Freder van Holk Die steinerne Ellipse
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel
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Freder van Holk Die steinerne Ellipse
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel
Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1980 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und
nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wie
derverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13 – 2 41
NACHDRUCKDIENST :
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
Juni 1980
Scan by Brrazo 04/2006
1.
»Ich möchte Ihnen nach gewissenhafter Prüfung aller Umstände abraten«, sagte der grauhaarige Anwalt bedächtig und so trocken, wie er aussah. »Die Rechtsverhältnisse sind völlig ungeklärt, und Sie ris kieren eine Folge von Prozessen, deren Ausgang sich nicht absehen läßt.« Sie saßen in einem Appartement des »Excelsior« in London. Sun Koh und Hal leisteten dem Anwalt in den tiefen Sesseln Gesellschaft, während Nimba wie festgemauert neben der Tür stand. »Mir wurde mitgeteilt, daß sich die Marmorbrüche und alle Rechte in den Händen eines gewissen Jens Kragerö befinden«, erwiderte Sun Koh befremdet. »Gewiß«, gab der Anwalt höflich zu, »das ist so weit völlig richtig, und oberflächlich gesehen scheint alles in Ordnung zu sein. Sie beauftragten uns je doch, alle Umstände gründlich zu prüfen. In der Aus führung dieses Auftrages stießen wir auf Dinge, die Anlaß zu erheblichen Bedenken geben.« »Nämlich?« »Nun, zunächst dürfte Ihnen bekannt sein, daß Grönland zu Dänemark gehört und unter dänischer Oberhoheit steht. Die Kragerös sind jedoch Norwe ger, und seitdem sie die Marmorvorkommen auswer 5
ten, also schon seit Jahrzehnten, wird von ihnen wie von der norwegischen Regierung der betreffende Kü stenstreifen zu Norwegen gerechnet. Die Auseinan dersetzungen darüber zwischen den Regierungen sind nie zu einem offenen Streit aufgeflammt, aber sie sind noch nicht ausgetragen und schwelen seit Jahrzehnten. Man muß damit rechnen, daß sie plötz lich aktuell werden – ganz gleich, mit welcher Regie rung. Daß sie sich einigen – und daß Sie dabei um al le Rechte und Investitionen kommen.« »Ich brauche diesen Küstenstreifen«, stellte Sun Koh kurz fest. »Das wäre das eine«, fuhr der Anwalt höflich fort. »Noch größere Schwierigkeiten könnten sich aus den privaten Rechtsverhältnissen ergeben. Die Marmor vorkommen wurden um die Jahrhundertwende her um entdeckt. Sie galten damals als bedeutungslos und kaum auszuwerten, ganz zu schweigen von der Transportfrage. Deshalb fiel es einem gewissen Lampert nicht schwer, von der dänischen Regierung umfangreiche Rechte zu erhalten. Die Vorkommen erwiesen sich in der Folgezeit als einträglicher, als man angenommen hatte, aber Lampert war finanziell zu schwach. Er nahm einen Kompagnon auf, einen gewissen Kragerö, den Vater des heutigen Besitzers. Zwischen den beiden Partnern gab es bald Streitig keiten, die am Ende dazu führten, daß Lampert durch 6
gewisse Machinationen aus dem Geschäft gedrängt wurde. Er starb darüber, aber sein Sohn setzte, ge stützt auf die Originalunterlagen, die Auseinander setzungen mit den Kragerös fort. Er kam dann jedoch unter Mordanklage und wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, so daß die Kragerös unange fochten im Besitz blieben.« »Hm?« fragte Hal. »Weiter«, bat Sun Koh interessiert. »Lampert starb vor einiger Zeit im Zuchthaus. Er vermachte alles, was er besaß – dazu gehörten ver mutlich auch die Unterlagen für seine Ansprüche an Kragerö – einem anderen Zuchthäusler, einem ge wissen Sven Horre. Dieser, ein früherer Offizier, hat te wegen Landesverrats fünf Jahre Zuchthaus abzu büßen und wurde nach vier Jahren entlassen. Sollte er die Unterlagen Lamperts besitzen, was wahr scheinlich ist, und eines Tages genügend Rücken deckung finden, dann könnten Sie sich einem für Sie aussichtslosen Prozeß gegenübersehen.« »Dann werden wir uns also vorher mit diesem Horre einigen müssen.« »Der Gedanke liegt nahe«, sagte der Anwalt, »aber leider wird es nicht leicht sein, ihn zu finden. Wir ha ben uns natürlich aus der gleichen Erwägung heraus bemüht, seinen Weg zu verfolgen. Er ging von Oslo nach London. Hier kaufte er ein Motorboot und eine 7
Tropenausrüstung. Damit schiffte er sich ein. Seine Spur endet in Mähe, einem kleinen Hafen auf den Seychellen. Er hat ihn in seinem Motorboot verlassen, aber niemand weiß, wohin er gefahren ist, wo er sich jetzt aufhält und ob er überhaupt noch lebt.« »Nun, dann werden wir uns noch darum kümmern müssen«, sagte Sun Koh und erhob sich. »So leicht verschwindet kein Mann spurlos. Einstweilen darf ich Ihnen für Ihre Mühe danken.« Der Anwalt verabschiedete sich. »Die Seychellen sind eine schöne Gegend«, sin nierte Hal hinter ihm her. »Sie fehlen mir glatt noch in meinem Album. Kennst du den Unterschied zwi schen den Seychellen und Frikadellen, Nimba?« »Nein«, brummte Nimba mißtrauisch. »Ungebildeter Mensch!« sagte Hal. »Du könntest dich mal darum kümmern …« Die Tür wurde aufgerissen. Ein Mann stürzte her ein. Er schlug die Tür sofort hinter sich wieder zu, stützte sich flüchtig gegen den Türrahmen und tau melte dann einige Schritte vor. Die drei am Tisch sprangen auf. Sun Koh lief dem Mann entgegen, da es ganz so aussah, als wollte er im nächsten Augenblick zusammenbrechen. Er war offenbar nicht nur stark erregt, sondern auch ziem lich erschöpft. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Er mochte in der Mitte der Dreißiger stehen, 8
doch ließ sich das nicht mit Sicherheit behaupten. Sun Koh konnte den Fremden gerade noch vor dem Sturz bewahren und ihn langsam niedergleiten lassen. Der Mann blieb jedoch bei Bewußtsein. »Danke«, keuchte er, »sie haben mich zu Tode ge hetzt. Da – nehmen Sie das – sie sollen es nicht ha ben.« Er zerrte in seiner Tasche. Was er hervorzog, war eine Kugel von etwa drei Zentimeter Durchmesser, die auf einem schmalen Griff von zehn Zentimeter Länge saß – wenigstens sah der Gegenstand im er sten Augenblick so aus. »Nehmen Sie das«, flüsterte er mit merklicher An strengung, wobei er sich bemühte, die Hand nach oben zu bringen. Sun Koh nahm ihm den Gegenstand aus der Hand. »Liegen Sie erst einmal still. Sie sind hier vor jeder Belästigung sicher. Wasser, Hal!« Der Fremde bewegte den Kopf, der auf dem Arm Sun Kohs ruhte. »Zwecklos. Es ist gleich vorbei. Suchen Sie die anderen Stäbe – ich vermache sie Ihnen. Sie gehörten mir – die andern sollen sie nicht haben. Suchen Sie – es geht um Millionen.« »Trinken Sie!« Sun Koh hielt ihm das Wasser an den Mund, das Hal gereicht hatte. 9
Der Mann bäumte sich auf und flüsterte letzte Worte: »Zimbabwe – dort ist die Lösung … Diese Schufte haben …« Sein Körper wurde schlaff. Sun Koh ließ ihn vollends niedergleiten und horchte nach dem Herzschlag. »Nichts«, murmelte er, während er sich erhob. »Der Mann ist tot.« »Verletzt?« fragte Hal. »Nichts zu sehen. Wir wollen ihn lieber nicht un tersuchen, da sich wahrscheinlich die Polizei mit der Angelegenheit befassen muß.« »Was hat er denn noch geflüstert?« »Er sprach von Zimbabwe.« Sun Koh untersuchte den Gegenstand, den ihm der Mann ausgehändigt hatte. Kugel und Stab bestanden aus Bronze. Die Kugel zeigte zwei tiefe Einschnitte. Der Stab ließ sich herausziehen und gab einen dritten Einschnitt frei. Nun erinnerte die Kugel an eine jener Kugeln, die man zum Einstecken von Obstmessern benutzt. Zweifellos gehörten in diese Einschnitte drei verschiedene Stäbe. »Er hat ja auch von den anderen Stäben gespro chen«, meinte Sun Koh nachdenklich. »Sie sind wohl im Besitz der Leute, vor denen er geflohen ist.« »Dann hat es sicher eine besondere Bewandtnis damit.« 10
»Es scheint so.« Der Stab war etwa vier Millimeter stark und zehn Millimeter breit. Auf seinen beiden Flachseiten be fanden sich Zeichen, die Sun Koh nicht zu deuten wußte. Sie stammten weder aus dem Englischen noch aus sonst einer Sprache, die er beherrschte. »Ich weiß es nicht«, beantwortete Sun Koh eine Frage, die Hal deswegen stellte. »Nach den Worten des Mannes könnte man auf die Vermutung kom men, daß es sich um eine besondere Form für die Aufzeichnung eines Geheimnisses handelt. Und die ses Geheimnis dreht sich wohl um Gold.« »Einen verborgenen Schatz?« Sun Koh hob die Schultern. Es klopfte. »Herein!« Wieder trat ein Unbekannter ein. Er war ganz in Schwarz gekleidet, nur der Kragen hob sich weiß heraus. Auf dem Kopf saß eine schwarze Melone. Kein Zweifel, daß dieser Mann mit Tod und Be gräbnis in Zusammenhang stand. Die ernste, würdige Miene trauerte, sogar die allzu lange Nasenspitze drückte die Niedergeschlagenheit nach einem schwe ren Ereignis aus. Stilles Leid und sanfte Anteilnahme standen in seinem Gesicht wie in seiner Haltung. Hinter ihm erschienen zwei Leute, die genau wie er gekleidet waren. Sie hielten die Köpfe gesenkt. 11
Zwischen sich trugen sie an zwei durchlaufenden Stangen eine lange, niedrige Kiste ohne Deckel. Eine Schicht Holzwolle lag in ihr, und sicher wurde sie sonst zum Verpacken von irgendwelchen Gegen ständen benutzt, aber in diesem Zusammenhang er weckte sie unwillkürlich die Vorstellung von einem rohen Sarg. Der erste Mann trat etwas beiseite und ließ die beiden mit der Kiste herein. Auf eine Armbewegung hin setzten sie die Kiste neben dem Toten ab und griffen zu, um den leblosen Körper hineinzuheben. Länger wartete Sun Koh nicht. »Was soll das bedeuten?« herrschte er den Melo nenträger an. Der Mann wehrte mit einer sanften Bewegung je de Erregung ab und wandte sich zunächst an seine Leute. »Behutsam, recht behutsam. Draußen wartet ihr, bis ich komme.« Dann schritt er auf Sun Koh zu und flüsterte: »Es ist alles geordnet. Ich verstehe Ihren Schmerz vollkommen. Bitte, suchen Sie ihn mit Würde zu tragen. Das Schicksal prüft hart, aber nicht sinnlos. Aus dem Vergänglichen steigt das Ewige, und neues Leben blüht aus den Ruinen. Sie können sich auf uns verlassen.« »Ich bin kein trauernder Hinterbliebener«, erwi derte Sun Koh. »Sie können sich die Trostsprüche 12
sparen. Wer sind Sie?« Der andere verneigte sich feierlich. »Percy Fowler, leitender Angestellter des Instituts ›Ruhe sanft‹. Ich übernehme bei besseren Leichen persönlich.« »Halt!« rief Sun Koh zu den beiden Männern hin. »Wo wollen Sie den Toten hintragen?« »Nur auf den Gang hinaus«, erklärte Fowler. »Es geziemt sich nicht, Sir, in Gegenwart des Toten über nüchterne, geschäftliche Dinge zu sprechen. Sie wer den draußen warten, falls Sie noch besondere Anwei sungen haben.« Die beiden Männer trugen den Toten hinaus. Sun Koh erhob keinen Widerspruch mehr, da er von Fowler ausreichende Aufklärung erhoffte. »Sie kommen von einem Begräbnisinstitut?« »Sehr wohl, Sir«, sagte Fowler. »›Ruhe sanft‹ ist das erste Unternehmen am Platze. Ich bin persönlich gekommen, um Ihrem lieben, wertgeschätzten Ange hörigen gerecht zu werden.« »Der Tote ist nicht mein Angehöriger«, sagte Sun Koh. »Aber vielleicht erfahre ich von Ihnen, wer er ist.« Fowler räusperte sich. »Es ist das erstemal in mei nem Leben, daß ich angesichts des Todes einen der artigen Scherz hörte.« »Ich scherze nicht. Wie kommt es, daß Sie hier er 13
scheinen? Der Mann ist eben erst gestorben. Nie mand von uns hat das Zimmer verlassen.« Fowler wirkte bestürzt. »Aber – aber, wir wurden vor einer Stunde telefo nisch verständigt, daß aus diesem Zimmer ein Toter abzuholen sei.« »Von wem?« »Der Herr nannte sich Sun Koh.« Sun Koh zog die Brauen zusammen. »Das ist ja höchst bemerkenswert. Ich bin Sun Koh, aber Sie können sich darauf verlassen, daß ich Sie nicht be nachrichtigte.« »Oh, bedauerlich«, meinte Fowler. »Falls Sie noch kein anderes Institut…« »Nein«, unterbrach Sun Koh. »Begreifen Sie denn nicht, um was es sich hier handelt? Der Mann ist vor wenigen Minuten erst gestorben, Sie aber sind vor einer Stunde benachrichtigt worden. Ich kenne ihn nicht, habe ihn nie gesehen, Sie aber wurden aufge fordert, diesen Toten aus meinem Zimmer zu holen.« Fowler pendelte mit dem Kopf. »Das ist – allerdings merkwürdig.« »Was soll mit dem Toten geschehen?« Fowler zog sein Notizbuch. »Begräbnis – ganz rechts, Begräbnis erster Klasse, Trauerrede zehn Minuten. Das gilt für den Pfarrer, der von uns …« 14
»Schon gut. Warum lassen Sie den Toten in einer derartigen Kiste abholen? Ist das bei Ihnen üblich?« »Aber nein«, verteidigte sich Fowler erschrocken. »Es geschah nur wegen der besonderen Umstände, außer – dem auf ausdrücklichen Wunsch. Die Lei tungen der Hotels lieben es nicht, wenn man einen Toten durchs Haus trägt. Es schadet dem Ruf, und die Gäste …« »Ich verstehe. Aber es ist unmöglich, daß Sie den toten einfach wegbringen lassen. Er ist hier unter verdächtigen Umständen gestorben. Die Polizei muß die Angelegenheit untersuchen.« Fowler verbeugte sich. »Sehr wohl, Sir. Sie erlauben, daß ich meine Leute verständige?« Er verließ würdevoll den Raum und schloß die Tür hinter sich. Nimba stöhnte. »Solchen Besuch auf nüchternen Magen. Mir ist zum Heulen zumute.« »Laß deine Witze«, verwies ihn Sun Koh. »Der Mann ist tot. Wenn wir auch keine Verwandten von ihm sind, so…« »Der kommt wohl gar nicht wieder«, murmelte Hal. Sun Koh ging zur Tür und öffnete sie. Wenige Meter voraus trugen zwei Männer die Kiste fort. Von Fowler war nichts zu sehen. 15
»Halt!« Die beiden Männer drehten sich um und setzten ihre Kiste ab. Sun Koh wischte sich unwillkürlich über die Au gen. Die beiden Männer trugen helle Flanellhosen und weiße Hemden, deren Ärmel aufgerollt waren. Vor Minuten waren die beiden noch tiefschwarz ge kleidet gewesen. Wieso hatten sie sich plötzlich ver wandelt? Handelte es sich überhaupt um die gleichen Männer? Aber doch, dort lag ja der Tote in der Kiste. Die Deckbretter hatte man nur lose aufgelegt. Sie gaben genügend Lücken frei, um den Toten sichtbar zu ma chen. Leichenträger in dieser Kleidung? »Wo ist Mister Fowler?« fragte Sun Koh scharf. »Mister Fowler?« fragte einer der Männer er staunt. »Kenne ich nicht. Wer soll denn das sein?« Der Tonfall klang echt, um so verwunderter wurde Sun Koh. »Sie kennen Mister Fowler nicht? Sie arbeiten doch für ihn!« Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, da irren Sie sich.« »Sind Sie nicht für das Begräbnisinstitut ›Ruhe sanft‹ tätig?« Der Mann lachte kurz auf. »Sehen wir so aus?« 16
»Wo wollen Sie den Toten hinbringen?« »Den Toten?« »Bei dem piept’s«, sagte der andere. »Das ist doch kein Toter! Das ist doch eine Wachspuppe!« Sun Koh trat an die Kiste heran, um die Deckbret ter wegzunehmen. Aber das wollten die beiden Trä ger nicht zulassen. Sie setzten sich in Bewegung. »Finger weg, oder …« Die beiden Männer griffen zu. Sun Koh federte hoch, seine Arme schnellten seitwärts. Nimba fing den einen auf, der andere kollerte durch den Flur. Der Krach lockte einige Leute aus den Türen. »Ho…« »Stell dich lieber scheintot«, riet Nimba seinem Mann. Sun Koh nahm die Bretter herunter. Da lag der To te. »Was geht hier vor?« grollte eine Stimme durch den Gang. »He, was machen Sie an meiner Kiste?« Sun Koh blickte auf. Ein untersetzter Mann kam mit rudernden Armen auf ihn zugestürzt. »Was fällt Ihnen ein, an meine Wachspuppe zu gehen? Sie haben meine Leute überfallen! Wer sind Sie?« »Wer sind Sie?« fragte Sun Koh dagegen. »Ich bin der Wachsfigurenhändler Jules Boppard. Ich werde Sie wegen Überfall und Raub verklagen. 17
Das ist meine kostbarste Wachspuppe, Jack Dia mond, der berüchtigte …« »Eine Wachspuppe?« entgegnete Sun Koh spöt tisch. »Das ist ein Toter!« »Ein Toter?« brüllte Boppard. »Da – ist das ein Toter?« Er griff zu, riß die Figur aus den Hobelspänen her aus. Kerzengerade und steif stand sie im Flur. Jetzt griff auch Sun Koh zu. Seine Hände gingen über den Körper der Figur, tasteten in das entstellte Gesicht. Eine Wachspuppe! Sun Koh brauchte alle Beherrschung, um den Schlag zu verwinden. Eine Wachspuppe! Und dabei handelte es sich um die gleiche Kiste. Er erkannte sie genau an dem rostigen Fleck links oben, an dem wohl früher einmal ein Nagel gesessen hatte. Aber zweifellos war das eine Wachspuppe, wenn sie auch noch soviel Ähnlichkeit mit dem Mann besaß, der vor wenigen Minuten gestorben war. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Sun Koh be herrscht. »Ich habe mich geirrt.« Der Untersetzte blickte in die neugierige Runde, die sich inzwischen angesammelt hatte. »Geirrt?« brummte der Mann mißvergnügt. »Na schön, soll ja vorkommen. Weiter!« Die beiden Männer hoben die Kiste wieder an. 18
Sun Koh winkte seinen Begleitern und zog sich in sein Zimmer zurück. * »Da liegt ein Zettel!« Hal bückte sich, kaum daß sie die Tür geöffnet hatten. Er hob das zerknüllte Stück Papier auf, das an der gleichen Stelle lag, von der der Tote weggehoben worden war. Sun Koh zog es auseinander. »Du wirst die Kugel mit den drei Spitzen nicht nach Zimbabwe bringen«, las er. »Fatherstone ist schon unterwegs, aber er wird so wenig hinkommen wie du. Es ist besser für dich, du lieferst die Kugel mit der einen Spitze, die in deinem Besitz ist, freiwil lig ab. Wir geben dir eine Stunde Zeit.« »Eine Drohung«, meinte Sun Koh und gab den Zettel an seine Begleiter weiter. »An uns?« »Wohl kaum. Der Mann wird den Zettel verloren haben, als er die Kugel aus der Tasche zog.« »Wahrscheinlich träumen wir noch ein bißchen«, sinnierte Nimba. »So gut können sie doch Wachs puppen nicht herstellen, daß sie sich wie lebende Menschen benehmen.« »Wir wollen Schritt für Schritt vorgehen«, sagte 19
Sun Koh. »Irgend etwas stimmt nicht, ist sogar unlo gisch. Da ist also zunächst dieser Gegenstand, dessen Bedeutung nur teilweise klar ist. Es gibt aber keinen Zweifel, daß er mir von jenem Mann ausgehändigt wurde.« »Mit dem Hinweis, daß es sich um Millionen handle, die in Zimbabwe zu finden seien.« »So ungefähr. Der Mann starb vor unseren Augen. Ist er wirklich gestorben?« »Natürlich!« »Ich möchte die Frage bejahen, aber unbedingte Gewißheit liegt darin nicht. Man täuscht sich in sol chen Fällen leicht. Wir müssen also immerhin eine gewisse Wahrscheinlichkeit offenlassen, daß der Mann wieder zu sich kam. Lassen wir es einstweilen dabei. Eine Minute nach seinem Tode erschien dieser Fowler im Auftrag eines Begräbnisinstituts. Er be hauptet, eine Stunde vorher bereits benachrichtigt worden zu sein. Hier liegt ein Fehler, wenn nicht gar eine Unmöglichkeit. Das Telefonbuch, Hal.« Hal holte es heran und schlug auch gleich nach. »Ruham – Ruhar – Ruhe sanft – hier ist es.« Sun Koh hob das Telefon ab und wählte. »Hier Sun Koh, Hotel Excelsior. Ist bei Ihnen ein Mister Fowler angestellt… Sie sind selbst am Appa rat, ausgezeichnet! Sind Sie der gleiche Herr, der vor zehn Minuten bei mir war? – Sie haben das Büro 20
heute noch nicht verlassen? Dann haben Sie wohl ei nen zweiten Angestellten gleichen Namens? – Nicht? Es handelt sich darum, daß vorhin ein Mister Fowler aus Ihrem Institut mit zwei Trägern hier erschien und einen Verstorbenen abholte. – Ja, verstehe. Dann dürfte ein Irrtum vorliegen. Ich danke Ihnen.« »Also Schwindel?« fragte Nimba. »Einen Mann namens Fowler gibt es dort, aber er behauptet, nichts zu wissen. Wir werden uns auf alle Fälle noch persönlich überzeugen, aber ich bin ge neigt, diese letzten Angaben für wahr zu halten, da sie sich leicht nachprüfen lassen. Unser Fowler war ein Schwindler. Die Frage ist, warum er hier auftrat.« »Um den Toten fortzubringen«, sagte Hal. »Das würde voraussetzen, daß man ihn bis zu un serer Tür verfolgte.« »Die Leute hofften, daß er dieses Ding noch bei sich tragen würde.« »Gewiß, aber das Rätsel geht nicht auf. Zwischen dem Tod jenes Mannes und dem Erscheinen der Trä ger lag nur eine Minute Abstand. Die Leute waren immerhin so auffallend gekleidet, wie man sonst nicht herumgeht. Sie müssen sich also geradezu für diese Szene vorbereitet haben.« »Das begreife der Teufel«, brummte Nimba. »Damit haben wir die erste Unstimmigkeit, die sich nicht beseitigen läßt, selbst wenn wir annehmen, 21
daß der Mann heftig verfolgt wurde und seine Ver folger schnell eingriffen, um den Gegenstand für sich zu sichern. Es kommt aber noch einiges dazu.« »Der Tote?« »Ja, wo ist der Tote geblieben? Warum ist er über haupt fortgebracht worden? Man konnte sich doch binnen einer halben Minute davon überzeugen, ob er das Gesuchte noch bei sich trug. Trotzdem schaffte man ihn fort.« »Das kann nicht unbemerkt geblieben sein.« Sun Koh ging wieder zum Apparat. »Sun Koh. Ist Ihnen etwas darüber bekannt, daß in der letzten Stunde ein Mann im Hotel starb? – Sie haben auch nicht bemerkt, daß ein Toter aus dem Haus geschafft wurde? – Nein, Sie brauchen sich darüber keine Gedanken zu machen. Verständigen Sie aber bitte das gesamte Personal, daß ich Nach richten über einen Toten oder Schwerkranken wün sche, der heute innerhalb des Hotels bemerkt wurde, ferner Nachrichten über Gepäcktransporte und ähnli ches, die einen Schluß darauf zulassen, daß ein Mann aus dem Haus gebracht wurde. – Nein, die Polizei soll nicht benachrichtigt werden.« Er kehrte zu den beiden zurück. »Man weiß nichts, aber vielleicht erfahren wir bald einiges mehr.« »Wir könnten doch die Polizei verständigen.« 22
»Das wäre jetzt sinnlos. Man würde vermutlich an unserem Geisteszustand zweifeln, wie man es bei der Hotelleitung sicher auch tut.« Hal grinste. »Wahrscheinlich hat sich der dicke Wachsfigurenhändler schon beschwert.« »Hier liegt die zweite Unstimmigkeit«, sagte Sun Koh. »Es mag ein Zufall sein, daß im entscheidenden Augenblick eine Wachspuppe durch den Flur getra gen wird. Aber wie kommt es, daß diese Puppe die Kleidung und die Züge des Toten aufweist?« »Vielleicht war es doch der Tote?« »Völlig ausgeschlossen«, widersprach Sun Koh entschieden. »Es war nichts anderes als eine Wachs puppe. Aber die genaue Übereinstimmung bleibt rät selhaft. Ebenso rätselhaft bleibt, daß es sich um die gleiche Kiste handelt.« » … und die gleichen Träger?« »Das will ich nicht behaupten. Ich habe vorher zu wenig auf ihre Gesichter geachtet.« »Sie waren ja auch ganz anders angezogen«, wandte Nimba ein. »Darin würde ich keine Schwierigkeit sehen. Die Leute hatten genügend Zeit, um sich umzukleiden. Fowler brauchte die Sachen nur mitzunehmen …« »Dann müßte der Dicke mit den Verbrechern unter einer Decke stecken«, warf Hal ein. »Nehmen wir es an. Welchen Sinn hätte es, eigens 23
diese Wachspuppe herzustellen? Diese Leute hätten das alles von langer Hand vorbereiten müssen.« »Vielleicht haben sie es getan, aber zu anderen Zwecken.« »Dann hätten sie nicht gleich alles bereit gehabt.« »Vielleicht wußten sie, daß der Unbekannte bei uns sterben würde!« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Wir verlieren uns. Der Mann dürfte eine Minute vorher noch nicht gewußt haben, zu wem er hinein läuft. Außerdem sind wir gestern erst eingetroffen. Selbst von gestern auf heute läßt sich eine derartige Puppe nicht herstellen.« Nach einer Weile ging Sun Koh erneut ans Tele fon und bat den Geschäftsführer nach oben. Zwei Minuten später trat der Manager ein. »Haben Sie die Angestellten verständigt, daß ich gewisse Mitteilungen benötige?« erkundigte sich Sun Koh. »Ja, Sir«, sagte der Mann. »Es kann allerdings nur abschnittweise geschehen, da wir nicht das ganze Personal zusammenrufen können.« »Das genügt. Ich hätte jetzt gern einige andere Fragen beantwortet. Bei Ihnen wohnt ein Wachsfigu renhändler Jules Boppard.« »Hat gewohnt. Er ist vorhin abgereist.« »Wohin?« 24
»Sein Gepäck wurde zum Victoria-Bahnhof ge bracht.« »Seit wann wohnte er hier?« »Er traf hier ein, von Paris kommend. Darf ich mir eine Bemerkung erlauben?« »Bitte.« »Ich habe den Eindruck, daß Sie – hm, daß Sie an der Persönlichkeit dieses Herrn zweifeln.« »Möglich.« »Dann würde ich Ihnen empfehlen, sich mit Mister Scheuermann in Verbindung zu setzen. Ich habe mich einmal längere Zeit in Berlin aufgehalten. Dort werden Wachspuppen für die ganze Welt hergestellt, und man weiß dort besser Bescheid als anderswo, wer mit Wachspuppen handelt. Mister Scheuermann ist einer der Herren, die ich dort in der Fabrik ken nenlernte. Er wird sicher sagen können, ob es einen Wachsfigurenhändler Boppard gibt.« »Er wohnt hier?« »Ja, Zimmer 56 bis 57. Ich bin gern bereit, Sie vorzustellen.« »Ich bitte Sie darum. Doch zunächst eine andere Frage. Kennen Sie einen Mann namens Fatherstone?« »Fatherstone?« Der Geschäftsführer überlegte. »Es wird sich um Lord Fatherstone handeln. Er brach dieser Tage zu einer Afrikareise auf.« »Das genügt einstweilen. Würden Sie mich nun 25
bitte zu Mister Scheuermann führen?« Scheuermann empfing seine Besucher im Wohn zimmer. »Boppard?« Er überlegte. »Jules Boppard aus Pa ris? Ich könnte mich nicht entsinnen, einen Mann dieses Namens auf meinen Kundenlisten stehen zu haben. Einen Augenblick, bitte.« Er überprüfte einige Papiere und erklärte dann be stimmter: »Wenn es einen Wachsfigurenhändler Bop pard gibt, so steht er mit uns nicht in Verbindung.« »Eine Wachsfigur hat er jedenfalls bei sich ge habt«, wandte Sun Koh ein. »Soviel ich davon ver stehe, war es sogar ein Meisterstück, die vollendete Nachahmung eines Gesichts, das sich in Schmerz und Furcht des nahen Todes verzerrt.« Scheuermann hob die Brauen. »Das finde ich bemerkenswert. Eine ähnliche Wachsfigur haben wir vor einigen Wochen nach London geliefert. Können Sie sich auf einen Gold zahn entsinnen?« »Allerdings.« »Dann handelt es sich um unser Fabrikat. Da kam vor Wochen ein Mann zu uns nach Berlin. Irving hieß er. Er wünschte eine Wachspuppe, die sein ge treues Abbild sein sollte. Der Wunsch war etwas merkwürdig, aber der Mann hinterlegte seinen Be 26
trag und schien sonst nicht weiter verdächtig, so daß wir einen unserer besten Künstler beauftragten. Die ser Irving reiste nach einigen Sitzungen ab, die Wachspuppe wurde mit größter Beschleunigung fer tiggestellt und nachgeliefert.« »An wen?« »Eben an diesen Irving. Ich habe sogar seine An schrift hier. Aha, hier ist sie: H. Irving, Harrow on the Hill über London, Kenton Street 12. Ich werde sie Ihnen aufschreiben, wenn Sie Wert darauf legen.« Sun Koh nahm die Anschrift mit. »Sie kann uns unter Umständen noch viel nützen«, sagte er etwas später zu Hal und Nimba. »Freilich kann sie auch wertlos sein. Jedenfalls dürfte festste hen, daß die Wachsfigur viele Wochen eher einge troffen ist, bevor wir daran dachten, nach London zu fahren. Ferner gibt es keinen Zweifel, daß sie nach dem lebenden Modell angefertigt wurde. Unser Be sucher hieß Irving, er selbst hat die Wachspuppe her stellen und sich in seine Wohnung schicken lassen.« »Klarer wird die Angelegenheit dadurch nicht ge rade«, sinnierte Hal. »Wozu ließ der Mann denn die Wachspuppe anfertigen? Und warum tauchte sie ge rade hier auf? Und warum trug sie gerade den Aus druck, den sein Gesicht zuletzt hatte?« »Warum – warum?« sagte Sun Koh nachdenklich. »Es wird schwer sein, Antwort auf diese Fragen zu 27
bekommen. Aber vielleicht werden sie an uns heran getragen. Wir besitzen einen Gegenstand, der gewissen Leu ten viel wert sein muß.« »Können wir nicht feststellen lassen, was das für Zeichen sind und was sie bedeuten?« »Wir werden auch das feststellen lassen.« Es klopfte. »Herein!« Ein Kellner erschien. »Verzeihung, Sir, uns wurde gesagt, daß Sie ge wisse Mitteilungen wünschten. Ich habe eine Beob achtung gemacht, die Ihnen wichtig sein könnte.« »Bitte, sprechen Sie!« »Ich bin Tageskellner, Sir, und wohne nicht im Hotel. Wenn ich meinen Dienst antrete, komme ich gewöhnlich durch den Seiteneingang und gehe zu nächst nach oben, um mich umzuziehen. Heute be gegnete ich auf der Treppe einem Mann, der von ei nem Begräbnis zu kommen schien. Ich würde dabei nichts finden, aber er verlor einen Zettel, auf dem Ih re Zimmernummer vermerkt ist. Hier, bitte.« Sun Koh nahm den Zettel entgegen. »Mit Nr. 24 muß es auf die Minute klappen. Ver geßt nicht, daß höchste Eile geboten ist. Wer nicht rechtzeitig in Zimbabwe erscheint, hat das Nachse hen. Sobald die drei Messer in unserer Hand sind, 28
wird in Zimbabwe alles geregelt werden.« Eine Unterschrift trug der Zettel nicht. »Wie sah der Mann aus?« fragte Sun Koh. »Er war ganz schwarz gekleidet. Seine Nase kann man als auffallend groß bezeichnen. In der rechten Hand trug er einen Koffer.« »Fowler«, murmelte Sun Koh. »Hat er den Verlust des Zettels nicht bemerkt?« »Er war schon fort, als ich ihn anrief. Ich wußte nicht genau, ob er ihn verloren hatte, deshalb sah ich erst nach.« Das war alles, was der Kellner wußte. Sun Koh hän digte ihm seine Belohnung aus und schickte ihn fort. »Bei uns hatte er noch keinen Koffer«, bemerkte Nimba. »Er könnte also doch die schwarzen Sachen der anderen weggebracht haben. Zimbabwe scheint in den Erwägungen dieser Leute eine beträchtliche Rol le zu spielen.« »Aber es sind doch gar keine Messer an der Ku gel«, wunderte sich Hal. »Als Stab oder Leiste würde ich das bezeichnen, aber als Messer?« »Eine willkürliche Bezeichnung«, sagte Sun Koh, stutzte dann aber und fuhr fort: »Vielleicht freilich auch nicht. Das Wort Messer hat ja doppelte Bedeu tung. Man bezeichnet damit nicht nur einen Gegen stand zum Schneiden, sondern auch zum Messen. 29
Vielleicht denkt man eher an Meßstäbe?« »Das paßt zu einem vergrabenen Schatz, nicht wahr?« Sun Koh lächelte. »Auf den vergrabenen Schatz würde ich mich nicht versteifen. Es wäre höchst merkwürdig, wenn man in Zimbabwe vergrabene Schätze fände. Aber trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, daß diese Zei chen Maßangaben darstellen sollen. Wir müssen uns darum kümmern.« * Sie fuhren zunächst zu dem Begräbnisinstitut »Ruhe sanft«. Wie nicht anders zu erwarten, hatte der echte Fowler sehr wenig Ähnlichkeit mit dem anderen, der sich seinen Namen und seine Stellung angemaßt hatte. Er wußte auch nichts, was zur weiteren Klärung hätte dienen können. Anschließend fuhren sie nach Harrow on the Hill, einer kleinen Ortschaft, die im Nordwesten Londons lag. Unter der angegebenen Anschrift fanden sie ein leerstehendes Einfamilienhaus, das durch ein Schild als vermietbar bezeichnet wurde. Der Makler, dessen Name auf dem Schild stand, wohnte im Ort. Er hieß Lister und gehörte zu den selbstbewußten Leuten, die ständig den Hut im Ge 30
nick tragen. »Ich weiß Bescheid«, sagte er, bevor Sun Koh noch drei Worte von sich gegeben hatte. »Sie können das Haus für 400 Pfund im Jahr mieten. Eine seltene, eine herrliche Gelegenheit.« »Ich beabsichtige nicht, das Haus zu mieten«, sag te Sun Koh. »Mir liegt nur an einer Auskunft. Das Haus ist vor einiger Zeit an einen Mister Irving ver mietet gewesen?« »Davon weiß ich nichts. Das Haus steht seit acht Monaten leer.« Die Auskunft war nicht gerade erfreulich. »Kennen Sie einen Mister Irving?« fragte Sun Koh. »Nicht daß ich wüßte.« »Vielleicht hat er das Haus besichtigt?« Der Makler hob die Schultern. »Es kommt immer mal einer, der sich’s ansieht, aber ein Irving war sicher nicht darunter. Und wie gesagt, seit acht Monaten wohnt kein Mensch darin. Unter uns gesagt, es hat den Schwamm. Ich lüfte schon alle drei Tage, aber der Modergeruch ist nicht herauszubekommen.« »Eine herrliche Gelegenheit«, sagte Sun Koh und empfahl sich. Lord Fatherstone besaß ein Landhaus in London, einen jener altertümlichen, etwas düsteren Palastbau ten, die den Fremden mehr gefallen als den Bewoh 31
nern. »Lord Fatherstone befindet sich auf Reisen«, teilte der Diener mit, der auf das Klingeln hin erschien. »Sehr schade«, bedauerte Sun Koh. »Wann hat er die Stadt verlassen?« »Vor vier Tagen, Sir.« »Und wohin ist er gereist?« »Nach Südafrika.« »Dann ist seine Rückkehr freilich nicht so schnell zu erwarten.« Der Diener, der wohl durch Sun Kohs Erscheinung angenehm beeindruckt war, übernahm geschickt die Belohnung, die Sun Koh ihm reichte, und beeilte sich mit dem Gegendienst. »Er wird in den nächsten Wochen nicht zurücker wartet. Lady Fatherstone ist jedoch anwesend. Falls etwa…« Sun Koh entschloß sich schnell. »Bitte, melden Sie mich an.« Lady Fatherstone machte einen sehr würdigen, da bei recht jungen und frischen Eindruck. Sie empfing mit aller Zurückhaltung, die einem Fremden gegen über geboten schien. »Ich hörte leider, daß Lord Fatherstone verreist sei«, erklärte Sun Koh nach der Begrüßung. »Ich hät te ihn gern in einer Angelegenheit von besonderer Bedeutung gesprochen.« 32
»Er befindet sich in Südafrika«, erwiderte sie. »Aber wenn ich Ihnen behilflich sein kann, will ich es gern tun.« »Es handelt sich um diesen Gegenstand.« Sun Koh zog den mit Zeichen bedeckten Stab aus der Tasche. Zu seiner Überraschung zeigte Lady Fatherstone leb hafte Anteilnahme. »Oh«, rief sie aus, »Sie haben auch so einen Mes ser?« »Ein Messer?« fragte Sun Koh. »Aber ja«, sagte sie. »Mein Mann sprach immer nur von einem Messer. Es befinden sich Maßangaben darauf. Wußten Sie das nicht?« »Ich habe die Zeichen noch nicht gedeutet, da ich den Stab erst heute in die Hand bekam.« Sie beugte sich vor. »Das interessiert mich unge mein. Sie wissen, daß mein Mann tausend Pfund für einen derartigen Stab zahlen wollte?« »Ich höre es eben zum erstenmal, Mylady.« »Aber er hat doch die großen Zeitungsanzeigen drucken lassen.« »Ich bin gestern erst nach London gekommen und habe erst heute den Stab als Vermächtnis eines Ster benden erhalten. Ich weiß nicht viel mehr, als daß er mit einer Ruinenstätte Zimbabwe zusammenhängt!« »Natürlich, es ist auch ein echter Stab. Mein Mann ist ja nach Zimbabwe unterwegs. Aber wie kommen 33
Sie dann zu uns?« »Der Tote verlor auch einen Zettel, auf dem der Name Ihres Gatten vermerkt war. Ich schloß daraus, daß Ihr Gatte einen ähnlichen Stab besitzen könnte.« »Sie haben richtig vermutet.« Sie seufzte. »Ich will Ihnen erzählen, wie mein Mann dazu gekommen ist. Es war vor zwei Wochen – nein, etwas länger. Mein Mann erhielt eines Morgens ein Schreiben zu gestellt, in dem sich der Messer und ein Brief befand. In dem Brief hieß es, daß der Schreiber aus Dank barkeit meinem Mann den Messer vermache. Der Name des Absenders, der mir leider entfallen ist, war meinem Mann unbekannt. Es wurde jedoch auf ge wisse Ereignisse anläßlich einer Indienreise Bezug genommen, die meinen Mann daran erinnerten, daß er früher einmal einem armen Burschen geholfen hatte. Jener Mann schrieb, daß er in wenigen Stunden sterben müsse und deshalb ein wichtiges Geheimnis weitergebe. Der Stab gehöre mit zwei anderen an ei ne Kugel. Auf jedem Stab seien genaue Angaben in einer Geheimsprache verzeichnet. Aus allen Anga ben zusammen ginge die Lage eines Schatzes hervor, der in der Ruinenstätte Zimbabwe vergraben sei. Um ihn zu heben, benötige man also alle drei Stäbe. Man könne aber vielleicht auch zum Erfolg kommen, wenn man sich nach Zimbabwe begebe.« »Hätte der Mann nicht genauere Angaben machen 34
können?« »Es war alles ziemlich dunkel und geheimnisvoll ausgedrückt. Er hat wohl die Lage des Schatzes nicht selbst gekannt, sondern den Stab und sein Wissen auch erst von dritter Seite erhalten. Er schrieb aber, daß sich die beiden anderen Stäbe bestimmt in Lon don befänden.« »Ihr Gatte hat die Zeichen auf dem Stab deuten lassen?« »Ja. Er hielt es anfänglich für einen Scherz, aber dann ließ es ihm doch keine Ruhe. Sie müssen wis sen, daß mein Mann in seinem Leben schon sehr viel gereist ist. Er nahm das alles ernst, als man bei uns einbrach und offenbar nach dem Stab suchte. Dann war auch einmal ein Mann da, der viel Geld für den Stab bot.« »Die Angaben auf dem Stab …« »Richtig«, fiel sie ein. »Sie waren nicht schwer zu deuten. Es handelte sich um eine Ortsbestimmung, aber ich kann mich leider auf nichts Genaues besin nen.« »Die Aufrufe Ihres Gatten hatten keinen Erfolg?« »Es trafen genug Schreiben ein, aber das Richtige war wohl nicht dabei. Mein Mann entschloß sich je denfalls, selbst nach Zimbabwe zu reisen. Die Anga ben sollen übrigens aus einer Negersprache stam men. War es nicht Ma … Ma …« 35
»Matebele?« »Ganz recht. Sir Durham, ein Freund meines Mannes, hat sie gedeutet.« »Könnte ich es wagen, Sir Durham mit dem glei chen Anliegen zu belästigen?« »Aber natürlich. Sir Durham wird es Ihnen be stimmt nicht abschlagen. Er wohnt draußen in Surbi ton.« Mehr konnte Sun Koh nicht erfahren. Er verab schiedete sich bald mit dem Bewußtsein, ein gutes Stück weitergekommen zu sein. Zunächst fuhr er einmal zum Hotel zurück, um dort zu hören, ob etwa neue Mitteilungen der Ange stellten eingegangen waren. Das traf nicht zu, dafür wurde er aber von einem Herrn erwartet. Philipp Rush, wie sich der Besucher nannte, war groß, schwer und massig. Sein Bauch wölbte sich aus der Jacke heraus, das rote Gesicht war beängstigend voll, im Nacken wulsteten Speckfalten. Er verdiente sein Geld im Großhandel mit Weizen und anderen Dingen. Viel Bildung hatte er wohl nicht genossen. Sein Benehmen war ungeschickt, seine Sprache grob und herb. In vielem erinnerte er an das typische Bild eines reichen Emporkömmlings. »Ich habe ein Wort mit Ihnen zu reden«, schnaufte er. »Ist es richtig, daß Sie einen Messer in der Hand haben, so einen Stab, auf dem allerlei Angaben ste 36
hen?« »Bitte, nehmen Sie zunächst Platz«, bat Sun Koh höflich. »Wie kommen Sie zu dieser überraschenden Anfrage?« »Sie brauchen es gar nicht abzustreiten«, polterte Rush. »Ich weiß Bescheid. Man hat es mir telefo nisch mitgeteilt.« »Wer?« »Seinen Namen hat er nicht genannt.« »Wann?« »Vor zwei Stunden.« »Welches Interesse haben Sie an dem Stab?« Rush wehrte mit seinen dicken Händen, an dessen einige Brillantringe saßen, ab. »Sie wollen mich wohl aushorchen? Denken Sie ja nicht etwa, daß ich dumm bin.« »Ich habe keinen Anlaß, Ihren geistigen Befund festzustellen«, erwiderte Sun Koh kühl. »Sie sind zu mir gekommen. Bevor wir uns weiter unterhalten, darf ich wohl um einige Aufklärungen bitten.« Der Getreidegroßhändler wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. »Na ja«, sagte er, »ich kann es Ihnen ja schließlich auch sagen. Ich habe nämlich selber so einen Messer in der Hand.« Sun Koh vermochte sein Erstaunen nicht ganz zu unterdrücken. 37
»Ach, Sie auch? Dann wären ja alle drei vorhan den!« »Wieso alle drei? Sie haben den dritten?« »Gewiß.« »Großartig«, strahlte Rush. »Lord Fatherstone hat den anderen, das wissen Sie wohl?« »Ja. Haben Sie sich mit ihm in Verbindung ge setzt?« »Nein, er ist doch – in Zimbabwe.« »Er hat nach unseren beiden Stäben sogar durch die Zeitung gesucht.« »Freilich, das hat er, aber ich habe meinen erst ge stern in die Hand bekommen. Ich wußte natürlich so fort Bescheid, aber da nützte es mir nichts mehr.« »Darf ich fragen, wie Sie in den Besitz des Stabes gekommen sind?« »Das dürfen Sie«, sagte der Dicke wohlwollend. »Es ist ganz verrückt zugegangen. Wissen Sie, wo ich ihn gefunden habe? In einer Weizenprobe, ausge rechnet in einer Weizenprobe. Ich fasse hinein, um das Korn zu prüfen, und greife das Ding heraus.« »Ist das so außergewöhnlich?« fragte Sun Koh. Rush lachte. »Und ob. Sie kennen den Betrieb nicht. Die Probe kam aus Kanada, in einem Behälter, den man drüben versiegelt hatte. Ich stand dabei, wie er geöffnet wur de, und ich kann beschwören, daß der Messer nicht 38
erst hier hineingeschmuggelt worden ist. Das Ding wurde drüben mit eingelötet, darauf nehme ich Gift.« »Sie fanden ihn also?« »Jawohl. Und ein Brief lag auch dabei. Sie sollen sehen, daß ich meine Karten aufdecke. Hier ist der Brief. Lesen Sie ihn getrost durch.« Sun Koh überlas das Schreiben. »Wer diesen Zettel findet, der mag den beiliegenden Messer als sein Eigentum an sich nehmen, damit ein besserer Mensch glücklich werde, als mein Verfolger es ist. Er wird mich früher oder später töten, aber er soll wenigstens nicht zum Erfolg kommen. In den Rui nen von Zimbabwe wurde ein riesiger Schatz vergra ben. Drei Stäbe, die in einer Kugel stecken, geben seine genaue Lage an. Der eine dieser Stäbe befindet sich in meiner Hand, ich schicke ihn jetzt mit fort. Die beiden anderen werden in London sein. Sollte es nicht gelingen, sie zu finden, kann durch eine Reise nach Zimbabwe eine Lösung herbeigeführt werden.« Sun Koh gab den Zettel zurück. »Recht romantisch«, bemerkte er nachdenklich. »Haben Sie die Zeichen auf Ihrem Stab bereits deu ten lassen?« »Noch nicht«, erwiderte Rush. »Aber nun sagen Sie mir, was Sie für Ihren Messer verlangen. Würden Ihnen hundert Pfund genügen?« Sun Koh blickte ihn prüfend an. »Sie beabsichti 39
gen, meinen Stab zu erwerben?« »Natürlich. Wäre ich sonst zu Ihnen gekommen? Ein paar hundert Pfund würde ich schon anlegen, um …« »Um diesen Schatz zu heben? Halten Sie es nicht für möglich, daß ein Schwindel vorliegen könnte?« Rush zwinkerte. »Darum wird sich Fatherstone schon gekümmert haben, nicht wahr? Also, wie steht es mit zweihun dert Pfund?« »Schlecht«, sagte Sun Koh. »Ich könnte Ihnen ebensogut Gegenangebote machen. Aber es ist wahr scheinlich zweckmäßiger, wenn wir Hand in Hand arbeiten.« »Sie wollen den Schatz selbst heben?« »Ich glaube nicht recht an den Schatz. Mir liegt mehr daran, die eigenartigen Vorfälle zu klären und zu erfahren, was diese drei Messer und die Ereignis se um sie herum in Wirklichkeit zu bedeuten haben.« »Aber dann können sie mir doch den Stab verkau fen.« »Ich brauche ihn noch. Sie können ihn aber sehen, und ich will Ihnen auch gern die Übersetzung der Zeichen zur Verfügung stellen, sobald ich diese habe – vorausgesetzt, daß Sie das gleiche tun.« »Nein«, wehrte der Getreidegroßhändler mißtrau isch ab. »Nachher wissen Sie Bescheid und kommen 40
mir in Zimbabwe zuvor. Außerdem habe ich den Messer nicht bei mir.« »Dann unterhalten wir uns vielleicht später noch einmal, wenn Sie sich überlegt haben, daß in diesem Fall die drei Besitzer der Stäbe gemeinsam handeln müssen.« Rush brummelte etwas, hob wiederholt die Schul tern, nahm aber die Verabschiedung an. 2. Im Laufe des Nachmittags fuhr Sun Koh zu Sir Dur ham, einem Gelehrten mit stiller Liebenswürdigkeit. »Ich will Ihnen gern die Übersetzung geben«, sag te Durham. »Sie bereitet nicht viel Mühe. Soviel ich sehe, liegt eine starke Ähnlichkeit mit dem Stab vor, der mir von Lord Fatherstone ausgehändigt wurde.« »Es handelt sich um afrikanische Zeichen?« Sir Durham lächelte. »So, wie die Frage gestellt ist, müßte ich sie wohl bejahen. Die Sache wird aber damit nicht ganz ge troffen. Die meisten der Zeichen sind wohl dem Ma tebele entnommen, aber das ist auch alles.« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Sun Koh. Sir Durham nickte. »Ich will mich deutlicher ausdrücken. Der Inhalt der Mitteilung steht im Widerspruch zu dem kultu 41
rellen Stand derer, die von Geburt an Matebele spre chen. Der Stab enthält eine mathematische Bestim mung, die europäischen Ursprungs ist. Man hat sie – sicher mit einiger Mühe – zu übertragen versucht. Es ist nicht restlos gelungen.« »Sie wollen sagen, daß ein Weißer verantwortlich zeichnet?« »Zweifellos. Aber wenn Sie etwas Geduld haben, werden Sie gleich selbst urteilen können.« Sir Durham machte sich an die Arbeit. Bereits nach wenigen Minuten schob er Sun Koh die Über setzung hin. »Die Kugel bewegt sich 43 Sekunden lang mit 35 Meter Sekundengeschwindigkeit durch luftleeren Raum und unterliegt der Anziehung der anderen Ku geln. Es leuchtet ein«, erklärte Sir Durham dazu, daß kein Matebele ein derartiges Problem stellen kann. Ich halte es überhaupt für unlösbar, da nicht einmal die Masse der Kugel bekannt ist.« »Ich habe eine Kugel in Besitz, die Einschnitte für drei solcher Stäbe besitzt.« »Ah, das ist natürlich wichtig. Zeigen sie nach drei verschiedenen Richtungen?« »Allerdings.« Sir Durham wiegte den Kopf. »Ich bin zwar kein Mathematiker, aber…« »Ist die gestellte Aufgabe nicht recht einfach?« 42
»Kaum. Sie dürfte wohl zu denen gehören, die heute noch unlösbar sind. Drei Körper von bekannter Masse, die sich nach drei verschiedenen Richtungen bewegen und sich gegenseitig anziehen, müssen für einen bestimmten Zeitpunkt in ihrer gegenseitigen Lage bestimmt werden – das dürfte so ungefähr das berüchtigte Dreikörperproblem sein. Aber wie ge sagt, ich bin da nicht Fachmann genug, außerdem muß man alle Bestimmungen zusammen haben.« »Sie übersetzten bereits die Anweisung auf dem Messer Lord Fatherstones?« »Gewiß, aber ich habe leider nicht das Recht, Ih nen die Übersetzung weiterzugeben. Sie müßten sich an Lord Fatherstone wenden.« »Selbstverständlich«, stimmte Sun Koh zu und verabschiedete sich. Gegen Mitternacht dieses Tages saßen in einem geräumigen Zimmer sechs Herren verschiedenen Al ters. Einige lehnten am Kamin in tiefen Sesseln und streckten die Beine von sich, die andern hatten es sich weiter zurück bequem gemacht. Der Raum war fast dunkel. Nur das Kaminfeuer und einige Kerzen an der Seitenwand gaben Licht. Sun Koh hätte bei sorgfältiger Prüfung wohl eini ge der Gäste wiedererkannt. Der Dicke am Kamin trug bis auf Kleinigkeiten die Züge des Wachsfigu renhändlers Boppard, die beiden Herren ihm gegen 43
über ähnelten stark den beiden Leichenträgern, und weiter zurück im Schatten saß einer, dessen spitze Nase schon bei dem falschen Fowler aufgefallen war. »Großartig«, meinte der Dicke gerade. »Das Ge sicht hättet ihr sehen sollen, das er zog, als ich die Wachspuppe herausstemmte. Ich hätte quietschen können vor Lachen!« »Ich nicht«, bemerkte einer seiner Gehilfen miß mutig. »Der Mann hat eine Faust wie aus Eisen. Ich habe nie im Leben einen derartigen Schlag abbe kommen.« »Unvergeßliches Ereignis für Seine Lordschaft«, sagte einer lächelnd. »Tja, Abenteuer haben nun einmal ihre Schwierigkeiten.« »Wenn es nur dabei bleibt«, murmelte der falsche Fowler düster. »Ich fürchte, die Sache gleitet uns aus der Hand.« »Jim als Opfer seiner Rolle.« Der Dicke grinste. »Ich finde, bisher ist alles ausgezeichnet gegangen. Was meinst du, Mac?« Mac, ein jüngerer Mann mit kräftiger Statur, nick te. »Bestimmt. Zugegeben, es war eine Kateridee, aber…« »Kateridee? Wir haben lange genug daran gearbei tet.« »Eben. Es gibt Leute, die behaupten werden, daß wir etwas Besseres tun könnten, als solche Scherze 44
auszudenken. Es ist immer gefährlich, mitten im Le ben den Regisseur zu spielen. Wenn wir nicht zufäl lig auf den Namen Zimbabwe gestoßen wären und es nicht schon früh um fünf gewesen wäre …« »Du vergißt die Wette, Mac«, warf einer der Trä ger ein. »Jim war es, der uns vorlas, daß Lady Or pington eine Forschungsreise nach Zimbabwe ange treten habe. Wir unterhielten uns anschließend dar über, was die Leute veranlassen könne, freiwillig ei ne derartige Gegend aufzusuchen. Und dann schlossen wir Wetten dafür oder dagegen ab, ob es gelingen würde, drei Männer zu einer Reise nach Zimbabwe zu veranlassen, obwohl sie nie im Leben die Absicht zu einer derartigen Reise gehabt hatten.« »Ganz recht«, fiel sein Nachbar ein. »Wir wählten Lord Fatherstone, diesen Getreidegroßhändler Rush und einen beliebigen Ausländer, der nach sechs Wo chen das Zimmer 24 im ›Excelsior‹ belegen würde. Ich muß gestehen, daß mir das aufgeworfene Pro blem viel Vergnügen bereitet hat.« »Und ob«, rief der Dicke. »Man kann wohl sagen, daß wir alles ausgezeichnet organisiert haben, selbst auf die Gefahr hin, daß wir die Wette dabei verloren. Ich habe nie gedacht, daß man einen Mann wie Lord Fatherstone so schnell nach Afrika bringen könnte.« »Vorläufig ist er ja noch der einzige«, warf der fal sche Fowler ein. »Die beiden anderen befinden sich 45
noch in London, aber es sollte mich wundern, wenn sie nicht bald hinter Fatherstone herreisten.« »Und wir hinterher«, warf einer ein. »Es muß ganz nett sein, die drei Leute dort bei der Schatzsuche zu beobachten.« Die Tür öffnete sich. »Hallo, Val?« Ein Mann trat ein, in dem Sun Koh jenen Irving erkannt hätte, der in seinem Zimmer »gestorben« war. »Es ist etwas geschehen«, preßte er hastig heraus, »etwas, das alle Pläne über den Haufen wirft.« »Was ist geschehen?« fragte jemand. »Rush, der Getreidegroßhändler Rush, ist tot. Er wurde heute abend ermordet.« Alle sprangen auf. »Ermordet?« »Ja.« Irving atmete schwer. »Ermordet. Und ich fürchte, daß es mit unserer Sache zusammenhängt.« »Ich habe es geahnt«, seufzte der Spitznasige. »Dieses Spiel mit Menschenschicksalen rächt sich.« »Von wem?« forschte der Dicke. »Die Polizei ist noch bei der Untersuchung. Ich habe nichts Genaues erfahren können. Mac müßte sich darum kümmern.« »Das werde ich natürlich vor allen Dingen tun«, versicherte der Mann, dessen Name genannt worden 46
war. »In einigen Stunden weiß ich genau Bescheid.« »Und wenn unsere Vermutung richtig ist?« »Das würde bedeuten, daß sich ein Verbrecher eingemischt hat!« »Die Wette ist dann eben hinfällig.« Einer der falschen Träger schüttelte unmutig den Kopf. »Darum handelt es sich doch nicht. Wir können uns nicht einfach zurückziehen und den Dingen ihren Lauf lassen. Der Mann, der Rush ermordete, wird dann auch gegen diesen Sun Koh und gegen Lord Fatherstone vorgehen.« »Dann müssen wir ihn eben stellen.« »Und die anderen warnen.« »Überhaupt alles aufdecken.« »Warten wir ab«, beruhigte Mac. »Der Mord an Rush kann ja ganz andere Ursachen haben. Wenn ich Genaues weiß, ist immer noch Zeit, weiter zu be schließen.« Allgemeines Einverständnis, aber man unterhielt sich weiter über die Angelegenheit. Heiterkeit und Genugtuung waren freilich völlig verschwunden. Was die meisten bisher als Scherz und Zeitvertreib betrachtet hatten, das erkannten sie jetzt mehr oder weniger deutlich als frevlerisches Spiel mit Schicksa len und Gewalten, die sie nicht beherrschen durften und nicht beherrschen konnten. 47
Männer hinter den Kulissen. Sie ahnten plötzlich, daß die deckenden Kulissen auch einmal weggerissen werden konnten, so daß sie eines Tages im grellen Licht standen. * Sun Koh ahnte nichts von diesen Männern hinter den Kulissen. Die verschiedenen Steine dieses Spiels fügten sich noch nicht zu einem Bild. Zuviel stand nebeneinander, was sich widersprach oder überhaupt der logischen Begründung entbehrte. Mit dem Frühstück erschien am Morgen Inspektor Dutley von Scotland Yard bei ihm. »Sie können natürlich davon Abstand nehmen, meine Fragen zu beantworten«, erklärte er höflich, »aber dann müßte ich Sie vorladen, und das möchte ich zunächst vermeiden. Ich habe gefunden, daß man sich überall besser unterhalten kann als im Amt.« »Keine schlechte Erkenntnis«, sagte Sun Koh. »Wenn Sie mit uns frühstücken wollen, lasse ich noch ein Gedeck auftragen.« »Danke«, erwiderte Dutley bedauernd. »Das wür de meinen Grundsätzen nicht entsprechen. Aber las sen Sie sich nicht stören.« Der Inspektor kam zur Sache. »Sie sind fremd in London, nicht wahr? Ich frage 48
mich oft, was die Fremden an London finden. Da Sie keinem Klub angehören, muß es doch am Abend schrecklich langweilig für Sie sein.« Sun Koh lachte. »Ich verstehe. Wir waren gestern abend zusammen in der Oper. Zehn Minuten vor acht sind wir hier weggefahren, kurz nach elf Uhr zurückgekommen. Wir hatten Loge Nummer acht.« »Falls sich Ihre Angaben bestätigen, woran ich nicht zweifle, würden Sie ein ausgezeichnetes Alibi besitzen.« »Für welchen Fall?« »Theoretisch genommen«, wich der Inspektor aus. »Sie erhielten gestern den Besuch eines gewissen Rush?« »Allerdings!« »Es liegt mir natürlich fern, in Ihre privaten oder geschäftlichen Angelegenheiten eindringen zu wol len, aber ich bin wirklich neugierig, was ein Mann wie Rush bei Ihnen wohl hätte suchen können. Sie machen nicht den Eindruck, als ob Sie zur Getreide branche gehören.« »Sie sind ein ausgezeichneter Menschenkenner«, erwiderte Sun Koh leicht spöttisch. »Ich will Ihnen gern erzählen, warum Rush kam, aber ich fürchte, Sie werden wenig Freude daran haben.« Der Inspektor hob die Schultern. 49
»Nun ja, schließlich bin ich ja nicht zu meinem Vergnügen hier.« »Kommen Sie denn im Auftrag von Rush? Ich möchte freilich eher annehmen, daß mit Rush etwas geschehen ist.« »Warum?« fragte der andere schnell. »Kriminalinspektoren bemühen sich doch wohl nur in bestimmten Fällen?« »Na schön«, gab Dutley zu. »Rush ist gestern abend ermordet worden.« »Ich dachte es doch«, murmelte Nimba voll Ab scheu und legte das Besteck weg. »Ermordet?« sagte Sun Koh. »Man hat ihn in seiner Wohnung erschlagen und beraubt, mehr kann ich jetzt nicht sagen.« »Rush war gestern zehn Minuten bei mir, sonst habe ich keine Beziehungen zu ihm gehabt. Außer dem sind die Zusammenhänge, die Rush zu mir ge führt haben, aufregender als diese Tat. Haben Sie bei ihm einen derartigen Stab entdeckt?« Dutley blickte neugierig auf den schmalen Bron zestab. »Nein, bestimmt nicht.« »Einen im Text recht geheimnisvollen Brief?« »Nein, aber zwischen seinen Fingern befand sich ein Papierrest, auf dem die Worte ›nach Zimbabwe eine Lösung‹ standen.« 50
Sun Koh nickte nachdenklich. »Also scheint der Mord doch um des Messers wil len erfolgt zu sein. Wer weiß, wie vielen Leuten sich Rush anvertraut hat. Ich will Ihnen die Geschichte erzählen, lehne aber jetzt schon die Verantwortung dafür ab, daß Sie aus dem Fall dann noch weniger klug werden als jetzt.« »Nana.« Dutley grinste. »Gestern um diese Zeit«, begann Sun Koh, »stürz te ein Mann in dieses Zimmer herein. Er war stark erschöpft und erregt, drückte mir diesen Gegenstand in die Hand, machte einige geheimnisvolle Andeu tungen über einen Schatz und seine Feinde und starb dann in meinen Armen.« »Was?« Dutley blickte von dem Messer auf. »Darüber später. Eine Minute nach dem Tode des Mannes erschien ein gewisser Fowler, Vertreter des Begräbnisinstituts ›Ruhe sanft‹, mit zwei Trägern, um den Toten abzuholen.« »Wann?« »Im Abstand von einer Minute. Während seine Leu te den Toten in einer Kiste auf den Flur trugen …« »In einer Kiste?« »Ja, aus Rücksicht auf die Hotelgäste. Also, dieser Fowler erklärte mir, daß er vor einer Stunde benach richtigt worden sei, daß sich hier ein Toter befinde.« »Aber da lebte der Mann doch noch!« 51
»Eben. Mir kamen die Angaben verdächtig vor. Ich entschloß mich, die Polizei zu verständigen und beauftragte Fowler, den Toten wieder hereinzubrin gen. Er kam nicht wieder, worauf ich kaum eine Mi nute nach ihm auf den Flur hinaustrat. Dort trugen zwei völlig anders gekleidete Männer die Kiste eben weg. Ich hielt sie an. Bei der folgenden Auseinander setzung zeigte sich, daß die Kiste nicht den Toten, sondern eine Wachspuppe enthielt.« »Was?« »Ja, eine Wachspuppe, die die genauen Züge des Toten trug.« »Aber das ist doch unmöglich.« Der Inspektor staunte immer mehr, je weiter Sun Koh berichtete, was er erlebt und ermittelt hatte. »Das ist doch die verrückteste Geschichte, die ich je gehört habe«, gestand er, als Sun Koh geendet hat te. »Hier geht doch alles durcheinander. Und Sie meinen, daß Rush deswegen ermordet wurde?« »Ich nehme es an, weil sein Messer verschwunden ist.« Der Inspektor kombinierte. »Wenn es zutrifft, und die Leute wissen, daß Sie ebenfalls so ein Ding in der Hand haben, sieht es für Sie ziemlich unange nehm aus. Ich würde an Ihrer Stelle die Augen mäch tig offenhalten.« »Das werde ich tun«, versprach Sun Koh. 52
Der Inspektor sagte nichts davon, daß er sich im gleichen Augenblick vornahm, Sun Koh unter poli zeilichen Schutz zu stellen. Er nannte seine Telefon nummer und verabschiedete sich mit dem Verspre chen, bald wieder von sich hören zu lassen. * Wenige Stunden nach der Unterhaltung mit Dutley wurde Sun Koh angerufen. »Ist dort Mister Sun Koh?« »Ja, am Apparat«, bestätigte Sun Koh. »Wer spricht?« »Ich möchte darauf verzichten, mir erst einen fal schen Namen auszudenken. Es liegt mir nur daran, Sie zu verständigen, daß Sie das Opfer eines Scher zes geworden sind. Alles, was sich gestern abgespielt hat, hing mit einer Wette zusammen. Der Schatz von Zimbabwe ist überhaupt nicht vorhanden, die Kugel mit den Messern ist eine willkürliche Erfindung.« »Und die Ermordung von Rush?« »Ein unvorhergesehenes Ereignis. Ich warne Sie eben deshalb. Der Mörder wird versuchen, sich Ih nen zu nähern, da er zweifellos an den Schatz glaubt. Ich empfehle Ihnen, sofort abzureisen oder wenig stens freiwillig auf den Messer zu verzichten. Händi gen Sie ihn aus, falls ihn jemand wünscht, oder ge 53
ben Sie ihn an eine Zeitung oder sonstwohin, damit man erfährt, daß Sie nicht mehr beteiligt sind. Beher zigen Sie meinen Ratschlag!« Bevor Sun Koh noch eine Frage stellen konnte, wurde auf der anderen Seite abgehängt. »Neckisch«, sagte Hal. »Der Mann ist harmlos ge nug, zu glauben, daß er nun bloß herzukommen braucht, um den Messer in die Hand zu bekommen.« »Es läßt sich wenig damit anfangen«, sagte Sun Koh. »Tatsächlich läßt sich nur ein Trick vermuten, um in den Besitz des Messers zu kommen. Es genügt nicht, die Ereignisse einfach als einen Scherz zu be zeichnen.« »Ich wette, daß bald einer auftaucht und den Mes ser von Ihnen haben will«, meinte Hal. Er behielt recht. Nach einer Viertelstunde erschien ein ziemlich schäbig gekleideter Mann mit fuchsigem Gesicht und unruhigen Augen. »Lenders«, wiederholte er den Namen, der bereits telefonisch gemeldet worden war. »Sie haben einen Metallstab im Besitz, auf dem Zeichen stehen, nicht wahr?« »Vielleicht.« »Ich weiß es. Ich schlage Ihnen einen Tausch vor. Auf dem Zettel hier habe ich die Zeichen, die bei Rush auf dem Stab standen. Geben Sie mir Ihren 54
Stab, dann bekommen Sie von mir diesen Zettel. Das ist kein schlechter Tausch, sollte ich meinen.« »Wie kommen Sie zu den Zeichen?« »Ich habe sie abgeschrieben. Sie müssen wissen, daß ich Großhändler bin. Ich arbeite mit Rush zu sammen. Gestern hat er mir alles erzählt und mir den Stab gezeigt. Er sagte, ich sollte ausfindig machen, was die Zeichen bedeuten. Er hat sie mir selbst auf geschrieben. Wie steht es also mit unserem Tausch?« »Schlecht«, sagte Sun Koh. »Ich habe keine Ge währ dafür, daß Sie nicht irgendwelche beliebige Schriftzeichen aufgemalt haben. Bringen Sie mir den Metallstab.« Der Mann blickte böse. »Der ist fort, das wissen Sie so gut wie ich. Aber die Zeichen hier stimmen. Und Sie brauchen sie, sonst können Sie den Schatz nicht heben.« »Was wollen Sie damit anfangen?« »Dasselbe wie Sie. Rush hat mir das Papier gege ben, und ich bin gewissermaßen sein Erbe. Aber schön, wenn Sie nicht wollen, dann müssen Sie mich eben auskaufen. Was bieten Sie?« »Nichts«, erwiderte Sun Koh kühl. »Ich werde der Polizei Mitteilung von Ihrem Angebot machen.« »Wieso?« fuhr der Mann auf. »Was hat die Polizei damit zu tun? Habe ich Sie erpreßt oder sonst et was?« 55
»Die Polizei sucht den Mörder von Rush.« »Damit habe ich nichts zu tun.« »Sie wird auf alle Fälle erwarten, daß ich ihr jeden Hinweis gebe, der weiterführen kann.« »Sie wollen also nicht tauschen?« »Nein.« »Schön, dann warte ich, bis Sie zu mir kommen.« Höchst verärgert räumte er das Feld. Auf einen Wink Sun Kohs schloß sich Hal an. Es gelang ihm leicht, Fühlung zu behalten und festzustellen, daß es sich wirklich um den Großhändler Lenders handelte. Minuten nach seinem Abgang ließ ein Mister Braddock um eine Unterredung bitten. Braddock machte den angenehmen Eindruck eines harmlosen Bürgers, der genug verdiente, um mit dem Leben zufrieden zu sein. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er höflich, »aber ich hielt es für richtig, mit Ihnen zu sprechen. Einer meiner Freunde, der heute nacht so plötzlich verstor bene Großhändler Rush, zeigte mir gestern einen Metallstab, auf dem sich eine Reihe von Schriftzei chen und Zahlen befanden. Er schrieb sie mir ab, weil ich mich um die Deutung kümmern sollte. Er hat mir auch die ganze Geschichte erzählt. Ich dachte nun, Sie könnten Interesse an den Zeichen haben. Es handelt sich doch um einen Schatz, nicht wahr? Nun, es wäre nicht schlecht, wenn ich mich als Partner an 56
der Sache beteiligen würde.« »Ihr Freund Rush scheint verschiedenen Leuten seine Geheimnisse ausgeplaudert zu haben«, erwi derte Sun Koh. »Eben war ein gewisser Lenders mit einem ähnlichen Anliegen bei mir.« »Lenders?« sagte der Besucher. »Hm, warum nicht? Rush konnte keine Geheimnisse für sich be halten, wenigsten die größere Hälfte nicht. Dabei war er ein Schlaukopf. Es sollte mich wundern, wenn er alles genau abgeschrieben hätte. Die Sache mit Len ders ist verdächtig. Wie ich Rush kenne, hat er mir die eine Hälfte richtig und die andere falsch aufge schrieben, und bei Lenders hat er es ähnlich ge macht.« Sun Koh unterhielt sich noch eine Weile mit dem Mann. Seinen Zettel wollte er trotz seines eigenen Verdachtes nicht preisgeben. Er bekam dadurch auch nicht den Messer Sun Kohs in die Hand. So verlief die Unterhaltung ergebnislos. Er war kaum hinaus, als das Telefon klingelte. In spektor Dutley meldete sich. Seine Stimme klang au ßergewöhnlich hastig. »Entschuldigen Sie, Mister Sun Koh«, sagte er. »ich brauche dringend Ihren Metallstab mit der Ku gel. Können Sie ihn für eine Stunde entbehren? Ich schicke Ihnen einen Beamten vorbei.« »Ich kann zu Ihnen kommen.« 57
»Danke, das ist nicht nötig, außerdem ist der Be amte schon unterwegs. Er wird sich ausweisen und Ihnen eine Empfangsbestätigung aushändigen, die von mir unterschrieben wurde. Entschuldigen Sie mich bitte, ich rufe wieder an.« Sun Koh legte auf. Der angemeldete Beamte erschien nach einer Vier telstunde. »Inspektor Dutley schickt mich, um einen Gegen stand abzuholen«, sagte er. »Hier ist mein Ausweis.« Sun Koh prüfte Ausweis und Empfangsbestäti gung, dann händigte er dem Beamten die Kugel mit dem Messer aus. Wieder vergingen nur einige Minuten, dann klopf te es. »Der reinste Laden bei uns«, sagte Nimba unwil lig. »Herein!« Ein Fremder trat ein. Er war tadellos gekleidet, zeigte die lässige Sicherheit des Weltmannes in Hal tung und Sprache, besaß aber ein etwas zu hartes Ge sicht, um angenehm zu wirken. »Verzeihen Sie, daß ich unangemeldet bei Ihnen eintrete«, bat er, während er sich verbeugte. »Dürfte ich Sie unter vier Augen sprechen?« Sun Koh gab Nimba und Hal einen Wink, worauf sich die beiden zurückzogen. 58
»Es handelt sich darum«, setzte der Fremde lang sam an und zeigte plötzlich eine Pistole, »daß ich unbedingt den Metallstab brauche, der sich in Ihrem Besitz befindet. Bitte, nehmen Sie die Arme hoch und verursachen Sie keinen Lärm, sonst würde es Ih nen ähnlich wie Rush ergehen.« Sun Koh hielt die Arme ruhig, nahm sie aber nicht hoch. »Sie sind also der Mörder dieses Mannes?« »Nein«, kam überraschend die Antwort. »Es war einer meiner Bekannten, wenn Sie sich dafür interes sieren. Nehmen Sie die Arme hoch!« »Sie bemühen sich vergeblich. Der Stab befindet sich bereits bei der Polizei.« Der Fremde grinste. »Sie haben genügend Selbstbeherrschung, um mich anzuschwindeln. Ich ziehe es vor, mich zu überzeugen.« »Bitte«, erwiderte Sun Koh und blickte zur Seite. »Dort…« Der alte Trick verfehlte seine Wirkung wenigstens nicht ganz. Der Mann verdrehte die Augen. Sun Koh warf sich seitlich vor und erwischte gerade noch mit der Handkante die Pistole, die krachend gegen die Wand flog und sich entlud. »Verdammt!« Mit einem Satz war der Fremde an der Tür. Sie 59
wurde schon von außen aufgerissen. Ein anderer Un bekannter erschien. »Halt!« »Geh zum Teufel!« Kurze Schläge hin und her, der erste verschwand, der zweite blieb zwischen Tür und Angel. Inzwi schen hatte sich Sun Koh wieder aufgerafft. Er muß te jedoch erst den Mann in der Tür halten und ihn beiseiteschieben. Inzwischen hatten sich einige Tü ren im Gang geöffnet, der Flüchtende war unsichtbar geworden. Sun Koh verzichtete darauf, ihn zu verfolgen. Er kehrte zu dem Mann zurück, der sich an der Tür wie der zurechtzog. »Wer sind Sie?« Der Mann präsentierte seinen Ausweis. »Inspektor Dutley hat mich beauftragt, über Sie zu wachen. Ich sah Braley nach oben gehen. Er ist ein gefährlicher Junge, aber man kann ihm augenblick lich nichts nachweisen. Ich wußte nicht genau, wohin er gegangen war, deshalb habe ich mich für alle Fälle hier vor Ihre Tür gestellt.« Sun Koh schickte ihn fort. Drei Minuten später erschien Inspektor Dutley. »Ich kam gerade vorbei und wollte die Gelegen heit benutzen, um zu hören, ob Sie etwas Neues er fahren haben«, sagte er. »Der Polizist hat mir von 60
dem Überfall erzählt. Nun, es ist ja alles gutgegan gen, aber Braley wird ihn zu büßen haben, wenn ich ihn zwischen die Finger bekomme. Was wollte er denn?« »Den Metallstab mit der Kugel. Er erwähnte, daß einer seiner Freunde den Mord an Rush begangen habe.« Dutley stieß einen Pfiff aus. »Werde ich mir merken. Ein Glück, daß er den Stab nicht bekommen hat.« »Die Enttäuschung wäre ihm so oder so nicht er spart geblieben. Er glaubte es mir jedenfalls nicht, daß sich der Stab bei der Polizei befindet.« Dutley lachte. »Damit haben Sie ihn wohl reingelegt? Nun, die Ausrede war nicht schlecht, aber solche Burschen sind eben mißtrauisch. Vielleicht wäre es wirklich kein Fehler, wenn Sie den Stab uns anvertrauen wür den. Sie können sich damit viel Ungelegenheiten er sparen.« Sun Koh lächelte. »Dieser Überfall blieb mir ja auch nicht erspart, obwohl er sich bei Ihnen befand.« Jetzt stutzte Dutley. »Wie meinen Sie das?« »Nun, Sie haben doch die Kugel mit dem Stab ab holen lassen.« 61
»Ich?« rief Dutley erstaunt. »Ist mir nicht im Traum eingefallen. Machen Sie einen Scherz oder …« Sun Koh zog die Brauen zusammen. »Ein Scherz? Sie haben mich telefonisch darum gebeten.« »Ausgeschlossen! Das war ein Betrüger.« »Der Beamte hat einen Ausweis vorgewiesen.« »Gefälscht!« »Und diese Empfangsbestätigung?« Der Inspektor griff gierig danach. »Die Unterschrift ist natürlich falsch«, murmelte er nach einer Weile betroffen. »Aber wie kommen diese Leute in den Besitz unserer echten Formblät ter? Und der Stempel ist ebenfalls echt. Das geht zu weit. Es tut mir leid, aber man hat Sie getäuscht.« »Der Verlust trifft mich nicht übermäßig hart«, erwiderte Sun Koh gelassen. »Was auf dem Stab stand, habe ich im Kopf. Und notfalls treffe ich die Leute, die sich den Stab aneigneten, in Zimbabwe.« »Sie meinen, daß dort…« »Fatherstone befindet sich mit dem dritten Stab in Zimbabwe. Wenn man ihn berauben will, muß man sich schon dorthin bemühen. Außerdem soll ja der Schatz in Zimbabwe liegen.« »Dann müßte man eigentlich dorthin fahren«, er wog der Inspektor. »Ich hoffe, daß sich hier noch einiges klären läßt«, 62
widersprach Sun Koh. »Mir scheint, wichtiger als der Stab ist beispielsweise die Aufdeckung dieses gewis sermaßen amtlichen Betruges, der Mord an Rush, das Verschwinden des Toten, die Bedeutung der Wachs puppe und was der Fragen noch alle sind. Alle diese Ereignisse greifen ineinander, ohne daß sich ein An fang finden läßt. Was immer bisher geschehen ist, es hat das Vorangegangene nur noch geheimnisvoller und dunkler gemacht.« Dutley hob die Schultern. »Wir tun unser Bestes. Und wenn wir einmal den richtigen Zipfel haben, dann lassen wir auch nicht locker.« »Ja«, meinte Sun Koh, »leider scheint diese Ange legenheit Dutzende von Zipfeln zu haben, die alle keine Verbindung mit dem Kern der Sache besitzen.« Dutley begnügte sich damit, abermals die Schul tern zu heben. * Sun Koh erwachte mit dem Empfinden, daß ihm eine Gefahr drohe. Irgendein Geräusch mußte seinen Schlaf unterbrochen haben. Der Raum war dunkel, aber durch die geschlosse nen Fenster drang wenigstens soviel schwaches Licht, um erkennen zu lassen, daß sich ein Fremder 63
mit äußerster Vorsicht durch das Zimmer bewegte. Irgend etwas trug er in der Hand, vielleicht eine Lampe oder eine Waffe. Sun Koh wälzte sich herum, scheinbar im Schlaf, in Wirklichkeit aber, um eine Stellung einzunehmen, die ihm das Aufspringen ermöglichte. Lange, lange Sekunden blieb der Eindringling reg los stehen. Nun kam er näher heran, immer näher. Sun Koh schnellte im letzten Augenblick hoch. Der Fremde stieß einen dumpfen Fluch aus, dann setzte er sich erbittert zur Wehr. Er besaß eine er staunliche Geschmeidigkeit und wich so geschickt aus, daß es Sun Koh nicht möglich war, ihn festzule gen. Und das Zimmer war zu dunkel, um einen ge nauen Schlag zu landen. Plötzlich fiel von der Tür her grelles Scheinwer ferlicht auf die Gruppe. Eine Stimme befahl: »Hände hoch oder…« Sun Koh warf sich blitzschnell ins Dünkel zurück, sein Gegner rollte zur Tür. Dort verlöschte das Licht, zwei Körper krachten zusammen, dann wurde die Türöffnung leer. Zwei Männer rannten fort. Als Sun Koh zur Tür kam, lag rechts und links der Gang in nächtlicher Stille und Einsamkeit. Kopfschüttelnd trat Sun Koh zurück und schloß die Tür hinter sich. Waren das nun Verbündete oder Gegner gewesen? 64
Er drehte das Licht an, stutzte und hob einen schmalen Bronzestab vom Boden auf. Das war doch einer dieser Stäbe, die zu der dreifach gelochten Ku gel gehörten, einer der Messer, um die sich alle Erei gnisse drehten. Hatte man ihm seinen Messer zurückgebracht? Nein, das war ein anderer Stab als jener, den ihm der falsche Kriminalbeamte abgenommen hatte. Die ser hatte nicht die Länge, und die Zeichen waren auch anders. Also konnte es sich nur um den Stab handeln, den Rush besessen hatte. Das aber bedeutete wiederum nichts anderes, als daß der Mörder von Rush im Zimmer gewesen war und während des Kampfes den Stab verloren hatte. Sun Koh bedauerte ernsthaft, den Mann nicht här ter angefaßt und überwältigt zu haben. * Am nächsten Morgen rief er Sir Durham an, den Ge lehrten, der die Zeichen zu deuten verstand. »Ich möchte Sie bitten, abermals eine Übersetzung vorzunehmen«, sagte er ihm. »Darf ich Sie im Laufe des Tages aufsuchen?« »Ich freue mich sehr, daß Sie anrufen«, erwiderte Sir Durham. »Es war nämlich ohnehin meine Ab 65
sicht, mich heute mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Bitte, kommen Sie so bald als möglich.« Sun Koh schüttelte ihm eine Stunde später die Hand und legte ihm dann den Stab hin. »Das ist der zweite Stab. Während mir der andere verlorenging, gelangte dieser in meinen Besitz. Wür den Sie bitte auch diese Zeichen übersetzen?« »Das ist ja großartig!« freute sich Sir Durham. »Nun sind alle drei Stäbe beisammen. Wissen Sie, warum ich mit Ihnen sprechen wollte?« »Nein.« »Ich habe mich telegrafisch mit Lord Fatherstone in Verbindung gesetzt. Ich habe angefragt, ob er ein verstanden ist, daß ich Ihnen im Austausch mit dem Wortlaut Ihres Stabes den Wortlaut des seinen verra te.« »Und?« »Er ist einverstanden und brennt darauf, den Text des zweiten Stabes zu erhalten. Wenn Sie also mit meinem Vorschlag einverstanden wären, dann …« »Selbstverständlich. Ich habe auch nichts dagegen, wenn Lord Fatherstone ebenso wie ich den Text aller drei Stäbe erhält.« »Sie sind sehr großzügig«, sagte Durham befrie digt. »Wie ich Fatherstone kenne, wird er Ihnen bei etwaigen Entdeckungen selbstverständlich den ent sprechenden Anteil einräumen.« 66
Er arbeitete einige Minuten und übergab dann die Übersetzung. Dazu holte er zwei andere Blätter her aus und legte sie daneben, so daß nun alle drei Über setzungen vor Sun Koh lagen. Sie stimmten in wesentlichen Zügen überein. Alle drei bezogen sich auf die Kugel und gaben verschie dene Geschwindigkeiten und Zeiten der Fortbewe gung an. »Die Masse der Kugel fehlt uns freilich«, bemerk te Sir Durham, während Sun Koh die Angaben über las. »Man könnte sie höchstens aus der Erinnerung schätzen«, meinte Sun Koh. »Es fehlen uns aber auch die Richtungen, in der die hier angegebenen Bewe gungen stattfinden sollen.« »In der Tat, über die Richtungen steht nichts hier.« »Die Richtungen werden durch die Einschnitte an der Kugel angegeben. Dann fehlt freilich eine weite re Bestimmung, nämlich die, welche die Normalstel lung der Kugel ist.« Sir Durham pendelte mit dem Kopf. »Selbst wenn alles vorhanden ist, stehen wir vor einer Aufgabe, die kaum lösbar erscheint. Wir hätten dann eben das berühmte Dreikörperproblem vor uns, das kein menschliches Gehirn zu lösen vermag. Ich habe mich übrigens deswegen erkundigt. Einer mei ner Freunde meint, man müßte sich an Professor 67
Martini an der Universität von Manchester wenden.« »Ist er fähig, ein derartiges Problem zu lösen?« »Aus eigener Kraft wohl auch nicht, aber er be treut das größte Elektronengehirn Englands.« Sun Koh lächelte nachdenklich. »Dann werde ich Professor Martini wohl einen Besuch abstatten.« * Professor Martini war nicht leicht zu erreichen und schien über wenig freie Zeit zu verfügen, so daß Sun Koh unmittelbar zur Sache kam, nachdem er einmal empfangen worden war. »Ich bin gekommen, Sie um eine Auskunft zu bit ten«, sagte er. »An einer Kugel befinden sich drei Stäbe, die nach verschiedenen Richtungen zeigen. Jeder Stab trägt Angaben über Zeit und Bewegungs geschwindigkeit der Kugel für die Bewegung im lee ren Raum mit dem Hinweis, die gegenseitige Anzie hung nicht außer acht zu lassen. Ist es möglich, den tatsächlichen Stand der Kugel in den gegebenen Zei ten zu berechnen und danach eine Ortsbestimmung vorzunehmen?« »Grundsätzlich ist es möglich«, erwiderte Martini sachlich. »Unser neuer Differentialanalysator läßt ei ne derartige Berechnung zu, vorausgesetzt, daß alle er 68
forderlichen Angaben vorhanden sind. Sie wissen wohl bereits, daß es sich um das berühmte Dreikörperpro blem handelt. Darf ich die Einzelangaben sehen?« Sun Koh legte ihm die drei Zettel hin, auf die er die Angaben der einzelnen Stäbe aufgezeichnet hatte. Professor Martini überlas sie, blickte dann auf Sun Koh, überlas sie zum zweitenmal und sagte dann kopfschüttelnd: »Das ist ja höchst merkwürdig.« »Finden Sie in den Angaben etwas Außergewöhn liches?« erkundigte sich Sun Koh. »Ja«, bestätigte Martini. »Würden Sie mir bitte sa gen, wie Sie zu diesen Angaben gekommen sind?« »Gern«, erklärte Sun Koh bereitwillig. »Dies hier sind Übersetzungen von Schriftzeichen der Matebele, die auf Bronzestäben eingeritzt waren. Zu den Stäben gehört eine Bronzekugel mit drei Einsteckschlitzen. Der erste Stab wurde Lord Fatherstone von einem Mann übersandt, dem er früher einmal geholfen hat te. Jener Mann, der sich dem Tode nahe fühlte, woll te dem Lord seine Dankbarkeit beweisen. Er teilte mit, daß der Stab mit zwei anderen zusammen die genaue Lage eines Schatzes in Zimbabwe angebe und daß er dem Lord seinen Anteil vermache. Lord Fatherstone reiste nach Zimbabwe. Es gelang ihm nicht, die beiden anderen Stäbe zu finden, er hoffte jedoch, in Zimbabwe auf die Lösung zu stoßen. Der zweite Stab wurde von einem Großhändler Rush in 69
einer Weizenprobe gefunden, die in einem verlöteten und versiegelten Behälter aus Kanada kam. Rush sprach wohl zuviel von seinem Fund und seinen Hoffnungen. Er wurde einen Tag darauf ermordet und seines Stabes beraubt.« »Ermordet?« murmelte Martini betroffen. »Das ist kein Scherz mehr. Und der dritte Stab?« »Den dritten Stab mit der Kugel drückte mir ein sterbender Mann in die Hand, wobei er ebenfalls von dem Schatz in Zimbabwe fabelte. Der Mann war meinem Eindruck nach wenig später tot, aber seltsa merweise verschwand er unter merkwürdigen Um ständen, so daß ich heute an seinem Tod zweifeln möchte. Um diese drei Stäbe ranken sich überhaupt eine Reihe eigenartiger Ereignisse, die sich nicht recht aneinanderfügen wollen. Ich wurde um meines Stabes willen allein zweimal überfallen. Das zwei temal ließ der Täter den Stab zurück, den Rush vor her besessen hatte, während mein eigener Stab durch einen falschen Kriminalbeamten abgeholt wurde und bisher nicht wieder auftauchte. Offenbar streiten sich verschiedene Gruppen um die Stäbe beziehungswei se um den Schatz.« Professor Martini begann in anscheinend starker Erregung auf und ab zu laufen. »Welcher Unfug!« stieß er dabei heraus. »Ein ge radezu unerhörter Vorfall! Unglaublich!« 70
Plötzlich blieb er dicht vor Sun Koh stehen. »Was sagen Sie dazu, daß diese Angaben auf den Zetteln von mir stammen?« »Von Ihnen?« Martini wurde ruhiger. Er lachte kurz auf. »Ja, von mir. Vor sechs oder sieben Wochen habe ich sie aufgeschrieben. Ich habe mir damals freilich nicht träumen lassen, was man damit anrichten könn te. Ein Amerikaner kam zu mir, um den Differential analysator zu besichtigen. Barkeley nannte er sich. Er machte einen guten Eindruck. Und er war sehr aufmerksam. Zum Schluß kamen wir auf solche Aufgaben, die nur der Apparat lösen kann. Er bat mich, eine Aufgabe zu dem Dreikörperproblem zu stellen. Warum hätte ich es nicht tun sollen? Und nun bringen Sie mir meine eigenen Angaben zurück und berichten mir von diesen unerhörten Vorkommnis sen. Nur die Kugelmasse fehlt hier, dazu die Bewe gungsrichtungen der Kugel.« »Das ist freilich eine überraschende Eröffnung«, sagte Sun Koh langsam. »Die Angaben sind frei er funden?« »Natürlich!« »Mit einem Schatz, der in der Ruinenstätte Zim babwe verborgen sein soll, haben Sie also nichts zu tun?« »Nicht das Geringste. Es wäre ja auch unmöglich, 71
auf solche Weise die Lage eines Schatzes anzugeben. Diese drei Bestimmungen ergeben doch nicht einen Punkt, sind also keine Ortsbestimmung im üblichen Sinn, sondern drei verschiedene Punkte im leeren Raum, die kilometerweit auseinanderliegen. Die An gaben können überhaupt nicht flächig auf die Erde übertragen werden, es ist also völliger Unsinn, da nach einen Schatz suchen zu wollen.« »Sie haben Ihre Angaben nur auf Papier niederge schrieben?« Martini nickte heftig. »Ich habe keine Ahnung, wie sie in diese Neger sprache und auf Bronze übertragen worden sind.« »Demnach hat dieser Amerikaner groben Miß brauch getrieben. Aber zu welchem Zweck und mit welcher Absicht?« Martini hob die Schultern. »Das möchte ich auch gern wissen. Wenn Sie kei ne Vermutung haben …« »Man könnte allenfalls an einen üblen Scherz glauben. Aber man müßte schon sehr humorvoll sein, um hierin etwas Scherzhaftes zu finden. Die Angele genheit bietet immer neue Verwicklungen. Können Sie mir den Amerikaner beschreiben?« Martini versuchte es, aber er hatte wohl wenig Gedächtnis für Menschen, denn Sun Koh konnte sich nach der Beschreibung keine rechte Vorstellung ma 72
chen. 3. Salisbury. Fort Victoria. Das Flugzeug nahm Kurs Südost. »Zimbabwe!« schrie Hal und wies nach unten. »Das wird es sein.« Unten dehnte sich eine tief gewellte Hügelland schaft, die weiter im Süden zu überdunsteten Berg ketten aufstieg. Sie wirkte einförmig und etwas dü ster, obwohl das warme Licht der untergehenden Sonne über ihr lag. Eine einzige Grassteppe schien dieser Teil von Rhodesien zu sein, wenn auch hier und dort Gruppen von Bäumen belebten, wenn auch gelegentlich nackter Felsen durch den Grasboden durchstieß. Unter dem Flugzeug wölbte sich ein schmales Steinband zu einer weiten Ellipse, innerhalb derer sich kleinere Ellipsen abzeichneten. Seitlich standen verstreut mehrere weiße Zelte, ein Stück entfernt ei nige Hütten. Bei den Zelten zog sich ein Streifen hin, den man offenbar von Steinen gesäubert hatte. Das Flugzeug senkte sich in weiter Schleife, die Erde bog sich heran, die Räder stauchten auf und rollten, dann stand die Maschine. 73
Während Sun Koh, Hal und Nimba ausstiegen, kamen von den Zelten her Menschen heran. Weit vor den anderen näherte sich eine Frau. Man hätte sie ihrer Kleidung nach für einen Mann halten können, doch aus der Nähe konnte man feststellen, daß es sich sogar um eine schöne Frau zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren handelte. »Hallo!« Sie winkte freundschaftlich, während sie herantrat. »Das nenne ich einen Tag der Überra schungen. Ich bilde mir fast ein, daß sich mein Auf enthalt an dieser weltverlorenen Stätte herumgespro chen hat.« Sun Koh drückte die gebotene Hand und nannte seinen Namen. »Die Welt spricht allerdings davon, daß die schöne Lady Orpinton in Zimbabwe weilt. Darf ich annehmen …« »Ich bin Lady Orpinton«, sagte sie lebhaft. »Sind das Ihre Diener?« »Meine Begleiter Hal Mervin und Nimba«, stellte Sun Koh vor. »Hier herrscht reger Betrieb.« »Mir scheint das auch«, stimmte Lady Orpinton zu. »Heute trafen zwei Flugzeuge mit Besuchern ein. Sie lernen die einzelnen Herren nachher noch ken nen. Ich gebe heute in meinem Zelt einen kleinen Empfang. Werden Sie kommen?« »Gewiß.« »Dann in einer halben Stunde dort drüben im gro 74
ßen Zelt. Oder wollen Sie erst noch Ihre Zelte auf schlagen? Ich kann Ihnen Hilfskräfte zur Verfügung stellen.« »Danke«, sagte Sun Koh. »Unser Flugzeug ist wohnlich eingerichtet.« »Um so besser. Die anderen Herren hatten es we niger angenehm. Entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch einige Vorbereitungen zu treffen. Dort kommt übrigens Lord Fatherstone, falls Sie ihn noch nicht kennen.« Die verschiedenen Herren, die sich anfänglich dem Flugzeug genähert hatten, waren bis auf einen wieder verschwunden. Dieser eine, ein hagerer Fünf ziger mit ausgemergeltem Gesicht, aber lebenskräfti gen, klaren Augen, kam jetzt heran. »Willkommen in Zimbabwe«, grüßte er mehr barsch als freundlich. »Mein Name ist Fatherstone. Haben Sie ein unabweisbares Bedürfnis gespürt, schnellstens die Ruinen zu sehen?« »So ähnlich«, sagte Sun Koh lachend und nannte seinen Namen. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich soll Ihnen Grüße von Sir Durham ausrichten.« Lord Fatherstone zog seine buschigen Brauen zu sammen. »Was haben Sie mit Durham zu tun?« »Einen kleinen Austausch mit Matebele-Texten.« »Äh!« Fatherstone stieß nur diesen kurzen Laut 75
aus, dann sah er sich Sun Koh erst einmal genauer an. Hal raunte entrüstet und laut: »Siehst du, Nimba, das ist ein richtiger Lord, unverschämt wie – wie …« Der richtige Vergleich fiel ihm nicht gleich ein, aber Fatherstone warf seelenruhig ein: »Wie ein halbwüchsiger Jüngling, der hinter den Ohren noch nicht trocken ist.« Hal reckte sich kampfbereit auf. Fatherstone winkte grinsend ab. »Angebot zum Boxkampf dankend abgelehnt. Ich schlage mich nicht mit Kindern, zumal wenn sie recht haben.« »Lassen Sie sich durch Hals Kritik nicht von die sem Grundsatz abbringen.« »Sicher nicht. Ich werde mich mit Ihnen noch wei ter über Durham unterhalten. Aber für jetzt ist Ver schönerung nötiger. Lady Orpinton erwartet mich in zwanzig Minuten.« »Mich auch.« Fatherstone kniff die Augen zusammen. »Ah ja – na, dann bis nachher.« Er tippte mit dem Zeigefinger an seinen Tropen helm und wandte sich ab. Eine halbe Stunde später betrat Sun Koh das ge räumige Doppelzelt, in dem Lady Orpinton ihre Gä ste empfing. Die Lady trug jetzt ein großes Abend 76
kleid. Vier von den sechs Herren, die außer Sun Koh anwesend waren, wirkten festlich durch schwarzen Dreß. Das war echt englisch. Man befand sich in ein samster Gegend, in einem Zeltlager, aber zum Abendempfang wurde der schwarze Anzug aus dem Koffer geholt. Sun Koh wurde von Lady Orpinton mit betonter Liebenswürdigkeit empfangen und den anderen Her ren vorgestellt. Lord Fatherstone war schon bekannt. Ferner kannte Sun Koh auch Sir Flyham. Dieser be herrschte Mann mit dem faltigen Gesicht war der gleiche, der ihm in London einen sterbenden Aben teurer vorgespielt hatte. Er verleugnete das jetzt na türlich und stellte sich genauso, als sähe er Sun Koh zum erstenmal in seinem Leben. Ähnlich verhielt sich Mr. Morley, der mit Flyham zusammen in Zim babwe eingetroffen war. Sun Koh erkannte mit Be stimmtheit in ihm einen der Träger, die den schein bar toten Abenteurer fortgeschafft hatten. Nach ihm schüttelte Sun Koh dem Sekretär und wissenschaftlichen Mitarbeiter der Lady, einem Mr. Falland, die Hand. Falland stand ungefähr in einem Alter mit Morley, etwa 35 Jahre alt. Sun Koh spürte vom ersten Augenblick an eine gewisse Feindselig keit, deren Gründe ihm erst später aufgingen. Zum Schluß lernte er die Herren Bender und Liverton kennen. Sie waren beide groß und muskulös, 77
mit harten, verschlossenen Gesichtern, die wenig von dem verrieten, was sonst noch in ihnen steckte. Sie nahmen Platz. Weißgekleidete Neger boten Speisen und Getränke. Die Gespräche schleppten sich mühsam hin. Es ging steif zu. Man war sich fremd, hatte gegeneinander zuviel Vorbehalte, oder war die Spannung zwischen den einzelnen Gruppen zu stark? Flyham und Morley gehörten zu der Gruppe hinter den Kulissen, von der das Spiel begonnen worden war. Man hatte eine Wette abgeschlossen, daß es ge lingen würde, einige Leute nach Zimbabwe zu brin gen. Drei Stäbe mit recht geheimnisvollen Angaben hatten diesem Zweck dienen müssen. Lord Father stone, der den ersten Stab erhalten hatte, war auch nach Zimbabwe abgereist. Der Großhändler Rush, der Empfänger des zweiten Stabes, war ermordet worden. An seiner Stelle befanden sich Bender und Liverton, von denen einer wohl der Mörder von Rush war, in Zimbabwe. Und Sun Koh, der Empfänger des dritten Stabes, leistete den verschiedenen Gruppen Gesellschaft. Lady Orpinton und ihre Mitarbeiter wußten nichts von diesen Dingen. Für sie waren die Herren Besucher, die aus irgendwelchen, etwas dunklen Gründen nach Zimbabwe gekommen waren. Lord Fatherstone wollte den verborgenen Schatz finden. Bender und Liverton erhofften das gleiche 78
und trugen sich wohl mit der Absicht, entgegenste hende Hindernisse bedenkenlos aus dem Weg zu räumen. Flyham und Morley wollten Fatherstone warnen und die beiden anderen überführen und be strafen. Sun Koh war aus ähnlichen Gründen ge kommen. Eine Steigerung der allgemeinen Anteilnahme trat erst ein, als Lady Orpinton auf ihre Grabungsarbeiten zu sprechen kam. »Oh, wir haben schon einige Erfolge«, versicherte sie auf eine Bemerkung hin. »Es steht auf jeden Fall fest, daß sich unter dem Schutt und Sand dieser Rui nen noch Spuren ihrer einstigen Bewohner finden. Zeigen Sie doch einmal die Tonscherben, Mister Falland, die wir heute ausgegraben haben!« »Aus welcher Tiefe?« fragte Sir Flyham. »Sechs Meter.« Falland gab eine Reihe von Tonscherben herum, von denen einige Bruchstücke von Zierbändern tru gen. Es handelte sich um braunen, einseitig vergla sten Ton. »Was sagen Sie dazu?« wandte sich die Lady an Sun Koh, als er eines der Stücke betrachtete. Er hob die Schultern. »Ich verstehe zu wenig davon, um mir ein Urteil erlauben zu können. Für mich unterscheiden sich diese Scherben nicht von anderen gewöhnlichen 79
Tonscherben.« »Vorausgesetzt, daß es nicht wirklich gewöhnliche Tonscherben sind«, warf Sir Flyham ein. »Ich könnte mir ganz gut vorstellen, daß sie von einem Krug stammen, der erst in der Gegenwart zerbrochen wur de. Ich bezweifle überhaupt, daß auf diesem Ruinen feld noch etwas verborgen ist.« »Ich auch«, stimmte Morley zu. »Aber, meine Herren«, wehrte sich die Lady, »ich hoffe sogar noch auf bedeutende Funde zu stoßen!« »Warum auch nicht?« meinte Bender. »Wie man hört, sollen hier ja auch noch Goldschätze verborgen sein!« »Goldschätze?« fragte sie kühl zurück. »So weit gehen meine Hoffnungen nicht.« Bender lächelte ihr vertraulich zu. »Was man schon besitzt, braucht man nicht erst zu erhoffen, nicht wahr? Sie haben doch schon Gold ge funden?« »Bis jetzt nicht die Spur«, gab Lady Orpinton er staunt zurück. »Wie kommen Sie auf die Vermu tung?« »Nun, man hat doch bereits in den Zeitungen dar über geschrieben.« Sie schüttelte den Kopf. »Darüber weiß ich nichts. Hier ist auch kein Gold gefunden worden. Wenn Sie etwa deswegen hierher 80
gekommen sind, werden Sie sicher enttäuscht wer den.« Jetzt sprang Lord Fatherstone ein. »Trotzdem kann ein Schatz hier im Boden stecken. Ich habe da schon seltsame Sachen erlebt. Man muß nur an der richtigen Stelle graben.« »Schade, daß Sie das nicht tun können«, sagte die Lady spöttisch. »Sie besitzen nämlich keine Ausgra bungserlaubnis.« »Irrtum.« Er grinste. »Habe ich mir rechtzeitig be sorgt!« »Ach!« »Dann wird Lord Fatherstone wahrscheinlich bald einen großen Goldschatz ausgraben«, sagte Liverton. »Ich vermute, daß er die richtige Stelle bereits kennt.« Fatherstone warf einen kurzen Blick zu ihm hin über. »Möglich«, erwiderte er barsch. »Ich werde sie Ihnen mitteilen, sobald ich meiner Sache sicher bin.« »Ein netter Scherz«, sagte Sir Flyham lachend. »Ebensogut kann ein Mann seinem Mörder mitteilen, daß er bereit ist, sich töten zu lassen.« Bender fuhr auf. »Wollen Sie damit sagen, daß ich ein Mörder bin?« Flyham musterte ihn lange. »Sie werden mir hof fentlich erlauben, einen Vergleich zu gebrauchen? Es 81
liegt mir natürlich völlig fern, eine Behauptung aus zusprechen, die sich nicht mit den Tatsachen deckt.« Bender sank brummend zurück. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal begriffen, wie geschickt Sir Flyham der gestellten Frage ausgewichen war. * Am nächsten Morgen blieb Nimba beim Flugzeug zurück, während Sun Koh und Hal einen Rundgang unternahmen. Es war schon ein seltsamer Anblick, mitten in die ser afrikanischen Steppenlandschaft die steinernen Ruinen zu sehen. Aus dem mannshohen Gras stieß eine mehr als zehn Meter hohe Mauer heraus. Sie war aus kleinen, behauenen Granitplatten kunstvoll gefügt. Ziemlich oben lief ein Zickzackmuster an der Mauer entlang. Diese Mauer schwang sich in weitem Bogen zu einer Ellipse herum. An drei Stellen befanden sich Eingänge, und zwar im Westen, Nordwesten und Norden. Alle drei Eingänge waren gerade breit und hoch genug, um einen einzelnen Mann durchschlüp fen zu lassen. In dem geräumigen Innenfeld standen mehrere Türme, die auf die gleiche Art wie die Mauer zu sammengefügt worden waren. Die Türme standen 82
frei, hatten also keine Berührung mit der Mauer, die sie überragten. Am eigentümlichsten wirkte es, daß sie die ellipsoide Grundform der Gesamtanlage wie derholten. Die Ruinenstätte der steinernen Ellipsen. Sonst gab es nämlich nichts, was man als Ruinen hätte be zeichnen können. Außerhalb wie innerhalb der Mau ern stand mannshohes Gras, in dem massenweise die Grillen zirpten. Einige Mimosenbäume bildeten schattige Gruppen. Dann und wann huschten Felsen hunde an der Mauer entlang. »Eine komische Bauweise«, fand Hal, nachdem sie einen Überblick gewonnen hatten. »Negerbauten sind das nicht. Aber von wem stammen sie sonst?« »Darüber grübeln die Gelehrten bereits seit Jahr zehnten, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu kommen«, sagte Sun Koh. »Diese Bauweise in stei nernen Ellipsen ist so eigenartig, daß sich einfach kein Gegenstück dazu finden läßt. Man spricht von einem unbekannten Volksstamm – mehr weiß man nicht.« »Hm, mächtig komisch, nicht wahr?« »Rätselhaft ist besser«, antwortete Sun Koh lä chelnd. »Man könnte fragen, wo sind die Bauten, die au ßer den Türmen innerhalb der Mauer gestanden ha ben, oder wo sind wenigstens die Reste davon? Soll 83
ten jene Menschen sich begnügt haben, Mauern und Türme für die Ewigkeit aufzuführen, dabei aber in leichten Hütten zu wohnen? Sie müssen eine verhält nismäßig hohe Kultur besessen haben, wie diese Re ste beweisen. Abgesehen davon ist die Ellipse als Grundform für Bauwerke ein Erzeugnis entwickelter Gehirne, die tragende Kultur ist bestimmt eigenartig geprägt. Und doch finden wir weder Vorläufer noch Nachläufer. Das ist schlechthin rätselhaft. Man kann nur annehmen, daß die Erbauer von Zimbabwe ein versprengter Rest eines Kulturvolkes waren, das in den letzten großen Erdkatastrophen verschwand.« »Während der Sintflut?« »Ja, in der Zeit, als der Erdteil Atlantis in den heu tigen Atlantik versank, als der Erdteil Râpa nui zu den Trümmerstücken des Stillen Ozeans zerbrach, als Lemurien im Indischen Ozean unterging, als die Kulturen verschwanden, die die Felszeichnungen in der Sahara und andere rätselhafte Reste schufen, als die Eisfelder von den Polen her über die Erde wan derten und sich die Meere am Äquator zu gewaltiger Höhe stauten. Die wenigen, die damals übrigblieben und von vorn begannen, trugen die Kunde von dem großen Ereignis in die Zukunft, nicht aber Einzelhei ten über das, was vorher gewesen war. Wir müssen die Vergangenheit unserer Erde erst neu entdecken und stehen eben heute gelegentlich vor Resten, die 84
sich nicht mehr deuten lassen. Doch komm, wir wol len uns die Ausgrabungsstätte ansehen.« Sie gingen zu der Senke hinüber, in der ein Trupp Neger geruhsam schaufelte. Oben stand Lady Orpin ton und beobachtete den Fortgang der Arbeiten. Sun Koh und Hal hatten sie eben begrüßt, als un ten bei den Negern lebhafte Bewegung entstand. Die Leute schnatterten eifrig, einer kletterte aus der Gru be heraus und schrie herüber: »Großer Fund – großer Fund!« »Also doch!« Die Lady atmete in Erinnerung an das gestrige Gespräch auf. »Ich wußte doch, daß wir bedeutende Entdeckungen machen würden.« Ein zweiter Mann kletterte aus der Grube. Er reck te der Lady eine angeschmutzte Flasche aus bläu lichhellem Glas hin. Sie war leer. Am kurzen Hals baumelte eine Verschlußkappe aus Steingut mit ei nem roten, verschrumpften Gummiring. An der Sei tenwand stand erhaben ausgeprägt: Shipper & Co. Kapstadt. Es war eine ganz gewöhnliche, alte Selterwasser flasche, die der Neger brachte. Lady Orpinton tippte fassungslos mit dem Finger darauf. »Das – das habt ihr gefunden?« »Großer Fund – großer Fund«, versicherte der Ne ger eifrig. »Aber das ist doch eine Selterwasserflasche!« 85
kreischte sie plötzlich wütend auf. »Scher dich fort!« »Eine Selterwasserflasche«, quiekte Hal hinter ihr. Lady Orpinton war blutrot im Gesicht, als sie sich zu Sun Koh umwandte. »Das – das war ein schlechter Scherz«, sagte sie mühsam. »Irgend jemand hat die Flasche hineinge worfen.« Sun Koh sah so ernst aus, als ob er nie gelacht hät te. »Vielleicht«, meinte Sun Koh. »Es scheint mir aber auch nicht ausgeschlossen, daß die Flasche schon einige Jahrzehnte unter dem Schutt liegt.« »Nein«, wehrte sie ab, »wie sollte sie dorthin kommen?« »Sie haben wahrscheinlich die Geschichte dieser Ruinenstätte nicht kennengelernt, Mylady«, erwider te Sun Koh schonend. »Die Berichte über die ersten Grabungen sind auch fast verschollen, so daß es mir selbst in London einige Mühe bereitete, sie zu erhal ten.« »Was wollen Sie damit andeuten?« »Es heißt in diesen Berichten, daß man bereits an vielen Stellen bis auf den Felsen heruntergegraben hat, also bis zu zehn Meter Tiefe, daß ferner die Goldsucher wohl kaum eine Stelle des Innenfeldes undurchwühlt gelassen haben. Es erscheint mir durchaus denkbar, daß Flaschen und ähnliche über 86
flüssige Dinge in die ausgehobenen Gruben wander ten und so in die Tiefe gerieten.« Sie biß sich auf die Lippen. »Das wußte ich nicht. Ich nahm nicht an, daß man bereits so gründlich gesucht haben könnte. Ich … Es war nicht meine Absicht, wieder Löcher auszugra ben, die vor Jahrzehnten zugeworfen wurden.« »Vielleicht treffen Sie eine andere Stelle, die alle Enttäuschungen ausgleicht.« Sie erwiderte nichts, sondern schritt auf die Grab stelle zu. Sun Koh und Hal folgten. Sie sahen noch, wie die Neger einige verbeulte Konservendosen her ausholten, dann gingen sie schleunigst in anderer Richtung weiter. Am westlichen Turm stand Lord Fatherstone. Ein Neger räumte Schutt weg, den ein anderer Neger durch die schmale Öffnung aus dem Turminneren herauswarf. »Morgen«, erwiderte der Lord Sun Kohs Gruß. »Hat die Lady etwas gefunden?« »Selterwasserflaschen und leere Konservendosen.« Fatherstone zog die Stirn in Falten. »Hm, das wird sie schwer enttäuschen. Ich hoffe, glücklicher zu sein.« »Hoffen Sie das wirklich?« fragte Sun Koh be deutsam. »Ja.« 87
Sun Koh blickte Fatherstone forschend an. »Hat Ihnen Sir Durham nicht mitgeteilt, daß die drei Angaben auf den Stäben sinnlos sind und keinen bestimmten Ort ergeben?« »Das hat er.« Fatherstone nickte. »Aber gestern erhielt ich kurz vor meinem Abflug noch eine Mittei lung. Durham teilte mit, daß ihm jetzt die Deutung einiger Unklarheiten gelungen sei. Der Goldschatz müsse sich im westlichen Turm befinden.« »Unmöglich!« Fatherstone schnippte mit den Fingern. »Wieso unmöglich? Ich habe mir in meinem Le ben selten die Mühe gemacht, einen Mann zu belü gen.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Aber wenn Sir Durham die Nachricht geschickt hat, so hat er Sie belogen.« »Dann könnte er sie also nicht geschickt haben«, folgerte Fatherstone. »Bin neugierig, warum das nicht stimmen soll.« »Ich kenne den Mann, der den Text für die Stäbe aufgesetzt hat. Sie sind das Opfer eines üblen Scher zes geworden. Lassen Sie sich erzählen.« »Bitte.« Sun Koh gab einen kurzen Abriß der Ereignisse in London, die dazu geführt hatten, daß nun Zimbabwe so eifrig besucht war. 88
Lord Fatherstone schüttelte wiederholt den Kopf. »Die seltsamste Geschichte, die ich je gehört ha be«, sagte er schließlich. »Ich denke, ich werde mit verschiedenen Herren darüber noch ein Wörtchen zu reden haben. Unverschämtheit, mich einfach von London fortzulocken … Ah, was ist das?« Er stürzte auf den Haufen zu, den der Neger aus dem Turm herausschaufelte und hob etwas auf, gleich darauf noch etwas. Dann richtete er sich wie der auf und betrachtete seinen Fund, der auf der fla chen Handfläche lag. Gelbglänzende Brocken von Erbsengröße. »Gold!« »Gold?« Nie war Sun Koh erstaunter gewesen als jetzt. Er nahm eins der Stücke aus dem Handteller und prüfte es. »Zweifellos Gold!« »Nun schlägt’s dreizehn«, murmelte Hal. Lord Fatherstone wühlte schon wieder in dem Haufen, der eben durch neuen Schaufelwurf vergrö ßert worden war. Er las annähernd ein Dutzend Goldbröckchen heraus, dann befahl er den Negern, die Arbeit einzustellen. »Was sagen Sie dazu?« fragte er Sun Koh. »Dur ham scheint doch genau Bescheid zu wissen.« Sun Koh wischte die Behauptung mit einer Hand 89
bewegung weg und sagte ernst: »Ich habe in dieser Angelegenheit manche seltsame Wendung erlebt, Lord Fatherstone, aber das scheint mir denn doch die seltsamste zu sein. Die seltsamste und zugleich die gefährlichste, denn dieses Gold zieht Ihnen Mörder auf den Hals.« »Oh, ich fürchte mich nicht vor Mördern.« »Ich hoffe, daß Sie den Gefahren zu begegnen wissen. Im übrigen halte ich das für keinen echten Fund. In diesem Turm ist doch sicher schon früher nachgegraben worden.« Fatherstone hob die Schultern. »Die Leute kom men nicht immer auf das Einfachste. An dem Gold ist nicht zu zweifeln.« »Man wird eine Handvoll hineingeworfen haben.« »Das wäre das Seltsamste und Verrückteste, was ein Mann tun könnte. Mein Freund Durham müßte einen verdammt langen Arm haben, wenn er das hät te tun wollen.« Sun Koh verzichtete auf weitere Auseinanderset zungen. Lord Fatherstone war augenblicklich nicht zu überzeugen. * Die Entdeckung des Goldes erregte naturgemäß be trächtliches Aufsehen im Lager. Die verschiedenen 90
Gruppen gingen auf den Turm zu und überzeugten sich an Ort und Stelle. Sun Koh stellte Flyham und Morley, als sie vom Turm aus zum Lager zurückkehrten. »Ich möchte Sie einige Augenblicke sprechen«, sagte er. »Bitte«, gab Sir Flyham steif zurück. »Lord Fatherstone hat Gold gefunden. Warum ha ben Sie das Gold in den Turm gebracht?« Flyham zeigte nichts als ablehnende Verwunde rung. »Ich verstehe Ihre Frage nicht!« »Sie verstehen mich sehr wohl«, gab Sun Koh unmutig zurück. »Sie sollten allmählich einsehen, daß es besser für Sie ist, auf weitere Heimlichkeiten und Überraschungen zu verzichten. Bis heute nacht hat sich im Turm sicher kein Gold befunden. Es ist von Ihnen erst hineingeworfen worden.« »Sie unterstellen uns ja seltsame Handlungen.« »Diese Goldtaufe ist nicht seltsamer als andere Vorkommnisse«, erwiderte Sun Koh scharf. »Sie ha ben zum Beispiel in London mir gegenüber einmal den Toten gespielt. Oder wollen Sie auch das noch leugnen?« »Gewiß«, sagte Flyham kühl. »Dann treiben Sie das Spiel weiter, als ich erwar ten konnte. Nun gut, richten wir nicht über diese ver gangenen Dinge. Lord Fatherstone befindet sich auf 91
Ihre Veranlassung hier. Es wäre mir gelungen, ihn zu überzeugen, daß ein übler Scherz mit ihm getrieben wurde, wenn nicht dieser Goldfund dazwischenge kommen wäre. Die Herren Bender und Liverton be finden sich mittelbar ebenfalls auf Ihre Veranlassung in Zimbabwe. Einer von ihnen ist der Mörder von Rush. Ich nahm an, Sie seien gekommen, um diese beiden zu stellen. Es ist mir unbegreiflich, daß Sie sich nicht damit begnügen, sondern neue Verwirrung stiften.« Flyham schüttelte den Kopf. »Es sind wirklich seltsame Dinge, die Sie mir er zählen. Aber wenn Ihre Vermutungen zutreffen wür den – könnte Ihnen dann nicht unsere Handlungswei se folgerichtig erscheinen? Wenn diese Herren Bender und Liverton Verbrecher sind, muß man sie doch offenbar dazu verlocken, sich eine Blöße zu geben.« Jetzt verstand Sun Koh. Er verstand und erschrak zugleich. »So also«, sagte er langsam. »Lord Fatherstone muß Gold finden, damit die beiden anderen zu ver brecherischen Taten veranlaßt werden, bei denen man sie fassen kann.« Er schwieg einen Augenblick, dann brach der Zorn aus ihm heraus: »So denken und handeln Narren, Sir Flyham! Haben Sie nicht bedacht, in welche Gefahr Sie Lord Fatherstone dadurch stürzen? Wenn hier ein 92
Verbrechen begangen werden sollte, so dürfte es sich in erster Linie gegen Lord Fatherstone richten. Ihr trauriges Spiel dürfte damit schnell ein weiteres Op fer finden.« Flyham wehrte unbewegt und undurchdringlich ab. »Vergessen Sie nicht, daß wir nur von theoreti schen Annahmen ausgingen. Von diesen aus würden wir selbstverständlich die Überwachung und Betreu ung Lord Fatherstones übernehmen und ernste Zwi schenfälle verhüten.« »Sehr nett«, sagte Sun Koh, »aber sind Sie auch wirklich imstande dazu? Können Sie der Verantwor tung, die Sie übernommen haben, Genüge tun? Wie nun, wenn es diesen Berufsverbrechern doch gelingt, zum Erfolg zu kommen?« Flyham hob die Schultern und verzichtete auf Antwort. Sun Koh trat dicht an ihn heran. »Ich bitte Sie, noch einmal darüber nachzudenken, Sir Flyham. Bis jetzt habe ich Ihr Spiel geduldet. Stirbt Lord Fatherstone, so werde ich nicht mehr schweigen, sondern Sie und Ihre Freunde dem Skan dal aussetzen, den Sie offenbar mehr als alles andere fürchten. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie sich mit Lord Fatherstone offen aussprechen und ihm alles eingestehen, so daß er nicht nutzlos weiter nach Gold sucht. Und ich erwarte, daß Bender und Liverton un verzüglich erfahren, was es mit den Goldfunden auf 93
sich hat, damit sie nicht auf neue Verbrechen sinnen, die Sie nicht abzuwehren vermögen.« Flyham und Morley schwiegen. Sun Koh ließ sie stehen. Die beiden ließen sich tatsächlich kaum sehen und dachten offenbar nicht daran, so zu handeln, wie es Sun Koh verlangt hatte. Lord Fatherstone buddelte ganz allein und ohne Hilfe in dem Haufen herum, den die Neger am frühen Morgen aufgeworfen hat ten. Er wies am Abend eine gewichtige Hand voll Goldkörner vor. Bender und Liverton unternahmen Spaziergänge. Lady Orpinton fing am Nachmittag Sun Koh ab und wich ihm stundenlang nicht von der Seite, worüber Falland offensichtlich recht erbost war. Die Neger, die weder durch die Lady noch durch den Lord beansprucht wurden, feierten einen freien Tag. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit stellte Sun Koh die beiden, die ihm gefährlich erschienen. Er reichte Bender und Liverton einen Zettel, den er vorbereitet hatte. »Ich möchte Ihnen zunächst dies übergeben«, sag te er. »Es sind die drei Texte, die auf den Bronzestä ben gestanden haben. Darunter finden Sie die Über setzung.« Die beiden beugten sich über den Zettel. Erst nach einer ganzen Weile meinte Bender vorsichtig: »Wo 94
zu geben Sie uns das? Und was sind das für Bronze stäbe, von denen Sie sprechen?« »Über die letzte Frage wollen wir uns nicht unter halten, denn die können Sie so gut wie ich beantwor ten. Aber im übrigen will ich Ihnen reinen Wein ein schenken. In London wurde ein gewisser Rush er mordet. Ich will nicht behaupten, daß einer von Ih nen der Mörder ist, aber zweifellos arbeiten Sie mit dem Mörder zusammen.« »Das ist…«, fuhr Liverton auf. »Warten Sie«, sagte Sun Koh kühl. »Ich ziehe nicht mehr Folgerungen, als unbedingt erforderlich sind. Sie sollen nur wissen, wie ich sie sehe. Rush wurde um eines Bronzestabes willen ermordet, der mit anderen zusammen die Lage eines Schatzes in diesen Ruinen angeben sollte. Tatsächlich sind die Texte auf den Stäben aber willkürlich angefertigt worden. Ich habe sie Ihnen aufgeschrieben. Sie erge ben keine Ortsbestimmung und sollen es auch nicht tun. Es gibt nämlich keinen verborgenen Schatz in Zimbabwe.« »Ach nein!« warf Bender höhnisch ein. »Ich wiederhole meine Behauptung, obwohl ich den Fund Lord Fatherstones ebenso wie Sie kenne. Die Bronzestäbe wurden um einer Wette willen an gefertigt und verschiedenen Herren in die Hände ge spielt. Es ging allein darum, einzelne Personen zu 95
veranlassen, sinnlos in eine solche Gegend wie Zim babwe zu reisen. Es war also ein übler Scherz von Leuten, die ihre Mitmenschen für Spielzeuge halten. Der Ablauf wurde durch den Mord an Rush gestört. Jene Leute erkannten wohl bis zu einem gewissen Grad ihre Verantwortlichkeit und beschlossen, nun wenigstens die Mörder zu stellen und zu bestrafen. Deswegen wurde das Spiel weitergeführt. Da die Mörder reisten, trafen auch diejenigen ein, die den Mord an Rush rächen sollen.« »Flyham und Morley?« murmelte Liverton. »Ganz recht«, bestätigte Sun Koh. »Nun ist es für die beiden nicht leicht, ihr Ziel zu erreichen. Sie sind zwar beide vorbestrafte Verbrecher und werden in den Polizeiakten …« »He, das …« begehrte Bender auf. »Ich weiß es«, fuhr Sun Koh fort. »Wozu wollen Sie bestreiten, was sich jederzeit nachweisen läßt. Nicht nachweisen läßt sich aber, daß Sie an jenem Mord beteiligt waren, obgleich Ihre Reise nach Zim babwe verdächtig ist. Man wird Sie erst in dem Au genblick bestrafen oder richten, in dem Sie irgendei ne Handlung begehen, die nicht mit den Gesetzen in Einklang steht, also etwa einen Angriff auf Lord Fatherstone unternehmen. Die Rächer, wenn ich sie so nennen darf, brauchen eine derartige Handlung Ih rerseits. Deshalb fand Lord Fatherstone heute Gold.« 96
Liverton verstand sofort. »Der Schutt ist getauft?« »Ja, man hat einige Hände voll Goldkörner hi neingeworfen.« »Das müßte erst noch bewiesen werden«, entgeg nete Bender zurückhaltender. »Sie können uns natür lich leicht Märchen erzählen.« »Es ist besser, Sie glauben mir«, sagte Sun Koh ernst. »Ich habe mit Flyham und Morley gesprochen und sie gebeten, für entsprechende Aufklärung zu sorgen. Da das bisher nicht geschehen ist, mache ich Sie auf die tatsächlichen Verhältnisse aufmerksam.« »Sehr großzügig«, spottete Bender. »Lassen Sie sich warnen. Lord Fatherstone steht unter meinem Schutz. Geschieht hier irgend etwas Ungesetzliches, werde ich mich um Sie kümmern!« Sun Koh verließ sie ohne die Gewißheit, daß sie seine Mahnung beachten würden. Dann kam die Nacht. Sun Koh bezog einen Platz, von dem aus er das Zelt Fatherstones leidlich beobachten konnte, ohne von den anderen Zelten aus gesehen zu werden. Stunden vergingen. Nach Mitternacht tappten vorsichtige Schritte her an. Ein Mann schritt durch das freie Gelände zwi schen den Zelten. Er kam dicht an Sun Koh vorbei. »Noch so spät unterwegs, Mister Bender?« fragte 97
Sun Koh sanft. Bender zuckte zusammen. Fast hätte er einen schmalen Karton fallen lassen, den er unter dem Arm trug. »Was – wer …«, würgte er heraus. »Lassen Sie Ihre Waffe getrost wieder los«, riet Sun Koh gelassen. »Wenn Sie näher herantreten, werden Sie mich erkennen.« Bender kam noch zwei Schritte heran. »Sie sind es?« murmelte er. Und dann wurde er plötzlich heftig: »Verdammt, was fällt Ihnen ein, mich so zu erschrecken? Haben Sie nichts Besseres zu tun, als hier herumzusitzen?« »Ich könnte die Frage zurückgeben«, erwiderte Sun Koh ruhig. »Warum laufen Sie mitten in der Nacht hier herum? Wollen Sie Lord Fatherstone ei nen Besuch abstatten?« »Wie käme ich dazu? Ich konnte nicht schlafen, da bin ich eben ein bißchen spazierengegangen. Haben Sie etwas dagegen?« »Aber nein. Beabsichtigen Sie, Nachtschmetter linge zu sammeln?« Bender schloß den Arm fester um den Kasten. »Wie kommen Sie auf den Einfall?« murrte er. »Den Kasten habe ich gefunden. Ich dachte, man könnte ihn verwenden.« Damit ging er weg. Die Nacht verschluckte ihn 98
bald. Sun Koh erriet mehr, daß er sich im Bogen zu seinem Zelt zurückschlug. Auf jeden Fall vermied er es, an Lord Fatherstones Zelt heranzukommen. Sun Koh setzte sich ein Stück seitwärts. Bender und Liverton brauchten nicht gerade haargenau den Platz zu kennen, an dem sie ihn treffen konnten. Eine halbe Stunde später näherten sich abermals Schritte. Wieder Bender. »Mister Sun Koh?« fragte er gedämpft. »Hier.« »Ach, dort sind Sie jetzt?« Bender kam heran. »Wollen Sie mich sprechen?« »Nein«, erwiderte Bender, »ich hatte nur keine Lust, von neuem zu erschrecken. Haben Sie was da gegen, wenn ich mir eine Zigarette anbrenne?« »Es ist nicht meine Sache, es Ihnen zu verbieten oder zu erlauben.« Eine Flamme zuckte auf und erlosch wieder. Röt lich glühend blieb der kleine Kreis vor Benders Ge sicht stehen. Wenn er an der Zigarette zog, ging ein heller Schein über sein Gesicht. »Wo haben Sie denn den Kasten?« erkundigte sich Sun Koh. »Fortgeworfen.« »So?« »Ich dachte mir, er könne jemandem gehören.« »Sie haben ein feines Rechtsempfinden. Ist Mister 99
Liverton zufällig auch unterwegs?« »Er schläft.« Sie schwiegen eine Weile, dann fuhr Bender fort: »Sie haben uns heute nachmittag ver schiedene Dinge erzählt, Mister Sun Koh. Ich glaube, Sie schätzen uns völlig falsch ein. Wir haben nicht die geringste Absicht, hier unangenehm aufzufallen.« »Sehr erfreulich.« »Sie können uns das glauben«, versicherte Bender. »Es wäre doch …« Sun Koh schob ihn beiseite. »Einen Augenblick. Mir scheint, daß dort jemand an Lord Fatherstones Zelt herumschleicht.« »Wo?« Bender trat voll Absicht oder Ungeschick so zur Seite, daß Sun Kohs Blick verdeckt wurde. »Genau in der Richtung, in die Sie sich hineinstel len«, gab Sun Koh scharf zurück und trat neben ihn. »Seien Sie vorsichtig, Bender!« Er spähte zu dem Zelt hin. Vor der hellen Lein wand bewegte sich tatsächlich ein dunkler Schatten. Jetzt verschwand er. Ein Schuß peitschte durch die Stille. Er kam vom Zelt des Lords her. Sun Koh umklammerte mit stählernem Griff den Arm seines Nachbarn. »Also doch! Vorwärts, Bender, sonst…« »Was wollen Sie denn?« wehrte sich Bender. »Ich …« 100
»Sie wollen sich zweifellos auch überzeugen, was dort geschehen ist«, sagte Sun Koh. »Laufen Sie, oder …« Bender lief neben Sun Koh her. Im Zelt des Lords wurde es hell. Als die beiden an das Zelt herankamen, trat Lord Fatherstone heraus. »Gott sei Dank«, sagte Sun Koh. »Sind Sie ver letzt?« »Nein«, sagte Fatherstone. »Hat man auf Sie geschossen?« »Geschossen habe ich. Und getroffen. Ich muß seinen Arm erwischt haben.« »Wer ist es?« »Keine Ahnung.« »Man hat Sie überfallen wollen?« Lord Fatherstone wies in sein Zelt hinein. »Kann man wohl sagen. Sehen Sie sich das an.« Auf dem Lager kroch ein handgroßer Skorpion. »Also ein gemeiner Mordversuch«, stellte Sun Koh düster fest. »Ein Glück, daß Sie ihn rechtzeitig bemerkt haben.« Lord Fatherstone grinste dünn. »Was heißt bemerkt? Wenn ich dort gelegen hätte, wäre es aus gewesen. Ich habe aber in der Ecke ge sessen und auf den Mann gewartet.« »Sie rechneten mit einem Anschlag?« »Ich habe noch nie eine ernsthafte Warnung in den 101
Wind geschlagen. Schätze, ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.« »Wie ging der Überfall vor sich?« Der Lord hob die Schultern. »Ich sah nur einen Arm, der herankam und einen Karton oder Ähnliches ausschüttete. Ich schoß auf den Arm und habe sicher getroffen, denn der Kerl fluchte. Er war aber fort, bevor ich hinauskam.« Sun Koh blickte auf Bender, der ziemlich betrof fen dreinblickte. »Skorpione kann man freilich nicht mit der bloßen Hand tragen. Ein Karton wäre wohl der geeignetste Aufbewahrungsort, nicht wahr, Mister Bender?« »Warum fragen Sie mich?« gab Bender mürrisch zurück. »Ich entsinne mich, daß Sie mit einem Karton un ter dem Arm herumliefen, Mister Bender. Es wäre peinlich für Sie, wenn Ihr Freund Liverton zufällig eine Schußwunde am Arm haben sollte.« »Was geht mich das an?« begehrte Bender auf. »Sie wissen doch am besten, daß ich nicht beteiligt war. Ich habe doch neben Ihnen gestanden.« Sun Koh erwiderte nichts darauf, sondern wandte sich wieder an den Lord. »Wo ist Ihr Diener?« »Beim Turm«, entgegnete Fatherstone. »Ich habe ihn hingeschickt, damit jemand Wache steht.« Nun kamen die Bewohner der anderen Zelte heran. 102
Flyham und Morley senkten den Blick, als Sun Koh sie ansah. Liverton erschien nicht. »Schätze, er wird sich erst seinen Arm verbinden«, meinte Lord Fatherstone. »Wir müssen ihn sofort stellen«, drängte Sir Fly ham. Es gab darüber nicht viel zu reden. Im geschlosse nen Trupp gingen sie auf das Zelt zu, das Bender und Liverton gehörte. Bender hielt sich bei Sun Koh. »Mister Liverton?« Als keine Antwort kam, schlug Sun Koh den Zelt streifen zurück und leuchtete hinein. Das Zelt war leer. »Er ist geflohen«, murmelte einer. Sun Koh blickte im Kreis herum. »Man flieht nicht in der Nacht durch die Steppe. Wir müssen uns auf weitere Auseinandersetzungen gefaßt machen. Ist jemand unbewaffnet?« Die Antworten verrieten, daß selbst Lady Orpinton eine Waffe bei sich trug. »Ihre Pistole, Bender!« Bender händigte sie stumm aus. »Ich brauche Sie wohl nicht weiter zu warnen«, fuhr Sun Koh fort. »Mylady, Sie bleiben am besten mit Mister Falland gleich hier und bewachen Mister Bender. Wir anderen wollen das Gelände absuchen.« Es kam nicht recht zu einer Suche. Zwanzig Meter 103
seitlich vom Zelt entdeckte Morley etwas. »Hier ist er!« rief er den anderen zu, die sich eben zerstreuen wollten, worauf die Männer eilig heran kamen. Liverton lag stumm und reglos in einer Steinmulde. »Tot?« »Ich habe ihn doch nur am Arm getroffen«, mur melte Fatherstone. Morley richtete sich auf. »Er ist von hinten erstochen worden. Zwischen den Schulterblättern sitzt ein Messerstich.« »Was?« Die Blicke begegneten sich in ratloser Verwunde rung. Sun Koh untersuchte den Toten noch einmal. »Es stimmt!« bestätigte er. »Am rechten Arm be findet sich ein frischer Durchschuß, der wohl von Lord Fatherstone stammen dürfte. Liverton hat also den Anschlag begangen. Er ist dann von hinten nie dergestochen worden, während er sich auf dem Rückweg zu seinem Zelt befand.« 4. Bemerkungen voll Bestürzung und Verwirrung gingen hin und her. Dieser Tod paßte nicht zu den Vorstellun gen, die sich die einzelnen Personen gemacht hatten. Sun Koh trat an Sir Flyham heran. 104
»Das ist Ihr Werk, Sir Flyham«, sagte er leise. »Er war ein Mörder, aber er ist von hinten niedergesto chen worden. Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen?« »Ich denke nicht daran«, erwiderte Sir Flyham heftig. »Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun.« »Und Morley?« »Auch nicht. Wir haben beide geschlafen und das Zelt erst verlassen, als Mister Falland vorüberkam. Mister Falland kann das bestätigen.« »Der Spielraum an Zeit war groß genug, um zu Ih rem Zelt zurückzukommen.« »Mag sein, aber wir haben trotzdem nichts damit zu tun. Mein Wort darauf.« »Liverton ist tot. Irgend jemand muß sein Mörder sein.« »Aber wir nicht«, entgegnete Sir Flyham nach drücklich. »Wollen wir nicht zu meinem Zelt gehen?« schlug Lady Orpinton vor. »Es ist schaurig, hier im Dunkeln herumzustehen. Wir können bei mir weiter über die Angelegenheit sprechen.« Der Vorschlag wurde angenommen. Auf halbem Weg erklärte Sir Flyham flüchtig, daß er sich noch eine Jacke aus seinem Zelt holen wolle und bog ab. Man ließ sich im Zelt der Lady nieder. »Warten Sie bitte noch mit der Gerichtssitzung«, 105
sagte Lady Orpinton mit einem mühsamen Versuch, die düstere Stimmung etwas aufzulockern. »Ich will zunächst einen Tee zubereiten lassen. Haben Sie Jim gesehen. Mister Falland?« Jim war der Diener der Lady. Falland verneinte. »Ich glaube gar, er schläft trotz der aufregenden Ereignisse«, wunderte sie sich. »Bitte, seien Sie so liebenswürdig und wecken Sie ihn. Er soll Tee zube reiten.« Falland verbeugte sich und ging hinaus. Sun Koh neigte sich zu Morley hin. »Ich hoffe, daß Sie sich inzwischen entschlossen haben, volle Aufklärung zu geben. Sie würden mich sonst zwin gen …« Ein dumpfer Aufschrei kam von draußen, unbe stimmte Geräusche folgten, dann taumelte Falland herein. Sun Koh konnte ihn gerade noch auffangen. Falland blutete. »Sie haben …« »Wer?« Falland riß noch einmal die Augen auf. »Die Neger!« Er sank schlaff zusammen. Plötzlich begriffen alle, was sie vorhin nicht be griffen hatten. Zur Expedition der Lady gehörten ei nige Dutzend Neger. Einer von ihnen mußte Liverton niedergestochen haben. »Zurück!« befahl Sun Koh scharf, während er 106
Falland vorsichtig niederlegte. »Bleiben Sie, Lord Fatherstone. Diese Nacht kommt uns ohnehin teuer genug zu stehen.« Fatherstone schwenkte seine Pistole. »Mein Diener ist auch noch draußen …« »Ich werde mich nach ihm umsehen.« »Warum wollen Sie denn …« »Ich schieße schneller als Sie.« Er öffnete das Zelt. Ein Schuß knallte, die Kugel zischte durch das Zelt hindurch. »Licht aus!« Schwärze füllte das Zelt. »Legen Sie sich auf den Boden«, ordnete Sun Koh weiter an. »Ich verlasse das Zelt auf der anderen Sei te. Decken Sie die Öffnung mit.« Ein Messer fuhr mit leisem seufzendem Zischen durch gespannten Stoff. Sun Koh spähte durch die Lücke, stieg hinaus. Die Dunkelheit war kaum zu durchdringen. Er mußte sich mehr auf das Ohr als auf das Auge ver lassen. Vor ihm war das Gelände frei. Rechts von dem Zelteingang lauerten dunkle Gestalten. Knapp hundert Meter entfernt stand das Zelt Sir Flyhams. Dort regte sich nichts. Der Handscheinwerfer flammte auf. Vier schwarze Gestalten hoben sich scharf aus der Dunkelheit her aus. Sie trugen alle Gewehre oder Pistolen, mit denen 107
sie jetzt herumrückten. Sun Koh schoß. Unmittelbar nach dem zweiten Schuß wurde seine linke Hand durch einen heftigen Schlag zurückge schleudert. Die Lampe verlosch. Einer der Gegner mußte sehr gut schießen oder durch Zufall glücklich getroffen haben. Die nächsten Schüsse feuerte Sun Koh aufs Geratewohl. Hastige Schritte verrieten Flucht. Da blitzte vom Flugzeug her Licht auf, Geräusche kamen herüber, Schüsse folgten. »Heraus!« rief Sun Koh in das Zelt hinein. »Es ist besser, Sie decken nun von außen. Bleiben Sie aber zusammen. Ihre Taschenlampe, Bender!« Bender reichte sie ihm. Sun Koh begann zu laufen. Niemand kreuzte seinen Weg zum Zelt Sir Flyhams. Kurz vor dem Zelt stieß er auf Flyham. Er lag stumm und reglos im Gras. Ein Stück weiter lag sein Diener. Beide waren erstochen. Sun Koh lief zurück, verständigte kurz die War tenden und setzte seinen Weg zum Flugzeug fort. Auf halbem Weg schlug ihm ein dunkler Körper quer vor die Füße. Sun Koh konnte nicht mehr ab stoppen, aber er warf sich entschlossen nach vorn und rollte über die Schulter wieder zum Stand. Rechts und links wuchsen zwei Schatten über ihm auf. Da ging er nicht erst hoch, sondern wuchtete zur 108
Seite. Sein Arm faßte schmierige Füße, seine Schul ter prallte gegen Kniescheiben, der Mann stürzte mit einem Aufschrei nach hinten und schlug hart auf. Der zweite Gegner bückte sich, aber Sun Koh glitt rechtzeitig zur Seite und sprang auf. Da war auch der dritte, der sich vor seine Füße geworfen hatte. Sun Koh sah einen Arm heruntersausen, fing ihn mit dem eigenen Arm auf und drehte zu einer Kreisschleuder nach, so daß der Neger vor Schmerz aufbrüllte und in panischem Schrecken davonlief, sobald Sun Koh los ließ. Und Sun Koh ließ los, um den anderen abzuweh ren, der ihn umklammern wollte. Das war ein riesiger Bursche, der sich auf seine Kräfte verließ. Er stieß ei nen komisch schnappenden Laut aus, als ihn Sun Koh an der Kehle traf, taumelte zurück und verschwand. Sun Koh lief weiter. Nimba hatte die Wache, als es drüben bei den Zel ten lebendig wurde. Weisungsgemäß kümmerte er sich nicht darum, sondern wartete ab. Aber Hal fuhr aus dem Schlaf. »Was ist denn los?« erkundigte er sich schlaftrun ken. »War das nicht ein Schuß?« »Ja«, bestätigte Nimba. »Deswegen darfst du aber getrost weiterschlafen.« Hal erhob sich. »Nun nicht mehr. Schließlich will ich doch nicht mein ganzes Leben verschlafen.« 109
Am Metallrumpf des Flugzeuges wurde behutsam geklopft, dann kam eine leise, kehlige Stimme: »Mi ster! Mister!« Nimba öffnete die Tür und beugte sich hinaus. »Was ist denn?« »Kein Licht«, zischte die Stimme. »Wichtige Bot schaft von Mister Sun Koh.« Nimba sprang schon. Seine Füße berührten kaum den Boden, als er nicht einen, sondern gleich drei Neger sah, die nach ihm griffen, während sich der Sprecher an der Tür hochzog. »Vorsicht, Hal!« Hal sah ein dunkles Gesicht hochkommen und stieß unverzüglich mit der Faust zu. »Gehst du weg!« fauchte er dabei ingrimmig und nahm das Bein zu Hilfe, worauf der Angreifer aus der Öffnung verschwand. Unten wütete Nimba. »Verfluchte Heimtücker!« Nimba verpaßte dem nächsten eine Ohrfeige, daß er gegen den zweiten Mann taumelte. Dann duckte er sich schnell weg, so daß der dritte nur noch den Arm anschlitzen konnte. Der Schmerz machte Nimba wütend. Er begnügte sich, einfach zuzuschlagen und rechtzeitig Angriffe abzuwehren, aber seine einfachen Schläge genügten schon. Und Hal half von der Höhe aus nach, sobald er einen der Neger erwischen konnte. 110
Ohne die Zeitlupe der Beschreibung war es ein kurzes Gedränge am Flugzeug, dann rissen die An greifer aus. Zwei wichen zur Seite und verschwanden endgültig, die anderen kollerten sich unter dem Rumpf des Flugzeuges weg und wurden auch nicht wieder gesehen. Nimba schnaufte. »So was ist mir noch nicht vor gekommen.« Hal sah schattenhafte Bewegungen. Seine Lampe flammte auf. Dort standen drei Kerle auf einem Hau fen. Er knallte einige Schüsse hinüber, aber die Ne ger hatten sich schon in das Gras fallen lassen. Nimba zog sich hoch. »Ich glaube, Hal, du mußt mir den Arm verbinden. Einer der Kerle hat sein Messer versucht.« »Zeig her, er wird nicht tief gekommen sein. Na türlich – die Schale ist geplatzt und das Fett quillt heraus.« »Laß deine Witze«, knurrte Nimba. »Wasch ab und leg eine Binde darum.« »Bin schon dabei.« Hal machte sich sachverständig an die Arbeit. Mehr als ein Fleischriß war es nicht. »In Ordnung«, meldete er nach einer Weile. »Ei nige Tage diät leben, damit sich die Haut wieder zu sammenfindet, dann ist der Schaden behoben.« »Leb du nur erst diät«, riet Nimba, »damit dein Mund ein bißchen zusammenschnurrt.« 111
»Nanu, hast du etwa auch einen Schlag auf den Kopf bekommen?« »Nein!« »Dann ist es also ein Geburtsfehler.« Sie lauschten. Ein Stück voraus fand jetzt ein Kampf im Dunkeln statt. »Wir müssen hin«, sagte Hal. »Wir bleiben«, widersetzte sich Nimba. »Wir ha ben strenge Anweisung, das Flugzeug nicht zu ver lassen.« »In diesem Fall müssen wir helfen.« »In diesem Fall werde ich dich an die Wand quet schen, daß du dich für ein Tapetenmuster hältst«, drohte Nimba und quetschte sich in die Türöffnung hinein. Hal mußte wohl oder übel verzichten, aber er hielt wenigstens mit seiner Meinung nicht zurück. Da kam Sun Koh herangelaufen. »Hal!« »Sir«, rief Hal, »ich verberge mich hinter Speck mauern!« »Gemeinheit«, knurrte Nimba. »Er wollte nämlich fort, da habe ich den Ausgang versperrt.« »Hast du recht gemacht«, sagte Sun Koh. »Was ist hier vorgefallen?« Hal berichtete, worauf Sun Koh die Lage andeutete. »Der Goldfund hat die Neger rebellisch gemacht«, 112
sagte er. »Wahrscheinlich hat die Lady nicht gerade die besten Elemente von Kapstadt her mitgenommen. Liverton, Flyham und sein Diener, Falland und der Diener der Lady, wahrscheinlich auch der Diener des Lords sind tot. Ich muß mich übrigens noch nach letzterem umsehen. Aber zunächst bringen wir das Flugzeug an das große Zelt heran, damit alle Weißen beisammen sind. Dann müssen wir sehen, wieviel Gegner wir gegen uns haben.« »Sind sie bewaffnet?« »Sie haben alle Waffen an sich genommen, die sie bekommen konnten.« »Hm.« Sie stiegen ein. Sun Koh ließ den Motor anlaufen. Langsam rumpelte das Flugzeug über den Boden. Endlich stand die Maschine nahe bei dem großen Zelt. Bender, Fatherstone und Morley traten heran. »Ist hier noch etwas vorgefallen?« erkundigte sich Sun Koh. »Nichts!« »Wo ist Lady Orpinton?« Bender antwortete: »Sie wollte sich ums Essen kümmern.« Sun Koh trat in das Zelt. »Mylady?« Keine Antwort, keine Bewegung. »Lady Orpinton befindet sich nicht im Zelt«, sagte Sun Koh. 113
»Nicht?« Die Männer erschraken. »Ja, aber …« »Haben Sie das Zelt dauernd bewacht?« »Jawohl«, behauptete Morley. »Wir stehen allerdings schon ein paar Minuten hier vorn und beobachten das Flugzeug«, schränkte Fatherstone ein. »Und hörten natürlich nichts als den Motor, nicht wahr?« ergänzte Sun Koh mit einem Anflug von Bit terkeit. »Mich wundert nur, daß die Neger, die Lady Orpinton herausholten, ihre Gelegenheit nicht noch besser ausnützten.« Darauf schwiegen die Männer betreten. * Sun Koh ging abermals allein in die Nacht hinaus. Die Hütten der Eingeborenen befanden sich etwa zweihundert Meter entfernt in unmittelbarer Nähe der Mauer. Sun Koh bewegte sich vorsichtig darauf zu. Gedämpftes Stimmengewirr bewies ihm bald, daß er es mit der Geräuschlosigkeit nicht so genau zu nehmen brauchte. Der Weg bis zu den Hütten war frei. Nur an der Mauer bewegte sich dann und wann eine Gestalt. Er konnte sich unbehelligt hinter eine der Hütten legen. Die Neger schienen alle auf den Beinen zu sein. Sie liefen zwischen den Hütten herum und schwatz 114
ten zwar leise, aber recht aufgeregt. Offenbar konn ten sie sich nicht recht einig werden. Wenige Meter entfernt klangen englische Laute auf. »Nein«, sagte eine heftige Stimme, »wir verhalten uns ruhig, aber wir machen nicht mit. Ihr seid ja ver rückt. Die Polizei hat noch jeden gefangen!« »Uns nicht. Wir verschwinden im Wald. Ihr könnt alle reich werden.« »Wir bleiben hier. Macht, was ihr wollt.« »Wir versperren die Eingänge, wenn ihr nicht gleich kommt.« »Dann habt ihr euch selbst in die Falle gesetzt.« »Wir haben die Lady bei uns. Und wir haben Ge wehre. Keiner von den Weißen wird Anzeige erstat ten können.« »Die Polizei wird es auch so erfahren.« »Nicht, wenn ihr euch anschließt.« »Wir wollen aber nicht!« Der andere murmelte eine Verwünschung. Die beiden entfernten sich. Sun Koh verstand jetzt das Verhalten dieser Neger zwischen den Hütten. Nur ein Teil von ihnen hatte sich an den Überfällen beteiligt, die anderen scheuten das Verbrechen und die Polizei. Die goldsüchtigen Neger wollten sich hinter der stei nernen Ellipse verschanzen. Dort waren sie freilich ziemlich unangreifbar, besonders solange sie Lady 115
Orpinton als Geisel in der Hand hatten. Sun Koh zog sich vorsichtig zurück, schlug einen Bogen um die Hütten und strich in einigem Abstand an der Mauer entlang. Der Westeingang bei den Hüt ten war noch offen, aber er wurde durch mehrere Neger gedeckt. Der Nordwesteingang war bereits durch Steine verrammelt. Beim Norddurchgang mochte es wohl ähnlich aussehen. Nun, die Mauer bereitete keine Schwierigkeiten. Sie hatte zwar rund zehn Meter Höhe, aber sie be stand aus verhältnismäßig dünnen Steinplatten, zwi schen denen die Finger und Fußspitzen recht gut Halt fanden. Wenn die Finger nicht erlahmten und nicht eine der Steinplatten unter dem Griff nachgab … Sun Koh stieg zwischen West- und Nordwesttor auf. Einmal rutschte in sieben Meter Höhe eine zer brochene Platte heraus, so daß er um ein Haar ge stürzt wäre, aber sonst kam er ohne Zwischenfall nach oben. Die Dunkelheit verbarg ihn völlig, und Geräusche verursachte er kaum. Mit der gleichen Vorsicht kletterte er auf der ande ren Seite herunter, dann wandte er sich dem nord westlichen Durchgang zu, um sich zunächst zu ver gewissern, wen er hinter sich hatte. Zu seiner Über raschung fand er den Durchschlupf unbesetzt. Die Neger hatten es jetzt wohl noch für überflüssig gehalten, einen Wächter hinzustellen. 116
Das war günstig. Wenn es gelang, hier heimlich den Ausgang wieder freizulegen, konnte die Lady vielleicht herausgebracht werden. Die Neger hatten große Blöcke eingesetzt und sie von innen mit kleinen Steinen verkeilt. Sie hatten das geschickt angefangen. Von außen wäre ohne eine Ramme wohl kaum eine Beseitigung der Hindernisse möglich gewesen. Aber von innen her genügte es, ei nige der Klemmsteine zu lockern und herauszuzie hen, um dem obersten Block Luft zu verschaffen. Er hob den Zentnerstein behutsam herunter ins Gras, lockerte dann den nächsten Block und zog auch diesen heraus. Die Öffnung genügte bereits, um einen Menschen hindurchzulassen. Nun wandte er sich dem Westtor zu. Er ging je doch von der Mauer weg und schlug einen Bogen durch das Innenfeld. Draußen krachte ein Schuß. Nach einer Pause knallte es noch dreimal, dann wurde es wieder ruhig. Da war der Turm, in dem Lord Fatherstone das Gold gefunden hatte. Voraus lag etwas Helles am Boden. Lady Orpinton. Ein Neger hockte daneben. Sonst befand sich niemand in der Nähe. Sun Koh schlug wieder einen Bogen. In der gera den Linie lag alles voller Schutt und Geröll, aber seitlich war der Boden fest und verhältnismäßig sau 117
ber. Eine Viertelstunde verging. Der Neger summte vor sich hin. Vom Westdurchgang drangen Geräu sche herüber. Lady Orpinton begann plötzlich heftig auf den Neger einzureden. Er hörte ihr zu, brummte auch etwas, schien aber nichts zu verstehen. Lady Orpinton redete trotzdem weiter. Und dann klirrte doch ein Stein weg. Da schnellte Sun Koh auf und übersprang die kurze Strecke, die ihn noch von dem Neger trennte. Der rechnete wohl viel zu wenig mit Gefahr, um rechtzeitig das Richti ge zu tun. Und als er begriff, hob er unwillkürlich die Hände in die Höhe. Das erleichterte die Angelegenheit. Sun Koh hielt den Schlag zurück, legte seine Hand um die Kehle des Mannes und die Finger der anderen auf dessen Mund, worauf der Schwarze eifrig nickte. Und als ihm Sun Koh eine Pistole auf die Brust hielt, nickte er noch viel eifriger. Er rührte sich nicht, während Sun Koh die Stricke, mit denen Lady Orpinton gebunden war, durchschnitt. »Gott sei Dank«, flüsterte die Lady. »Ich fürchtete eine Zeitlang, man würde mich aufgeben.« »Sie haben mich kommen sehen?« »Ja, vor kurzem. Deshalb begann ich zu reden.« »Wie fühlen Sie sich? Können Sie gehen?« 118
Sie stand auf. »Ja, die Fesselung war nicht sehr straff.« »Dann gehen Sie voraus, auf das Nordwesttor zu. Nicht rennen.« »Haben Sie nicht wenigstens eine Waffe übrig?« Sun Koh reichte ihr eine seiner Pistolen. Dann versetzte er dem Neger einen Stoß, worauf dieser sich hinter Lady Orpinton hielt. Niemand kümmerte sich um die drei. Lady Orpin ton schlüpfte durch die Lücke und nahm den Neger in Empfang, dann folgte Sun Koh. Minuten später näherten sie sich dem Flugzeug. »Steht, oder …« »Nicht schießen!« rief Sun Koh hinüber. »Hallo, er kommt zurück!« Die Freude der anderen war ehrlich. Lady Orpinton drückte ihrem Retter die Hand. »Ich werde Ihnen das nie vergessen, Mister Sun Koh«, flüsterte sie. »Ich …« »Bitte, gehen Sie jetzt in das Flugzeug«, bat Sun Koh. »Wir müssen gleich wieder fort.« »Wieso? Warum?« »Die Überfälle wurden nur von einem Teil der Neger ausgeführt. Die meisten sind friedlich und warten in ihren Hütten die Entscheidung ab. Die Verbrecher befinden sich innerhalb der Mauer. Bis jetzt scheinen sie noch nichts gemerkt zu haben. 119
Wenn wir rechtzeitig wieder an den Durchschlupf kommen, können wir sie stellen und unschädlich ma chen, während wir sonst möglicherweise einen tage langen Kampf vor uns haben.« »Es wird bald hell werden.« »Um so besser. Hal und Nimba, ihr bleibt mit La dy Orpinton im Flugzeug.« Hal zeigte seine Enttäuschung. »Und rührt euch nicht heraus, bevor wir nicht zu rückkommen. Der Neger kann gefesselt hier liegen bleiben. Die anderen Gentlemen bitte ich, sich mir anzuschließen.« »Endlich!« meinte Fatherstone. Zu viert zogen sie los. Sie schlüpften gerade in das Innenfeld hinein, als die Neger das Verschwinden der Lady entdeckten und mit aufgeregtem Geschrei Stellung dazu nahmen. Und in der gleichen Minute legte sich der erste Schimmer des neuen Tages über die Grassteppe. Sun Koh gab seinen Begleitern Anweisungen. Der Trupp zog sich auseinander. Lord Fatherstone blieb an der Mauer, Sun Koh nahm das andere Ende, dem Turm zu. Bender und Morley bildeten die Ver bindung. Gleichzeitig rückten sie vor. Irgend jemand entdeckte sie und schrie warnend auf. Der erste Schuß knallte. Auf beiden Seiten war fen sich die Männer hinter Steine und Geröll. Unre 120
gelmäßig ging das Feuer hin und her. Aber die Neger hatten in ihrem Leben wohl nur selten eine Waffe in der Hand gehabt, während die vier Weißen ausge zeichnet schossen. Nach Minuten rannten einige Ne ger durch die Halbdämmerung. Lord Fatherstone setzte sich in einen gemäßigten Dauerlauf. Als er die Westpforte erreichte, war dort bereits alles still. Während die Nacht immer mehr wich, schritten die Männer auf die Hütten zu. Die meisten Neger hatten sich verkrochen. Drei Mann warteten bei der ersten Hütte und hoben die Arme, sobald die Weißen deutlich sichtbar wurden. »Wir sind nicht von den Hütten weggekommen«, sagte der eine, den Sun Koh an der Stimme erkannte. »Wir haben nichts Böses gewollt und nichts Böses getan.« »Ich weiß es«, sagte Sun Koh. »Aber einige von den Verbrechern sind geflohen und haben sich in den Hütten versteckt.« »Sie sind weiter geflohen, Sir.« So ganz stimmte das sicher nicht, denn bei der Nachprüfung ergab sich, daß nur zwei Leute fehlten. Es war aber nicht festzustellen, wer von den Negern sich noch an den Ausschreitungen beteiligt hatte. Und Sun Koh drängte auch nicht auf eine genaue Untersu chung. Übrigens war auch der Neger verschwunden, der gefesselt am Flugzeug zurückgelassen worden 121
war. Einer stand mit scheuen, angstvollen Augen un ter den anderen, in dem Sun Koh den Missetäter zu erkennen glaubte. Er verriet es aber nicht. Die Schul digen hatten wohl mit ihrem Leben büßen müssen, und die Hauptschuld trug sicher Sir Flyham. Bei den Weißen führten die Ereignisse der Nacht zu einer gründlichen Aussprache. Morley gestand nunmehr offen alles ein. Die Namen jener Leute, die zu seiner Gruppe gehörten, verriet er freilich nicht, und das nahm ihm niemand übel. Lord Fatherstone trug die Mitteilungen mit Würde. Bender war heil froh, daß niemand weiter auf seine Rolle einging und alle der Anregung Sun Kohs zustimmten, der Behör de gegenüber die Ereignisse durch den Aufstand der Neger zu erklären. Lady Orpinton, die den Fund der Selterwasserflasche noch nicht ganz verwunden hat te, erklärte, daß sie ihren Aufenthalt ebenfalls abbre chen wolle. So flog Sun Koh noch am gleichen Tag mit sei nem Flugzeug nach Salisbury und verständigte das Büro der Flugstrecke, daß in Zimbabwe verschiedene Leute auf Rückbeförderung warteten. Später, nach einigen Tagen, lag die steinerne El lipse wieder verlassen in der hügeligen Grassteppe. Der Wind summte eintönig über das hohe Gras, in dem die Grillen zirpten. Zwischen den Steinen huschten Ratten und glitten Schlangen. Gelegentlich 122
heulten die Felsenhunde zum Himmel auf. Sonst herrschte wie immer die große Stille der Menschen losigkeit, in der Ruinen durch die Jahrtausende dämmern.
5. Das Flugzeug setzte behutsam auf. Es war nicht die erste Insel, auf die es sich in diesen Tagen niederließ. Die südlichen Amiranten bestanden aus vielen In seln, und Sun Koh hatte auf der Suche nach Sven Horre keine ausgelassen. Sven Horre konnte nach al lem, was Sun Koh erfahren hatte, nur diesen Weg an den Amiranten entlang genommen haben, und es sprach alles dafür, daß er irgendwo an Land gegan gen war. Sun Koh und seine beiden Begleiter sprangen her aus und blickten sich um. Aus der endlosen Wasserwüste stieß ein winziges Stück Land heraus, ein Doppelhügel mit tiefer, ver bindender Einbuchtung, über dem Baumkronen und Palmwedel leise rauschten, ein kahler, gerölliger Fels gürtel und ein schmaler Streifen hellen Sandes. Der Durchmesser der Insel betrug nur wenige Kilometer. Hal bückte sich. »Glauben Sie, daß die Streichhölzer hier aus der 123
Erde wachsen, Sir?« fragte er. »Glaubensfragen sind nicht am Platze«, meinte Sun Koh. »Zeig her!« Hal öffnete die Hand. Ein rotes, flaches Streich holz, das bis zur Hälfte verkohlt war, wurde sichtbar. »Erstaunlich«, sagte Sun Koh. »Demnach sind wir nicht allein auf der Insel.« »Es kann doch schon lange hier liegen.« »Erst seit heute.« »Wieso?« »Wenn es längere Zeit hier gelegen hätte, wäre die rote Farbe schon längst ausgebleicht worden. Außer dem würde diese Kruste von Holzkohle nicht mehr vorhanden sein.« »Donnerwetter«, staunte Hal, »darauf wäre ich nie gekommen.« »Kunststück«, brummte Nimba, »bei deiner Ge hirnmasse.« Hal schnippte verächtlich. »Rede nicht von Dingen, die du nicht hast. Wollen wir rufen, Sir?« Sun Koh nickte. »Wir können immerhin damit anfangen. Die Insel ist freilich zu groß, als daß wir überall gehört werden könnten.« Sie legten gemeinsam die Hände an den Mund. »Hallo!« 124
Dann lauschten sie. Antwort kam nicht zurück. Nur die Bäume rauschten. »Steigen wir zunächst nach oben. Vielleicht be kommen wir dort einen Rundblick.« Bald standen die drei auf der ersten Hügelkuppe. Sie war bewaldet wie der Hang. Man hätte in eine Baumkrone hinaufklettern müssen, um einen Rund blick zu bekommen. Wieder riefen sie. Und jetzt kam Antwort. Ein Schuß. Er mußte in der Einbuchtung abgefeu ert worden sein. Sun Koh lief voraus, Hal und Nimba folgten. Rufe und Schüsse wechselten sich ab, so daß das Ziel leicht zu finden war. Der Hang bildete seitlich eine steile, etwa zehn Meter hohe Lehne aus kahlem Fels. An ihrem Fuß lag ein Mann. Er lag auf dem Rücken. Die rechte Hand hielt die Pistole, mit der er geschossen hatte, der linke Arm wurde durch einen Felsblock verdeckt, der offenbar aus der Wand herausgewälzt worden war, denn dort zeigte sich ein entsprechendes Loch. Ein Blick genügte, um zu sehen, daß sich der Fremde in einer denkbar unglücklichen Lage befand. »Was ist?« »Mein Arm!« Sun Koh griff schon zu. Der Felsblock wog einige 125
Zentner. Er stemmte sich dagegen, wuchtete ihn auf die spitze Kante auf und drehte ihn dicht am Kopf des Liegenden vorbei, so daß er seitlich zur Ruhe kam. Der Arm sah schrecklich aus. Die Last hatte ihn bis zum Ellbogen zerquetscht. Behutsam löste er den Arm vom Boden. Das Blut floß stärker. Sun Koh griff nach der Schlagader und drückte sie ab. Eine Kopfbewegung zu Hal hin ge nügte, um diesen zu veranlassen, dem Fremden das Hemd herunterzuschneiden. Nimba lief schon zum Flugzeug, um den Verbandkasten zu holen. Der Verbandkasten war glücklicherweise in Ord nung, die Flaschen mit den Desinfektionsmitteln ge füllt. Der Fremde sah zu, wie Sun Koh an ihm arbeitete. Er hielt die Augen ständig offen. Aber er sprach kein Wort, wohl deshalb nicht, weil er sonst vor Schmerz hätte schreien müssen. Sun Koh bewunderte ihn insgeheim. Das schmale, aber kantige Gesicht, aus dem jetzt die Knochen weiß heraustraten, verriet hohe Willenskraft. Der Mann war sicher nicht älter als dreißig. Als Sun Koh die letzte Wicklung vollendete, wur de der Körper des Fremden schlaff. Er murmelte et was, das wie ein Dank klang, dann schloß er die Au gen. Sun Koh steckte ihm noch zwei Pillen in den 126
Mund. Doch dann blieben die Augen des Fremden endgültig geschlossen. Schlaff sank der Kopf in Nimbas Arme, die ihn die ganze Zeit gestützt hatten. »Leg ihn bequem«, sagte Sun Koh, während er sich erhob. »Ich weiß nicht, wann das Wundfieber einsetzt, aber wenn es soweit ist, dann halt ihn fest.« Hal winkte eifrig. Er kam da oben aus der Höhle heraus. Hal zog Sun Koh in den Hintergrund der Höhle und wies auf einige Kisten, die dort standen. Sie wa ren aus starkem Eichenholz und schwer mit Eisen beschlagen. Das Eichenholz war unzerstört, aber die eisernen Bänder hatte der Rost zerfressen. Ein kräfti ger Ruck genügte, um sie aufzusprengen. Sun Koh öffnete eine der Kisten. Der Schein der Taschenlampe zeigte drei Abteile. Das eine war bis zum Rand mit Perlen verschiedener Größe gefüllt, das zweite mit feurig aufsprühenden Diamanten, das dritte mit Edelsteinen verschiedener Art. Die Kiste enthielt ein märchenhaftes Vermögen. Die drei anderen Kisten enthielten Gold in schma len, ungezeichneten Barren von Spannenlänge. Sun Koh begnügte sich damit, einen Blick darauf zu wer fen. Zweifellos standen die Kisten schon sehr lange hier, nach den Verzierungen zwei bis drei Jahrhun derte. Aber nur der Fremde konnte Auskunft geben, wem sie gehörten und welche Bewandtnis es mit ih 127
nen hatte. * Der Fremde tobte im Wundfieber, wollte sich immer wieder herumwerfen und stammelte wirres Zeug. Tagelang dauerte der erbitterte Kampf seines Kör pers, dann trat ein Schwächezustand ein, der mögli cherweise der Übergang zum Ende sein konnte. Im Norden der Insel entdeckte Sun Koh bei klarem Wetter einen Punkt am Horizont, der wahrscheinlich die nächste Insel bedeutete. Die Amiranten waren ja eine Inselgruppe, die sich über größeren Abstand verstreut nach Norden zog. Am achten Tag wurde es unverkennbar, daß der Fremde das Schwerste überwunden hatte. Sein Atem belebte sich, der Puls wurde stärker. Er schlug sogar für kurze Zeit die Augen auf, während Hal ihm wie in all den Tagen dünne Suppe einflößte. Nur Sekun den blickte er um sich, dann versank er wieder. Aber nun schlief er regelrecht. Zwei Tage danach öffnete er die Augen abermals. Jetzt war er bei klarem Bewußtsein. »Morgen.« Nimba lachte ihn freundlich an. »Gut geschlafen? Haben Sie Hunger? Ich empfehle fri schen Seefisch à la Indischer Ozean oder junge Holz tauben nach Amiranten-Art.« 128
»Hunger?« krächzte der Fremde. »Ja, ich habe Hunger!« »Natürlich haben Sie Hunger«, sagte Nimba, »wenn man so lange nichts als Fleischbrühe zwi schen die Zähne bekommen hat.« »Wie lange?« »Neun Tage. Augenblick, ich will mal die anderen verständigen, daß Sie wieder Ihre fünf Sinne bei sammen haben.« Er lief hinaus, feuerte einen Schuß ab und kehrte zurück. »Sie machen nämlich eine Probefahrt mit Ihrem Motorboot«, erzählte er. »Es ist verschiedenes daran ausgebessert worden, und nun wollen sie sehen, ob alles klappt. Aber sie werden bald kommen.« »Wer?« »Wieso wer?« Nimba stutzte. »Ach so, Sie sind nicht ganz im Bilde. Ich meine Sun Koh – und Hal. Ich bin Nimba. Wir sind zu dritt. Können Sie sich nicht an uns erinnern?« Die Augen des Fremden grübelten. »Doch, ich entsinne mich. Ich geriet unter den Block – dann wurde gerufen. Was ist mit meinem Arm?« Nimba tippte auf den Verband. »Ein bißchen zerquetscht ist er wohl. Aber wissen Sie, ich würde das an Ihrer Stelle nicht weiter tra 129
gisch nehmen. Tragen Sie Handschuhe, dann fällt’s nicht weiter auf.« Der Fremde bog den Arm vorsichtig ab. »Sachte«, wehrte Nimba ab, »warten Sie noch ei nige Tage mit Freiübungen. Unser Verbandzeug ist nämlich so ziemlich alle.« »Schon gut. Ist das die Höhle?« »Die Sie aufgemacht haben? Ja.« »Und – haben Sie nichts gefunden?« Nimba wies nach hinten. »Meinen Sie die alten Kisten?« Im Gesicht des anderen zeigte sich lebhafte Span nung. »Kisten? Ist etwas drin?« »Gold, Edelsteine und Perlen, ein richtiger See räuberschatz, wie er im Buch steht.« »Also doch!« Nimba sah ihn kopfschüttelnd an. »Das scheint Sie ja mächtig aufzuregen, was? Ich würde das an Ihrer Stelle nicht tun. Wohin sollten denn die Juweliere kommen, wenn sie sich bei jedem Diamanten aufregen würden. Nehmen Sie die Sache lieber auf die kalte Schulter.« Der andere warf ihm einen eigenartigen Blick zu. Nimba wußte darauf nicht gleich etwas zu sagen. Als er schließlich antworten wollte, hatte der Mann die Augen schon wieder geschlossen und schlief an scheinend, so daß es Nimba vorzog, sich leise zu ent 130
fernen. Als Sun Koh in die Höhle trat, war der Fremde wieder munter. »Mister Sun Koh?« fragte er leise. »Nimba hat wohl schon vorgestellt!«, sagte Sun Koh lächelnd. »Ich freue mich, Sie wieder soweit wohlauf zu sehen. Nun möchte ich Sie vor allem hi naustragen, in die freie Luft, da ist es angenehmer. Halten Sie bitte Ihren Arm fest.« Er hob den Mann auf und trug ihn hinaus. Hal schleppte die Decken. Auf dem Gras betteten sie ihn neu unter dem Schatten, der von Sonnenkringeln durchbrochen wurde. »Ich muß mächtig leicht geworden sein«, murmel te der Fremde. »Hätte nie gedacht, daß mich einer auf seinen Armen frei spazieren tragen kann. Übri gens heiße ich Horre, Sven Horre.« Sun Koh legte ihn nieder. »So recht?« »Vielleicht den Rücken etwas höher. Es spricht sich besser.« Hal stopfte unter. »So besser?« fragte Sun Koh. »Sie sollten nicht zuviel sprechen.« Sven Horre schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich ziemlich kräftig. Und es wäre mir lieb, wenn wir uns unterhalten könnten, sonst würde ich doch vor Unruhe nicht wieder einschlafen kön 131
nen. Mein Arm ist wohl hin, wie ich hörte.« »Nimba?« Nimba schielte vom Feuer her. »Ich habe nichts gesagt, Sir. Ich habe bloß gemeint, unter einem Handschuh würde man nicht viel sehen.« »Das wollte ich nicht wissen. Du sollst dich nur beeilen, damit Mister Horre zu einer kräftigen Mahl zeit kommt.« Sun Koh wandte sich zu Horre zurück. »Es läßt sich schwer beurteilen, wieweit Ihre Hand wieder gebrauchsfähig werden wird. Sie ist zwar ziemlich gequetscht, aber die Sehnen sind sicher noch in Ordnung. Lassen Sie zunächst alles aushei len, dann wollen wir weitersehen. Der Felsblock war Ihnen wohl weggerutscht?« »Umgekippt. Er stand auf der Kante. Das wußte ich nicht. Ich konnte ihn nicht halten und kam auch nicht rechtzeitig weg. Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich mir nicht mehr helfen können.« Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Sven Horre: »In der Höhle stehen einige Kisten?« »Ja.« Sun Koh nickte. »Wußten Sie nichts da von?« »Nicht sicher. Sie haben die Kisten geöffnet?« »Ja. Eine enthält Edelsteine und Perlen, die andere Goldbarren. Der Wert des Goldes dürfte einige hun derttausend Pfund betragen, der Wert der Edelsteine 132
und Perlen läßt sich schwer abschätzen, geht aber si cher in die Millionen.« Horre reckte den Kopf vor. Seine Augen glänzten fiebrig. »Millionen?« murmelte er. »Also hatte er nicht zuviel gesagt. Sie haben ihn gefunden, er gehört Ih nen.« »Das ist sehr anständig von Ihnen, aber ich vermu te, daß wir wochenlang an dieser Felswand vorbei gegangen wären, wenn Sie nicht die Öffnung freige legt hätten. Der Schatz gehört ganz allein Ihnen.« Sun Koh sah, wie Horre matt wurde. »Sprechen wir später darüber«, schlug er deshalb vor. »Das Sprechen strengt Sie an. Es ist besser, wenn Sie jetzt wieder eine Weile ausruhen.« Sven Horre schloß gehorsam die Augen. Eine halbe Stunde später erhielt er ein kräftiges Essen. Unmittelbar darauf schlief er wieder ein, so daß es zu keiner rechten Unterhaltung mehr kam. Am nächsten Tag zeigte es sich bereits, wie leb haft es auf seine Genesung zuging. Er stellte sich so gar wieder auf seine Füße und ging ein Stück hin und her. Sun Koh und Nimba schleppten im Laufe des Ta ges die vier Kisten aus der Höhle heraus, so daß Hor re bei Tageslicht ihren Inhalt sehen konnte. Die sprü henden Steine in der einen Kiste boten einen gerade 133
zu märchenhaften Anblick, aber auch von dem Gold der anderen Kisten ging ein eigener Zauber aus. Kein Wunder, daß Schauer und Erregung durch Horre hindurchfluteten und seine Stimme brüchig klang, als er sagte: »Das sind wirklich Millionen, viele Millionen. Mit einem Viertel davon bin ich reicher, als ich mir je hätte träumen lassen.« »Das Ganze ist Ihr Eigentum.« Sven Horre wandte sich schwerfällig zu Sun Koh um. »Sie müssen sehr reich sein, um solche Großzü gigkeit zu zeigen. Aber selbst wenn Sie der reichste Mann der Welt wären, würde ich das Angebot nicht annehmen, weil es ungerecht wäre. Vergessen Sie nicht, daß Sie mir auch das Leben gerettet haben und daß es allein von Ihnen abhängt, ob der Schatz von hier fortkommt. Die Hälfte müssen Sie wenigstens für sich nehmen.« Sun Koh nickte. »Gut, ich bin einverstanden. Sobald wir den Schatz in Sicherheit gebracht haben, wird er geteilt.« Horre streckte seine Hand hin. »Ihre Hand darauf. So geht die Sache in Ord nung.« Er zeigte sich von nun an aufgeschlossener als vorher. Er freute sich über den Schatz, dazu kam die 134
Dankbarkeit und vor allem eine natürliche Zunei gung zu Sun Koh, dessen Wesensart in vielem der seinen entsprach. Gegen Abend begann er, von seinem Leben zu er zählen. Es war bezeichnend für die innere Herbheit seines Charakters, daß er bald in die dritte Person überwechselte und alles so darstellte, als handle es sich um das Schicksal eines Fremden. 6. Sven Horre stammte aus der norwegischen Land schaft Hallingdalen. Obwohl seine Vorfahren Kauf leute gewesen waren, schlug er die Offizierslaufbahn ein. Als Leutnant schrieb er einige Abhandlungen, durch die man auf ihn aufmerksam wurde. Mit vier undzwanzig Jahren versetzte man ihn als Oberleut nant zum Generalstab in Oslo. Er hatte alle Aussich ten, schneller als andere eine glänzende Laufbahn hinter sich zu bringen. Sven Horre besaß viel Ehrgeiz. Er arbeitete, arbei tete von früh bis spät, so daß man ihn bald zu wichti gen Angelegenheiten heranzog. Sein privates Leben war im ersten Jahr seines Aufenthalts in Oslo sehr bescheiden. Er gönnte sich nicht viel und ließ sich nirgends sehen. Das konnte freilich nicht immer so bleiben. Oslo 135
war eine gesellige Stadt. Angesehene Großkaufleute liebten es, gelegentlich Feste zu geben, zu denen auch Offiziere geladen wurden. Bei einer solchen Gelegenheit lernte er Greta Da maas kennen. Sie war achtzehn Jahre alt. Und sie war schön wie der erste Frühlingstag. Sven Horre liebte sie, nachdem er zum erstenmal in ihre grauen Augen geblickt hatte. Greta Damaas bevorzugte den jungen Generalstäbler an jenem ersten Abend und zeigte ihm, daß sie ihn gern sah. In der Folgezeit arbeitete Sven Horre etwas weni ger und widmete sich dafür um so mehr dem jungen Mädchen. Sie trafen sich Tag für Tag bei allen mög lichen Gelegenheiten und gestanden sich schließlich ihre Liebe. Der alte Damaas war nicht übermäßig erfreut, als Sven Horre zu ihm kam und um die Hand seiner Tochter bat, aber er gehörte auch nicht zu den Leu ten, die einen tragischen Konflikt heraufbeschwören. Er gab seine Zustimmung. Die einzige Bedingung, die er stellte, war, die Verlobung noch ein halbes Jahr geheimzuhalten. Er hielt seine Tochter noch für zu jung. Greta Damaas hatte viele Bewerber gehabt, bevor sie sich für Sven Horre entschied. Sie traten alle zu rück, als sie sahen, daß die beiden sich liebten. Nur einer gab es nicht auf. Das war Jens Kragerö. 136
Jens Kragerö machte keine schlechte Figur und besaß außerdem den Vorteil eines großen Vermö gens, aber er näherte sich schon stark den vierziger Jahren, und außerdem konnte ihn Greta Damaas nicht leiden. Sie war eine offene, liebenswürdige Na tur, während Kragerö zu den Menschen gehörte, de nen man mehr Geschäftstüchtigkeit und Niederträch tigkeit als Gefühl und edles Empfinden zutraut. Jens Kragerö hatte wohl gehofft, dank seines Reichtums und dank seiner geschäftlichen Beziehun gen zu dem alten Damaas das junge Mädchen eines Tages zu seiner Frau machen zu können. Er konnte es nicht verwinden, daß ihm ein anderer seine Pläne zerstörte. Er haßte Sven Horre. Aber er war klug ge nug, seinen Haß zu verbergen. Der Öffentlichkeit gegenüber tat er stets so, als sei er der beste Freund des glücklichen Nebenbuhlers. Sven Horre verlebte eine selige Zeit. Er vernach lässigte seine Pflichten nicht, aber seine freien Stun den und Tage gehörten ausschließlich Greta Damaas. Ein Vierteljahr vor dem geplanten Verlobungstag feierte Greta Damaas ihren neunzehnten Geburtstag. Er wurde durch ein Gartenfest gefeiert, zu dem alles eingeladen war, was in Oslo Ruf und Namen hatte. Der wundervolle Sommerabend, die farbigen Lampen in dunklem Grün und die weiche Musik schufen eine unbeschreibliche Stimmung. Die Fröh 137
lichsten und Glücklichsten von allen waren Sven Horre und Greta Damaas. Selbst Jens Kragerö schien an diesem Abend gut aufgelegt zu sein. Eine Turmuhr hatte eben die elfte Stunde geschla gen, als Sven Horre eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er wandte sich um. Hinter ihm stand der alte Damaas. Sein Gesicht zeigte einen etwas merkwür digen Ausdruck, aber daran mochte vielleicht das matte Licht schuld sein. »Einen Augenblick, bitte«, sagte er und wies dabei zum Haus hin. »Bring ihn aber bald wieder.« Greta Damaas lä chelte von ihrem Platz aus zu den beiden Männern hinauf. »Ich komme sofort zurück«, versicherte Sven Hor re heiter, ohne zu ahnen, daß er in dieser Sekunde das letzte Wort seines Lebens an das junge Mädchen richtete. Die beiden Herren schritten stumm nebeneinander auf das Haus zu. Damaas stieg nicht die breiten Frei treppen zum großen Saal aufwärts, sondern bog um das Haus herum. Jenseits der Ecke hielt er an, räus perte sich und sagte schwerfällig: »Ich wollte Greta und die Gäste nicht unnötig beunruhigen, Sven, des halb führte ich Sie einfach weg. Im kleinen Emp fangsraum ist jemand, der Sie sprechen möchte.« »Ist etwas Besonderes dabei? Sie sagen das so 138
merkwürdig!« Damaas legte die Hände auf Horres Schulter. »Ich weiß es nicht, Sven, aber es scheint mir etwas Außergewöhnliches zu sein. Bevor Sie hingehen, möchte ich Ihnen versichern, daß ich Sie in diesen Monaten sehr liebgewonnen habe. Ich bin von Ihrer Ehrenhaftigkeit überzeugt. Wenn aber irgend etwas vorgefallen sein sollte, Sven, so bitte ich Sie um Gre tas willen, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Ich stelle Ihnen alle Mittel zur Verfügung, um schnell und unauffällig das Land zu verlassen.« Sven Horre trat scharf zurück. »Wollen Sie mich …« »Ich will Ihnen nur helfen, falls es not tut. Die Leute, die auf Sie warten …« »Wer?« »Oberst Wemdal…« »Mein Vorgesetzter?« »Und einige Kriminalbeamte.« »Was?« »Es sind Kriminalbeamte«, sagte Damaas. »Und ich habe eine ähnliche Gruppe schon einmal gesehen, als sie einen Bekannten aus einem Hotel heraus ver hafteten. Ich fürchte, wenn man Sie jetzt sprechen will…« Sven Horre lachte laut auf. »Aber – verzeihen Sie – das ist wirklich schwarz 139
gesehen. Ich freue mich über Ihre Fürsorge und An teilnahme, aber Oberst Wemdal wird nicht schlecht lachen, wenn ich ihm von Ihren Befürchtungen er zähle.« »Also ist alles in Ordnung?« »Aber selbstverständlich!« Damaas atmete auf. »Gott sei Dank, ich machte mir schon Gedanken.« Sven Horre ging um das Haus herum und betrat das kleine Empfangszimmer. Tatsächlich warteten dort mehrere Herren, unter ihnen Oberst Wemdal, ein grauhaariger Eisenkopf. Sven Horre hatte bei seinem Eintritt ein Lächeln auf den Lippen, aber es verschwand, sobald er den Männern gegenüberstand. Damaas hatte nicht un recht, von dieser Gruppe ging etwas Finsteres, Dro hendes aus, das in völligem Widerspruch zu der hei teren Ausgelassenheit des Gartenfestes stand. Oberst Wemdal trat auf Sven Horre zu. Knapp und auffallend kühl sagte er: »Oberleutnant Horre, ich muß Sie bitten, mich sofort zu begleiten. Es haben sich einige Unstimmigkeiten ergeben, die eine um gehende Klärung erfordern.« Horre blickte ihn einigermaßen verständnislos an. Was sollte das? Hatte Damaas mit seinen Vermutun gen nicht ganz unrecht? »Ja, gewiß«, preßte er heraus, »aber – ich kann 140
doch nicht einfach …« »Sie können«, sagte Wemdal schroff. »Diese An gelegenheit ist wichtiger als das Fest. Kommen Sie, der Wagen wartet bereits.« »Aber meine Sachen …« »Liegen bereits hier. Ich ließ sie durch den Diener holen. Also kommen Sie.« Der eisige Tonfall Wemdals, das starre Schweigen und die ernsten Mienen der drei anderen Herren so wie die sonstigen Umstände lähmten. Sven Horre folgte dem vorausschreitenden Oberst. Die Fahrt, während der kein Wort gesprochen wurde, ging zum Kriegsministerium, in das Amts zimmer Wemdals. Erst dort stellte Oberst Wemdal seine Begleiter vor. Es waren tatsächlich Kriminal beamte. Und dann begann die schwerste Stunde im Leben Sven Horres. »Sie haben die Akten DZ 8 zu bearbeiten?« be gann Oberst Wemdal. »Ja.« »Wollen Sie mir Auskunft geben, wie Sie es be züglich der Aufbewahrung der Akten gehalten ha ben?« Sven Horre erkannte, daß er einem Verhör unter zogen werden sollte. »Gewiß, Herr Oberst«, erwiderte er straff. »Darf 141
ich Sie aber zunächst bitten, mir zu erklären, was die Anwesenheit dieser drei Herren bedeuten soll? Ich fühle mich nicht berechtigt, gegenüber Außenstehen den über dienstliche Angelegenheiten zu sprechen.« »Die Berechtigung gebe ich in diesem Fall. Es ist aus dienstlichen Gründen erwünscht, daß diese Her ren Ihre Antworten hören.« »Ich bitte trotzdem um Aufklärung«, beharrte Hor re. »Ich habe den Eindruck, daß Sie mich einem Ver hör unterziehen wollen.« Wemdal nickte. »Ihr Eindruck täuscht Sie nicht. Es besteht der Ver dacht, daß mit den Akten Mißbrauch getrieben wurde. Die Wichtigkeit der Papiere machte eine Zuziehung der Kriminalpolizei erforderlich, um zu verhüten, daß sie oder Abschriften von ihnen ins Ausland gingen. Und nun wollen Sie meine Frage beantworten.« Sven Horre wußte nicht, ob die Auskunft eine Be ruhigung enthalten sollte. Er nahm sie aber wohl oder übel hin und erwiderte: »Ich habe die Akten je weils aus dem Stahlschrank genommen und nach be endigter Arbeit wieder hineingelegt. Sie sind nie oh ne meine Aufsicht gewesen. Es ist völlig ausge schlossen, daß ein Fremder Einsicht nehmen könnte, während ich an ihnen arbeite.« »Sie haben eine Hilfskraft zur Verfügung?« »Jawohl. Unteroffizier Bygland für die Schreib 142
maschine.« »Sie diktieren ihm die Ergebnisse Ihrer Arbeit?« »Ja.« »Wie viele Durchschläge ließen Sie anfertigen?« »Zwei. Original und Durchschläge wurden stets wieder mit weggeschlossen.« Wemdal blickte auf, wobei er die Stirn in Falten zog. »Zwei Durchschläge. Nicht drei?« »Nein.« »Was haben Sie über Bygland zu sagen?« »Ich war mit seiner Arbeit stets zufrieden.« Pause. Nach langem Schweigen begann Oberst Wemdal von neuem. »Sie haben in der letzten Zeit viele gesellschaftli che Verpflichtungen gehabt, Oberleutnant Horre. Beziehen Sie außer Ihrem Gehalt noch Einkünfte?« »Nein.« »Können Sie mit Ihrem Gehalt Ihren Verpflich tungen nachkommen?« »Ja.« »Sie haben Schulden. Ich weiß das zufällig von einem Bekannten, von dem Sie einen größeren Be trag geliehen haben.« »Das ist ein Irrtum«, gab Horre mühsam be herrscht zurück. »Ich muß Sie bitten, mir den Namen Ihres Bekannten zu nennen.« 143
»Jens Kragerö.« Sven Horre trat zwei Schritte vor und sagte heftig: »Jens Kragerö hat mich verleumdet! Ich habe weder bei ihm noch bei anderen Schulden. Doch das ist unwesentlich. Ich bitte Sie jetzt dringend, mir aus führlich zu erklären, was hier vor sich geht. Sie holen mich mitten aus einem Fest weg und stellen eine selt same Frage …« »Beruhigen Sie sich«, fiel Oberst Wemdal schroff ein. »Ich bin eben dabei, zur Sache zu kommen. Sie sagten, daß Sie zwei Durchschläge anfertigen ließen. Unteroffizier Bygland bezeugt, daß er auf Ihre nach drückliche Anweisung hin stets drei Durchschläge anfertigen mußte, daß Sie aber den dritten Durch schlag nie wieder zu den Akten gaben, sondern ihn bei sich behielten.« »Das ist nicht wahr!« »Ist es auch nicht wahr, daß Sie besonders wichti ge Zusammenstellungen, die eigentlich nicht nötig waren, anfertigen ließen und diese dann an sich nah men?« »Herr Oberst, ich …« »Warten Sie«, unterbrach der Oberst abermals. »Unteroffizier Bygland erstattete entsprechende Meldung, weil ihm dieses Verfahren seltsam vorkam. Der Mann macht durchaus nicht den Eindruck, daß er seine Anschuldigung aus der Luft greift.« 144
»Aber…« »Sie wünschten Aufklärung«, fuhr der Oberst un erbittlich fort. »Wie erklären Sie sich, daß wir die heute angefertigten Durchschläge in Ihrer Wohnung, und zwar in einer Tasche Ihres Dienstrockes fan den?« Sven Horre starrte ihn wie betäubt an. »Unmöglich!« Oberst Wemdal erhob sich. »Es ist nicht meine Aufgabe, ein regelrechtes Ver hör mit Ihnen anzustellen«, sagte er noch kälter als zuvor. »Ich habe mir diese Unterredung vorbehalten, bevor ich Sie und diese ganze Angelegenheit endgül tig der Kriminalpolizei übergebe, weil ich gehofft habe, daß Sie eine Erklärung abgeben können, die al len Verdacht beseitigt. Man beschuldigt Sie, gegen die Vorschrift Abschriften wichtiger Akten an sich genommen und verkauft zu haben. Die Anfertigung der dritten Durchschläge wird durch Ihre Schreib kraft bezeugt, außerdem sind Durchschläge bei Ihnen gefunden worden. Weiterhin wurde festgestellt, daß Sie Schulden haben. Außerdem erhielten Sie gestern eine größere Überweisung auf Ihr Konto bei der Staatsbank, deren Herkunft zu klären wäre, falls sie nicht zu Ihrer weiteren Belastung dienen soll. Und schließlich fand man in Ihrer Wohnung die Reste ei nes Schreibens, das auf den Aktenverkauf Bezug 145
nimmt. Sie stehen unter der schwersten Anklage, un ter der Anklage des Hochverrats. Was haben Sie da zu zu erklären?« Die Hände Sven Horres bewegten sich ganz sinn los und mechanisch. »Erklären?« würgte er nach einer Pause heraus. »Ich verstehe das alles nicht – ich weiß nicht…« Oberst Wemdal senkte den Kopf. »Ich dachte mir das. Wollen Sie einstweilen in das Nebenzimmer gehen, damit ich mit den Herren noch einiges besprechen kann.« Einer der drei erhob sich. »Herr Oberst, das würde eine Flucht…« Wemdal ließ ihn nicht ausreden. »Eine Flucht ist nicht zu befürchten. Der Neben raum hat keinen Ausgang. Gehen Sie, Oberleutnant Horre.« Sven Horre ging nicht, sondern schwankte schon mehr, als er in das Nebenzimmer trat. Das war ein kleiner Raum, der zur Aktenablage diente. Sven Horre war völlig benommen. Er fühlte sich innerlich wie ausgehöhlt und empfand doch zugleich einen ungeheuren Druck. Es war ihm unmöglich, über das, was ihm eben vorgeworfen worden war, nachzudenken. Er konnte die Anschuldigung über haupt nicht recht fassen. Alles ringsum schien so völ lig unwirklich wie seine eigene Lage. 146
Irgendwann öffnete sich die Tür. Sven Horre hörte die Verhaftungsformel und sah das verächtliche Ge sicht des Oberst. Er folgte wie im Traum den Krimi nalbeamten durch die Stadt und landete schließlich in einer Zelle, ohne recht zu begreifen, was mit ihm ge schah. Am nächsten Tag begannen die Polizeiverhöre, aber nun machte sich Sven Horre von der Betäubung des ersten Schreckens frei und setzte sich zur Wehr. Es blieb ihm freilich nicht viel anders übrig, als ent schieden seine Unschuld zu betonen – sonst hatte er der Anklage nichts entgegenzusetzen. Der Eid By glands, daß er die dritten Durchschläge habe anferti gen müssen, stand. Gegen die Tatsache, daß Oberst Wemdal selbst die Durchschläge und das verdächti gende Schreiben gefunden hatte, war nicht anzu kommen. Und die hohe Geldüberweisung eines un bekannten Spenders war auch nicht zu leugnen. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte einmal der verhörende Richter nachdenklich zu ihm, »ent weder sind Sie schuldig und haben sehr fahrlässig und grob gehandelt, so daß man Sie mit solchen Be weisen überführen kann, oder Sie sind unschuldig. In diesem Fall müssen Sie einen Feind haben, der Ihnen diese Suppe eingebrockt hat.« Sven Horre nannte ihm den Namen des Feindes, der Untersuchungsrichter nahm sich Jens Kragerö 147
und Bygland auch besonders vor, aber es war nichts zu erreichen. Eine Beziehung zwischen Kragerö und Bygland ließ sich nicht nachweisen. Und wenn Kra gerö schwor, daß Sven Horre von ihm gegen Ehren wort größere Beträge geliehen hatte, so ließ sich ihm nicht das Gegenteil beweisen. Sven Horre erfuhr in diesen Tagen und Wochen der Untersuchung nicht viel von der Welt. Sie schien nicht mehr vorhanden zu sein. Seine Kameraden und Freunde ließen nichts von sich hören. Greta Damaas gab kein Lebenszeichen. Sie kam nicht selbst und schrieb auch nicht. Sven Horre hun gerte von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag auf eine Mitteilung von ihr, denn an ihrer Meinung allein war ihm gelegen. Es bedeutete alle Bitternis der Welt für ihn, daß er schließlich verzichten mußte. Greta Damaas glaubte an seine Schuld und mied ihn voll Verachtung. Olaf Odnäs brachte endlich die Nachricht, daß sie und ihr Vater bereits am zweiten Tag nach seiner Verhaftung abgereist waren. Olaf Odnäs erwies sich als der einzige wahre Freund. Sven Horre hatte mit ihm die Schule be sucht. Odnäs hatte mit dem Erbteil seines Vaters ein Geschäft in Oslo gegründet. Dort hatte ihn Sven Hor re dann und wann aufgesucht. Jetzt zeigte es sich, daß Olaf Odnäs mehr als ein gutmütiger, lustiger 148
Bursche war, mit dem man gern einige Stunden ver brachte. Er allein war von der Unschuld Horres über zeugt. Er sorgte auch dafür, daß Sven Horre den be sten Verteidiger erhielt. Aber was nützte der beste Verteidiger, wenn die Anklage keine Lücke läßt? Der Prozeß kam. Die Richter erkannten auf fünf Jahre schweren Kerkers. Sven Horre sagte nichts zu diesem Urteil. Er war bereits ohne Hoffnung in die Verhandlung gegangen. Stumm nahm er es hin. Er fühlte sich innerlich wie abgestorben. Fünf Jahre Zuchthaus und dahinter Jahrzehnte ei nes zerstörten, entwürdigten Lebens. Jens Kragerö! Sven Horre brauchte Zeit, bevor er sich im Zucht haus fand. In den ersten Wochen zweifelte er an sei nen eigenen Sinnen, aber er fand sich zurecht. Unab lässig dachte er an die, die ihn ins Zuchthaus ge bracht hatten. Jens Kragerö und Bygland – diese bei den trugen die Schuld. So lange die fünf Jahre auch sein mochten, eines Tages würde er frei sein. Dann sollten Jens Kragerö und Bygland erfahren, daß Sven Horre nicht vergessen hatte. Er dachte auch an Greta Damaas. Sie war in der schlimmsten Zeit seines Lebens von ihm abgefallen. 149
Sie hatte ihn im Stich gelassen. Es war ihre Sache, wenn sie sich in ihrer Liebe getäuscht hatte, aber sie hätte vor den Richtern über wichtige Punkte Rechen schaft ablegen können. Sie hätte nicht nur die Ver wendung seiner Freizeit, sondern auch die Höhe sei ner Ausgaben bezeugen können. Und vielleicht wäre der Prozeß anders ausgegangen, wenn sie und ihr Vater sich tatkräftig für den Verdächtigten eingesetzt hätten. Und schließlich dachte er viel an Oberst Wemdal. Er hatte gehandelt, wie es ihm recht erschienen war. Aber ein anderer wäre mit mehr Vorsicht und Behut samkeit vorgegangen, ein anderer hätte nicht von Anfang an alle Möglichkeiten der Abwehr und Ver teidigung verbaut. Jens Kragerö, Bygland, Greta Damaas, ihr Vater und Oberst Wemdal – um diese Menschen kreisten die Gedanken des Zuchthäuslers, um ihretwillen schmiedete er Pläne über Pläne für die Zukunft. Im übrigen war Sven Horre ein Sträfling, der sei nen Wärtern wenig Mühe bereitete. Er führte sich gut. Deshalb gab man ihm nach zwei Jahren unter gleichzeitiger Versetzung in eine bessere Klasse ei nen gewissen Spielraum. Er wurde zur Verwaltung der großen Bücherei herangezogen, die zum Zucht haus gehörte. Er war nicht der einzige, der hier beschäftigt wur 150
de. Zwei Männer unterstützten bereits den Bibliothe kar. Sven Horre kam als dritter dazu, weil einer der beiden ziemlich am Ende seiner Kräfte war. Dalby hatte es mit der Lunge zu tun. Er saß bald zwanzig Jahre im Zuchthaus. Mit fünfzig war er hi neingekommen, jetzt hatte er fast die Siebzig er reicht. Er konnte seine Ablösung gerade noch einige Wochen einarbeiten, dann legte er sich nieder, quälte sich einige Tage und starb. Sven Horre war nur wenige Wochen mit dem Alten zusammen, aber er gewann schnell dessen Ver trauen. Dalby war die meiste Zeit seines Lebens Seemann gewesen, nicht schlechter und nicht besser als ande re. Eines Tages hatte ein Sturm das Schiff, auf dem er als Steuermann diente, so zerschlagen, daß sich die Mannschaft in die Boote retten mußte. Zwei Boo te erreichten diese Insel. Die Besatzung richtete sich unten in der Nähe des Strandes ein, um die Boote auszubessern. Man wollte sich von einer der Inseln zur anderen schlagen und allmählich nach Mähe kommen. Während die anderen unten arbeiteten, streiften Dalby und einer seiner Kameraden die Insel ab. Durch Zufall entdeckten sie, daß sich hier oben eine Höhle befand. Sie drangen ein und fanden vier Kisten, die seit langem in der Höhle stehen mußten. Eine davon öffneten sie. Die Kiste enthielt Goldbar 151
ren. Da Dalby und der andere wegen der vorgerück ten Zeit zum Strand hinunter mußten, begnügten sie sich mit dieser Feststellung. Sie schlossen die Höhle so sorgfältig wie möglich und wurden sich einig, vorläufig über den Fund zu schweigen, um ihn dann später unter sich aufteilen zu können. Sie kamen nicht wieder zu der Höhle zurück, denn am nächsten Morgen näherte sich der Insel ein Schiff, das die Schiffbrüchigen aufnahm. Dalby und sein Partner kehrten nach Oslo zurück. Hier waren die beiden beheimatet, hier hofften sie auch, das Geld aufzutreiben, um den Schatz bergen zu können. Eines Tages kam Dalby dahinter, daß sein Partner unehrliches Spiel trieb. Es kam zu einer Auseinan dersetzung, in deren Verlauf Dalby seinen Partner in Notwehr erschlug. Er konnte jedoch die Notwehr nicht nachweisen und erhielt deshalb seine Strafe. Nach einem halben Jahr versuchte er einen Ausbruch und verletzte dabei einen Wärter ziemlich schwer. Dafür kam er dann ins Zuchthaus. Das alles vertraute Dalby dem jungen Sven Horre an. Er verriet ihm sogar die genaue Lage des Schat zes und den Weg, den er nehmen müsse, um zu der Insel zu kommen. Sven Horre wußte nicht, ob er die Angaben ganz für voll nehmen durfte. Er wußte, daß Seeleute eine 152
eigene Art haben, Dichtung und Wahrheit miteinan der zu mischen. Jedenfalls bezog er aber den fernen Schatz zukünftig doch in seine Pläne ein. Der zweite Mann, den Sven Horre in der Zucht hausbücherei kennenlernte, hieß Gustav Lampert. Er stammte aus Deutschland. Als Sven Horre ihn ken nenlernte, war er ungefähr fünfzig Jahre alt, sah aber aus wie siebzig. Er saß seit mehr als fünfundzwanzig Jahren im Zuchthaus. Man hatte ihn zu lebenslängli chem Kerker verurteilt. Dabei behauptete er immer noch, unschuldig zu sein. Der Mann, der ihn ins Zuchthaus gebracht hatte, hieß Kragerö und war der Vater von Jens Kragerö. Der Vater von Gustav Lampert war Teilnehmer ei ner Grönland-Expedition, die von einem deutschen Professor geführt wurde. Die Expedition stieß auf rei che Marmorvorkommen an der Ostküste Grönlands. Der Professor gab der dänischen Regierung, die ja als Besitzerin Grönlands gilt, nach seiner Rückkehr ent sprechende Mitteilung. Lamperts Vater sicherte sich als erster die Abbaurechte, auf die man damals in Dä nemark nicht viel Wert legte, weil man an eine ernste wirtschaftliche Bedeutung nicht glaubte. Lampert ver fügte nicht über genügend Mittel. Er sah sich nach ei nem Partner um und fand ihn in dem alten Kragerö. Dieser war Norweger. Daraus ergab sich in der Folge zeit, daß Norwegen jenes Gebiet für sich beanspruch 153
te, so daß Grönland zwar zu Dänemark gehörte, in je nem Küstenstreifen aber norwegischer Oberhoheit un tersteht. Der Streit über die damals verbundenen Fra gen ist bis heute nicht ausgetragen worden. Der Abbau des Marmors erwies sich als außeror dentlich lohnend, aber der alte Lampert starb, bevor er noch einen Gewinn aus seinen Rechten herausho len konnte. Die Ursachen seines Todes sind nie ganz geklärt worden. Gustav Lampert glaubte, daß Kragerö seinen Vater beseitigt habe. Er konnte es ihm freilich nicht nach weisen. Als er das Erbe seines Vaters antrat, behaup tete Kragerö, seine Rechte seien nichts wert und das gesamte Marmorvorkommen gehöre ihm allein. Er wies gefälschte Abtretungen und alles mögliche vor. Andererseits besaß Gustav Lampert aber die Origi nalnachweise, mit deren Hilfe er einen Sieg über Kragerö davonzutragen hoffte. Er nahm deshalb den Kampf gegen den Betrüger auf. Eines Tages wurde die Frau, die Lampert liebte, ermordet aufgefunden, neben ihr ein Mann, den Lampert nie in seinem Leben gesehen hatte. Man be schuldigte ihn, die beiden aus Eifersucht getötet zu haben. Gustav Lampert sah sich einer Fülle von Indi zien und Beweisen gegenüber, auf Grund derer man ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilte. Kra gerö hatte seinen Gegner beseitigt. 154
Gustav Lampert erhoffte nichts mehr für sich, als er Sven Horre kennenlernte. Er spürte aber den Haß des Jüngeren gegen Kragerö, der sich mit seinem ei genen Haß traf. Sven Horre schwor ihm, alles zu tun, um die beiden Lampert an den Kragerös zu rächen. Dafür vermachte ihm Gustav Lampert die Papiere, die seine Eigentumsrechte nachwiesen. Er hatte sie schon damals, vor seiner Inhaftierung, sicher unter gebracht. Sven Horre erfuhr, wo er sie finden konnte, und erhielt dazu von Lampert alle Bestätigungen und Vollmachten, die jenes Marmorvorkommen in sein Eigentum überführten. Im vierten Zuchthausjahr wurde Sven Horre be gnadigt und entlassen. Er kehrte in die Welt zurück, aber er war nicht mehr der Sven Horre von damals, sondern ein ganz anderer. Als Liebender hatte er die Freiheit verloren, als Hassender erhielt er sie zurück. Aus dem Jüngling war ein Mann geworden. Was ihm früher wichtig und bedeutsam und erstrebenswert er schienen war, ließ ihn kalt. Er kannte nur ein Ziel – seine Rache. * Sun Koh und seine Begleiter hörten die lange Erzäh lung schweigend an. Es war manches dabei, was sie nicht ganz faßten, weil es aus einer anderen Lebens155
und Weltanschauung heraus kam oder persönlichstes Erleben war. Aber das Wesentlichste trat klar und deutlich hervor. Sven Horre war ein Mensch, dessen Leben durch einen niederträchtigen Feind aus seinem Gleichmaß gebracht worden war. Außergewöhnlich war nur, daß er jetzt wirklich die Mittel gefunden hatte, die es ihm ermöglichten, an den Vollzug seiner Rechte zu denken. »Sie sprachen von einem Marmorvorkommen auf Grönland«, sagte Sun Koh. »Ich kenne jenes Gebiet, über dem trotz der dänischen Oberhoheit die norwe gische Flagge weht. Ich weiß zufällig auch, daß eine Firma Kragerö die Ausbeutung des Marmors vor nimmt. Ist es richtig, daß Sie Eigentumsrechte daran nachweisen können?« Sven Horre nickte. »Ja. Bei den Papieren handelt es sich um Besitzur kunden, Schürfrechte und anderes. Ich bin freilich kein Jurist und kein Fachmann und kann deshalb keine sichere Beurteilung abgeben, aber die Papiere scheinen mir doch die Rechte an jenem Gebiet zu begründen. Lampert versicherte mir jedenfalls, daß der Prozeß gegen Kragerö damit unbedingt zu ge winnen wäre. Ich habe sie unten im Boot. Wenn es Sie interessiert, will ich sie Ihnen gern zeigen.« »Es eilt nicht«, sagte Sun Koh. »Nehmen wir einstweilen an, daß die Papiere tatsächlich den Wert 156
besitzen, den Lampert ihnen zuschrieb. Die Rechte an jenem grönländischen Küstenstreifen würden dann auf Sie übergehen. Legen Sie besonderen Wert darauf, an Kragerös Stelle zu treten und die Marmor lager weiter auszubeuten?« Sven Horre stutzte. »Nein«, gab er zögernd zur Antwort. »Für mich haben jene Papiere eigentlich nur insofern Wert, als sie mir helfen, Jens Kragerö zugrunde zu richten. Warum fragen Sie?« »Ich habe Lust, Ihre Rechte zu erwerben.« »Warum?« Sun Koh lächelte flüchtig. »Nehmen Sie an, daß mir das Marmorgeschäft lohnend erscheint.« Sven Horre schüttelte den Kopf. »Sie machen nicht den Eindruck eines Geschäfts mannes. Aber ich will Sie nicht drängen, Ihre Gründe zu verraten. Ich will Ihnen die Rechte schenken, so bald mein Ziel erreicht ist. Wenn das Gericht mir recht und Kragerö unrecht gegeben hat, erlischt mein Interesse an dem grönländischen Marmor.« »Jens Kragerö ist damit reich geworden!« »Er ist Geschäftsmann. Ich empfinde einen Ab scheu dagegen, mich kaufmännisch zu betätigen und etwa ein Geschäft in Marmor zu leiten. Sie haben mir gestern großzügig die Hälfte des Schatzes überlassen 157
– das genügt. Erlauben Sie, daß ich Ihnen nun jene Papiere und Rechte widme, die für mich völlig wert los werden, sobald das eine Ziel erreicht ist.« »Ich will Ihnen die Papiere vorher abkaufen«, schlug Sun Koh vor. »Sie ersparen sich damit die Mühe eines Prozesses. Als Gegenwert biete ich Ih nen die restlichen zwei Kisten.« Sven Horre zog die Brauen zusammen. »Ah, jetzt verstehe ich. Sie wollen mir unter die sem Vorwand auch noch den Rest des Schatzes schenken?« »Nein, ich betrachte sogar mein Angebot als recht geringfügig. Diese grönländischen Rechte besitzen für mich einen außergewöhnlichen Wert.« Sven Horre blickte Sun Koh aufmerksam an. »Wenn es tatsächlich so ist, will ich gern auf Ihre Vorschläge eingehen. Aber ich muß zur Bedingung machen, daß Sie von sich aus den Prozeß gegen Kra gerö führen.« »Sie können sich darauf verlassen.« »Gut, dann werde ich Ihnen die Papiere übereig nen, sobald wir zu einem Notar kommen. Es ist viel leicht noch besser so, wenn Sie den Prozeß von sich aus führen, denn dann weiß Kragerö nicht so schnell, daß ich hinter allem stehe. Er soll es erst erfahren, wenn er am Ende ist.« »Sie wollen sich rächen?« 158
»Ich kenne nur dieses eine Lebensziel«, gab Horre ruhig zu. »Rache ist kein Lebensziel!« »In meinem Fall doch. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die noch die rechte Backe hinhalten, nachdem sie auf die linke geschlagen worden sind. Die Leute, die mich um alles gebracht haben, was mir wert schien, werden es büßen müssen. Abgese hen davon hoffe ich den Nachweis führen zu können, daß ich damals unschuldig verurteilt wurde.« »Das zu erstreben, ist Ihr gutes Recht. Aber eine Rache darüber hinaus dürfte ein Leerlauf sein.« In das Gesicht Sven Horres stieg eine leichte Röte. »Ich habe vier Jahre lang nichts anderes getan, als auf die Zeit gewartet, in der ich jenen Burschen alles heimzahlen könnte. Ich habe mich unzählige Stunden damit befaßt, mir meine Rache auszumalen. Kragerö hat mir mein Leben und mein Glück verdorben, ich habe jahrelang gelitten und die schwerste Schmach getragen – glauben Sie, daß ich nun mit einer groß mütigen Geste das alles wegwischen könnte? Nein!« Das klang so entschieden, daß Sun Koh auf einen weiteren Versuch, den Mann aus der Enge seiner Blickrichtung hinauszuführen, verzichtete. Sven Horre würde Zeit brauchen, um die Bezirke des Lebens wie der sehen zu lernen, die außerhalb seiner Rache lagen.
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7.
Jens Kragerö war in den letzten Jahren ziemlich dick und der große Mann Norwegens geworden. Man kannte seinen Namen ebenso gut in Hammerfest wie in Oslo, er besaß zahlreiche Unternehmungen, saß in Dutzenden von Aufsichtsräten, kontrollierte ganze Wirtschaftszweige und hielt die Banken in der Hand. Jens Kragerö war eine Macht. Kein Wunder, daß er lachte, als er eines Morgens eine Klageschrift in der Hand hielt. »Das ist ja ein Witz!« Er blickte grinsend zu sei nem Sekretär auf, der ihm nach Bedarf die eingegan gene und vorgeprüfte Post zureichte. »Haben Sie das gelesen?« Der Sekretär begnügte sich mit einem stummen Nicken. »Na, und was sagen Sie dazu?« erkundigte Krage rö sich. »Was sagen Sie dazu, daß mich dieser – die ser Sun Koh auf Grund alter Urkunden veranlassen will, die Marmorbrüche auf Grönland abzugeben?« »Ein kühnes Unterfangen«, sagte der Sekretär vor sichtig. »Das kann man wohl kühn nennen. Mich wundert es nur, daß sich die Gerichte für derartige Scherze hergeben. Und noch mehr wundert es mich, daß Doktor Björnsen diesen witzigen Herrn vertreten 160
will.« »Anwalt Björnsen gilt allgemein als ebenso vor sichtig wie tüchtig.« Kragerö wischte mit einem Anfall von Ärger das amtliche Schreiben beiseite. »Seine Tüchtigkeit ist über jeden Zweifel erhaben, aber vorsichtig scheint er nicht zu sein. Auf jeden Fall legt er offenbar keinen Wert mehr darauf, durch mich beschäftigt zu werden. Kümmern Sie sich um diese Angelegenheit. Insbesondere möchte ich wis sen, wie sich dieser Sun Koh auf Papiere berufen kann, die dem früheren Partner meines Vaters gehört haben.« Damit war die Angelegenheit für diesen Tag erle digt. Wenige Tage später lag vor Jens Kragerö eine einstweilige Verfügung, kraft derer es ihm untersagt wurde, aus den Marmorbrüchen des Upstyk-Fjordes auf Grönland weiterhin Marmor brechen und ver schiffen zu lassen. Kragerö sah sehr finster aus, als er das Schreiben zum zweitenmal überlesen hatte. Seine praktische Bedeutung war gering, da der nahende Winter ohne hin die Marmorgewinnung für das nächste halbe Jahr stillegte, aber es schien Kragerö nicht recht faßbar, daß man gegen ihn mit einer einstweiligen Verfügung vorging. Das traf nicht seinen Geldbeutel, denn jene Marmorbrüche stellten nur den kleinsten Teil seiner 161
Unternehmungen dar, aber es traf seine Eitelkeit. »Berichten Sie!« befahl Kragerö seinem Sekretär. »Ich gab Ihnen den Auftrag, sich um die Angelegen heit zu kümmern!« »Sehr wohl.« Der Angestellte verneigte sich. »Es ist richtig, daß Anwalt Björnson die Vertretung des Klägers übernommen hat. Der Kläger hat sich nur einen Tag in Oslo aufgehalten und ist dann mit un bekanntem Ziel abgereist. Über seine Person ist noch nichts bekannt. Der Anwalt verweigert Auskünfte. Der Klage liegen Urkunden zugrunde, die aus der Zeit der Entdeckung jener Marmorbrüche stammen. Es wird behauptet, daß Gustav Lampert, der frühere Gesellschafter Ihres Vaters, alle Rechte an den Brü chen besaß. Als Lampert damals plötzlich starb, wurden seinem Sohn Abtretungen und andere Ur kunden entgegengehalten, die jene Rechte nichtig machen sollten. Es wird behauptet, daß diese Urkun den Fälschungen gewesen seien, daß also die Firma Kragerö seit Jahrzehnten widerrechtlich Besitz und Nutznießung an jenen Brüchen innehabe!« »So?« dehnte Jens Kragerö. »Darum geht es. Nun, da wird sich dieser Sun Koh wohl die Zähne an mir ausbeißen. Ich werde ihm einen Prozeß aufmachen, daß er nach einem halben Jahr nicht mehr weiß, wo von er sich ein trocknes Brötchen kaufen soll. Haben Sie festgestellt, wieso dieser Mann in den Besitz der 162
Papiere gelangt ist, die dem alten Lampert gehört ha ben sollen? Soviel ich mich entsinne, sitzt doch sein Sohn seit Jahrzehnten im Zuchthaus.« Der Sekretär verneigte sich. »Sehr wohl, er ist aber vor einigen Wochen ge storben. Er hat jedoch bereits vor Monaten in rechts gültiger Form einen Mitgefangenen zu seinem Erben eingesetzt. Dieser andere hieß Sven Horre.« Kragerö ruckte auf. »Horre? Sven Horre? Ist das …« Die Miene des Sekretärs blieb undurchdringlich wie zuvor. »Es ist der gleiche Sven Horre, der vor Jahren we gen Hochverrats verurteilt wurde. Man hat ihn vor einiger Zeit entlassen und …« »Und wenig später seine Leiche aus dem Hafen gezogen«, sagte Kragerö ungeduldig. »Ich weiß, ich habe selbst helfen müssen, ihn zu identifizieren, weil er etwas entstellt war. Wie kommen die Papiere von ihm zu diesem Sun Koh?« »Das ließ sich leider nicht ermitteln. Wahrschein lich ist er in jener Zeit als Erbe eingesetzt worden. Es steht fest, daß eine notarielle Übertragung auf die Person des Klägers vorliegt.« Jens Kragerö überlegte eine Weile, dann wies er kurz an: »Sorgen Sie dafür, daß der Aufenthalt dieses Sun Koh festgestellt wird. Wahrscheinlich möchte 163
der Mann auf diesem Weg eine kleine Abfindung er pressen. Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie die An schrift kennen. Im übrigen beauftragen Sie unsere Hausanwälte mit der Angelegenheit.« Damit war der Fall einstweilen erledigt. Am gleichen Vormittag traf Christian Damaas bei Kragerö ein. Christian Damaas war Großkaufmann, wie es viele seiner Vorfahren vor ihm gewesen waren. Was der Name Kragerö im Raum bedeutete, daß besaß der Name Damaas in der Zeit, denn die Damaas wurden schon vor zweihundert Jahren ehrenvoll erwähnt. Damaas verriet denn auch durch Kultur und innere Haltung, daß er das Erbe gepflegter Geschlechter in sich trug. Aber er sah alt aus, sehr alt und sehr müde. Er war in den letzten vier Jahren geradezu erschrek kend verfallen. Er hatte noch nicht seinen sechzig sten Geburtstag gefeiert, aber man hielt ihn allge mein für siebzig. Die beiden Herren unterhielten sich zunächst über einige geschäftliche Angelegenheiten. Das Gespräch wurde sehr höflich, aber beiderseits ziemlich zurück haltend geführt. Dann und wann ließ Kragerö eine gewisse spöttische Überlegenheit durchblicken. Be stimmt klang Spott mit, als sich Kragerö später er kundigte: »Und wie geht es Greta, meiner teuren Verlobten? Hat sie nicht Grüße an mich ausrichten 164
lassen?« »Doch«, erwiderte Damaas hastig. »Ich vergaß das ganz.« Kragerö grinste dünn. »Wenn es nur nicht Greta vergessen hat. Es wäre wirklich besser, sie würde hier in der Stadt wohnen, damit wir uns täglich sehen könnten.« »In mancher Hinsicht wohl«, gab Damaas zögernd zu. »Aber sie verträgt die Stadtluft nun einmal schlecht.« Kragerö lehnte sich zurück. Seine Lippen verzo gen sich. »Ich komme immer mehr zu dem Eindruck, daß diese Verlobung weniger die Liebe als die Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse entscheidend bestimmt hat.« »Aber…« »Ach was«, fuhr Kragerö derb dazwischen. »Sie können mir sagen, was Sie wollen. Ich habe ja schließlich Augen im Kopf. Greta weiß, daß Sie fer tig sind, wenn ich Sie fallen lasse, deshalb hat sie sich mit mir verlobt aus keinem anderen Grund.« Damaas senkte den Kopf. Nach einer Weile erwi derte er brüchig: »Ich würde lieber hungern, als Gre ta um meinetwillen zu einer Entscheidung zu veran lassen, die ihr innerlich widerstrebt. Sie müssen Ge duld mit ihr haben. Sie hat damals wohl das Nerven 165
fieber überstanden, aber jene Erschütterungen nie ganz verwunden. Und die kürzliche Feststellung vom Tod Sven Horres hat manches wieder aufgewühlt. Sie hat ihn geliebt. Es wurde zuviel in ihr zerstört, als sie erlebte, daß der Mann ihrer Liebe als Hochverrä ter ins Zuchthaus gehen mußte. Sie trauert wohl die sem Mann noch nach.« Kragerö zog die rechte Braue hoch. »Eben – und dabei sollte sie den Halunken verab scheuen. Aber leider machen ja Sie selbst es ihr un möglich, nicht wahr?« Damaas preßte die Hände gegeneinander. »Wir sprechen nicht darüber. Ich bin freilich nie völlig von der Schuld Horres überzeugt gewesen.« »Ich um so mehr«, entgegnete Kragerö. »Der Kerl war der geborene Lump. Sogar nach seinem Tod be geht er noch Verbrechen.« »Wie meinen Sie das?« »Gott«, meinte Kragerö, »die Geschichte ist ein bißchen verwickelt. Er hat von einem anderen Zucht häusler Papiere geerbt und an irgendeinen Wildfrem den verkauft. Dieser möchte nun mit den Papieren Geld aus mir herauspressen. Ich erzähle Ihnen ein andermal davon.« Damaas verabschiedete sich. Der Händedruck, den die beiden austauschten, war nicht mehr als eine küh le Förmlichkeit. Die beiden Männer hatten keine in 166
nere Beziehung zueinander. * Olaf Odnäs ging müden Schrittes heimwärts. Seine Beine schleppten, als wollten sie den stämmigen, un tersetzten Körper nicht mehr tragen. Von einem Kirchturm klangen die Schläge der Mittagsstunde. Für Olaf Odnäs war das eine unge wohnte Zeit, seine Wohnung zu betreten. Seine Frau schrak denn auch zurück, als sie ihn vor sich stehen sah. »Olaf – du?« entfuhr es ihr. Er schloß die Tür hinter sich, legte den Arm um sie und zog sie in die schmale Küche. Hier ließ er sich schwer auf dem Stuhl, der zwischen Tisch und Truhe eingeklemmt stand, nieder. »Was ist denn?« drängte sie angstvoll. »Warum kommst du jetzt?« Olaf Odnäs strich sich über die Stirn, dann zog er seine Frau neben sich auf die Truhe. »Ich will dir’s erzählen. Wo sind die Kinder?« »Drüben«, gab sie ruhiger zurück. »Sollen sie …« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das müssen wir schon unter uns ausmachen. Wir … Ich habe wieder Pech gehabt. Das Pferd ist gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. Ich mußte es erschießen und weg 167
schaffen lassen.« »Oh!« Nichts als dieser kurze Laut kam über ihre Lippen, dann schwiegen beide. Der Kopf der Frau senkte sich tief, aber ihre Hand glitt zur Seite und legte sich auf die des Mannes. Olaf Odnäs war dreißig, seine Frau einige Jahre jünger. Sie liebte ihren Mann. Außerdem war sie sein bester Kamerad – in jenem tiefen Sinn, in dem man allein neben die Liebe noch Kameradschaft setzen kann. Sie besaß jenes starke Einfühlungsvermögen, das ihr erlaubte, die Erschütterungen ihres Mannes mitzuerleben und mitzutragen. Deshalb weinte und zeterte sie nicht und machte ihm auch nicht zum Vorwurf, was ihm schon Leiden war, sondern ließ die böse Nachricht mit den Sekunden und Minuten verschwinden. Endlich räusperte sich Olaf Odnäs. »Du mußt es nicht zu schwer nehmen«, versuchte er zu trösten. »Ich werde den großen Wagen verkau fen und mir einen kleineren zulegen. Darauf bringe ich auch alles unter, was ich so im Laufe des Tages verkaufe. Der große war eigentlich gar nicht nötig. Wir hätten uns die Kosten für das Pferd schon lange sparen können.« Ein kärgliches Lächeln ging um die Lippen der Frau. So war Olaf. Eben hatte er einen schweren 168
Schlag erhalten, aber schon richtete er sich wieder auf. In einigen Tagen pfiff er ein frohes Lied und er klärte es für einen großartigen Zustand, im Handwa gen Gemüse und Obst an den Straßenecken zu ver kaufen. »Es ist nur wegen der Kinder«, sagte sie leise. »Wir brauchen ja beide nicht viel, und vielleicht ar beiten wir uns auch wieder hoch, aber was soll mit den Kindern werden? Olaf kommt in die Schule. Er ist ein kluger Junge. Wenn wir Geld hätten …« Er tätschelte behutsam die Hand seiner Frau. »Wir werden es haben, auch ohne Pferd. Etwas können wir schon noch sparen.« »Wenn nicht etwas Neues dazwischenkommt«, seufzte sie leicht. »Ich will dir das Herz nicht schwermachen, Olaf, aber mir wird es allmählich unheimlich. Seit Jahren werden wir vom Unglück verfolgt. Wir haben beide Vermögen besessen und haben groß angefangen – heute aber mußt du mit dem Handwagen an den Ecken stehen. Werden wir für eine Sünde bestraft? War es vielleicht unrecht, daß du damals für Horre eingetreten bist?« Olaf Odnäs beugte sich vor und stützte die Arme auf die Knie. »Es kann kein Unrecht gewesen sein«, murmelte er dumpf. »Sven Horre ist mit mir zusammen aufge wachsen. Ich kannte ihn. Für mich war er unschul 169
dig, wenn man ihn auch des Hochverrats bezichtig te.« »Ja, aber …« »Freilich«, kam er zuvor, »von da an ging es berg ab. Mir fehlten dann die baren Mittel. Unter gewöhn lichen Umständen hätte man mir Kredit gegeben, aber irgend jemand muß mich in der Stadt verleum det haben. Du weißt doch, wie ich wegen lächerli cher Beträge gelaufen bin, ohne auch nur den gering sten Kredit zu bekommen. Wir mußten das große Geschäft, in dem wir heute reich sein könnten, auf geben. Und so ging es weiter, Schritt für Schritt. Es ist – zum Verzweifeln.« Sie fühlte, daß es Zeit für sie wurde, zu trösten. »So schlimm ist es ja nun wieder nicht, Olaf«, wi dersprach sie. »Wir haben noch immer genug zu es sen gehabt. Und wir sind jung und kräftig, um auch weiterhin unser tägliches Brot verdienen zu können. Es wäre viel schlimmer, wenn mit einem von uns et was geschehen würde. Übrigens habe ich vorhin Her renbesuch gehabt.« »Ein Hausierer?« »Es war ein sehr feiner Herr. Er kam in einem prachtvollen Wagen. Eigentlich hat er mich ein biß chen an deinen Freund Horre erinnert.« »Was wollte er denn?« »Er hat dieses Haus gekauft und wollte sich nun 170
die Wohnungen wegen etwaiger Ausbesserungen an sehen.« »Ein tüchtiger Hausbesitzer. Wie heißt er denn?« »Sir Reginald Horton. Ich verstand erst seinen Namen nicht, aber er zeigte mir dann den Kaufver trag, von dem ich den Namen ablesen konnte.« »Ein Engländer?« »Sicher, aber er sprach fließend Norwegisch, wenn auch mit fremdem Beiklang.« »Will er denn die Wohnungen herrichten lassen?« »Er hat sich alles angesehen und sich nach vielem erkundigt«, sagte sie. »Unsere Lebensverhältnisse schienen ihn zu interessieren. Sogar mit den Kindern hat er sich eine ganze Weile abgegeben. Als er sich verabschiedete, sagte er, wir würden von ihm hören.« »Hat er sich auch die Dachwohnungen angese hen?« »Nein, er schien keine Zeit mehr zu haben. Er war nur bei uns.« »Besondere Ehre.« Olaf Odnäs lächelte. »Ich habe heute früh übrigens auch einen Herrn kennengelernt, der mich an Sven Horre erinnerte. Er kaufte ein Pfund Äpfel bei mir, obwohl er nicht wie ein Mann aussah, der sich seine Äpfel selbst zu kaufen pflegte. Der arme Kerl hatte einen steifen Arm.« »Der linke?« »Allerdings, es war der linke Arm«, wunderte sich 171
Odnäs. »Wie kommst du darauf?« »Unser neuer Hauswirt hat ebenfalls einen steifen linken Arm, wenigstens kann er ihn vom Ellbogen abwärts schlecht bewegen.« »Trug er einen dunkelbraunen Bart?« »So braun wie sein Kopfhaar. Außerdem besaß er eine graue Brille …« »Wie bei mir. Er war einige Jahre älter als ich?« »Ja, so habe ich auch geschätzt.« »Dann hat sich Sir Reginald Horton doch eigen händig Äpfel bei mir gekauft«, folgerte Odnäs. »Un ser Hauswirt scheint seine Eigenheiten zu haben.« Es klingelte. »Die Kinder?« »Die Kinder sind es nicht«, sagte seine Frau, wäh rend sie sich erhob. »Vielleicht die Post.« Sie lief hinaus und öffnete. Eine Männerstimme klang auf. Olaf Odnäs ging hinaus, weil er hörte, daß nach ihm gefragt wurde. Ein gutgekleideter Herr stand draußen. »Rechtsanwalt Valand«, nannte er noch einmal seinen Namen. »Darf ich Sie um eine Unterredung bitten?« Olaf Odnäs spürte ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. »Bitte, treten Sie ein«, bat er höflich und öffnete die Tür zur Stube. Seine Frau wollte zur Küche, aber 172
er hielt sie fest. »Komm mit, es ist besser, wir hören gleich zu sammen.« »Darum wollte ich eben bitten«, sagte Valand freundlich, während er auf dem zugewiesenen Stuhl Platz nahm. »Im Grunde genommen habe ich Ihnen nicht viel zu sagen. Aber ich darf andeuten, daß es sich für Sie um eine freudige Überraschung handelt.« »Ja?« »Ich müßte Ihnen einige Aufklärungen geben«, fuhr der Anwalt fort, »aber ich bin durch bestimmte Weisungen gebunden. Mein Auftrag geht zunächst dahin, daß ich Sie bitten muß, eine kleine Stadtfahrt zu unternehmen. Ich hoffe, daß Sie genügend Ver trauen besitzen, um keine Befürchtungen abzuleiten. Mein Wagen steht unten. Es ist nicht nötig, daß Sie sich erst umziehen, aber es steht Ihnen frei. Wir kön nen jedenfalls sofort abfahren.« Olaf Odnäs schüttelte den Kopf. »Langsam. Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie uns in die Stadt fahren und uns dann eine ange nehme Überraschung vorsetzen?« »Ganz recht.« »Worum handelt es sich?« »Ich bin beauftragt worden, Ihnen die Überra schung nicht durch eine vorzeitige Eröffnung zu ver derben, soweit das möglich ist.« 173
»Wer hat Sie beauftragt?« »Der Name meines Auftraggebers bleibt unter al len Umständen strengstes Geheimnis.« Olaf Odnäs blickte auf seine Frau. »Was sagst du dazu?« »Ich weiß nicht«, zögerte sie, »aber wenn es sich um eine freudige Überraschung handeln soll…« »Recht hast du«, sagte er. »Wir werden die freudi ge Überraschung mitnehmen, ohne viel zu fragen. Mach dich fein, wir fahren mit dem Auto.« »Die Kinder?« »Ich gehe inzwischen zur Nachbarin und sage ihr Bescheid. Wie lange dauert die Ausfahrt, Herr An walt?« »Sie können in zwei Stunden wieder hier sein.« »Na schön. Sie müssen sich aber nun ein bißchen gedulden.« »Aber gern.« Eine halbe Stunde später stiegen sie in einen prachtvollen Wagen, der vor der Haustür stand. Die Fahrt ging in die Innenstadt, in die belebteste Geschäftsstraße hinein. Vor einem Laden mit zwei großen Schaufenstern hielt der Wagen an. Die Fen ster waren verhängt, über der Tür spannte sich ein Schild, das eine vorübergehende Schließung wegen baulicher Arbeiten verkündete. »Wir sind am Ziel«, sagte Valand und öffnete den 174
Schlag. »Bitte steigen Sie aus.« Olaf Odnäs blickte ihn ziemlich finster an. »Am Ziel? Hören Sie, wenn Sie einen schlechten Witz vorhaben, rechnen Sie nicht damit, daß ich ihn gutwillig hinnehme. Wissen Sie, daß dieses Geschäft hier für uns eine besondere Bedeutung hat? Wir sind vor einigen Jahren hier drin gewesen. Das war mein Laden!« »Ich weiß«, sagte Valand. »Bitte vertrauen Sie mir noch einige Minuten.« Olaf Odnäs überwand seine Bedenken. »Gut«, entschied er, »sehen wir weiter. Komm!« Der Anwalt führte die beiden zur Haustür, durch den weiten Flur und schloß die Tür auf, die von hier aus zu dem Geschäft führte. Olaf Odnäs und seine Frau folgten mit Gesichtern, die straff und voller Spannung waren. »Erlauben Sie, daß ich vorangehe?« bat Valand. Das war für lange Zeit das letzte Wort, das er sprach. Er schritt immer voran, und die beiden folgten ihm stumm. Der Laden war wie damals für Feinkost, Wild und Geflügel, Weine und Delikatessen aller Art einge richtet. Vieles hatte sich verändert, frühere Mängel waren beseitigt worden, technische Errungenschaften der letzten Jahre eingebaut. Olaf Odnäs war in die sem Fach groß geworden und verstand etwas von 175
seinem Beruf. Er erkannte bald, daß hier eine Ver kaufsstätte geschaffen worden war, die man schlecht hin als vollkommen bezeichnen mußte. Nach Umbau sah es freilich jetzt nicht mehr aus. Der Laden konnte in der nächsten Minute geöffnet werden. Die Regale waren gefüllt, die Schaufenster vorgerichtet, die Weinkeller und Kühlräume konnten nichts mehr aufnehmen. Alle Waren verrieten durch ihre Frische, daß sie erst in den letzten Stunden ein getroffen sein konnten. Es war eine Pracht. Olaf Odnäs spürte einen Kloß im Hals, den er auch durch gelegentliches Räuspern nicht herausbekom men konnte. Der Rundgang dauerte lange. Endlich betraten die drei das Büro, das rieben den Ladenräumen lag. Man setzte sich. Valand entnahm einer Mappe verschie dene Papiere und begann wieder zu sprechen. »Ich habe Ihnen nunmehr einige Mitteilungen zu machen«, sagte er lächelnd. »Diese Führung erfolgte natürlich nicht von ungefähr, sondern sollte Ihnen ei nen Überblick über Ihr zukünftiges Arbeitsgebiet ge ben. Dieses Ladengeschäft mit seinem gesamten Zu behör sowie allen Vorräten ist von heute an Ihr unbe schränktes Eigentum. Mein Auftraggeber hat alles erworben und auf Ihren Namen überschreiben lassen. Die Einzelheiten gehen aus diesen Urkunden her vor.« 176
Olaf Odnäs hob sich halb aus seinem Sessel her aus. »Was? Sagen Sie das noch mal! Dieser Laden …« »Gehört Ihnen, wie er steht und liegt, wie Sie ihn eben gesehen haben.« »Aber…« »Sie können sich an Hand dieser Papiere überzeu gen!« Olaf Odnäs nahm sie zögernd, blickte hinein und legte sie auch schon wieder weg. Die Schriftzeichen waren jetzt nicht recht faßbar für ihn. Er entdeckte aber, daß dort sein Name stand. »Mein Eigentum?« würgte er schwer heraus. »Ich – wir …« Plötzlich sprang er auf und lehnte sich über den Schreibtisch vor, so daß sein Gesicht dicht an das des Anwalts kam. »Ich soll den Laden wiederhaben?« schrie er förm lich. »Geschenkt, ohne jede Gegenleistung, nur so – so – wie durch ein Wunder?« »Mein Auftraggeber sprach von einem bescheide nen Dank für das Gute, was Sie ihm einst angetan haben. Ich bin über diese vergangenen Dinge nicht unterrichtet, aber es besteht nicht eine Spur von Zweifel, daß dieses Geschäft Ihnen gehört.« Odnäs wandte sich jäh zu seiner Frau um.
»Mir? Uns? Hast du gehört? Was sagst du dazu?
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Wir sollen hier wieder anfangen?« Seine Frau hielt die Hände gefaltet. Furcht und Freude kämpften zugleich in ihrem Gesicht. »Ist das auch wahr?« flüsterte sie. »Es klingt wie ein Märchen…« »Sie haben es mit Tatsachen zu tun«, versicherte Valand, auf den die Erschütterung der beiden über sprang. Olaf Odnäs riß seine Frau hoch. »Also doch wahr! Es ist unbegreiflich, aber wahr …« Der Anwalt wartete geduldig, bis die Erregung der beiden mit halblauten Bemerkungen und abgerisse nen Ausrufen etwas abgeflaut war. Erst als sich Od näs erneut nach dem unbekannten Schenker erkun digte, griff er wieder ein. »Ich kann Ihnen den Namen nach wie vor nicht sagen. Ich bitte Sie auch, keine Nachforschungen an zustellen.« Olaf Odnäs atmete auf. »Bei Gott, ich will es dabei belassen. Aber richten Sie ihm aus, welche Freude er uns gemacht hat. Hof fentlich erweist sich nicht alles als Irrtum.« »Es hat wirklich alles seine Richtigkeit. Doch nun nehmen Sie bitte wieder Platz, wir müssen uns noch sachlich unterhalten.« Die beiden setzten sich. 178
»Mein Auftraggeber wünscht, daß bereits morgen die Ladentüren geöffnet werden. Sind Sie damit ein verstanden?« Odnäs lachte über das ganze Gesicht. »Von mir aus sofort…« »Das erforderliche Personal ist bereits angestellt worden. Heute abend um sechs Uhr werden die Leu te hier sein und sich Ihnen vorstellen. Ihr Namens schild wird im Laufe des Nachmittags angebracht werden. Die Zeitungsanzeigen sind bereits im Druck und werden in den Abendzeitungen erscheinen. Die üblichen Frischlieferungen sind bestellt und werden morgen früh eintreffen. Abschlüsse mit Lieferanten sind für die nächste Zeit ebenfalls getätigt worden. Sie haben nichts zu tun, als das Geschäft zu über nehmen und ab morgen zu leiten.« »Märchenhaft! Wer hat denn das alles vorberei tet?« »Ich habe einen Fachmann damit beauftragt. Er wird sich heute abend als Ihr erster Verkäufer bei Ih nen vorstellen. Der junge Mann ist tüchtig. Sie haben natürlich völlig freie Hand, ob Sie die vorläufigen Anstellungen später aufrechterhalten wollen. Gehen wir weiter. Sie können natürlich nicht in der Vorstadt wohnen bleiben. Ist es Ihnen recht, wenn der Umzug bereits heute nachmittag erfolgt, soweit ein solcher nötig ist? Die Vorbereitungen sind getroffen.« 179
»Umzug? Wohin denn? Wir haben doch noch eine Wohnung.« »Die Wohnung im ersten Stock ist neu vorgerich tet worden und steht zu Ihrer Verfügung.« »Hier oben?« »Über uns«, bestätigte der Anwalt. »Sie können sie nachher besichtigen. Sie ist vollkommen eingerichtet worden, daß Sie außer persönlichen Andenken nichts mitzunehmen brauchen. Ihre Gattin wird sich dann überzeugen, daß wir kaum etwas vergessen haben.« Odnäs würgte einen Kloß hinunter. »Das versteh ein anderer. Aber ich glaube, das müssen wir doch ablehnen. Die Wohnung ist sehr teuer. Und da wir vorläufig kein eigenes Geld besit zen, werden wir für den Anfang etwas sparen müssen und uns zunächst bescheidener einrichten. Ich möch te ja den Unbekannten nicht beleidigen, aber es hat keinen Zweck, aus dem vollen zu leben. Ich muß oh nehin mit Kredit arbeiten, da wollen wir das Geld lieber zusammenhalten.« »Auch in dieser Hinsicht ist Vorsorge getroffen worden«, sagte der Anwalt. »Wenn Sie diese Papiere einsehen wollen, so werden Sie feststellen, daß das ganze Haus Ihr Eigentum geworden ist.« Odnäs wischte sich über die Stirn. »Es ist noch nicht alles«, fuhr der andere fort. »Dies ist der Bankausweis über Ihr Guthaben. Sie 180
müßten nur noch dieses Unterschriftsblatt ausfüllen. Wie Sie sehen, steht auf Ihrem Konto ein recht an sehnliches Vermögen.« Odnäs starrte auf das Blatt. »Fünfzigtausend?« murmelte er. »Ja – mein Gott…« Er sank zurück, völlig fassungslos und durcheinander. Valand erhob sich und legte einen Bund Schlüssel auf den Tisch. »Das sind die Schlüssel für unten und für Ihre Wohnung. Bitte sehen Sie sich alles an. Ich habe noch eine dringende Angelegenheit zu erledigen. Wenn es Ihnen recht ist, hole ich Sie in einer Stunde wieder ab.« Er wartete nicht auf Antwort, sondern ging einfach hinaus. Olaf Odnäs und seine Frau tasteten sich schwer in das Wunderbare hinein. Sie brauchten diese Stunde des Alleinseins. Als Valand zurückkam, hatten sie sich zwar einigermaßen zurechtgefunden, waren aber immer noch wie benommen und fühlten sich noch wie im Traum. Erst die praktischen Anforderungen des Umzugs und der Vorbereitungen für den neuen Tag klärten und schufen feste Bänder der Wirklich keit. Erst am Spätabend dieses ereignisreichen Tages saßen sie sich wieder in stiller Zweisamkeit gegen 181
über. Noch einmal wurde alles lebendig, aber sie sa hen bereits von innen her. Sie saßen in der neuen Wohnung und hatten begriffen, daß ihr Leben einen neuen Ansatz gefunden hatte. »Und diesmal wird man uns so leicht nicht unter kriegen«, schloß Olaf Odnäs seine Betrachtungen. »Ein Wunder ist geschehen, und ich werde dafür sor gen, daß es nicht unter den Fingern zerrinnt. Aber eins möchte ich doch gern wissen, nämlich wer unser Wohltäter ist. Er überschüttet uns mit unbegreifli chen Geschenken, und wir können ihm nicht einmal danken.« »Du müßtest ihn doch wenigstens vermuten kön nen.« Er hob die Schultern. »Ich kann es nicht.« »Du hast manchem Gefälligkeiten erwiesen.« »Aber doch nicht mehr als kleine Gefälligkeiten …« »Und Sven Horre?« »Das ist der einzige Fall, in dem ich mich wirklich angestrengt habe. Aber Sven ist tot. Und seine Eltern sind inzwischen auch gestorben. Es bleibt rätselhaft.« »Wir wollen es dabei lassen«, riet sie. »Wenn er es für richtig hält, unbekannt zu bleiben, wollen wir nicht daran rütteln.« Am nächsten Morgen schnurrten die Läden des Fein 182
kostgeschäfts von Olaf Odnäs hoch. Unmittelbar dar auf trat der erste Kunde ein. Olaf Odnäs bediente ihn selbst. Aber er mußte sich Gewalt antun, um nicht eine ungebührliche Erregung zu verraten und eine Frage anzudeuten. Der erste Kunde war Sir Reginald Horton. 8. Jens Kragerö veranstaltete anläßlich seines Geburts tages ein Fest, zu dem er eine Menge Leute einlud. Es war das erstemal, daß er seinen Geburtstag in aller Öffentlichkeit feierte. Man munkelte, daß es ge schah, weil Kragerö in der letzten Zeit empfindliche Fehlschläge habe einstecken müssen. Das Geld sei knapp geworden, er wolle durch das Fest seine Kre ditwürdigkeit belegen. Ganz Eingeweihte wollten sogar wissen, daß Sir Reginald Horton der Geldgeber sei, den Kragerö blenden und in der angenehmen Er regung des Festes fangen wolle. Die Vermutungen trafen nicht ganz daneben. Jens Kragerö brauchte tatsächlich Geld. Unternehmungen besaß er genug, und sie stellten zweifellos bedeuten de Werte dar, aber seine vielen Unternehmungen be durften auch ständig großer Beträge flüssigen Geldes. Und damit sah es schlecht aus. Die letzten Mo nate hatten ganz verrückte Tage an der Börse ge 183
bracht. Auf- und Abwärtsbewegungen, die sich nicht aus den wirtschaftlichen Verhältnissen erklären lie ßen. Immer waren Papiere der Kragerö-Unterneh mungen die Opfer gewesen. Es sah bald so aus, als arbeite ein Mann bewußt gegen Kragerö, ein Mann, der Millionen ins Spiel werfen konnte, ohne sich ei nen anderen Gewinn als die Schädigung zu verspre chen. Dazu kamen kleinere Fehlschläge, die aber insgesamt ebenfalls nicht ungefährlich waren. Au ßenseiter wurden plötzlich zu starker Konkurrenz und unterboten hartnäckig die Preise Kragerös, so daß er zu außergewöhnlichen Anstrengungen ge zwungen wurde, Leute zogen ihre Beteiligungen her aus, die sonst nie gewagt hätten, sich von Kragerö zu lösen. Dazu kam jene unglückliche Marmorgeschichte, die Kragerö anfänglich für so bedeutungslos gehalten hatte. Der unbekannte Kläger ließ sich nicht sehen, aber die berühmtesten und geschicktesten Anwälte arbeiteten für ihn. Der Prozeß war in der ersten In stanz rettungslos verloren. Die Gerichte arbeiteten unter dem Druck der gegnerischen Anwälte mit un erhörter Schnelligkeit. Kragerö konnte zwar noch auf die zweite und dritte Instanz hoffen, aber man hatte ihm die Freude daran gründlich vergällt. Man hatte ihm eine Rechnung aufgemacht, wieviel in drei Jahr zehnten aus den Marmorbrüchen herausgeholt wor 184
den war, um welchen Betrag der Kläger entschädigt werden müsse, falls er den Prozeß gewinnen sollte. Und man hatte ihn unter Berufung auf die Prozeßlage gezwungen, diesen Riesenbetrag aus seinen Unter nehmungen herauszuziehen und sicherzustellen. Wahrhaftig, wenn der millionenschwere Sir Hor ton heute nicht Lust bekam, seine Gelder in Kragerös Unternehmungen anzulegen, konnte die nächste Zeit peinlich werden. Jens Kragerö ließ sich wenig von seinen Sorgen anmerken, als er seine Gäste begrüßte. Er war sehr liebenswürdig. Ihm zur Seite stand Greta Damaas, seine Verlobte. Sie war ernst und etwas schwermütig wie immer, aber ihre Schönheit stand über jedem Zweifel und entschädigte sogar für das fehlende La chen. Sir Horton kam spät, aber er kam. Jens Kragerö eilte auf ihn zu und begrüßte ihn liebenswürdig, um ihn dann sogleich der stellvertretenden Hausfrau zu zuführen. Greta Damaas hatte ihn schon bemerkt. Sie stand ganz steif, ihre linke Hand klammerte sich um den Arm ihres Vaters. Nie war sie bleicher gewesen als jetzt. Ihre Augen lagen weit und starr im Gesicht. Sie sah aus, als stände sie unter einem ungeheuren Krampf. Sir Horton trat auf sie zu und verneigte sich knapp. »Erlaube, daß ich dir Sir Reginald Horton vorstel 185
le«, sagte Jens Kragerö. Greta Damaas streckte ihre rechte Hand vor, als wollte sie nach Sir Horton greifen. »Sven? Sven Horre …?« Ein Seufzer war es, nur den drei Männern um sie herum verständlich, dann sank sie zusammen. Ihr Vater fing sie auf. Irgend jemand, der sich gerade näherte, griff mit zu und half, die Ohnmächtige hi nauszutragen. Sir Horton stand reglos. Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was in ihm vorging. Auch Jens Kragerö stand reglos. Seine Mienen spiegelten Verwunderung, Bestürzung und Zweifel. Ein Name war gefallen. Sven Horre. Jetzt wußte er, an wen ihn dieser Sir Horton schon immer erinnert hatte. Sven Horre. Lag hier die Erklärung für das, was in den letzten Monaten geschehen war? War Sir Horton Sven Horre, der unbekannte Gegner? Aber Unsinn, Sven Horre war tot. Außerdem hatte er zeit seines Le bens keinen Reichtum besessen. Aber wenn … Jens Kragerö zwang mit Gewalt die Flut der Über legungen nieder, denn schon brandeten bestürzte Fragen gegen ihn an. »Bitte, keine Besorgnisse«, beruhigte er. »Nur ei ne kleine Schwäche. Meine Braut wird gleich wieder erscheinen.« Sir Horton stand, als gehe ihn alles nichts an. 186
Kragerö beschwichtigte die Unruhe seiner Gäste einigermaßen, dann wandte er sich an Sir Horton. »Ein unbegreiflicher Zwischenfall. Ich bitte viel mals um Entschuldigung, Sir Horton. Meine Braut…« »Sie scheint mich mit irgendeiner anderen Person verwechselt zu haben«, sagte Sir Horton leicht be fremdet. »Ich bedaure sehr, daß ich der Anlaß einer derartigen Störung war.« »Ohne Ihre Schuld«, versicherte Kragerö. »Ohne Ihre Schuld.« »Gewiß«, sagte Sir Horton gleichgültig. »Ich hof fe, daß nichts Ernstes vorliegt. Bitte, lassen Sie sich nicht von Ihren Pflichten abhalten.« Er ging einfach weiter, und Kragerö mußte neue Gäste begrüßen. Eine Viertelstunde später trat Christian Damaas an Sir Horton heran. »Auf ein Wort, Sir Horton.« »Bitte?« Damaas strich sich flüchtig über das zersorgte und zerfallene Gesicht. »Meine Tochter möchte Sie gern für einen Augen blick sprechen. Es ist eine ungewöhnliche Bitte, aber wenn es Ihnen nicht allzusehr widersteht, so …« »Es ist mir selbstverständlich eine Ehre«, unter brach Sir Horton mit kühler Verbindlichkeit. Christian Damaas schritt voran, aber er ließ Sir 187
Horton allein in den Raum treten, dessen Tür er öff nete. Greta Damaas saß in einem Sessel. Ihre Arme la gen auf den Lehnen, als müßten sie den Oberkörper stützen. »Sven Horre?« flüsterte sie ihre Frage, als sich Sir Horton vor ihr verneigte. »Ich heiße Reginald Horton«, erwiderte er mit ei ner Zurückhaltung, die wie Schroffheit wirkte. »Reginald Horton?« wiederholte sie tonlos. »Aber gibt es zwei Menschen, die sich so vollkommen ähn lich sein können? Täuscht mich mein Gefühl so stark? Bist du – sind Sie wirklich nicht Sven Horre?« »Nein«, kam kurz und knapp die Antwort. Sie straffte sich, wechselte den Tonfall. »Ich bitte um Verzeihung, Sir Horton. Ich habe Sie mit einem Mann verwechselt, der mir einmal sehr nahe gestanden hat. Ich – habe ihn geliebt!« »Dann muß Sven Horre sehr glücklich gewesen sein!« »Wir waren beide glücklich, bis er eines Tages wegen Hochverrats verhaftet wurde. Man verurteilte ihn zu Zuchthaus.« »Es ist hart, seine Liebe einem Unwürdigen zu schenken. Ich hoffe, daß Ihr Verlobter alle Enttäu schung überwinden hilft.« Sie schauerte unter der Schroffheit seines Tonfalls 188
zusammen. »Sven Horre war unschuldig«, sagte sie leise. »Ich …« »Verzeihen Sie«, fiel er hart ein, »es ist taktlos, Sie durch meine Gegenwart weiter an Vergangenes zu erinnern. Ich werde Ihren Verlobten verständigen.« Er verneigte sich und ging zur Tür. Als er die Klinke in die Hand nahm, rief Greta Damaas plötz lich: »Der Knopf!« Sir Horton ließ den Griff los und fuhr mit der Hand zum Rücken. Er vollendete die Bewegung nicht. Einen Augenblick später stand er draußen. Christian Damaas erwartete ihn vor der Tür. In seinem Gesicht lagen bange Fragen. Sekundenlang schien der Ausdruck in Hortons Gesicht Antwort zu geben, aber schon verschloß sich seine Miene wieder. »Sir Horton?« »Ihre Tochter hatte mich mit einem Mann, dem ich wohl ähnlich sehe, verwechselt. Der Irrtum ist aufgeklärt.« »Ja?« seufzte Damaas. »Kommen Sie, ich möchte noch einige Worte dazu sagen.« Sir Horton folgte in ein anderes Zimmer. »Sven Horre war Offizier«, begann dort Damaas unvermittelt. »Er und Greta standen kurz vor ihrer Verlobung. Er war blond, bartlos und trug keine Bril le, aber sonst gleichen Sie ihm bis auf die kleinste 189
Bewegung. Eines Abends wurde er aus meinem Haus heraus verhaftet. Man beschuldigte ihn des Hochver rats und verurteilte ihn zu fünf Jahren Zuchthaus. Als Greta von seiner Verhaftung erfuhr, bekam sie ein schweres Nervenfieber, an dem sie monatelang krank lag. Sie ist äußerlich wieder gesund geworden, aber sie hat Sven Horre nicht vergessen.« »Trotz seines Verbrechens?« warf Sir Horton spröde hin. »Wir beide haben ihn stets für unschuldig gehalten und glauben noch heute an seine Unschuld. Er war ein prachtvoller Mensch und eines solchen Verge hens unfähig.« Sir Horton beugte sich etwas vor. »Ihre Überzeugung wird für Sven Horre sicher ein starker Trost sein.« »Er ist tot. Vor länger als einem Jahr entließ man ihn aus dem Zuchthaus. Kurze Zeit später fischte man seine Leiche aus dem Wasser. Er hat wohl den Tod gesucht.« »Warum kam er nicht zu Ihnen, zu seinen Freun den, wenn er sich unschuldig fühlte?« »Er mußte annehmen, daß wir ihn für schuldig hielten. Ich reiste mit Greta kurz nach der Verhaf tung ab, weil ich die Erschütterung abmildern wollte. Wir befanden uns in all den Monaten im Ausland, während hier in Oslo der Prozeß gegen Sven Horre 190
durchgeführt wurde. Ich hätte mich darum kümmern sollen, ich hätte für ihn eintreten müssen, aber ich kannte damals nichts als Sorge um meine Tochter. Ich habe mir erst später überlegt, was es für ihn be deutet haben muß, daß er nichts von uns hörte. Als wir dann zurückkamen, saß er bereits im Zuchthaus, verurteilt auf Grund eindeutiger Beweise. Greta glaubte auch diesen Beweisen nicht, aber ich mußte mich ihnen beugen. Und ich war für das Schicksal meiner Tochter verantwortlich. Suchen Sie den Va ter, der freudig zustimmt, wenn seine Tochter einen überführten Hochverräter liebt und auf ihn warten will. Ich habe mich damals dafür entschieden, Greta zum Vergessen zu bringen. Sie schickte mich zu Sven Horre. Ich sagte ihr, daß ich dort gewesen sei und daß er sich zu seiner Schuld bekenne. Es war ei ne Lüge, aber ich glaubte, sie verantworten zu dür fen. Darauf schrieb sie an Sven Horre, aber sie er hielt niemals Antwort, da ich den Brief unterschlug.« Sir Horton blickte zu Boden. Er nahm durch die leiseste Regung Stellung. Damaas fuhr fort: »Wenn Sven Horre unschuldig war, so habe ich unverzeih lich gehandelt. Aber ich hoffte, Greta würde verges sen. Meine Hoffnung war falsch. Sie hielt an ihrer Liebe fest. Und als sie vom Tode Sven Horres erfuhr, brach sie zum zweitenmal zusammen. Damals ge stand ich ihr alles. Nun sind wieder viele Monate 191
darüber vergangen. Heute habe ich gesehen, daß sie Sven Horre immer noch liebt. Deshalb wurde sie bei Ihrem Erscheinen ohnmächtig.« Sir Horton fuhr sich mit der Hand an die Kehle, als müßte er dort etwas beseitigen. »Ihre Tochter ist verlobt«, sagte er rauh. »Wie paßt das zu dem, was Sie mir erzählten?« »Ich bin Großkaufmann – aber nur von Jens Kra gerös Gnaden. Greta weiß das, deshalb hat sie sei nem Antrag zugestimmt. Bisher habe ich es nur ver mutet, seit heute weiß ich es. Ich werde meine Folge rungen daraus ziehen. Ich …« Die Tür wurde geöffnet. Ein Diener erschien. »Verzeihung, ist Sir Horton^.« »Ja?« Horton erhob sich. »Ihr Diener wartet draußen mit einer sehr dringli chen Nachricht, Sir!« »Ich komme sofort. Sie entschuldigen mich bit te …« Er verneigte sich und ging hinaus. Eine Minute später stand Christian Damaas vor seiner Tochter. Er blickte betroffen in ihr verweintes, aber doch leuchtendes Gesicht. So hatte er es seit Jahren nicht mehr gesehen. »Greta – was ist mit dir?« »Hast du noch mit ihm gesprochen?« fragte sie ha stig. 192
»Mit Sir Horton? Ja, ich habe ihm die Aufklärun gen gegeben, die ich ihm schuldig war.« »Und – was hat er gesagt?« »Nichts – wir wurden unterbrochen, er mußte fort. Aber er schien Verständnis zu haben.« »So?« »Ja. Übrigens, Kind, eine ernste Frage. Ist diese Verlobung mit Kragerö nicht eine Lüge? Du hast heu te verraten, daß du Sven Horre immer noch liebst.« Sie sah ihn frei an. »Ja, ich liebe ihn immer noch.« »Das wurde mir heute klar. Deshalb werde ich morgen meine Geschäftsverbindungen mit Kragerö lösen, damit du nicht weiter in Versuchung kommst, dich für mich aufzuopfern.« »Du mußt ohne ihn die Firma schließen!« »Auf diese Gefahr hin.« »Das ist gut«, sagte sie aufatmend. »Ich hatte mich ohnehin entschlossen, die Verlobung aufzuheben. Ich habe damals aus Gleichgültigkeit und um deinetwil len zugestimmt. Es wird mir nicht leichtfallen, Sven davon zu überzeugen, daß ich ihn allein immer ge liebt habe.« Damaas schob sie bestürzt ein Stück weg. »Sven? Wovon redest du? Sven Horre ist tot.« »Sir Horton ist Sven«, sagte sie einfach. »Man muß sich damals getäuscht haben.« 193
»Wie kannst du das so bestimmt behaupten? Ge wiß, die Ähnlichkeit ist in manchem erstaunlich, aber …« »Sie ist vollkommen«, fiel sie ein. »Mein Gefühl täuscht mich nicht. Ich wußte, daß es Sven war, als ich ihn zum erstenmal sah. Er leugnet es, aber ich weiß es besser. Als er vorhin wegging, rief ich ihm zu ›der Knopf‹. Das war früher stets mein letztes Wort, worauf dann Sven stets nach dem Koppel knopf griff, um ihn unterzuhaken oder eine Blume oder etwas anderes wegzunehmen. Sir Horton mach te genau die gleiche Bewegung, die Sven an sich hat te, dabei trug er weder Uniform noch Knopf. Es ist Sven!« »Ich weiß nicht«, sagte Damaas zögernd. »Und wenn er es ist – was willst du tun?« Sie gab keine Antwort, aber über ihre Lippen ging ein Lächeln, das tausend Worte sprach. * Inzwischen hatte Jens Kragerö eine Unterredung, die ihm zehn Jahre Zuchthaus einbrachte. Und der Mann, mit dem er sprach, kam nicht besser weg. Es war Bygland, die frühere Schreibkraft Sven Horres. Er war kurz nach der Verurteilung Horres zu Vermö gen gekommen und lebte seitdem von den Zinsen. 194
»Sind Sie verrückt?« schnaubte Kragerö ihn wü tend an, als er sein Arbeitszimmer betrat. »Was fällt Ihnen ein, hierher zu kommen und auch noch ausge rechnet heute? Wenn dieser Schafskopf von Diener Sie nicht schon hierher geführt hätte …« »Ich muß Sie sprechen«, fiel Bygland ärgerlich ein. »Wissen Sie, daß Sven Horre lebt und sich in dieser Stadt befindet?« Kragerö prallte zurück. »Was? Wie kommen Sie auf diese Behauptung? Er ist tot!« »Er lebt! Sir Horton nennt er sich jetzt. Ich habe ihn unten gesehen.« »Teufel, meine Ahnung. Wissen Sie Genaueres?« »Ich habe es durch Zufall erfahren. Ich saß in mei ner Laube. Zwei Männer gingen vorüber. Sie blieben in der Nähe für einen Augenblick stehen und unter hielten sich von einem Sir Horton, in dessen Auftrag sie mich überwachen sollten. Sie erwähnten, daß Sir Horton Sven Horre ist und sich an mir rächen will. Dabei wiesen sie auf mein Haus, gingen aber weiter. Ich bin sofort hergekommen.« »Und was wollen Sie hier?« »Vor allem Geld«, gab Bygland kurz zurück. »Ich will fort, habe keine Lust, mit einem Sven Horre an zubinden, der schwerreich geworden ist!« »Geld?« höhnte Kragerö. »Sie haben genug be 195
kommen. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie aus. Sven Horre, wenn er es wirklich ist, kann Ihnen nichts nachweisen.« »Er will sich rächen«, erwiderte Bygland bedeu tungsvoll. »Daß ich die Durchschläge ohne sein Wis sen in Ihrem Auftrag angefertigt habe, kann er mir nicht beweisen, aber er wird nicht mehr danach fra gen. Er weiß ja auch so, daß er unschuldig ist und daß wir falsch geschworen haben. Tragen Sie es meinetwegen mit ihm aus, ich habe keine Lust, tot aufgefunden zu werden. Geben Sie zehntausend!« »Nicht eine«, fauchte Kragerö wütend. »Ich habe kein Geld im Haus. Kommen Sie morgen wieder, dann wollen wir besprechen, was zu tun ist.« »Morgen kann es zu spät sein!« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Und nun raus! Ich muß mich um meine Gäste kümmern.« »Ich warne Sie!« drohte Bygland. »Wovor?« Kragerö lachte höhnisch auf. »Wollen Sie mich etwa anzeigen? Dann würden Sie zuerst ins Zuchthaus wandern. Aber nun seien Sie gefälligst vernünftig, morgen besprechen wir alles Weitere.« Bygland ließ sich hinausdrängen. * Am nächsten Vormittag saßen sich Sven Horre und 196
Sun Koh gegenüber. »Wie haben Sie das nur so schnell geschafft?« fragte Sven Horre gedankenvoll. »Vorgestern abend trafen Sie ein und heute sind die beiden schon über führt. Ich hätte noch einige Zeit gebraucht, um Kra gerö zu treffen.« »Sie haben es eben am falschen Ende angefan gen.« Sun Koh lächelte. »Wenn ich recht unterrichtet bin, hat Sie der Kampf gegen Kragerö sogar einen großen Teil Ihres Vermögens gekostet. Dabei war es fraglich, ob Sie ihn auf diese Weise niedergezwun gen hätten. Die heutigen wirtschaftlichen Verhältnis se eignen sich nicht so recht für ein Spiel nach erha benem Vorbild.« Sven Horre wurde rot. »Es ist überhaupt manches anders geworden. Die Zeit scheint doch zu heilen. Und Greta Damaas scheint überhaupt keine Schuld an den damaligen Ereignissen zu tragen.« Sun Koh blickte ihn prüfend an. »Das würde mich freuen – für Sie. Es ist besser, glücklich zu werden, als Vorwürfe aufzuwärmen. Doch um auf die beiden zurückzukommen – es war nicht schwer. Es kam nur darauf an, die beiden zu sammenzubringen und sie zu veranlassen, über Sven Horre zu sprechen. Ich unterhielt mich gestern vor mittag mit den Leiter der Kriminalabteilung. Er zeig 197
te genügend Verständnis, als ich ihm Ihren Fall schilderte. Gestern abend unterhielt sich Nimba mit einem Beamten vor Byglands Laube. Die beiden lie ßen ihn hören, was er hören sollte. Bygland fuhr er wartungsgemäß noch in der gleichen Stunde zu Kra gerö. Ein anderer Beamter, der als Hilfsdiener für diesen Abend eingesprungen war, trug auf die telefo nische Mitteilung hin den vorbereiteten Koffer mit dem Aufnahmeapparat in Kragerös Arbeitszimmer, sorgte dafür, daß Sie durch die Vorhalle gingen, während Bygland ankam, führte Bygland in Krage rös Arbeitszimmer und rief schließlich Kragerö selbst, so daß das Gespräch zur eingestellten Minute beginnen mußte. Alles verlief erwartungsgemäß. Un sere Reserve, das Mikrophon, wäre gar nicht erfor derlich gewesen. Etwas Organisation, etwas Psycho logie und wohl auch etwas Glück genügten. Eine Stunde darauf waren die beiden verhaftet!« »Und Bygland hat gestanden?« »Ja, er gestand sofort, als man ihm die Platte vor spielte. Kragerö verlegte sich aufs Schweigen, aber das wird ihm nichts nützen.« Sven Horre seufzte leicht. »Ich hatte mir meine Rache anders vorgestellt, aber es ist wohl alles gut so. Was meint die Kriminal polizei zu einer Wiederaufrollung meines Prozesses?« »Ihre Unschuld ist klar bewiesen. Sobald Sie die 198
üblichen Schritte tun, muß der Prozeß neu behandelt werden. Man wird Ihnen die öffentliche Genugtuung nicht versagen. Es fragt sich nur, ob Sie noch Wert darauf legen.« Sven Horre erhob sich und begann auf und ab zu laufen. »Doch, ich lege noch Wert darauf«, gestand er. »Ich will meinen richtigen Namen wieder in Ehren tragen und nicht dauernd Sir Horton bleiben. Die Leute sollen wissen, daß Sven Horre unschuldig war!« Sun Koh lächelte. »Die Leute?« Es klopfte. Der Diener Sven Horres erschien. »Eine Dame wünscht Sie zu sprechen, Sir.« »Eine Dame?« Horre zuckte zusammen. »Wer ist es?« »Sie möchte den Namen Ihnen selbst sagen.« »Ich komme sofort.« »Sehr wohl, Sir.« Sven Horre blickte reglos auf die Tür. Hinter ihm sagte Sun Koh: »Wenn es zufällig Greta Damaas sein sollte, richten Sie ihr bitte meine Ehrerbietung aus. Ich habe einige Erkundigungen über sie einziehen lassen und bin ebenfalls zu dem Urteil gekommen, daß sie die geringste Schuld trägt. Und sie verlobte sich mit Kragerö sicher nur, um ihren Vater vor dem 199
Zusammenbruch zu bewahren. Das kann man ihr verzeihen, wenn man bedenkt, wie wertlos ihr das eigene Leben nach der Nachricht von Ihrem Tod ge worden sein muß.« »Ich habe mit Greta Damaas nichts mehr zu schaf fen«, murmelte Sven Horre trotzig. »Außerdem wird es vermutlich eine ganz Fremde sein.« Damit erhob er sich und ging hinaus. Es war Greta Damaas. Sie sah sehr bleich aus, aber sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich hoffe, Sir Horton«, sagte sie leise, »daß Sie nicht unhöflich genug sind, um mir vorzeitig die Tür zu weisen. Ich mußte zu Ihnen kommen, da Sie ge stern keine Zeit fanden, mich anzuhören.« »Bitte, nehmen Sie Platz«, bat er steif. »Ich wollte gestern nicht unhöflich sein, Sie aber auch nicht zur Weiterführung eines Gesprächs ermuntern, das nur Ihre persönlichsten Angelegenheiten betraf.« Ihre Augen verrieten für kurze Zeit die Angst, die in ihr zitterte, aber sie hielt tapfer an dem fest, was sie sich vorgenommen hatte. »Ich will gerade darüber mit Ihnen sprechen, Sir Horton. Ich lege großen Wert darauf, daß Sie alles erfahren, was seit jenem Abend geschah, an dem Sven Horre verhaftet wurde.« »Ihr Vertrauen ehrt mich«, erwiderte er kühl ab 200
weisend, »aber ich suche vergeblich nach einem An laß, der mich solchen Vertrauens würdig machen könnte.« »Wir wollen dann darüber sprechen«, bat sie. »Ich will Ihnen zunächst alles erzählen: Sven Horre wurde verhaftet, ohne daß ich auch nur das Geringste ahnte. Als ich davon erfuhr, wurde ich krank.« »Ich weiß«, fiel er ein, »Ihr Vater hat mir bereits alles erzählt. Sie wurden erst gesund, als er schon verurteilt war. In der Überzeugung seiner Unschuld versuchten Sie, sich mit ihm in Verbindung zu set zen, aber Ihr Vater verhinderte es aus Sorge um Sie. Es ist mir bekannt, daß Sven Horre Ihnen nichts vor zuwerfen hat, nicht einmal die Verlobung mit Jens Kragerö.« Ihre Lider hoben sich. »Und – was sagen Sie dazu?« »Wie könnte ich mir ein Urteil darüber erlauben?« fragte Sir Horton rauh zurück. »Ich bin ein Außen stehender.« Ihre Hände preßten sich gegeneinander. »Sir Horton ist ein Außenstehender, nicht aber Sven Horre, Sie sind ihm ähnlich, sicher nicht allein in Äußerlichkeiten. Was würde Sven Horre sagen?« Er blickte auf die Tischplatte. »Sven Horre würde vielleicht glücklich sein, daß die Frau, die er liebte, an seine Unschuld glaubte. Er 201
würde vielleicht glücklich sein, daß sie ihm die Erin nerung so lange bewahrte. Aber vielleicht fiele es ihm auch schwer, Glück zu empfinden. Vergessen Sie nicht, daß er fünf Jahre lang annehmen mußte, sie hätte ihn verraten, geschmäht und aufgegeben. Fünf Jahre lang fraß sich die Bitterkeit in seine Seele hinein. Das läßt sich nicht an einem Tag verwinden. Es würde Sven Horre wahrscheinlich nicht leichtfal len, Ihren Edelmut zu würdigen.« Sie schwieg etwas, dann flüsterte sie zaghaft: »Das habe ich nicht bedacht. Aber – müßte nicht Sven Horre helfen, das Vergangene zu überwinden?« »Überwinden kann nur die Liebe!« »Sie wollen sagen, daß die Liebe in Sven Horre er loschen ist?« Er schüttelte kaum merkbar den Kopf. »Wenn Sven Horre der Mann ist, wie ich ihn sehe, so wird er nur einmal lieben. Das bedeutet, daß seine Liebe noch vorhanden sein muß. Aber er wird nie wagen, das Gleiche bei Ihnen vorauszusetzen.« Ihr Gesicht leuchtete auf. »Ich liebe Sven Horre, wie ich ihn damals geliebt habe«, sagte sie stark und feierlich. »Und wenn Sven Horre nicht mehr der alte wäre, wenn er etwa zum Krüppel geworden wäre?« »Dann würde ich ihn dennoch lieben.« Er schwieg. Seine Finger kreisten mechanisch auf 202
der Tischplatte. »Sven?« Er hörte es wohl nicht. Da brach es schluchzend aus ihr heraus: »Sven, warum verstellst du dich so? Du bist doch Sven, ich weiß es, alle wissen es.« Da sprang er auf und streckte ihr beide Hände ent gegen. * Ein Vierteljahr später wurde die Hochzeit der beiden gefeiert. Sun Koh war an diesem Tag wieder nach Oslo gekommen. Außer ihm und seinen beiden Be gleitern sah man Olaf Odnäs und seine Frau an der Tafel. Die beiden hatten gleichzeitig mit der ganzen Stadt erfahren, daß Sven Horre noch lebte und nun seine Unschuld nachweisen konnte. Sie hatten sich von diesem Tag an nicht mehr den Kopf zu zerbre chen brauchen, wer ihr unbekannter Wohltäter gewe sen war. Sven Horre hatte seine Brille ebenso wie seinen Bart verloren und das Blond seiner Haare wiederge wonnen. Sein Gesicht verriet soviel Heiterkeit und Freude, als habe es nie Bitternis und schweren Ernst getragen. Es spiegelte das Glück, das aus dem Ge sicht seiner Frau strahlte. Jens Kragerö und Bygland saßen an diesem Tag 203
bereits im Zuchthaus. Beide waren zu zehn Jahren verurteilt worden. Das Wiederaufnahmeverfahren im Prozeß Sven Horres war ebenfalls durchgeführt und beendet worden und hatte zu der entsprechenden Rechtfertigung des Unschuldigen geführt. Außerdem war der Prozeß um die grönländischen Marmorlager zu einer endgültigen Entscheidung gelangt. Das Ge richt hatte Sun Koh auf Grund der vorhandenen Ur kunden alle Rechte an den Lagern zugesprochen. Es wurde manche Rede an der Hochzeitstafel gehalten, das letzte Wort aber hatte Hal, als er beim Heimgang Nimba anstieß und sagte: »Als wir damals Sven Horre auf der einsamen Insel kennenlernten, hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich eines Ta ges seine Hochzeit mitfeiern würde. Aber so ist das Leben. Es kann anfangen, wo es will, schließlich bil det doch immer eine Hochzeit das glückliche Ende. Merke dir diese Weisheit, Dicker.« »Was verstehst du denn davon«, knurrte Nimba. »Bei mir stimmt deine Weisheit jedenfalls nicht.« »Du hast ja auch noch nicht angefangen zu leben«, grinste Hal. »Und außerdem wird sich keine Frau von dir beeindrucken lassen. Trau meinen Worten – aller Sinn des Lebens liegt in den Hochzeiten.« »Und aller Unsinn in deinem Kopf«, fauchte Nim ba und holte aus, worauf Hal schleunigst nach vorn eilte und Sun Koh mit sittsamer Harmlosigkeit half, 204
die frische Nachtluft von Oslo zu genießen. ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
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Als SUN-KOH-Taschenbuch Band 31 erscheint:
Vorhof der Unterwelt
von Freder van Holk Vincente Micero beherrscht mit seinem Geld Maracaibo, ja sogar das ganze Land. Auf einen Wink von ihm eilen tausend Diener herbei, mar schiert eine Armee. Auf einen Knopfdruck von ihm fliegen ganze Straßenzüge in die Luft. Sun Koh entgeht nur mit größter List den Fallen, die Micero für ihn gestellt hat. Micero kann Sun Kohs Plänen in der Sonnenstadt gefährlich wer den, weil er Wissenschaftler, die Sun Koh drin gend benötigt, verschwinden läßt. Auf der Su che nach den Verschwundenen wagen Sun Koh und seine Begleiter die verwegene Fahrt auf dem Fluß der Hornklapperschlange. Und dann erreichen sie das Tal der Vergessenen – ein höllisches Paradies … Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.