William Corlett
Die Stufen im Kamin Das Haus des Magiers I
Aus dem Englischen von Christa Holtei Deutscher Taschenbuch...
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William Corlett
Die Stufen im Kamin Das Haus des Magiers I
Aus dem Englischen von Christa Holtei Deutscher Taschenbuch Verlag
Weil ihre Eltern im Ausland arbeiten, verbringen William, Mary und Alice die Weihnachtsferien bei ihrem Onkel Jack und seiner Freundin Phoebe in Golden House. Jack hat das Anwesen erst kürzlich gekauft und will das alte Gemäuer in ein Hotel umwandeln. Dass mit dem Ort etwas nicht stimmt, merken die drei Geschwister schnell. Da sind zum einen die Tiere draußen – ein Fuchs, eine Eule und ein Hund –, die ihnen immer wieder begegnen und sie komisch anstarren, dann die Fußspuren im Schnee, die an einer bestimmten Stelle plötzlich abbrechen, und schließlich die von William entdeckten Stufen im Innern des großen Kamins. Alice, Mary und William wagen sich eines Tages diese Stufen hinauf und gelangen in einen Raum, in dem sie jemand erwartet…
William Corlett, geboren 1938, machte eine Ausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art in London und war zunächst Schauspieler, bevor er selbst erfolgreich Theaterstücke und Drehbuchtexte zu schreiben begann. Seit den 70er-Jahren veröffentlicht er Jugendromane, die vielfach ausgezeichnet wurden, und ist inzwischen auch als Autor belletristischer Romane bekannt. Seine Serie ›Das Haus des Magiers‹ hat er selbst fürs Fernsehen adaptiert.
Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung 5. Auflage Juni 2003 2001 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtvjunior.de © 1990 William Corlett Titel der englischen Originalausgabe: ›The Steps up the Chimney‹, erschienen 1991 bei Red Fox, a division of Random House UK Ltd. erstmals erschienen 1990 bei The Bodley Head Children’s Books © für die deutschsprachige Ausgabe: 2001 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 8c Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Ludvik Glazer-Naude Gesetzt aus der Baskerville 11, 13½ Gesamtherstellung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany • ISBN 3-423-70.665-1
Für Bryn und die Dysons
1 Bahnhof Druce Coven Der Bahnhof Druce Coven war ein einsamer Ort. Ein einziges Bahngleis führte von Manchester im Norden nach Bristol im Süden durch die raue und schöne Landschaft entlang der Grenze zwischen Wales und England. Es schlängelte sich durch abgelegene Dörfer und verlassene Bahnhöfe, die manchmal nur an einem schmalen Bahnsteig und einem grün gestrichenen Wartehäuschen als solche zu erkennen waren. William kam mit dem Zug aus Manchester als Erster in Druce Coven an. Seine Schwestern Mary und Alice fuhren mit dem Londoner Zug. Sie mussten in Bristol umsteigen und würden zehn Minuten später als er da sein. Onkel Jack wollte sie alle vom Bahnhof abholen und zum zwanzig Meilen entfernten Golden House fahren. Aber als William mit seinem schweren Koffer aus dem Zug gestiegen war und die Tür zugeworfen hatte, musste er erstaunt feststellen, dass er alleine auf dem Bahnsteig stand. Es gab noch nicht mal einen Bahnwärter oder einen Fahrkartenschalter, denn man bezahlte direkt beim Zugschaffner. Einen Augenblick war er unsicher, ob er überhaupt am richtigen Bahnhof ausgestiegen war. Er ließ seinen Koffer stehen und ging zum Zaun, wo ein Tor im Wind quietschend hin- und herschwang. Neben dem Tor verkündete ein Schild mit weißen Buchstaben auf der abgeblätterten grünen Farbe, dass es sich tatsächlich um Druce Coven handelte. Hier sollte er also auf seinen Onkel warten. Wenigstens bin ich als Erster hier, dachte er. Mary und Alice waren jünger als er und alleine hätte es ihnen hier bestimmt nicht gefallen. Selbst ihm kam es ein bisschen einsam und verlassen vor. Fröstelnd sah er sich um. Der Dezembernachmittag war kalt und grau. Schwere Regenwolken hingen schon den ganzen Tag am Himmel. Der Wind fuhr stöhnend durch die Zaunpfähle und zerrte an einem losen Brett auf dem Dach des Wartehäuschens. Der Bahnsteig lag in einer tiefen Mulde zwischen den Hügeln, von wo man die umgebende Landschaft nicht sehen konnte. Eine Brücke führte über diese Mulde. Ein Stück weiter
weg verschwand das Gleis Richtung Bristol in einem dunklen Tunnel. William steckte die Hände in seine Anoraktaschen und kickte nach einem Stein. Er schlidderte weg und sprang jenseits des Gleises gegen die steile Böschung, die mit Unkraut, verkümmerten Büschen und Bäumen überwuchert war. William lief ein paar Schritte über den Bahnsteig, drehte sich um und ging wieder zurück. Dann schaute er auf die Uhr. Der Zug aus Bristol würde in acht Minuten kommen. Er ging zu seinem Koffer und setzte sich darauf. Oben auf der gegenüberliegenden Böschung wuchsen dichte Baumreihen bis zu einem soliden Holzzaun. Als William sie betrachtete, tauchte plötzlich ein Fuchs aus dem Unterholz auf und spähte mit erhobener Vorderpfote in die Mulde hinunter. Sein Fell hob sich leuchtend rot gegen die düstere Umgebung ab. William war überrascht vom plötzlichen Auftauchen des Fuchses und beugte sich aufgeregt vor. Bei seiner Bewegung drehte das Tier seinen Kopf herum und blickte ihn an. Es kam William so vor, als hielten die Augen des Fuchses seine eigenen fest, als wären sie einen Moment lang mit einem unsichtbaren Band verbunden. »Hallo!« Eine Stimme unterbrach die unnatürliche Stille in der schmalen Talmulde. Die Stimme ertönte so überraschend und unerwartet, als hätte der Fuchs gesprochen, aber William wusste, dass das nicht sein konnte. Der Fuchs blickte ihn noch einen Moment lang an und verschwand dann so leise und heimlich im Unterholz, wie er gekommen war. William blinzelte fröstelnd mit den Augen. Er fror und er war enttäuscht. Er mochte den Fuchs. Auf dem verlassenen Bahnsteig war er ihm fast wie ein Freund vorgekommen. Jetzt war er fort und schon fehlte ihm seine Gesellschaft. »Hallo, Junge!«, rief die Stimme wieder und holte William in die Gegenwart zurück. Er drehte sich um. Ein Mann stand auf der Brücke, lehnte am Geländer und sah zu ihm hinunter. Auch seine Augen hielten William fest und wieder verband ihn ein unsichtbares Band mit dem Mann. Sein starrer Blick schien wie der des Fuchses in Williams Kopf einzudringen, als wollte er seine Gedanken lesen. William versuchte wegzusehen, aber es gelang ihm nicht, der Blick war stärker als er. »Hat’s dir die Sprache verschlagen, mein Junge?«, rief der Mann. »Nein«, erwiderte William fast trotzig und erhob sich. Panik stieg in ihm auf und er sah sich nervös nach einem Versteck um.
»Es tut mir Leid«, sagte der Mann etwas freundlicher. »Ich habe dich erschreckt. Aber du wartest doch sicher auf jemanden, der dich abholt?« »Auf meinen Onkel«, antwortete William. »Ach ja. Aber bist du allein?« »Meine Schwestern kommen mit dem nächsten Zug aus London.« Obwohl der Mann solche direkten Fragen stellte und sein Blick weiterhin Williams Augen festhielt, schien er eigentlich nicht unfreundlich zu sein. »Warte einen Moment«, sagte er und kurz darauf sah William ihn über den kurzen, steilen Weg zum Zauntor hinabgehen. Er kam zu William auf den Bahnsteig. »Wie heißt du, mein Junge?«, fragte der Mann. »William. William Constant.« »William Constant«, wiederholte der Mann leise. Er lächelte und schwieg. Er war lang und dünn und hatte eine hohe Stirn, über der sich die Haare lichteten. Seine blaugrauen Augen waren sehr hell und die goldenen Punkte darin schienen fast Funken zu sprühen. Er hatte dünne, lange Haare, die der Wind wie eine rote Nebelwolke um seinen Kopf blies. Sein langer, schwarzer Regenmantel war bis zum Kinn zugeknöpft. »Nun, William Constant«, sagte er schließlich, »du bist der Älteste, nicht?« »Ja. Ich bin dreizehn.« »Und deine Schwestern?« »Mary ist elf und Alice ist acht.« Der Mann nickte langsam und nachdenklich. »Und ihr kommt nach Golden House zu Besuch, richtig?« »Mein Onkel wohnt da. Kennen Sie ihn?« »Vom Sehen. Und seine Frau auch. Sie ist seine Frau, oder?« »Sie heißt Phoebe.« »Ist sie seine Frau?« »So ungefähr«, antwortete William zögernd. Unter dem durchdringenden Blick wurde er nervös, und obwohl er dieses Kreuzverhör nicht mochte, fand er es schwierig, nicht auf die Fragen des Mannes zu antworten. »Du brauchst keine Angst zu haben, William. Ich will dir nichts Böses«, versicherte ihm der Mann und legte seine Hand leicht auf Williams Schulter. »Ich habe keine Angst«, widersprach William trotzig, aber in
Wirklichkeit wäre er lieber nicht alleine mit dem Mann gewesen, der ihm so eindringlich in die Augen blickte, wie der Fuchs es getan hatte. »War es der erste Fuchs, den du gesehen hast?«, fragte der Mann. Er schien tatsächlich seine Gedanken lesen zu können. »Ich habe natürlich welche im Fernsehen gesehen. Aber noch nie einen echten.« »Es gibt auch Dachse bei Golden House und Otter im Fluss. Ich denke, die wirst du auch noch sehen.« »Wohnen Sie denn in der Nähe?« »Ich kenne die Gegend«, antwortete der Mann leise und sein Gesicht sah traurig aus. »Wir bleiben die ganzen Weihnachtsferien da. Unsere Eltern sind im Ausland. Sie arbeiten als Ärzte in Äthiopien in einem Krankenhaus. Eigentlich ist es mehr ein Zeltlager…« William merkte, dass er plötzlich zu viel und zu schnell redete, aber irgendwie wollte er etwas sagen, weil der Mann so traurig aussah. Die Hand des Mannes lag jetzt schwer auf seiner Schulter. Er fasste Williams Anorak fester und zog ihn zu sich. In der Ferne hörte William den lang gezogenen Pfiff eines Zuges. »Da kommt der Zug«, sagte er ohne sich umzudrehen. »Sie können Mary und Alice kennen lernen. Wie heißen Sie überhaupt? Nur damit ich Sie vorstellen kann.« Der Mann umklammerte seine Schulter und starrte ihm weiter in die Augen. »Ich heiße Stephen Tyler, William. Wirst du dir das merken?« Wieder ertönte der Pfiff des Zuges, diesmal viel näher. William drehte sich um und sah die Diesellok aus dem dunklen Tunnel auf sich zukommen. Zischend und stampfend kam der Zug zum Stehen. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann öffnete sich eines der Fenster und ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren steckte den Kopf hinaus. »William«, rief sie. »Kannst du mir mal helfen? Die Tür klemmt.« William lief den Bahnsteig hinunter und öffnete die Tür für sie. Das Mädchen kletterte hinaus und drehte sich nach ihrem Koffer um. »Warte, Mary, ich mach das schon«, sagte William und wollte sich an ihr vorbeischieben. »Ich kann das allein«, gab Mary zurück und zerrte an dem schweren Koffer.
»Du kannst mir ja helfen, Will«, rief seine jüngere Schwester Alice aus der Tür. »Aber beeil dich, sonst fährt der Zug wieder los.« William hob Alice’ Koffer auf den Bahnsteig und sah, dass Mr. Tyler sie beobachtete. Er drehte sich wieder um und nahm Alice bei der Hand, damit sie auf den Bahnsteig springen konnte. Kaum hatte er die Tür zugeschlagen, fuhr der Zug schon wieder an. Alice hielt Williams Hand einen Moment lang fest. Dann sprang sie hoch und gab ihm einen Kuss. »Jetzt hör aber auf, Alice«, protestierte er. Dann fiel ihm Mr. Tyler ein. »Dieser Mann kennt Golden House ziemlich gut«, sagte er und drehte sich um. »Welcher Mann?«, fragte Mary. Der Bahnsteig war leer. »Komisch. Eben war er noch da… du musst ihn gesehen haben. Wir haben uns unterhalten, als du mich gerufen hast. Wohin ist er gegangen?« »Ich habe niemanden gesehen«, sagte Mary und hob ihren Koffer hoch. »Aber er war hier.« »Jetzt ist er jedenfalls weg.« »Aber – wohin ist er gegangen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Mary achselzuckend. »O Mann, dieser Koffer wiegt eine Tonne!« »Vielleicht ist er in den Zug gestiegen, Will«, sagte Alice und nahm ihren Koffer. »Vielleicht«, sagte William, aber er war immer noch verwirrt. Wie konnte der Mann so schnell verschwinden? »Da ist Onkel Jack!«, quietschte Alice. Sie ließ ihren Koffer wieder fallen und rannte über den Bahnsteig zu einem Mann in Jeans und Pullover, der den Weg zum Tor heruntergelaufen kam. »Tut mir Leid!«, rief er. »Ein paar Schafe haben mich aufgehalten.«
2 Die Fahrt zum Golden House Jack hatte seinen uralten Landrover am Ende des Weges geparkt, der über die Brücke führte und nach beiden Richtungen hin im Wald verschwand. »Dies gehört alles zu einem alten Waldgebiet«, erklärte Jack, als er die Koffer der Mädchen in den Wagen stellte. »Früher reichte es bis zum Forest of Dean im Süden. Aber natürlich ist in den vergangenen Jahrhunderten viel abgeholzt worden.« »Es heißt Royal Forest of Dean«, verbesserte Mary ihren Onkel. »Von da hat Admiral Nelson alle Eichen für seine Schiffe bekommen. Haben wir in Geschichte gelernt.« »O Mary!«, sagte ihre Schwester und kletterte auf den Beifahrersitz. »Wir wollen jetzt nichts mehr von Geschichte hören. Das ist so langweilig!« »Alice! Ich will vorne sitzen«, rief William. Er stellte seinen Koffer hinten in den Wagen, dann ging er zur Beifahrertür. »Nein, ich war zuerst hier.« »Sie streiten sich dauernd«, vertraute Mary Onkel Jack an. »Das ist wirklich zu blöd.« »William, geh sofort runter!«, schrie Alice. Ihr Bruder hatte sich kurz entschlossen auf sie gesetzt. »Geh runter, William. Ihr sitzt beide hinten«, bestimmte Jack. »Ich will vorne bei dir sitzen«, jammerte Alice. »Kannst du aber nicht. Komm her, Mary, du sitzt vorne«, sagte Jack und schwang sich auf den Fahrersitz. »Aber warum?«, protestierte Alice. »Weil sie gewartet hat«, sagte Jack. William und Alice maulten noch ein bisschen, aber dann stiegen sie hinten ein. Mary setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie lächelte ihren Onkel an und strich sich dabei über ihre kurzen Haare. »Ich habe meine Haare abschneiden lassen. Sie gingen bis zur Taille. Meinst du, ich hätte sie lang lassen sollen?« »Igitt! Hör auf zu flirten, Mary«, sagte Alice. »Sei vorsichtig,
Onkel Jack, sie ist hinter Männern her!«, kicherte sie. »Also wirklich, du bist so ein Baby, Alice«, sagte Mary. Sie schaute aus dem Fenster, damit niemand sah, dass sie rot geworden war. »Du bist rot geworden«, sang Alice. »Mary ist rot geworden.« »Halt die Klappe, Alice!«, rief Mary. Jetzt war sie wirklich böse. »Ja, halt die Klappe, Alice«, mischte Jack sich ein. Aber er lächelte Alice über die Schulter an, als er das sagte. Alice verzog achselzuckend den Mund. Alle gegen einen war ungerecht. Sie baumelte mit den Beinen und schaute auf den Boden. Im Wagen wurde es unbehaglich still. »Weißt du, dass ich einen Fuchs gesehen habe, Onkel Jack? Als ich am Bahnhof gewartet habe«, sagte William. Er sah die scharfen, fragenden Augen wieder vor sich. »Es gibt hier viele Füchse. Wir haben auch einen beim Haus. Er kommt nachts in den Garten, aber man kann ihn auch oft tagsüber sehen.« »Und es gibt Dachse, ja? Und Otter im Fluss?«, fragte William begeistert. »Wer hat dir das alles erzählt?« »Der Mann.« »Welcher Mann?«, fragte sein Onkel und sah William im Rückspiegel an. »Das ist Wills geheimnisvoller Mann, der nicht da war«, warf Mary dazwischen. Sie kniete sich auf den Sitz und drehte sich so nach hinten, dass sie sich an der Rückenlehne festhalten konnte. »Er ist in den Zug gestiegen, Mary. Das haben wir doch schon geklärt«, spottete Alice. »Er war da«, behauptete William fest. »Ich habe lange mit ihm geredet. Er hieß Stephen Tyler.« Jack sah seinen Neffen wieder durch den Rückspiegel an. »Stephen wer?«, fragte er. »Stephen Niemand!«, kicherte Alice. »Tyler«, wiederholte William. »Er sagte, ich solle mir den Namen merken.« »Das ist nicht besonders schwer, oder?«, fragte Mary. »Nicht wie Alicia Borodevski.« »Alicia… wer?«, lachte Jack. »Borodevski«, wiederholte Mary, sehr zufrieden mit der erzielten Wirkung. »Sie ist in meiner Klasse. Ihr Urgroßvater war ein Weiß-
russe.« »Sind die denn nicht alle weiß?«, fragte Alice. »Keine Ahnung«, gab Mary zurück. »Sie schon. Ihre Familie kann niemals wieder nach Moskau zurück, weil sie dann ins Gefängnis gesteckt würden. Das hat sie jedenfalls erzählt. Ihre Vorfahren waren Freunde des Zaren. Und sie sind geflohen und haben alle ihre Juwelen in die Kleidersäume eingenäht…« »Das ist aus diesem Film mit dem glatzköpfigen Schauspieler«, sagte William mit einem vernichtenden Blick. »Wirklich, Mary, du glaubst auch alles. Jedenfalls hat Mr. Tyler gesagt, dass es Otter und Dachse bei Golden House gibt.« »Otter habe ich hier noch nie gesehen. Aber Dachse gibt es. Wieso wusste dieser Mann so viel über Golden House?« »Vielleicht hat er mal da gewohnt«, meinte Mary. »Nein, es stand jahrelang leer. Die letzte Eigentümerin war eine Miss Crawden. Die alte Dame hat da sehr lange gelebt, zuerst mit ihrer Familie, glaube ich, und dann alleine.« »Er hat auch nur gesagt, dass er die Gegend kennt«, unterbrach William. »Wir haben noch niemanden hier kennen gelernt«, sagte Jack. »Aber ich nehme an, dass zwischen den Hügeln jede Menge Häuser versteckt sind.« Das Gespräch im Auto verstummte und die Kinder betrachteten die vorbeiziehende Landschaft durch die Fenster. Die Dämmerung hatte eingesetzt und es fing an zu nieseln. Die Straße wand sich durch den Wald und dann plötzlich durch eine ländliche Gegend mit Hecken statt dichter Baumkronen. Sie befanden sich in einem engen Tal mit ansteigenden Feldern zu beiden Seiten der steilen Straße. Als sie oben auf dem Hügel ankamen, hielt Jack das Auto für einen Moment an, damit sie die Aussicht bewundern konnten. Vor ihnen erstreckte sich eine wellige Moorlandschaft, blass und grau im Abendlicht. Dahinter erhoben sich höhere Berge. »Da drüben ist Wales. Das walisische Wales, wie es genannt wird. Das hier ist dann wohl das englische Wales. Wir sind fast zu Hause«, sagte Jack zu ihnen. Nur wenig später bog er von der Landstraße in einen noch schmaleren Weg ein, der in Windungen die eine Seite des Tales hinaufführte. Die Hecken verschwanden und bald waren sie auf dem offenen Moor. »Diese Straße wird sehr schlecht, wenn es schneit«, sagte Jack, als ob er zu sich selbst spräche. »Wenn sie unpassierbar ist, sind wir
von allem abgeschnitten.« »Hoffentlich geschieht das, solange wir hier sind«, sagte Alice zu ihm. »Dann brauchen wir nicht zur Schule zurück.« »Ich dachte, du gingest gern zur Schule«, sagte Jack. Er konzentrierte sich auf die Straße vor ihm. »Ja, schon«, antwortete Alice und war wieder still. Es wurde allmählich dunkler und im Zwielicht war kaum noch etwas zu unterscheiden. Jack schaltete die Scheinwerfer ein und trat sofort auf die Bremse, als plötzlich ein leuchtend roter Streifen zu sehen war. »Habt ihr das gesehen?«, rief er überrascht. »Ein Fuchs! Ich hätte ihn fast überfahren.« »Ich hab ihn gesehen!«, rief Mary. »Ich auch«, rief Alice aufgeregt. »Du auch, Will? Hast du ihn gesehen?« Aber William schwieg und starrte hinaus in die Schatten. Er fühlte sich durchbohrt von den beiden hellen Augen, die ihn aus den dunklen Tiefen des Straßengrabens ansahen. Als Jack den Motor wieder startete und der Landrover weiterfuhr, drehte William sich um und sah aus dem Rückfenster. Er fühlte wieder das unsichtbare Band zwischen sich und den Augen. »Sind wir bald da?«, unterbrach Alice die Stille. »Ich habe Hunger!« »Es ist nicht mehr weit. Die Straße führt jetzt wieder hinunter und dann sind wir im Golden Valley.« Es war schon fast dunkel, als sie das Tal erreichten. Der Regen hatte aufgehört, nur der Wind zerrte noch an den Ästen der Bäume. Die Straße fiel wieder steiler ab und man hörte Wasser rauschen. »Der Bach fließt entlang der Straße«, erklärte Jack. »Schade, dass es dunkel ist. Aber ihr könnt euch morgen alles ansehen. Hört mal!« Eine Eule schrie irgendwo in der Nähe. »Warum heißt es ›Goldenes Tal‹, Onkel Jack?«, fragte Mary. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er. »Es gibt noch ein anderes Golden Valley in Richtung Hereford. Vielleicht wurde unseres nach dem Haus benannt – oder das Haus nach dem Tal? Ich weiß es nicht.« »Vielleicht hat man hier nach Gold gegraben«, schlug Alice vor. Sie wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken, aber Jack hielt das für unwahrscheinlich. »Gehört dir das ganze Land drum herum?«, fragte Mary, wäh-
rend sie aus dem Fenster sah. »Nein. Vielleicht gehörte es einmal zum Haus, aber jetzt gibt es einen anderen Grundbesitzer. Wir haben nur noch ungefähr viertausend Quadratmeter.« »Dürfen wir hier herumlaufen, obwohl es dir nicht gehört?«, fragte sie. »Ich denke schon. Es gibt viele Fußwege. Ich habe auch eine Karte zu Hause. Stellt nur keinen Unfug an. Ich möchte mich nicht gleich bei den Nachbarn unbeliebt machen. Wir sind da!«, verkündete er, als vor ihnen ein Licht durch die Bäume schimmerte. Vor einem Gatter hielt er an. »William, kannst du bitte mal das Tor öffnen?« Die Nachtluft war kühl nach der langen Autofahrt. William öffnete das hölzerne Gatter im Scheinwerferlicht. Während er darauf wartete, dass der Landrover hindurchfuhr, sah er sich nach den dichten Bäumen um, die zu beiden Seiten des Tals emporwuchsen. Der Wind rüttelte an den Zweigen und das Rauschen des Bachs war sehr laut. Aber er hörte noch ein anderes Geräusch, ein leises Hecheln oder Schnüffeln, und versuchte in der Dunkelheit hinter sich festzustellen, woher es kam. Obwohl er nichts sehen konnte, hatte er das unheimliche Gefühl, dass er beobachtet wurde. »Geh weg«, flüsterte er und merkte, dass seine Stimme vor Angst zitterte. »He, William! Beeil dich!«, rief Jack. William schloss das Gatter und kletterte zurück in die Sicherheit des Landrovers. »Brrrr!«, sagte Jack, als er weiterfuhr. »Es wird bald schneien. Kalt genug dafür ist es.« Als sie schließlich beim Haus ankamen, war es völlig dunkel und außer schattenhaften Umrissen war kaum etwas zu erkennen. Eine Lampe brannte unter dem Vordach und beleuchtete schwach ein breites Haus mit vielen dunklen Fenstern. »Willkommen in Golden House«, sagte Jack. Er stellte den Motor aus und gleichzeitig öffnete sich die Haustür. Man konnte die Gestalt einer jungen Frau im Licht des Eingangs erkennen. Ihr langes, hellblondes Haar wehte im Wind und trotz des locker fallenden, langen Kleides war deutlich ihr dicker Bauch zu sehen. »Onkel Jack!«, rutschte es Mary heraus. »Phoebe ist schwanger!« »Ja«, antwortete er, »hab ich euch das nicht gesagt?« Die Frau lief mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, um sie zu begrüßen.
»Da seid ihr ja«, sagte sie. »Das Abendessen ist fertig. Ihr müsst fast verhungert sein.« Während sie sprach, legte sie einen Arm um Jacks Hals und küsste ihn auf die Wange. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Sie nickte lächelnd. »Ich bin noch nicht daran gewöhnt, alleine hier zu sein«, erklärte sie den Kindern verlegen. »Trotzdem macht er sich zu viele Sorgen. Jetzt lasst euch anschauen! Mein Gott, seid ihr gewachsen! Kommt schnell herein. Ich erfriere sonst noch hier draußen.« Sie schob sie eilig ins Haus und überließ Jack die Koffer. »Ich helfe dir, Onkel Jack«, sagte William. Er ging zum Auto zurück, wo Jack mit allen drei Koffern auf einmal kämpfte. »Danke. Alles in Ordnung mit dir?« »Ja«, antwortete William, aber er vermied seinen Onkel anzusehen. »Du warst ein bisschen still auf der Fahrt.« »Mir geht’s gut. Wirklich!«, sagte der Junge. Er nahm einen der Koffer und ging ins Haus. Jack ging ihm nach und schloss die Eingangstür. Ein bleicher Mond trat hinter den Wolken hervor und warf blasse Schatten zwischen die Bäume und auf das Gras neben der Einfahrt. In der Ferne schrie eine Eule und näher am Haus war das seltsame, kurze Bellen eines Fuchses zu hören.
3 Die erste Nacht in Golden House Jack und Phoebe wohnten erst seit ein paar Monaten in Golden House, deshalb war der größte Teil des Gebäudes noch in einem fürchterlich baufälligen Zustand. Sie hatten jedoch den Teil um die Haupthalle herum wohnlich gemacht. Hier lebten sie, während Jack nach und nach den Rest des Hauses renovierte. Wenn alles fertig war, wollten sie es als Hotel eröffnen. Die Halle, die die Kinder betraten, war der älteste Teil des Gebäudes und stammte aus dem Mittelalter. Sie hatte einen Steinfußboden und einen riesigen Kamin aus dem 16. Jahrhundert. »Davor gab es nur ein Loch im Dach«, erklärte Jack ihnen. Eine Treppe führte von der Halle auf eine Galerie, die an drei Wänden entlanglief und von der aus mehrere Türen zu verschiedenen Räumen führten. Einer der Räume war Jacks und Phoebes Schlafzimmer, ein zweiter ein riesiges und völlig veraltetes Bad. Die anderen Räume befanden sich noch in mehr oder weniger chaotischem Zustand. Baumaterial und Farbe in einem Zimmer, aufeinander gestapelte Möbelstücke im nächsten, Spinnweben, abgefallener Putz und viele Jahre alter Staub und Schmutz in den übrigen Zimmern. In einer Ecke der Galerie gab es eine weitere Tür, hinter der eine Wendeltreppe zu drei kleinen und niedrigen Dachzimmern mit parallel laufenden Deckenbalken hinaufführte. Zwei dieser Räume waren für die Kinder hergerichtet worden. Mary und Alice würden sich das eine Zimmer teilen, William hatte das zweite für sich allein. Es gab auch ein offensichtlich erst vor kurzem eingebautes Bad und eine Toilette. »Extra für euch gemacht!«, sagte Onkel Jack stolz. Dann grinste er. »Ich hoffe, es funktioniert alles. Ich habe nicht viel Ahnung von Klempnerei.« Die Zimmer waren frisch gestrichen und die neuen Vorhänge an den kleinen Dachfenstern passten zum Stoff der Tagesdecken auf den Betten. Auf dem Holzfußboden lagen alte Teppiche und neben jedem Bett stand eine Lampe.
»Warum bekommen wir nie ein Zimmer für uns allein?«, fragte Mary verärgert. »William hat immer ein eigenes, nur weil er ein Junge ist. Das ist ungerecht.« »Mir macht es nichts aus, in einem Zimmer mit dir zu sein, Mary«, sagte Alice mit dünner Stimme. »Darauf kommt es nicht an. Mir macht es etwas aus. Ich will ein Zimmer für mich.« »Es ist doch so ein riesiges Haus, Mary«, flüsterte Alice und schaute mit großen Augen auf die dunklen Ecken draußen auf dem Flur. »Du bist so ein Jammerlappen, Alice«, sagte Mary, floh aber dann mit einem Schrei auf ihr Bett, als William gefährlich knurrend aus seinem Zimmer herüberkam. »William, ich bring dich um, wenn du das noch mal machst. Das schwör ich dir!« »Nicht, Will«, sagte Alice, und dann mit leiser Stimme: »Es gefällt mir hier nicht.« William legte einen Arm um sie und drückte sie an sich. »Ist schon in Ordnung, Alice. Ich bin ja gleich nebenan und Onkel Jack ist unten.« »Aber wenn nachts eine Hexe kommt?«, flüsterte Mary, die sich für das Thema erwärmte. »Du würdest uns nicht hören, wenn sie uns auf der Stelle verhext. Sie könnte uns mit in ein Zimmer nehmen, das noch nicht mal Onkel Jack kennt, und sie könnte uns einschließen und uns da für immer in den Schlaf zaubern und niemand würde wissen, wo wir sind.« Alice saß mit großen Augen auf dem Bettrand und hatte die Arme um sich gelegt. Mary hörte auf zu reden, sprang plötzlich quer durch den Raum und wedelte laut schreiend mit den Händen. Alice warf sich aufs Bett und zog sich das Federbett über den Kopf. »Mary«, sagte William mit seiner ›Großer Bruder‹-Stimme, »du machst Alice Angst.« »Tut sie nicht. Sie ist einfach blöd«, sagte Alice, den Kopf immer noch unter dem Federbett. »Und die Hexe kommt jeden Tag und mästet dich«, erzählte Mary weiter. Sie kniete auf dem Bett vor der zusammengekauerten Alice. »Und dann kommt sie und sticht dir mit einem Finger in die Seite, um zu sehen, ob sie dich schon FRESSEN kann!« Als sie das Wort Fressen rief, fuhr sie mit den Händen unter das Federbett und kitzelte ihre Schwester.
»Hör auf, Mary! Hör auf!«, bat Alice, gleichzeitig quietschend und hilflos kichernd. »Mary, ich warne dich!«, sagte William und warf sich auf sie, um sie von Alice wegzuziehen. Dieser unerwartete Überfall brachte Mary aus dem Gleichgewicht, so dass sie vom Bett runterrutschte. Sie wollte sich an Alice festhalten, aber alle drei plumpsten keuchend und völlig außer Atem auf den Boden. »Igitt! Jetzt ist mir schlecht«, stöhnte Alice und fing wieder an zu lachen. »He, ihr da oben!«, hörten sie Jack von der Galerie die Treppe hinaufrufen. »Abendessen.« »Igitt! Abendessen! Mir wird wieder schlecht«, ächzte Alice, stand auf und rannte zur Tür. »Mary will kein Abendessen, Onkel Jack, sie hat sich hingelegt«, brüllte sie. »Du lügst, Alice!«, rief Mary. Sie hatte sich gerade aufgerappelt, als Onkel Jack ins Zimmer kam. »Was ist los?«, fragte er besorgt. »Bist du krank?« »Du musst sie gar nicht beachten«, beschwichtigte ihn William. »Es geht ihnen wirklich gut.« »Sie hatte sich hingelegt«, sagte Alice. »Tja, Alice, so kann man auch mit kleinen Sachen Kindern eine Freude machen«, sagte Mary und stopfte sich ihre Bluse in den Hosenbund. Aber Alice war schon aus dem Raum gelaufen und polterte die Steinstufen hinunter. Der Tisch war in der Küche gedeckt, einem großen Raum im hinteren Teil des Hauses. Er war durch eine Türe von der Halle aus erreichbar. In einem alten, gusseisernen Küchenherd flackerte ein Feuer. Zwei hölzerne Lehnstühle mit leuchtend bunten Kissen auf den Sitzflächen standen zu beiden Seiten des Herdes. Im Küchenschrank waren Regalbretter voller Keramikgeschirr und Fächer für Töpfe und Pfannen. Ein Steinbecken an der Wand diente als Spüle und daneben stand eine Kaltwasserpumpe. Von der Pumpe lief ein Wasserrohr zu einem altmodischen, elektrischen Boiler an der Wand darüber. Über dem Steinbecken konnte man durch ein breites, niedriges Fenster in die schwarze Nacht hinaussehen. »Wir wollten so viel fertig haben, bevor ihr kommt, einschließlich der Küchenvorhänge«, entschuldigte sich Phoebe. »Tut mir Leid! Aber es gibt hier immer so viel zu tun. Mary, setz du dich hierhin neben William, und Alice, du hierher neben mich.«
Sie brachte eine Terrine zum Tisch und begann die dampfende Suppe zu verteilen. Jack schnitt inzwischen ein Graubrot in Scheiben. »Was esst ihr am liebsten?«, fragte Phoebe. »Würstchen mit Bohnen in Tomatensoße«, antwortete Alice wie aus der Pistole geschossen. »Hamburger«, riefen William und Mary gleichzeitig. »Oje!«, rief Phoebe aus. »Ich glaube, es wird euch hier nicht gefallen.« »Wir sind Vegetarier«, erklärte Jack. »Macht nichts«, sagte Mary nach einer Weile, denn jemand musste etwas sagen. »Was ist ein Vegetarier?«, fragte Alice. »Was meinst du wohl, Dummi«, sagte William und sah sehr verlegen aus. »Ich weiß es nicht. Deshalb habe ich gefragt.« »Sie essen nur Gemüse«, sagte William so leise, als ob er hoffte, dass ihn niemand hören konnte. »Igitt!«, kreischte Alice. »Ich hasse Gemüse!« »Wir essen auch andere Sachen«, lachte Jack. »Reis und Linsen und Käse und…« »Köstliche Suppe, Tante Phoebe… ich meine… Phoebe«, sagte Mary. Sie hatte die Situation retten wollen, verschlimmerte sie aber noch durch diesen Versprecher. Sie wurde rot. »Du kannst ruhig Tante Phoebe zu mir sagen, wenn du möchtest«, lächelte Phoebe. »Aber du bist doch nicht unsere Tante, oder?«, warf Alice dazwischen, während sie in die heiße Suppe auf ihrem Löffel blies. »Du musst erst mit Onkel Jack verheiratet sein, damit du unsere Tante bist.« »Kann sein«, antwortete Phoebe und warf Jack einen Hilfe suchenden Blick zu. »Wann kommt das Baby auf die Welt?«, fragte Mary. Sie versuchte noch einmal das Thema zu wechseln. »Ende Januar«, erwiderte Phoebe. »Aber…«, platzte Alice heraus, obwohl William sie drohend ansah. Sie klappte den Mund zu und beschloss nichts mehr zu sagen. »Aber was, Alice?«, fragte Phoebe. »Nichts«, murmelte sie. Nach der Suppe gab es Nudelauflauf mit Ofenkartoffeln und Sa-
lat. Der Rest des Essens ging ohne allzu viele peinliche Bemerkungen vorüber, bis William nach Ketchup fragte. »Oje! Wir haben nur hausgemachtes Chutney. Geht das auch?«, fragte Phoebe erwartungsvoll. »Schon gut«, sagte William und wäre am liebsten im Boden versunken. »Es ist ganz lecker, Will«, versicherte Phoebe und ließ sich ihr Essen schmecken. »Ich liebe Ofenkartoffeln«, sagte Mary tapfer. Der Nachtisch wurde immerhin allgemein für »super« befunden. Mary sagte es, Alice stimmte ihr zu und William nickte und bat um noch eine Portion. Es gab Bananentorte mit Sirup und Phoebe erzählte, dass sie das Rezept selbst erfunden habe. »Sie kann wahnsinnig guten Nachtisch machen«, sagte Jack und nahm sich auch noch eine Portion. »Wartet mal, bis ihr die Schokoladen-Mousse probiert habt.« »Habt ihr es gemerkt?«, fragte Mary später, als die Mädchen im Bett lagen und William, in sein eigenes Federbett gewickelt, auf dem Boden zwischen den Betten saß. »Er ist wahnsinnig verliebt in sie, das ist klar.« »Igitt! Wie abscheulich!«, empörte sich Alice. »Wieso klar?«, fragte William. »Es war doch gar nicht so klar.« »Frauen merken das«, sagte Mary selbstgefällig. »Du bist keine Frau, Mary«, fuhr Alice sie ungeduldig an. »Und überhaupt, wenn sie so verliebt sind – warum heiraten sie dann nicht? William, was passiert mit dem Baby, wenn sie nicht heiraten?« »Nichts«, antwortete William. »Das macht keinen Unterschied.« »Außer, dass es unehelich ist«, wisperte Mary dramatisch. »Was ist unehelich?«, fragte Alice besorgt. Es hörte sich ziemlich schrecklich an. »Eltern zu haben, die nicht verheiratet sind. Das ist alles. Hör nicht auf Mary, sie ist wieder mal ein bisschen schrullig. Man muss nicht verheiratet sein, um Kinder zu haben«, sagte William. »Ich weiß das«, rief Alice wütend. »Aber trotzdem… ich meine, wenn es egal ist, warum heiratet man dann überhaupt?« Die drei dachten einen Augenblick darüber nach. »Ich habe immer geglaubt, man müsste verheiratet sein, um Kinder zu haben«, sagte Mary schließlich. »Muss man aber nicht, oder?«, fragte Alice unsicher.
»Nein, natürlich nicht.« »Das habe ich doch gerade gesagt, Mary. Sei doch nicht immer so superschlau.« »Hört auf mit der Streiterei, ihr beiden«, unterbrach William sie. »Natürlich muss man nicht verheiratet sein, um Kinder zu haben. Aber früher war es eine Sünde, wenn man es nicht war. Nur glauben die Leute das heute nicht mehr. Oder wenigstens manche nicht.« »Jetzt bin ich ganz durcheinander«, seufzte Alice. »Trotzdem wundere ich mich«, sagte Mary nachdenklich, »warum sie nicht geheiratet haben.« »Frag sie doch«, sagte William und wollte die Diskussion beenden. »Das kann ich nicht«, versicherte Mary. »Das wäre mir peinlich.« »Ich frage sie, mir macht das nichts aus«, sagte Alice. »Nein, Alice. Lass sie einfach in Ruhe«, riet ihr Bruder. »Mama hat jedenfalls gesagt, dass sie irgendwann heiraten werden.« »Aber das ist schon so lange her und sie haben es immer noch nicht getan.« »Vielleicht wollen sie erst mit dem Haus fertig sein«, schlug William wenig überzeugt vor. »Aber das dauert noch ewig und das Baby wird unehelich sein«, schluchzte Alice dramatisch und gähnte dann laut. »Ich gehe ins Bett«, sagte William. Er stand auf und ging zur Tür. »Es ist eiskalt hier.« »Mir ist aber schön warm im Bett«, sagte Mary schläfrig. »Schlaf schön, Will.« »Süße Alpträume, Mary«, sagte William mit gespieltem Entsetzen. »Nacht, Alice.« Aber Alice schlief schon. Er schaltete beide Lichter aus und ging auf Zehenspitzen hinaus. Im Flur war es stockfinster und sein Zimmer füllte schwaches Mondlicht mit einem gruseligen weißen Schleier. Er ging zu dem kleinen Fenster und sah in die Nacht hinaus. Zuerst konnte er nichts erkennen, aber nach und nach gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel. Er sah das steil abfallende Dach und darunter eine Ecke des mondhellen Gartens. Weiter weg ragte eine vom Wind zerzauste Baumgruppe in den Sternenhimmel. Die Wolken bewegten sich schnell über den fast schon vollen Mond, der ihm so nah vorkam, als könnte er das Fenster öffnen und nach ihm greifen. Er wollte sich gerade umdrehen und zu seinem Bett gehen, als etwas Schwarzes
direkt vor ihm am Fenster flatterte. Erschrocken wich er zurück. Das Wesen landete genau unter dem Fenster auf dem abschüssigen Dach. Einen Moment lang war er verwirrt, dann merkte er, dass es ein großer, dunkler Vogel war. Das Tier legte seine Flügel an und drehte langsam seinen Kopf so weit herum, als wäre er auf einer Drehscheibe befestigt. Zwei riesige, weiß umrandete Augen starrten ihn an und blinzelten. William stand stocksteif und beobachtete atemlos, wie die Eule mit einem langen, traurigen und gespenstischen Schrei, halb Flötenton, halb menschlicher Seufzer, ihren Kopf wieder zurückdrehte und mit ausgebreiteten Flügeln im Mondlicht davonflog.
4 Der Schnee Mary schreckte aus dem Schlaf auf. Das Zimmer war ihr fremd und sie brauchte einen Moment, bis sie wusste, wo sie war. Helles Tageslicht blendete sie. Sie setzte sich im Bett auf und bekam eine Gänsehaut, als die Bettdecke ihr von den Schultern rutschte. Es war schrecklich kalt. Dann sah sie Alice in ihr Federbett gewickelt am Fenster knien. »Alice? Was machst du da? Du wirst noch erfrieren.« Ihre jüngere Schwester sah sich um und lächelte. »Komm her und sieh dir das an«, flüsterte sie und winkte sie zum Fenster. Mary schlug sich das Federbett um die Schultern und hüpfte über den kalten Boden zu Alice hinüber. Draußen schien die Sonne blassgelb von einem verhangenen Himmel. Das Land unter ihr war weiß. Das abschüssige Dach war weiß. Die Hügel waren weiß. Die Bäume waren weiß. Lange Eiszapfen hingen von der Regenrinne neben dem Gaubenfenster und glitzerten im Licht. Ein leichte Brise wehte zarte Schleier aus Schnee über das Dach. »Schnee«, flüsterte Mary. »Ist es nicht schön, Mary?«, murmelte Alice. »Es ist kalt«, sagte Mary und rannte zurück in ihr warmes Bett. »Ich sehe mal nach, ob Will schon wach ist«, sagte Alice und lief aus dem Zimmer. Aber William schlief nicht nur, er wollte auch nicht geweckt werden. Alice schüttelte ihn ein paar Mal und versuchte ihn mit der Aussicht auf Schnee wachzubekommen. Aber er sagte nur: »Hau ab, Alice!«, und zog sich die Decke über die Ohren. Sie kehrte enttäuscht in ihr Zimmer zurück. Aber auch Mary hatte sich wieder ins Bett gekuschelt und schlief. Alice ging zum Fenster und starrte verdrießlich hinaus. Draußen war alles strahlend weiß. Alice musste die Augen ein bisschen zusammenkneifen, damit die Helligkeit sie nicht blendete. Durch ihren Atem war das Fenster beschlagen. Als sie mit ihrer
Hand ein Guckloch freirieb, bemerkte sie eine Bewegung unter den Bäumen am Rand der Einfahrt, die man von hier aus gerade noch sehen konnte. Sie reckte sich zur Seite und konnte Fußstapfen im tiefen Schnee erkennen. Sie führten von der Einfahrt weg und verschwanden im Wald. Obwohl niemand zu sehen war, war sie sicher, dass sie gerade eben erst frisch entstanden waren. »Mary«, sagte sie, »da draußen ist jemand.« Aber Mary schlief. Alice zuckte ungeduldig mit den Schultern und zog sich an. Sie schlüpfte in ihre Jeans, einen dicken Pullover und ein Paar Socken und setzte sich eine Strickmütze auf. Sie konnte ihre Handschuhe nicht finden und merkte, dass sie die Gummistiefel nicht mitgebracht hatte. Aber ihre Turnschuhe standen noch unter dem Bett, wo sie sie gestern Nacht hingestellt hatte. Sie hob sie auf und rannte schnell aus dem Zimmer und die Wendeltreppe hinunter. Die Halle lag noch in düsteren Schatten. Alice blieb kurz stehen, um sich ihre Schuhe anzuziehen, dann ging sie hinüber zu der großen Eichentür. Sie war abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte. Alice strengte sich sehr an und benutzte beide Hände, um den Schlüssel umzudrehen, aber die Tür bewegte sich nicht. Dann merkte sie, dass sie oben und unten verriegelt war. Der untere Riegel war leicht zu handhaben. Aber um an den oberen zu kommen, musste sie sich auf einen Stuhl stellen. Schließlich konnte sie die Tür öffnen. Alice drehte den eisernen Knauf herum und zerrte und zog so lange, bis die Tür aufschwang. Dann ging sie hinaus in die frostige, frische Luft. Sie war in einer stillen, glitzernden Welt. Ihr Atem kam in kleinen Wölkchen aus ihrem Mund und die Kälte kribbelte auf ihren Wangen. Vor ihr lag der Schnee wie ein makelloser Teppich bis zum Waldrand. In einiger Entfernung konnte sie entlang der Einfahrt die dunklen Flecken der Fußstapfen erkennen, die sie von ihrem Fenster aus gesehen hatte. Alice trat aus dem Eingang und stellte einen Fuß leicht auf die Schneeoberfläche. Es knirschte, als er durch ihr Gewicht in den Schnee einsank. Sie ging noch einen Schritt und noch einen und noch einen. Jedes Mal machten ihre Füße im frischen Schnee dasselbe knirschende und quietschende Geräusch. Alice fühlte sich wie eine Entdeckerin in einem fremden Land oder wie der erste Astronaut auf dem Mond. Jeder Schritt war völlig neu. Als sie an die Stelle kam, an der sich die Fußstapfen von der Einfahrt entfernten, blieb sie stehen. Zum ersten Mal fragte sie sich, von wem sie wohl sein könnten. Wer immer es war, dachte Alice, er
konnte nicht vom Haus gekommen sein. Sie hatte die unbestimmte Vorstellung gehabt, dass vielleicht Onkel Jack einen Morgenspaziergang gemacht hatte. Aber jetzt konnte sie sehr deutlich sehen, dass die Fußspur aus der der Einfahrt entgegengesetzten Richtung kam. Das fand sie ziemlich seltsam und es hielt sie davon ab, sofort loszurennen und der unbekannten Person nachzulaufen. Sie stand neben der Einfahrt und suchte die dichten Bäume mit den Augen ab. Vielleicht konnte sie ja etwas sehen und musste nicht zu weit in den Wald hinein. Große Stille umgab sie. Der Schnee dämpfte jedes Geräusch. Sogar ihr eigener Atem hörte sich weit entfernt an. »Hallo«, rief sie mit schwacher Stimme. »Hallo! Ist da jemand?« Aber niemand antwortete ihr. Sie hob einen Fuß und setzte ihn in den Fußabdruck vor ihr. Der Abdruck war größer als ihr Fuß und die Entfernung zum nächsten Abdruck war fast zu weit für sie. »Hallo«, rief sie wieder. Sie streckte das andere Bein nach vorne und trat mit einem großen Schritt in den nächsten Abdruck. Ihre Füße standen nun so weit auseinander, dass sie fast umgefallen wäre, als sie den hinteren Fuß aus dem Schnee hob. »Das ist zu blöd!«, sagte sie laut und lief schnell an der Spur entlang auf den Wald zu. Der Wind hatte den Schnee schräg gegen die Bäume geweht und die Fußstapfen waren eine Weile gut zu erkennen. Sie verliefen mehr oder weniger geradeaus, umgingen Bäume und folgten einem steilen Hügel hinauf bis zu einer Lichtung. Auf der Lichtung hörten sie zu Alice’ Überraschung plötzlich auf. Bis zur Mitte der Lichtung gab es deutliche Fußabdrücke und dann – nichts mehr. Alice stand an der Stelle, wo sie abbrachen, und starrte auf den Schnee. Das war nicht möglich! Wo waren sie? Sie suchte den Boden vor sich ab. Vielleicht waren die Abdrücke ja nur verweht und tauchten ein Stück weiter wieder auf. Aber sie waren einfach weg. In einiger Entfernung war der Schnee auf der Lichtung allerdings ganz zerwühlt, als ob ein Tier dort gewesen wäre. Es gab auch viele Vogelspuren, aber die menschlichen Abdrücke blieben verschwunden. Langsam wurde Alice die Bedeutung ihrer Entdeckung bewusst und sie schaute sich nervös um. Den Hügel hinunter wuchsen die Bäume immer dichter. Sie konnte weder das Haus noch die Einfahrt sehen. Sie war tatsächlich so hoch gestiegen, dass sie auf die andere Seite des Tals schauen konnte. Dort drüben waren die Bäume weniger verschneit. Wie auf einer Kohlezeichnung hoben sie sich schlank und dunkel von dem weißen Untergrund ab. Dahinter verschwam-
men die Umrisse höherer Berge in einem dünnen Nebelschleier. Der Wind trieb dunkle Wolkenwände vor sich her, die sich über das Tal legten und die Sonne verdunkelten. Plötzlich wurde es viel kälter. Irgendwo in der Nähe schrie ein Tier. Der Schrei hallte seltsam und gespenstisch von den Bäumen wider. Alice drehte sich sofort um und rannte so schnell sie konnte zurück in Richtung des Abhangs. Sie zwang sich, nicht zurückzuschauen, denn sie war davon überzeugt, dass das Tier – ein Wolf, ein tollwütiger Hund oder sonst ein schreckliches Wesen – direkt hinter ihr her war und sie jeden Augenblick mit Klauen und Zähnen zerfleischen würde. Sie erreichte den Rand der Lichtung und schlidderte und rutschte den Pfad zwischen den Bäumen hinunter. Gerade als sie bereits die Einfahrt sehen konnte, blieb sie an einer Wurzel hängen. Sie stolperte und purzelte kopfüber bis zum Fuß des Hügels, wo sie im dicken Schnee landete. Benommen und atemlos lag sie da. Aber einen Augenblick später schien sich ihre Furcht zu bestätigen. Ein riesiger schwarzweißer Hund kam in großen Sätzen aus dem Wald gelaufen und sprang bellend um sie herum. Alice blieb zusammengekauert und zitternd vor Angst auf dem Boden liegen. Aber der Hund griff sie nicht an. Er sprang um sie herum, wedelte mit dem Schwanz, grub seine Vorderpfoten in den Schnee und streckte hechelnd seine Zunge heraus. »Guter Hund«, flüsterte Alice unsicher und versuchte tapfer zu sein. Beim Klang ihrer Stimme winselte der Hund freudig, machte einen Satz nach vorne und schnappte nach der Luft. Dann setzte er sich vor sie in den Schnee und hob eine Pfote hoch. »Guter Hund«, sagte Alice diesmal ein bisschen lauter und hielt ihm ihre Hand entgegen, damit er daran schnuppern konnte. Der Hund leckte ihr die Hand und kroch aufgeregt winselnd näher. Alice stand auf. Der Hund erhob sich auch, stellte sich neben sie und sah zu ihr auf, als ob er einen Befehl von ihr erwartete. »Ich muss jetzt nach Hause gehen«, sagte sie und lief zum Haus hinunter. Im Eingang drehte sie sich noch einmal um. Der Hund stand immer noch am selben Fleck, eine Pfote in der Luft, und beobachtete sie mit erhobenem Kopf. »Bis bald«, rief sie und sofort drehte sich der Hund um und jagte den Hügel hinauf in den Wald. »Wo warst du, Alice? Wir haben dich überall gesucht«, sagte
William, als sie die Halle betrat. Er kam gerade die Treppe herunter und sah aus, als ob er gleich böse würde. »O Will«, sagte Alice. Sie lief zu ihm und umarmte ihn. »Weg da«, sagte er. »Du bist klatschnass. Was hast du angestellt?« »Ich war draußen im Schnee«, sagte sie und lief an ihm vorbei die Treppe hinauf. »Und wohin gehst du jetzt?« »Mich umziehen«, antwortete sie schmollend. »Du hast doch gerade gesagt, ich wäre klatschnass.« »Dann beeil dich. Das Frühstück ist fertig – und wage es bloß nicht, nach Schinken zu fragen!«, sagte er drohend. Er ging die letzten Stufen hinunter zur Küchentür. »Will«, rief Alice. Sie blieb auf der Galerie stehen und beugte sich über das Geländer. »Was?«, fragte William und sah zu ihr hoch. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Alice. »Ich weiß«, antwortete William ruhig. »Du denkst das auch?«, fragte Alice erstaunt. »Wir beraten uns nach dem Frühstück«, sagte er und ging in die Küche.
5 Die Beratung »Ich glaube, ihr macht zu viel Wind um nichts«, sagte Mary. Sie sah in den Spiegel und bürstete sich die Haare über die Stirn, um festzustellen, wie sie mit einem Pony aussah. »Nur weil du noch nichts bemerkt hast«, sagte William. »Wirklich, du bist manchmal unmöglich, Mary. Und hör endlich auf in den Spiegel zu glotzen. So was von eitel.« »Ich kämme meine Haare. Und überhaupt bin ich so schön, dass ich mich immerzu ansehen muss!«, grinste sie und streckte Bruder und Schwester die Zunge heraus. Sie hatten sich ins Zimmer der Mädchen zu einer Beratung zurückgezogen, so wie William vor dem Frühstück vorgeschlagen hatte. Beide Lampen waren an, denn es war, obwohl Vormittag, dunkel im Zimmer. Schwere Wolken hingen draußen am Himmel und kündigten mehr Schnee an. »Jedenfalls könnte ich mit dir zu der Stelle gehen, wo die Fußspur aufhörte«, rief Alice. »Ich könnte sie dir zeigen.« »Ah ja?«, sagte Mary. »Das beweist gar nichts. Vielleicht sind sie ja von einer Lawine verdeckt worden…« »Sei nicht blöd, Mary. Wir sind nicht in der Schweiz.« »Aber wir haben Schnee, oder nicht? Und Alice hat gesagt, er sei tief. Der Schnee könnte weggerutscht sein… mehr tut eine Lawine auch nicht.« »Ist er aber nicht, Mary. Er war ganz glatt. Ich möchte es dir am liebsten zeigen…« »Ich glaube dir, Alice«, sagte William. Er stand auf und ging zum Fenster. »Aber wenn wir nicht bald gehen, wird die Fußspur weg sein. Es schneit gleich wieder.« »Und dann war da der Hund«, erzählte Alice weiter, während sie sich die Schuhe anzog. »Igitt! Die sind ja nass.« »Was ist so besonders an einem Hund hier auf dem Land? Er könnte jedem gehören.« »Aber es war so… ich weiß nicht, wie ich es erklären soll… es war so, als ob er mich schon kannte.«
»Also wirklich!«, sagte Mary und ging hinüber zum Schrank. Sie nahm ein rotes Kleid am Bügel heraus und hängte es vor das Fenster an einen Balken. »Was um Himmels willen machst du da?«, fragte William verzweifelt. »Es ist vom Koffer ganz verknautscht. Ich möchte es an Weihnachten anziehen, wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte Mary zu ihm. »Aber warum hängst du es dahin?« »Um es zu lüften.« William und Alice warfen sich mitleidige Blicke zu und William klopfte sich mit dem Finger an die Stirn. »Glaubst du, es gibt noch Hoffnung für sie, Will?«, fragte Alice mit leiser Stimme. William schüttelte ernst den Kopf. »Sie muss tatsächlich ins Irrenhaus. Armes Ding.« »Ja, armes Ding«, echote Alice und schluchzte dramatisch auf. »Jetzt haltet beide die Klappe!« Mary verlor die Geduld. »Wenn ihr mich schon für verrückt haltet, was ist dann mit euch? Alice mit der verschwundenen Fußspur und du, William, mit dem verschwundenen Mann.« »Und dem Fuchs, Mary«, fuhr William sie an. Er verlor nun auch die Geduld. »Du hast also einen Fuchs gesehen. Und was ist so besonders daran?« »Er sah mich an. Und die Eule auch. Sie sahen mich an, Mary.« William senkte die Stimme zu einem leisen Flüstern. »Als ob sie mich erwartet hätten.« »Mein Hund auch«, rief Alice dazwischen. Sie bestand auf ihrem Anteil an der Geschichte. Die drei Kinder sahen sich eine Weile schweigend an. »Aber was könnte das bedeuten?«, fragte Mary. »Warum sehen euch all diese Tiere an und wer war der Mann?« »Ich weiß es nicht«, sagte William leise. »Aber ich kann euch versichern, wenn er am Bahnhof in den Zug gestiegen wäre, hätte ich die Türe zufallen hören. Und das habe ich nicht. Ich weiß, dass ich es nicht gehört habe. Und wenn er sich da in Luft auflösen konnte, warum sollte er es nicht noch einmal tun? Heute Morgen da draußen im Schnee.« »O William«, flüsterte Mary. »Müssen wir jetzt Angst haben?«
»Ich glaube nicht«, antwortete ihr Bruder. »Sie schienen alle freundlich zu sein…« »Wer – alle?«, unterbrach Mary nervös. »Der Fuchs und die Eule…« »Und mein Hund war sehr freundlich«, fügte Alice eifrig hinzu. »Und der Mann?«, fragte Mary und sah William an. »Er war ziemlich freundlich«, erwiderte William nachdenklich. »Aber er war auch ein bisschen – nun, streng. Wie ein… Lehrer… wisst ihr, was ich meine? Er starrte mich so an…« »Aber das hat doch auch schon der Fuchs getan.« »Es war das Gleiche. Genau das Gleiche.« Sie schwiegen wieder und waren tief in Gedanken, als Phoebe ins Zimmer kam. »Oh, was habt ihr mich erschreckt«, rief sie aus. »Ich dachte, ihr wärt draußen. Es war so still hier oben. Geht es euch gut?« »Ja, danke, Phoebe«, antwortete William für alle drei. »Jack fährt in die Stadt. Ihr könnt mitfahren, wenn ihr wollt. Ich habe heißen Kakao gemacht. Kommt runter in die Küche, da ist es viel wärmer.« »Phoebe«, fragte Alice, als sie aus dem Zimmer gingen, »gibt es hier einen großen schwarzweißen Hund?« »Habt ihr ihn gesehen?«, fragte Phoebe überrascht. »Jack sagt, ich hätte ihn erfunden. Ich habe ihn oft gesehen, aber ich weiß nicht, wohin er gehört.« »Vielleicht lebt er hier irgendwo«, sagte William rasch. »Nun, er wäre hier willkommen, aber er kommt niemals ins Haus. Ich habe versucht ihn anzulocken. Ich mache mir Sorgen um ihn, besonders wenn er bei diesem Wetter herumstreunt.« »Ist es dir recht, wenn ich ihn einmal mitbringe?«, fragte Alice. »Er scheint mich zu mögen.« »Da musst du erst Jack überreden. Er will keine Tiere im Haus, bis er mit der Renovierung fertig ist. Und dann kommt natürlich das Baby… Aber ich hätte gerne einen Hund hier. Besonders wenn Jack nicht da ist.« »Hast du Angst alleine?«, fragte Alice mit großen Augen. Phoebe sah sie einen Moment nachdenklich an. »Ich glaube nicht, dass das Haus uns schon angenommen hat«, antwortete sie in ernstem Ton. »Aber das wird es sicher noch.« Dann lächelte sie. »Ich möchte, dass ihr alle dabei helft. Ich glaube, Häuser mögen junge Menschen. Und dieses stand so lange leer und vorher
lebten alte Leute hier.« »Sind sie hier gestorben?«, fragte Mary ängstlich. »Ich glaube schon«, antwortete Phoebe heiter. »Da ist nichts dabei, was euch Angst machen müsste. Der Tod ist das natürliche Ende des Lebens, das ist alles. Man muss sich nicht davor fürchten. Jetzt kommt. Wenn wir hier noch lange stehen, wird der Kakao kalt!« Sie ging aus dem Zimmer. »Ich will nicht mit in die Stadt, William«, flüsterte Mary. »Ich will hier bleiben und mir die Fußspur ansehen.« »Du glaubst mir also doch«, flüsterte Alice glücklich. Mary nickte ernst mit dem Kopf. »Wieso glaubst du mir jetzt?«, flüsterte Alice. Mary zuckte stirnrunzelnd mit den Schultern. »Die Art, wie Phoebe geredet hat. Ich glaube, sie weiß etwas.« »Was meinst du damit, Mary?«, fragte William. »Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gefühl.« Bevor Jack in die Stadt fuhr, tranken sie alle in der Küche Kakao und aßen Kekse. »Vor allem will ich mir den Zustand der Straße ansehen«, erklärte er. »Seid ihr sicher, dass ihr nichts braucht?«, fragte Phoebe die Kinder. »Das ist eure letzte Chance vor Weihnachten.« Aber sie hatten schon alle Weihnachtsgeschenke eingekauft. Weil ihre Eltern ja in Afrika waren, hatten sie ihre Päckchen schon sehr früh schicken müssen. Mary war beauftragt worden eine Schachtel Pralinen für Jack und Phoebe zu kaufen. Und natürlich hatte jeder auch schon die Geschenke für die Geschwister. »Welche Schuhgrößen habt ihr?«, fragte Jack, als er in den Landrover einstieg. »Ich kaufe euch besser Gummistiefel. Wenn es weiter so schneit, werdet ihr sie brauchen.« Er fuhr langsam die Einfahrt hinunter. Die Autoreifen schnitten tiefe Rillen in den Schnee. »Also kommt«, sagte William, als sie den Landrover nicht mehr sehen konnten. »Zeig uns jetzt die Fußspur, Alice. Wenn wir noch länger warten, schneit es tatsächlich noch. Wir gehen spazieren, Phoebe, ist das okay?«, rief er durch die Küchentür. »Geht nicht zu weit. Das Wetter verspricht nichts Gutes«, rief sie zurück. »Mittagessen ist um eins!«, fügte sie noch hinzu. »Mittagessen!«, empörte sich Alice leise. »Wetten, dass es Kohl
und Möhren gibt?« Das waren die Gemüsesorten, die sie am wenigsten mochte. Dann rannte sie voraus, quer über die verschneite Wiese, zu der Fußspur im Schnee.
6 Das Fenster Alice führte sie den steilen Hügel hinauf. Dabei folgte sie der geheimnisvollen Fußspur und ihren eigenen kleineren Abdrücken. Sie zeigte ihnen die Stelle, wo sie ausgerutscht und hingefallen war, und den zerwühlten Schnee, wo der Hund um sie herumgesprungen war. Auf der Lichtung blieb sie da stehen, wo die Fußstapfen plötzlich aufhörten. »Glaubt ihr mir jetzt?«, sagte sie triumphierend. »Ich habe dir eigentlich immer geglaubt, Alice«, beteuerte Mary. »Ich habe nur gesagt, dass es vielleicht eine einfache Erklärung für alles gibt.« »Aber welche?«, fragte William und starrte den Schnee nachdenklich an. Dann ging er zu den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung. Alice setzte ihre Füße in die letzten beiden Fußabdrücke. »Wo sind Sie?«, rief sie laut. »Nicht, Alice«, sagte William eindringlich. »Warum nicht?«, fragte Alice überrascht. »Ich mag das hier nicht. Es ist etwas… Gruseliges an allem hier.« »Ich habe keine Angst.« Alice steckte ihre Hände in die Anoraktaschen. »He, bleib mal ruhig stehen, Alice«, sagte Mary plötzlich und rannte auf Alice zu. »Ist dir etwas aufgefallen? Sind die Fußspuren irgendwie anders?« Alice blickte hinunter auf ihre Füße in dem Schneeabdruck. »Hm… wem die auch immer gehören, er hat größere Füße als ich.« »Da ist noch was. Siehst du es nicht? Den ganzen Weg hierherauf verlaufen die Abdrücke hintereinander, weil derjenige gegangen ist. Aber diese letzten beiden sind nebeneinander.« »Also blieb die Person stehen«, sagte William, der merkte, worauf Mary hinauswollte. »Genau«, sagte Mary aufgeregt. »Und noch was. Sieh mal da drüben. Was erkennst du noch, Alice?« Alice starrte in die Richtung, in die Mary zeigte. »Ich sehe alles Mögliche«, antwortete sie. »Die Bäume, den
Schnee…« »Was ist mit den Abdrücken?« Sie zeigte auf die Stelle, wo der Schnee zerwühlt war. »Da sind keine. Sie sind verschwunden. Da ist nur ein einziges Durcheinander, als ob die Person von hier nach da gesprungen und dann hingefallen wäre.« William schüttelte den Kopf und lief zu der zerwühlten Stelle im Schnee. Er maß die Entfernung zu Alice mit den Augen. »Nein. Das ist zu weit. Jemand, der so weit springt, müsste zuerst Anlauf nehmen. Aber er stand still.« »Ein Mensch müsste wohl zuerst Anlauf nehmen«, sagte Mary ruhig. Die anderen beiden sahen sie an. »Aber wer immer es ist, es muss ein Mensch sein. Das sind ganz eindeutig menschliche Fußabdrücke«, protestierte William. »Ja, das ist richtig«, stimmte Mary zu. »Aber das hier«, sie lief zu dem zerwühlten Schnee, »das hier sind Tierspuren. Und ein Tier könnte von da, wo Alice steht, bis hierher gesprungen sein, oder nicht?« »Was für ein Tier?«, fragte Alice mit ängstlicher Stimme. »Ich weiß nicht«, sagte Mary achselzuckend. »Vielleicht ein großer Hund.« »Mary«, schrie Alice, »meinst du, der Mann hat sich in den Hund verwandelt?« »Ich weiß nicht«, sagte Mary leise. »Was meinst denn du, Will?« »Am Bahnhof habe ich mir den Fuchs angesehen… und… ich kann mich nicht so genau erinnern… ich habe den Fuchs angestarrt oder eher der Fuchs mich… und… ich habe gehört, wie der Mann mich rief. Ich erinnere mich, dass ich einen Moment lang glaubte, der Fuchs hätte gesprochen, bis mir einfiel, dass das nicht möglich ist. Dann verschwand der Fuchs und ich drehte mich um und sah den Mann, der mich genauso anstarrte wie der Fuchs.« William wandte sich um und sah Mary an. »Also hat der Fuchs sich in den Mann verwandelt? Glaubst du das?«, fragte sie ihn ruhig. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, antwortete er nachdenklich. »Meinst du denn, diese Fußspur stammt von dem gleichen Mann?«, fragte Alice. »Oder gibt es noch mehr… Männer?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, sagte William verzweifelt.
»Ihr wisst, wovon wir da sprechen, oder?«, fragte Mary. »Wovon, Mary?«, würgte Alice hervor. »Magie«, antwortete Mary. Alice rannte zu ihrem Bruder und nahm ihn bei der Hand. »Lass uns zurückgehen, Will. Ich mag das hier nicht.« »Dann kommt«, sagte ihr Bruder und er klang fast erleichtert über den Vorschlag. Sie wollten so schnell wie möglich wieder weg von dem Hügel. Aber sie mussten vorsichtig sein, denn der Schnee war rutschig und sie wollten nicht hinfallen. Da blieb Mary plötzlich stehen. »Hört mal«, sagte sie. »Mir ist gerade noch etwas eingefallen. Der Name des Bahnhofs – Druce Coven.« »Was ist damit?«, fragte William und in seinem Gesicht stand deutlich seine Nervosität. »Siehst du es nicht? Coven heißt Hexenkreis.« Mit einem lauten Schrei rannte Alice los. Sie hatte genug gehört. Sie hatte genug und sie wollte weg. »Alice, warte auf uns!«, rief William. Aber sie verschwand schon zwischen den Bäumen am Rande der Lichtung. Mary und er liefen ihr nach und rutschten und schlidderten den Hügel hinunter in den dunkleren Wald. Alice wartete außer Atem auf sie in der Einfahrt. Als William und Mary zwischen den Bäumen hervorkamen, fielen die ersten zarten Schneeflocken vom Himmel. »Tut mir Leid«, sagte Alice und hakte sich bei beiden ein. »Ich wollte weg von da oben. Ich habe die ganze Zeit gedacht, jemand beobachtet uns.« »Kommt, wir gehen einfach ins Haus. Es ist sowieso bald Zeit zum Mittagessen.« Schweigend gingen sie die Einfahrt entlang auf das Haus zu. Dann blieben sie einen Moment lang stehen und betrachteten es. »Eigentlich ist das Haus für Onkel Jack und Phoebe doch viel zu riesig«, sagte Alice. »Aber sie wollen doch ein Hotel daraus machen«, sagte William. »Müssen wir dann jedes Mal bezahlen, wenn wir kommen?«, fragte Mary. »Natürlich nicht. Wir gehören doch zur Familie.« »Ich finde es nicht gut, wenn noch andere Leute da sind, die wir gar nicht kennen.« »Es dauert bestimmt noch lange bis dahin«, sagte William und
sah das Haus nachdenklich an. »Onkel Jack hat noch furchtbar viel Arbeit damit und er kann es sich nicht leisten, einen Architekten zu beauftragen.« »Aber versteht er denn etwas davon?«, sagte Mary. »Ich dachte, er wäre Wissenschaftler oder so.« »Er macht Bomben«, sagte Alice fröhlich. »Nein, das tut er nicht, Alice. Er hatte mit Atomenergie zu tun.« »Ich dachte, das wären Bomben«, sagte Alice und trat gegen den Schnee. »Es ist Energie. Wie Elektrizität, weißt du?« »Warum hat er aufgehört?«, fragte Mary. »Mama hat gesagt, er hat ein Vermögen verdient.« »Er ist ausgeschieden«, sagte William, aber es hörte sich nicht so an, als sei er ganz sicher, was er meinte. »Vielleicht hat Phoebe ihn überredet.« »Aber warum?«, wollte Mary wissen. William zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte sie immer schon ein Hotel führen«, sagte er. »Ich weiß noch nicht, ob das ein gutes Hotel wird«, sagte Mary mehr zu sich selbst. »Nicht, wenn man dauernd nur Gemüse zu essen bekommt. Wer will das schon?« »Andere Vegetarier«, sagte William. »Gibt es noch mehr?«, fragte Alice entsetzt. »Jede Menge«, sagte William. »Ich denke, sogar manche unserer Freunde gehören dazu.« »Tun sie nicht«, gab sie mit einem vernichtenden Blick zurück. »Alle meine Freunde essen Würstchen. Das ist eine meiner Regeln. Und überhaupt – was essen Vegetarier an Weihnachten?« »Kohlrouladen, nehme ich an«, grinste William. »Igitt!«, rief Alice und machte Geräusche, als ob ihr schlecht wäre. Mary war die ganze Zeit über still gewesen. Jetzt griff sie nach Williams Arm. »William«, sagte sie, »siehst du auch etwas Komisches am Haus?« »Nein, bitte nicht. Nicht noch mehr schreckliche Sachen!«, bat Alice. »Was denn?«, fragte William und betrachtete das Haus. »Sieh nur mal eine Minute hin«, sagte Mary zu ihm. »Du auch, Alice. Ich glaube, ich habe Recht.«
Der Schnee fiel jetzt viel heftiger und das Haus hob sich grau dagegen ab. Der mittlere Teil des Gebäudes mit dem Eingang war aus Stein gebaut. Fast wie eine Kirche stieg er zu dem steilen und spitzen Dach auf, wo ihre Schlafzimmerfenster waren. Zu beiden Seiten dieses Hauptteils gab es zusätzliche Flügel. Einer war aus Fachwerk mit schwarz angestrichenen Holzbalken und weißem Putz dazwischen. »Das ist wohl der Teil aus dem 16. Jahrhundert«, sagte William fachmännisch. »Onkel Jack sagte, der mittlere Teil sei viel älter. Wahrscheinlich aus dem Mittelalter. Er sieht wie ein altes Kloster aus. Dann hat Onkel Jack noch gesagt, das Dach wäre beim Anbau im 16. Jahrhundert auf das Hauptgebäude gesetzt worden…« »Hör doch auf mit deiner Geschichtsstunde, Will«, stöhnte Alice. »Ich finde das interessant. Ihr habt wohl nicht zugehört, als er uns das gestern Abend erzählt hat.« »Ich musste gerade das Essen wiederkäuen«, kicherte Alice. »Aber die Bananentorte war wirklich lecker«, sagte Mary. »O jaaa!«, machte Alice und strich sich mit der Hand über den Bauch. »Und dann wurde später der andere Flügel angebaut«, erzählte William weiter, »aber ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Ist auch egal. Was soll mir denn auffallen?« »Soll ich es euch sagen?«, fragte Mary selbstgefällig. »Nun mach schon«, sagte William. »Da seht ihr unsere Fenster.« Mary zeigte zum verschneiten Dach, wo eine Reihe von Gaubenfenstern über die steilen Ziegel ragten. »Ich weiß, dass das da unseres ist, weil ich mein rotes Kleid sehen kann.« »Und?«, fragte William, ärgerlich über die Geheimnistuerei. »Ja«, fuhr Mary fort, »habt ihr nicht auch gedacht, wir wären ganz oben unter dem Dach?« »Das sind wir auch. Direkt darunter.« »Ich sehe aber noch ein Fenster etwas höher als unseres«, sagte Mary triumphierend. »Wo?«, wollte Alice wissen. »Ihr seht die Schornsteine.« Mary zeigte wieder auf das Dach. Die anderen beiden spähten durch die dicken Schneeflocken, die unaufhörlich vom Himmel fielen. Über den Gaubenfenstern erhob sich eine Ansammlung roter Ziegelschornsteine aus der Mitte des Daches. Sie sahen wie ein Bündel länglicher Lutscher aus. Jeder war
spiralförmig verziert und endete oben wie eine spitze Krone. »Ja«, sagte William und sah genau hin. »Seht ihr es denn nicht? Am Fuß der Schornsteine. Wo der rote Ziegelstein auf das Dach trifft…« »Ja, jetzt sehe ich es, Mary. Du hast Recht. Da ist ein kleines Fenster im Fuß des Kamins. Es sieht wenigstens wie ein Fenster aus.« »Es ist ganz bestimmt eins«, sagte Mary. »Aber wie kann da ein Raum sein? Und wie kommt man hin?« »Es muss von unserem Flur aus einen Weg nach oben geben. Das untersuchen wir später«, sagte William. »Es gibt bestimmt viele Geheimzimmer«, sagte Alice und wischte den weichen Schnee von ihrem Ärmel. »Ich glaube, man kann schon verloren gehen, wenn man bloß im Haus ist.« »Richtig. Lasst uns also einen Eid schwören«, sagte William mit seiner strengen Stimme. »Auf Ehre und Gewissen?«, fragte Alice im selben Ton. »Auf Ehre und Gewissen«, wiederholte William. Die drei legten ihre rechten Hände aufeinander, Mary ihre auf Williams und Alice ihre auf Marys. »Wir schwören feierlich«, sagte William vor und die Mädchen wiederholten es, »dass keiner von uns das Haus oder das Land drum herum auf eigene Faust untersucht…« »Was? Nie?«, rief Alice aus. »Niemals«, beharrte William. »Ach Will!« »Schwöre es, Alice!« »Aber es ist so langweilig, immer alles zusammen zu machen. Wir hätten die Fußspur niemals gesehen, wenn ich nicht allein rausgegangen wäre…« »Schwöre es, Alice!«, wiederholte er. »Glaubst du wirklich, es ist gefährlich?«, fragte Mary ihn. »Ich weiß es nicht. Aber wie schon gesagt, irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Es muss nichts Schlimmes sein, aber bis wir das wissen, sollten wir vorsichtig sein.« »In Ordnung«, sagte Alice mit vor Angst geweiteten Augen. »Ich will es jetzt schwören.« »Wir schwören es feierlich«, sagten sie gleichzeitig. Als die Kinder in Richtung Küchentür liefen, regte sich der Fuchs, der sie im Schutz eines Ilexstrauches beobachtet hatte, und
verschwand den schneebedeckten Hügel hinauf in den Tiefen des Waldes. »Was war das?«, fragte Mary und sah über ihre Schulter. »Was war was?«, fragte Alice. Sie hörte sich an, als hätte sie für diesen Tag genug Aufregendes erlebt. »Nichts. Schon gut«, sagte Mary. »Ich dachte, da wäre etwas, das ist alles.« »Dann lasst uns gehen«, bat Alice. »Ich erfriere.« Und sie rannte voraus. »Was war es?«, fragte William leise. »Ein Fuchs, glaube ich«, sagte Mary und versuchte gleichgültig zu klingen. William nickte mit dem Kopf. »Ich wusste, dass er es war«, sagte er. »Ich wusste es einfach.« »Lass uns reingehen, Will«, flüsterte Mary. »Alice hat Recht. Es ist kalt.« Aber William wusste, dass sie sich nicht nur wegen der Kälte so beeilte. »Was will er nur?«, sagte er wie zu sich selbst. »Uns, glaube ich«, antwortete seine Schwester und lief zur Küchentür.
7 Die Räume unter dem Dach Jack war zum Essen noch nicht zurück. Phoebe wartete, solange sie konnte, dann sagte sie den Kindern, dass sie schon essen sollten. Sie würde Jack etwas aufwärmen, wenn er zurück wäre. »Die Straße über das Moor ist bestimmt in einem schlechten Zustand bei all diesem Schnee«, sagte sie. »Er hat sich darüber Sorgen gemacht, seitdem wir hier eingezogen sind. Wegen des Babys, vermute ich. Also ehrlich! Die Menschen haben schon Kinder bekommen, lange bevor es Krankenhäuser gab und Autos, die sie dahin gefahren hätten. Armer Jack! Er muss bestimmt noch selbst Hebamme spielen, wenn es so weit ist.« »Aber es dauert doch noch so lange«, sagte Mary. »Der Schnee ist bis dahin bestimmt weg.« »Ende Januar?«, lächelte Phoebe. »Es könnte dann sogar schlimmer sein als jetzt.« »Armer Onkel Jack«, murmelte Alice. »Wieso, Alice?«, fragte Phoebe und sah sie an. »Er ist schließlich kein Arzt, oder?« Alice versuchte nicht allzu feindselig zu klingen. »Ist doch kein Wunder, dass er sich Sorgen macht.« »Mir wird es schon gut gehen«, sagte Phoebe zu ihr. »Vielleicht denkt er nicht nur an dich«, gab Alice zurück. »Es ist auch sein Baby, nicht?« Auf diesen unerwarteten Ausbruch folgte eine peinliche Stille. Alice zerschnitt energisch ihr Essen und schob es dann an den Tellerrand. »Schmeckt es dir nicht?«, fragte Phoebe nach einer Weile. »Ich habe keinen Hunger«, antwortete Alice. »Mir schmeckt es sehr gut«, sagte Mary. »Was ist das, Phoebe?« »Oh, es sind nur Linsen und Gemüse, nichts Besonderes.« »Wirklich«, fuhr Mary fort und erwärmte sich gefährlich für das Thema, »man merkt gar nicht, dass kein Fleisch drin ist.« »Ich schon«, sagte Phoebe lächelnd. »Ich auch«, stimmte Alice zu.
»Ist denn Fleisch für dich so wichtig, Alice?«, fragte Phoebe und sah sie immer noch lächelnd an. Alice zuckte mit den Schultern und sah schmollend auf ihren Teller. Eine schreckliche, verlegene Stille breitete sich aus. William sah Mary an, damit sie irgendetwas sagte, aber sie betrachtete ihre Fingernägel und tat so, als hätte sie seinen Blick nicht bemerkt. »Ich esse kein Fleisch, weil ich unmöglich das Tier töten könnte, das ich essen will. Weil das so ist, finde ich es auch nicht richtig, jemand anderen zu bitten, das Tier für mich zu töten. Ich glaube auch, dass fleischlose Kost eine genauso gute, wenn nicht sogar bessere Ernährung bietet. Hört sich das nicht vernünftig an?« Sie richtete ihre Frage an Alice, die aber nichts sagte und weiter auf ihren Teller starrte. Nach einer endlos scheinenden Stille stand Phoebe auf und holte den Eintopf vom Herd. »Möchte jemand von euch noch etwas essen?«, fragte sie und sah William und Mary dabei an. »Nein danke«, sagte William betont munter. »Ich bin satt.« »Mary?« Phoebe hielt ihr den Topf hin. Mary schüttelte den Kopf und betrachtete dabei immer noch ihre Nägel. Phoebe seufzte. »Nachtisch habe ich nicht gemacht«, sagte sie. »Wir essen abends unsere Hauptmahlzeit. Aber hier sind ein paar Äpfel…« »Dürfen wir jetzt aufstehen?«, fragte William. »Natürlich.« »Wir spülen das Geschirr«, bot Mary halbherzig an. »Nein, das tut ihr nicht«, sagte Phoebe nachdrücklich. »Ihr habt Ferien.« Sie sah aus dem niedrigen Fenster in den eisigen Hof. Es schneite immer noch. »Obwohl ich nicht sicher bin, was ihr mit eurer Zeit anfangen wollt. Ich hatte gehofft, ihr könntet lange Spaziergänge machen und andere erholsame Dinge. Aber wahrscheinlich findet ihr das langweilig. Obwohl das Land hier herum wirklich aufregend ist. Aber bei diesem Wetter macht es keinen Spaß. Vielleicht ist es auch nicht ungefährlich.« Sie stand auf, lehnte sich an die Spüle und sah auf die Winterlandschaft. »Ich hoffe, mit Jack ist alles in Ordnung«, sagte sie mehr zu sich selbst. Hinter ihrem Rücken sah Alice hoch, zog eine Grimasse und streckte ihr die Zunge heraus. Mary sah es und schlug sich mit der Hand auf den Mund, um nicht loszukichern.
»Können wir oben spielen gehen?«, fragte William unschuldig. »Spielen?«, explodierte Mary empört. »Ich spiele nicht, William!« »Doch, das tust du«, sagte ihr Bruder und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Ich habe Trivial Pursuit mitgebracht.« »Das ist zu schwer, William«, beklagte sie sich. »Und du kennst die Antworten auswendig.« »Kommt mit«, sagte er mit einem bedeutungsvollen Blick. »Ist das in Ordnung, Phoebe?« »Werdet ihr auch nicht frieren?«, fragte sie und drehte sich um. »Wir sind noch nicht richtig auf kaltes Wetter eingestellt. Jack wird an Weihnachten ein Holzfeuer in der Halle machen. Aber eigentlich ist es nur in der Küche richtig warm. Möchtet ihr nicht lieber hier spielen?« »Nein, ist schon gut, danke«, sagte er und stand auf. Mary tat es ihm nach und Alice glitt vom Stuhl, um hinterherzurennen. »Alice«, rief Phoebe. »Lass uns bitte Freunde sein.« Aber Alice schob sich an William vorbei durch die Tür und lief in die Halle. Phoebe sah enttäuscht aus. Sie begann den Tisch abzuräumen. »Macht euch da oben den elektrischen Heizofen an«, sagte sie zu William. Er folgte seinen Schwestern in die Halle und schloss die Tür hinter sich. »Ich hasse sie. Ich hasse sie. Ich hasse sie«, schluchzte Alice. Sie lag auf dem Bett, das Gesicht ins Kopfkissen gedrückt, und strampelte wütend mit den Beinen. William und Mary saßen auf Marys Bett und beobachteten sie niedergedrückt. »Ich hasse sie und ich hasse das Haus und ich wünschte, Mama und Papa wären nicht in Afrika und… oh…« Sie konnte vor lauter Schluchzen nicht weiterreden. William und Mary blieben immer noch still. William hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und Mary saß auf ihren. »Onkel Jack muss verrückt sein«, fing Alice wieder an. »Einfach verrückt. Von allen schrecklichen Frauen ausgerechnet die… Kein Wunder, dass er sie nicht geheiratet hat. Ich mache ihm keine Vorwürfe. Wenn es nicht um das Baby ginge… Wetten, dass es ein schreckliches Kind wird bei dieser Mutter? O Will…« Als Alice seinen Namen sagte, setzte sie sich mit großen Augen kerzengerade
hin, völlig erschüttert von einem Gedanken, der ihr gerade kam. »Will«, flüsterte sie erschrocken, »glaubst du, sie ist eine Hexe? Ich wette, sie ist eine. Ich wette, das ist es. Phoebe ist eine Hexe. Sie hat Onkel Jack wahrscheinlich verzaubert und ihn zu dem Baby gezwungen, damit er mit ihr in diesem schrecklichen Haus zusammenlebt und für den Rest seines Lebens nichts außer Kohl und Möhren isst.« Alice zog die Nase hoch und wischte mit der Hand über ihr tränenverschmiertes Gesicht. Die anderen beiden sahen sie einfach nur weiter an. Sie wussten aus langer Erfahrung, dass sie am besten abwarteten, bis Alice’ Wutanfälle vorbei waren. Wenn sie etwas sagten, wurde alles nur noch schlimmer. Warten war das Einzige, was half. »Ja, das glaube ich«, fauchte sie, durch das Schweigen ihrer Geschwister aus der Fassung gebracht. Sie putzte sich die Nase. »Wartet nur, bis ich hier verhungert bin. Das wird euch dann Leid tun. Ich werde mich einfach aus Nahrungsmangel in nichts auflösen.« »Alice, du magst Fleisch doch nicht mal so gerne«, sagte William versuchsweise. »Ich liebe Fleisch«, fuhr sie ihn mit neuer Energie an. »Jeder weiß, wie gerne ich Würstchen mag. Sie sind mein allerliebstes Lieblingsessen. Als wir damals Würstchen und Kartoffeln am Feuer gegrillt haben, war das das Beste, was ich je gegessen habe. Oh, ich wünschte, Mama und Papa wären hier«, sagte sie und fügte mit einer verzweifelt traurigen Stimme hinzu: »Weihnachten wird schrecklich.« Sie fing wieder an zu weinen, aber dieses Mal ruhiger. Dieses Mal waren es echte Tränen. William ging zu ihr, setzte sich aufs Bett und legte einen Arm um sie. »Wein doch nicht«, sagte er leise, »wein doch nicht, Alice. Du hast Mama und Papa versprochen, dass du tapfer bist. Sie mussten gehen, weil sie gebraucht werden. Tausende von Leuten sterben in Afrika an Hunger und weil es nicht genug Ärzte oder Medizin gibt. Mama und Papa mussten dahin, weil sie vielleicht ein bisschen helfen können. Oh Alice, bitte nicht weinen!« Als er sprach, fühlte er einen Kloß in seinem Hals und schluckte heftig, damit ihm nicht selbst die Tränen in die Augen schossen. »Jetzt kommt«, sagte Mary und stand auf. »Versuchen wir diesen Raum zu finden.« »Welchen Raum?«, fragte Alice. Sie putzte sich wieder die Nase. »Den hier über uns«, antwortete Mary nachdenklich und blickte
zur Decke hoch. »Ich habe das Fenster gar nicht richtig gesehen«, sagte Alice. Sie hörte sich immer noch elend an. »Bist du sicher, dass da eins ist?« »Ein kleines rundes Fenster direkt unterhalb der Schornsteine«, versicherte Mary, »wo die Backsteine auf das Dach treffen. Es sieht fast aus wie das Muster in den Steinen. Es ist da. Oder nicht, Will?« »Vielleicht war da mal ein Raum direkt unter dem Dach und jetzt gibt es ihn nicht mehr«, schlug William vor. »Aber woher weißt du, dass er nicht immer noch da ist?«, fragte Alice und sah ebenfalls zur Decke hoch. »Das ist leicht. Du kannst doch sehen, dass in diesem Zimmer die Wände schräg nach oben zulaufen. Es gibt keinen Platz für noch ein Zimmer darüber.« »An welcher Stelle sitzen die Schornsteine?«, fragte Mary und ging zur Tür hinaus auf den Flur. Die anderen beiden kamen hinter ihr her. Es war dunkel auf dem Flur. William drückte auf den Lichtschalter. Nichts geschah. »Die Birne ist hinüber«, sagte er. »Lass die Tür auf, Alice.« Er öffnete auch seine Tür und die des Badezimmers, das ein Fenster nach hinten hinaus hatte. Durch das Licht der drei Räume lag der Flur jetzt im Halbschatten. »Komisch«, sagte William. »Es gibt zwei Zimmer nach vorne raus, aber nur eins, nämlich das Bad, nach hinten. Ach natürlich! Mein Zimmer ist nicht so groß wie eures. Und…«, er ging ins Badezimmer, »den Rest des Raums nimmt diese Backsteinwand hier ein. Ich hab’s!« Er zeigte auf die Wand. »Die Schornsteine.« »Wo?«, fragte Alice und besah sich die Wand. »Hinter dieser Wand. Und…«, er rannte in sein Zimmer, »hier ist die andere Wand.« Dann öffnete er sein Fenster und lehnte sich hinaus. Eine kalte Windbö fuhr herein und Schnee fiel wie Puder auf die Fensterbank. »Sei vorsichtig, Will. Das Dach ist so steil«, sagte Mary und zog sich fröstelnd ihre Jacke zu. »Wonach suchst du?«, fragte Alice. Sie versuchte sich durch die schmale Öffnung an ihm vorbeizuquetschen. »Warte mal, Alice«, sagte er. »Ja, das habe ich mir gedacht. Das Dach geht noch viel weiter.« William ging vom Fenster weg und lief zur Wand, die der Tür gegenüberlag. Er klopfte dagegen. »Hört sich nicht hohl an«, sagte er nachdenklich.
»Warum sollte die Wand hohl klingen? Nun erklärt mir das doch mal bitte endlich«, bat Alice. »Ich könnte es dir von draußen zeigen«, sagte William. »Ich geh da nicht raus, es friert. Und mach das Fenster zu, William«, sagte Mary fröstelnd. Sie lief zurück in ihr Zimmer mit dem elektrischen Ofen. William und Alice folgten ihr. »Jetzt erzähl schon, Will, bitte!«, sagte Alice wieder. »Also«, fing William an, »erinnert ihr euch, dass der Mittelteil des Hauses wie ein Turm aussieht? Wie der Turm eines Klosters, nur nicht so hoch?« Die Mädchen nickten. »Zu diesem Mittelteil gehört unten die Halle mitsamt der Galerie. Das ist wahrscheinlich der einzige mittelalterliche Teil, den es noch gibt. Die Schlafzimmer unter uns befinden sich in dem Flügel aus dem 16. Jahrhundert.« »Da, wo Onkel Jack schläft«, sagte Mary, die mitdachte. »Richtig«, stimmte William zu. »Mit ihr«, sagte Alice und tat so, als ob ihr schlecht würde. »Fang nicht schon wieder an, Alice, bitte«, sagte William und versuchte seinen Gedanken nicht zu verlieren. »Die Zimmer auf der anderen Seite der Galerie befinden sich im gegenüberliegenden Flügel. Onkel Jack sagte, sie wären noch später dazugekommen. Aber um die müssen wir uns nicht kümmern. Als hier dieser Flügel angebaut wurde, wollten sie ihn höher haben als den Turm. Also wurden diese Dachzimmer dazugebaut und das Dach reichte über diesen Flügel und über den Turm hinaus. Unsere Zimmer sind also im Flügel aus dem 16. Jahrhundert, richtig? Außer einem kleinen Teil des Badezimmers und meines Zimmers, okay? Aber wenn man aus meinem Fenster schaut, sieht man, dass das Dach noch ein ganzes Stück über den mittleren Turm hinausgeht. Also muss da noch mehr Platz sein. Versteht ihr? Platz, für den es keine Erklärung gibt. Mit anderen Worten«, beendete William seine Rede triumphierend, »weitere Räume.« Die Mädchen blinzelten ihn völlig verwirrt an. »Ich weiß nicht… Vielleicht sind auch mehr Räume auf der anderen Seite dieser Wand hier«, sagte Mary und klopfte gegen die Wand. »Natürlich sind sie da. Du kannst doch die Fenster auf dem Dach sehen«, stimmte William zu. »Und?«, fragte Mary. »Es muss eine Treppe weiter hinten in unserem Flügel geben, die hinaufführt. Aber – wo ist die Treppe zu dem Raum neben meinem
Zimmer? Es kann da keine geben. Unsere Wendeltreppe ist die einzige, die hier heraufführt.« »Ich weiß es. Ich weiß es«, rief Alice. »Vielleicht gab es früher eine Tür hier oben und jemand hat sie zugemauert.« »Ja«, sagte William, »aber das ist doch seltsam, oder? Räume zumauern, damit niemand hineingeht. Warum? Was ist da drin? Warum wurden sie zugemauert? Vielleicht wollten sie etwas verstecken? Aber wenn ja – was?« Sie sahen sich schweigend an. »O Will«, sagte Mary schließlich. »Ich bin froh, dass es deine Seite des Flurs ist.« Alice drückte sich an ihre Schwester und nahm ihre Hand. »Hier ist es richtig gruselig«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich habe ein bisschen Angst.« »Ist schon in Ordnung, Alice«, sagte William, aber er klang nicht besonders sicher. »Es muss eine einfache Erklärung geben.« Er stand auf und lief zum Fenster. »Onkel Jack ist zurück«, sagte er erleichtert, als er sah, wie der Landrover in der Einfahrt rutschend zum Stehen kam.
8 Onkel Jacks Entdeckungen Die Straße über das Moor war auf der Hinfahrt gar nicht so schlecht gewesen. Es gab einige Schneeverwehungen aus der vergangenen Nacht, aber der Landrover bewältigte die eisige Oberfläche und Jack kam gut in der Stadt an. »Aber ich hatte nicht daran gedacht«, erzählte er ihnen später, »wie anders das Wetter in den Bergen ist. Hier unten schien ja die Sonne. Ich hätte nie geglaubt, dass es da oben in den Bergen schneien könnte.« Also hatte er sich mit der Rückfahrt nicht beeilt. Er hatte alles eingekauft – unter anderem drei Paar Gummistiefel für die Kinder – und war dann zum Stadtgeschichtlichen Museum gegangen. Die Leiterin Miss Prewett hatte ihm versprochen ein Buch über Golden House und das Tal zu besorgen, das einige interessante Informationen über die Geschichte des Hauses enthielt. Miss Prewett war sehr erfreut über sein Kommen gewesen. »Es ist alles so aufregend«, rief sie aus, als er mit einer Tasse Kaffee vor ihrem Schreibtisch saß. »Ich habe das Buch tatsächlich bekommen. Es gehört Major Blenkins, aber er ist so alt, er hatte sogar vergessen, dass er es besitzt. Seine Haushälterin gab es mir. Natürlich müssen wir es ihm zurückgeben, aber er leiht es Ihnen gerne, solange Sie es brauchen.« Sie klatschte mit beiden Händen auf ihren Schreibtisch und hob die Augen zur Decke. »Mein lieber Mr.…«, sie suchte in ihrem Kopf nach Jacks Nachnamen, an den sie sich nicht erinnern konnte, wenn sie ihn überhaupt jemals gewusst hatte, »natürlich habe ich nur kurz hineingeschaut« – sie zeigte auf ein dickes, zerfleddertes Buch vor ihr auf dem Schreibtisch – »und ich warne Sie, es ist keine leichte Lektüre. Das Buch wurde um 1900 von einem Jonas Lewis geschrieben, der offensichtlich viel Fantasie, aber nicht unbedingt ein Talent zum Schreiben besaß… Trotzdem ist es faszinierend.« Sie zog das Buch zu sich und blätterte die Seiten durch. »Natürlich privat veröffentlicht. Ich glaube, der Major kaufte es Vorjahren auf einer Auktion.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte beim Durchblättern. »So viel, was ich nicht wusste. Nun, um die
Wahrheit zu sagen, ich wusste eigentlich überhaupt nichts. Sehen Sie den Titel?« Sie hielt das Buch hoch, so dass Jack gerade eben den verblassten Einband sah, und legte es wieder auf den Schreibtisch, bevor er den Titel überhaupt erkennen konnte. »Hier ist das Buch also. Was für ein Glück, nicht wahr?« Jack versuchte mehrere Male während des Gesprächs zu Wort zu kommen, aber es war zwecklos. »Verstehen Sie etwas von dem Thema?«, fragte sie ihn plötzlich und blinzelte ihn durch das kleine Metallgestell ihrer Brille an. Jack war so überrascht über die Frage, dass er einen Augenblick für die Antwort brauchte. Er stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. »Es tut mir furchtbar Leid, Miss Prewett. Welches Thema?«, sagte er ein wenig atemlos. »Dieses, Sie Dummkopf!«, rief sie. Sie klopfte auf das Buch vor sich und lächelte ihn dabei an. »Alchimie natürlich, Mann. Haben Sie mir nicht zugehört?« »Alchimie?«, antwortete Jack, jetzt völlig ratlos. »Das Buch ist über Alchimie?« »Nein, nein, nein, nein«, rief Miss Prewett. »Nun«, sagte sie dann, »ja, irgendwie schon. Aber denken Sie nach. Was wissen Sie über Alchimie?« »Nicht sehr viel, fürchte ich«, antwortete Jack und versuchte verzweifelt sich an irgendetwas zu erinnern. »War das nicht… der Vorläufer der Chemie…?« »Weiter«, ermunterte ihn Miss Prewett und nickte heftig mit dem Kopf. »Die Alchimisten glaubten, dass sie einen Weg gefunden hätten, Metalle in Gold zu verwandeln. Das ist alles, was ich weiß.« »Richtig. Das ist wohl das, was wir alle darüber wissen. Eine Menge Unsinn, wie ich meine, und offen gesagt eine recht zweifelhafte Beschäftigung. Nicht alles ist Gold, was glänzt, nicht wahr? Falls das tatsächlich alles ist, worum es damals ging.« Sie machte eine nachdenkliche Pause. Dann schüttelte sie den Kopf, als ob sie sich anders besonnen hätte. »Aber überlegen Sie mal, Mr.…« Sie unterbrach sich wieder und schaute ihn an. »Es tut mir so Leid… wie heißen Sie?« »Green«, antwortete Jack. »Jack Green.« »Tatsächlich? Das wusste ich nicht. Ich bin auch nicht sicher, ob ich Ihren Namen behalten werde. Überlegen Sie mal, Mr.…« Sie
wedelte mit der Hand herum; sie hatte den Namen schon vergessen. »Wie heißt Ihr Haus doch wieder?« »Golden House in Golden Valley.« Als Jack die Worte sprach, fügte sich das, was sie ihm hatte sagen wollen, zu einem Bild. »Dieses Buch heißt ›Die alchimistischen Schriften von Jonas Lewis‹. Sehen Sie mal hier die Titelseite.« Sie öffnete das Buch und schob es Jack über den Schreibtisch entgegen. Jack stand auf, drehte das Buch herum und las: »Die alchimistischen Schriften von Jonas Lewis vom Haus im Golden Valley. Vollendet am letzten Tag im letzten Jahr des Jahrhunderts, 31. Dezember 1899.« »Ist das nicht aufregend?«, sagte Miss Prewett und sah ihn wieder an. »Naja, er war vermutlich ein Spinner, aber er schrieb das Buch in Ihrem Haus und über Ihr Haus. Nicht wirklich über das Haus, aber er erklärt zumindest den Namen. Vielleicht hat dieser Kerl – Jonas Dingsda – auch einfach nur Geld aus dem Ort herausschlagen wollen. Schließlich gibt es eine Urkunde von 1350 über ein Haus mit Namen Gelden Place auf dem gleichen Grundstück.« »Wo kann ich diese Urkunde finden?«, fragte Jack. »Sie liegt bei der Gemeinde. Ich habe Ihnen hier ein paar Dinge aufgeschrieben«, sagte Miss Prewett und schob ihm einen Umschlag entgegen. »Alle Eigentümer von Gelden Place, später Golden House, sind hier aufgelistet. Der Name des Hauses wurde unter Heinrich VIII. geändert, davor gehörte es der Kirche. Es war nicht direkt ein Kloster, aber ein Ort der Ruhe und Einkehr. Wie steht es mit Ihren Geschichtskenntnissen, Mr.…? Wissen Sie noch die Daten? War die Auflösung der Klöster 1536 oder 1540? Sie werden Ihr Wissen mal wieder etwas aufpeppen müssen. Ich bin auch ein bisschen rostig, also nutzt es nichts, mich zu fragen. Die meisten Leute wollen heute auch nur wissen, wann die Cafeteria oben in der Burg aufmacht oder ob der Stein aus ihrem Garten vielleicht eine prähistorische Speerspitze ist. Ist er natürlich nicht, aber sie wollen mir das nie glauben. Also, was ich herausgefunden habe, ist alles hier im Umschlag. Wenn Sie meine Schrift lesen können. Ich kann es manchmal selber nicht. Man sagt ja, das sei ein Zeichen für einen schnell denkenden Geist. Ich glaube eher, es ist ein Beweis für außergewöhnliche Schlampigkeit. Wenn man bedenkt, dass ich eigentlich so was wie eine Gelehrte bin… Schade. Was für vergeudete Fähigkeiten! Aber egal. Das hier ist also für Sie. Hals- und Beinbruch!« »Das war sehr freundlich von Ihnen«, sagte Jack. Er stand auf
und steckte den Umschlag zwischen die Seiten des Buches. »Ich passe gut auf das Buch auf und bringe es nach Neujahr direkt zurück.« »Nehmen Sie sich ruhig Zeit. Irgendwie meine ich, das Buch gehört sowieso mehr in Ihr Haus. Sie werden mich verstehen, wenn Sie es lesen. Ein schwieriges Buch.« Sie senkte wieder ihre Stimme. »Ich mag eigentlich die Bücher von Agatha Christie lieber. Kennen Sie sie? Wahnsinnig gut. Ich persönlich liebe einen guten Mord. Aber hier meinen alle, ich sei nur an Geschichte interessiert. Das war ich auch, Mr. Lewis…«, strahlte sie Jack an. Sie hatte offensichtlich beschlossen, dass ein Nachname so gut war wie ein anderer. »Aber da war ich noch jung. Als ich älter wurde, habe ich gemerkt, dass eine gute Detektivgeschichte viel mehr hergibt. Wissen Sie, wenn Sie den Mörder nicht selbst herausbekommen, steht am Ende des Buches die Lösung. In der Geschichte weiß man nie so genau, wer was getan hat. Das finde ich eigentlich sehr enttäuschend.« Sie redete immer noch, als Jack ihr Büro verließ. Er fragte sich, ob sie überhaupt gemerkt hatte, dass er gegangen war. Er hatte mehr Zeit bei ihr verbracht, als er wollte, und als er den Landrover hinauf zum Moor fuhr, war er entsetzt über den Schneesturm, durch den er gerade so eben noch fahren konnte. »Werden wir hier einschneien?«, fragte Phoebe leise. »Bis morgen früh sicher, fürchte ich«, antwortete Jack grimmig. Sie blickten beide zu den Kindern, die um den Küchentisch saßen und zuhörten. »Aber keine Sorge«, sagte Jack leichthin. »Wir haben reichlich zu essen und ich werde in der Halle Feuer machen. Davon sollte das ganze Haus wärmer werden. Und wir können davor sitzen und Spiele spielen oder sonst was tun.« Er lächelte sie achselzuckend an. »Habt ihr Fernsehen?«, fragte Mary fröhlich. Jack zog ein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Macht nichts!« Mary versuchte überzeugend zu klingen. »Ich sag euch was«, sagte Jack, »nach dem Abendessen könnten wir uns das Buch ja mal ansehen.« »Au jaa!«, riefen alle drei Kinder überraschend eifrig. »Sie mögen das staubige alte Buch bestimmt nicht«, sagte Phoebe. »Tun wir doch«, protestierte William. »Wir wollen alles über dieses Haus wissen.« Er warf seinen Schwestern einen viel sagenden Blick zu.
»Erzählen wir Onkel Jack nichts von dem seltsamen Raum?«, fragte Mary ihn später, als sie oben in ihrem Zimmer waren und auf das Abendessen warteten. »Besser noch nicht«, antwortete er. »Wir sollten erst so viel wie möglich darüber herausfinden. Ihr wisst doch, wie Erwachsene sind. Sie wollen alles nur selbst herausfinden und dann sagen, dass sie es schon vorher gewusst haben.« Alice stöhnte plötzlich laut auf. »Habt ihr gesehen, was Phoebe in der Spüle gewaschen hat? Rüben! Das ist alles, was es zu essen gibt. Rüben! Wahnsinn! Setz dich bloß nicht neben mich, William. Du musst immer pupsen, wenn du sie isst!« Und sie schüttelte sich vor Lachen.
9 Jonas Lewis’ Buch Nach dem Abendessen halfen die Kinder Phoebe den Tisch abzuräumen. Sie hatten beschlossen, dass sie den Abend in der Küche verbringen und erst am nächsten Tag Feuer in der Halle machen würden. »Aber wenn du morgen Abend ein Feuer in der Halle machst«, protestierte Phoebe, »wie soll dann der Weihnachtsmann durch den Kamin kommen können? Morgen ist Heiligabend.« Alice zuckte zusammen und sah weg. Phoebe hatte das mit Sicherheit ihretwegen gesagt. Es machte sie verlegen, dass Phoebe sie so offensichtlich für ein kleines Kind hielt, aber gleichzeitig wollte sie sich nicht wieder mit ihr streiten. Also versuchte sie den Mund zu halten. »Red doch keinen Unsinn«, sagte Jack. »Er wartet, bis das Feuer ausgegangen ist. Deshalb kommt er doch mitten in der Nacht.« »Er wird ganz voll Ruß sein. Ich lege besser ein paar alte Handtücher hin. Denkst du nicht auch, Alice?« Alice rieb sich die Wange und sah auf den Boden. »Handtücher sind nicht wichtig. Aber ein Schlückchen Brandy und eine gefüllte Pastete darfst du nicht vergessen«, fuhr Jack mit dem albernen Spiel fort. »Es gibt keinen Weihnachtsmann«, sagte Alice schließlich. Sie konnte sich einfach nicht mehr zurückhalten. »Alice!«, rief Phoebe. »Was sagst du da? Keinen Weihnachtsmann? « »Natürlich nicht. Es ist nur eine Geschichte für kleine Kinder. Und das bin ich nicht. Wirklich, Phoebe. Ich bin acht, oder?« Phoebe sah verärgert aus und wollte Alice gerade anfahren, da ging Jack dazwischen und wechselte das Thema. »Also heute mache ich jedenfalls kein Feuer in der Halle. Jemand muss mir beim Holzholen helfen und es schneit furchtbar da draußen. Wenn es euch also nichts ausmacht, in der Küche zu sitzen…« Und so wurde der Tisch abgeräumt und ein sauberes Tuch darüber gebreitet, damit Jonas Lewis’ Buch nicht schmutzig wurde. Die
Kinder saßen dicht bei Jack, als er die Lampe heranzog und den Band aufschlug. »Die alchimistischen Schriften von Jonas Lewis«, las Onkel Jack mit ruhiger Stimme vor. »Was heißt alchimistisch?«, fragte William. »Es kommt von Alchimie«, antwortete sein Onkel. »Alchimie wurde für die alte Kunst gehalten, wertloses Metall in Gold zu verwandeln.« »Was? Du meinst, jedes Metall? Wie Zinn oder so?«, fragte William. »Ich denke schon«, antwortete Jack. »Aber dann wärst du ja reicher als irgendjemand sonst auf der Welt«, rief Mary. »Ist das nicht bloß ein Märchen?« »Hört sich so für mich an«, sagte Jack und blätterte die dicken Seiten um. Auf manchen waren die Zeichnungen so verblasst, dass man kaum noch feststellen konnte, was sie darstellten. »Da ist ein Drache«, kreischte Alice bei einer Zeichnung. Der größte Teil des Textes war in einer fremden Sprache geschrieben. »Finis corruptionis et principio generationis«, las Jack mit einigen Schwierigkeiten auf einer Seite. »Kann hier irgendjemand Latein?« Die Kinder schüttelten die Köpfe. Phoebe saß am anderen Ende des Küchentischs und säumte die Vorhänge für das Küchenfenster. Sie hatte gesagt, sie wäre an dem Buch nicht interessiert, aber jetzt sah sie auf. »Lies es noch mal vor, Jack.« »Finis corruptionis…«, fing Jack an. Aber Phoebe stand auf, stellte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Die aufgeschlagene Seite zeigte eine Kreiszeichnung. Der Kreis war umgeben von Zeichen. »Die Tierkreiszeichen«, sagte Phoebe. »Wir nennen sie auch Sternzeichen. Und in der Mitte kämpfen die Sonne und der Mond mit den Drachenkräften. Die Drachen stehen für die Natur und die Sonne und der Mond für Schwefel und Quecksilber.« Jack sah sie überrascht an. »Woher weißt du das alles?«, fragte er. Phoebe zuckte mit den Schultern und runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete sie. »Es ist fast so, als
ob ich es schon einmal gesehen hätte. Aber vielleicht irre ich mich auch. Es ist eine Möglichkeit, das Bild zu deuten. Aber wahrscheinlich nicht die einzige. Und jetzt zeig mir die Worte«, lächelte sie Jack an. »Ich war mal gut in Latein.« Sie sah sich die Seite noch einmal an. »Das Ende der Unreinheit und der Beginn der Läuterung«, übersetzte sie. Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Das heißt es übersetzt. Aber ich frage mich, was es bedeuten soll.« »Was soll das alles hier heißen?«, fragte Jack und blätterte weiter. »Das hier sieht wie Zahlenreihen aus. Und das wie irgendwelche chemischen Formeln.« »Du bist doch Chemiker, Jack«, sagte Phoebe und nähte weiter. »Kannst du dir nicht einen Reim darauf machen?« »Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet«, murmelte Jack beim Lesen. »Dies hier sieht wie eine Angabe über die benötigte Menge an Hitze aus… Die Buchstaben sind so verblasst.« Er stellte das Buch in einen günstigeren Winkel zum Licht. »Ja, du hast Recht, Phoebe. Das Wort heißt Quecksilber. Wie hast du das nur gewusst?« »Ich bin sicher, dass ich schon mal irgendwo eine solche Zeichnung gesehen habe«, sagte Phoebe und versuchte sich stirnrunzelnd zu erinnern. »Was ist Quecksilber noch mal genau?« »Ein chemisches Element«, antwortete Jack. »Das Zeug, das in Thermometern ist?«, fragte William. »Genau«, sagte Jack und blätterte weiter. »Es ist so ein langweiliges Buch«, sagte Mary und gähnte. »Bist du müde, Mary?«, fragte Phoebe. »Ein bisschen«, antwortete Mary. »Der Teil hier sieht wie ein Tagebuch aus«, sagte Jack. »Montag, 9. Oktober 1899. Es ist gelungen. Unsere Probleme sind gelöst. Crawden wird bezahlt werden. Gelobt sei Gott! Crawden? So hieß die alte Frau, die hier gelebt hat.« Jack blätterte weiter und las wieder vor. »20. Oktober. Ein trüber Tag. Crawden kommt morgen. Der Hund war wieder auf dem Berg. Ich nahm mein Gewehr, habe ihn aber wieder nicht getroffen. Gott verfluche ihn. Ich muss tun, was ich tun muss. Wenn Crawden sein Geld nicht bekommt, geht alles zugrunde.« »Worum geht es, Onkel Jack?«, fragte Alice ängstlich. »Wer ist Crawden?«, fragte William. »Er muss mit dem vorigen Besitzer des Hauses verwandt sein.
Wir wissen nur, dass Golden House das letzte Mal vor Jahren von einer alten Dame, einer Miss Crawden, bewohnt war«, erklärte Jack. »Aber das ist doch schon ewig her, Jack«, warf Phoebe beim Nähen ein. »Der Hund, Will. Er hat einen Hund erwähnt«, flüsterte Alice. Phoebe sah überrascht auf. »Der Hund?«, fragte sie. »Natürlich darf er den Hund nicht erschießen.« Dann sah sie wieder auf ihre Näharbeit und wünschte, sie hätte nichts gesagt. Alice beobachtete sie mit halb geschlossenen Augen, den Kopf auf dem Arm, als würde sie einschlafen. Jack blätterte das Buch fast bis zum Ende durch. »Alles ist verloren«, las er vor. »Das Gold hat sich zurückverwandelt. Crawden ist gekommen. Ich glaube, er weiß, was geschehen ist. Er wird das Haus in Zahlung nehmen. Alles ist verloren. Ich bin erledigt. Katzengold. Katzengold.« Dann kam er auf der letzten Seite an. »Wer immer dies liest, soll ihm Beachtung schenken. Das Gold ist nicht zum Gebrauch bestimmt. Der Magus beobachtet. Der Magus weiß. Der Magus besitzt uns alle. Ich bin ruiniert. Gott habe Erbarmen mit meiner Seele.« Jack schloss das Buch und einen Augenblick lang war Stille in der Küche. »Was ist ein Magus, Onkel Jack?«, fragte William. »Ich bin nicht sicher. Ein Meister vielleicht?« Jack richtete seine Frage an Phoebe, die mit dem Nähen aufgehört hatte und in Gedanken versunken am Tisch saß. »Magus?«, sagte sie nach einem Moment. »Das ist ein weiser Mann. Wie die Weisen aus dem Morgenland in der Weihnachtsgeschichte. Ein Magus ist so was wie ein Magier.« Während sie sprach, nahm Jack das Buch und stand vom Tisch auf. Dabei fiel ein dicker, weißer Umschlag auf den Boden. »Ich stelle das Buch besser an einen sicheren Platz«, sagte er und ging zur Tür. »Wir können es uns ja ein anderes Mal genauer ansehen.« »Da ist etwas rausgefallen, Onkel Jack«, sagte Mary und hob den Umschlag auf. »Tatsächlich? Ach ja. Miss Prewetts Notizen. Du kannst ihn aufmachen, wenn du möchtest. Es ist eine Liste mit den Namen aller Leute, die einmal in diesem Haus gewohnt haben. Ich stelle nur gerade das hier auf das Bücherregal in der Halle. Bin sofort wieder
da.« »Mach du ihn auf, William«, sagte Mary und schob den Umschlag über den Tisch. »Ich meine, ihr solltet alle ins Bett gehen. Ihr habt eigentlich genug Aufregung für einen Tag gehabt«, sagte Phoebe. Sie nahm den Umschlag an sich. »Morgen ist genug Zeit dafür.« Sie legte ihn neben ihren Nähkorb. »Seht euch Alice an, sie schläft schon halb.« »Ach Phoebe«, maulte William. In dem Moment schlug die Küchenuhr zehn. »Zeit zum Schlafen«, sagte Phoebe. »Morgen ist Heiligabend. Sagt Jack Gute Nacht.« »Ihr geht ins Bett?«, fragte Jack, als er wieder in die Küche kam. »Ja, Jack, es ist Zeit.« »Bitte, Onkel Jack«, flehte William. »Können wir nicht noch wenigstens die Liste mit den Namen ansehen?« Aber Phoebe sah Jack an und schüttelte den Kopf. »Da kann ich nichts machen«, lachte er. »Phoebes Wort ist hier Gesetz! Und es ist wirklich spät. Ich bin auch müde. Ab mit euch und gute Nacht!« Die Kinder verließen die Küche. Mary musste Alice unterhaken, die tatsächlich schon halb eingeschlafen war, wie Phoebe gesagt hatte. Als sie langsam die Treppe zur Galerie hinaufgingen, hörten sie, wie Jack zu Phoebe sagte: »Was ist los, Schatz?« »Oh Jack«, antwortete sie. »Du hättest das Buch niemals hierher bringen dürfen.« »Warum, was ist los?« William stand auf der Galerie und hörte zu, Mary hatte Alice immer noch untergehakt. »Ich habe Angst, Jack«, hörten sie Phoebe antworten. »Das Buch – ich weiß nicht, was damit los ist, aber ich fürchte mich schrecklich vor ihm. Ich wünschte, du hättest es nicht mitgebracht, das ist alles…« Dann erschien Phoebe in der Küchentür und sah zu ihnen hoch. »Geht ins Bett, Kinder. Ich hab es euch doch gesagt. Geht ins Bett.« »Gute Nacht, Phoebe«, rief William und beobachtete sie, wie sie in die Küche zurückging und die Tür hinter sich schloss. Sofort hörten sie ihre Stimme wieder, aber durch die geschlossene Tür konnten sie die Worte nicht verstehen. »Worum ging es?«, fragte Mary.
»Sie weiß etwas«, sagte Alice und überraschte die beiden anderen mit ihrer Stimme. »Ich dachte, du würdest schlafen, Alice«, sagte William. »Ich habe zugehört, das ist alles«, antwortete Alice. Dann fuhr sie leise fort: »Sie ist eine Hexe, William. Ich bin sicher. Sie wusste zu viel.« »Kommt ins Bett«, sagte Mary ängstlich. »Ich wünschte, wir könnten hier weg«, sagte Alice. »Können wir aber nicht«, sagte William. »Und überhaupt, wenn sie eine Hexe ist, werde ich Onkel Jack nicht mit ihr alleine lassen.« »Komm schlafen, William«, bat Mary und schob ihn die enge Wendeltreppe hoch.
10 William kann nicht schlafen Der Schnee dämpfte jedes Geräusch. Der Wind war nicht mehr so stark, und obwohl immer noch schwere Wolken am Himmel hingen, füllte eine seltsame Helligkeit das Zimmer mit gespenstischem Licht. William schaltete seine Taschenlampe ein und sah auf seine Uhr. Es war zwei Uhr. Das letzte Mal hatte er um halb zwei nachgesehen. Er knuffte sein Kissen in eine andere Form und schloss die Augen, um sich zum Schlafen zu zwingen. Er versuchte alle Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Er konzentrierte sich auf seine Zehen. Er versuchte sogar Schafe zu zählen. Aber alles war umsonst. Er setzte sich auf. Wenn er nun mal nicht schlafen konnte, dann ging es eben nicht und er brauchte es gar nicht weiter zu versuchen. Er zog seinen Morgenmantel an und suchte seine Pantoffeln unter dem Bett. Es war eiskalt im Zimmer. Er ging zum Fenster ohne die Lampe anzumachen und sah nach draußen. Am Abend war Schnee gefallen und hatte sich am Fenster hochgetürmt, so dass kaum etwas zu erkennen war. Nur durch ein freies Eckchen oben sah er den Schnee draußen und die dunklen Wolken, die über den Himmel jagten. Als wäre alles in Watte gepackt, dachte er. Er setzte sich auf die Fensterbank, schaltete wieder seine Taschenlampe ein und hielt sie in Richtung Wand. Vielleicht konnte er den Umriss einer zugemauerten Tür erkennen. Aber an der Wand war nichts zu sehen. Darauf richtete er den hellen Lichtstrahl auf die Kaminmauer hinter seinem Bett. Die Ziegelsteine waren genauso weiß gestrichen wie die restlichen Wände, hoben sich aber im Vergleich zu dem Rauputz deutlich als Ziegel ab. Der Kamin traf schräg auf die steil verlaufende Decke. Irgendwo darüber vermutete er das kleine Fenster. Aber wofür?, dachte er. Warum war da oben ein Fenster? Ein Fenster in einem Schornstein machte doch keinen Sinn. Es sei denn… Er ging hinüber und klopfte auf die Ziegelsteine. Er horchte auf das Geräusch, aber war sich nicht ganz sicher, was er eigentlich hören wollte. Dann schüttelte er den Kopf. Es war hoffnungslos. Er
öffnete seine Tür und ging hinaus auf den Flur. William machte die Tür zum Zimmer der Mädchen einen Spaltbreit auf und sah hinein. Die regelmäßigen Atemgeräusche sagten ihm, dass seine Schwestern tief und fest schliefen. Er fühlte sich allein. Erst wollte er sie wecken, fand aber dann, das sei nicht nett. Er schloss leise die Tür und blieb einen Augenblick auf dem Flur stehen. Sein Herz klopfte laut. Er schaltete wieder seine Taschenlampe ein. Das Mauerwerk um die Wendeltreppe herum war deutlich zu sehen. Es war aus grauem Stein und wohl ein Teil des mittelalterlichen Turmes. William sah sich die Wände genauer an und stellte fest, dass die Treppe wohl einmal zu einem Türmchen auf dem früher flachen Dach des Turms gehört haben musste. Er betrachtete den Flurboden. Auch er war aus Steinfliesen. Wo er gerade stand, war also einmal das offene Dach des Turms gewesen. Er fröstelte, weil es hier fast genauso kalt wie draußen war. Vielleicht sollte er zurück ins Bett gehen und lesen. Auf jeden Fall wäre das wärmer als mitten in der Nacht herumzulaufen. Wenn sie ein Hotel aus dem Haus machen wollen, dachte er, müssen sie eine Zentralheizung einbauen. Dann hörte er ganz unten im Haus die Küchenuhr die halbe Stunde schlagen. Halb drei. Das ist verrückt, dachte er, jetzt gehe ich ganz bestimmt zurück ins Bett. Aber stattdessen ging er auf Zehenspitzen die Steinstufen zur Galerie hinunter. Die große Halle des Hauses lag im Dunkeln. William stand auf der Galerie und richtete seine Taschenlampe hinunter in die Dunkelheit. Er bewegte den Lichtstrahl langsam im Raum umher, bis er in der Mitte des riesigen Kamins stehen blieb. Über der Öffnung waren Verzierungen in die Ziegelsteine eingemeißelt. Drachen drehten sich umeinander und bissen sich gegenseitig in den Schwanz, und zwei Schlangen wanden sich einen Stock hinauf, der über die Drachen hinausragte und zwischen sie gestellt zu sein schien. Zur einen Seite des Stocks war eine große Sonne eingemeißelt, deren Strahlen sich über die ganze Wand verbreiteten. Zur anderen Seite des Stocks konnte man eine Mondsichel erkennen. William überraschte dieses Bild. Er konnte nicht verstehen, warum er es bisher noch nicht bemerkt hatte. Wenn es nicht etwas damit zu tun hat, dachte er, wie der Lichtstrahl darauf fällt. Vielleicht ist es nur im Licht der Taschenlampe und von der Galerie aus sichtbar. Ich muss daran denken, es mir morgen früh noch einmal anzu-
sehen. Er ging vorsichtig die Galerie entlang bis zu der breiten Treppe, die hinunterführte. Zuerst war die Stille in dem schlafenden Haus überwältigend. Aber als er richtig hinhörte, konnte er unzählige kleine Geräusche unterscheiden. Die tickende Uhr in der Küche. Ein knarrendes Bodenbrett auf der Galerie. Das schwache, hohle Stöhnen des nächtlichen Windes im Kamin. Sogar das regelmäßige, schwere Atmen aus Jacks und Phoebes Zimmer. William ging langsam die Treppe hinunter. Die Halle war wie fast das ganze Haus nur spärlich möbliert. Ein langer Eichentisch stand in der Mitte, um ihn herum Stühle mit hohen Rückenlehnen. Zwei alte Sessel mit hölzernen Armlehnen und gepolsterten Rücken und Sitzen standen jeweils zu einer Seite des Kamins und zwischen ihnen, direkt vor dem Kamin, stand ein langer Eichenhocker, bezogen mit dem gleichen Polsterstoff wie die Sessel. Auf beiden Seiten der Eingangstür ließen zwei kleine Bogenfenster tagsüber etwas Licht herein. Aber die Halle blieb zu jeder Tageszeit ein düsterer Ort. Der Steinfliesenboden war nur mit ein paar alten Teppichen bedeckt, die aber nichts gegen die von unten hochziehende, eisige Kälte ausrichten konnten. Gegenüber dem Kamin nahm ein riesiger, hoher Bücherschrank fast die ganze Wand ein. Neben diesem Schrank führte eine zweite Tür vermutlich zu den vorderen Räumen im Flügel aus dem 16. Jahrhundert. Der Schrank stand zwar voller Bücher, aber William hatte keine Schwierigkeiten, das Buch zu finden, nach dem er suchte. Jack hatte Jonas Lewis’ Buch auf das unterste Regalbrett gelegt. Es war immer noch in das Stück Stoff gewickelt, das Phoebe auf den Küchentisch gelegt hatte, damit es nicht schmutzig wurde. William war überrascht, wie schwer das Buch war. Er musste beide Hände benutzen, um es hochzuheben. Zuerst hatte er es mit in sein Zimmer nehmen wollen, aber jetzt legte er es auf den Eichentisch und blätterte im Schein der Taschenlampe langsam die Seiten um. Dabei entdeckte er zwischen den Seiten den Umschlag, den sie nicht hatten öffnen dürfen. Er war aufgerissen worden, wahrscheinlich von Phoebe oder von Jack, nachdem die Kinder ins Bett gegangen waren. William legte den Umschlag beiseite und blätterte weiter im Buch. Der Text war in kleinen, unleserlichen Buchstaben geschrieben und er wurde es bald müde, sie zu entziffern. Er hatte das Buch eigentlich von vorne lesen wollen, aber dann übersprang er die Seiten
und sah sich nur die Skizzen und Zeichnungen an. Da waren Zahlentafeln und geometrische Darstellungen und Zeichnungen von Blumen und Tieren. Und weiter hinten stieß er auf eine ganzseitige grobe Skizze, die offenbar viele Male geändert worden war. Zwei Drachen wanden sich unten auf der Seite umeinander und bissen sich gegenseitig in den Schwanz. Zwischen ihnen befand sich ein Stock, um den sich zwei Schlangen krümmten, die sich oben über dem Stock ansahen. Jeder Schlangenkopf trug eine kleine Krone. Auf der Stockspitze zwischen ihnen saß ein Vogel und blickte nach links. Auf der linken Seite des Stocks war eine Sonne mit spitzen Strahlen gezeichnet. Auf der rechten Seite war eine dünne Mondsichel zu erkennen. Es war die Zeichnung des Bildes, das William gerade eben auf der Wand über dem Kamin gesehen hatte. Überrascht schwenkte er die Taschenlampe vom Buch zur gegenüberliegenden Wand, wo das schwarze Loch des Kamins mit der Kaminwand darüber zu sehen war. Aber die Zeichnung auf den alten Ziegelsteinen war verschwunden. William ging schnell um den Tisch herum, stellte sich vor den Kamin und hielt den Lichtstrahl direkt auf die Wand darüber. Dann stellte er sich auf den Hocker, um es etwas höher noch einmal zu probieren. Er bewegte den Lichtstrahl hin und her über die Ziegelwand. Obwohl die Wand rau war und an vielen Stellen Kerben hatte, wo der Ziegelstein weggekrümelt war, gab es nirgendwo eine Zeichnung oder ein Bild zu sehen. Aber es war da gewesen. Das wusste er ganz genau. Es war da gewesen und jetzt war es verschwunden. Das Bild im Buch bestätigte seine Existenz. Er ging zum Tisch zurück und sah sich die grobe Zeichnung noch einmal an. Sie sah so aus, als ob der Zeichner viele Male daran gearbeitet hatte, bis sie ihm gefiel. Unzählige blasse Umrisse von Drachen waren neben den dunkleren Strichen der endgültigen Bilder. Die um den Stock gewundenen Schlangen hatten geisterhafte Gegenstücke, die wieder verworfen worden waren. Eine Mondsichel war undeutlich zu sehen, wo später die Sonne darüber gemalt worden war. Es sah so aus, als hätte der Zeichner versucht sich genau an das zu erinnern, was er gesehen hatte, ohne das wirkliche Bild vor Augen zu haben. Aber das Ergebnis war schließlich genau dasselbe seltsame Bild, das William von der Galerie aus gesehen hatte. William fröstelte. Es war sehr kalt in der Halle, aber er wollte noch nicht zurück ins Bett gehen. Er fühlte, dass er kurz vor einer wichtigen Entdeckung stand, wenn er nur verstehen könnte, was das Bild zu bedeuten hatte. Er starrte es wieder an. Phoebe hatte gesagt,
dass die Drachen für die Natur stünden. Aber was sollte das heißen? Und woher wusste sie das? Und wofür standen die Schlangen und wofür der Vogel und warum eine Sonne und ein Mond? Dann hatte er eine andere Idee, die ihm den Atem verschlug. Man konnte es vielleicht auch anders sehen. War der Kamin selbst womöglich das Wichtige? Hatte der unbekannte Zeichner (der doch vermutlich Jonas Lewis selbst war, zumal er auch das Buch geschrieben hatte) Schwierigkeiten gehabt, das Bild genau zu zeichnen, weil es verschwunden war? Dann hatte William noch einen Einfall. Sollte das Bild ihm (und vor ihm Jonas) einfach nur zeigen, dass das Geheimnis… im Kamin lag? Bei diesem Gedanken fröstelte William wieder. Dann erinnerte er sich an das kleine Fenster unter der Dachtraufe. »Natürlich«, sagte er laut und rannte wieder zurück zum Kamin. Aber dieses Mal stellte er sich direkt darunter, so dass er in die Öffnung hineinsehen konnte, und leuchtete mit seiner Taschenlampe nach oben. Über ihm verlor sich der rußgeschwärzte Schacht in der Dunkelheit. Die Taschenlampe reichte nicht bis in den oberen Teil des Schornsteins hinein. Die Kaminwände schienen etappenweise aufgebaut und auf der Rückwand gab es in regelmäßigen Abständen Vorsprünge, wo die Öffnung immer schmaler wurde. Zuerst war William enttäuscht. Er war sich so sicher gewesen. Er schwenkte den Lichtstrahl langsam den Schacht hinunter und bewegte ihn dabei von einer Seite zur anderen. Plötzlich sah er einen Vorsprung über sich, nicht viel höher, als ein durchschnittlicher Mensch groß ist. Er wirkte an dieser Stelle ganz natürlich. Danach verengte sich der Kamin allmählich. Aber auf der linken Seitenwand war dieser Vorsprung breiter als auf der rechten oder der hinteren Wand. William ging nach links und beleuchtete den Vorsprung mit der Taschenlampe. War darüber vielleicht eine Öffnung, die hinter die Rückwand des Kamins führte? Er war nicht groß genug, um sicher zu sein, und der Lichtstrahl nicht stark genug, um die tiefen Schatten zu durchdringen. Nur mal angenommen, dachte William, nur mal angenommen, da wären Stufen im Kamin… Tief in Gedanken ging er langsam zum Tisch zurück. Das Fenster, das sie gesehen hatten, könnte am Ende dieser Treppe sein. Der Raum, den er da oben vermutete, würde von dort abgehen. Es war ein perfektes Versteck. Aber ein Versteck wofür? Und warum?
Er setzte sich auf einen der Stühle am Tisch und stützte seinen Kopf in die Hände. Er war sicher, dass die Antwort greifbar nah war, wenn er nur Ordnung in seine Gedanken bringen könnte. Er hatte sich ja schon zusammengereimt, dass das Obergeschoss des Turmes, also der Dachboden, wo ihre Schlafzimmer waren und wo er auch das Geheimzimmer vermutete, im 16. Jahrhundert hinzugefügt worden war. Der Kamin war auch in dieser Zeit eingebaut worden. Beides passte perfekt zusammen. Jemand hatte damals das Haus vergrößert. William erinnerte sich an die schwarzweißen Fachwerkhäuser aus der Zeit Königin Elizabeths I. Gut, dachte er, also in der Regierungszeit von Königin Elizabeth I. wurde das Haus vergrößert. Ja und? Bringt mich das weiter? Er ging wieder um den Tisch und sah sich Jonas Lewis’ Buch an. Aber das half ihm nicht. Auf der Titelseite stand, dass es 1899 geschrieben worden war. Wer wollte also 1550 oder wann immer auch die Anbauten dazugekommen waren, einen Raum unter der Dachtraufe verstecken? Dann erinnerte sich William daran, dass Onkel Jack einen Umschlag von der Museumsleiterin bekommen hatte, in dem eine Liste aller Bewohner des Hauses war. Wahrscheinlich kann ich mit einem Namen gar nichts anfangen, dachte William, als er den Umschlag öffnete und die Blätter herausholte. Aber er konnte. Ein Name bedeutete ihm sogar sehr viel. Er las die in einer steilen Handschrift geschriebene Liste von Namen und Daten schnell durch. Dann sah er es: 1542. Gelden Place nicht mehr im Besitz der Kirche und unbewohnt. 1550. Der Besitz wird privat gekauft, restauriert und in Golden House umbenannt. Der neue Besitzer ist ein ›Stephen Tyler aus London‹. Als William den Namen las, erinnerte er sich an das seltsame Treffen auf dem Bahnhof Druce Coven und wie der große Mann im schwarzen Mantel mit dem stechenden Blick und dem fuchsroten Haar ihn an der Schulter festgehalten hatte. »Ich heiße Stephen Tyler«, hörte William die Stimme wieder sagen. »Wirst du dir das merken?« William ließ das Blatt Papier fallen und rannte die Treppen hinauf in die kalte, aber sichere Geborgenheit seines Bettes.
11 Am Morgen Als William wach wurde, saß Mary schon vollständig angezogen an seinem Bett. »Wie spät ist es?«, fragte er überrascht. »Fast zehn«, antwortete Mary. »Du hättest mich früher wecken sollen.« Mary schüttelte den Kopf und sah auf ihre Hände. »Was ist los, Mary?«, fragte William, beunruhigt durch ihr Verhalten. »Phoebe ist krank«, sagte Mary mit leiser Stimme. »Sie liegt im Bett.« »Sehr krank?«, fragte William, während er mit seiner Kleidung kämpfte. Mary zuckte mit den Schultern. »Onkel Jack sagt, sie muss sich nur ausruhen. Aber so, wie er sich benimmt, muss sie wohl wirklich ziemlich krank sein. Du kommst besser runter, Will.« »Wo ist Alice?« »In der Küche.« »Warum hast du mich nicht geweckt?«, sagte William wieder und wischte sich mit einem nassen Waschlappen übers Gesicht. Es war eiskalt im Badezimmer und am Fenster draußen türmte sich der Schnee hoch. »Onkel Jack meinte, wir sollten dich schlafen lassen«, antwortete Mary. Sie stand in der Badezimmertür und sah ihm zu. »Was ist los, Mary? Du bist so komisch«, sagte William. »Onkel Jack war richtig böse mit uns«, sagte sie leise und sah über ihre Schulter, als ob sie Angst hätte, jemand könnte sie hören. »Es hat etwas mit dem Buch zu tun. Wir wussten nicht, was er wollte. Jetzt will er dich fragen.« »Was fragen?« »Ach ja, William, bist du mitten in der Nacht runtergegangen und hast es dir angesehen?« »Und wennschon? Niemand hat gesagt, wir dürften das nicht.«
»Wir haben einen feierlichen Eid geschworen, William. Du hast ihn gebrochen.« »Ja, ich weiß«, gab William zu und zog sich weiter an. »Es tut mir Leid, Mary. Ich konnte nicht schlafen und wollte euch nicht aufwecken und… ja, ich musste einfach mehr über das Geheimzimmer rausfinden. Es tut mir wirklich Leid.« »Ein feierlicher Eid nutzt nichts, wenn man einfach hingeht und ihn bricht.« »O Mary!«, rief William aus. »Ich habe gesagt, es tut mir Leid.« »Schon gut. Aber Onkel Jack ist absolut wütend«, sagte Mary. »Ich habe das Buch offen auf dem Tisch in der Halle liegen lassen, deshalb weiß er es. Aber ich verstehe nicht, wieso er darüber böse ist. Gestern Abend haben wir es uns doch alle zusammen angesehen.« »Vielleicht liegt es nur daran, dass er sich um Phoebe Sorgen macht«, sagte Mary und ging vor ihm über die Wendeltreppe hinunter auf die Galerie. Durch die beiden Bogenfenster neben der Tür sickerte düsteres Licht in die Halle. Als William die Haupttreppe hinunterging, warf er einen Blick auf die Wand über dem Kamin, aber das Licht war zu schlecht, um festzustellen, ob das Bild zu sehen war oder nicht. Alice saß auf einem Stuhl neben dem Küchenherd. Sie sah klein und verfroren und elend aus. Als die beiden anderen hereinkamen, zog sie ein Gesicht, als wollte sie sagen: Hier ist es nicht schön. Können wir nicht nach Hause gehen? Dann wies sie mit dem Kopf zur Hintertür, durch die einen Augenblick später Onkel Jack mit einem großen Korb Kaminholz hereinkam. »Ah, du bist ja aufgestanden«, sagte er zu William. Er stampfte mit den Füßen auf den Boden, um die Schneeklumpen von seinen Stiefeln zu lösen. »Wenn du gefrühstückt hast, kannst du mir beim Holzholen helfen, ja?« »Okay«, antwortete William. »Es gibt Haferbrei auf dem Herd und Milch im Vorratsschrank«, sagte Jack. Bevor William sich eine Schüssel aus dem Geschirrschrank nehmen konnte, redete Jack schon weiter: »Bist du heute Nacht heruntergekommen, William?« »Ich konnte nicht schlafen«, erwiderte William. »Dann hast du dir also das Buch angesehen?« William zuckte mit den Schultern. »Ich wusste nicht, dass es verboten war.« Seine Stimme hörte
sich trotzig an. Er wollte sich nicht für etwas entschuldigen, für das er sich nicht schuldig fühlte. Er funkelte Jack herausfordernd an. »Aber jetzt weißt du es«, sagte Jack nach einer Weile. »Ich habe das Buch weggestellt und ich wünsche nicht, dass einer von euch es sich ansieht. Richtet euch danach.« »Aber warum?«, wollte Alice wissen. »Es ist doch nur ein Buch. Warum dürfen wir es uns nicht ansehen?« »Ich möchte nicht darüber diskutieren«, sagte Jack. Dann fügte er etwas lahm hinzu: »Es ist nichts für Kinder, das ist alles.« »Was ist denn…« »William, ich habe gesagt, ich möchte nicht darüber diskutieren«, unterbrach Jack ihn. »Das Thema ist beendet.« »Ich wollte auch nur fragen«, fing William noch einmal mit der gleichen trotzigen Stimme an, »was mit Phoebe los ist. Das war alles.« »Sie fühlt sich nicht wohl. Sie wird schon wieder in Ordnung kommen«, antwortete Jack. »Jetzt iss dein Frühstück. Wir müssen heute eine Menge erledigen. Ich bin in der Scheune und hacke Holz, wenn du mich suchst.« Damit ging er wieder in den Hof und schloss die Küchentür hinter sich. Sobald sie alleine waren, versammelten sich die Kinder um den Herd und fingen alle gleichzeitig zu flüstern an. »Wartet mal! Haltet doch mal beide die Klappe! Bitte!«, unterbrach William seine Schwestern. »Wir müssen verhindern, dass Onkel Jack ein Feuer in der Halle macht.« »Warum, Will? Ich erfriere noch«, jammerte Alice. Aber William lief schon auf die Tür zur Halle zu und antwortete ihr nicht. »Wo gehst du hin?«, fragte Mary. Sie verlor allmählich die Geduld. »Ich erkläre es euch sofort«, sagte er. »Aber zuerst muss eine von euch durch das Fenster aufpassen, was Onkel Jack macht, und die andere muss mir sagen, ob er wieder hereinkommt.« »Nein!«, sagte Mary fest. »Das werden wir nicht tun. Ich habe die Nase voll davon, wie du uns herumkommandierst, William. Du hast einen feierlichen Eid gebrochen. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Einen feierlichen Eid, William. Keiner von uns hat das je getan.« »Ich weiß und es tut mir wirklich Leid«, sagte William. Er blieb in der Tür stehen und sah ziemlich zerknirscht aus. »Ich weiß, dass
es falsch von mir war… aber ich konnte einfach nicht anders.« »Natürlich konntest du«, fuhr Mary ihn an. »Das ist doch der Punkt bei einem feierlichen Eid: etwas nicht zu tun, was wir tun möchten, weil wir den anderen versprochen haben es zu lassen. Das sieht dir wieder ähnlich! Bloß weil du älter bist. Aber das können wir nicht durchgehen lassen…« »Oh Mary!«, rief William, kurz davor, auch die Nerven zu verlieren. »Wenn ich weiter meine Zeit damit vertue, mit euch zu diskutieren, hat es keinen Zweck mehr.« Damit lief er durch die Halle zum Kamin. »Wohin gehst du?«, fragte Alice und folgte ihm. »Schhhht!«, zischte William. Er warf einen Blick hinauf zur Galerie und zu Phoebes und Jacks Zimmer. »Sie ist da oben«, flüsterte er. »Passt du auf, Alice?« »Ja gut, aber warum, Will? Bitte erzähl es uns doch«, bat Alice. Aber William stand gedankenverloren am riesigen Kamin. Er war breit genug für zwei schmale Steinbänke auf jeder Seite. Obwohl es jemandem, der darauf saß, furchtbar heiß werden würde, wenn ein Feuer brannte. Als William sich auf die linke Bank stellte, merkte er, dass er einen aus der Wand hervorstehenden Stein über sich leicht erreichen konnte. Ein weiterer Stein war etwas höher darüber und schräg zum ersten gesetzt. Über diesem zweiten Stein stand ein dritter hervor, genau unter dem Vorsprung, den er in der letzten Nacht mit der Taschenlampe beleuchtet hatte. Die Steine waren groß genug, um darauf zu stehen. Sie bildeten eine Art Weg zu dem Vorsprung. »Ich gehe hinauf«, flüsterte er, gerade als Mary aus der Küche kam, weil sie endlich wissen wollte, was vor sich ging. »William!«, zischte sie laut und ungeduldig. »William, wohin gehst du?«, und sie rannte durch die Halle zur Öffnung des Kamins. Zuerst konnte sie in der Dunkelheit nichts sehen. Aber als sich ihre Augen an das düstere Licht gewöhnt hatten, erkannte sie allmählich ihren Bruder, der auf einem Stein über ihrem Kopf stand. »Was machst du da?«, flüsterte sie. »Ich bin nicht sicher«, antwortete William. »Ich hätte die Taschenlampe mitnehmen sollen.« »Mary!« Alices aufgeregte Stimme ertönte hinter ihr. »Mary!« »Was?«, fragte sie und drehte sich um. »Er kommt«, flüsterte ihre Schwester. Einen Augenblick später ging Onkel Jack mit drei großen Holzscheiten im Arm an ihr vorbei
in die Halle. Mary hielt den Atem an und trat aus dem Kamin, als Jack auf sie zukam. »Geh aus dem Weg, Mary. Das hier ist schwer«, sagte er und ließ die Holzscheite auf die Steinplatten vor dem Kamin fallen. »Wo ist William?«, fragte Jack. Er richtete sich auf und wischte seine Hände an der Jeans ab. »Er ist weg…«, sagte Mary unsicher. Sie war nie gut im Lügen. »Weg?«, fragte Jack und sah sie argwöhnisch an. »Oben«, erwiderte sie und fühlte sich sofort sicherer. Schließlich war er ja irgendwie nach oben gegangen. Er war zumindest höher als sie, also war es nicht wirklich eine Lüge. Jack runzelte die Stirn und ging zur Küchentür. »Sag ihm, dass ich Hilfe brauche. Und für euch beide gibt es jede Menge in der Küche zu tun.« Dann sah er Alice etwas verloren vor sich stehen und schien zu bereuen, was er gesagt hatte. »Tut mir Leid«, sagte er. Er drehte sich zu Mary um und legte gleichzeitig eine Hand auf Alice’ Schulter. »Ich muss heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden sein.« Dann hob er eine Hand hoch wie ein Indianer. »Freunde?«, fragte er lächelnd. Mary verzog den Mund und sah auf ihre Füße. »Was sollen wir in der Küche tun?«, fragte sie und wünschte, ihre Stimme klänge nicht so beleidigt. »Ich dachte, wir könnten ein paar Sachen für morgen fertig machen, so dass Phoebe nicht so viel arbeiten muss.« »Ist sie sehr krank?« »Nein. Sie ist nur…«Jack zuckte mit den Schultern. »Ihr wisst ja, wie es ist, wenn man schwanger ist.« »Onkel Jack!«, rief Mary aus. Dann wurde sie rot. »Naja, wahrscheinlich wisst ihr nicht mehr darüber als ich«, sagte Jack und konnte schon wieder grinsen. »Sie bekommt ihr Kind doch nicht jetzt schon, oder?«, fragte Alice erschrocken. »Ich hoffe nicht«, erwiderte Jack und sah einen Moment lang fast besorgt aus. »Nein, ganz sicher nicht. Sie war gestern nur nervös…« Er zuckte mit den Schultern. »Wegen dem Buch?«, fragte Mary, und als Jack nicht antwortete, fuhr sie fort: »Ich verstehe sowieso nicht, was an dem Buch so Besonderes ist. Es ist nur ein altes Buch. Ich fand es sogar eher ein bisschen langweilig.«
»Gut«, sagte Jack und lächelte. »Jetzt werde ich hier Feuer machen und Phoebe kommt herunter und setzt sich davor und wir werden sie zur Abwechslung mal verwöhnen. Einverstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten ging er wieder in die Küche. Sofort raste Mary zurück in den Kamin und sprang über die Holzscheite, die Jack davor gelegt hatte. »William, William«, rief sie. »Onkel Jack macht gleich Feuer.« »Was ist da unten los?«, fragte eine Stimme über ihnen und einen Augenblick später erschien Phoebe auf der Treppe und kam herunter. Alice starrte sie verwirrt an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Mary kam aus dem Kamin und sah unsicher grinsend zu ihr hoch. »Was habt ihr zwei vor?«, sagte Phoebe, aber sie lächelte und hörte sich freundlich an. »Ich dachte, du wärst krank, Phoebe. Wir wollten gerade alles für dich fertig machen, bevor du runtergekommen bist.« Mary sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam. »Mir geht es wieder gut. Ich mache mir jetzt eine Tasse Tee. Wo ist Jack?« »Er holt Holz«, sagte Alice. »Und William?«, fragte Phoebe weiter. »Ich helfe ihm beim Feuermachen«, verkündete eine Stimme hinter Mary. Als sich alle zum Kamin umdrehten, trat William heraus. »William!«, lachte Phoebe. »Du bist ja voller Ruß!« Das stimmte. Williams Gesicht war verschmiert und seine Hände schwarz. »Wir hätten den Schornstein fegen lassen sollen. Aber es hat keinen Zweck, dass du dich wäschst, bevor du fertig bist.« Dann fröstelte sie. »Es ist kalt hier.« Damit ging sie in die Küche. Sobald sie allein waren, liefen die beiden Mädchen zu William. »Wo warst du?« und »Was ist los?«, sagten beide gleichzeitig. »Ich habe es gefunden«, sagte William mit vor Aufregung glänzenden Augen. »Was denn? Was?«, wollte Alice wissen. »Das glaube ich wenigstens.« »Mann, William. Was denn?« Mary war so ungeduldig, dass sie sich schon wieder verärgert anhörte. »Den Weg zum Geheimzimmer«, sagte er und wandte sich zum Kamin um. Die beiden Mädchen folgten seinem Blick. »Du meinst…«, fing Mary an und ging einen Schritt nach vorne. »Oben im Kamin?«, beendete Alice den Satz für sie.
»Ja! Ja, ich denke schon«, antwortete William. »Aber… wie?«, fragte Alice. Sie starrte gebannt auf die große Öffnung aus Ziegelsteinen. »Ich hatte leider keine Taschenlampe«, sagte William, »und es war sehr dunkel da oben, aber ich bin mir fast sicher.« »William!«, hörten sie Jack von der Küche aus rufen. »Beeil dich. Ich brauche Hilfe.« »Ich komme, Onkel Jack«, schrie William und lief zur Küchentür. »Zuerst erzählst du uns alles«, sagte Alice. Sie stemmte die Hände in die Hüften und pflanzte sich ganz geschäftsmäßig vor ihm auf. »Nun mach schon, Will«, stimmte Mary zu. »Du gehst uns wirklich auf die Nerven. Was hast du entdeckt?« »Da sind Stufen im Kamin«, sagte er und lief an ihr vorbei aus der Halle.
12 Taubenschlag Phoebes Erscheinen änderte alle Pläne. Es wurde beschlossen, erst abends Feuer in der Halle zu machen, weil sonst das Holz vergeudet würde. Und Phoebe sagte den Mädchen, »es fiele ihr im Traum nicht ein«, sie in ihrer Küche helfen zu lassen. »Meine Güte, ihr habt Ferien. Ihr wollt doch bestimmt nicht eure Zeit mit Kochen und Spülen verbringen.« Alice musste zugeben, dass sie sich – für eine Hexe – sehr nett benahm. Trotzdem hatten alle viel zu tun und die Mädchen bekamen keine Gelegenheit, mit William seine Entdeckung zu besprechen, obwohl sie nichts lieber getan hätten. Sie verbrachten die Zeit damit, Stechpalmenzweige von den Büschen an der Einfahrt zu schneiden und damit die Halle zu schmücken. William war den ganzen Morgen bei Onkel Jack in der Scheune, sägte Holz und schichtete es auf den schon fertigen großen Holzstapel. »Ich weiß nicht, warum wir noch mehr Holzscheite sägen mussten. Man könnte meinen, da sind so viele, dass sie bis zum Frühling reichen«, sagte er später, als sie ihre Hände vor dem Essen wuschen. Aber als Mary sagte, dass der Küchenherd auch mit Holz geheizt werde, sah er ein, dass es wahrscheinlich notwendig war, und sagte, dass es auch »einigermaßen Spaß« gemacht habe. »Warum nehmen sie keine Kohlen wie alle anderen auch?«, fragte Alice. »Kohlen muss man nicht zersägen. Man kann sie gleich benutzen.« »Ich glaube, der Weg ist dem Kohlenhändler zu weit. Vielleicht liefert er nicht bis hier draußen«, vermutete William. Aber Mary schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es liegt wohl am Geld«, sagte sie. »Vielleicht sind sie sehr arm und können sich keine Kohlen leisten und keine Zentralheizung und all solche Sachen.« »Vielleicht essen sie deshalb nur Gemüse«, sagte Alice. Sie war fest entschlossen der seltsamsten von Phoebes Eigenheiten auf den Grund zu gehen. »Wenn jemand ihr ein halbes Pfund Würstchen in
Weihnachtspapier schenken würde, wetten, dass sie sich dann alle sofort und ohne sie zu braten in den Mund stopfen würde?« »Igitt, Alice!«, protestierte William. »Das ist ja widerlich.« »Nicht halb so widerlich wie gefüllte Kohlblätter«, antwortete seine Schwester drohend. »Gibt es das zum Mittagessen?«, fragte William. Alice nickte schweigend und machte mal wieder ein scheußliches Geräusch, als ob ihr schlecht wäre. »Mit was gefüllt, Alice?«, fragte Mary nervös. Alice zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leichthin. »Ich wollte nicht fragen. Es sieht aus wie…« »Sag es nicht, Alice«, unterbrachen sie ihre Geschwister und William hielt ihr den Mund zu, damit sie nicht weiterreden konnte. »Wann steigen wir wohl die Stufen im Kamin hoch?«, fragte sich Mary laut, während sie sich die Haare kämmte. »Es wird schwierig, wenn Jack und Phoebe die ganze Zeit rein- und rauslaufen.« »Ich weiß«, stimmte William zu. »Heute Nacht ist es am besten. Wenn sie im Bett sind.« »Im Dunkeln?«, quietschte Alice. »Wir haben eine Taschenlampe«, sagte William, aber er klang selbst nicht sehr überzeugt. »Und wir sind bei dir, Alice.« »Ich habe keine Angst«, sagte Alice eingeschnappt. »Ich habe bloß gefragt, das ist alles.« Damit rannte sie vor den anderen die Treppe zur Küche hinunter. Das Mittagessen war köstlich und sogar die gefürchtete Füllung schmeckte ziemlich gut. Es seien, erklärte Phoebe ihnen, »Linsen und Gemüse«. William nahm sich ein zweites Mal und Alice hätte es auch gerne getan, aber sie wollte nicht zugeben, dass es ihr tatsächlich schmeckte. Nach dem Essen versuchte Jack Phoebe zu überreden sich etwas hinzulegen, er und die Kinder würden den Abwasch schon machen. Aber wieder weigerte Phoebe sich. »Sie haben Ferien, Jack. Ich spüle erst und dann ruhe ich mich aus.« »Gut, ihr Bande«, sagte Jack, »in diesem Fall könnt ihr ein bisschen rausgehen. Es hat aufgehört zu schneien, und solange ihr auf den Wegen bleibt, kann euch nichts passieren.« »Sie wollen vielleicht gar nicht raus, Jack.« »Doch, wollen wir«, sagte William fest, bevor Mary Phoebe zu-
stimmen konnte. »Gut«, sagte Jack grinsend, »ich habe sowieso noch Dinge zu erledigen, in die ihr eure Nasen nicht stecken müsst.« »Was für Dinge?«, fragte Alice und nahm sich verstohlen noch einen Butterkeks. »Weihnachtsdinge«, antwortete er geheimnisvoll. »Überraschungsdinge. Also ab mit euch und holt eure Mäntel und Schals und Handschuhe und Wärmflaschen und was immer ihr sonst noch braucht. Es ist bitterkalt draußen.« »Müssen wir wirklich Wärmflaschen mit nach draußen nehmen?«, fragte Alice, als sie sich in ihren Zimmern dicke Socken und andere warme Sachen anzogen. »Nein, natürlich nicht«, rief William über den Flur. »Das war ein Witz.« »Dann war es aber ein wirklich blöder Witz, wenn ihr mich fragt«, sagte Mary und seufzte. »Was ist los, Mary?«, fragte Alice und wickelte sich ihren Schal um den Hals. »Oh, es ist nichts«, antwortete Mary und ließ es sehr wichtig klingen. »Was ist los?«, fragte Alice, plötzlich wirklich beunruhigt. »Es ist nur, dass er so nett ist. Ich meine Onkel Jack. Aber wenn er alberne Sachen sagt und immer Phoebe Recht gibt, wenn sie etwas vorschlägt, und immer tut, was sie ihm sagt, dann sieht er so – ich weiß nicht – eben so albern aus.« »O Gott«, jammerte Alice. William kam ins Zimmer, fertig angezogen und seine neuen Gummistiefel in der Hand. »Was ist jetzt schon wieder?«, fragte er. »Mary ist in Onkel Jack verliebt«, jammerte Alice weiter. »O nein!« William hörte sich auch betrübt an. »Das darf nicht wahr sein.« »Bin ich nicht«, protestierte Mary und wurde rot. »Ist sie doch«, sagte William mit einem Blick auf sie. »Halt die Klappe, William«, schrie Mary und warf einen Gummistiefel nach ihm. William fing den Stiefel grinsend auf. Mary übersah ihn einfach und ging über den Flur zu seinem Zimmer. Sie betrachtete nachdenklich die Ziegelwand, die sie von dem Geheimzimmer trennte. »Glaubst du wirklich, dass diese Stufen bis hier oben hin ge-
hen?«, fragte sie nachdenklich. Aber William legte einen Finger auf die Lippen. »Kommt mit«, sagte er leise. »Wir reden lieber draußen.« Er rannte auf Socken lautlos die Stufen hinunter. Die Mädchen liefen hinterher, und als sie unten ankamen, waren sie überrascht, Phoebe am Fuß der Wendeltreppe zu sehen. »Da seid ihr ja«, strahlte sie. »Viel Spaß, aber geht nicht so weit. Es wird so früh dunkel um diese Zeit. Und bleibt auf dem Weg…« »Geht in Ordnung, Phoebe«, rief William über die Schulter zurück. Die drei Kinder liefen die große Treppe hinunter und durch die Küche zum Hintereingang, wo sie sich ihre Stiefel anzogen. »Seht ihr, was ich meine?«, wisperte William. »Sie hat uns belauscht. Wir müssen vorsichtig sein.« Der Hof war von der Rückseite des Hauses und, im rechten Winkel dazu, von der Scheune begrenzt. Gegenüber vom Haus und rechtwinklig zur Scheune verstellte eine hohe Ziegelmauer den Blick. In dieser Mauer saß ein Torbogen mit einem Holzgatter. Die vierte, offene Seite des Hofes gab den Blick auf die Einfahrt frei; man sah allerdings noch die Spuren einer vierten Mauer, die wohl irgendwann umgefallen oder abgerissen worden war. Mary führte die anderen über den Hof zum Holztor in der Mauer. Die Luft war so kalt, dass ihr Atem in Wölkchen aus ihrem Mund kam, und der Schnee so blendend weiß, dass sie ihre Augen ein wenig zusammenkneifen mussten. Das Tor ließ sich kaum öffnen. »Es ist bestimmt von der anderen Seite zugeschneit«, sagte Mary. Schließlich drückte sie es mit Hilfe der anderen weit genug auf, dass man sich durchquetschen konnte. Alice ging zuerst. »Kommt schnell und seht euch das an«, rief sie, aber das war gar nicht nötig. Die anderen waren schon neben ihr, bevor sie ausgeredet hatte. Sie standen in einem riesigen Garten. Einige Obstbäume wuchsen direkt an der Mauer, andere standen in Reihen, die Zweige über Bögen und Gitter gezogen, so dass sie Spazierwege und Lauben bildeten. In manchen standen Sitzbänke, in anderen große Tröge. Niedrige Hecken säumten die Wege, so dass diese auch durch den dicken Schnee, der alles in weiches Weiß hüllte, noch sichtbar waren. Alle Wege liefen in der Mitte des Gartens zusammen, wo ein hohes, rundes Gebäude mit unzähligen kleinen Fenstern stand, von denen jedes außen ein Sims hatte. Die Kinder waren besonders von
der Tür angezogen, aus Neugier, aber auch in der Hoffnung, in dem Gebäude vor dem beißenden Wind Schutz zu finden, der den lockeren Schnee wie Nebelwolken über den Boden blies. Die Tür war verschlossen, aber als William daran rüttelte, ging das alte, eiserne Vorhängeschloss auf und baumelte hin und her. »William. Du hast es kaputtgemacht«, sagte Mary. »Stimmt doch gar nicht«, widersprach William. »Ich hab es ja kaum angefasst.« »Das ist doch jetzt egal. Lasst uns reingehen«, sagte Alice mit vor Kälte klappernden Zähnen. Sie drückte die Tür auf und ging hinein. Sie standen in einem runden Raum mit einem Boden aus Steinfliesen. Die Wände bogen sich nach oben hin kuppelförmig zusammen. »Wie im Innern einer Puddingschüssel«, sagte Mary leise. Stufen führten zu einer im Kreis verlaufenden Plattform über ihren Köpfen, und weitere Plattformen waren durch ähnliche Stufen in regelmäßigen Abständen bis zum Dach miteinander verbunden. Die Außenwand war mit den kleinen Fenstern durchbrochen, die sie schon von draußen gesehen hatten. »Was ist das?«, fragte Alice. Sie drehte sich im Kreis und schaute dabei in die Höhe. »Ein Taubenschlag. Oder besser gesagt ein Taubenhaus«, antwortete William und begann die Stufen zur ersten Plattform hochzusteigen. Das Holz über ihm fing an zu knarren und Staub und kleine Steine prasselten auf ihn nieder. »Sei vorsichtig, Will«, rief Mary. »Es sieht nicht sehr sicher aus.« »Kann ich nachkommen?«, fragte Alice und stellte ihren Fuß auf die unterste Stufe. »Es ist ein bisschen wackelig«, sagte William, der vorsichtig die erste Plattform entlangging. »Kannst du irgendwas sehen?«, fragte Mary. »Jede Menge Schnee«, antwortete William und stieg zur nächsten Plattform hoch. »Kommst du auch, Mary?«, rief Alice. Sie war schon auf der ersten Plattform und bewegte sich jetzt schneller und sicherer. »Sei vorsichtig, Alice!«, sagte Mary und im nächsten Augenblick brach das Bodenbrett, auf das Alice gerade ihren Fuß gesetzt hatte, unter ihrem Gewicht ein und sandte Staub und Schutt in die Tiefe.
»Alice!«, rief Mary und lief die ersten Stufen hinauf, um ihr zu helfen. Alice stand gegen die Wand gepresst, vor ihr war ein großes Loch im Boden. »Alles in Ordnung«, sagte sie mit zittriger Stimme und griff nach Marys Hand. »Wahnsinn!«, hörten sie William über ihren Köpfen rufen. »Seht euch das mal an!« »Ist es sicher da oben?«, rief Mary ängstlich. »Ja«, antwortete er, aber es hörte sich nicht so an, als würde es ihn wirklich interessieren. »Komm, Mary«, sagte Alice wieder tapferer und zog ihre Schwester an der Hand weiter. »Vorsichtig. Dieser Bretterboden ist völlig morsch und von dort oben kann man erst richtig tief fallen.« William war tatsächlich inzwischen auf der obersten Plattform angekommen. Sie bildete einen viel kleineren Kreis als die anderen, weil sie unterhalb der Kuppel war. Die Mädchen fanden ihn vor einem der kleinen Fenster auf dem Boden kniend. Die Fensterbank war mit Schmutz übersät. »Das ist ja eklig, William«, sagte Mary und zog die Nase kraus. Ein paar Knochen lagen herum und mittendrin eine tote Maus. »Seht doch«, sagte William mit verhaltener Stimme. Die Mädchen knieten sich neben ihn. Sie drückten ihre Gesichter eng aneinander und konnten so alle drei gleichzeitig aus dem Fenster sehen. Draußen war die Welt weiß. Die Gartenmauer trug eine dicke Schneemütze und über dem schwarzweißen Fachwerkhaus ragte der Turm in den dunkler werdenden Abendhimmel. »Das ist die Rückseite des Hauses«, dachte William laut. Die Mädchen nickten. »Also muss das Fenster im Dach unser Badezimmerfenster sein.« »Und?«, fragte Mary und blickte angestrengt zum Haus. »Siehst du es nicht?« Aber Alice japste bereits aufgeregt: »Ich sehe es! Ich sehe es!« »Geh mal weg da, Alice«, rief Mary und schubste sie zur Seite, damit sie aus dem Fenster sehen konnte. »Schaut mal!«, flüsterte William, diesmal sehr verwundert. Er legte die Arme um seine Schwestern und zog sie an sich, so dass alle drei eng zusammen vor dem Fenster knieten. »Das gibt es nicht!«, murmelte Mary, die endlich sehen konnte,
was die beiden anderen so aufregte. Hoch oben auf dem Dachfirst, wo das Dach auf die Schornsteine stieß, war ein kleines, rundes Fenster. Es sah genauso aus wie das auf der Vorderseite des Hauses, das sie am Tag zuvor gesehen hatten. Aber diesmal war es anders. »Da brennt Licht«, sagte Alice. »Da brennt Licht im Geheimzimmer.« Es stimmte. In dem runden Fenster leuchtete ein goldener Schein. Er war so hell, dass es in den Augen stach und sie kaum hinschauen konnten. »Vielleicht hat Onkel Jack da ein Feuer gemacht. Wäre es dann so hell?«, fragte Mary. William schüttelte den Kopf. Er wollte gerade antworten, als etwas noch Erstaunlicheres geschah, bei dem sie alle schnell ein Stück vom Fenster zurückwichen. Sie konnten eine Gestalt am Fenster stehen sehen. Sie waren zu weit weg, um klar erkennen zu können, wer oder was es war, aber alle drei waren sich einig, als Alice sagte: »Seht mal! Da oben ist jemand.« Sie versuchten mehr zu erkennen, als plötzlich die Fenstersicht von irgendetwas verdeckt wurde, was aus der runden Öffnung direkt auf sie zukam. »Was ist das?«, rief Mary und wich ängstlich noch weiter zurück. Die Antwort ergab sich von selbst, noch bevor die beiden anderen etwas sagen konnten. Flügelschlagend und mit einem schrecklichen Kreischen landete ein großer weißer Vogel mit den Füßen zuerst auf dem Sims vor ihnen. Sie sahen seine stechenden Augen in einem Gesicht, das wie eine weiße Maske aussah. »William«, sagte Alice und drückte sich enger an ihren Bruder. Der sagte nur: »Ich glaube, es ist eine Schleiereule.« Plötzlich richtete sich der Vogel auf seinen kräftigen Beinen auf und zischte sie an. Die drei Kinder schreckten hoch und liefen so schnell sie konnten zur Treppe. Rutschend und stolpernd rannten sie von der obersten Plattform hinunter, wobei kleine Steinchen um sie herumstoben und Bodenbretter krachten. Unten angekommen jagten sie zur Tür und hörten erst auf zu rennen, als die Hälfte des verschneiten Gartens hinter ihnen lag. Atemlos keuchend gingen sie langsamer und fielen sich dann lachend und kichernd in die Arme. Als sie zum Taubenhaus zurückschauten, sahen sie das Eulengesicht vor dem Fensterrahmen. Es starrte kalt auf sie hinunter und
beobachtete sie mit seinen großen, dunklen Augen. Unter dem strengen Blick hörten die Kinder auf zu lachen und wurden mucksmäuschenstill. Die Sonne ging hinter dem Taubenhaus unter und überall knackte und knisterte es vor Frost. Doch die Kinder bewegten sich nicht. Sie starrten weiter zur Eule hinauf. »Sie ist wie der Fuchs«, sagte Mary ruhig. »Sie scheint… es auf uns abgesehen zu haben.« »Ich weiß«, sagte William. Als ob sie es gehört hätte, breitete die Eule ihre Flügel aus und schwang sich in die Luft. Sie segelte leise davon, um das Taubenhaus herum und außer Sichtweite. »Flieg nicht fort«, rief Mary und wunderte sich über sich selbst. Einen Augenblick später schoss ein roter Streifen hinter dem Taubenhaus hervor und sauste zum hinteren Teil des Gartens. »Der Fuchs!«, rief William aus. Da blieb der Fuchs ganz plötzlich inmitten einer silbrig aufwirbelnden Schneewolke stehen, die von der Abendsonne in goldenes Licht getaucht wurde. Er stand da, eine Vorderpfote in der Luft, und starrte sie an. »Er ist die Eule«, sagte William wie zu sich selbst. »Aber wie kann das sein?«, fragte Alice. »Ich weiß es nicht. Aber… es ist die Art, wie er uns ansieht…«, sagte William. Er ging langsam auf den Fuchs zu und hielt ihm eine Hand entgegen, so als ob er sich mit einem Hund anfreunden wollte. Der Fuchs starrte ihn weiter an, aber nachdem William nur wenige Schritte näher gekommen war, drehte er sich um und sprang in großen Sätzen einen Weg parallel zu dem der Kinder hinunter zum Gartentor. Die Kinder liefen hinterher, aber als sie beim Tor ankamen, war der Fuchs bereits verschwunden. »Da seid ihr ja!«, rief Onkel Jack von der Küchentür her. »Wir haben uns schon gewundert, wo ihr wart. Kommt rein und wärmt euch auf. Ich habe gerade eine Kanne Tee gekocht.« Als sie über den Hof gingen, blieb Alice plötzlich stehen und packte Marys Arm. »Sieh mal da, Mary«, sagte sie und zeigte auf die Bäume hinter der Einfahrt. Der Hund stand auf dem flachen Land vor dem steil aufsteigenden Hügel. Er wedelte mit dem Schwanz, und als die drei Kinder ihn
ansahen, bellte er laut, dann machte er kehrt und lief in die Dunkelheit des Waldes. »Mein Hund«, murmelte Alice glücklich. »Jetzt haben wir sie alle gesehen. Außer…« William beendete den Satz nicht. »Außer wem, Will?« »Dem Mann. Stephen Tyler.« »Aber warum sollten wir ihn hier sehen?«, fragte Mary verwirrt. »Er hat dieselben Augen. Denselben Blick.« »Dann sind es vielleicht seine Fußabdrücke, die ich entdeckt habe«, sagte Alice und hielt den Atem an. »Und vielleicht…« »Ja. Vielleicht«, sagte William. »Vielleicht was?«, rief Mary. »Vielleicht kann er sich in Füchse verwandeln und Eulen und Hunde und… andere Dinge«, sagte Alice zu ihr. »Aber wie bloß!«, beharrte Mary. »Er müsste ja ein Magier sein, um das zu können.« »Dann ist er vielleicht auch einer«, sagte William ruhig.
13 Stimmungen Als die Kinder hereinkamen, war von den Überraschungen, die Jack hatte vorbereiten wollen, nichts zu sehen. Phoebe kümmerte sich in der Küche um das Abendessen und auch um »Sachen für morgen«. Alice sah William von der Seite an, als wollte sie sagen, dass »Sachen« alles Mögliche heißen konnte, und er musste schnell weggucken, damit er Phoebe nicht ins Gesicht lachte. Sie saßen um den Küchentisch und tranken ihren Tee. Dann gingen sie hinauf in ihre Zimmer, wo sie »bis zum Abendessen spielen« würden, wie William es ausdrückte, was Mary gar nicht recht war. »Wirklich, William. Wir sind doch keine Kinder mehr«, sagte sie empört, als sie hinter ihm die Treppe hochging. Alice war schon vorgelaufen und kniete vor dem elektrischen Ofen, als die beiden anderen hereinkamen. »Ich bin ganz steif gefroren«, sagte sie. »Hoffentlich macht Onkel Jack bald Feuer in der Halle.« »Rück mal ein Stück, Alice«, sagte Mary, hockte sich neben sie und hielt die Hände vor die glühenden Heizstäbe. William stand am Fenster, die Hände in den Taschen, und starrte hinaus in den Nachthimmel. Die beiden Mädchen sahen ihn an und warfen sich dann einen Blick zu. »Er denkt nach«, wisperte Mary und zog ein Gesicht. »Halt die Klappe, Mary«, sagte er ohne sie anzusehen. Alice fing an zu kichern und Mary hielt sich den Mund zu, aber sie konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Die beiden Mädchen versuchten tapfer sich nichts anmerken zu lassen, aber dann rollten sie doch ächzend und stöhnend über den Fußboden, weil sie vor lauter unterdrücktem Lachen schon Bauchweh hatten. William blieb am Fenster stehen und dachte stirnrunzelnd über die Ereignisse des Tages nach. Er schien die Mädchen gar nicht wahrzunehmen. Schließlich fasste er einen Entschluss und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. »Wohin gehst du?«, rief Alice, rappelte sich hoch und folgte ihm. »In mein Zimmer. Wir sollten heute mal früh ins Bett gehen nach
dem Abendessen…« »Du meinst, wir stehen später dann wieder auf«, unterbrach ihn Alice, »und steigen den Kamin hinauf?« »Nein, das sollten wir ein anderes Mal tun. Ich bin wirklich müde.« »Ich gehe aber nicht direkt ins Bett«, unterstützte Mary Alice’ Protest. »Onkel Jack wird Feuer in der Halle machen.« »Das ist nicht nötig, oder? Wenn wir alle ins Bett gehen.« »Aber wenn wir nicht den Kamin hinaufsteigen, will ich am Feuer sitzen«, beharrte Mary. »Warum?«, wollte William wissen. »Was ist daran so Besonderes?« »Es ist gemütlich«, antwortete Mary. »Wir können zusammensitzen und…« Ihr fiel nichts Aufregendes ein, also zuckte sie nur mit den Schultern. »Wir können es einfach nur… genießen.« »Genau. Wir könnten einfach bloß dasitzen. Das ist alles. Ich habe aber wichtigere Dinge zu tun. Also gehe ich früh ins Bett.« »Wirklich, William«, fuhr Mary ihn mit einem mitleidigen Blick an. »Du hältst uns wohl für blöd, oder was?« William wandte sich ab, weil er ihr nicht in die Augen sehen wollte. »Warum?«, quietschte Alice. »Was ist los? Was meinst du, Mary?« »Er will den Kamin allein hinaufgehen«, sagte Mary zu ihr. »Wann?«, wollte Alice empört wissen. »Heute Nacht natürlich«, antwortete Mary. »Ohne uns? Das kann er nicht tun. William Constant, wir haben einen feierlichen Eid geschworen. Du hast ihn schon einmal gebrochen. Wenn du ohne uns gehst, werden wir dir nie wieder etwas glauben. Nie wieder.« »Okay, ist ja schon gut«, gab William widerwillig nach. »Ich komme und hole euch ab.« »Aber warum mitten in der Nacht?«, jammerte Alice. »Hier spukt es bestimmt.« »Entweder gehen wir heute Nacht oder gar nicht«, sagte William. »Morgen ist Weihnachten.« »Das weiß ich«, sagte Alice ungehalten. »Und im Kamin wird Feuer brennen und Phoebe und Jack werden da sein…« »William«, verkündete Mary mit fester Stimme, »wenn du den
Kamin ohne uns hinaufsteigst, werden wir dir das nie verzeihen und dir das Leben zur Hölle machen. Das verspreche ich dir.« »Ich habe doch gesagt, ich komme euch holen«, stöhnte William. »Aber ihr werdet doch bloß Angst haben.« »Nicht mehr als du«, gab Mary schlagfertig zurück. »Natürlich haben wir Angst. Aber wir müssen zusammen gehen – oder wenigstens musst du uns eine Chance dazu geben…« »Ja, das habe ich doch schon gesagt«, antwortete William. »Und jetzt haut ab. Ich will aus diesen Klamotten raus.« »Oooh!«, stieß Mary aus, stampfte mit dem Fuß auf und ging über den Flur zurück zu ihrem Zimmer. »Eingebildeter Blödmann. Ich hasse ihn, wenn er so ist.« »Er hat aber Recht. Wir werden Angst haben. O Mary, stell dir vor, es ist Weihnachten! Wenn Mama und Papa hier wären und wir wären zu Hause in London… was würden wir jetzt tun?« »Ach, halt die Klappe, Alice!«, sagte Mary mürrisch. »Wir äßen unser Abendessen vor dem Weihnachtsbaum und gingen dann zur Mitternachtsmette. Dann kämen wir frierend und müde nach Hause und hätten Wärmflaschen in den Betten. Ach, ich wünschte, sie wären hier.« »Du kannst es doch nicht leiden, in die Kirche zu gehen«, sagte Mary. Sie bürstete sich die Haare vor dem Spiegel. »Doch«, protestierte Alice. »Wenn man nicht so oft geht. Ich mag die Songs…« »Kirchenlieder, Alice«, sagte Mary ein bisschen angeberisch. »Meinetwegen Kirchenlieder«, sagte Alice eingeschnappt. »Aber die langen Palmen mag ich nicht.« »Psalmen«, sagte Mary zu ihr. »Hör doch auf, Mary. Ist doch egal, wenn ich die Wörter nicht weiß.« »Wenn du die Wörter nicht weißt, wie soll dich dann irgendjemand verstehen?« Alice zuckte mit den Schultern und schloss die Augen. »Ich werde nie wieder etwas sagen«, sagte sie und kniff die Lippen zusammen. Eine übel gelaunte, mürrische Gesellschaft fand sich beim Abendessen um den Küchentisch ein und die Stimmung besserte sich nicht gerade dadurch, dass Phoebe, kurz nachdem das Essen auf dem Tisch stand, sagte, es sei ihr nicht gut. Onkel Jack brachte sie nach
oben ins Bett und überließ die Kinder sich selbst. Alice summte vor sich hin und aß riesige Mengen vom Blumenkohlauflauf. Sie summte immer, wenn sie in ihrer »Ich-sag-jetztnichts-mehr«-Laune war. William starrte auf seinen Teller und vermied jedes Gespräch mit Mary, die darüber so böse wurde, dass sie ihren Teller wegschob und wütend mit der Faust auf den Tisch schlug. »Ich hab’s satt, satt, satt!«, rief sie. Diese Bemerkung wurde von William schweigend und von Alice mit lauterem Summen zur Kenntnis genommen. Endlich kam Jack zurück und sah besorgt aus. »Ich hoffe, es geht ihr bald besser«, sagte er. »Ich kann sie nicht ins Krankenhaus fahren, nicht bei diesem Schnee.« Jack war erleichtert, als William mit viel Gähnen verkündete, er sei so müde, dass er nicht mehr aufbleiben wolle und direkt ins Bett gehe, wenn das in Ordnung sei. »Vielleicht ist es das Beste«, sagte Onkel Jack. »Es hat keinen Sinn, Feuer zu machen, wenn wir alle in einer halben Stunde im Bett liegen. Was sagt ihr beiden dazu?« Alice zuckte mit den Schultern und blickte auf ihren Teller. Seit Jack zurückgekommen war, hatte sie mit dem Summen aufgehört, aber sie sagte immer noch nichts. Mary wollte nicht so schnell aufgeben. »Vielleicht könnten wir am Küchenfeuer sitzen«, sagte sie. »Schließlich ist Heiligabend, Onkel Jack.« »Umso wichtiger, früh ins Bett zu gehen«, sagte er aufmunternd. »Sonst überrascht ihr vielleicht noch den Weihnachtsmann auf seiner Runde.« »Bitte!«, sagte sie. »Wir sind keine kleinen Kinder.« »Tut mir Leid«, sagte Jack und blickte beschämt drein. Mary betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Sie hatte das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte. Wenn er das tat, war es das Letzte, was an diesem schrecklichen Abend noch fehlte. Jack grinste sie an. Es sah aus, als ob er eine Grimasse schneide, dabei versuchte er in Wirklichkeit nur freundlich zu sein. Gut, dachte Mary, es wird dir noch Leid tun, dich über mich lustig zu machen. »Heiratest du Phoebe eigentlich nicht, Onkel Jack?«, fragte sie unschuldig und beobachtete seine überraschte Miene, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.
»Was?«, keuchte er. »Heiratest du sie nicht? Zumal jetzt, wo das Kind kommt? Das arme kleine Ding«, fügte sie hinzu, langte über den Tisch und nahm sich eine Mandarine. William beobachtete sie entsetzt und Alice öffnete das erste Mal seit längerer Zeit den Mund ohne Essen hineinzuschieben. »Heiraten? Ach, das meinst du. Nun ja, wir… vielleicht«, stammelte Jack. »Warum habt ihr es denn noch nicht getan?« Mary ließ nicht locker. »Nun, weil… muss dich das wirklich interessieren, Mary?«, fragte Jack und versuchte erwachsen und überlegen zu klingen. »Ich hab ja nur gefragt«, sagte Mary immer noch mit Unschuldsmiene. »Es ist so schade, dass das Baby unehelich geboren wird.« »Mary!«, rief William empört. »Was denn? Wir haben schließlich schon alle drüber gesprochen. Was ist dabei, wenn ich frage?« »Nichts«, sagte Jack. Er hatte sich wieder gefangen. »Wir haben noch nicht im gesetzlichen Sinn geheiratet. Aber geistig fühlen wir uns sehr verheiratet.« »Aber ihr wart nicht in der Kirche, oder?«, bohrte Mary weiter. »Oder auf dem Standesamt?« »Wir gehen nie in die Kirche. Es wäre heuchlerisch, wenn wir nur zum Heiraten dorthin gingen! Und ich hasse Standesämter.« »Vielleicht hätte sie sich ja eine schöne Hochzeit gewünscht, auch wenn du keine willst.« »Ich verspreche dir was. Wenn wir heiraten, falls wir heiraten, wird es die schönste Hochzeit von allen«, sagte Onkel Jack, »und ihr werdet eingeladen. Okay?« Mary zuckte mit den Schultern. »Das ist dann ein bisschen spät, oder?«, sagte sie. »Sei doch nicht so spießig, Mary!«, lachte Jack. »Nicht nur ich wollte noch nicht heiraten. Wir wollten es beide nicht. Also stell mich bitte nicht als grausamen Menschen dar, der Phoebe ihren Herzenswunsch nicht erfüllt.« Jetzt klang er ein bisschen verärgert. »Oh, tu ich nicht. Wirklich nicht, Onkel Jack«, sagte Mary zerknirscht. »Denk das bitte nicht.« Sie sprach vorsichtshalber nicht weiter, um nicht in Tränen auszubrechen. William seufzte und Alice fing an zu summen. Jack sah verlegen
aus. Mary stand vom Tisch auf und lief mit einem gemurmelten »Ich gehe jetzt ins Bett« zur Tür hinaus. »Oje!«, sagte Onkel Jack, als die Tür zufiel. »Sie wird schon wieder«, sagte William zu ihm. »Sie hat manchmal solche Anfälle.« »Aber was hat sie nur so aufgebracht?«, fragte Jack völlig verwirrt. William und Alice sahen sich an, sagten aber nichts. Und so ging der Tag früh zu Ende. William und Alice wünschten Jack Gute Nacht und Jack sagte ihnen, dass er noch eben spülen und dann auch ins Bett gehen würde. »Ich konnte ihm doch nicht sagen, dass sie in ihn verliebt ist, oder?«, sagte Alice, als sie und ihr Bruder die Treppe hinaufstiegen. »Verliebt!«, rief William aus. »Also wirklich!« Und das hörte sich nicht gerade nach Mitgefühl an. Als sie in ihre Zimmer gehen wollten, sagte Alice: »Warum müssen wir überhaupt ins Bett gehen? Ich bin noch nicht mal müde. Wir könnten jetzt den Kamin hinaufsteigen. Warum nicht? Komm schon, Will…« Aber William brachte sie mit einer Geste zum Schweigen und sah über seine Schulter die dunkle Wendeltreppe hinunter. »Schhht, Alice!«, zischte er. »Will, wir haben noch so viel zu bereden. Heute ist so viel passiert. Die Eule und das Fenster… Wir haben wirklich jemanden am Fenster des Geheimzimmers gesehen…« »Sei ruhig, Alice. Du weißt nie, wer mithört. Geh ins Bett. Ich hole euch später.« »Aber warum nicht jetzt?«, fragte Alice wieder mit leiserer Stimme. »Darum!«, antwortete er fast schon wieder böse. »Mensch, Alice! Frag doch nicht immerzu! Einmal ist Jack noch auf. Und dann… überlass es einfach mir. Ich bin der Älteste, klar?« Und ohne weitere Fragen abzuwarten ging er in sein Zimmer und schloss die Tür. Alice ging nachdenklich ins Mädchenzimmer. Mary lag mit geschlossenen Augen in ihrem Bett. Sie sah elend und angespannt aus. Alice ging zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. »Eingebildeter Blödmann!«, rief sie aus. »Du hast Recht, Mary. Ich hasse William auch, wenn er so ist. Mary! Mary, du schläfst doch nicht schon…« »Was?«, sagte Mary, das Gesicht halb unter dem Federbett.
»Will benimmt sich immer noch wie ein eingebildeter Blödmann!« Aber Mary beachtete sie nach wie vor nicht. Also zog Alice sich aus und kletterte ohne ein weiteres Wort mit Mary zu sprechen in ihr Bett. Stattdessen sagte sie laut zu sich selbst: »Es war ein absolut schrecklicher Abend und ich wünschte, ich wäre ein Einzelkind.« Die Deckenlampe war noch an und der Schalter dazu war neben der Tür. Beide Mädchen warteten darauf, dass die andere aufstehen, durch den kalten Raum gehen und das Licht ausschalten würde. Keine bewegte sich. Schließlich schlief Alice ein. Also, ich mache es nicht aus, dachte Mary und schlief auch ein.
14 Die Stufen im Kamin William schreckte aus dem Schlaf auf. Es war dunkel im Zimmer, trotzdem war sein erster Gedanke, dass er verschlafen hatte. Er schaltete die Taschenlampe ein und sah auf seine Uhr. Es war sechs. Er hatte früher aufwachen wollen. Er stieg schnell aus dem Bett und zog sich im Dunkeln an. Glücklicherweise hatte er seine Turnschuhe mitgebracht, in denen er sich bequem und geräuschlos bewegen konnte. Er nahm die Taschenlampe und ging auf den Flur. Unter der Tür der Mädchen schien Licht hervor. Er machte sie leise auf und ging ins Zimmer. Wegen des Lichts hatte er angenommen, sie wären wach und würden auf ihn warten. Aber sie schliefen beide. Er ging zu den Betten und versuchte Mary wachzurütteln. »Mary«, flüsterte er, »Mary, wach auf!« Aber Mary grunzte nur und vergrub sich tiefer unter die Decke. »Wach auf!«, zischte er ihr ins Ohr. »Geh weg, Will«, sagte sie verschlafen. Er sah sich nach Alice um, die ihre Wange auf eine Hand gelegt hatte und fest schlief. Er zuckte mit den Schultern. Er hatte versprochen sie zu holen und er hatte es immerhin versucht. Es war nicht seine Schuld, wenn er sie nicht aufwecken konnte. Er machte kehrt und ging auf Zehenspitzen zur Tür zurück. Er hatte die beiden sowieso nicht mitnehmen wollen. Allein war er viel besser dran, dachte er. Also ging er auf den Flur und lief schnell und lautlos die Wendeltreppe zur Galerie hinunter. Die Halle lag im Dunkeln. William lief die breite Treppe von der Galerie hinunter. Die Stufen waren aus Eichenholz und einige knarrten laut unter seinem Gewicht. Er blickte einige Male zu Jacks und Phoebes Zimmer hinauf, denn er erwartete, dass die Tür aufging und Onkel Jack herauskam, um nachzusehen, wer da so früh im Haus herumlief. Der Kamin war nicht weit von der Treppe entfernt, aber als er bei ihm ankam, klopfte sein Herz bereits so schnell und so laut, dass er nach Luft schnappen musste.
Er schaltete die Taschenlampe wieder ein und leuchtete den Kamin hinauf. Ein kalter Luftzug streifte sein Gesicht und in dem schwarzen Schacht über ihm stöhnte der Wind. Langsam ließ er den Lichtstrahl tiefer sinken und beleuchtete die Steine, die bis zu dem Vorsprung wie Leitersprossen an der Seitenwand vorstanden. Er holte tief Atem, um sich Mut zu machen, und kletterte mit entschlossenem Gesicht zum Vorsprung hoch. Er sah die Stufen beinahe sofort. Sie waren in einer dunklen Nische an der Rückseite des Kamins versteckt. Die hintere Wand stand etwas versetzt und täuschte eine falsche Ecke vor. Von unten war unmöglich zu erkennen, dass hinter dieser Ecke ein schmaler Gang verlief. Sogar wenn man auf dem Vorsprung stand, sah man die Nische nicht auf den ersten Blick, es sei denn man wusste, wonach man suchte. Der Eingang war sehr eng. William musste sich seitlich zwischen der echten Seitenwand des Kamins und der falschen Rückwand hindurchzwängen. Die Stufen waren dazwischengesetzt. Steil und sehr schmal bildeten sie eine enge, kleine Wendeltreppe, die fast senkrecht in die Dunkelheit hinaufführte. Es war am einfachsten, sie wie eine Leiter mit Händen und Füßen hochzusteigen. William begann zu klettern. Er hielt die Taschenlampe in der einen Hand und mit der anderen hielt er sich an der jeweils oberen Stufe fest. Über ihm wanden sich Stufen, die sich ein paar Augenblicke später unter seinen Füßen befanden. Die Wände schlossen ihn ein, die Luft war feucht und abgestanden. Als er stehen blieb, um seine Taschenlampe fester zu fassen, war die Stille um ihn herum so groß, dass er sein Herz pochen hörte. Es war fast ein bisschen so, als wäre er lebendig begraben, und er stieg eilig weiter, um damit sein Panikgefühl zu verdrängen. Später, als er eine weitere Runde der Treppe hochgeklettert war, versperrte plötzlich eine niedrige Tür aus geschwärztem Holz mit schweren Eisenbeschlägen den Weg. Zuerst war das eiserne Schnappschloss kaum zu öffnen, aber dann klickte es plötzlich so laut, dass der Lärm in der unwirklichen Stille fast ohrenbetäubend wirkte. Als William sein Gewicht gegen die Türe stemmte, schwang sie mit quietschenden Angeln langsam auf. Er trat über die Schwelle und hoffte schon im oberen Teil des Turms angekommen zu sein, aber stattdessen schraubte sich vor ihm die Wendeltreppe weiter in die Höhe. Er war nur ein paar Stufen weiter gestiegen, als es hinter
ihm laut knallte. Er machte sofort kehrt und stellte fest, dass die Tür an der Treppe hinter ihm zugefallen war. Er leuchtete mit seiner Lampe über die raue Holzoberfläche und sah, dass es auf seiner Seite der Tür kein Schloss gab. Er war eingesperrt. Mary wachte plötzlich auf. Eben noch hatte sie davon geträumt, eine Tänzerin zu sein und die richtigen Schritte nicht zu können, und jetzt lag sie hellwach in ihrem Bett in Golden House. Alice saß auf der Bettkante und zog sich eine Socke an. »Wie spät ist es?«, fragte Mary und sah nach draußen in den dunklen Nachthimmel. »Schhht!«, zischte Alice. Dann wisperte sie: »Viertel nach sechs.« »Wohin gehst du?«, flüsterte Mary zurück. »Will ist nicht in seinem Zimmer.« »Er ist ohne uns gegangen!«, rief Mary aus und war auf der Stelle wieder böse. »Das kleine Monster. Ich wusste es! Ich wusste es! Okay, jetzt reicht’s…« »Wir müssen ihn finden, Mary«, unterbrach Alice den Zornesausbruch ihrer Schwester. »Finden?«, sagte Mary spöttisch. »Mir ist egal, wo er ist. Ich hoffe, er verirrt sich.« »Nein, Mary. Das hoffst du nicht. Nicht wirklich.« »Doch, tu ich. Er hat uns versprochen…« »Aber er ist in Gefahr, ich weiß es. Wir müssen ihn finden…« »Geschieht ihm recht, wenn er in Gefahr ist«, sagte Mary. »Er ist allein weggegangen, um das Geheimzimmer zu finden, und hat schon wieder einen feierlichen Eid gebrochen. Das ist typisch – nur weil er der Älteste ist, meint er, er kann tun, was er will…« »Mary«, flehte Alice, »er sollte nicht allein dahin gehen. Es ist nicht sicher. Du hast selbst gesagt, dass hier irgendetwas komisch ist. Komm doch mit…« Sie sah so verzweifelt und elend aus, dass Mary es nicht übers Herz brachte, Nein zu sagen. »Na gut«, sagte sie. Sie kletterte aus dem Bett und bekam sofort eine Gänsehaut. »Es friert ja hier drin!« »Dann zieh dir was an«, sagte Alice und zog die Decke von Marys Bett, damit sie sich nicht wieder in die Wärme zurückflüchten konnte. »Wo sollen wir denn überhaupt suchen?«, fragte Mary und zog
sich gegen die Eiseskälte im Schlafzimmer schnell etwas an. »Oben im Kamin natürlich.« »Ich will den Kamin nicht hochgehen«, jammerte Mary angeekelt. »Er ist dreckig.« »Und wennschon«, sagte Alice und lief bereits aus dem Zimmer. Mary zog sich seufzend die letzten Kleidungsstücke über. Ich muss ihr folgen, dachte sie, oder sie bringt sich in die gleichen Schwierigkeiten wie Will und das macht alles noch komplizierter. Sie gehen mir so auf die Nerven… Sie ging hinter Alice die dunklen Stufen hinunter und wünschte dabei, William hätte nicht die einzige Taschenlampe mitgenommen. William hatte seinen Gürtel ausgezogen und versuchte die Spitze der Schnalle zwischen die Tür und den Rahmen zu schieben, um so vielleicht das Schnappschloss auf der anderen Seite zu bewegen. Es war eine gute Idee und hätte beinahe geklappt, aber weil die Tür nach seiner Seite hin zu öffnen war und es keine Klinke auf dieser Seite gab, konnte er sie nicht richtig fassen. Schließlich drehte er sich verärgert und enttäuscht über den Misserfolg um und ging weiter die Treppe hinauf, bis er einen schmalen Flur erreichte, an dessen Ende er eine weitere Tür sah. Er machte sie auf und trat in ein langes, mondhelles Dachzimmer. »Na, komm rein, komm rein«, sagte eine ziemlich verärgerte Stimme irgendwoher aus dem Schatten. William war so überrascht, dass er stattdessen wieder rückwärts aus dem Raum hinaus auf den dunklen Flur trat. Einen Augenblick später schreckte ihn ein leises, schwirrendes Geräusch auf, dann ein Luftzug und etwas Kaltes, das seine Stirn berührte. Er drehte sich um und rannte Hals über Kopf die Treppe hinunter, verlor dabei seine Taschenlampe und war plötzlich in völlige Dunkelheit gehüllt. Alice und Mary erreichten die Tür an der Treppe in dem Moment, als William wieder an der anderen Seite ankam. Alice fand das Schloss und drückte die Tür auf, gerade als William aus der anderen Richtung angelaufen kam. Sie stießen zusammen und Alice fiel nach hinten auf Mary, die ein paar Stufen unter ihr stand. Mary krallte sich an der Steinwand fest und konnte ihr Gleichgewicht halten, aber Alice stürzte und William mit ihr. »Was ist hier los?«, zischte Mary. »Ich ersticke«, verkündete Alice gedämpft. »Alice?«, sagte William und versuchte aufzustehen.
»William? Bist du das?«, flüsterte Mary und streckte die Hände nach dem Knäuel aus Körpern aus, das sich als William und Alice entpuppte. »Was macht ihr da?«, fragte eine gereizte Stimme. Sie schien von oben zu kommen. »Wer hat das gesagt?«, flüsterte Alice. »Ich weiß es nicht«, stöhnte William. »Da oben ist jemand.« »Nun kommt doch schon nach oben«, sagte die Stimme wieder. Und dann folgte ein seltsames ›Schuhuuuh‹-Geräusch, als ob jemand plötzlich einen Anfall von Schüttelfrost bekommen hätte. »William, wer ist das?«, flüsterte Mary mit vor Angst zitternder Stimme. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, sagte die Stimme wieder. »Kommt einfach herauf. Ich fresse euch nicht. Außerdem habe ich schon gegessen und ihr seid mir ohnehin viel zu zäh.« »Sie dürfen uns aber nicht einschließen«, rief William so tapfer wie möglich in die Dunkelheit. »Einschließen? Natürlich nicht. Die Tür geht ganz einfach auf, wenn man weiß, wie. Kommt ihr nun? Ich leuchte euch…« Und kaum hatte die Stimme das gesagt, wurde die Wendeltreppe von einem bleichen, silbrigen Lichtschein erfüllt. In dem gedämpften Licht sahen sich die Kinder an. Sie standen an der offenen Tür und noch konnten sie einfach die Stufen hinunterrennen, um vor der seltsamen Stimme zu fliehen. William mochte nicht allein entscheiden. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, die Mädchen in Gefahr zu bringen. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob er selbst hinaufgehen wollte. Deshalb flüsterte er: »Was sollen wir tun?« Alice zog ein Gesicht und sagte nichts. Da rief Mary zur Überraschung aller ganz aufgebracht: »Es ist ja schön und gut, dass Sie uns sagen, was wir tun sollen. Aber wir wissen nicht, wer Sie sind. Es könnte ja gefährlich sein.« »Ihr wolltet doch sowieso hochkommen, oder nicht? Deshalb seid ihr hier«, sagte die Stimme geduldig. »Was für einen Unterschied macht es jetzt?« »Der Unterschied ist«, sagte Mary fest, »dass Sie da oben sind und wir nicht wissen, wer Sie sind.« »Wäre es wirklich ein so großer Unterschied, wenn ihr es wüsstet?«, fragte die Stimme. »Ja, wäre es«, antwortete Mary.
»Nun, es gibt eben nur den einen Weg, es herauszufinden«, sagte die Stimme verärgert. Einen Augenblick später hörten sie ein dumpf schlagendes Geräusch und danach nichts mehr. »Hallo?«, rief William. Es blieb still. »Lasst uns wieder ins Bett gehen«, sagte Alice. »Nein«, sagte Mary und drängte sich an ihr vorbei. »Ihr zwei geht ins Bett, wenn ihr wollt, ich gehe hoch.« »Du bist ganz schön mutig, Mary«, sagte William zu ihr, als sie sich an ihm vorbeidrückte. »Eigentlich nicht«, flüsterte sie. »Aber wenn er etwas Schreckliches vorgehabt hätte, dann hätte er es schon getan, oder nicht? Und ich könnte jetzt überhaupt nicht schlafen. Ich würde sterben vor Neugier. Kommt mit, ihr zwei. Ich will eigentlich nicht allein gehen.« »Gut«, sagte Alice mit leisem Widerwillen. »Aber William, du musst meine Hand ganz fest halten und mir versprechen, sie nicht loszulassen.« In dem dämmrigen Licht streckte William seine Hand aus und ergriff die kleinere seiner Schwester. Er war genauso froh darüber wie Alice und war deshalb auch nicht überrascht, als Mary seine andere Hand nahm. Hand in Hand stiegen die drei die steilen Stufen hoch, bis sie den mondhellen Raum erreichten.
15 Die Begegnung mit dem Magier »Hallo?«, rief Mary und versuchte das Wort wie eine Frage klingen zu lassen. »Sind Sie da?« Niemand antwortete. »Ach kommt«, sagte Alice und zog an Williams Hand. »Wenn niemand hier ist, können wir genauso gut wieder gehen.« Aber Mary hatte den Raum schon betreten und sah sich in dem dämmrigen Licht um. »Ich frage mich, woher es kommt«, sagte sie. »Ich meine, das Licht. Hier sind keine Fenster…« Als sie sich zu William und Alice umdrehte, hielt sie den Atem an. William dachte, sie hätte hinter ihm jemanden gesehen, und stürzte vorwärts, tiefer in den Raum hinein. Dabei zog er Alice mit sich, die sich immer noch an seine Hand klammerte. »Was ist?«, rief er aus und konnte seine Panik kaum verbergen. Alice kauerte hinter ihrem Bruder und hielt sich die Augen zu – ein Trick, den sie schon kannte, als sie noch ganz klein war. »Seht mal«, sagte Mary und zeigte auf eine Stelle über ihren Köpfen. William drehte sich um und Alice, immer noch an ihn gedrückt, drehte sich mit ihm. »Was ist es, Will? Was ist es?«, fragte sie entsetzt. »Die Eule«, antwortete William. »Es ist alles in Ordnung, Alice. Sieh sie dir ruhig an.« Die Tür, durch die sie hereingekommen waren, saß in einem der Steintürmchen, die wohl einmal zum Dach des großen Turms gehört hatten. Daneben mündeten die Ziegelsteine des Schornsteins in den schrägen Giebel. Wo das Dach auf den Schornstein traf, ragten die beiden runden Fenster hervor, die sie schon von draußen gesehen hatten, eines vorne und eines hinten. Sie waren größer, als sie von unten ausgesehen hatten, und gegenüber jedem Fenster war ein Spiegel an den Ziegeln des Schornsteins angebracht. Diese Spiegel waren schwenkbar und konnten offensichtlich so gedreht werden, dass sie das Licht der Sonne oder des Mondes reflektierten. Jeder Spiegel
trug außerdem einen Kerzenhalter, wahrscheinlich damit auch ohne Sonne oder Mond ein Licht hinaus auf das Dach geleitet werden konnte. Es waren aber nicht diese Fenster mit den gut durchdachten Spiegeln, die Mary zu dem überraschten Schrei veranlasst hatten. Es war die Eule. Sie saß auf dem Kerzenhalter am vorderen Fenster, von dem man über die Einfahrt und den hohen Waldhügel blickte. Still und stumm saß sie da und starrte ernst nach draußen. Das Mondlicht wurde vom Spiegel hinter ihr eingefangen, so dass ein silberner Schein um sie leuchtete. Das Fenster stand halb offen und war über zwei seitliche Angeln leicht gekippt. Eine sanfte Brise wehte durch den Raum und strich über die Gesichter der Kinder. Sie bewegte die weichen Brustfedern der Eule. Die Luft war kalt und die Kinder fröstelten. »Es ist eiskalt hier«, rutschte es Mary heraus. »Ssssh!«, zischte der Vogel und hob eine Kralle. Es sah aus wie eine Geste. Alice drückte sich enger an William und er nahm sie in den Arm. Während sie die Eule weiter beobachteten, wurde das Mondlicht schwächer und der Raum dunkler. »Wartet«, flüsterte eine Stimme. Schweigend spähten die Kinder zu dem großen Vogel, der jetzt nur noch ein riesiger Schatten auf dem Kerzenhalter über ihren Köpfen zu sein schien. Zuerst fast unmerklich begannen draußen im schneebedeckten Wald ein paar Vögel zu singen und die ersten Lichtstrahlen der Morgendämmerung verdrängten allmählich die Dunkelheit. »Schuhuuuh«, schrie die Eule, was in den Ohren der Kinder, die so nah neben ihr standen, laut und schauerlich klang. Majestätisch entfaltete sie ihre großen Flügel und schlug mit ihnen, fast so, als wollte sie sie ausschütteln, um vom Kerzenhalter auf die Fensterbank zu springen. Einen Augenblick lang sahen die Kinder ihre Silhouette gegen das erste Tageslicht, dann segelte sie ohne sich umzublicken über das Dach hinunter und war verschwunden. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte eine Stimme hinter ihnen und sie fuhren alle gleichzeitig herum. Vor ihnen stand ein Mann in einem langen, schwarzen Mantel. Er trug keine Kopfbedeckung und stützte sich mit einer Hand schwer auf einen dünnen Silberstock. Der Stock sah aus wie ein Bischofsstab, aber anstelle der gekrümmten Spitze waren zwei Drachen zu
sehen, die sich mit zurückgeworfenen Köpfen und offenen Mäulern umeinander wanden. Aus den Mäulern lugten kleine, gespaltene Silberzungen hervor. Das Zwielicht erhellte den Raum immer mehr und so konnten die Kinder den Mann besser sehen. Er war fast kahl und die wenigen restlichen Haare waren so rot, dass der Kopf von einem Feuerkreis umgeben zu sein schien. Das Auffälligste an ihm waren jedoch seine Augen. Ihr sehr blasses Blaugrau, fast Weiß, war von goldenen Punkten durchsetzt, die in der Dämmerung blitzten und Funken sprühten wie ein glühendes Stück Holz. Und die ganze Zeit blickten sie so starr und gerade, als ob sie in die Gedanken der Kinder eindringen wollten. Alice packte Williams Hand fester und rückte näher zu ihm hin und auch Mary, die bis jetzt so mutig gewesen war, wich ängstlich einen Schritt zurück. Lange war es sehr still im Raum und der Mann sah sie alle nacheinander prüfend an. Dann nickte er nachdenklich mit dem Kopf. »Ihr wisst, wer ich bin?«, fragte er ruhig. »Ein Magier«, flüsterte Mary. »Ja, das ganz sicher«, antwortete ihr der Mann. »Aber außerdem. Wer bin ich?« »Stephen Tyler«, murmelte William, der kaum sprechen konnte. »Gut. Du hast es dir gemerkt«, sagte der Mann. Und er nickte wieder langsam und nachdenklich mit dem Kopf. »Wer?«, fragte Alice William ohne den Mann auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. »Der Mann vom Bahnhof. Von dem ich euch erzählt habe«, flüsterte William. »Der, von dem ihr glaubtet, es gäbe ihn nicht«, sagte der Mann jetzt. »Also ich habe William geglaubt«, sagte Alice jetzt mutiger. »Sie sind nur verschwunden, bevor wir Sie überhaupt sehen konnten.« »Du bist Alice«, sagte der Mann und brachte sie damit zum Schweigen. »Und du«, sein Blick wanderte weiter, »bist Mary.« Mary nickte und schluckte unbehaglich unter dem kalten Blick. »Es hat lange gedauert, bis ihr gekommen seid«, sagte der Mann jetzt und entfernte sich langsam in den hinteren Teil des Raumes. »Wir sind erst ein paar Tage hier«, verteidigte sich William. »Natürlich«, sagte Stephen Tyler. »Und doch habe ich schon viel länger auf euch gewartet.«
»Leben Sie hier oben?«, fragte Mary und schaute sich in dem unordentlichen Raum um, den man in der heller werdenden Morgendämmerung immer besser erkennen konnte. »Leben? Hier? Frag nicht so viel«, fuhr der Mann sie an. Dann schien er seinen Ausbruch zu bedauern und lächelte sie an. »Warte, bis du alles entdeckt hast, was du wissen musst. Fragen können Zeitverschwendung sein. Natürlich nicht die richtigen Fragen. Richtige Fragen sparen Zeit. Also – stell die richtige Frage und du bekommst die richtige Antwort.« »Aber woher sollen wir wissen, was eine richtige und was eine falsche Frage ist?«, fragte Alice. Der Mann sah sie nur lächelnd an. »Wir werden es merken, wenn wir eine Antwort bekommen«, sagte William. Er starrte den Mann immer noch an. »Gut«, sagte der Mann erfreut. Dann sah er William streng an und runzelte die Stirn. »Du bist jünger, als ich dachte«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Aber das macht nichts.« Er schien zwischendurch mehr mit sich selbst zu sprechen als mit den Kindern. »Ihr werdet das ganze nächste Jahr hier sein, ist das richtig?«, fragte er sie alle drei. »Ja und nein«, antwortete William. »Wir müssen zur Schule, aber in den Ferien sind wir hier, denke ich.« »Unsere Eltern sind in Afrika«, fügte Mary hinzu. »Ja, ja.« Stephen Tyler brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Der Junge hat es mir erzählt. Hmmmm.« Mit einem langen, nachdenklichen Summen betrachtete er sie alle noch einmal mit zusammengezogenen Brauen. »Seid ihr konstant, also ausdauernd und treu, ihr drei Kinder?« »Wir heißen ja Constant«, rief Alice. »Aber seid ihr es auch wirklich?«, beharrte der Mann. »Habt ihr einen unerschütterlichen Willen und Entschlusskraft? Seid ihr zuverlässig und vertrauenswürdig? Nun, seid ihr das?« Diese letzte Frage feuerte er auf Alice ab, wobei er sich zu ihr hinunterbeugte und ihr in die Augen spähte. Alice duckte sich schnell hinter Williams Rücken, als wäre sie geschlagen worden. »Ich weiß es nicht«, wisperte sie. »Es ist bloß unser Name. Wir heißen Constant.« »Aber warum heißt ihr so?«, fragte Stephen Tyler sie. Alice zuckte mit den Schultern und schob die Unterlippe vor. Sie
hatte das schreckliche Gefühl, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Wir haben den Namen von unserem Vater, wie die meisten Leute.« »Aber eure Familie muss sich den Namen einmal verdient haben. ›Constant‹ zu heißen ist eine große Ehre. Ich kann nur hoffen, dass ihr dieser Ehre immer noch würdig seid. Konstant zu sein heißt treu und zuverlässig zu sein. Konstant zu sein heißt die Schwüre auch einzuhalten, die ihr ständig so feierlich leistet.« Nach dieser Erklärung wandte er seinen Blick langsam William zu und sah ihn mit seinen blitzenden, forschenden Augen an. William konnte ihn nicht ansehen. Er ließ beschämt den Kopf hängen. Er erinnerte sich daran, dass er den feierlichen Eid gegenüber seinen Schwestern gebrochen hatte. »Es tut mir Leid«, murmelte er. »Ich habe wirklich versucht sie zu wecken, aber sie haben geschlafen und Mary hat gesagt, ich soll weggehen. Das hat sie wirklich gesagt.« »Macht nichts, Will«, hörte er Mary flüstern und er war froh, als sie seine Hand aufmunternd drückte. »Höre auf meinen Rat, William Constant«, sagte der Mann. »Schwöre nur einen Eid, wenn du ihn wirklich halten willst und auch dazu in der Lage bist. Hast du gehört?« William nickte und war erleichtert, als Stephen Tyler sich abwandte. Er schüttelte seinen Kopf und schien plötzlich sehr müde zu sein. »Stellt mir jetzt eure Fragen«, sagte er ruhig und kehrte ihnen den Rücken zu. »Aber – denkt, bevor ihr sprecht.« »Sind Sie…«, begann William und dann musste er sich erst einmal räuspern, weil er immer noch nervös war. »Bitte«, fing er wieder an, »sind Sie mit dem Stephen Tyler verwandt, der dieses Haus im 16. Jahrhundert gebaut hat? Ich meine, war er ein Vorfahr von Ihnen?« Der Mann drehte sich wieder herum und sah ihn an. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist so ein ungewöhnlicher Name, deshalb komme ich darauf«, stammelte William. »Sind Sie wirklich ein Magier?«, fragte Alice. Der Mann nickte. »Können Sie sich in einen Hund verwandeln?«, fuhr sie fort. »Eine gute Frage«, antwortete Stephen Tyler. »Die Antwort dar-
auf ist: nein, nicht wirklich.« »Das ist aber keine gute Antwort«, sagte Alice zu ihm. Dann versteckte sie sich wieder hinter William, als der Mann die Stirn runzelte und tief aus seiner Kehle ein knurrendes Geräusch wie von einem Hund kam. »Alice«, zischte William warnend, damit sie den Mann nicht länger reizte. »Tut mir Leid«, sagte seine Schwester schnell. »Aber der Hund – mein Hund – der Hund draußen… Sie kennen ihn, oder? Ich glaube schon, denn Sie haben die gleichen Augen wie er.« »Ja, ich kenne den Hund, den du meinst«, antwortete Stephen Tyler. »Aber ich verwandle mich nicht in ihn. So geht es nicht. Der Hund bleibt er selbst, aber ich sehe manchmal durch seine Augen. Ich trete in ihn ein. Man könnte sagen, ich lebe durch ihn. Ist das eine bessere Antwort?« Alice zog die Brauen zusammen und rieb sich die Nase, ein sicheres Zeichen dafür, wie verwirrt sie war. »Verstehst du mich, kleines Mädchen?«, beharrte Stephen Tyler. »Ich glaube schon, wenn Sie mir Zeit geben«, antwortete sie, dann stieß sie William an, damit er etwas – irgendetwas – sagte und der Mann aufhören würde, ihr noch mehr Fragen zu stellen. »Treten Sie auch manchmal in den Fuchs ein?«, fragte William. »Manchmal auch in den Fuchs, ja«, antwortete Tyler. »Und in die Eule?«, fragte Mary. »Die Eule und ich stehen uns sehr nahe«, sagte er zu ihr. »Aber… wie?«, fragte Alice verblüfft. »Ach«, seufzte Stephen Tyler. »Dafür ist jahrelange Übung nötig. Ich werde es euch einmal zeigen.« »Könnten wir das dann auch tun?«, fragte Mary ihn. »Mit meiner Hilfe«, antwortete der Magier. »Mit meiner Hilfe ist nicht abzusehen, was ihr alles leisten könnt.« »Und würden Sie uns helfen?«, fragte Alice. Sie hatte vor lauter Verwunderung die Augen weit aufgerissen und spähte an Williams Schulter vorbei. »Wenn es nötig ist, dann ja, natürlich.« »Nötig für was?«, fragte William kühn. »Das sind gute Fragen«, sagte Stephen Tyler strahlend. »Ihr seid auf dem richtigen Weg. Nötig für meine Arbeit.« »Was ist das für eine Arbeit?«, fragte William. »Alchimie«, antwortete Stephen Tyler.
»Sie meinen, Sie können aus Zinn Gold machen?«, rief William aufgeregt aus. »Nein«, sagte Stephen Tyler. Er schwang mit blitzenden Augen und erhobenem Stab herum, als wollte er William damit schlagen. William duckte sich ängstlich, bestürzt über diese Reaktion. »Aber ich dachte, dass Alchi-Dingsda dafür gut ist«, beteuerte er. »Ja, das denken die Leute. Hier war ein Mann - Lewis? War das sein Name?« »Jonas Lewis?«, half William ihm. »Das ist der Name. Sehr gut. Woher kennst du ihn?« »Onkel Jack hat ein Buch mitgebracht, das er geschrieben hat. Deshalb haben wir die Stufen im Kamin entdeckt. Im Buch waren Zeichnungen. Eine davon zeigte eine Sonne und einen Mond auf beiden Seiten des Stocks, den Sie da haben… Manchmal kann man das Bild auf der Kaminwand sehen.« »Die geheimen Zeichen. Weil die Kunst so… sorgfältig gehütet wird, können wir nicht jeden hereinlassen.« Stephen Tyler lächelte. »Sehr gut, dass du sie gesehen hast. Bravo. Ich bin erfreut. Worüber haben wir gesprochen?« »Jonas Lewis«, half ihm William wieder weiter, erfreut über das Lob. »Ah ja«, fuhr Tyler ruhiger fort. »Jonas war ein gelehriger Schüler. Natürlich habe ich ihn auch gut unterrichtet. Aber er lernte auch schnell. Er war auf dem richtigen Weg. Dann geriet er in Schwierigkeiten.« Der alte Mann schüttelte seinen Kopf bei der Erinnerung. »Er geriet in Schwierigkeiten und trotzdem holte er sich bei mir keinen Rat.« Er schüttelte wieder den Kopf, und als er weitersprach, klang seine Stimme schroffer und geschäftsmäßiger. »Ein Mann, der Crawden hieß, wollte eine Spielschuld zurückgezahlt bekommen. Armer Lewis, er spielte – Karten, wenn ich mich recht erinnere –, um seine alchimistischen Forschungen zu bezahlen. Ich habe ihn gewarnt… aber er wollte nicht auf mich hören…« Tyler schwieg einen Augenblick. Als er weitersprach, bekam seine Stimme einen eigenartig ernsten Ton. »Er benutzte die Kunst, um für sich selbst Gold herzustellen. Er bezahlte seine Schulden. Er dachte, er wäre frei…« »Was ist mit ihm passiert?«, fragte Mary. »Was am Ende immer passiert, wenn wir aus Selbstsucht handeln. Das Gold verwandelte sich zurück. Es wurde wertlos. Crawden bekam das Haus. Ich habe Lewis nie wieder gesehen.«
»Waren Sie böse auf ihn?«, fragte Mary. »Böse? Warum?« »In dem Buch«, erzählte William ihm, »sagt er: ›Der Magus weiß.‹ Er war anscheinend sehr verängstigt…« »Und Onkel Jack sagt«, unterbrach Mary ihn, »dass ein Magus so was wie ein Zauberer oder ein Magier ist…« »Ich war böse, ja«, seufzte der alte Mann. »Sind Sie wirklich ein Magier?«, fragte Alice mit großen Augen. Wieder betrachtete Stephen Tyler sie nachdenklich. »Ich kann Zinn in Gold verwandeln, wenn du das meinst«, sagte er schließlich. »Aber wozu? Wenn ich alles Zinn der Welt in Gold verwandeln würde, dann wäre Zinn wertvoller, als es Gold jetzt ist. Das Gleichgewicht würde sich verändern, das ist alles.« »Bitte«, sagte Mary, »was tun Sie denn genau?« »Es ist richtig, dass die Kunst der Alchimie unedle Metalle in Gold verwandeln kann, aber das ist nur ein Schritt zu der bedeutenderen Arbeit.« Stephen Tyler schüttelte den Kopf und winkte verächtlich ab. »Die Worte, die ich für euch benutzen muss, sind viel zu einfach, um die wahre Kunst zu verdeutlichen. Trotzdem solltet ihr einiges darüber wissen, wenn ihr mir helfen wollt.« »Sie wollen, dass wir Ihnen helfen?«, fragte William, überrascht von dem Gedanken. »Natürlich«, antwortete Stephen Tyler. »Deshalb habe ich euch hergeholt.« »Sie haben uns hergeholt?«, sagte William entrüstet. »Das ist gut! Ich habe alles selbst herausgefunden. Ich habe die Stufen im Kamin entdeckt.« »Aber ich habe den Kamin gebaut, William«, sagte der Magier. »Denk daran.« »Dann sind Sie…«, fing William an, aber er unterbrach sich, denn was er dachte, war nicht möglich. »Sie wollen uns wohl veräppeln«, sagte er ungehalten. »Wie können wir Ihnen denn helfen?«, unterbrach Mary ihn schnell. Sie wusste, wie stur William sein konnte, und glaubte, dass dies nicht der rechte Moment für einen Streit war. Ganz besonders nicht mit einem Magier. »Ich lasse es euch wissen, wenn die Zeit gekommen ist.« »Aber wobei sollen wir Ihnen helfen?«, wollte Alice wissen. Für sie sah es so aus, als bekämen sie nie eine richtige Antwort. »Bei einer bedeutenden Arbeit«, antwortete der Magier. »Ich
kann sie nicht ganz allein tun. Ich brauche Unterstützung, besonders in eurer Zeit. Ihr braucht mich. Aber gleichzeitig brauche ich euch vermutlich auch. Deshalb ist es wesentlich, dass wir zusammenarbeiten.« »Zusammenarbeiten?«, rief William aus. »Aber wofür genau?«, fragte Mary. »Für die Zukunft… Sogar für eure Zukunft. Für die Menschheit.« »Meinen Sie etwa so was wie ›Rettet die Welt‹ oder so?«, fragte Alice. Sie fing an sich zu langweilen und wollte witzig sein. »Sehr kluges Mädchen«, rief der Magier aus. »Ganz genau das meine ich. Wir müssen die Welt retten, bevor es zu spät ist.« Alice sah William an und schnitt eine Grimasse. Der Mann ist verrückt, dachte sie. »Glaubst du das wirklich?«, fragte er sie streng. Er konnte ihre Gedanken lesen. »Das ist wirklich gemein, dass Sie das tun«, protestierte Alice. »Gedanken lesen. Das ist unhöflich und überhaupt ungerecht, weil wir es nicht mit Ihnen machen können. Es ist wie Schwindeln… oder so.« »Alice! Halt die Klappe«, warnte William sie. Aber es war zu spät, der Magier war wütend. Er hielt den Silberstab waagerecht vor sich ausgestreckt und lief zischend und brüllend und mit den schrecklichsten Geräuschen auf sie zu. Die Kinder rannten vor ihm weg, zurück durch den Raum zur Tür, durch die sie hereingekommen waren. Aber kurz bevor sie sie erreichten, hörten sie einen seltsamen und schrecklichen Ton. Es klang wie ein schrilles Quieken, ein wenig wie Kreide, die über eine Tafel kratzt. Noch bevor sie sich fragen konnten, was den Ton erzeugt haben mochte, kam die Antwort in Form einer riesigen und abscheulichen Ratte, die über ihre Köpfe sprang und mit gebleckten Zähnen und bösartigem Zischen vor ihnen landete. William schrie als Erster. Später stritt er es ab, aber es war tatsächlich so, obwohl die Mädchen nur eine Sekunde länger dazu brauchten. »O nein!«, kreischte Mary. Sie machte kehrt und rannte zurück in den Raum hinein, weg von dem schrecklichen Tier. Alice blieb inzwischen wie angewurzelt stehen und hielt sich die Augen zu. »Ist sie weg? Ist sie weg?«, piepste sie immer wieder mit einer hohen, erschreckten Stimme.
Die Ratte war unvorstellbar groß. Sie hatte glatte, graue Haare und der lange, glänzende Schwanz schlug und zuckte und stand niemals still. Die Blicke aus ihren winzigen, grell leuchtenden Augen stachen wie Nadelstiche. »So«, zischte sie, »da wollen wir euch doch mal testen, was?« Als sie zu Ende gesprochen hatte, rannte sie direkt um Mary herum und machte den Kindern den Weg zur Tür frei, zwang sie aber gleichzeitig den Raum zu verlassen und die steile Wendeltreppe hinunter in die Dunkelheit zu flüchten. »Komm schnell, Alice«, schrie William, packte ihre Hand und zog sie aus dem Raum. »Wo ist sie? Wo ist sie?«, jammerte Alice, ließ sich aber die engen, dunklen Stufen hinunterziehen. »Ssss!«, zischte die Ratte in der Dunkelheit. »Ihr werdet getessstet.« Und weiter unten auf der Treppe konnte man Alice sagen hören: »Wenn ich eins hasse, dann sind es Ratten!«
16 Ratten Auf der Treppe war es kalt und furchtbar dunkel. Mary lief voraus und kam zuerst an die Tür. »O William«, rief sie, »wie geht sie auf?« Einen Augenblick später kam William mit Alice an der Hand schwer atmend hinter ihr an. »Ich weiß es nicht«, sagte er verzweifelt. »Auf dieser Seite gibt es kein Schloss.« »Mach schnell!«, jammerte Alice. »Sie kommt sicher hinter uns her.« »Schhhh!«, zischte William, damit sie in Ruhe lauschen konnten. Zuerst gab es in der Dunkelheit kein Geräusch außer ihrem eigenen Atmen, aber dann hörten sie ein tappendes, kratzendes Geräusch, so als ob jemand mit allen zehn Fingern über eine raue Oberfläche striche. »Was ist das?«, zischte Alice, als sie die Spannung nicht länger ertrug. »Ich weiß nicht genau«, antwortete William, aber er schien etwas zu ahnen. »Das sind Rattenpfoten auf der Treppe«, jammerte Mary. »Stimmt doch, oder? Ja, bestimmt. Ich bin ganz sicher.« »Jemand soll uns bitte rauslassen«, kreischte Alice und dann schrie sie kurz auf. »Etwas hat mein Bein berührt«, heulte sie. Sie sprang auf Williams Rücken und schlang die Arme um seine Schultern und die Beine um seine Hüften. »Alice!«, protestierte William, dann schrie auch er entsetzt auf. »Da kriecht irgendetwas über den Boden«, wisperte er. »Ich glaube, ich werde ohnmächtig«, sagte Mary sachlich. »Bitte nicht«, sagte Alice zu ihr und klammerte sich fester an Williams Schultern. »Nicht jetzt. Mach bitte einfach die Tür auf.« Dann schrie sie wieder laut auf. »Was ist jetzt wieder los?«, jammerte William. »Es ist da unten, an deinen Füßen. Ich weiß es genau. O William…« Alices Stimme geriet zu einem weinerlichen Wimmern.
William stampfte mit den Füßen auf die Steinstufen, um was immer da lauerte zu verschrecken. Mary begriff, was er tat, und machte es genauso. Sie sprangen beide auf und nieder und stampften dabei mit den Füßen. »Dir können sie nichts anhaben, Alice«, keuchte Mary, »William hält dich ja.« Dann spürte sie, wie William ihren Arm packte. »Hörst du das?«, fragte er angestrengt flüsternd. Sie hörten alle auf sich zu bewegen und hielten den Atem an. Noch einmal hörten sie das seltsam schleppende Geräusch, nur diesmal schienen es viel mehr Pfoten zu sein, so dass es sich eher wie das leise Trampeln einer Rinderherde anhörte oder wie eine kleine Lawine, die auf sie zukam. In das schreckliche Trappelgeräusch mischten sich quiekende, zischende und wispernde Töne. »Oh«, heulte Alice. »Da sind Hunderte von denen.« Und im gleichen Moment füllten sich die Stufen hinter ihnen mit glitzernden Augen und keuchenden, quiekenden Körpern. Die drei Kinder konnten sich nur mit dem Rücken zur Tür enger aneinander drücken und voll Entsetzen auf die Mauer aus stinkenden Ratten starren, die auf sie zukam. William fühlte etwas über seine Füße gleiten und Mary stöhnte gleichzeitig hinter ihm auf. Die Woge aus glühenden Augen zog sich zurück und man hörte so etwas wie einen aufgeregten Seufzer, als etwas Dunkles weg von den Kindern die Stufen hinaufglitt. Dann blieb es stehen, drehte sich um und die Kinder erkannten die Ratte wieder, die sie im Geheimzimmer gesehen hatten. Die Bestie war so groß, dass alle anderen gegen sie klein aussahen. Sie stand da mit schlagendem Schwanz und zuckender, spitzer Schnauze, dann verzog sie ihr Maul sehr langsam zu einem abscheulichen Grinsen. Alice schlug sich die Hände vor die Augen und ließ dabei die Schultern ihres Bruders los. William kippte fast um, weil diese plötzliche Bewegung ihn aus dem Gleichgewicht brachte, und musste sich an der Seitenwand festhalten. Seine Hand streifte einen in der Wand befestigten Eisenring, den er ergriff, damit er nicht fiel. Mary, die hinter William und Alice mit dem Rücken zur Tür stand, fühlte einen plötzlichen Luftzug und fiel rückwärts, als die Tür aufschwang. Sie konnte sich gerade noch fangen, als William und Alice hinter ihr herpurzelten. »Schnell!«, schrie Mary und bremste ihren Fall ab. Sie drehte sich um und raste die Treppe hinunter, dicht gefolgt von den beiden
anderen. Bald hatten sie alle drei das Ende der Treppe erreicht und standen auf dem steinernen Vorsprung an der Innenseite des Kamins. Ohne zu zögern sprang Mary auf den Boden und William und Alice folgten ihr sofort, so dass sie alle direkt vor dem Kamin der großen Halle in Golden House landeten. »Au!«, schnaufte William, denn Alice war auf seinen Bauch gefallen. »Was ist?«, fragte sie und stieß ihm einen Ellbogen in die Seite, als sie versuchte sich aufzurichten. »Alice!«, brüllte er. »Ich bin doch kein Sandsack!« Er schob sie mit aller Kraft weg und setzte sich auf. Sein Knie schmerzte und war blutverschmiert. Mary lag immer noch da, wo sie hingesprungen war, aber jetzt rappelte sie sich auch auf und sah sich um. Hinter ihr begutachtete William sein blutendes Knie und Alice lag neben ihm. Mary wollte gerade etwas sagen, als eine Ratte von oben zur Feuerstelle hinuntersprang. »Sie sind hier«, keuchte sie. William wirbelte herum und im nächsten Augenblick war der Boden mit kriechenden, zappelnden, grau glänzenden Körpern übersät. Die Ratten waren überall. Ratten auf dem Boden oder in die Wände festgekrallt. Ratten auf dem Tisch und Ratten, die von Stühlen sprangen. Die ganze Halle schien von ihnen überflutet zu sein. Zuckende Schwänze, knirschende Zähne, kratzende Pfoten und die ganze Zeit über das schreckliche, aufgeregt hohe Quieken. »Was ist da unten los?«, rief eine Stimme von oben. Mary blickte hoch und sah Jack sich vor seiner Schlafzimmertür über das Geländer beugen. Sie hatte nur einen Moment nach oben geblickt, aber in dieser kurzen Zeit waren alle Ratten verschwunden. Als Mary sich umschaute, sah sie gerade noch etwas Grauschwarzes durch ein Loch in der Holzfußleiste verschwinden. Sonst hätte sie das ganze schreckliche Ereignis wohl für einen Traum gehalten. »Sie sind weg«, wisperte sie. »William? Bist du das?«, rief Onkel Jack. William stand unsicher auf und ging zur Treppe. »Ja«, antwortete er mit zittriger Stimme. »Wer ist da bei dir? Ist das Alice?« »Und Mary«, rief Alice schuldbewusst. »Wir sind alle hier.« »Wie seht ihr denn aus«, sagte Onkel Jack und kam die Treppe
herunter in die düstere Halle. »Was habt ihr nur angestellt? Ihr seid völlig schwarz vor Ruß.« Die drei Kinder sahen sich an und merkten, dass Onkel Jack Recht hatte. Überall waren schwarze Flecken auf ihren Gesichtern und Händen. »Ich habe das Feuer doch schon vorbereitet«, sagte Jack, weil er offensichtlich annahm, dass sie das hatten tun wollen. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte er und versuchte im Zwielicht seine Uhr zu erkennen. »Acht Uhr. Oje, ich wollte schon vor Stunden aufstehen. Tut mir Leid, ich muss verschlafen haben. Wir haben nicht sehr gut geschlafen. Phoebe hat ziemliche Beschwerden. Es weiß nicht zufällig jemand von euch, ob das normal ist?« Die drei Kinder schüttelten schweigend die Köpfe. Sie waren selbst noch zu aufgewühlt, um sich über Phoebes Zustand Gedanken zu machen. Onkel Jack streckte sich fröstelnd. Er hatte nur einen Morgenmantel an. Was hieß, entschied Alice, dass er ohne Schlafanzug schlief, was ja nun wirklich unanständig war. »Kommt«, sagte Jack. »Frühstücken. Ich ziehe mir nur eben etwas Wärmeres an.« Schon halb auf der Treppe drehte er sich auf dem Absatz um, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. »Da könnt ihr es mal wieder sehen!«, sagte er. »Ich habe fast vergessen, was für ein Tag heute ist. Frohe Weihnachten euch allen!« »Frohe Weihnachten, Onkel Jack«, erwiderten sie im Chor, obwohl es nicht sehr fröhlich klang. Jack sah sie einen Moment nachdenklich an. »Was immer ihr da gemacht habt, vergesst es jetzt«, sagte er zu ihnen. »Es ist Weihnachtsmorgen. Unser erstes Weihnachten in Golden House. Ich will, dass es ein Tag wird, an den wir uns unser ganzes Leben lang erinnern. Jetzt geht rauf, wascht euch und zieht euch um, und wenn ihr wieder runterkommt… bin ich auch fertig.«
17 Gedankenwirbel »Das war schrecklich!«, sagte Alice. Sie saß auf der Bettkante und zitterte wie Espenlaub. »Für dich war es nur halb so schlimm«, fauchte Mary. »William hat dich doch die meiste Zeit getragen. Dir sind sie nicht über die Füße gelaufen oder knabbernd und kratzend die Beine hoch.« »Sei still, Mary. Ich kann das nicht leiden. Du weißt, dass ich Ratten hasse.« »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich sie mag!«, sagte Mary zu ihr. »Sie waren schleimig und glitschig und ihre Schwänze fühlten sich an wie Würmer…« Alice schrie auf und verschwand unter dem Federbett, um ihre Schwester nicht mehr hören zu müssen. Auf Marys Gesicht lag ein verstohlenes Lächeln. Irgendwie war es manchmal sehr befriedigend, Alice Angst einzujagen. Das war immer schon so gewesen und sie hatte ziemlichen Spaß daran. Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, was sie aber nicht daran hinderte, weiterzumachen. Um ihren Sieg abzurunden, ging sie auf Zehenspitzen durch das Zimmer und sprang wie verrückt piepsend und zischend auf das Federbett. Alice gab einen unterdrückten Schrei von sich und dann rollten sie kämpfend auf dem Bett herum, das Federbett zwischen sich. William kam mit der Zahnbürste in der Hand besorgt ins Zimmer gelaufen. »Was ist jetzt passiert?«, fragte er und sah sich um, als erwartete er die Ratte wiederzusehen. Bei seiner Frage plumpste Mary mit dem Federbett auf den Boden und Alice strampelnd und schreiend hinterher. William beugte sich hinunter, packte Alice am Pullover und zog sie mit einem Ruck fort. Unglücklicherweise hatte sich Alice wie ein Schraubstock in das Federbett gekrallt. Es gab ein Geräusch, als ob Stoff zerrisse. William fiel rückwärts auf den Boden, Alice auf ihn drauf und einen Augenblick später war das Zimmer voll von herumwirbelnden Gänsefedern.
»Oh!«, sagte Alice, als sie die Augen öffnete. »Hier drin schneit es.« »O nein!«, stöhnte William. »Wir haben es zerrissen.« Mary tauchte aus einem Haufen weißer Federn auf, die in die Höhe wirbelten und um sie herumflatterten, als sie sich bewegte. Sie blinzelte und sah hinüber zu ihren Geschwistern. »Tja«, sagte sie und spuckte ein paar Federn aus. »Das Federbett ist tatsächlich kaputt.« »Mist!«, sagte Alice und fing an zu kichern. »Wer sagt es Phoebe?«, sagte William grimmig und fing dann auch an zu kichern. »Das machst du, William«, antwortete Mary, wühlte mit den Händen in den Federn und ließ sie fliegen und schweben. »Schließlich bist du hier der Mann!« »Puh!«, erwiderte ihr Bruder. »So viel zur Gleichberechtigung der Frau!« Er warf sich zurück und lachte schallend. Alice rollte über den Boden und lachte so sehr, dass ihr der Bauch wehtat. Mary sah die beiden eine Weile an. »William«, wisperte sie ernst, »sei doch mal eine Minute still. Wir haben nicht viel Zeit und wir haben so viel zu bereden.« »Nichts über die Ratten, Mary, bitte!«, quietschte Alice. »Ich will nicht über die Ratten reden.« Und dann kicherte sie weiter. »Aber wir müssen«, beharrte Mary. Sie stand auf und ging zum Fenster. »Wir können nicht einfach so tun, als sei nichts passiert.« Hinter ihr hörten William und Alice auf zu lachen und lagen nach Luft schnappend und schweigend auf dem Boden. Jeder erinnerte sich an die Ereignisse des Morgens und versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Mary stützte sich auf die Fensterbank, betrachtete das steil abfallende Dach und die weiße Welt dahinter. Der Himmel war wolkenverhangen. »Es ist wie eine Schwarzweiß-Fotografie«, sagte sie zu sich. Und das stimmte. Draußen waren keine Farben oder Bewegungen, nur die grauweiße, schweigende Welt des unberührten Schnees. »Als ob wir irgendwo außerhalb der Zeit wären…« »In einem Schwebezustand«, sagte William. Er stellte sich neben sie und sah sich die schwach beleuchtete, wie ein halb fertiges Gemälde wirkende Aussicht an. »Haben wir wirklich einen Magier getroffen?«, kam Alice’ dünne
Stimme vom Boden hinter ihnen. »Ich denke schon«, antwortete William. »Was meinst du, Mary?« »Wenn wir alle glauben, wir haben dasselbe gesehen, dann wird es schon stimmen, oder? Da war eine Eule…« »Und der Magier hatte einen silbernen Spazierstock«, fiel Alice ein, »mit Drachen drauf.« »Und er hieß Stephen Tyler«, fügte William hinzu, aber er schien mehr mit sich selbst zu sprechen. Er vergrub stirnrunzelnd die Hände in den Hosentaschen, was immer ein Zeichen dafür war, dass er nachdachte. »Was ist, Will?«, fragte Mary, die diese Geste bei ihm kannte. »Er sagte, er hätte die Stufen im Kamin gebaut«, sagte William. »Aber sie sind doch schon so alt«, warf Alice ein. »Vielleicht meinte er auch nur die Steinvorsprünge im Kamin, die zur Wendeltreppe führen. Denn die echten Stufen müssen zum Turm des mittelalterlichen Gebäudeteils gehören«, fuhr William fort und versuchte immer noch sich auf alles einen Reim zu machen. »Aber dann können sie doch irgendwann gemacht worden sein, oder nicht?«, sagte Alice schon munterer. Aber William schüttelte den Kopf. »Es steht alles in dem Buch, das Onkel Jack aus der Stadt mitgebracht hat. Eigentlich steht es auf der Liste, die die Museumsleiterin ihm gegeben hat.« »Welche Liste?«, fragte Mary. »Eine Liste mit allen Leuten, die hier gelebt haben. Ich erinnere mich nicht an alle. Ich habe noch nicht einmal alles gelesen, weil der Anfang mir so einen Schock versetzt hat. Es war gruselig und ich wollte einfach in mein Bett.« »Was war gruselig, Will?« Mary begann auch schon wieder sich zu gruseln. »Gelden Place war mal ein religiöser Ort. Es war eine Abtei oder so… ich weiß nicht… wie heißen die Häuser, wo fromme Leute leben können?« »Kirchen?« »So was Ähnliches, Alice, aber… mehr wie Zufluchtsorte oder so. Egal. Was ist 1540 passiert?« »König Heinrich VIII. löste die Klöster auf«, fiel Mary ein. »Löste die Klöster auf?«, rief Alice aus. Sie versuchte mitzukommen. »Er hat sie abgeschafft«, sagte William zu ihr, »und Gelden Place
wurde von jemandem gekauft und in ein Wohnhaus umgebaut.« »Von wem?«, fragte Mary und wusste die Antwort schon halb. »Genau das ist es«, sagte William und sah sie an. »Nach den Informationen, die Onkel Jack mitgebracht hat, wurde das Grundstück um 1550 erworben und als Privathaus restauriert. Und der Mann, der es kaufte, hieß Stephen Tyler.« »Aber du hast ihn doch gefragt!«, rief Mary aus. »Er sagte, er wäre kein Nachkomme von diesem Stephen Tyler.« »Genau«, sagte William. »Ja und?«, beharrte Mary, als ob der Fall damit erledigt wäre. »Ich glaube, er hat gesagt, dass er kein Nachkomme von Stephen Tyler ist, weil er Stephen Tyler ist.« Einen Moment lang war es sehr still im Zimmer. Alice bekam runde Augen, als sie plötzlich begriff. »Du meinst, er ist es selbst? Und immer noch am Leben? Aber er muss Hunderte von Jahren alt sein. Wie denn, William?«, keuchte sie. »Ich weiß es nicht. Aber genau das glaube ich. Und ich sag euch noch was«, fügte er hinzu. Sein Verstand arbeitete immer schneller. »Er wollte uns prüfen, nicht wahr?« »Ja, weil wir ihm helfen müssen«, stimmte Mary ihm zu. »Wir müssen die ganze Welt retten«, stöhnte Alice und ließ es so klingen, als wäre es furchtbar viel anstrengende Arbeit. »Was passierte, kurz nachdem er uns das gesagt hatte?«, fragte William, der eine Flut von Erinnerungen bewältigen musste. Die Mädchen zogen die Stirn kraus und dachten über die Ereignisse nach. »Die Ratte!«, sagte Alice plötzlich. »Sie sagte auch, wir würden getestet werden«, rief Mary aus. »Genau«, triumphierte William. »Also hat sich der Magier vielleicht selbst in die Ratte verwandelt, um uns zu testen.« »Oooh!«, rief Alice. »Wie gemein von ihm. Uns alle so zu erschrecken!« »Wenigstens wissen wir nun, dass es nur ein Test war und nicht wirklich«, sagte William erleichtert. »Ob wir den Test bestanden haben?«, überlegte Mary und schauderte dann. »Bist du im Badezimmer fertig, Will? Dann gehe ich jetzt rein. Ich möchte nämlich bald runter ins Warme.« »Ich habe meine Zahnbürste verloren«, sagte William. Alice fand sie auf dem Boden, wo er sie fallen gelassen hatte, als
er zwischen die streitenden Mädchen ging. Plötzlich wurde es im Zimmer sehr geschäftig, weil sie sich alle auf das Weihnachtsfest vorbereiten wollten. Wenn sie sich nicht so viel bewegt oder so viel geredet hätten, hätten sie vielleicht das schon vertraute schleppende Geräusch von Krallen gehört, das die Ratte machte, als sie verstohlen von ihrem Platz hinter der Fußbodenleiste wegkroch, wo sie jedes Wort gehört hatte. Wären sie ihr gefolgt, so hätten sie sie durch enge Gänge und über morsche Balken und bröckelnde Steine laufen sehen können, bis sie zu einem seit langem unbewohnten Teil des Hauses kam. Hier wohnte die Ratte und hier schmiedete sie ihre geheimen Pläne. Von hier aus konnte sie alle Geräusche im Haus hören und deshalb wusste sie alles über die darin lebenden Menschen und anderen Geschöpfe. Von hier aus hatte sie Zutritt zu jeder Ecke eines jeden Raumes, denn hier war ihr Reich. Nie war etwas in Golden House geschehen, von dem sie nicht wusste und das sie nicht zu ihrem eigenen Vorteil genutzt hätte. Denn die Ratte war ein böses Geschöpf und diente einem bösen Herrn. Aber das wussten die Kinder noch nicht.
18 Weihnachten in Golden House Die Halle war wie verwandelt, als sie herunterkamen. Ein großes Feuer brannte im Kamin mit Flammen, die bis in den dunklen Schacht hinaufloderten. Die Kinder rannten darauf zu und sahen ängstlich zum Vorsprung am Fuß der steilen Wendeltreppe hoch, aber der Sog im Schornstein war so groß, dass Rauch und Flammen von der Treppe weggezogen wurden, und es sah beinahe so aus, als könnte man sogar zum Geheimzimmer hochsteigen, wenn ein Feuer brannte. »Sehr schlau«, wisperte William und bewunderte den technischen Verstand des Erfinders. »Seht ihr, wie die heiße Luft nach oben steigt und die kalte Luft sie oben aus dem Schornstein saugt? Ich glaube, dass die Tür an der Wendeltreppe auch zum Plan gehört. Sie verhindert, dass ein zweiter Sog entsteht. Wirklich sehr schlau…« »Mary, sieh mal!«, rief Alice aus. Sie hatte sich bei Williams Erklärungen, wie der Kamin funktionierte, schnell gelangweilt und sich in der Halle umgeschaut. In der Ecke neben der Eingangstür stand ein riesiger Baum. Er war so hoch, dass er fast an die Decke stieß. Er war mit unzähligen Lichtern bedeckt, mit winzig kleinen Kerzen, die man fast nicht sah. Jede Kerze saß in einem kleinen Kerzenhalter und unter jedem dieser Halter baumelte und blitzte ein Silberstern und reflektierte das Licht der anderen Kerzen. Der einzige weitere Schmuck war ein großer, goldener Stern auf der Baumspitze. Dieser Stern hatte einen Schweif aus goldenen Ketten, die sich über alle Zweige hinunterwanden und dann im tiefen Grün des Baumes verschwanden. »Er ist wunderschön!«, seufzte Mary. Die drei Kinder standen mit dem Rücken zum Feuer und starrten den Baum bewundernd an. »Aber brennen die Kerzen nicht sehr schnell herunter?«, sagte Alice schließlich. »Ich glaube, es sind Nachtkerzen. Die brennen länger«, sagte William und trat näher zum Baum.
»Sehr gut, Junge!«, sagte Jacks Stimme hinter ihm. »Der Kandidat hat hundert Punkte!« Er stand in der offenen Küchentür, aus der warme, köstliche Gerüche drangen. In seinen Armen hielt er eine große Schale mit Stechpalmenzweigen voller roter Beeren, auf deren Blättern noch Schnee lag. »Wo soll ich das hinstellen? Mitten auf den Tisch?« Jack stellte die Schale auf den Tisch und bemerkte, dass der Schnee auf das Holz tropfen würde. »Ich lasse ihn besser erst schmelzen«, sagte er zu sich selbst. Er stellte die Schale auf den Boden in die Nähe des Baumes. »Aber wann hast du den Baum geschmückt, Onkel Jack?«, fragte Mary. »Gestern. Er war in einem der anderen Räume versteckt.« »Und wie hast du ihn hier hereinbekommen?« »Auf Rädern!«, lachte Onkel Jack. »Wundervolle Erfindung, das Rad! Seht mal.« Und er zeigte auf das Fass, in dem der Baumstamm steckte. Das Fass stand auf einem quadratischen Brett mit kleinen Rädern wie auf einer Karre. »Das hast du gemacht?«, fragte William beeindruckt. »Eigentlich nicht. Ich habe es in einem der Nebengebäude gefunden. Ich glaube fest an das Aufbewahren von Sachen! Werft niemals etwas weg, ihr wisst nicht, wann ihr es wieder brauchen könnt. Und jetzt: zum Frühstück!« Damit marschierte er zur Küchentür und die anderen folgten ihm. Phoebe stand am Herd und röstete Brot an einer langen Gabel über dem offenen Feuer. Sie blickte sich um, als sie hereinkamen, hatte eine Hand in den Rücken gestemmt und hielt mit der anderen die Röstgabel vor sich. Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht und sie sah müde und abgespannt aus. Ihr schwangerer Bauch wölbte sich unter einem einfachen, blauen Kleid. Aber sie lächelte alle an und sogar Alice, die sich nicht von ihr einfangen lassen wollte, musste später zugeben, dass sie sich wohl tatsächlich bemühte fröhlich zu sein. »Da seid ihr ja«, rief sie. »Zuerst Frühstück und dann Geschenke unter dem Weihnachtsbaum, was haltet ihr davon?« Der Geruch von Toast und Kaffee mischte sich mit anderen Essensdüften und dem Holzfeuer in der Halle. »Frohe Weihnachten euch allen«, fügte Phoebe hinzu und ließ das getoastete Brot von der Gabel in den Brotkorb gleiten. Sobald das Frühstück vorbei war, rannten die Kinder hinauf, um
ihre Geschenke zu holen, die sie zu den anderen unter den Baum in der Halle legten. Die Standuhr schlug gerade zehn, als sie sich alle vor dem Feuer versammelten und Jack mit einem Tablett aus der Küche kam, auf dem ein Eiskübel mit einer Flasche Sekt und Gläser standen. »Sekt«, verkündete Jack dramatisch, als er hereinkam. Der Korken kam mit einem Knall und viel Schaum aus der Flasche und Jack goss die sprudelnde Flüssigkeit in fünf Gläser. Dann gab er jedem ein Glas. Phoebe saß in einem der Lehnstühle vor dem Feuer und die Kinder knieten auf dem Kaminvorleger. »Nicht trinken, bevor wir angestoßen haben. Erst der Toast«, sagte Jack. Alice wusste nicht, dass ›Toast‹ auch ›Trinkspruch‹ bedeutete, und sagte, sie wolle keinen Toast mehr essen, was die anderen für einen Riesenwitz hielten. Also ließ sie sich von den anderen für sehr schlau halten, obwohl sie gar nicht wusste, worüber sie lachten. Dann erhob Jack sein Glas. »Wir könnten auf vieles anstoßen: dass wir unser erstes Weihnachtsfest in Golden House feiern, dass wir hier alle zusammen sind, dass wir ein Baby bekommen. Aber vielleicht sollten wir auch nur auf eine Sache anstoßen, oder nicht?« »Bitte beeil dich, Onkel Jack«, rief Mary, »ich möchte so gerne den Sekt probieren.« »Na gut«, lachte er und hielt ihnen sein Glas entgegen. »Auf eure Eltern, meine Lieben. Wo immer sie sind und was immer sie gerade tun.« »Auf Williams und Marys und Alice’ Eltern«, sagte Phoebe und erhob ihr Glas. »Auf Mama und Papa«, sagte William mit einem Kloß im Hals. Alice warf Mary einen unbehaglichen Blick zu, weil sie nicht sicher war, was von ihr erwartet wurde. Sie sah Mary ihr Glas erheben. Tränen glänzten in ihren Augen. »Mama und Papa«, murmelte sie. »Ach, hört doch alle auf«, rief Alice. Die Tränen schossen ihr aus den Augen und liefen ihre Wangen hinunter. Sie nahm einen großen Schluck Sekt und musste eine Sekunde später heftig niesen. Jack warf lachend den Kopf in den Nacken. »Das sind die Luftblasen!«, sagte er. »Also es gibt auch Orangensaft, wenn ihr den lieber trinkt?« »Ja bitte, Onkel Jack«, sagte Mary sofort. »Eigentlich mag ich
Sekt gar nicht so gerne.« »Schäm dich, Mary! Eines Tages wirst du ihn für das beste Getränk der Welt halten.« »Kann ich auch Orangensaft haben?«, fragte William und stellte sein kaum berührtes Glas auf den Tisch. »Kann ich dann deinen Sekt haben, Will?«, fragte Alice und streckte die Hand danach aus. »Nein«, kam Phoebe dazwischen. »Er ist zu stark, Jack.« »Tut mir Leid, Herzchen«, sagte Jack und stellte Williams volles Glas und das von Mary wieder auf das Tablett. »Ein Glas reicht, danach gibt es Orangensaft.« »Aber was passiert mit dem Sekt?«, fragte Alice. »Du wirst ihn doch nicht wegschütten?« »Das ganz sicherlich nicht«, sagte er grinsend und zwinkerte ihr zu. »Und jetzt die Geschenke!«, sagte er und ging hinüber zum Baum. Die Kinder hatten eine Schachtel Pralinen für Phoebe und Jack. Mary bekam einen Bleistiftspitzer in Form eines Wales von William und ein Michael-Jackson-Plakat von Alice, weil Alice für Michael Jackson schwärmte. Mary mochte ihn eigentlich nicht besonders, aber Alice sagte, sie wäre verrückt, und wenn Mary das Plakat nicht haben wollte, dann würde sie es in ihr eigenes Schlafzimmer hängen. William bekam ein Geschicklichkeitsspiel von Mary, eine kleine, quadratische Schachtel, gefüllt mit kleinen Metallkugeln, die in eine Herzform eingepasst werden mussten. Alice schenkte ihm ebenfalls ein Plakat von Michael Jackson. William konnte Michael Jackson nicht ausstehen. Alice bekam auch ein Geschicklichkeitsspiel von Mary, eine ähnliche quadratische Schachtel wie Williams, aber die Kugeln mussten in einen Stern eingepasst werden. Von William bekam sie einen Bleistiftspitzer in Form eines Elefanten, was sie unglaublich gemein fand, weil man den Bleistift zum Spitzen in den Elefantenpo stecken musste. Sie bekamen alle Geld von ihren Eltern und jeweils einen persönlichen Brief, den sie schnell lasen und dann in die Tasche steckten, um sich später noch mal in Ruhe darüber zu freuen. Aber die wirkliche Überraschung waren die Geschenke von Jack und Phoebe. Phoebe hatte jedem von ihnen einen Pullover in den schönsten Farben gestrickt. Williams war schwarz, rot und weiß mit einem unregelmäßigen, geometrischen Muster. Marys hatte blasse Blau- und Rosatöne und ein kräftigeres Grün und sah ein bisschen
wie ein Bild von einem dunstigen, ländlichen Sommermorgen aus. Auf Alice’s Pullover prangte eine Sonne aus kräftigen Orange-, Gelb- und Blautönen. Sie waren alle weit und bequem mit runden Halsausschnitten und langen Ärmeln. Phoebe hatte auch für Jack einen Pullover gestrickt. Er war dunkelgrün und dunkelblau mit einer orangeroten Sonne auf dem Vorderteil. »Und schließlich«, sagte Jack, nahm das letzte Geschenk und las das Schild, »ist das hier für Miss Taylor, in ewiger Liebe von mir.« »Liz Taylor?«, sagte Mary überrascht. »Der Filmstar?« »Nein, Dummerchen«, sagte Jack lachend. »Miss Taylor ist die schönste werdende Mutter der Welt.« »Jack!«, protestierte Phoebe und nahm mit roten Wangen das Päckchen entgegen. Sie machte vorsichtig das Papier auf. Phoebe war offensichtlich eine von denen, die Geschenkpapier noch einmal benutzten. Eine lange, schwarze Schachtel kam zum Vorschein. Sie öffnete sie und die Kinder hörten sie tief einatmen. »O Jack«, rief sie aus. »Wo hast du das nur her?« Die Kinder drängten sich um ihren Stuhl, um das Geschenk zu begutachten. In der Schachtel lag auf dunklem Samt eine dünne Goldkette mit einem Anhänger. Er bestand aus einem silbernen Mond und einer goldenen Sonne, die in einen ovalen Rahmen aus einem dunkelroten Metall gefügt waren. »Das ist wunderschön«, sagte sie. »Erkennst du es nicht wieder?«, fragte er. Phoebe sah sich den Anhänger stirnrunzelnd an. »Ist es der, den du gefunden hast? Aber der war schwarz und angelaufen.« »Genau der ist es. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn wirklich als mein Geschenk bezeichnen kann. Er ist mehr ein Geschenk dieses Hauses. Ich habe ihn hier in der Feuerstelle gefunden«, fuhr er fort und drehte sich zu den Kindern um, »kurz nachdem wir eingezogen sind. Er lag einfach da auf dem Boden. Aber das Komische war, dass ich den Kamin gerade eine halbe Stunde vorher ausgekehrt hatte, und da war er noch nicht da. Keine Ahnung, woher er kam. Er war ganz schwarz und hässlich, man konnte kaum etwas erkennen. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Ich habe ihn mit in unser Zimmer genommen und ihn in einer Schublade aufbewahrt. Vor einem Monat fand ich ihn wieder und fragte mich, wie er wohl sauber geputzt
aussehen würde…« »Er ist wunderschön, Onkel Jack«, sagte Mary und betrachtete den Anhänger immer noch. »Ich bin ziemlich sicher, dass er aus reinem Silber und Gold ist«, sagte Jack und schaute Mary über die Schulter. »Obwohl ich keine Ahnung habe, was das rote Metall ist. Möchtest du ihn nicht umlegen?«, fragte er an Phoebe gewandt. »Ich habe die Goldkette in der Stadt machen lassen.« Phoebe hob ihre langen Haare hoch und legte sich die Kette um den Hals. Dann fummelte sie mit beiden Händen hinter dem Kopf am Verschluss herum. »Soll ich, Phoebe?«, sagte Mary. »Würdest du das tun?«, fragte Phoebe fast schüchtern. Mary verschloss die Kette und legte sie Phoebe richtig um den Hals. Sie traten alle etwas zurück, um den Anhänger zu bewundern. Jacks Goldkette war ziemlich kurz, so dass der Anhänger auf der zarten Haut über dem Ausschnitt ihres Kleides lag. Sie legte die Hand darauf und wurde wieder rot. »Ich werde ihn in Ehren halten«, sagte sie leise und Jack beugte sich zu ihr und küsste sie zärtlich. »Frohe Weihnachten«, wisperte er ihr ins Ohr und dann drehte er sich um und lächelte die Kinder an. »Frohe Weihnachten euch allen.« Später gingen die Kinder ein Stück spazieren. Der Himmel war so dunkel und verhangen, als hätte die Abenddämmerung schon eingesetzt, obwohl es erst Vormittag war. »Was meint ihr, woher der Anhänger kam?«, fragte Mary, als sie durch den Schnee am Rand der Einfahrt stapften, wo er weniger tief war. »Könnte er aus dem Geheimzimmer stammen?«, fragte Alice. »Es ist so ein Muster, wie es ein Magier machen würde, oder?« »Ja«, stimmte William zu. »Aber er kann nicht von dort oben runtergefallen sein, nicht all diese Stufen hinunter. Und wenn doch, dann wäre er nicht platsch! mitten in der Feuerstelle gelandet.« »Vielleicht ist im eigentlichen Schornstein ein Schatz versteckt«, schlug Mary vor. »Ich möchte den aber nicht auch noch hochsteigen«, jammerte Alice. »Vielleicht ist das Ganze ein Geschenk des Magiers«, sagte William.
»Aber wieso?«, fragte Mary. William zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Es passieren zu viele seltsame Dinge.« Er hörte sich niedergeschlagen an. William war einer von denen, die gerne die Kontrolle über alles haben und es nicht leiden können, wenn sie etwas nicht wissen oder nicht erklären können. Er schlurfte weiter durch den Schnee, die Hände in die Hosentaschen vergraben und die Brauen zusammengezogen. »Was essen Wegelagerer zu Weihnachten?«, fragte Alice, die die Stimmung ihres Bruders gar nicht wahrnahm. »Vegetarier«, verbesserte Mary sie müde, obwohl sie es schon unzählige Male getan hatte. »Was macht das schon, wenn ich nicht das richtige Wort benutze? Du weißt, was ich meine. Ich weiß, was ich meine. Also was macht es?«, schimpfte Alice verärgert. Sie gingen schweigend weiter, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Schließlich sah William auf die Uhr. »Mittag«, verkündete er. »Wir gehen besser zurück. Phoebe hat gesagt, um ein Uhr gibt es Mittagessen.« »Ich sterbe vor Hunger!«, jammerte Alice. »Du stirbst immer vor Hunger, Alice«, brummelte Mary. »Weil ich wachse. Ich brauche Nahrung für mein Wachstum. Truthahn mit kleinen Würstchen und Bratkartoffeln und Füllung und Schinken und noch mehr Würstchen und Soße…« »Mohrrüben und Pastinaken und Weißkohl und Rosenkohl«, sang William. »Steckrüben und Kohlrüben und…« »Erdartischocken!«, unterbrach Mary ihn triumphierend. »Jerusalem-Artischocken!« »Was ist das?«, quiekte Alice, auf das Schlimmste gefasst. »Du weißt schon, Alice«, sagte William finster. »Diese knubbeligen, grauen Dinger, die Mama manchmal in die Suppe getan hat«, sagte Mary zu ihr und grinste boshaft. »Knubbelige, graue Dinger?«, fragte Alice entsetzt. »Die Suppe, von der wir immer pupsen mussten!«, verkündete William und fing an zu lachen. »O nein«, rief Alice, als sie sich erinnerte. »Du meinst diese furchtbaren Kartoffeldinger, wo wir die ganze Nacht fast geplatzt sind?« »Die ganze Nacht?«, fragte Mary und lachte schallend.
»Du hast bestimmt eine ganze Woche gefurzt, Alice!« William schüttelte sich vor Lachen. »Dafür musst du Geld in die Fluchdose tun!«, schrie Alice. »Wir haben keine«, rief Mary. »Ich habe nicht geflucht«, sagte William. »Hast du wohl, William Constant. Du hast ›furzen‹ gesagt.« »Oooh! Wie ungezogen, Alice! Wirklich!«, sagte Mary und zeigte auf ihre Schwester. »Du hast ›furzen‹ gesagt.« »Du auch«, antwortete Alice und fing ebenfalls an zu lachen. »Wir haben es alle gesagt«, verkündete William. »Also sagen wir es noch mal.« Gemeinsam brüllten sie das Wort, dass es durch das ganze enge, verschneite Tal hallte. »Furzen… furzen… furzen.« Sie kamen laut lachend an der Hintertür an. Jack stand mit besorgtem Gesicht im Eingang. »Da seid ihr ja«, sagte er. »Ich habe euch gesucht. Kommt schnell.« »Was ist los, Onkel Jack?«, fragte William, als sie ihre Gummistiefel auszogen. »Es ist was mit Phoebe«, antwortete Jack grimmig. »Ist sie wieder krank?«, fragte Mary und wickelte den Schal von ihrem Hals. »Ich glaube…«, Jack zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Ich glaube, es kommt.« »Es kommt?«, fragte Alice, wie immer verwirrt. »Das Baby«, sagte Jack zu ihr. »Das Baby kommt zur Welt.«
19 Durch den Schneesturm Phoebe lehnte an der Spüle in der Küche. Jack ging schnell zu ihr hinüber und legte seinen Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen. »Wie geht es dir jetzt?«, fragte er ruhig. »Immer noch dasselbe«, antwortete sie und strich ihm leicht über die Wange. »Mach dir keine Sorgen. Mir geht es bald besser. Frauen haben schon seit Adam und Eva Kinder bekommen.« Die Kinder standen verlegen an der Küchentür. Sie kamen sich vor, als würden sie ein ganz privates Gespräch belauschen. Aber Phoebe sah über ihre Schulter und lächelte sie an, so dass sie sich dazugehörig fühlten. »Es tut mir Leid«, sagte sie, »dass ich euer Weihnachtsfest verderbe.« »Du kannst doch nichts dafür«, sagte William und wollte sie plötzlich in Schutz nehmen. »Es ist nicht dein Fehler und die Geburt deines Babys ist sowieso das Wichtigste. Wir können immer Weihnachten feiern.« Mary sah ihren Bruder stolz an. Was für nette Dinge er manchmal sagen konnte! Aber Alice glaubte immer noch, dass Phoebe eine Hexe war, also war sie nicht so großzügig. Tief drinnen hielt sie es für typisch, dass Phoebe sich schon wieder so anstellte, wo sie doch alle eigentlich Gemüseburger essen sollten oder was auch immer für einen schrecklichen Fraß sie vorbereitet hatte. Aber sie sagte nichts, weil Phoebe traurig aussah und Onkel Jack so offensichtlich besorgt war. Da stemmte Phoebe beide Hände in den Rücken, streckte sich und schrie auf, als ob sie Schmerzen hätte. Jack drückte sie verzweifelt an sich. Dann, als der Krampf vorüber war, führte er sie zu einem Stuhl neben dem Küchenherd. »Setz dich hierhin, während ich den Landrover fertig mache.« »Sollen wir fahren?«, fragte sie. »Je eher du ins Krankenhaus kommst, desto besser. Alice, kannst du bitte eine Decke aus unserem Schlafzimmer holen? Und Mary, geh doch mit ihr. Du findest einen fertig gepackten Koffer neben
dem Kleiderschrank. Bring ihn herunter und dann hol ein paar Wärmflaschen aus diesem Schrank da und…« – während er sprach, schwang er den Wasserkessel über die Flamme des offenen Feuers »behalte den Kessel im Auge, ja? Das Wasser wird bald kochen. Aber noch nichts in die Wärmflaschen füllen, das mache ich, wenn ich wieder zurück bin. William, komm mit mir. Ich brauche vielleicht Hilfe, wenn ich den Landrover starte.« Jack schritt zur Hintertür und sprach weiter. »Hol deine Gummistiefel und komm dann zu mir raus in den Hof.« Dann war er weg und die Tür schlug zu, so dass die kalte Luft draußen blieb. Mary und Alice liefen aus dem Zimmer und taten, was Onkel Jack ihnen aufgetragen hatte. William rannte hinter ihnen her in die Halle und Phoebe blieb verlegen auf dem Stuhl sitzen und starrte in die Flammen. »Wird es ihr wieder besser gehen, Will?«, rief Mary, als sie mit Alice die Treppe hinaufrannte. »Das weiß ich doch nicht!«, murrte William. »Ich war noch nie dabei, wenn jemand ein Band bekommt.« Es war wieder eine von diesen Situationen, die er nicht unter Kontrolle hatte, und das hasste er. Er ging zur Eingangstür unter die Überdachung und zog seine Gummistiefel an. Als er durch den tiefen Schnee zum Hof hinter dem Haus lief, bemerkte er in einiger Entfernung einen schwarzweißen Hund, der auf dem Boden kauerte und das Haus beobachtete und dabei langsam mit seinem Schwanz hin und her wedelte. Aber bevor er das noch richtig wahrgenommen hatte, wurde er von etwas anderem überrascht. Jack stand unter dem Dach des Unterstellplatzes neben dem Landrover. Er starrte ungläubig auf die Autoreifen. »Was ist los, Onkel Jack?«, fragte William und rannte zu ihm, weil er fühlte, dass etwas Schlimmes passiert war. Jack schüttelte den Kopf, aber er sah William nicht an. »Ich kann es nicht glauben«, sagte er. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Was?«, fragte William, der neben ihm stand. Dann sah er es auch und sein Onkel musste ihm nichts mehr erklären. Jeder der vier Reifen des Kombiwagens war in Stücke gerissen und die Fetzen lagen auf dem Boden. Das Metall der Felgen grub sich in die festgetretene Erde.
»Man kann ihn natürlich so nicht benutzen«, sagte Jack mehr zu sich selbst. »Aber wie ist das passiert?« Er sah sich um und betrachtete den verschneiten Hof, als hoffte er, die Antwort läge auf dem Boden. Und irgendwie lag sie auch da und William fand sie. Eine Spur wie von zwei schmalen Schlittenkufen führte von der Hauswand zum Unterstellplatz und wieder zurück zum Haus. »Glaubst du, das war irgendein Tier?«, fragte William. Jack beugte sich hinunter und untersuchte die Spur. »Eine Ratte«, antwortete er. Bei diesem Wort lief es William kalt über den Rücken. »Aber was will sie mit Gummireifen? O verdammt. Phoebe hat mir gesagt, dass sie manchmal eine Ratte hört, aber ich habe das nicht beachtet. Was soll ich jetzt nur tun? Ich kann sie nicht zum Krankenhaus fahren.« Er sah zu den dunklen, bedrohlichen Wolken auf. »Bald wird es wieder schneien und dann werden wir hier im Tal festsitzen.« »Gibt es hier nicht irgendwo eine Telefonzelle?«, fragte William, der verzweifelt zu helfen versuchte. »Doch, es gibt eine unten an der Straße durch das Moor, kurz bevor man in dieses Tal abbiegt.« »Wie weit ist das weg?« »Ungefähr zwei Meilen. Aber was soll das nützen, wenn der Schnee kommt? Ich muss Phoebe in ein Krankenhaus bringen. Und je eher, desto besser, so wie dieser Himmel aussieht.« Sie blickten beide zu den dunklen, tief hängenden Wolken hoch. Sie sahen aus, als könnten sie jeden Moment unter ihrer Schneelast aufbrechen. »Wenn ich noch länger warte, dann kann nichts und niemand mehr ins Tal hinein und niemand hinaus.« »Sie könnten einen Hubschrauber schicken, Onkel Jack. Das sieht man manchmal in den Nachrichten.« »Richtig, William. Ich muss sofort los«, sagte Jack und ging zur Küchentür. »Ich komme mit«, rief William und lief hinter ihm her. »Du bleibst besser hier«, sagte Jack zu ihm. »Nein«, antwortete William fest entschlossen. »Es könnte etwas passieren. Wir wissen nicht, wie hoch der Schnee liegt oder ob die Straße passierbar ist. Wenn wir zu zweit gehen, kommt vielleicht einer durch.« Jack sah seinen Neffen einen Moment an und nickte dann.
Sie gingen zusammen in die Küche und Jack erklärte Phoebe, was geschehen war. »Nein, Jack«, protestierte sie. »Wir werden es auch so irgendwie schaffen.« »Ich will nicht noch mehr Risiken eingehen«, antwortete Jack fast ärgerlich. »Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.« »Es ist mein Fehler«, sagte Phoebe mit schwacher Stimme. »Ich wollte das Kind hier in Golden House bekommen. Ich hätte auf dich hören sollen.« »Jetzt ist keine Zeit für Vorwürfe«, sagte Jack und umarmte sie. »Konzentrier dich einfach und halte aus, bis Hilfe kommt. William, zieh dich besonders warm an. Und ihr Mädchen passt auf, dass das Feuer in der Halle und hier in der Küche nicht ausgeht. Wir kommen so schnell wie möglich zurück.« Der wärmste Pullover, den William hatte, war der, den Phoebe ihm gestrickt hatte. Darüber zog er seinen Anorak und seinen Schal. Mit dicken Socken stieg er in die Gummistiefel, stopfte seine Hosenbeine noch hinein und zog ein Paar Handschuhe an. Er und Jack, der sich gegen den beißenden Wind ähnlich vermummt hatte, brachen sofort auf, als sie fertig waren, und liefen mit knirschenden Schritten über den gefrorenen Boden. Alice und Mary beobachteten sie von der Tür aus. »Da ist mein Hund«, sagte Alice und zeigte auf ihn. Die Mädchen beobachteten, wie der Hund über den Schnee zu William und Jack hinsprang. Dann blieb er stehen und sie sahen, wie William zum Haus zeigte. »Was sagt er wohl?«, überlegte Alice. »Es ist mein Hund.« »Geh zurück«, sagte William zu dem Hund. »Pass auf die Mädchen auf.« Der Hund jaulte und scharrte mit der Pfote über den Boden. »Tu, was man dir sagt«, sagte William mit strenger Stimme. Dann fügte er hinzu: »Bitte.« Der Hund sprang in die Luft, schlug freudig bellend einen Purzelbaum und lief wie der Blitz über die weiße Wiese hin zur Eingangstür. »Ein Freund von dir?«, wollte Jack wissen, als er das Tier beobachtete. »Ja, ich glaube schon«, antwortete William. Dann hob er eine Hand und winkte seinen Schwestern, die im Türrahmen standen. Er sah, wie Alice sich hinkniete und den Hund in die Arme schloss.
»Eigentlich ist er mehr Alice’ Freund«, fügte er hinzu. »Dann komm«, sagte Jack und sah die Wolken grimmig an. »Wir sollten uns in Bewegung setzen.« Noch während er sprach, fielen die ersten dicken Flocken vom Himmel. Der erste Teil des Weges war nicht so schwierig. Es schneite zwar heftig und man konnte kaum etwas sehen, aber das Haus lag ja in einer Talmulde und wurde von Norden her geschützt. Doch als sie aus dem Gatter traten und den ersten Hügel hinaufgingen, konnten sie fühlen, wie der Wind stärker wurde, und als sie oben angekommen waren, traf er sie mit voller Wucht. Die Schneeflocken wurden fast waagerecht vorangetrieben und fühlten sich auf ihrer Haut wie Nadelstiche an. William schützte seine Augen mit den Händen und spähte in das wirbelnde Schneetreiben. Die Bäume ringsum beugten sich unter dem Wüten des Sturms und große Schneewehen blockierten ihren Weg. Onkel Jack rief etwas, aber seine Worte wurden vom Sturmgeheul weggerissen, so dass William nichts verstand. Jack winkte ihn heran und streckte ihm seine Hand entgegen, an der William sich festhielt. Zusammen kämpften sie sich auf eine Seite des Pfades durch und duckten sich hinter eine Mauer, die ihnen ein wenig Schutz bot. »Das schaffen wir nicht«, keuchte Jack. »Wir müssen!«, sagte William zu ihm. »Aber noch nicht einmal ein Hubschrauber könnte durch diesen Sturm kommen«, brüllte Jack gegen den tobenden Wind. »Es kann nicht ewig dauern«, beharrte William. »Wenn wir die Telefonzelle erreichen, können wir wenigstens jemandem Bescheid geben. Sie kommen dann, wenn sie können. Das ist besser als nichts.« Jack blickte um sich und nickte. »Oben im Wald ist es besser«, sagte er. »Dort liegt weniger Schnee und der Wind ist schwächer.« William ließ seinen Blick zweifelnd über den steilen Hang des Tales schweifen. »Gibt es da oben einen Weg?«, fragte er. »Ich weiß es nicht«, gab Jack zu, »aber es ist unsere einzige Chance. Die Schneewehen auf der Straße sind zu hoch, da kommen wir nicht durch. Komm.« Er streckte seine Hand aus und zog William auf die Füße. »Schließlich wolltest du, dass wir es wenigstens versuchen.«
Jack ging über das schmale, ansteigende Feld voraus. Der Wind zerrte so stark an ihnen, dass sie sich gegen ihn lehnen mussten. Dann erreichten sie den Wald. Die Äste krachten und brachen im Sturm, aber es lag dort wenigstens weniger Schnee. Und obwohl es unter den Bäumen düsterer war, konnten sie besser sehen, weil der Schnee ihnen nicht ins Gesicht getrieben wurde. Die Böschung stieg jedoch sehr steil an und sie mussten langsam gehen. »Wenn wir nur irgendeinen Weg finden könnten«, brummte Jack. In dem Moment sah William weiter oben etwas Rotes unter den Bäumen aufblitzen und einen Augenblick später kam der Fuchs aus der Deckung und starrte zu ihnen hinunter. Sein Atem dampfte in der frostigen Luft. »Der Fuchs«, rief William aufgeregt. »Wo?«, fragte Onkel Jack. Aber bevor er einen Blick auf ihn werfen konnte, war der Fuchs wieder zwischen den Bäumen verschwunden. William runzelte die Stirn. Er war sicher, dass der Fuchs ihm irgendetwas mitteilen wollte. Aber was? »Was willst du?«, wisperte eine Stimme, die ihm bekannt vorkam, in seinem Kopf. »Einen Weg«, wisperte William zurück, und als ihm dieser Gedanke kam, spürte er, dass der Fuchs ihm den Weg zeigte. »Komm mit, Onkel Jack«, sagte er aufgeregt. »Weiter oben gibt es einen Weg.« Und schon begann er die steile Böschung in die Richtung hinaufzuklettern, die der Fuchs genommen hatte. Es war kein breiter Weg, nur ein schmaler Pfad, der sich durch die hohen Fichten den Hügel entlangschlängelte, aber er machte das Gehen für Jack und William leichter. Sie konnten sogar ihr Tempo beschleunigen und rannten schon fast über den holprigen Boden. Das Licht schimmerte nur schwach durch den Wald und das Tosen des Sturms wurde von den riesigen Bäumen abgefangen, die über ihnen emporragten. Zum zweiten Mal fühlte William sich in einem seltsamen Schwebezustand zwischen zwei Welten, ohne wirklich zu einer von ihnen zu gehören. Er spähte in der Düsternis nach irgendeiner Spur des Fuchses, aber er schien verschwunden zu sein. Das tat ihm Leid. Er wusste nun, dass der Fuchs sein Freund war. Schließlich hatte der Magier gesagt, der Fuchs sei ein Freund von ihm, und der Magier wollte, dass sie ihm halfen. Also war ein Freund des Magiers zweifellos auch ihr Freund. Diese plötzliche Erinnerung an den Magier ließ ihn abrupt stehen bleiben. Womöglich, dachte er, womög-
lich gehörten die schrecklichen Dinge, die sie erlebten – Phoebe kurz vor der Niederkunft, der tobende Sturm, die Ratte, die die Reifen zerstört hatte –, womöglich gehörten all diese Ereignisse zu dem Test des Magiers. Denn so etwas Ähnliches hatte er ja gesagt: »Ihr müsst erst beweisen, dass ihr den Namen ›Constant‹ auch verdient…« Irgendetwas in der Art hatte er gesagt. Es muss etwas sehr Wichtiges sein, wofür er uns braucht, schloss William daraus. Aber dann wurden seine Grübeleien unterbrochen, denn vor sich auf dem Weg sah er Jack stolpern und ungünstig auf den Boden stürzen. William konnte gerade noch verhindern, dass er selbst über eine große Baumwurzel stolperte, die breit über den Weg gewachsen war. Darüber war Jack gefallen. »Onkel Jack«, rief er, wich der Wurzel aus und rannte zu Jack, der schwer atmend mit dem Gesicht auf dem Boden lag. »Bist du in Ordnung?«, fragte er. Er kniete sich neben ihn und versuchte seine Schultern anzuheben. »Nicht sehr«, stöhnte Jack. »Mir ist es schon besser gegangen.« Dann schrie er auf vor Schmerz. »Was tut dir weh?«, fragte William. »Das Bein«, sagte Jack grimmig. Er zog sich hoch und setzte sich hin. Mit der Hand befühlte er sein Bein unterhalb des Knies. »Mist!«, sagte er. »Ich glaube, es ist gebrochen. Ausgerechnet jetzt muss ich… Ich kann mich nicht bewegen, William. Aber ich muss… Kannst du mir einen Stock holen…« Dann schrie er wieder auf. »Du kannst nicht laufen, Onkel Jack. Das tut dir zu weh.« »Ich kann aber auch nicht hier bleiben, oder?« »Lass mich allein weitergehen«, sagte William. »Wenn ich zur Telefonzelle durchkomme, erzähle ich der Polizei, was passiert ist, und dann komme ich wieder hierher.« »Das schaffst du nie allein«, stöhnte Jack. »Doch, ich schaffe es«, sagte William fest. »Wenn ich muss, dann kann ich es.« Er sprang auf und lief den Pfad hinunter. Jack lehnte sich gegen einen Baumstamm. William hörte zuerst das schwere Atmen. Es war wie ein Keuchen. Er blickte nach rechts und meinte die rote Gestalt des Fuchses zu sehen, der zwischen den Bäumen neben ihm herlief. Aber dann merkte er einen Moment später, dass das Keuchen aus seinem eigenen offenen Mund kam und dass seine Zunge heraushing. Er sah an sich hinunter und entdeckte eine rote Pfote, die direkt unter ihm auf
dem Schnee aufsetzte. Dann sah er auch die zweite Pfote. Er blickte sich um und sah seinen glänzenden, roten Körper in voller Länge mit dem buschigen Schwanz, der wegen des schnellen Tempos waagerecht nach hinten abstand. Er senkte seine Nase auf den Boden und schnüffelte. Kaninchen und Dachs konnte er riechen und dann den strengen Geruch von Rehen. Er blickte auf, spitzte die Ohren und schnupperte in die bitterkalte Luft. Er wandte sich nach links, weg vom Weg, und jagte den fast senkrecht abfallenden Hügel hinab, immer durch die Baumstämme hindurch. Der Schneegeruch wurde stärker und das Geräusch des Sturmes auch. Einen Augenblick später tauchte er aus der Deckung der Bäume auf und stand leuchtend rot und keuchend in der wirbelnden, grauweißen Welt des Sturms. Vom steilen Abhang des Hügels aus konnte er tief unten mehrere Felder weiter das Rot der Telefonzelle sehen. Er hob den Kopf und reckte sich, so dass er die Schultermuskeln an seinen Vorderbeinen ziehen fühlte. Dann füllte er seine Lungen mit der eiskalten Luft und bellte den Wind an. Was für ein überraschender Ton, dachte William. So laut und durchdringend. Dann schoss er den Hügel hinunter, wobei seine Füße kaum den Schnee berührten. Vor ihm verstellte eine graue Mauer den Weg. William sammelte alle seine Kräfte und sprang mit Hilfe der Muskeln in seinen Hinterbeinen ohne zu zögern über die Mauer. Dreimal musste er über Mauern springen. Er hatte gar nicht vermutet, dass es sich wie Fliegen anfühlte. Dann, genauso plötzlich, stand William vor der Telefonzelle in dem wütenden Sturm und in einiger Entfernung keuchte und streckte sich der Fuchs im Schutz von ein paar Büschen. Ohne über das seltsame, zauberhafte Ereignis weiter nachzudenken, das gerade stattgefunden hatte, stemmte William die Tür zur Telefonzelle auf und nahm den Hörer ab. Er zog die Handschuhe aus, rieb die kalten Hände warm und steckte den Zeigefinger in die altmodische Wählscheibe. »Notruf?«, sprach eine Stimme in sein Ohr. »Können wir Ihnen helfen?«
20 Spot Mary beobachtete, wie William und Jack in der Düsternis verschwanden. Plötzlich fühlte sie sich niedergeschlagen. Immer durfte William alle Abenteuer bestehen. Alice kniete zu ihren Füßen und machte viel Wirbel um den Hund. »Ach Mary, er ist so toll«, rief sie und sah zu ihr auf. »Streichel ihn doch auch mal, wenn du willst.« Sie benahm sich, dachte Mary, als gehöre der Hund schon ihr. Und, um fair zu sein, auch der Hund schien Alice als seine lebenslange Freundin auserkoren zu haben. Er saß vor ihr, klopfte mit seinem Schwanz auf die Steine im Eingang und sah ganz hingebungsvoll zu ihr auf. »Wie sollen wir ihn nennen?«, fragte Alice. Sie hielt seinen Kopf in beiden Händen und ließ sich ausgiebig durchs Gesicht lecken. »Ich weiß nicht, ob er das tun sollte«, sagte Mary schaudernd. »Hunde fressen alles mögliche Zeug und jede Menge schreckliche Sachen.« »Mir egal«, erwiderte Alice muffelig. »Bis mir was Besseres einfällt, werde ich dich ›Spot‹ nennen, wegen des weißen Flecks auf deinem Gesicht«, sagte sie zu ihrem neuen Freund. »O Alice!«, rief Mary aus. »Das ist nicht sehr einfallsreich! ›Spot‹! Überhaupt hat er wahrscheinlich schon einen Namen – und einen Besitzer.« Alice sah ganz geknickt aus. »Meinst du?«, fragte sie traurig. »Aber wer immer das ist, er sollte ihn nicht in der Kälte draußen herumstreunen lassen. Ob wir ihn wohl mit reinnehmen können?« »Mach, was du willst«, sagte Mary, drehte sich um und ging zurück in die Halle. »Ich habe damit nichts zu tun. Es ist nicht mein Hund.« Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie so mürrisch war, aber sie konnte nicht anders. Manchmal kamen solche Launen über sie und sie konnte nichts dagegen tun. Wenn sie sich so fühlte, hasste sie jeden einschließlich sich selbst und wollte dann eigentlich nur noch
in die nächste Ecke kriechen, wo niemand sie sehen konnte, und sich ausweinen. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Mary ging zu dem Holzstapel auf der einen Seite des Kamins und hob ein Scheit hoch. Es war furchtbar schwer und sie musste es mit beiden Händen fassen. Sie ging wieder hinüber zum Kamin und ließ das Scheit in die Glut fallen. Sofort züngelten kleine Flammen daran hoch. Sie legte noch ein paar Holzscheite mehr darauf, so dass sie eine Pyramide um die Glut in der Mitte bildeten. Dann kniete sie sich auf den Kaminvorleger und beobachtete, wie die Flammen größer wurden und das Feuer wieder aufloderte. Die Tür war immer noch offen und draußen im Eingang sprach Alice leise mit Spot. »Bleib hier«, sagte sie zu ihm. »Ich bin in einer Minute wieder da. Sitz!« Sie stand auf und ging rückwärts zur Tür. Der Hund blieb sitzen und beobachtete sie schwanzwedelnd. »Mary, sieh mal«, murmelte Alice. »Er ist so gut erzogen.« Dann drehte sie sich um und rannte durch die Halle zur Küche. Phoebe beugte sich über den Ofen, als Alice hereinkam. »Phoebe«, rief sie aufgeregt, »kann der Hund reinkommen? Bitte! Er ist sehr gut erzogen und er heißt Spot und es ist furchtbar kalt draußen und er wird auch nicht stören…« Während dieses Geschnatters stellte Phoebe eine große ovale Terrine auf den Tisch und nahm den Deckel ab. Der Dampf stieg zu ihrem Gesicht auf und der köstlichste Duft wehte hinüber zu Alice. »Oh«, sagte Alice und unterbrach ihren Redeschwall. »Was ist das?« »Nur olles Gemüse und so Zeug«, sagte Phoebe lächelnd. Dann streckte sie ihren Rücken, griff nach der Tischkante und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. »Geht es dir gut?«, fragte Alice. Als Phoebe nicht antwortete, rannte sie in die Halle und rief: »Mary, kannst du mal kommen?« Mary saß in sehr düsterer Stimmung auf dem Kaminvorleger und schien sie kaum zu hören. »Mary!«, rief Alice lauter. »Ich glaube, Phoebe kann es nicht mehr lange aushalten.« »Was?«, sagte Mary verärgert, weil sie gestört wurde. »Wovon redest du, Alice?« »Irgendetwas stimmt mit Phoebe nicht«, keuchte sie, immer noch
im Türrahmen, und blickte zurück in die Küche. Mary stand schnell auf und lief zu ihr. »Alles in Ordnung, Phoebe?«, fragte sie. Phoebe drehte sich halb zu ihr um, hob eine Hand vom Tisch, als wollte sie winken, dann kippte sie im Zeitlupentempo nach hinten um. »Phoebe!«, schrie Mary und rannte zu ihr. »Alice, schnell, sie fällt hin.« Die beiden Mädchen sprangen auf Phoebe zu und fassten sie fest unter den Armen, um sie aufrecht zu halten. »Wo sollen wir dich hinbringen?«, fragte Mary. »In die Halle«, flüsterte Phoebe. »Bringt mich bitte nur zum Feuer.« Sehr vorsichtig halfen sie ihr aus der Küche hinaus und durch die Halle zum Kaminvorleger vor dem Feuer. Sie ließen sie sanft hinuntergleiten, und während Spot sie beschnüffelte und ihr die Hand leckte, machte sie es sich auf dem Boden so bequem wie möglich. »Solltest du nicht ins Bett gehen?«, fragte Mary sie unsicher. Spot, der neben ihr saß, sah über seine Schulter auf die vielen Stufen der Treppe. »Nein«, sagte Phoebe zu ihr, »Spot hat Recht. Hier vor dem Feuer geht es mir besser. Das Schlafzimmer ist kalt und… sollte etwas passieren, ist es hier einfacher.« »Was kann denn passieren?«, fragte Mary und fürchtete sich vor der Antwort. »Naja, mit ein bisschen Glück werde ich wohl ein Baby bekommen!«, antwortete Phoebe mit einem zarten Lächeln. »Hilfst du mir dabei, Mary?« Mary schluckte und fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Ich weiß doch gar nicht, was ich tun muss«, sagte sie und wischte sich mit einer nervösen Geste die Haare aus dem Gesicht. »Ich denke, das werden wir zwei schon herausbekommen«, sagte Phoebe. Dann blickte sie zur Eingangstür, die noch angelehnt war und eiskalte Luft hereinließ. »Ich vermute, Jack und William sind jetzt schon weit weg?«, sagte sie. Alice stand auf, ging zur Türe und sah hinaus. »Ich kann sie nicht sehen«, sagte sie. »Und es fängt wieder an zu schneien.« »Sollen wir sie holen gehen?«, fragte Mary eifrig. Irgendwie wollte sie viel lieber hinaus in den Sturm gehen als bei einer Geburt
helfen. »Nein«, antwortete Phoebe mit angespannter Stimme. »Ich brauche dich hier.« »Au wei«, wisperte Alice. »Heißt das, du kannst es nicht mehr weiter halten, Phoebe?« »Ich versuche es«, sagte Phoebe mit einem halbherzigen Lächeln. »Mach die Tür zu, Alice. Es ist kalt, wenn sie offen ist.« »Sollen wir dir Bettzeug holen?« Mary war plötzlich einfallsreich. »Bettlaken und Kissen?« »Ja, das ist eine gute Idee«, sagte Phoebe dankbar. »Ich glaube nicht, dass ich eine Matratze tragen kann.« »Nein, nur ein paar Kissen. Und Bettlaken und das Federbett.« »Und Wärmflaschen?«, schlug Alice vor. »Ja bitte. Aber zuerst das Bettzeug. Und Mary«, rief sie, als die beiden Mädchen zur Treppe rannten. »Bring mein Nachthemd mit. Du musst mir beim Ausziehen helfen.« »Okay«, sagte Mary und polterte mit Alice die Treppe hinauf zur Galerie. Als sie zu Phoebes Schlafzimmertür gingen, schlüpfte die graue Silhouette der Ratte von ihrem Aussichtspunkt am Geländer weg. »Hast du das gesehen?«, wisperte Alice, als sie ins Schlafzimmer gingen. Mary nickte mit dem Kopf. »Ist schon in Ordnung, Alice«, sagte sie. »Wenn die Ratte wirklich der verzauberte Magier ist, dann will er uns wohl nur helfen.« Aber Alice hatte ihre Zweifel. Sie konnte einfach nicht an eine hilfreiche Ratte glauben. Sie machten es Phoebe vor dem Feuer so bequem wie möglich. Die Wehen kamen jetzt immer häufiger und Mary vermutete, dass dies ein Zeichen dafür war, dass die Geburt näher rückte. Aber Phoebe versuchte sie zu beruhigen. Sie sagte ihnen, sie sollten etwas Suppe essen, aber sie selbst wollte nichts. Sie schlug auch vor, heißes Wasser bereit zu halten. »Um das Baby zu waschen«, erklärte sie. »Und wir brauchen viele Handtücher. Ich denke, ich werde etwas ins Schwitzen kommen. Ein Baby zu bekommen ist anstrengend.« Alice und Mary setzten sich neben sie auf den Kaminvorleger und aßen die dampfende Suppe. Spot saß auf der anderen Seite neben Phoebe und fraß Haferflocken mit ein wenig warmer Suppe. »Wir müssen ihm richtiges Futter kaufen«, sagte Phoebe.
Armer Spot, dachte Alice. Er muss auch Wegelagerer werden und immer Gemüse essen. Aber sie sagte nichts, weil sie Phoebe nicht aufregen wollte. Immer wieder sah Spot auf, spitzte die Ohren und schnupperte in die Luft. Ein- oder zweimal musste er sogar lange und tief knurren. »Was ist los?«, fragte Alice ihn dann und er setzte sich auf seine Hinterbeine und sah zur Galerie hoch. »Er kann etwas hören oder spüren«, sagte Phoebe einmal mit schwacher Stimme. Dann hielt sie auch den Kopf hoch und horchte angestrengt. Das Geräusch der Rattenkrallen, die über die Galerie kratzten, war deutlich zu hören. »Die Ratte«, sagte Phoebe mit angstvollen Augen. Spot setzte sich bellend auf. Dann trottete er zum Fuß der Treppe, blickte hinauf, horchte aufmerksam und knurrte. »Nein. Nein, ist schon in Ordnung, Spot«, sagte Mary und lief zu ihm. »Die Ratte ist ein Freund«, flüsterte sie in sein Ohr. »Sie ist der Magier.« Aber Spot hörte nicht auf tief zu knurren, und obwohl er ihre Hand leckte, wollte er nicht zum Feuer zurück, sondern blieb am Fuß der Treppe und starrte zum Flur hinauf. Alle Nackenhaare standen hoch, während seine Augen die Dunkelheit erforschten und seine Nase die mögliche Gefahr witterte. Je später es wurde, desto stärker blies der Wind draußen, bis er nur so um das Haus heulte und stöhnte. Die Halle war nur schwach beleuchtet, aber das Feuer brannte hell. Jack hatte vorher glücklicherweise eine ganze Ladung Holz hereingebracht, so dass die Mädchen immer nachlegen konnten, wenn es nötig war. Phoebe fiel in einen fiebrigen Schlaf. Sie schwitzte stark, fror aber gleichzeitig auch. Mary tupfte ihr von Zeit zu Zeit mit einem feuchten Handtuch über die Stirn und Alice hielt ihre Hand. »Ich glaube nicht, dass sie eine Hexe ist«, sagte sie zu Mary. »Oder wenn sie eine ist, dann eine gute – wie die kleine, runde Hexe mit den blonden Haaren im Zauberer von Oz. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum sie nicht erst geheiratet haben. Wie soll das Baby denn heißen? Es sollte den Namen seines Vaters haben. Aber sie ist nicht seine Frau, also welchen Namen bekommt das Baby? Ihren oder seinen?« »Das ist jetzt egal, Alice«, sagte Mary. »Wenigstens im Moment. Egal, wie es heißen wird, es ist nur ein Name. So wie du dem Hund
den Namen ›Spot‹ gegeben hast. Spot war schon ein Hund, bevor er so hieß, und das Baby wird genauso einfach nur ein Baby sein.« »Ich fände eine Heirat heuchlerisch von mir«, unterbrach Phoebe sie. Sie sprach mit geschlossenen Augen und hörte sich fast an, als spräche sie mit sich selbst. »Ich gehe nicht in die Kirche und ich brauche ganz bestimmt kein Papier, um zu beweisen, dass Jack und ich zusammengehören. Was würde das schon ausmachen? Wir wissen, dass wir zusammengehören. Wir lieben uns. Das ist doch sicher genug?« »Aber…«, wollte Alice gerade einwenden. »Aber was, Alice? Bist du schockiert? Ist es das?«, fragte Phoebe sie, öffnete die Augen und sah sie direkt an. »Das ist doch sehr altmodisch von dir! Siehst du nicht, wie glücklich Jack und ich zusammen sind? Was willst du mehr?« »Aber das Baby, Phoebe«, beharrte Alice. »Es bekommt keinen richtigen Namen.« »Ich dachte, du kämst aus einer vernünftigen Familie, Alice. Natürlich wird es einen Namen haben. Meinen Namen. Taylor.« »Taylor?«, sagte Mary verblüfft. »Aber was ist, wenn es Onkel Jacks Namen haben will? Was dann?«, sagte Alice herausfordernd. »Green ist ein wirklich guter Name, weißt du? Mama hat einmal Green geheißen.« »Dann kann es doch Jacks Namen annehmen. Um Himmels willen! Mach doch nicht so viele Probleme. Es kann Jacks Namen haben oder meinen oder beide mit einem Bindestrich. Das ist nicht wichtig, Alice. Wichtig ist, dass das Kind später lernt, wer es wirklich ist. Du bist nicht nur Alice Constant…« »Bin ich doch. Natürlich bin ich das!« »Nein, du bist noch viel mehr als das. Du hast eine eigene Persönlichkeit.« »Ich bin Alice Constant«, beharrte Alice. »Nun«, antwortete Phoebe erschöpft, »das Baby kann entscheiden, wie es heißen will. Entweder Green oder Taylor…« »Taylor«, wiederholte Mary nachdenklich. Dann klatschte sie in die Hände. »Natürlich«, rief sie. »Ich wette, deine Familie hieß einmal Tyler.« Aber die beiden anderen hörten sie nicht. Phoebe war wieder in einen unruhigen Schlaf gefallen und Alice kniete neben Spot und versuchte ihn zu beruhigen. Er lief rastlos hin und her, knurrte und bellte und kratzte ungeduldig an den Stufen.
»Ist ja gut, Spot«, sagte sie zu ihm. »Ich hasse Ratten ja auch. Aber ehrlich, wir glauben, dass diese der Magier ist. Also ist sie wohl ein Freund. Weißt du, wir werden getestet… Es ist alles sehr verwirrend und ich kann vieles nicht verstehen…« »Die Ratte ist nicht der Magier«, knurrte Spots Stimme in Alice’ Kopf. Sie war so überrascht, dass sie nichts mehr sagte. »Also gut«, knurrte die Stimme wieder, aber nur in ihren Gedanken. Sie konnte sie nicht wirklich hören, es war mehr wie ›Hörendenken‹. »Also gut. Komm mit mir. Wir finden schnell heraus, ob die Ratte ein Freund des Magiers ist.« »Oh«, sagte Alice in ihren Gedanken. »Ich weiß nicht. Ratten machen mir viel Angst.« Aber noch als sie sprach, hob sie ihre Nase und schnupperte in die Luft. Der Geruch der Ratte war stark. Ein schrecklicher Geruch. Ein Geruch von Angst und Gosse und Abfall. Alice spitzte die Ohren und lauschte. Die Ratte bewegte sich nicht, aber sie konnte sie atmen und ihr Herz klopfen hören. Leise erhob sich Alice vom Boden auf ihre vier Beine. Ihr Schwanz hing herunter, ihre Nackenhaare zitterten vor Spannung. Sie stand gelassen am Fuß der Treppe. Dann ging sie Schritt für Schritt langsam hinauf zur Galerie. Der Gestank der Ratte wurde stärker. Aber sie hatte keine Angst vor ihr. Sie fühlte nur Widerwillen und einen tiefen Groll. Als sie den Flur erreichte, blieb sie stehen und sah hinunter in die Halle. Mary tupfte Phoebes Stirn wieder ab und schien nicht zu merken, was vor sich ging. Das Feuer leuchtete im Dämmerlicht und die Gestalten auf dem Kaminvorleger sahen aus, als wären sie Teil eines Bildes, eines vom Alter verblichenen und glänzenden Ölgemäldes, das nur noch in der Mitte voller Farben war, aber verblasst und geheimnisvoll an den Rändern. »Na gut«, knurrte Spots Stimme in ihrem Kopf, »alle Freunde des Magiers sind auch unsere Freunde.« Und sie blickte verstohlen um den Pfosten des Geländers herum und den unebenen Boden der Galerie hinunter. Die Ratte saß gut versteckt auf einem Stein, der aus der Seitenwand der Galerie hervorragte und einer der Stützsteine für die Galerie war. Aber der Rattenschwanz glänzte im Feuerschein und der Geruch war zu stark, um ihn nicht zu bemerken. Alice knurrte tief in ihrer Kehle und kündigte ihre Gegenwart an. Mit einem Zischen fuhr die Ratte herum, überrascht und angespannt,
mit blitzenden Augen und mit gelb schimmernden, scharfen Zähnen. »Nun?«, knurrte Alice. »Bist du ein Freund des Magiers?« »Ja, ich bin der Freund eines Magiers«, zischte die Ratte. »Parole?«, knurrte Alice. »Aber nicht eures Magiers«, spuckte die Ratte. Sie sprang von dem Stein hinunter, auf dem sie saß, und landete auf Alice’ pelziger Schulter. Alice drehte zornig jaulend den Kopf nach hinten und biss nach dem Tier, das in dem Moment versuchte seine Zähne in ihr Fleisch zu graben. Sie schwang ihren Körper herum, hob beide Vorderpfoten und schlug gleichzeitig einen Purzelbaum. Die Ratte rutschte auf den Boden und fiel auf den Rücken, aber bevor Alice Zeit hatte, sich auf sie zu stürzen, drehte sie sich herum und floh schreiend und zischend die Galerie hinunter. Dann verschwand sie in einem Loch in der Fußbodenleiste. Alice sprang auf das Loch zu, kratzte mit ihren großen Vorderpfoten an der Wand, dass das Holz zersplitterte, und bellte wie wild. »Spot!«, hörte sie Mary zornig von unten aus der Halle rufen. »Alice! Kannst du ihn nicht beruhigen? Phoebe geht es schlechter.« »Hör auf, Spot«, sagte Alice und sie merkte, dass sie dabei einfach aus dem Körper des Hundes zu springen schien. Sie sah ihn mit ausgestreckten Vorder- und Hinterbeinen auf dem Bauch liegen und wie verrückt das Loch in der Fußbodenleiste anbellen. Sie streckte eine Hand aus, legte sie auf seinen Nacken und machte beruhigende Geräusche. Spot drehte sich mit offenem Maul und heraushängender Zunge herum und hechelte aufgeregt. »Glaubst du mir jetzt?«, knurrte die Stimme in ihrem Kopf. »Diese Ratte ist kein Freund des Magiers.« »Spot!«, rief Alice laut aus. »Ich war… in dir drin. Irgendwie. Wirklich! Oder war es… fast als ob… ich du wäre? Ich verstehe das nicht.« Dann drehte sie sich um, lehnte sich über das Geländer und rief aufgeregt: »O Mary! Mary, etwas Unglaubliches ist gerade passiert…« Aber im gleichen Moment begann Mary selbst verzweifelt zu rufen, deshalb hörte sie ihre Schwester nicht. »Alice. Oh, hilf mir doch irgend jemand bitte! Das Baby, Alice. Das Baby kommt. Hol Onkel Jack. Bitte hol jemanden zu Hilfe!« »Komm«, sagte Spot und hastete die Treppe hinunter. Alice rann-
te hinter ihm her. »Aber«, rief sie und stolperte fast vor lauter Eile auf den Stufen. »Wir können die beiden nicht allein lassen, Spot. Wenn die Ratte jetzt zurückkommt? Sie will bestimmt jemandem was antun.« »Das soll sie nur versuchen«, schrie eine entrüstete Stimme über ihrem Kopf und die Eule segelte von den Dachbalken der Halle herunter, setzte sich auf den Kaminsturz und funkelte sie mit großen, runden Augen an. »Die Eule!«, rief Mary erleichtert. »Schuhuhhh!«, schrie die Eule. »Also Eulen erschrecken Ratten wirklich«, bellte Spot. »Komm schon, Alice. Je eher wir Jack und William finden, desto besser.« »Kommst du allein zurecht, Mary?«, fragte Alice unsicher, weil sie nicht wusste, wie sie sich entscheiden sollte. Aber Mary hörte nicht zu, denn sie half gerade Phoebe in eine bequemere Lage. »Nun geht schon«, schrie die Eule. »Sucht den Fuchs. Er zeigt euch den Weg.« »Du kümmerst dich um sie?«, rief Alice und folgte Spot zur Eingangstür. »Kleines Mädchen«, schrie die Eule, »ich fresse Ratten zum Frühstück, schon vergessen? Und Babys auf die Welt zu bringen ist doch kinderleicht. Es ist so leicht wie Eierlegen. Nun geht schon. Und rennt so schnell, wie eure Pfoten laufen können.« Spot wartete im Eingang und dann sprang Alice mit einem mächtigen Satz hinaus in den Schneesturm, denn sie und der Hund wurden wieder eins.
21 An den Tag werden wir uns bis ans Lebensende erinnern Jack zog sich über den Boden und zwang sich dazu, seinen Körper über die harte, holprige Oberfläche zu schieben. Es war ihm gelungen, einen geraden Zweig zu erwischen. Jetzt brauchte er noch einen zweiten dazu. Es lagen viele tote Zweige unter den Bäumen, aber das Problem war, einen ausreichend langen zu finden. Er musste sich vorsichtig bewegen. Wenn er aus Versehen sein linkes Bein benutzte, schoss ein so brennender Schmerz durch seinen Körper, dass er keuchend aufschrie. Aber er konnte nicht einfach da liegen bleiben und darauf warten, dass William zurückkam. Er fühlte sich nutzlos und schämte sich. Wie dumm konnte man nur sein? Gerade jetzt hinzufallen und sich ein Bein zu brechen, wo doch Phoebe ihn stark und gesund brauchte. Er streckte seine Hand aus, griff nach einem Stück Holz und zog es heran. Es war ein wenig zu lang, aber es war genauso ein gerader Fichtenzweig wie der, den er sich schon besorgt hatte. Er hielt ihn mit beiden Händen fest und brach ein Stück ab, damit er genauso lang wurde wie der andere. Dann klemmte er sein verletztes Bein unterhalb des Knies zwischen die beiden Holzstücke und wickelte ein Stück Kordel, das er glücklicherweise in den Taschen seines Anoraks gefunden hatte, immer wieder darum, bis die Holzstücke fest an seinem Bein saßen. Es war ein schwieriges Unterfangen im Liegen, aber wenigstens kam dabei sein Kreislauf wieder in Gang. Als er einfach nur dagelegen hatte, war die Kälte so groß geworden, dass er schon fürchtete, sich in einen Eisblock zu verwandeln. Der Sturm heulte immer noch und rüttelte an den Ästen hoch über ihm. Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass es schon später Nachmittag war. Er machte sich fürchterliche Sorgen um William. Das ganze Unternehmen war verrückt und gefährlich. Er hätte es besser wissen müssen und sie hätten niemals losgehen dürfen. Es wäre viel klüger gewesen, in Golden House zu bleiben und irgend-
wie das Baby selbst auf die Welt zu bringen. Wenn es wirklich schon auf die Welt kommen wollte. Es hatte eigentlich noch drei Wochen Zeit. Vielleicht war das Ganze auch nur falscher Alarm. »Ich bin ein Trottel!«, rief er laut in den schweigenden Wald. »Und ich bin ein Trottel, weil ich das sage«, murmelte er verlegen wegen dieses nutzlosen Gefühlsausbruchs. »Komm, Jack«, sagte er zu sich selbst. »Es hat keinen Sinn, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Das hilft niemandem.« Er hatte sich schon einen Ast als Krücke ausgesucht. Jetzt zog er sich mit Hilfe dieses Stocks und der untersten Äste eines Baumes mit beiden Armen mühsam hoch, bis er endlich stand. Sobald er sein Gewicht auf das verletzte Bein stellte, war der Schmerz unerträglich, aber dank seiner selbst gemachten Beinschiene konnte er wenigstens langsam vorwärts humpeln, wenn er sich dabei auf seine Krücke stützte. Er beschloss, dass er am besten dem Pfad folgte, den William genommen hatte, weil er hoffte, dass sein Neffe ihn auch auf dem Rückweg benutzte und sie sich so treffen würden. William würde ganz sicher nach ihm Ausschau halten, also könnten sie sich mit etwas Glück gegenseitig finden. Aber Jack wusste natürlich nicht, dass William sich mit einem Fuchs fortbewegte und dass Füchse, wie alle wilden Tiere, den direkten Weg zwischen zwei Punkten wählen. Das heißt, dass sie auch über ein Gelände laufen, das für Menschen unmöglich zu bewältigen ist. Jack folgte also dem holprigen Pfad und verpasste dabei die Stelle, wo der Fuchs abgebogen und den Hügel hinuntergelaufen war. Jack ging stattdessen allmählich immer höher hinauf, immer tiefer in den Wald und weg von der Straße im Tal, wo William die Telefonzelle gefunden hatte. William hatte gebeten, mit der Polizei verbunden zu werden. Er wollte keine Feuerwehr und ein Krankenwagen wäre in diesem Schnee nutzlos gewesen. Er erklärte dem Mann in der Leitung, dass Phoebe in Golden House gerade ein Kind zur Welt brachte und dass Jack sich ein Bein gebrochen hatte, als er durch den Sturm zur Telefonzelle zu gehen versucht hatte. Der Polizist fragte ihn, von wo er anrufe, und sagte ihm, er solle da bleiben, bis es ihm gelungen wäre, Hilfe zu schicken. Aber William wusste, dass das sehr lange dauern konnte. Obwohl der Sturm jetzt nicht mehr ganz so heftig war und der Schnee weniger blendete, konnte es Stunden dauern, bis die Witterungsverhält-
nisse sich so weit beruhigt hatten, dass irgendwelche Helfer durchkamen. Er entschied sich zu Jack zurückzugehen und hoffte, ihn auch bis hinunter zur Telefonzelle bringen zu können. Dort wären sie wenigstens ein wenig vor der Kälte geschützt und von einem Hubschrauber aus auch viel leichter auszumachen. Er war sicher, dass ein Hubschrauber geschickt würde, sobald er starten konnte. Der Fuchs wartete neben der Straße auf ihn, sein langer, geschmeidiger Körper hob sich leuchtend rot von dem Grauweiß des Schnees ab. William ging auf ihn zu und streckte ihm freundlich eine Hand entgegen, als ob er sich einem Hund näherte. Aber der Fuchs war kein Hund. Er beobachtete William mit misstrauischen Augen und schreckte schon zurück, bevor er ihm so nahe kam, dass er ihn hätte berühren können. »He, mein Guter!«, sagte William, überrascht von dieser Reaktion, und versuchte seiner Stimme einen überzeugenden Klang zu geben. Er hockte sich in den Schnee, die Hand immer noch dem Fuchs entgegengestreckt, und versuchte ihn anzulocken. Aber der Fuchs schlich nur weiter weg von ihm, dann drehte er sich um und huschte hinter eine Schneewehe an einer niedrigen Steinmauer. Da blieb er stehen und William konnte sehen, wie er ihn in lauernder Haltung beobachtete. »Was ist los?«, rief William. »Ich dachte, du wärst mein Freund.« Aber der Fuchs starrte ihn mit angespannten Muskeln an, bereit wegzulaufen, sobald William näher kam. »Ach, komm schon!«, rief William verärgert. Als er immer noch keine Reaktion bei dem Fuchs sah, drehte er sich um und betrachtete stattdessen die lange Reihe baumbestandener Hügel, wo Jack lag und auf ihn wartete. Die Spuren des Fuchses waren noch als undeutliche Abdrücke zu erkennen, sie führten über das verschneite Feld zu einer grauen Steinmauer in einiger Entfernung. William erinnerte sich an das Gefühl zu fliegen, als sie über die Mauer gesprungen waren. Dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf. Wie hatte er das gemacht? Der Fuchs hatte über die Mauer springen können, aber er doch nicht. Und wo waren seine Fußabdrücke? Gut, es schneite immer noch ziemlich heftig und sie konnten bis jetzt leicht zugeschneit worden sein. Aber wenn es so war, wieso waren die Fuchsspuren nicht auch fort?
»Weißt du es wirklich nicht?«, sagte eine Stimme in seinem Kopf. »Was?«, fragte William laut. »Wie du hierher gekommen bist«, wisperte die Stimme. »Natürlich weiß ich das«, brauste William auf. »Sprichst du mit dir selbst?«, wisperte die Stimme in seinem Kopf. William sah sich unbehaglich um und hoffte, dass ihm niemand zugehört hatte. Mit sich selbst zu sprechen war schließlich das erste Zeichen von Verrücktheit. Der Fuchs saß neben der Mauer im Schnee und beobachtete ihn. William dachte, dass er ziemlich gerissen aussah. »Worauf wartest du denn jetzt noch?«, rief er ihm zu. Der Fuchs richtete sich auf, den Schwanz erhoben wie eine brennende Fackel, und starrte ihn unbeteiligt an. »Nun?«, wollte William wissen, aber er fühlte sich unwohl. Der Fuchs hatte so etwas Überlegenes, das ihn ganz aus der Fassung brachte. »Geh weg«, rief William wieder und wedelte mit den Armen. »Hau ab. Ich dachte, du wolltest mir helfen. Wenn nicht, dann hau einfach ab.« Der Fuchs gähnte und streckte sich. Aus seinem Maul stieg der Atem dampfend in die frostige Luft. Dann hob er seinen Kopf und lauschte. »Bitte«, rief William zerknirscht. »Ich brauche wirklich deine Hilfe.« Langsam drehte sich der Fuchs um und sah ihn an. Sie standen sich mitten im riesigen, leuchtenden Weiß gegenüber und starrten sich an. Die Wolken hingen jetzt höher und die Schneeflocken fielen nicht mehr als dicke Wattebäusche, sondern als feiner Puder. Der Wind hatte aufgehört und eine tiefe Stille lag über dem Land. Es war die Stille, die es nur bei Schnee gibt, die man fast berühren kann, die sich an den Körper heftet, ihn bedeckt und völlig einschließt. Wie schon mehrere Male zuvor fühlte sich William wieder eigenartig entrückt. Vielleicht lag es an der dicken Schneedecke, die das Land so seltsam unberührt wirken ließ. Vielleicht lag es auch an der großen Anstrengung, die er gerade hinter sich gebracht hatte, dass er sich so schwindelig fühlte. Oder vielleicht… »Vielleicht liegt es an der Zauberkunst des Magiers?«, wisperte der Fuchs.
»Fühlst du es auch?«, fragte William. »Immer«, antwortete der Fuchs. »Aber ich gehöre dem Magier und nicht dir, mein Junge. Ich bin ein wildes Tier. Hat keinen Zweck, mich wie einen Hofhund zu zähmen. Verstehst du? Ich jage, um zu überleben. Es gibt nichts Freundliches in meinem Leben. Meine Füchsin und ihre Welpen brauchen mich stark und klug. Ich sage dir, mein Junge, wenn du mit mir gehst, gibt es nur Gefahren auf dem Weg.« Der Fuchs streckte sich wieder und leckte unbekümmert über seine Flanke. Dann starrte er William wieder mit stechenden Augen an. »In dieser Gegend wird gejagt«, wisperte er. Die Worte ließen William zittern. Er blickte über seine Schulter und konnte fühlen, wie sich seine Nackenhaare hochstellten. »Jetzt?«, fragte er in seinem Kopf. »Jagen sie jetzt?« »Nein, nicht jetzt«, fuhr die Stimme in seinem Kopf fort. »Das Wetter ist zu schlecht für die Menschen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Komm mit, ich habe Hunger. Auf dem Weg gibt es ein paar Hühner.« Als die Stimme sprach, sprang William vorwärts und einen Augenblick später konnte er fühlen, wie seine Pfoten leicht über die Schneedecke flogen. »Aber was ist mit Onkel Jack?«, dachte er. »Wir können nichts tun ohne etwas gefressen zu haben«, sagte der Fuchs zu ihm. William konnte die Hühner hören, bevor er sie sah. Sie waren in einem Holzstall hinter einem Maschendrahtzaun. Der Zaun hatte ein Loch. »Nein!«, rief William gerade rechtzeitig. Und er rief es so laut, dass der Fuchs überrascht von ihm wegsprang und die beiden Körper wieder irgendwie getrennt waren. »Ich kann kein rohes Huhn essen«, erklärte William. Der Fuchs seufzte und starrte ihn mitleidig an. »Menschen!«, sagte er in verächtlichem Ton. »Ihr nennt euch Säugetiere? Ihr seid weder das eine noch das andere.« Und ohne ein weiteres Wort zwängte er sich durch den Zaun und schlich zur Tür des Hühnerstalls. William wich zurück. Er war nicht empfindlich, was den Anblick von Blut anging. Aber der Gedanke daran, was nun geschehen würde, erschreckte ihn. Es machte ihm nichts aus, dann und wann mit dem Fuchs zu laufen, aber er wollte nicht auch noch rohe Hühner mit ihm fressen. Das würde er für niemanden tun. Noch nicht einmal für
einen Magier. Also drehte er sich um und ließ den Fuchs alleine weitermachen. Das Bauernhaus stand dem Hühnerstall gegenüber. Und neben der Hintertür lehnte ein halb mit Schnee bedeckter Schlitten. William rannte zur Tür und schlug mit der Faust dagegen. Irgendwo bellte ein Hund. Aber niemand kam auf sein Klopfen. Er sah in seiner Tasche nach, ob er Bleistift und Papier dabei hatte. Wenn ja, dann könnte er einen Zettel schreiben und erklären, dass er sich den Schlitten nur auslieh. Aber natürlich hatte er nichts zu schreiben dabei. Stattdessen schrieb William NUR GELIEHEN in den weichen Schnee auf dem Hof und hoffte, dass die Eigentümer des Hauses und des Schlittens zurückkämen, bevor der Schnee und die Nachricht geschmolzen waren. Als er wieder am Hühnerstall vorbeiging, bemerkte er eine Blutspur, die aus dem Stall kam, unter dem Zaun herlief und dann im Unterholz neben der Straße verschwand. William schüttelte sich. Er hatte noch nicht einmal ein Geräusch gehört. Er mochte den Fuchs nicht sehr, dachte er. Er war ein grausames Geschöpf. Dann machte er sich mit dem Schlitten auf den Weg und ging vom Bauernhof hinauf zu den baumbewachsenen Hügeln. Spot rannte mit der Nase auf dem Boden durch den Schnee. Williams und Jacks Geruch war nicht sehr stark. Auf normaler Erde wäre es einfacher gewesen. Auf Eis und Schnee hielten sich Gerüche nicht gut. »Nicht, dass wir sie nicht finden«, versicherte er Alice. »Aber es wird ein bisschen dauern.« Alice hatte Spaß daran, wie sie beide mit ihrer Nase durch den losen Schnee pflügten und dann immer mal wieder hochblickten und den Kopf schüttelten und niesten. »Es ist toll, Spot«, sagte sie zu ihm. »Es macht viel, viel, viel mehr Spaß, ein Hund zu sein, als ein Mädchen.« »Pah!«, sagte Spot. »Es ist nicht immer das Gelbe vom Ei. Hunde haben manchmal ein sehr hartes Leben.« »Mädchen auch«, versicherte ihm Alice. »Wenigstens musst du keine Schularbeiten machen oder zum Zahnarzt gehen. Und du musst nie Röcke anziehen.« Wenn es eins gab, was Alice hasste, dann waren es Röcke. Für sie waren Röcke die dümmste Erfindung über-
haupt. Jungen trugen keine Röcke – außer in Schottland –, warum also sollten Mädchen das tun? Aber sie beschloss, Spot nicht gerade jetzt mit ihren Problemen zu belästigen. Sie hatten Wichtigeres zu tun. Sie kamen oben auf dem ersten Hügel nach dem Tal von Golden House an. Der Schnee war hier so tief, dass Spot bis zum Kinn hineinsank und sich tretend und zappelnd einen Weg auf die festere Oberfläche suchen musste. Dann blieben sie stehen und betrachteten die weiße Umgebung. Der Schnee fiel jetzt nicht mehr so stark, so dass sie meilenweit über leeres, weißes Land schauen konnten. »Keine Spur von ihnen«, knurrte Spot. »Die Eule hat gesagt, wir sollen nach dem Fuchs suchen«, erinnerte ihn Alice. »Blöder Kauz«, knurrte Spot. »Denkt immer, er wüsste alles besser.« »Warum seid ihr alle männlich, Spot?«, fragte Alice und konnte nicht verhindern, dass es wie eine Beschwerde klang. »Das ist wirklich ungerecht. Warum hat der Magier keine weiblichen Freunde wie Mary und mich?« Darüber musste Spot nachdenken. Er setzte sich auf die Hinterbeine und kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich glaube, der Magier hat nicht viel Zeit für Frauen«, sagte er schließlich. »Pah!«, sagte Alice zornig. Aber bevor sie einmal richtig ihre Meinung zu diesem Thema sagen konnte, bekamen sie einen schwachen Hauch von Jacks Stiefeln in die Nase. Der Geruch führte weiter in Richtung Wald. »Sie sind hier entlanggegangen«, sagte Spot. Sie sprangen auf und liefen schnell zum Wald. Im Schutz der Bäume konnten sie sich leichter fortbewegen und Spots Pfoten flogen über die hart gefrorene Erde. Williams und Jacks Geruch wurde immer stärker, bis dann auf einem langen, geraden Stück des Weges ein Fuchsgeruch überwog. »Fuchs«, knurrte Spot. »Ich hasse Fuchs.« »Das kannst du nicht«, sagte Alice überrascht. »Der Fuchs ist ein Freund des Magiers.« »Nun«, brummelte Spot. »Man mag nicht unbedingt automatisch die Freunde von Freunden, oder?« »Nein«, sagte Alice und dachte an ein paar von Marys Freundin-
nen, die sie schrecklich fand. Sie folgten der Fuchsspur und schossen den Hügel hinauf, bis sie einen schmalen Pfad erreicht hatten. Hier konnten sie wieder Williams und Jacks Spur riechen. »Der Fuchs hat ihnen diesen Weg gezeigt«, sagte Spot und ging zu Alice’ großer Erleichterung wieder langsamer. Obwohl es Spot war, der rannte, fühlte sie sich auch so, als ob sie Energie verbrauchte. »Es ist nicht so wie im Bus, weißt du«, sagte sie zu ihm. »Was ist nicht so?«, wollte Spot wissen. »Mit dir zu laufen. Ich mache, glaub ich, die Bewegungen auch alle selbst.« »Natürlich tust du das«, sagte Spot zu ihr, als ob sie wirklich ein bisschen dumm wäre. »Du bist ich und ich bin du.« »Heißt das, dass du manchmal ein Hund bist, der als kleines Mädchen herumläuft?«, fragte Alice, die sich wirklich sehr bemühte ihn zu verstehen. Aber das war sogar Spot zu viel. Er setzte sich und kratzte sich am Ohr. »Darüber weiß ich nichts«, sagte er. »Ich meine, was hätte das für einen Sinn?« »Naja.« Alice suchte nach einem guten Grund. »Du könntest in meine Schule gehen oder ins Kino oder einen Cheeseburger essen oder so.« Spot gähnte und machte sich noch nicht einmal die Mühe zu antworten. Alice machte ihm keinen Vorwurf. Sie dachte einfach, es machte viel mehr Spaß, ein Hund zu sein. Sie fanden den Platz, wo Jack hingefallen war, und bald danach kamen sie dahin, wo der Fuchs und William den Hügel zum Tal hinuntergelaufen waren. Hier entdeckten sie auch Jacks Geruch, der allein weiter über den Waldweg ging. »Sie haben sich hier getrennt«, sagte Spot und schnupperte aufgeregt auf dem Boden herum. »Und der Mann geht nur mit einem Bein.« »Nur mit einem Bein?«, sagte Alice sehr verwirrt. »Wie kann er das?« »Er ist verletzt«, fuhr Spot fort, immer noch mit der Nase auf dem Boden. »Er geht schwer auf einem Bein und zieht das andere nach. Und er hat einen Stock als Stütze.« »Das ist Onkel Jack«, sagte Alice und dann fügte sie beunruhigt
hinzu: »Du liebe Zeit! Was ist wohl passiert? Wohin ist William gegangen, Spot? Kannst du das feststellen?« »Er läuft natürlich mit dem Fuchs«, antwortete Spot sachlich. »Meinst du nicht auch, das ist alles ein bisschen unheimlich?«, sagte Alice. »Nicht jeder hopst in Tiere rein und wieder raus, weißt du. Nicht jeder läuft als Hund weg und riecht Sachen und buddelt im Schnee. Wenn ich es mir recht überlege, hab ich eigentlich noch nie so was gehört.« »Aber es gibt auch nicht viele Leute, die einen Magier kennen, oder?«, fragte Spot. »Sehr richtig«, sagte Alice, beeindruckt von Spots Klugheit. »Wohin sollen wir gehen?«, fragte Spot. »Folgen wir Jack oder William?« »Die Eule hat gesagt…« »Geht das schon wieder los! Warum achtet nur jeder so viel auf die Eule?« »Die Eule hat gesagt…«, beharrte Alice und nahm von dem Hund gar keine Notiz, »dass wir den Fuchs suchen sollen.« Also liefen sie den Weg durch die Bäume ins Tal hinunter. Der Fuchs fraß sein Huhn auf und leckte sich die Schnauze. Gar nicht so schlecht, das Huhn. Dann ging er und suchte nach dem Jungen. William war noch nicht weit gegangen. Der Schlitten war nicht so leicht zu ziehen und er hatte schon fast beschlossen ihn stehen zu lassen. Aber er dachte, dass er Jack auf dem Schlitten viel leichter zur Straße bringen konnte, wenn er ihn gefunden hatte. Ich hoffe, dieser Weg führt zum richtigen Teil des Waldes, dachte er. »Das tut er«, sagte der Fuchs, trabte zu ihm und lief neben ihm her. »Ah, du bist es«, sagte William, überrascht über die Stimme. »Was hast du denn gedacht?«, fragte der Fuchs ironisch. Aber bevor William ihm antworten konnte, hörten sie beide jemanden rufen und blickten über die Felder in Richtung der hohen Hügel. Es war eine hohe Piepsstimme. Eine bekannte Stimme. »William«, rief sie. »William.« »Das ist Alice«, sagte William. »Hier entlang«, sagte der Fuchs und im nächsten Augenblick sprang William über eine Steinmauer und flitzte über den verschneiten Boden zu der fernen Gestalt des großen, schwarzweißen Hundes.
»Wie geht es dir, Phoebe?«, fragte Mary. »Frag sie nicht so viel«, sagte die Eule zu ihr. »Sie braucht all ihre Kraft.« Mary hielt die Eule für ziemlich herrisch, aber sie war froh, dass sie da war. Zweimal hatte sie schon Jagd auf die Ratte gemacht, so dass diese panisch in ihr Versteck huschen musste. »Irgendwann krieg ich sie«, sagte die Eule. »Was machst du denn jetzt, Mädchen?« »Ich weiß nicht«, antwortete Mary verzweifelt. »Ich habe noch nie bei einer Geburt geholfen.« »Lass es nur einfach kommen«, hatte die Eule ihr gesagt, und obwohl ihre Stimme mehr hochmütig schrie, klang sie doch freundlich. Das Baby kam, genau als die Dunkelheit der Nacht sich über das ganze Haus gesenkt hatte. Es kam still und erstaunlich sanft und Mary hielt es für das Wunderschönste, was sie je gesehen hatte und jemals sehen würde. »Es war wie Zauberei«, sagte sie zu Phoebe, als sie es gebadet und in ein Handtuch gewickelt und auch alle anderen Dinge getan hatte, die Phoebe ihr aufgetragen hatte. »Es ist ein Junge, nicht wahr«, wisperte Phoebe und nahm das Baby in ihre Arme. Sie fragte eigentlich nicht richtig, sie machte mehr eine Feststellung. »Nein«, sagte Mary zu ihr, immer noch atemlos vor Aufregung, »es ist ein kleines Mädchen.« »Ein Mädchen«, sagte Phoebe so still, dass es fast wie ein Seufzen klang. »Ein Mädchen«, schrie die Eule. Es war wie ein klagender Laut. »Aber – ist das nicht gut?«, rief Mary aus. »Ich weiß nicht«, sagte Phoebe. »Der Magier wird nicht erfreut sein«, schrie die Eule. »Aber – warum denn bloß nicht?«, sagte Mary. Sie fühlte, wie sie böse wurde. »Nun«, schrie die Eule. »Er hat einen Jungen erwartet.« »Zum Teufel mit dem Magier!«, brauste Mary auf. »Es ist das schönste Baby, das ich je gesehen habe. Es ist das erste Baby, bei dessen Geburt ich geholfen habe, und es ist das beste Baby auf der ganzen Welt!« Dann konnte sie nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus.
»Mary«, flüsterte Phoebe und streckte die Hand nach ihr aus. »Das denke ich auch. Danke, Mary.« »Und ich denke das auch«, schrie die Eule. »Aber beim Magier bin ich mir nicht so sicher.« »Der Magier?«, sagte Mary verärgert. »Zum Teufel mit ihm. Es ist ein kleines Mädchen, ob er es nun mag oder nicht. Ich weiß gar nicht, wie er es anstellen will, sie nicht zu mögen. Und überhaupt, was der Magier sagt, ist egal, weil sie hier ist.« Und wie auf ein Stichwort begann das Baby laut und vernehmlich zu schreien.
22 Der leere Raum Nachdem der Schneesturm aufgehört hatte, teilten sich die Wolken und lösten sich dann nach und nach auf. Als die Dunkelheit hereinbrach, wölbte sich ein klarer Himmel wie eine Kuppel über der Winterlandschaft. Einer nach dem anderen kamen die Sterne hervor und der blasse Mond schwebte hinter silbernem Nebel. Der Schnee knirschte unter den Füßen und lange, dünne Eiszapfen glitzerten wie Dolche an den Zweigen der Bäume und den Balken der Holzgatter. Spot und der Fuchs fanden Jack zusammengekauert im Schutz eines Stechpalmenstrauches. Er hatte mit trockenem Reisig aus dem Unterholz, das durch die dichten Bäume darüber vor dem Sturm geschützt war, ein Feuer angezündet. Aber es war nur ein kleines Feuer gewesen und gab nur wenig Wärme, und weil ihm jede Bewegung schwer fiel, konnte er nicht noch mehr Zweige holen, damit es lange genug brannte. Als es erloschen war und die Dunkelheit über den Wald hereinbrach, hatte er sich so gut er konnte in seinen Anorak gewickelt, sein gesundes Bein bis unter das Kinn gezogen und sich darauf vorbereitet, die ganze Nacht so sitzen zu müssen. Schließlich war er in einen unruhigen Schlaf voller Bilder und seltsamer Geräusche gefallen. Später erzählte er Phoebe, wie er geträumt habe, dass ein Fuchs und ein Hund zu ihm kamen und ihn zu einem Schlitten trugen, auf dem er nach Golden House zurückgebracht wurde. »Aber natürlich«, fügte er hinzu, »war das nur ein Traum. Es waren William und Alice, die mich gerettet haben. Obwohl ich nicht verstehe, wie sie durch diesen Sturm gekommen sind.« Er erinnerte sich daran, wie er auf dem Schlitten gelegen hatte und wie der Fuchs und der Hund ihn über den funkelnden, mondhellen Boden zogen. »Aber wie schon gesagt, es waren Alice und William. Ich begreife nicht, woher sie die Kraft nahmen, mich zu ziehen.« Er erinnerte sich an einen Himmel voller Sterne, die wie Diamanten funkelten. Ein Stern blinkte und blitzte heller als der andere. Er erinnerte sich an das beißende Gefühl von eisiger Luft auf seinen
Wangen und an den Schnee, der in großem Bogen von beiden Seiten des Schlittens aufflog. Er erinnerte sich an den dunklen Horizont, schwarz gegen das Dunkelblau des Himmels, und an die Bäume, die sich unter der schimmernden Schneelast beugten; an das schnaubende Geräusch von Tieren, die sein Gewicht zogen, und an ihre Pfoten, die über den Boden stampften; an das Sausen des Schlittens, der über die weiche Erde flog. Der stärkste Eindruck von dieser Nacht war allerdings, wie der Schlitten für einen Moment auf der Kuppe eines Hügels hielt und wie Jack weit unten den gelben Schein der Lampe am Eingang von Golden House sah, wo Mary stand und ungeduldig auf seine Rückkehr wartete. Vielleicht brachte sein Fieber Traum und Wirklichkeit durcheinander. War tatsächlich eine große Eule im Sturzflug zum Schlitten hinuntergeschossen und hatte dem Hund und dem Fuchs etwas zugerufen? Oder war es Mary gewesen, als sie hinauslief, um Alice und William zu begrüßen, die ihre schwere Last in die Einfahrt und dann das letzte Stück hinüber zur Tür zogen? Auf jeden Fall war ein Hund dabei gewesen. Jack erinnerte sich daran, wie Alice ihn gestreichelt hatte, als er hechelnd zu ihren Füßen lag. Und ein Fuchs, den William aus dem Schlittengurt befreite. Aber konnte das wahr sein? Konnte man einen Fuchs dazu bringen, einen Schlitten zu ziehen? Er hatte so etwas noch nie gehört. Aber es gibt viele Wunder und viele unerklärliche Dinge auf dieser Welt und manchmal ist es besser, sie als kostbare Erinnerungen zu bewahren, bis sie nach und nach verblassen und sich verändern und nichts weiter mehr sind als Bruchstücke einer Legende. Und so war es für Jack. Sein wissenschaftlich denkendes Gehirn konnte sich nicht länger mit dem Gedanken der Zauberei herumquälen, sonst hätte er den Glauben an sein eigenes logisches Denkvermögen und seine Urteilskraft verloren, auf die er sich ausschließlich verließ. Und ohnedies wurde er von dem größten Wunder der Welt davor bewahrt. »Onkel Jack!«, rief Mary aus und lief auf ihn zu. »Onkel Jack, endlich bist du da. Komm schnell und sieh dir das an!« Phoebe lag auf dem Kaminvorleger vor dem Feuer, von mehreren Kissen gestützt und mit Laken und einem Federbett zugedeckt. In ihren Armen sah Jack ein in weiße Handtücher gewickeltes kleines Bündel. Als er auf sie zuhumpelte und sich dabei schwer auf William stützte, bewegte sich das Bündel und Jack blickte in die Augen sei-
nes erstgeborenen Kindes. »Jack«, murmelte Phoebe schläfrig, »Jack, Gott sei Dank bist du zu Hause. Es ist ein Mädchen, Jack. Ein kleines Mädchen… Mary hat alles gemacht…« »Mary«, wisperte Alice verblüfft. »Ich hab es nicht allein gemacht«, flüsterte Mary und wurde rot. »Die Eule hat mir gesagt, was ich tun muss – und es stimmt, Babys kommen tatsächlich von allein.« »War es sehr peinlich?«, fragte Alice. »Nein, natürlich nicht!«, versicherte Mary ihr. Alice hatte trotzdem ihre Zweifel. Für sie war Babys zu bekommen, wie die meisten ›natürlichen‹ Dinge, zu peinlich, um darüber zu sprechen. Deswegen lief sie zum Eingang und suchte nach Spot. »Spot! Spot!«, rief sie und merkte, dass er und der Fuchs verschwunden waren. Dann sah sie ihre Spuren im Schnee, die in Richtung Wald verliefen. »Spot!«, rief sie wieder. »Onkel Jack will dich bei uns im Haus wohnen lassen.« Weit entfernt hörte sie ein Bellen als Antwort, aber sie konnte den Hund nirgendwo entdecken, und weil es jetzt bitterkalt war, ging sie zurück in die Halle und schloss die Tür. Die Kinder halfen Phoebe und Jack die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Mary schüttelte das Bettzeug auf und William brachte Wärmflaschen. Das Baby wurde in seine Wiege neben Phoebes Bett gelegt. Phoebe sagte, sie werde bis zum Morgen allein zurechtkommen und die Kinder sollten in der Küche zu Abend essen und dann ins Bett gehen. »Ihr seid bestimmt alle furchtbar müde«, sagte sie und tatsächlich schnarchte Jack schon leise neben ihr. Mary versicherte ihr, dass sie leicht alleine zurechtkämen, und bald saßen die drei Kinder vor dem Küchenherd und erzählten sich alles, was passiert war, seit Jack und William sich auf den Weg zur Telefonzelle gemacht hatten. Als jeder seine Geschichte erzählt hatte, schwiegen sie und starrten in die letzte Glut des Feuers. »Was für ein Weihnachtsfest!«, sagte Mary schließlich. »Weißt du noch, wie Onkel Jack gesagt hat, es soll ein Tag werden, an den wir uns immer erinnern?« »Ach stimmt ja!«, sagte Alice und fing an zu kichern. »Was hat die Ratte wohl gemeint?«, fragte William. »Sag uns
noch mal, was sie gesagt hat, Alice.« Alice zuckte mit den Schultern und baumelte mit den Beinen. Es war schön, wenigstens einmal der Mittelpunkt zu sein. »Sie sagte, dass sie zu einem Magier gehört, aber nicht zu unserem.« »O nein!«, stöhnte William. »Nicht zwei Magier!« »Wisst ihr, was ich glaube?«, sagte Mary nach einer Weile. »Ich glaube, die Ratte wollte verhindern, dass das Baby geboren wird.« »Aber – warum?«, fragte Alice. Mary zuckte mit den Schultern. »Zweimal musste die Eule sie während der Geburt verjagen.« »Hab ich’s euch nicht gesagt?«, sagte Alice selbstgefällig. Sie freute sich wirklich, dass sie Recht gehabt hatte. »Ich habe einer Ratte noch nie über den Weg getraut.« »Die Ratte hat die Reifen zerstört«, sagte William. »Ich nehme an, damit wir keine Hilfe holen konnten.« »Es sei denn«, überlegte Mary, »es sei denn, das war alles ein Teil der Prüfung. Die der Magier mit uns machen wollte.« »Nein«, protestierte Alice. »Spot fragte sie nach der Parole und sie wusste sie nicht. Diese Ratte hat nichts mit unserem Magier zu tun, da bin ich mir sicher. « »Was für eine Parole?«, fragte William neugierig. Alice zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht«, sagte sie. »Ich werde Spot fragen. Ach, es war so schön, in dem Hund zu sein. Findest du nicht auch, Will? Warst du gerne im Fuchs?« »Ich verstehe nicht, wie wir das überhaupt konnten«, sagte William trotzig. »Ich glaube, es war eine Art Traum oder so. Wie soll man das sonst erklären?« Alice stöhnte. William war manchmal so dumm. »Wir müssen es nicht erklären. Warum sollten wir? Es ist einfach passiert. Ich konnte Gerüche aufnehmen und wir liefen durch den Schnee mit der Nase so nah am Boden, dass der Schnee in die Nasenlöcher kam und wir niesen mussten.« »Und ich hätte fast ein rohes Huhn gegessen«, sagte William. »Hör auf, William!«, rief Mary aus. »Wieso denn das?« »Der Fuchs hatte Hunger«, sagte William. »Igitt! Wie widerlich.« Alice verzog das Gesicht vor Ekel. »Da wird man ja freiwillig zum Wegelagerer und isst nur noch Gemüse!« »Ihr habt Glück«, seufzte Mary. »Ich durfte in niemanden hinein-
schlüpfen!« »Aber du hast bei der Geburt geholfen«, sagte Alice zu ihr. »Du hattest die wichtigste Aufgabe.« »Hättest du es vielleicht tun wollen?«, fragte Mary ziemlich spitz. »Nicht unbedingt«, musste Alice zugeben. »Siehst du. Ihr zwei bekommt so viel Zauberei, wie ihr nur wollt, und ich muss zu Hause bleiben. Typisch!«, sagte Mary schmollend. Sie schwiegen für eine Weile und jeder durchlebte noch einmal in Gedanken die Ereignisse. »Die Eule hat gesagt, der Magier wird wütend sein«, sagte Mary wie zu sich selbst. »Worüber?«, fragte William. »Das Baby. Weil es ein Mädchen ist«, erklärte Mary ihm. Alice nickte. »Spot sagt, der Magier kann sich nicht mit Frauen aufhalten«, sagte sie und nahm sich noch eins von Phoebes Pfefferminztörtchen. »Warum nicht?«, fragte William. »Weil er wohl ein männlicher Dingsda ist«, sagte Mary. »Du weißt schon, diese komischen Typen.« »Ein Macho«, erklärte William ernsthaft. »Was ist das?«, fragte Alice. »Das sind die Männer, gegen die Frauen kämpfen müssen«, sagte Mary wichtig. »Wie, gegen sie kämpfen?«, fragte Alice mit erstaunter Miene. »Müssen wir das alle?« »Es sind diese männlichen Dingsda-Typen, die Frauen nicht gleichberechtigt behandeln wollen«, erklärte Mary ihr. »Gleichberechtigt womit?«, fragte Alice. »Gleichberechtigt mit Männern«, antwortete Mary geduldig. »Pah!«, rief Alice. »Aber das ist doch doof. Natürlich sind Frauen nicht wie Männer. Ich wäre viel lieber ein Mann. Die haben es doch viel besser. Eigentlich sollte ich wohl ein Mann werden, da bin ich mir sicher, sie haben mich nur im Krankenhaus verwechselt.« »Ach, sei doch nicht so blöd«, sagte Mary und verlor die Nerven. »Jetzt haltet beide die Klappe«, unterbrach William sie. »Ich muss nachdenken.« »Siehst du?«, brummelte Mary. »Das ist typisch männliches Verhalten.« »Okay«, sagte William und beachtete sie gar nicht. »Ich denke,
wir sollten zum Magier gehen.« »Jetzt?«, sagte Mary. »Warum nicht?«, fragte William sie. »Ich kann nicht schlafen, solange ich nicht alles über die Ratte weiß.« »O William«, wisperte Alice. »Ist das Baby vor der Ratte sicher?« »Ich weiß es nicht«, antwortete William. »Das müssen wir den Magier fragen.« Sie liefen aus der Küche in die Halle. Das Feuer war zu schwacher, glühender Asche zusammengefallen und die Kerzen am Weihnachtsbaum waren erloschen und qualmten nur noch. »Es sieht aus wie nach einem Fest«, sagte Mary traurig. »Dabei haben wir gar nicht richtig Weihnachten gefeiert.« »Und gar nichts Richtiges zu essen bekommen«, beklagte sich Alice, was aber eigentlich nicht stimmte. Sie hatte gerade zwei große Teller Eintopf verspeist und eine riesige Menge Pfefferminztörtchen, und genau das sagte William ihr auch. »Aber das zählt nicht. An Weihnachten muss man zu viel essen. Richtiges Essen: Truthahn mit Füllung und Plumpudding und Biskuittorte und kleine Würstchen und Rosenkohl – den kann man ja liegen lassen, wenn man ihn nicht mag, und ich mag ihn nicht – und wie heißt das rosa Zeug, Mary? Räucherlachs, wenn diese Verwandten aus Schottland welchen schicken, und…« »Ach, halt die Klappe, Alice«, sagte William, ernsthaft darum bemüht, sie zum Schweigen zu bringen. Diese Litanei konnte noch stundenlang weitergehen, und wenn Alice einmal in Fahrt kam, war das sogar sehr wahrscheinlich. Sie durchquerten die Halle und traten vor den warm und süß nach rauchigem Holz duftenden Kamin. Der Aufstieg zum Geheimzimmer verlief überraschend ereignislos. Weil die Kinder die Treppe schon kannten, war das Ganze irgendwie nicht mehr so geheimnisvoll. Wie eine Abkürzung oder ein kleiner Waldweg einem schnell vertraut wird, so stiegen sie jetzt nacheinander zur Tür hinauf, gingen hindurch und wussten, dass der Metallring an der Wand sie von innen wieder öffnen würde. Nur Alice zögerte für einen Moment, als sie sich an die Ratten erinnerte. »Sie sind nicht hier, oder?«, fragte sie William flüsternd, der vor ihr ging.
»Nein«, versicherte er ihr. Dann sickerte das silbrige Licht von oben auf die Treppe hinunter und schließlich traten sie atemlos keuchend in den Raum. Einer der beiden Fensterspiegel reflektierte das Mondlicht, so dass der Raum von seinen schwachen Strahlen erfüllt war. »Hallo?«, rief William. Aber er bekam keine Antwort. Enttäuscht wanderten die drei Kinder durch den Raum und waren überrascht, wie leer und staubig er war. »Aber…«, sagte Mary verwirrt. »Ich dachte, er stünde voller Möbel und anderer Sachen. Ich weiß genau, dass hier ein Tisch war und ein Stuhl und…« »Bücher«, sagte Alice traurig. »Hier waren überall Bücher, wie in Miss Attertons Arbeitszimmer in der Schule. O Will, was ist nur passiert?« William wusste die Antwort darauf genauso wenig wie sie und war ebenfalls enttäuscht. »Es ist so, als ob nie etwas gewesen wäre«, sagte er. »Als ob wir alles nur geträumt hätten.« »Haben wir aber nicht«, protestierte Mary. »Das weiß ich genau.« »Und wohin sind dann die Sachen verschwunden?«, wollte William wissen. Alice untersuchte die dunklen Ecken, weil sie hoffte, einen Hinweis darauf zu finden, was geschehen war, und schrie plötzlich überrascht auf. »Was ist los?«, fragten William und Mary gleichzeitig und liefen zu ihr. »Seht mal hier!«, rief ihre Schwester. Sie zeigte auf einen runden Spiegel mit einem dunklen Holzrahmen, der an der Wand hing. »Ist doch bloß ein Spiegelglas, Alice«, sagte William und war selbst erstaunt, dass er ein so altmodisches Wort benutzte. Warum nicht einfach ›Spiegel‹?, dachte er. »Ja, aber – siehst du es denn nicht?«, beharrte Alice. Mary starrte verwirrt auf das Glas. Irgendetwas war seltsam daran, Alice hatte Recht. Und dann merkte sie es auch. »Oh!«, rief Mary. »Was denn?« William hörte sich ungeduldig an. Er ging zum Spiegel, der schräg über ihm hing, und sah hinein.
Kein Spiegelbild blickte zurück. Er winkte mit der Hand. Die Oberfläche des Spiegels blieb ruhig. »Wir sind nicht da drin«, sagte er. Sie starrten verwirrt in den Spiegel hinein. Er war so dunkel und staubig, dass es fast unmöglich war, überhaupt etwas zu erkennen. Aber nach und nach formten sich Bilder des Raumes, in dem sie standen. Doch der Raum sah völlig anders aus, denn er war möbliert. Mary blickte sich um, weil sie sicher sein wollte, dass der Raum sich nicht irgendwie verändert hatte. Ein Feuer brannte im Kamin. »Hier gibt es keinen Kamin«, sagte Mary zu sich selbst. »Doch«, sagte Alice. »Da drüben.« Und sie rannte zu einer kleinen, steinernen Feuerstelle, die leer und kalt war. Sie blickten wieder in den Spiegel. »Was bedeutet das?«, fragte William. Sie dachten stirnrunzelnd darüber nach und schwiegen eine Weile. »Wir sollten die Eule fragen«, sagte Mary schließlich. »Oder den Fuchs«, sagte William. »Spot weiß es bestimmt«, sagte Alice zu sich selbst. »Aber die Tiere sind doch auch fort«, sagte Mary. »Wenn jetzt auch kein Baby neben Phoebes Bett schläft, dann glaube ich wirklich, wir haben alles geträumt.« »Oh«, seufzte Alice und fühlte einen Kloß in ihrem Hals. »Ich will nicht, dass wir alles nur geträumt haben. Deshalb mochte ich auch Alice im Wunderland nicht. Es ist so gemein, wenn alles nur ein Traum ist. Oh bitte, Herr Magier, kommen Sie zurück. Bitte!« Im Spiegel schien das Feuer im Kamin aufzuflackern und dann warf sich ein Schatten über den Spiegel, so als ob jemand von der anderen Seite hineinschaute. Irgendein Gesicht schien sie von der anderen Seite des runden Rahmens aus anzustarren. »Spürt ihr das?«, fragte William und sprach damit aus, was alle dachten. Die Mädchen antworteten nicht, aber sie schienen sich einig zu sein. Alle drei spürten, dass jemand auf eine seltsame Weise durch den Spiegel schauen konnte und dass der geheimnisvolle Betrachter ebenso überrascht von ihnen war wie sie von dem möblierten Raum und dem Feuer. »Was ist hier los?«, fragte William und versuchte nicht in Panik
zu geraten. »Ich glaube, wir werden getestet«, sagte Mary. »Aber… war denn nicht alles, was passiert ist, schon ein Test?«, überlegte William. Mary schüttelte ernst den Kopf. »Ich glaube, wir sollten getestet werden, damit wir tun konnten, was wir schon getan haben. Wahrscheinlich ist die Zeit durcheinander geraten.« »Ich verstehe das nicht«, sagte William verzweifelt. Er konnte es nicht ertragen, etwas nicht zu verstehen. »Ich auch nicht. Wirklich nicht«, sagte Mary müde. »Wer kann es uns dann erklären?«, wollte William wissen. »Der Magier?«, schlug Mary zögernd vor. »Aber die Ratte hat gesagt, es gäbe noch einen Magier. Ihren Magier«, sagte Alice. »Einen bösen Magier. Ich glaube, er sieht uns gerade an. Ich kriege so eine Gänsehaut wie damals bei den Ratten. William! Mary!« Sie drehten sich um und sahen sie an. »Lasst uns ins Bett gehen«, wisperte sie. »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte William. »Wir können das nicht allein lösen. Der Magier muss uns helfen, sonst können wir ihm auch nicht helfen, und genau das will er doch, hat er gesagt. Ich habe es satt, Dinge allein herauszufinden. Kommt. Alice hat Recht. Ich bin müde und will in mein Bett.« Und damit ging William zurück zur Tür. »Sehen wir denn den Magier niemals wieder?«, fragte Alice traurig. »Doch, ich bin ganz sicher. Wenn er uns braucht«, antwortete William. »Und wir werden nicht gefragt?«, beschwerte sich Mary. »Das ist so typisch für Männer. Von uns zu erwarten, dass wir herumsitzen und darauf warten, nach ihrer Pfeife zu tanzen – was immer das dann heißt.« »Ich weiß«, stimmte William zu. »Aber ich wüsste auch gar nicht, was ich ihn fragen sollte, wenn ich ihn sähe.« »Ich schon«, sagte Mary traurig. »Ich wäre gerne wie ihr beide in ein Tier geschlüpft. Also wenn ich ehrlich bin, war es schon unglaublich interessant, als das Baby geboren wurde. Aber es war nicht wirklich Zauberei, oder? Ich wäre auch gerne mit dem Fuchs oder mit dem Hund gelaufen. Oder«, sagte sie wehmütig, »vielleicht hätte
ich auch mit der Eule fliegen können.« »Na gut«, schrie eine Stimme über ihrem Kopf, »wenn das alles ist, was du möchtest, hättest du nur zu fragen brauchen. Komm mit. Wir erledigen das jetzt besser sofort.« Die Eule saß auf ihrer Stange vor dem runden, offenen Fenster. Draußen wartete eine klare Winternacht voller Tiere, voller Sterne und Wind. »William«, rief Mary ängstlich. Aber es war schon zu spät. Die Eule richtete sich auf und starrte sie an. Dann breitete sie ihre Flügel aus und Mary flog von der Stange durch die Öffnung hinaus in die Dunkelheit.
23 Die Rückkehr des Magiers Mary öffnete erschreckt ihre Augen. Der Raum war von Licht durchflutet, aber das hatte sie nicht geweckt. Sie hörte ein seltsames Geräusch, ein hämmerndes, klopfendes und schwirrendes Geräusch, und es war draußen vor dem Fenster. Sie setzte sich auf und fröstelte. Es war sehr kalt im Zimmer. Alice’ Bett war leer und die Tür zum Flur stand weit offen. Sie sprang schnell aus dem Bett und schlüpfte in ihre Jeans und einen dicken Pullover. Dann zog sie ein paar Wollsocken an. Das Geräusch, das sie hörte, war eine Maschine. Aber was für eine? Sie ging zum Fenster und spähte hinaus. Was immer es auch war, sie konnte es von dort aus nicht sehen. Sie fröstelte wieder und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dabei schwebte eine weiße Feder, die sich letzte Nacht in ihren Haaren verfangen hatte, an ihrem Gesicht vorbei und landete auf dem Boden. Sofort erinnerte sie sich an ihren Traum. Sie war draußen in der Nacht geflogen. Sie erinnerte sich an den eiskalten Wind auf ihren Armen und an den Blick auf die schneebedeckte Erde, über die sie geschwebt war. Baumkronen kamen in ihr Blickfeld, Tannen, deren Spitzen mit Schnee bedeckt waren, und große Eichen und Eschen, deren kahle Zweige Schneekissen trugen und an denen glitzernde Eiszapfen hingen. Dann sah sie die Maus. Sie war nicht mehr als ein winziger Punkt auf dem weißen Boden. Vermutlich suchte sie nach Futter, ahnte nichts und wollte niemandem etwas zuleide tun. Aus großer Höhe fiel Mary durch die frostige Nacht. Der Wind brauste in ihren Ohren und kleine Teilchen der eisigen Luft setzten sich auf ihre Wangen. Kurz bevor sie auf dem Boden aufsetzte, schwenkte sie im letzten Moment ihren Körper herum und sah, wie ihre großen Krallen sich ausstreckten und nach dem winzigen Geschöpf im Schnee griffen. Sein entsetzter Aufschrei klang wie ein winziges Japsen. Dann trug Mary seinen schlaffen Körper zum Sims des Taubenhauses, wo sie landete und den Körper mit ihrem Schnabel zu zerreißen begann… Mary setzte sich keuchend auf die Bettkante. Sie schlug die Hän-
de vor ihr Gesicht, als ob sie das Bild auslöschen wollte, an das sie sich gerade erinnert hatte. Sie konnte sogar noch das Blut schmecken… Sie stand schnell auf, rannte ins Badezimmer und erbrach sich in die Toilette. Dann blieb sie auf dem Boden knien und begann zu weinen. Etwas später kam William außer Atem zu ihr angelaufen. »Komm mit, Mary!«, sagte er. »Der Arzt möchte dich sehen.« Und dann rannte er wieder die schmalen Stufen hinunter und war weg ohne überhaupt zu merken, dass sie weinte. Mary spritzte sich kaltes Wasser auf ihr Gesicht und trocknete sich mit dem Handtuch ab. Dann lief sie hinunter in die Halle. Die Eingangstür stand offen und sie konnte von draußen Stimmen hören. Sie ging hin und trat vor die Tür. Ein Hubschrauber stand mit ausgeschaltetem Motor auf der Wiese. Der Pilot half Jack an Bord zu steigen. William und Alice sahen zu und ein Mann, den Mary nicht kannte, stand bei ihnen. Als sie aus der Tür trat, drehte sich der Mann um und sah sie an. »Das ist also die junge Dame?«, sagte er zu William und ging auf sie zu. »Ja«, antwortete William. »Das ist meine Schwester Mary.« »Und du hast dem Baby auf die Welt geholfen?«, fragte der Mann. »Ich habe nur ein bisschen dabei geholfen«, erwiderte Mary und wurde knallrot. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte der Mann. »Wenn du einmal Krankenschwester werden möchtest, dann bin ich sicher, du wirst eine sehr gute.« »Nein, ich möchte lieber Ärztin werden, glaube ich«, antwortete Mary. Eigentlich hatte sie gar nicht vor, Ärztin zu werden. Aber der Mann schien zu denken, dass Krankenschwester ein guter Beruf für Frauen sei. Er war bestimmt auch so ein Macho-Typ, gegen den man sich wehren musste. »Also, wenn du Ärztin werden willst, dann muss ich ja aufpassen«, erwiderte er grinsend. »Du wirst mich im Handumdrehen um meinen Job bringen.« »Wohin fliegt Onkel Jack?« »Ich muss sein Bein richten«, erklärte der Arzt. »Ich kann es auch hier tun, aber im Krankenhaus kann ich besser arbeiten. Heute
Abend bringen wir ihn wieder zurück. Und auch ein paar Vorräte für euch. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis die Straße frei ist.« Der Arzt wandte sich an William. »Ihr kommt alleine zurecht, ja? Eure Tante wird bei euch sein. Ich hätte sie und das Kind auch gerne mitgenommen, aber sie ist eine sehr eigensinnige Frau.« Er blickte über die Landschaft. »Was die Leute so versessen darauf macht, sich in solche abgelegenen Gegenden zurückzuziehen, werde ich nie verstehen. Obwohl ich glaube, dass das alles hier auch seinen Reiz hat. Haltet Mutter und Kind warm und es wird ihnen nichts passieren.« Dann verabschiedete er sich und ging knirschend über den hart gefrorenen Schnee zum Hubschrauber. Nachdem er eingestiegen war, begannen die Flügel zu rotieren, erst langsam, dann immer schneller, bis sie sich rückwärts zu drehen schienen und der Schnee durch den Luftzug in einer Wolke vom Boden aufstob. Die Kinder sahen, wie Jack ihnen aus dem hochsteigenden Hubschrauber zuwinkte. Mary sah weg, damit ihr nicht wieder übel wurde, wenn sie an ihren Flug dachte. Schließlich wurde das klappernde Geräusch immer leiser und sie standen mit dem Rücken zum Haus allein auf der Wiese und blickten auf das Waldstück. Der Magier stand im Schutz einer breiten Eibe, lehnte sich schwer auf seinen silbernen Stock und starrte sie an. Später würde sich Mary daran erinnern, dass es einen Moment lang so war, als könnten sie ihn sehen, er sie aber nicht. Er trug einen langen, schwarzen Umhang und sein dünner, roter Haarflaum bewegte sich im Rest des Luftwirbels, den der Hubschrauber verursacht hatte. Alice machte zuerst den Mund auf. »Da ist er!«, rief sie erfreut. Vielleicht sah sie ihn einen Augenblick früher als die anderen, später konnten sie das nicht mehr genau sagen. Aber alle waren sich sicher, dass ihre Stimme, die das Schweigen durchbrochen hatte, auch die darauffolgende Szene in Gang setzte. »Da seid ihr«, sagte er. »Was habt ihr mir für einen Ärger gemacht! Ich kann nicht lange bleiben. Was wollt ihr von mir?« Die Kinder waren ziemlich überrascht von seinen Worten, die anzudeuten schienen, dass sie den Magier gerufen hätten, was gar nicht stimmte. »Also?«, sagte er ungeduldig. »Macht schnell. Es hat mich lange Jahre der Übung gekostet, um so als Körper erscheinen zu können,
und die Konzentration dafür erfordert viel Kraft. Und draußen im Freien ist es besonders schwierig. Erzählt mir von dem Baby.« »Es ist ein Mädchen.« Mary war selbst überrascht, wie laut ihre Stimme klang. »Das habe ich gehört. Jasper hat es mir erzählt. Jasper war für die Geburt verantwortlich.« William runzelte die Stirn. »Wer ist Jasper?«, fragte er. »Die Eule heißt Jasper. Der Fuchs heißt Cinnabar. Der Hund…« »Der Hund«, unterbrach ihn Alice schnell, »heißt Spot.« Der Magier sah sie stirnrunzelnd an. Es war ein strenges Gesicht, aber Alice war fest entschlossen sich nicht anmerken zu lassen, dass sie Angst hatte, was natürlich der Fall war. Einen schrecklichen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sprach der Magier weiter. »Und der Hund heißt Spot«, sagte er. »Aber«, sagte William, »Jasper hat sich bestimmt geirrt. Mary hat bei der Geburt geholfen.« »Nein, Will.« Mary trat zu ihm. »Die Eule hat geholfen.« »Ich habe keine Zeit für solche Streitereien«, schimpfte der Magier. »Jetzt hört mir gut zu. Ich hatte natürlich auf ein männliches Kind in eurem Alter gehofft. Ich finde es schwierig, Frauen etwas beizubringen. Magierinnen kann man nicht brauchen, denn ihr Geist ist nicht frei genug. Sie sehen überall Probleme. Sie sind zwar gute Hexen, aber ich wollte jetzt zu eurer Zeit keine Hexe. Die Mutter hat es wohl falsch verstanden. Es hat schon viel zu viele weibliche Tylers gegeben. Der Vater ist ein Green. Er hätte es besser wissen müssen. Und nun zu euch dreien! Constants waren immer verlässlich. Mein bester Assistent war ein Constant. Matthew Constant. Er kam bei einem Reitunfall ums Leben. Ich musste ihn durch Morten ersetzen. Morten ist jetzt mein Assistent. Hütet euch vor Morten. Er weiß zu viel. Er ist intelligent – aber er arbeitet für sich selbst. Ich sollte das eigentlich verhindern, aber ich brauche ihn. Er hat sich viele der Künste angeeignet. Ich glaubte, er wäre gewissenhaft. Ich hatte gedacht, dass er deshalb so lange bis tief in die Nacht arbeitete. Aber er ist gierig. Hütet euch vor den Gierigen. Sie machen Gold. Versteht ihr?« Der Magier drehte sich um und ging auf die Bäume zu. Der Wind verfing sich in den Falten seines Umhangs und die Sonne, die durch die Wolken brach, tauchte ihn in einen goldenen Lichtschein.
»Aber habt ihr gemerkt«, sagte Mary später zu ihnen, »dass er keinen Schatten hatte? Die Sonne schien, aber er warf keinen Schatten auf die Erde.« Dann drehte sich der Magier wieder um und sprach sie an. »Das Baby wird verwundbar sein, bis ich beginnen kann es zu unterrichten. Ich vertraue es dem Schutz der drei Constant-Kinder an. Wenn ihr nicht hier seid, dann müsst ihr den Tieren Anweisungen geben, Jasper und Cinnabar und…« »Spot«, warf Alice dazwischen. »Spot«, wiederholte der Magier mit einem gewissen Abscheu in der Stimme. Dann seufzte er. »Muss es wirklich Spot sein?« Alice nickte heftig mit dem Kopf. »Nun gut«, seufzte der Magier ergeben. »Spot! Ihr müsst ihnen Anweisungen geben, dass sie sich anstelle von euch um die Familie kümmern«, fuhr er fort. »Besonders auf Green, den Vater – euren Onkel –, müsst ihr aufpassen. Er ist auch eine Art Magier, aber einer aus eurer modernen Zeit. Wie nennt ihr uns jetzt? Wissenschaftler? Arme Sprache! Was habt ihr mit ihr gemacht? Sie besitzt keine Poesie mehr. Nun ja, das ist im Moment nicht so wichtig. Worüber habe ich gerade gesprochen? Ach ja. Euer Onkel – er hat ein paar gute Ideen. Aber erst muss er eine Menge Ansichten wieder ablegen… Die Mutter ist eine Tyler, sie versteht instinktiv, aber ohne wirklich viel zu wissen, wenn sie überhaupt irgendetwas weiß. Sie ist so jemand, der weiß, dass er geträumt hat, sich aber an den Traum selbst nicht erinnern kann. Sie kann es lernen, glaube ich. Deshalb habe ich ihr den Talisman gegeben, in der Hoffnung, sie würde sich mit seiner Hilfe erinnern…« »Er meint wohl den Anhänger, den Onkel Jack gefunden und Phoebe zu Weihnachten geschenkt hat«, wisperte Mary. »Ruhe!«, schnappte der Magier. Mary zuckte zusammen und schmollte. »Gut«, sagte er und blickte zur Sonne. »Zeit zu gehen. Stellt eure Fragen.« Die drei Kinder sahen sich an. »Können wir wirklich in Tieren leben?«, fragte Alice. »Nein, nicht wirklich. Nein. Ihr könnt sie erfahren, sie können euch mit sich nehmen. Aber ihr könntet nicht zu einem von ihnen werden. Es wäre eine Gotteslästerung, die Natur der Dinge zu ändern. Das würden wir nie erlauben. Wozu wäre das überhaupt gut? Es würde keinem nützlichen Zweck dienen, ein Tier zu werden. Oder ein Vogel«, fügte er nachträglich hinzu. »Oder ein Fisch«, fuhr er
fort. »Warum eigentlich nicht? Ein Fisch könnte eine nützliche Erfahrung sein.« Er drehte sich wieder um und sah sie mit funkelnden Augen an. »Vergesst nie, dass die Geschöpfe da sind, um euch zu dienen. Aber seid vorsichtig. Vergesst nie, dass auch ihr hier seid, um ihnen zu dienen. An dem Tag, an dem der Mensch das erste Mal glaubte, er sei dem Tier überlegen, an diesem Tag begann der langsame Verfall. Für euch ist es jetzt schon sehr spät. Eure Welt stirbt um euch herum. Meine Welt. Meine Zukunft. All das, für das wir gekämpft haben, die wenigen von uns, die die Zeichen sahen und wussten und verstanden. Komme ich vielleicht schon zu spät? Ich weiß es nicht. Deshalb musste ich mich aus meiner in eure Zeit versetzen. Von einem Elisabethanischen Zeitalter zum anderen. Vom Licht ins Dunkel. Von den großen Hoffnungen der Renaissance zu den großen Hoffnungen des Weltraumzeitalters.« Am Ende dieser langen Rede murmelte der Magier noch weiter vor sich hin und schüttelte den Kopf. Wieder schien es, als würden die Kinder für ihn nicht mehr existieren, als könnte er sie nicht sehen, oder besser, als wären sie nicht Teil seiner Welt. »Bitte«, fragte William. »Wenn Sie nicht gerade hier bei uns sind, wo halten Sie sich dann auf?« »Du liebe Zeit, das ist eine sehr schwierige Frage. Ich kann nicht wirklich behaupten, jemals ›hier bei euch‹ zu sein. Nein, das nicht. Ich lebe nicht hier. Ich versetze mich hierher. Versteht ihr?« »Wie beim Fernsehen?«, fragte Mary einer Eingebung folgend. »Sehr gut«, rief der Magier aus. »Genau so!« Dann runzelte er die Stirn. »Was ist – Fernsehen?« »Die haben hier keines«, sagte Alice mit gesenkter Stimme. »Sonst könnten wir es Ihnen zeigen.« »Erklärt es mir«, fauchte der Magier. »Was ist dieses… Fernsehen?« »O Mist!«, seufzte Alice. »Es ist sehr schwer zu erklären. Es ist so eine Kiste mit Knöpfen, und wenn man sie anschaltet, kommen Bilder heraus.« »Es kommen Gemälde heraus?« »Nein.« Alice schüttelte den Kopf. »Bewegte Bilder. Wissen Sie, was ein Film ist?« »Wie ein Ölfilm auf Wasser?«, fragte der Magier. »Nein!«, lachte Alice. »Ein Film, wissen Sie. Wie ET oder Indiana Jones… Ein Film eben, nicht wahr?«, beendete sie den Satz hoffnungsvoll.
»Indiana wer?«, wollte der Magier wissen. »William, versuch du es«, sagte Alice und gab auf. »Das kann ich nicht«, protestierte William. »Es ist wirklich ziemlich schwierig.« »Genauso wie das Versetzen in eine zukünftige Zeit schwierig zu erklären ist«, bekräftigte der Magier. »Es soll genügen, dass ihr mich sehen könnt. In Ordnung? Jetzt müsst ihr mich entschuldigen. Ich habe heute Abend Gäste.« »Wo?« »Zu Hause«, antwortete der Magier. »Aber – wo ist Ihr Zuhause?« »Hier, in Golden House«, erwiderte der Magier. »Ist bei Ihnen auch Weihnachten?«, fragte William ihn. »Natürlich – du lieber Himmel, ich merke, dass es kompliziert für euch ist. Natürlich ist die Zeit daran schuld, weil es sie nicht wirklich gibt. Zeit ist nur ein dünner… Film vielleicht?… Eine Schicht… Ja, das ist es. Eine Schicht. Wir gehören einfach nur zu verschiedenen Schichten der Zeit, das ist alles. Versteht ihr jetzt?« Aber er musste nur in ihre Gesichter blicken, um zu sehen, dass sie nicht verstanden. »Na ja. Nicht viele meiner Schüler verstehen das gleich. Aber wir müssen es versuchen«, stellte er fest. »Sind Sie denn Lehrer?«, fragte Alice, weil er von seinen Schülern gesprochen hatte. »Nein, eigentlich nicht. Aber wir müssen natürlich unser Wissen weitergeben. Wissen, das mit uns stirbt, ist totes Wissen. Es ist für niemanden mehr von Nutzen.« »Können wir irgendwann auch in Ihre Zeit zurückgehen?«, fragte Mary ihn. »Möglich. Aber wir müssen ganz sicher sein, dass ihr wisst, wie ihr wieder hierher zurückkommt. Oh, ihr müsst noch eine Menge lernen. Eine Menge tun. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass das Tyler-Baby auf seine große Aufgabe vorbereitet wird. Ich nehme mal an, eine Frau wird sie tun können. In meiner eigenen Zeit ist das noch ganz anders.« »Bei Ihnen sitzt aber doch auch eine Frau auf dem Thron.« Mary musste einfach darauf hinweisen. »Das stimmt«, erwiderte der Magier. »Und sie macht uns allen eine Menge Ärger. Frauen wollen immer umschmeichelt werden.« »Was ist mit ihrem Vater? Ich wette, Sie mussten Heinrich dem
Achten sogar noch mehr schmeicheln!«, sagte Mary. »Das ist wahr. Das waren nicht gerade günstige Zeiten. Mit Bess auf dem Thron ist es jetzt wirklich besser. Sie begeistert sich sogar für die Kunst der Alchimie, obwohl sie natürlich nicht möchte, dass ihre Untertanen das wissen.« Der Magier nickte Mary zu und lächelte. »Du bist sehr klug. Bist du schon einmal in meiner Zeit gewesen, Mädchen?« Mary wurde rot und schüttelte den Kopf. »Sie ist wahnsinnig gut in Geschichte«, erklärte Alice mit gelangweilter Stimme. »Geschichte? Ich bin Geschichte für euch? Wie seltsam! Und ihr seid die Zukunft für mich. Ich sage euch etwas: Zauberei erschreckt mich manchmal. Und jetzt keine Fragen mehr, sonst schlafe ich den ganzen Abend, wenn meine Gäste da sind.« Er drehte ihnen den Rücken zu und marschierte auf den verschneiten Hügel zu. »Warten Sie!«, rief William hastig. »Was denn noch?«, fragte der Magier verärgert. »Die Ratte. Ist die Ratte ein Teil Ihres Planes?« »Die Ratte?«, fragte der Magier überrascht. »Ich habe nichts für Ratten übrig. Das Haus ist völlig überschwemmt von ihnen. Morten hat mit Ratten experimentiert. Die Ratte wird wohl Mortens Geschöpf sein.« »Wir glauben, dass die Ratte die Geburt des Babys verhindern wollte.« »Das ist sehr gut möglich«, erwiderte der Magier mit unbeteiligtem Ton. »Morten ist mir schon früher hierher gefolgt. Ich vermute, eure Welt ist ganz nach seinem Geschmack. Morten interessiert sich auch für Gold. Er hätte bestimmt etwas dagegen, wenn ich in eurer modernen Zeit leben würde. Morten würde sie ganz für sich haben wollen. Es ist wirklich zu dumm, dass ich ihn aufgenommen habe, aber er macht halt so gute Arbeit. Ich wusste damals schon, dass er versuchen würde mich zu zerstören. Was ich nicht geahnt hatte, ist seine Vorliebe für euer habgieriges Zeitalter. Aber na ja«, fügte er noch hinzu, »ich hätte wirklich selbst darauf kommen können.« »Aber was sollen wir tun?« William war verzweifelt. »Tun?«, fragte der Magier. »Was ihr tun sollt? Nun, wenn ihr Morten nicht gewachsen seid, dann seid ihr niemandem gewachsen.« »Ist das Ihre Prüfung?«, fragte Mary. »Das ganze Leben ist eine Prüfung«, erwiderte der Magier, »das
denke ich jedenfalls. Habe ich gesagt, ich würde euch testen? Nun ja, dann glaube ich wohl, dass ihr die Prüfung bestanden habt. Ich brauche euch ja, da kann ich mir nicht leisten euch durchfallen zu lassen, oder? Ihr macht das schon sehr gut. Jetzt muss ich mich aber wirklich verabschieden. Die Tiere werden euch helfen. Es war ein Glückstag, als ich das erste Mal in die Eule schlüpfte. Nicht in diese Eule natürlich. Oder war sie es doch? Ich bin ganz durcheinander. Wirklich, Zauberei ist sehr verwirrend…« »Was ist, wenn wir Sie brauchen…«, rief William hinter ihm her. »Dann werdet ihr mich sicher finden. Aber ich denke, ihr kommt sehr gut allein zurecht. Ihr drei zusammen. Zwei Mädchen und ein Junge. Natürlich bleiben in meiner Zeit die Mädchen zu Hause. Die Gewohnheiten haben sich nach meinem Tod offensichtlich in bedeutendem Maße geändert. Wirklich faszinierend. Die Dinge entwickeln sich nie so, wie man es erwartet…« Immer noch vor sich hin schwatzend und ohne sich umzublicken verschwand der Magier im tiefen Wald. »Er ist weg«, sagte Alice traurig. Dann verhinderte Phoebes Stimme eine weitere Diskussion. »Kinder«, rief sie vom Haus. »Ich beobachte euch schon die ganze Zeit, wie ihr da so traumverloren dasteht. Kommt herein. Es ist viel zu kalt, um draußen zu spielen.« »Spielen!«, sagte William zornig. Aber Mary lächelte. »Ich finde das ziemlich rührend, wirklich.« »Was, Mary?«, fragte Alice. »Wie wenig die Erwachsenen eigentlich wissen«, antwortete Mary. Und sehr zufrieden mit dieser beruhigenden Beobachtung gingen die Kinder ins Haus zurück.
24 Ein Name für das Kind Drei Tage später begann der Schnee zu tauen, und als für die Kinder die Zeit kam, Golden House zu verlassen, rutschte er schon in großen Brocken von den steilen Dächern und platschte hinunter auf den Boden. Überall tropfte Wasser, weil die Eiszapfen schmolzen und die Schneehauben von den Bäumen fielen. Bald sahen schon wieder Steine aus dem Schneerest in der Einfahrt hervor und einige starke Grashalme reckten sich auf der matschigen Wiese in die Höhe. Am letzten Abend vor der Abfahrt kochte Phoebe den Kindern noch etwas ganz Besonderes, weil sie ja kein richtiges Weihnachtsessen gehabt hatten. Jacks Bein war immer noch in Gips und er musste mit Krücken herumhumpeln. William verbrachte den letzten Tag damit, einen ganzen Stapel Holzscheite ins Haus zu holen, und Alice und Mary banden Zweige als Anmachholz zusammen und legten die Bündel ins Trockene. Sie sorgten dafür, dass das Haus warm genug für das Baby blieb, denn sie wussten, dass Jack diese Arbeiten nicht alle allein erledigen konnte, solange er noch den Gips am Bein hatte. An einem der vorigen Tage war William den ganzen Weg zur Landstraße gegangen und hatte den Bauernhof ausfindig gemacht, wo er sich den Schlitten ausgeliehen hatte. Er gab ihn der Bäuerin zurück, die darauf bestand, dass er zum Tee dablieb und wartete, bis ihr Mann vom Kühemelken käme. Der Bauer fuhr ihn dann mit seinem Traktor über die verschneiten Straßen zurück nach Golden House. Der Bauer – er hieß Mr. Jenkins – stellte sich Jack und Phoebe vor und versicherte ihnen, wenn sie irgendetwas benötigten, müssten sie es nur sagen. »Da gäbe es etwas«, sagte Jack und sah ein wenig verlegen aus, weil er das freundliche Angebot so schnell in Anspruch nahm. »Sagen Sie es nur«, sagte Mr. Jenkins. »Wenn ich es habe, können Sie es auch bekommen.« »Nein, es ist nur… wegen meines dummen Beins kann ich die
Kinder nicht zum Bahnhof Druce Coven fahren…« »Ach du liebe Zeit«, sagte der Bauer lächelnd. »Sagen Sie mir, wann und an welchem Tag, und Sie werden sehen. Ich komme gerne.« Also wurde ausgemacht, dass Mr. Jenkins sie am Tag der Abreise morgens um neun Uhr abholen würde. Als es dunkel wurde, saßen alle – angenehm satt von Phoebes Lauch-und-Linsen-Torte und der Schokoladen-Mousse – zum letzten Mal vor dem lodernden Feuer in der Halle von Golden House. Phoebe hielt das fest schlafende Baby auf dem Schoß und Jack hatte sein Gipsbein auf einen Hocker hochgelegt. Die Kinder starrten in die Flammen und beobachteten, wie die Funken von den brennenden Scheiten hinauf in den dunklen Kaminschacht sprangen. Es war ein ruhiger, entspannter Abend und sie wären wohl alle eingedöst, wenn Alice nicht wegen eines plötzlichen, ungeduldigen Gebells zur Eingangstür gelaufen wäre. »Komm herein, Spot«, sagte sie und machte die Tür weit auf. Der große, schwarzweiße Hund trottete durch die Halle hinüber zum Feuer. Er blieb stehen und sah Jack erwartungsvoll an. »Was willst du, hm?«, fragte Jack. Er beugte sich vor und hielt dem Hund seine Hand entgegen. »Was ist los, Spot?« »Er möchte, dass du ihm sagst, dass er bleiben kann, Onkel Jack«, sagte Alice. »Ich dachte, das wäre schon entschieden«, sagte Jack lächelnd. »Ja, von uns allen«, sagte Phoebe. »Aber er möchte es auch von dir hören, Jack.« »Bitte, Onkel Jack«, flehte Alice. »Du wirst es nicht bereuen. Er ist der beste Wachhund.« Dabei blickte sie zu William und Mary hinüber, damit sie sie unterstützten. »Das stimmt«, sagte William. »Hier ist es sehr einsam. Und wenn du weg bist, freut sich Phoebe bestimmt, dass der Hund da ist.« »Und auf sie aufpasst«, fügte Alice hinzu. »Auf das Baby auch«, sagte Mary. »Der Hund wird auf das Baby aufpassen.« »Wer könnte denn dem Baby etwas anhaben wollen?«, stichelte Jack. »Das weiß man nie«, sagte Alice verzweifelt. »Ich hab doch Recht, oder, Phoebe?«
»Sie hat Recht, Jack«, sagte Phoebe ruhig. »Sie haben alle Recht. Sieh ihn dir doch an. Er sieht so aus, als gehöre er hierhin, und schließlich gibt es hier irgendwo eine Ratte. Ich habe dir ja erzählt, dass ich eine gehört habe. Nun, ich hatte Recht. Wir haben sie gesehen, nicht wahr, Mary?« »Ja«, sagte Mary und erschauderte bei der Erinnerung. »Ein Hund würde die alte Ratte bestimmt bald vertreiben…« »Ich gebe auf! Ich gebe auf!«, sagte Jack lachend und dann wandte er sich sehr höflich an Spot und sagte: »Spot, möchtest du hier bei uns in Golden House leben?« Das aufgeregte Bellen des Hundes weckte das Baby, aber niemand nahm es ihm übel. »Noch etwas, Kinder«, sagte Phoebe und wiegte das Baby in ihren Armen. »Jack und ich haben uns überlegt, ob ihr nicht die Paten für dieses Baby sein möchtet. Wir kennen niemanden, der besser für es sorgen könnte, und wir möchten auch, dass ihr dem Kind einen Namen gebt.« »Aber habt ihr euch denn noch keinen ausgedacht?«, rief Mary überrascht. »Wir haben immer gedacht, dass das Kind ihn uns schon sagen würde«, sagte Jack lachend. »Aber es scheint im Moment noch nicht viel sprechen zu wollen.« »Wenn das Baby ein Junge geworden wäre, hätten wir ihn Stephen genannt«, sagte Phoebe. »Ich weiß eigentlich nicht genau, warum. Wir mochten ganz einfach den Namen. Aber wir haben nie daran gedacht, dass es ein Mädchen werden könnte.« »Stephanie«, sagte William ohne zu zögern. »Stephanie Tyler.« »Taylor«, verbesserte Phoebe ihn. Dann sagte sie nachdenklich: »Stephanie. Stephanie Taylor. Das klingt hübsch, nicht wahr, Jack? Was meinst du?« »Ich mag den Namen«, antwortete Jack. Und so waren sich alle einig. Stephanie seufzte im Schlaf auf, als wollte sie sagen, dass ihr die Entscheidung auch gefalle. Und die Kinder hofften, dass Stephen Tyler, der vielleicht gerade in seiner weit entfernten Vergangenheit an demselben wärmenden Feuer wie sie saß, den Namen auch gutheißen würde. Spot streckte sich mit einem zufriedenen Gähnen in der Wärme aus. Draußen in der Dunkelheit schrie in einiger Entfernung eine Eule und ein lautes, abgerissenes Bellen machte sie alle auf die An-
wesenheit eines wilden Fuchses aufmerksam. »Hör sie dir an«, wisperte Phoebe dem Baby zu. »Alle Geschöpfe grüßen dich, Stephanie. Hörst du das?« Und das Kind strampelte mit den Beinen und reichte mit seiner winzigen Hand hinauf in das Gesicht seiner Mutter. Schließlich war es Zeit, ins Bett zu gehen. Alice schlief schon halb und Mary und William mussten sie fast die Treppe hinauftragen. »Gute Nacht«, rief ihr Onkel ihnen nach. »Gute Nacht«, flüsterte Phoebe. »Gute Nacht«, erwiderten die Kinder. Spot sagte nichts. Er schlief schon fest. Eine blasse Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel. Alles wurde vom Geräusch des gluckernden Wassers übertönt, das die Bäche und Gräben mit Schmelzwasser füllte. Mr. Jenkins kam pünktlich um neun Uhr und die Kinder verabschiedeten sich von Jack und Phoebe und auch von Stephanie und Spot. »Ist ja nicht für lange«, rief Jack ihnen nach, als sie auf den Anhänger kletterten, den Mr. Jenkins an seinen Landrover gekoppelt hatte und in dem sie auch sitzen durften, nachdem sie Phoebe überzeugt hatten, dass es ungefährlich sei. Sie fuhren langsam von Golden House weg, während Jack und Phoebe im Eingang standen und ihnen nachwinkten. Dann schlängelte sich der Wagen den steilen Hügel zur Landstraße hinauf. An den Straßenseiten türmte sich noch der Schnee und der Wald hob sich schwarz und weiß gegen den blauen Himmel ab, wie auf einem Gemälde, auf das gerade frisch Farbe aufgetragen wurde. Einmal hielt Mr. Jenkins an, lehnte sich aus dem Fenster und rief ihnen zu: »Ein Fuchs! Könnt ihr ihn sehen?« Und er zeigte zum Wald hinüber, wo ein roter Fleck hinter einem Stamm kauerte und sie beobachtete. »Zum Teufel mit dir«, rief Mr. Jenkins. »Ich krieg dich noch. Er hat diesen Winter die Hälfte meiner Hühner gefressen, verdammtes Vieh!« William drehte sich um, als der Landrover weiterfuhr und beobachtete die hellen Augen. Er hob seine Hand als kleines Zeichen der Freundschaft. »Sei vorsichtig«, flüsterte er. »Lass dich nicht erwischen.« Dann merkte er, dass Mary und Alice ihn beobachteten. Er steck-
te seine Hände in die Hosentaschen und sah verlegen aus. »Tja«, sagte er achselzuckend, »Füchse müssen eben auch leben, genau wie wir. Ich meine, wieso hat ein Bauer überhaupt Hühner im Stall? Er will sie ja auch essen, oder nicht? Entweder er oder der Fuchs.« »Arme Hühner«, sagte Mary und kämpfte mit den Tränen. Sie erinnerte sich an die Eule und den Geschmack von Blut. Ich glaube, ich werde vielleicht Vegetarierin, dachte sie. Phoebe kann mir die Rezepte geben. »War es nicht alles wunderbar?«, sagte Alice ruhig. »Wahrscheinlich wird uns niemand glauben, wie wunderbar es war.« »Und ich glaube nicht, dass wir es jemandem erzählen sollten«, sagte William. Und so kamen sie überein, dass das Erlebte ein Geheimnis zwischen ihnen bleiben sollte. »Auf Ehre und Gewissen«, sagten sie gleichzeitig und fassten sich an den Händen. »Und dieses Mal, William«, sagte Mary drohend, »wirst du den Eid nicht brechen.« »Oje«, stöhnte William. »Wirst du das niemals vergessen?« »Wenn wir in Bristol sind, Mary«, unterbrach Alice die beiden, »haben wir da noch Zeit, bis der nächste Zug kommt?« »Eine halbe Stunde, glaube ich«, antwortete Mary. »Dann werde ich drei Würstchen am Bahnhofsimbiss essen«, sagte Alice zufrieden. Danach schwiegen sie alle und beobachteten, wie Golden Valley in der schimmernden Ferne verschwand und mit ihm der ganze Zauber und die Gefahr und die Freunde, die sie dort hatten. »Es dauert ja nicht lange bis zu den Osterferien«, sagte William.
Wenn ihr wissen wollt, welche weiteren Abenteuer Mary, William und Alice im Haus des Magiers erleben, dann lest weiter im nächsten Band der Reihe: Die Tür im Baum (dtv junior 70677)