Der Vierschrötige drückt drohend seinen Brustka sten heraus. »So, und warum nicht?« Randana lächelte. »Nun, ich muß sagen, ich hatte mir Leute mit überseeischen Beziehungen immer etwas anders vor gestellt. Aber vielleicht tragen wir unseren Streitfall lieber vor der nächsten Polizeiwache aus? Mir ist es 48
nämlich schon wiederholt geschehen, daß meine Briefe durch andere Leute abgeholt wurden. Ich hatte schon die Polizei beauftragt, nachzuforschen. Sie werden zwar sicher in der Lage sein, Ihre Beziehun gen zu England nachzuweisen und den Inhalt des Schreibens anzugeben, aber damit scheidet ein Ver dächtiger aus, so daß die Polizei nicht mehr allzu viele Namensvettern zu überwachen braucht.« Der Vierschrötige machte auf einmal einen recht bedrückten Eindruck. »Hm«, knarrte er. »Sie wollen mich doch nicht etwa in Verdacht bringen, Ihre Briefe gestohlen zu haben? Wenn Sie Ihren Brief geholt haben, dann wird meiner noch kommen. Entschuldigen Sie.« Er machte eine linkische Verbeugung und ging ha stig ab. So bekam Sun Koh die erste Kopie der Pa piere zurück, weil es mehr als einen Pedro Randana in Lissabon gab und weil er mit einem dieser Pedro Randana bekannt war. Tatsächlich war es für ihn nur darauf angekommen, rechtzeitig am Schalter zu er scheinen. Den anderen Randana ließ er noch unter Beobach tung stellen, aber es erwies sich, daß er nur ein ganz kleiner Beauftragter war und daß es kaum gelingen konnte, durch ihn den großen Unbekannten aufzu spüren.
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4.
Die zweite Kopie war an einen gewissen Charles Auvergnol, Paris, geschickt worden. Charles Auvergnol war ein netter kleiner Ge schäftsmann, an dem man seine Freude haben konn te. Flink, gewandt und höflich bediente er seine Kunden, vergaß nie die Lieblingssorten der einzelnen und unterließ es auch nicht, stets eine neue Zigarren spitze beizupacken. Wenn einer seiner Kunden einen überflüssigen Lautsprecher, einen Kinderwagen oder ähnliche Din ge zu verkaufen hatte oder zu kaufen wünschte, so zeigte er sich gern bereit, einen Zettel mit entspre chendem Hinweis in seinem Laden anzubringen. Und wenn gewisse Briefe zartesten Inhalts nicht erst den Umweg über die Post nehmen sollten, so steckte sie der hilfsbereite Auvergnol gern unter den Laden tisch, bis eine männliche oder weibliche Stimme sich schüchtern danach erkundigte. Unbefangen und heiter unterhielt er sich an einem Vormittag mit Monsieur Mervin, der seit kurzem re gelmäßig die Kleinigkeiten des täglichen Rauchbe darfs einkaufte. Monsieur Mervin war Engländer, er besuchte nur vorübergehend die Universität, aber – à la bonne heure – er war ein kluger junger Mann, mit dem sich manches gescheite Wort wechseln ließ. Und die Hochachtung schien durchaus gegenseitig zu 50
sein, denn Monsieur Mervin blieb gern noch ein paar Minuten stehen und besprach die neuesten Tageser eignisse. Gewöhnlich beendete das Erscheinen des Postboten die Unterhaltung. Monsieur Mervin war übrigens leidenschaftlicher Briefmarkensammler, der sich aufrichtig freute, wenn man ihn mit einer posta lischen Merkwürdigkeit versorgte. Wie gesagt, Auvergnol unterhielt sich wie allmor gendlich mit einem seiner angenehmsten Kunden, als der Briefträger eintrat. Auf dessen Gesicht lag ein Erstaunen, das nicht zu seinen Gewohnheiten gehör te. »Nanu«, brummte er, während er einige Briefe und Prospekte über den Tisch reichte, »ich denke, Sie wollten fort?« »Wieso?« fragte Auvergnol und drückte dem Post beamten wie alle Tage eine Zigarre in die Hand. »Vielen Dank, Monsieur Auvergnol. Sie sagten doch noch, ich solle die Briefe Ihrer Frau übergeben, nicht wahr? Aber es ist natürlich nicht der Rede wert.« »Sieh einer an«, rief Auvergnol lachend, »der Herr Postmeister liebt die Scherze. Sie tun ja gerade, als ob ich Ihnen heute schon einmal begegnet wäre?« Der Postbote schüttelte leicht verdrossen den Kopf. »Natürlich haben wir vor zehn Minuten miteinan der gesprochen.« 51
Jetzt stutzte Auvergnol. »Na«, meinte er zweifelnd, »da haben Sie sich aber schwer getäuscht. Ich bin heute noch nicht aus dem Laden gekommen. Hoffentlich habe ich da kei nen Doppelgänger. Mit mir haben Sie bestimmt nicht gesprochen.« Der andere blickte auf einmal sehr bestürzt. »Donnerwetter, dann haben Sie doch nicht etwa die Absicht, zu bestreiten, daß ich Ihnen den Wert brief ausgehändigt habe?« Auvergnol riß die Augen auf. »Einen Wertbrief?« »Gewiß, über hundert englische Pfund.« Auvergnol schlug die Hände zusammen. »Mein Gott, der Brief für Monsieur Chelange! Kam er nicht aus Stockport?« »Ganz recht, aber …« »Und den wollen Sie mir ausgehändigt haben? Aber ich versichere Ihnen, daß ich …« »Nun ist’s aber genug«, schnauzte der Briefträger. »Hier habe ich doch Ihre Unterschrift.« »Meine Unterschrift?« stöhnte der Zigarrenhänd ler. »Zeigen Sie her. Ah, sie ist gefälscht. Niemals ist das meine Unterschrift. Mon dieu, was wird Monsi eur Chelange dazu sagen?« Der Briefträger gab sich Haltung. »Sie behaupten also allen Ernstes, daß ein Fremder den Brief angenommen hat?« 52
Auvergnol streckte beide Hände aus. »Aber sehen Sie denn das nicht? Ich kann Ihnen beweisen, daß ich nicht aus dem Laden kam und daß dies nicht meine Unterschrift ist!« »Dann muß ich Anzeige erstatten. Ein Betrüger ist am Werk.« »Das ist es«, pflichtete Auvergnol ihm eifrig bei, »ein Betrüger. Die Polizei muß ihn finden. Erstatten Sie sofort Anzeige.« Der Briefträger stapfte hinaus. »Mein Gott, mein Gott«, murmelte Auvergnol et was fassungslos hinter ihm her. Der nette Monsieur Mervin hatte kein Wort von der aufsehenerregenden Unterhaltung verloren. Er war ziemlich bleich darüber geworden, denn ihr In halt bedeutete einen vernichtenden Schlag für alle seine Hoffnungen. Da hatte er geglaubt, diesen Wertbrief abfangen und unter dem Deckmantel der Briefmarkenliebhaberei unauffällig vertauschen zu können, aber nun erfuhr er, daß sein Widerpartner schlauer gewesen war. Der mußte gewußt haben, daß der Brief gefährdet war, deshalb hatte er es vorgezo gen, sich das Schreiben schon vorher zu sichern. Da bei war es gleichgültig, ob er selbst oder ein Beauf tragter die Maskerade, die sicher nicht schwer gefal len war, durchgeführt hatte. »Sehr bedauerlich«, murmelte Hal Mervin. »Sie erwarten einen Brief für Monsieur Chelange?« 53
»Freilich«, seufzte Auvergnol. »Man kann mich ja schließlich nicht dafür verantwortlich machen, wenn solche Ereignisse eintreten, aber bedenken Sie, wie peinlich es für mich istw8 13.9ebnw008 Tc 0.1612 Tw 13>469
Die erste Lotung wurde mit Hilfe des elektrischen Lots vorgenommen, das als neuestes und wohl auch zuverlässigstes Hilfsmittel galt und außerdem am schnellsten Ergebnisse brachte. Einer der Assistenten schickte die Wellen hinunter und las sofort die Mes sungswerte ab. Als er sein erstes Ergebnis meldete, glaubte jeder der vier Herren, ungenau gehört zu haben. Deshalb riefen sie gleichzeitig: »Bitte?« »Neunzig Meter«, wiederholte der Assistent. Vier Oberkörper ruckten vor. »Neunzig Meter?« schrie Chalmack. »Sie sind wohl verrückt?« »Tja, es sind nicht mehr als neunzig Meter, Herr Professor.« »Wiederholen Sie die Lotung.« »Abermals neunzig Meter.« Das Gesicht Chalmacks war mächtig lang, als er es den anderen Herren zuwandte. »Ja, meine Herren«, stöhnte Chalmack, »was sa gen Sie dazu? Neunzig Meter? Es ist unmöglich!« »Unfug ist es«, wetterte Putney los. »Neunzig Me ter, wo es fast viertausend sein sollen? Lachhaft! Ha be ich nicht gleich gesagt, daß es ein Verbrechen ist, mit solchen provisorischen Mitteln zu arbeiten?« »Der Apparat ist in Ordnung.« »Einen Dreck ist er«, wütete Putney. »Glauben Sie denn im Ernst, daß hier nur neunzig Meter Tiefe 169
sind? Und wenn der Apparat zehnmal in Ordnung ist, dann ist seine Aufhängung nicht einwandfrei. Wollen Sie etwa nach London zurückfahren und dort erzäh len, daß sich der Meeresboden plötzlich bis auf neunzig Meter gehoben hat?« »Es ist unmöglich«, seufzte der gutmütige Mor field. »Ein Irrtum muß vorliegen.« »Gar nicht anders denkbar«, knurrte Malloy. »Ich schlage vor, wir prüfen die elektrische Lotung sofort durch das Schall-Lot nach, dann werden wir ja sehen, was nicht in Ordnung ist.« Gegen diesen naheliegenden Vorschlag hatte nie mand etwas einzuwenden. Die Vorbereitungen für die Vermessung mit Hilfe des Echo-Lots wurden un verzüglich getroffen. Wieder verdichtete sich die Spannung, als der As sistent mit einer gewissen Feierlichkeit die Schall wellen in die Tiefe schickte. Fast atemlos erwartete man die Meldung. »Nun?« drängte Chalmack schließlich ungeduldig. »Tja, Herr Professor«, kam es endlich zögernd herauf, »ich kann es auch nicht ändern. Diesmal sind es nur noch fünfzig Meter.« Chalmack taumelte förmlich zurück, kam aber so fort wieder vor und ächzte: »Fünfzig Meter?« »Fünfzig Meter«, bestätigte sein Gehilfe. »Fünfzig Meter?« brummte die Runde. Putney brach plötzlich in einen hysterischen Lach 170
anfall aus. »Fünfzig Meter?« kreischte er. »Haha, fünfzig Meter! Wenn wir noch einmal loten, haben wir fest gestellt, daß wir eigentlich tausend Meter über dem Meeresspiegel auf einem Berg stehen. Fünfzig Me ter! Haha, annähernde Werte genügen! Das nennt man Wissenschaft!« »Bitte beruhigen Sie sich«, bat Morfield, dessen Gesicht nicht weniger verstört war als das der ande ren. »Wiederholen Sie die Lotung!« ordnete Chalmack an. Wenig später kam die neue Meldung. »Immer noch fünfzig Meter, Herr Professor.« »Allmächtiger! Der Apparat?« »Der Apparat ist in Ordnung.« »Noch einmal loten.« »Ist geschehen. Wieder fünfzig Meter.« »Der Teufel hole diese Vermessung. Das ist ja zum Rasendwerden!« Putney wurde über dieser Aufregung ruhig. Er grinste spöttisch. »Na endlich. Sie werden mir hoffentlich glauben, daß man nicht ungestraft mit solchen behelfsmäßigen Mitteln arbeitet.« Chalmack zwang sich zur Beherrschung. »Es muß wohl so sein, meine Herren«, meinte er leise. »Die Apparate arbeiten unter den außerge 171
wöhnlichen Bedingungen falsch. Wenn das nämlich nicht der Fall wäre, wenn sie richtig anzeigten, dann würden unsere Messungen eine Ungeheuerlichkeit bedeuten. Dann müßte der Meeresboden schon fast um viertausend Meter gestiegen sein und diese Stei gung müßte innerhalb der Stunde, die zwischen den beiden Lotungen vergangen ist, um volle vierzig Me ter weiter gediehen sein. Das würde aber bedeuten, daß dieses ganze Schiff innerhalb einer Stunde auf trockenem Land liegen würde.« »Unsinn«, knurrte Mallroy grob. »Weil die Appa rate versagen, haben wir noch lange keinen Anlaß zu derartigen Fantasien. Glauben Sie etwa, daß ein der artiges Ereignis eintreten könnte, ohne daß der ganze Atlantik in Aufruhr gerät? Ich für meine Person emp fehle nun, das einzige Mittel zu benutzen, das auch unter diesen Umständen nicht versagen kann. Neh men wir die Lotleine.« »Den gleichen Vorschlag wollte ich soeben ma chen«, stimmte Morfield ein. »Sehr vernünftig«, lobte Putney. Die entsprechenden Anweisungen wurden gege ben. Die Leute arbeiteten fieberhaft. Dann spulte die Leine ab. Der Assistent meldete eintönig den Ablauf. »Fünfzig Meter.« In atemloser Spannung starrten die Augen auf das straffe Seil. Jetzt mußte sie stehenbleiben, wenn die 172
Echolotung stimmte. »Sechzig Meter. Siebzig Meter!« »Na also«, murmelte Putney voll Genugtuung. »Es lag bloß an den Apparaten.« Einförmig schnurrte das Seil, einförmig klangen die Zahlen auf. Die schärfste Spannung war nach Überwindung der kritischen Strecken abgeflaut, man ermüdete. Später jedoch stieg die Teilnahme wieder, je höher die Zahlen kamen. Es handelte sich nun mehr um die entscheidende Feststellung, ob die Tie fen der Seekarte noch stimmten. Dreitausendneunhundert Meter gab die Seekarte an, bei dreitausendachthundertvierzig Metern wurde die Leine schlaff. Die Arbeit des Aufholens begann. Professor Chalmack wandte sich wieder an seine Mitarbeiter. »Was ist Ihre Meinung, meine Herren? Zunächst möchte ich vorbehaltlos eingestehen, daß Mr. Putney mit seinen Voraussagen recht hatte. Man kann diese verhältnismäßig empfindlichen Apparate unter unzu länglichen Verhältnissen nicht benutzen.« Alles nickte. Putney war taktvoll genug, das Ein geständnis schweigend hinzunehmen. Chalmack fuhr fort: »Dreitausendachthundertvierzig Meter zeigte die Leine an. Die geringe Abweichung gegenüber der Karte dürfte sich zweifellos daraus erklären, daß es sich bei den Zahlen der Karte nur um ungefähre Wer te handelt. Meine Meinung geht dahin, daß es als er 173
wiesen anzusehen ist, daß an dieser Stelle des Mee resbodens keine Veränderung, insbesondere keine Hebung stattgefunden hat. Darf ich Sie um Ihre Mei nung bitten?« Die Herren äußerten sich durchaus in Chalmacks Sinn, nur Malloy schränkte ein: »Es läßt sich natürlich auf die erste Lotung hin noch nicht viel sagen. Wir müssen erst eine Reihe von Lotungen vornehmen …« »Und die werden uns sehr viel Zeit kosten«, murr te Putney dazwischen. »Leider ja«, gestand Malloy, »weil eben die Appa rate ausfallen. Ich würde übrigens raten, zwischen den Seillotungen immer wieder einmal Apparatlo tungen vorzunehmen, vielleicht gelingt es uns doch, günstige Verhältnisse zu ermitteln, unter denen die Apparate zuverlässig arbeiten.« »Ganz meine Meinung«, sagte Chalmack. »Wir müssen auch noch den Befund der Lotleine prüfen.« Das geschah später. Der Befund wies keine Beson derheiten auf. Die erste Lotung war der Beginn einer Arbeit, die sich über Tage und Wochen hinstreckte. Ganz all mählich kreiste die Jacht um das Vermessungsschiff herum, das seinen Platz kaum veränderte, wobei eine Lotung nach der anderen vorgenommen wurde. Man bediente sich ausschließlich der Leine, nachdem ein abermaliger Versuch mit den Apparaten wieder Zah len unter hundert Meter ergeben hatte. 174
15.
In einer dieser Nächte lagen die beiden Tauchboote nicht weit voneinander entfernt im Wasser. Sie wa ren gerade so weit aufgetaucht, daß sich ihre Rücken wie die riesiger Wale aufwölbten, die träge im Was ser ruhten. Auf ihnen hockten und standen Dutzende von Männern herum, die still behaglich die friedliche Mondnacht genossen. Weit draußen, fast an der Kim me, blitzten die Lichter der »Jupiter«, jenseits davon, aber nicht mehr sichtbar, lag die englische Jacht. An dem einen Tauchboot hob und senkte sich spielerisch ein kleines Boot. Nicht weit von ihm standen die beiden Befehlshaber der Tauchboote zu sammen. »Ich denke mir, er wird bald Schluß machen«, sag te Schröter unter anderem. »Die Runde ist fast voll endet.« »Hoffentlich«, meinte Barholm. »Auf die Dauer wird die Geschichte langweilig.« »Und anstrengend«, ergänzte Schröter. »Meine Taucher sind trotz der häufigen Ablösung ziemlich herunter.« »Neulich fehlte nicht viel, als die Rolle sperrte.« »Na, das ging noch. Sie haben sicher an einen gro ßen Fisch geglaubt. Meine größte Sorge ist eigentlich immer, daß ihr mal aus Versehen zu weit mit dem 175
Seil wegfahrt oder nicht rechtzeitig löst. Du lieber Gott, wenn die Gelehrten dort oben eine Ahnung hät ten, daß wir ihre Senkleine auffangen, sie über eine Rolle laufen und durch ein Boot straff ziehen las sen?« »Wirkt aber völlig naturgetreu. Schade, daß sie nicht mit den Apparaten weiter gearbeitet haben. Es war einfacher, sich darunterzulegen und den Meeres grund zu spielen.« »Aber auch kitzlicher. Wie schnell hätten wir ein mal das Tempo verpassen können.« »Was ist eigentlich mit dem Eisenrohr gewor den?« Schröter lachte auf. »Was soll daraus geworden sein? Ich habe meinen Witzbold Jupp gehörig Bescheid geblasen, als er mir seinen Streich beichtete. Die Gesichter auf der Jacht hätte ich sehen mögen.« Der zweite beispielhafte Fall trug sich in Mexiko zu. Alvarez Pecos, der für die bedeutendste Zeitung von Mexiko verantwortlich zeichnete, schüttelte sei nem Besucher mit betonter Herzlichkeit die Hand. »Ich bin beglückt, Señor Garcia«, versicherte er, »daß Sie bei mir vorsprechen. Ich überlegte schon ernsthaft, wie ich auf schnellstem Weg zu einer Rücksprache mit Ihnen kommen könnte.« Manuel Garcia lachte in seiner üblichen Art. 176
»Was haben Sie denn auf Ihrem Herzchen?« Pecos wies auf einen Sessel. »Es handelt sich natürlich um eine dienstliche An gelegenheit. Ich weiß nicht, ob Sie die Zeitungen der letzten Zeit verfolgt haben, Señor Garcia? Also da ist eines Tages auf dem Atlantischen Ozean ein unbe kanntes Riesenluftschiff aufgetaucht. Der englische Dampfer ›Bristol‹ explodierte, die mehr als sechs hundert Menschen, die schiffbrüchig auf dem Wasser trieben, wurden durch das unbekannte Luftschiff aufgenommen und zu den Azoren gebracht.« »Und zum Dank dafür möchte man das unbekann te Schiff hetzen, bis sie es zur Strecke gebracht ha ben«, feixte Garcia. »Sie wissen?« »Nein, ich kenne nur meine Pappenheimer.« »Ihre Vermutung trifft ungefähr zu. Die Öffent lichkeit legt größten Wert darauf, Näheres über das unbekannte Luftschiff zu erfahren. Es ist verschwun den, dafür ist aber eine Nachricht eingetroffen, daß es in einer großen Luftwerft gebaut worden sein soll, die sich auf der Halbinsel Yukatan befinden soll.« »Neckisch.« Pecos seufzte. »Wir haben natürlich gegen eine derartige Be hauptung Einspruch eingelegt, da uns doch in erster Linie etwas bekannt sein müßte. Aber man gibt sich nicht damit zufrieden. Ich persönlich glaube nicht an diese geheimnisvolle Luftschiffswerft im Urwald 177
von Yukatan, aber ich muß schließlich doch meine Leute ausschicken oder doch wenigstens Nachfor schungen anstellen. Offen gesagt: Es sind da einige Berichterstatter in der Stadt, die gemeinsam Nach forschungen anstellen wollen, nachdem die Umfra gen bei den Behörden nichts ergeben haben. Man hat mir nahegelegt, einen oder zwei Leute mitzuschik ken.« »Und was habe ich damit zu tun?« Pecos wiegte den Kopf hin und her. »Sehen Sie, Sie sind der einzige Mexikaner, der über ausgedehnten Grundbesitz in Yukatan verfügt. Man weiß, daß Sie dort der Eigentümer ganzer Land striche sind, ja man deutet sogar an, daß Sie eigent lich genau über die Anlagen und über das Luftschiff Bescheid wissen müßten. Das ist natürlich Unsinn, aber wir müssen mit diesen Dingen rechnen. Ich dachte nun, wenn Sie als einziger Grundbesitzer viel leicht den Nachweis ermöglichen könnten, daß die Vermutungen nicht zutreffen? Die Berichterstatter haben irgendwie von unseren freundschaftlichen Be ziehungen erfahren und drängen mich nun, ihnen ei nen Besuch bei Ihnen zu vermitteln. Es sind vor al lem zwei Vertreter englischer und zwei Vertreter amerikanischer Zeitungen, zu denen dann natürlich noch ein oder zwei Leute von mir kommen würden. Diese Leute wissen ziemlich genau, wie schwierig es ist, in einem derart unwegsamen Gebiet Nachfor 178
schungen anzustellen, deshalb versuchen sie, auf dem Umweg über mich zum Ziel zu gelangen.« »Hm, das heißt also, daß ich die Leute einladen soll, damit sie bei mir ein bißchen herumschnüffeln können?« »So ähnlich.« »Schicken Sie die Leute getrost zu mir, meinen Segen haben sie«, sagte Garcia grinsend. »Wenn die Brüder sich erst ein paar Wochen durch den Urwald durchgeschlagen haben, wird ihnen die Neugier von allein vergangen sein.« Pecos schüttelte den Kopf. »Das kommt natürlich nicht in Frage. Die Kom mission wird sich hüten, eine Expedition durch den Urwald zu unternehmen. Sie wird ein Flugzeug be nutzen. Ein Tag Vorsprung würde Ihnen auf alle Fäl le bleiben.« Pecos lächelte. »Sie sind doch auch mit dem Flugzeug gekommen.« Garcia sah ihn entrüstet an. »Natürlich. Wollen Sie etwa von mir altem Mann verlangen, daß ich zu Fuß über halb Yukatan spazie ren gehe?« »Natürlich nicht. Ich meinte nur, daß Sie ja schnell wieder zurückkommen können. Allerdings – hm, es würde einen sehr guten Eindruck machen, wenn Sie nicht vorausfliegen, sondern die Berichterstatter be gleiten würden.« »Damit ich nicht erst in aller Eile die großen Indu 179
strieanlagen abreißen kann, was?« »Das nicht, ich dachte an den psychologischen Eindruck, wenn Sie gänzlich unvorbereitet und – wie soll ich…« »Schon gut.« Garcia winkte ab. »Ich werde mich um des psychologischen Eindrucks willen, wie Sie so schön sagen, opfern. Sehen Sie zu, daß Sie die Fuhre bis morgen früh zusammenbringen.« »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar.« 16. Manuel Garcia fuhr mit seinen »Gästen« nach Yuka tan. Auf seine Einladung und Empfehlung hin hatten sie sich überreden lassen, alle in seinem eigenen Flugzeug Platz zu nehmen und sich die zweite Ma schine zu sparen. Entscheidend war sein Hinweis gewesen, daß die Landemöglichkeit auf seiner Besit zung beschränkt sei und daß er bei der Landung einer zweiten Maschine nicht für sicheres Aufkommen haften könne. Außerdem sei der Landeplatz für Normalmaschinen überhaupt nicht geeignet. Also saßen sie alle zusammen in Garcias Flugzeug, die beiden Mexikaner, die beiden Engländer und die beiden Amerikaner. Man vergaß keinen Augenblick, daß man Augen und Ohren offen zu halten hatte. Nun schnurrte die Maschine schon lange über Yu katan. Rund tausend Kilometer hatte sie hinter sich. 180
Dazu hatte sie, weil die Geschwindigkeit mäßig blieb, annähernd fünf Stunden gebraucht. Da man nicht allzu früh aufgebrochen war, näherte man sich bereits bedenklich dem Abend und der Nacht. »Hat nichts zu besagen«, beruhigte Garcia auf eine entsprechende Anfrage hin, »wir kommen noch rechtzeitig ans Ziel. Wie Sie bemerken, lasse ich ab sichtlich große Schleifen fahren, damit Sie einen Überblick bekommen. Das ist nämlich das Gebiet, das zu meinem Eigentum gehört.« »Aber das ist doch alles nur Wald«, meinte Wes son, der Amerikaner. »Warum haben Sie denn das alles gekauft?« »Eine billige Gelegenheit«, sagte Garcia grinsend. »Da!« »Donnerwetter.« Die Augen starrten hinunter zu den riesigen Indu strie-Anlagen, die in der großen Waldlichtung stan den. Dann blickten sie auf Garcia. Der feixte nur und zeigte sich nicht im geringsten verwirrt. »Hübsch, was?« »Allerdings«, meinte Panhudle, der Engländer. »Sehr hübsch sogar.« »Freut mich«, versicherte Garcia. »Sehen Sie, das lange hohe Gebäude wäre zur Not geeignet, um ein Riesenluftschiff darin zu bauen. Die flachen Hallen könnten vielleicht Werkstätten sein. Links davon ist ein ganz nettes Verwaltungsgebäude, nicht wahr?« 181
Lydford, der andere Engländer, sah ihn scharf an. »Ganz recht, aber ich verstehe Sie nicht ganz. Sie wissen, was diese Feststellung bedeutet?« »Ganz genau«, beteuerte Garcia, »ganz genau. Es ist nämlich eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana, die infolge der hohen Luftfeuchtigkeit gelegentlich über diesen Wäldern entsteht.« Die Herren verzogen die Lippen. So schwachsin nig waren sie nicht, um einer derartigen Erklärung Glauben zu schenken. Wesson gab der allgemeinen Stimmung Ausdruck. »Hm, Ihre Meinung in Ehren, aber für eine Luft spiegelung ist das wohl ein bißchen viel verlangt. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir hier landen und uns etwas näher überzeugen?« Garcia wurde ernst. »Jawohl, ich habe sehr viel dagegen. Unter der Luftspiegelung befinden sich nämlich dreißig bis fünfzig Meter hohe Bäume, und ich habe keine Lust, auf diesen zu landen und dann zu Fuß nach Hause zu gehen.« Doulton, der zweite Amerikaner, lächelte nieder trächtig. »Ich bin davon überzeugt, daß wir auf diesen ebe nen Dächern gefahrlos und glatt landen können.« »Sie glauben mir nicht?« fragte Garcia scharf. »Nein«, kam kalt die Antwort. »Es ist eine Luftspiegelung«, beharrte Garcia. 182
»Wenn wir genügend tief heruntergingen, würden Sie sehen, wie sie verschwindet und die Bäume zum Vorschein kommen. Aber dann würde es zu spät sein, um das Flugzeug noch aufzufangen.« »Die Gefahr nehmen wir auf uns«, knurrte Pan hudle. »Haben Sie was dagegen, wenn wir dem Pilo ten Anweisung geben?« Der Mexikaner lächelte plötzlich wieder. »Sehr viel, aber tun Sie, was Sie nicht lassen kön nen. Ich lehne jede Verantwortung ab.« Panhudle sprach mit dem Piloten. Der erhob Ein wendungen, fügte sich dann aber schulterzuckend. Die Maschine ging hinunter. Unverändert blieben die Anlagen bestehen. Die Herren blickten schaden froh auf Garcia. Dann plötzlich – war alles weg. Unmittelbar unter dem Flugzeug erschienen die grünen Baumwipfel. Und bevor die hohe Kommission ihre Meinung dazu äußern konnte, setzte sich das Flugzeug krachend hinein, daß die Äste splitterten. »So«, sagte Garcia lakonisch, »da haben wir den Salat.« Tiefes Schweigen, dann knurrte Wesson: »Ver dammt, wir sind in die Bäume geraten. Wo sind die Anlagen?« »Sie haben sich eben in Luft aufgelöst«, sagte der Mexikaner grinsend. »Jetzt werden Sie aber klettern lernen.« 183
»Teufel«, knurrte Panhudle, »warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« »Sie werden ungerecht, Verehrtester. Aber Sie werden noch viel mehr schimpfen, wenn Sie meine Rechnung auf Schadenersatz bekommen. Das Flug zeug ist zum Teufel. Ich würde empfehlen auszustei gen, damit wir wenigstens noch vor Einbruch der Dunkelheit auf festen Boden kommen. Vielleicht finden wir dann in den wunderbaren Fabrikanlagen Unterkunft.« »Machen Sie keine Witze«, warnte Wesson wü tend. »Wir wissen auch so, daß wir uns wie Narren benommen haben. Wir hätten Ihnen mehr Glauben schenken sollen, denn Sie sind ja schließlich mit den Verhältnissen hier bewandert.« »Wundervolle Einsichten«, lobte Garcia. »Wenn Sie die immer gehabt hätten, wären Sie ganz zu Hau se geblieben. Ich habe ja von Anfang an gesagt, daß es hier keine Industrie gibt.« »Lassen wir es gut sein«, bat Jeminez, der Mexi kaner. »Wir werden den Rest des Wegs wohl zu Fuß fortsetzen müssen. Waren wir nicht bald am Ziel, Señor Garcia?« Der hob die Schultern. »Mit dem Flugzeug ja, zu Fuß wird es noch ein ganz hübscher Marsch.« »Können wir nicht funken und Hilfe holen?« forschte Panhudle. 184
»Der Apparat ist durch den Stoß beschädigt wor den«, meldete der Pilot. Garcia schob die Tür gewaltsam zurück. »Also kommen Sie schon. Führen wir den Beweis, daß der Mensch vom Affen abstammt. Übrigens – wenn Sie fallen, kommen Sie mit gebrochenem Ge nick unten an.« Der herzlose Hinweis verbesserte die Stimmung keineswegs. Zerzaust, zerschunden, verdreckt, sehr kleinlaut und doch aufatmend kam die ganze Gesell schaft wohlbehalten unten an. Der Pilot erschien als letzter. Er brachte zwei Macheten, eine Flasche voll Wasser und einige Lebensmittel mit. Während sie sich die Füße vertraten, wurde es Nacht. »Tja«, erklärte Garcia. »Für heute ist Feierabend. Wir müssen uns ein Feuer machen und uns schlafen legen. Das Feuer wird der Pilot übernehmen. Die Her ren Panhudle und Lydford nehmen die Haumesser und schlagen vor allem eine Lücke in das Unterholz, damit wir etwas Bewegungsfreiheit bekommen.« »Haben Sie etwas gegen uns Engländer«, knurrte Lydford mißmutig. »Nicht im geringsten«, grinste Garcia, »die beiden Herren aus Amerika werden Sie dann ablösen.« Garcia ließ Holz sammeln, dann zündete der Pilot ein Feuer an. Der nächtliche Wald wurde nicht heim licher und beruhigender dadurch, daß die rotzün gelnden Flammen gespenstische unruhige Schatten 185
zwischen den Bäumen zeichneten. Nach Minuten bereits ließ Panhudle sein Messer fallen. »Ich kann nicht mehr, verdammt noch mal«, schimpfte er stöhnend. »Das Buschholz ist wie Ei sen, und mein Rücken ist am Zerbrechen.« »Nach einigen Tagen werden Sie sich daran ge wöhnt haben«, beruhigte Garcia sanft. »Der Körper gewöhnt sich an alles.« »Allmächtiger«, seufzte Lydford, »ich glaube gar, Sie rechnen mit einigen Tagen.« »Nicht so schlimm«, tröstete Garcia wieder. »Schlimm wird’s erst, wenn wir die Richtung verlie ren. Sie wissen, daß man in der Wüste oder im Wald gewöhnlich im Kreis herumläuft. Dann allerdings …« Die Herren blickten sich entsetzt an. Sie begriffen vollkommen, was Garcia sagen wollte. Die Erschei nung war ihnen bekannt. »Himmeldonnerwetter!« fluchte Wesson nach all gemeinem Schweigen auf. »Ich muß doch nach Me xiko zurück, meine Geschäfte warten auf mich. Du lieber Gott, lasse ich Hornvieh mich verleiten, mich hier in den Urwald zu fliegen – im Straßenanzug auch noch. Das sieht jeder Idiot, daß es hier keine industriellen Anlagen gibt.« »Schönes Zeugnis für Ihren geistigen Befund«, feixte Garcia. »Bitte weiter holzen, sonst überfallen uns die Panther.« 186
Die beiden Amerikaner übernahmen die Haumes ser und säbelten drauflos. Als sie streikten, erklärte Garcia die Lücke für groß genug. Irgendwer fragte nach Essen, und plötzlich spürten alle lebhaften Hunger und Durst. Garcia lehnte ab. »Heute müssen Sie hungern, meine Herren, dur sten erst recht. Unsere paar Kleinigkeiten müssen wir für den äußersten Notfall aufbewahren. Wir müssen uns eben an das Hungern gewöhnen.« »Aber Sie können uns doch nicht verhungern und verdursten lassen«, empörte sich Doulton. Garcia trat einen Schritt auf ihn zu und tippte ihm auf die Brust. »Ich? Sie, mein Lieber! Ich habe Sie vor dieser Luftspiegelung gewarnt. Sie sind daran schuld, wenn wir uns in dieser Lage befinden. Ich habe schon in Mexiko gesagt, daß es hier nichts anderes als Urwald gibt. Bedanken Sie sich bei den Herren, die Sie zu dieser Untersuchung veranlaßt haben. Schicken Sie die her. Und Sie, Sie können auch untersuchen, aber feste, meine Herren.« Man hatte darauf nichts zu erwidern. Es wurde eine scheußliche Nacht. Erdboden und niedergebrochenes Gestrüpp boten ein denkbar schlechtes Lager. Die dünnen Anzüge hielten keine Nachtkühle ab, geschweige denn die Feuchtigkeit. Der Wald raunte von geheimnisvollem drohendem Le ben. Immer wieder sprang einer auf, der die Zweige 187
unter der Pranke eines Panthers hatte knacken hören. Und das kleine Ungeziefer des Waldes tat sich gütlich. Verstört und erschöpft, hungrig und durstig blickten sich die Herren am nächsten Morgen an. Nur Garcia war nicht im mindesten erschüttert. Und sein Pilot be hielt sein gleichmäßiges undurchsichtiges Gesicht. Der Marsch durch den Wald begann. Garcia und der Pilot, die Waffen besaßen, übernahmen die Si cherung, die andern führten abwechselnd die Hau messer und verlernten darüber, sich um die Zukunft zu kümmern. Übermäßig viel Schwierigkeiten fan den sie nicht, der Wald war verhältnismäßig licht, aber für sie genügte es bereits. Die Mittagsrast wurde an einer natürlichen Wald lichtung gehalten. Dort war eine Zenote, ein Wasser loch, eingebrochen, an dem man wenigstens den Durst stillen konnte. Hier lieferte Garcia auch das erste Essen aus, gerade genug, um jedem Appetit zu machen. Plötzlich horchten sie auf. Ein feines Surren lag in der Luft, das an Stärke zunahm. »Ein Flugzeug«, stellte Garcia fest, nachdem er eine Weile durch das Glas beobachtet hatte. »Es ist eine amerikanische Maschine, ein Wasserflugzeug.« Das Glas ging reihum, seine Beobachtung wurde von den anderen bestätigt. Man winkte eifrig, und einer schlug sogar vor, ein Feuer anzuzünden, um sich bemerkbar zu machen. »Dann brauchen Sie bloß noch einen See herzu 188
schaffen«, meinte Garcia spöttisch, »damit das Flug zeug auch landen kann. Sie haben anscheinend ganz übersehen, daß es ein Wasserflugzeug ist.« Das Flugzeug bemerkte die Männer im Wald nicht. Es flog auch ein ganzes Stück seitlich vorbei. Doulton stieß plötzlich einen heiseren Laut aus und wies nach oben. Von der Maschine löste sich ein dunkler Punkt und schoß auf die Erde zu. »Herrgott, sie werden doch nicht Bomben wer fen?« Die erwartete Explosion blieb aus. Manuel Garcia zuckte zu allen Vermutungen nur die Schul tern, aber er wählte dann eine Richtung, die ungefähr zu jener Stelle führen mußte, an der die vermeintli che Bombe niedergefallen war. Das Glück begünstigte sie. Sie bemerkten nieder gebrochene Äste und entdeckten daraufhin den ein gebeulten, wassergefüllten Blechkanister, den das Flugzeug abgeworfen hatte. »Eine besondere Art von Sprengkörper?« mut maßte Lydford besorgt. Garcia lachte spöttisch. »Sie haben eine ausschweifende Fantasie. In unse rer harmlosen Zeit werfen die Flugzeuge höchstens Blumentöpfe ab, aber keine Sprengkörper oder Bom ben. Die Flieger haben den Wald als Schuttablade platz angesehen.« »Wie leicht konnte es auf unseren Kopf fallen«, stellte einer vorwurfsvoll fest. 189
Die Stimmung schlug jedoch beträchtlich zugun sten der Flieger um, als der Pilot meldete: »Es ist Wasser drin.« »Großartig«, freute sich Doulton. »Sie haben uns also doch bemerkt und wollen uns zunächst mit Was ser aushelfen.« Auch die anderen freuten sich. Die Geister wurden aber schnell wieder trübe, als sich herausstellte, daß es sich um salziges Meerwasser handelte. Der Marsch ging weiter. Die Gesellschaft mußte noch eine Nacht im Wald verbringen und lernte, was Hunger und Durst ungefähr bedeuten können. Gegen Mittag des nächsten Tages aber erreichten sie ihr Ziel. In einer sauber abgeholzten idyllischen Lichtung, durch die ein Fluß eine kurze Strecke oberirdisch floß, stand breit hingelagert ein starkes Gebäude, das aus Baumstämmen gefügt war. »Mein Haus«, erklärte Garcia nicht ohne Stolz. Niemals hatten die Männer mit liebevolleren Au gen ein Gebäude wie dieses betrachtet. Sie fanden alles, was sie brauchten. Essen, Trin ken, Bad und Bett und sogar aufmerksame Helfer. Es lebte sich sehr behaglich in Garcias Haus, wie im Himmel sogar, wenn man mit den letzten Tagen ver glich. Die Gäste lernten das ganze Haus und alle seine Einrichtungen kennen. Es war ein einziger Beweis für die völlige Harmlosigkeit seines Besitzers. Dieser 190
Garcia war zweifellos ein Sonderling, weil er sich hier im Urwald vergrub, aber niemals der Besitzer irgendwelcher technischer Werke oder geheimnisvol ler Luftschiffe. Er liebte seine kleinen netten Samm lungen, seine Bücher und ähnliche Dinge, hatte aber sicher von Erfindungen und anderen Dingen so we nig Ahnung wie von Politik. Ein Mann, der Bücher über Mediumismus, Philosophie, Spiritismus und ähnlichen Unfug in seinem Bücherschrank stehen hatte, war bestimmt harmlos. Zwei Tage lang erholte man sich von den Strapa zen des Urwaldes, dann brachte Garcias Reserve flugzeug die Herren nach Mexiko zurück, damit sie dort ihre Berichte abfassen konnten. Daß die eindeu tig ausfielen, stand außer allem Zweifel. Urwaldnächte sind überzeugende Beweismittel. Als Manuel Garcia dann zurückkehrte, landete er nicht auf der stillen Lichtung, sondern einige Dut zend Kilometer entfernt davon an einer Stelle, die von oben her nichts anderes als Wald zeigte. Trotz dem landete er auf einem glatten Hof inmitten mäch tiger Gebäude, in denen es von Menschen wimmelte. Er war eben ein Wundermann und stand mit der verhexten Wissenschaft auf gutem Fuß. ENDE
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Als SUN KOH Taschenbuch Band 36 erscheint:
Die weiße Hölle
von Freder van Holk Joan Martini hat eine Expedition auf eigene Faust unternommen, doch eine schwere Er krankung zwingt sie zur Aufgabe. Als man sie nach Wochen durch Zufall findet, hat sie ihr Ge dächtnis verloren. Darin sieht Lady Houston ihre große Chance. Jetzt endlich kann sie mit Juan Garcia Hand in Hand arbeiten – zwei von Haß erfüllte Gegner Sun Kohs. Lady Houston läßt Joan Martini weit weg bringen, in die Eiswüsten Alaskas. Tim Silver nimmt sich als angeblicher Vater des Mädchens an. Er wiegt alle in Sicher heit, ehe er seine wahren Absichten enthüllt. Von diesem Tag an ist Joan Martini ihres Le bens nicht mehr sicher. Sun Koh und seine Freunde folgen auch der kleinsten Spur, die ih nen den Weg zum Aufenthaltsort Joan Martinis weisen kann. Und sie finden Spuren. Doch alle Wege führen schnurgerade auf einem HorrorTrip ohnegleichen mitten hinein in die Hölle … Die SUN KOH Taschenbücher erscheinen monatlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.