MADDRAX
DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 174
Die Seuche von Susan Schwartz
»Miriam!«, klagte Hanukk Tar. »Geh nicht ...
18 downloads
547 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
MADDRAX
DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 174
Die Seuche von Susan Schwartz
»Miriam!«, klagte Hanukk Tar. »Geh nicht fort! Komm zurück! Lass mich nicht allein!« Der Mann lag über der Leiche seiner Frau, die vor wenigen Augenblicken von den Trümmern eines zusammenbrechenden Hauses erschlagen worden war. »Wir haben Sie doch gewarnt, dass dieses Gebäude einsturzgefährdet ist!«, sagte der Bauleiter verzweifelt. »Kommen Sie!« »Ich helfe ihm, sorgen Sie nur dafür, dass die Tote abtransportiert wird«, erklang eine fremde Stimme in diesem Moment. Hanukk Tar blickte blinzelnd auf und sah das Gesicht einer Frau vor der roten Scheibe der Sonne. Sie sah aus wie von Flammen umkränzt, als sie lächelte und sagte: »Dir wird vergeben und geholfen, Bruder.«
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich für Jahrhunderte um den Planeten. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist – bis auf die Bunkermenschen – unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch eine Art Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa’muren, mit dem Kometen – dem Wandler – zur Erde gelangten. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Als die Daa’muren damit beginnen, Atomwaffen zu horten, kommt es zum Krieg, den keine Seite für sich entscheiden kann… Durch den Impuls des Wandlers, der alle Technik lahm legt, kann Matt Drax nicht zur Erde zurück. Auf dem Mond trifft er auf die Nachfahren einer Mars-Expedition des Jahres 2009! Als sie den Heimflug antreten, nehmen sie ihn mit – doch auf dem terraformten Mars fürchtet
man das barbarische Erbe der Erde. Es kommt zu Übergriffen zwischen Städtern und Waldbewohnern. Da stellt sich heraus, dass Matt die Schrift der Hydree entziffern kann, der vor 3,5 Mrd. Jahren verschwundenen Marsrasse. Sie sind die Vorfahren der Hydriten, des amphibischen Volkes, das seit Urzeiten in den irdischen Meeren lebt! Ihm wird das Studium der Schriften gestattet; man erhofft sich auch die Enträtselung eines mysteriösen Strahls, der seit damals auf die Erde gerichtet ist. In einem Maschinenpark der Alten wird ein gesprungener »Verteilerkristall« entdeckt, der einst die ganze Anlage versorgte; nun stauen sich die Energien aus dem Kern auf und führen zu Marsbeben. Eine Expedition findet in einem fernen Canyon einen ErsatzKristall, muss sich aber gegen mutierte Waldleute wehren, die dort hausen. Nach Einsetzen des Kristalls erwacht die Anlage zu neuem Leben und offenbart einen Archivraum – in dem Matts Geist durch die Zeiten geschleudert wird, bis er im Bewusstsein des jungen Hydree Gilam’esh erwacht. Gemeinsam mit ihm sucht er nach einem Ausweg vom sterbenden Mars, wird aber erst nach 80 Jahren fündig, als ein Hydree-Volk im Krieg eine Geheimwaffe einsetzt, die dem Strahl ähnelt. Man entwickelt das so genannte Tunnelfeld zu einem Transportsystem weiter – das den Exodus der friedlichen Marsvölker auf eine Erde ca. 50.000 Jahre vor dem Homo sapiens ermöglicht. Matts Geist kehrt in seinen Körper und seine Zeit zurück, wo nur Minuten vergangen sind.
Doch nun, da der Weg zur Erde frei wäre, erscheint eine neue Bedrohung: Kristallträumer, der Anführer der Canyonleute, taucht in Elysium auf und gewinnt auf suggestive Weise an Einfluss. Bald ist das Strahlgelände von Aufständischen besetzt, die Matts Tod und die Einstellung aller Experimente fordern! *** Die leuchtende Erscheinung hielt Hanukk Tar ihre Hand hin. Er ergriff sie, und sofort fühlte er, wie ihn Wärme und Sanftheit durchströmte und sein Schmerz gelindert wurde. »Was geschieht mit mir?«, fragte er verwundert. »Es wird alles gut«, sprach die Frau mit sanfter Stimme. »Du hast großes Leid erfahren, aber dir wird vergeben. Folge mir und ich zeige dir den Weg der Erleuchtung.« »Ich – ich will nur meine Miriam wiederhaben…« »Du wirst sie wieder sehen.« »Wirklich? Sie lebt noch? Wo… wo ist sie?« »Nein, Hanukk, der Leib deiner Frau ist entseelt. Aber ihr Geist ist noch hier. Ich kenne jemanden, der die Verbindung zu ihr herstellen kann. Dann wirst du dich von ihr verabschieden können. Und sie wird dir sagen, wo sie dich erwartet.« Hanukk Tar rieb sich die Augen. Ihm war schwindlig. Die Frau streichelte seine Hand. Sie reichte ihm einen
Becher zu trinken, und dann schenkte sie ihm einen dunkel glitzernden Kristall an einer Kette. »Vielen Dank für Ihre Bemühungen.« Ein Exekutiver kam hinzu. »Wir werden den Mann jetzt in eine Klinik bringen.« Hanukk Tar schüttelte den Kopf. »Ich will zu Miriam.« »Sie werden sie sehen können, sobald Sie –« »Nein, ich will jetzt zu ihr!«, unterbrach er störrisch. »Mir fehlt nichts! Aber ich muss wissen, wie es ihr geht!« Er sah die in ein orangefarbenes Gewand gehüllte Frau an. »Ich werde wirklich mit ihr sprechen können?« Sie lächelte gütig. »Wir lügen niemals, guter Mann.« »Es reicht jetzt!«, sagte der Exekutive ungehalten. »Kommen Sie!« Er wollte Hanukk Tar am Arm ergreifen, aber der riss sich los. »Nicht anfassen!« Die Frau sagte sanft: »Sie sehen doch, dass er nicht mit Ihnen gehen will. Lassen Sie ihn in Ruhe.« Sie blickte Hanukk an. »Ich weiß, was du durchmachst, Bruder, denn mir ist es genauso ergangen, dass ich meinen Liebsten unter den Trümmern verlor. Doch ich fand Trost, und nun möchte ich ihn weitergeben.« Der Exekutive rief nach Verstärkung. Hanukk Tars Gesicht zeigte Panik. »Die… die dürfen mich nicht mitnehmen! Die haben meine Miriam umgebracht, ich erinnere mich! Wir sind zu dem Haus gegangen, und die haben uns angeschrien, und dann ist alles eingestürzt und…«
»Niemand wird dir etwas tun, Bruder. Ich bin hier, um dir zu helfen.« Die Frau wandte sich an die inzwischen eingetroffene Submagister, und nun klang ihre Stimme energisch: »Sie werden ihn nicht mitnehmen, verstanden?« »Wir haben unsere Befehle, Frau«, sagte die Submagister. »Dieser Mann steht unter Schock, wir müssen ihn in die Klinik bringen.« »Aber Sie haben gehört, dass er nicht will«, erwiderte Hanukks Retterin. »Und Sie haben kein Recht dazu, ihn gegen seinen Willen mitzunehmen, es sei denn, er wird unter Arrest gestellt.« Der Submagister riss der Geduldsfaden. »Ich habe genug von Ihnen und den anderen!«, wetterte sie. »Sie erschweren unsere Arbeit, und Sie machen die Leute verrückt! Verschwinden Sie jetzt, bevor ich Sie unter Arrest stellen lasse!« Hanukks Retterin lächelte. »Auch dazu haben Sie kein Recht. Und jetzt werden wir gehen, mein Freund und ich. Möge der Vater Ihnen Ihre Verblendung vergeben.« Sie legte dem verängstigten Hanukk den Arm um die Schultern und zog ihn sanft mit sich. »Komm, mein Bruder, es ist nicht weit. Mein Name ist übrigens Eliana Margys, und ich bin eine enge Vertraute des Kristallträumers. Vertraue mir, wenn ich dir jetzt sage: Bald wird es dir besser gehen, und du wirst den wahren Weg erkennen, so wie ich.«
Hanukk ging mit ihr, ein verklärtes Lächeln erhellte seine Züge. »Miriam…«, murmelte er. »Ich möchte nur mit Miriam sprechen…« *** Maya Joy Tsuyoshi hörte sich den Bericht mit zusehends versteinerter Miene an. »Solche Szenen erleben wir ständig und überall in Utopia«, erklärte Sigluff Cainer Bergman, leitender Magister. »Die Leute strömen in Scharen zum MieKrater, angestiftet durch diese Missionare in ihren orangenen Kutten. Die Exekutiven können es nicht verhindern. Es ist wie eine Massenhypnose. Zuerst wird ihnen ein Schuldkomplex eingeredet und dann die Erlösung in Form von Kristallträumer geboten. Selbst die Arbeiter beginnen wegzulaufen. Immerhin bleiben unsere Leute noch dran, aber auch die fangen allmählich an, Fragen nach dem Sinn zu stellen, warum wir den Strahl weiterhin verteidigen.« »Sie werden vergiftet«, sagte die Präsidentin leise. »Wenn man eine Lüge oft und lange genug hört, bleibt doch etwas hängen. Danke, Sigluff.« »Bis zum nächsten Bericht, Dame Präsidentin.« Maya rieb sich die Stirn. In Elysium und den anderen Städten sah es kaum besser aus. Viele Leute forderten, dass Kristallträumer, der bis jetzt jede Verhandlung abgelehnt hatte, in das Ratsgebäude eingeladen werden
sollte, um mit dem ganzen Rat zu sprechen, und das in einer öffentlichen Anhörung. Der Rat lehnte es natürlich ab, Kristallträumer einen solchen Auftritt zu ermöglichen. Sie tagten fast pausenlos, denn die Leute fingen an, der Arbeit fernzubleiben, Lieferanten gerieten in Verzug. Fast täglich gab es Demonstrationen, meist mit gewalttätigem Ende. Die Forderungen wurden immer bizarrer, immer mehr Gruppen und Parteien bildeten sich, die ganz bestimmte Ziele durchsetzen wollten. Der Verdacht lag nahe, dass die unabhängigen Konzerne selbst Stimmung machten gegen die Wirtschaftsunternehmen der fünf Häuser, um deren wirtschaftliche und zugleich politische Position zu schwächen. Um endlich selbst ans Ruder zu kommen. Im Wald war es ebenfalls zu Ausschreitungen gekommen, aber wie es aussah, hatte Windtänzer zusammen mit den anderen Baumsprechern die Lage gerade noch in den Griff bekommen. Obwohl eine Meldung besagte, dass ein Konsortium an einer Eingabe arbeitete, die Ansprüche auf einen Teil des Waldes anmelden sollte. Windtänzer hatte deutlich gemacht, dass er dies keinesfalls zulassen werde. Es brannte an allen Ecken und Enden. Müde stand Maya auf und verließ ihr Büro, auf dem Weg zu Letos Abteilung, um sich mit ihm zu besprechen, bevor sie in die nächste Sitzung ging. ***
»Woran starb er?«, fragte Leto Jolar Angelis per Funk den Verwaltungsleiter auf Phobos, Ruam Saintdemar. Am gestrigen Nachmittag hatte man Hondo Beffurs Leiche in seiner Unterkunft gefunden und zur Obduktion gebracht. »Keine äußere Gewalteinwirkung«, berichtete Ruam. »Auch in seiner Unterkunft wies nichts auf einen Gewaltakt hin. Die Obduktion hat ergeben, dass er sich einen ziemlich scharfen Cocktail gemixt und sich wohl in der Adrenalin-Dosis verschätzt hat.« Leto runzelte die Stirn. Der Wissenschaftler war bekannt für seine ausschweifenden Eskapaden; nicht selten war er verkatert oder sogar noch betrunken zum Dienst erschienen. Aber er leistete hervorragende Arbeit mit dem Geosiphon-Pilz. Nun hatte er wohl versehentlich über die Stränge geschlagen. »Hat er das schon öfter gemacht?« »Offiziell weiß ich nichts davon, aber privat habe ich erfahren, dass er sich damit gern stimulierte«, gab der Verwaltungsleiter Auskunft. »Natürlich muss man die Dosis in gewissen Abständen erhöhen, damit sie weiterhin wirkt.« »Hm.« Das gefiel Leto ganz und gar nicht. Es kam ihm zu plötzlich nach seinem letzten Besuch und der Androhung, das Labor zu schließen, sollte Hondo den Unregelmäßigkeiten dort nicht auf die Spur kommen. »Könnte es Selbstmord gewesen sein?«
»Schon möglich«, stimmte Ruam Saintdemar zu. »Wir sind gerade dabei, das Labor zu durchsuchen. Wie es aussieht, hat die gesamte Belegschaft eine kleine Drogenund Düngemittelküche betrieben, mit unseren Mitteln natürlich, und gute Geschäfte auf dem Schwarzmarkt gemacht. Alle Stoffe sind als bedenklich eingestuft und dürfen nur unter bestimmten Voraussetzungen von meinem Haus produziert werden.« »Düngemittel?« »Klar, da wächst alles besser und schneller – aber fragen Sie lieber nicht nach den Nebenwirkungen.« Leto rieb sich nachdenklich das Kinn. Reichte das für Selbstmord aus? »Was ist mit der Belegschaft?« Ruam machte eine unbestimmte Geste. »Die meisten haben wir erwischt, aber einige haben rechtzeitig den Sandsturm aufziehen sehen und sich abgesetzt. Darunter auch Hondos Assistent Grekk.« In Leto läuteten plötzlich sämtliche Alarmglocken. Er setzte sich auf. »Schicken Sie mir seine Akte rüber, Ruam! Ich übernehme Grekk persönlich. Mit den anderen verfahren Sie, wie Sie wollen.« Er rief im Magistratsamt an und hatte bald darauf Neronus Gingkoson im Bild, einen unscheinbar wirkenden Mann von nur Durchschnittsgröße; feingliedrig, mit albinotisch roten Augen. Sein bescheidenes Auftreten, wozu auch der zweckmäßige, meistens gelbe Anzug gehörte, täuschte über seinen scharfen, analytischen Verstand hinweg.
In kurzen Worten schilderte Leto, worum es ihm ging, und übermittelte Grekks Daten. »Finden Sie ihn!«, sagte er eindringlich. »Und zwar schnell!« »Herr Leto, ich habe kaum genug Leute, um –«, wollte Neronus einwenden. »Neronus, ich mache keine Späße«, unterbrach Leto ungeduldig. »Ziehen Sie zwei Leute ab, die gut im Aufspüren sind! Dies ist eine offizielle Magistratssuche von höchster Dringlichkeitsstufe!« »Und der Dienstweg?«, fragte der Sicherheitsmagister, der mindestens ebenso korrekt war wie Leto selbst. »Tun Sie’s«, sagte Leto finster. »Wenn Sie Schwierigkeiten bekommen, besorge ich Ihnen alle Unterschriften, die Sie brauchen, auch in der Nacht, wenn es sein muss. Und beten Sie zum Vater, dass ich mich irre und diese Aktion umsonst ist.« Neronus Gingkoson musterte ihn. Dann nickte er. »Sie haben meine volle Unterstützung. Möglicherweise habe ich schneller Erfolg, wenn ich weitere Leute einstellen dürfte.« Leto grinste. »Ich verstehe. Stellen Sie ein, wen und so viele Sie wollen, Neronus, aber bitte behalten Sie den Überblick über die Qualität der Leute. Auch diese Unterschrift besorge ich Ihnen.« »Danke, Berater. Ich bin froh, dass wir uns verstehen.« Neronus beendete die Verbindung. »Ein guter Mann«, murmelte Leto vor sich hin, während er eine schriftliche Eingabe an die Mondstation
machte und abschickte. Der angeforderte Bericht traf hoffentlich bald ein. Er war gerade damit fertig, als Maya hereinkam. Sie sah müde und abgespannt aus, Sorgenschatten lagen unter ihren Augen. »Bist du auf dem Laufenden?«, fragte sie. Leto nickte. »Das und noch mehr, Maya.« »Noch mehr? Das darf nicht wahr sein.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen. Leto war gerade mit seinem Bericht fertig, als Windtänzer anrief. *** Windtänzer wachte auf, als er seine Tochter schreien hörte. Er hastete in ihre Kammer und sah, wie sie sich auf ihrem Lager wand, schweißnass und glühend vor Fieber. Auf ihrer Haut zeigten sich seltsame Flecken, die rau und schorfig wirkten. »Morgenblüte«, flüsterte er. »Komm zu dir, mein Kind.« Sie öffnete die Augen und blickte ihn verstört an. »Vater… was geschieht mit mir?« »Wenn ich das wüsste«, sagte er besorgt und strich verschwitzte Strähnen aus ihrer Stirn. Waldmenschen wurden so gut wie nie krank, sie besaßen hervorragende Abwehrkräfte und wurden sogar noch älter als die Städter. »Hast du etwas gegessen… irgendetwas anderes getan als sonst…«
»Nichts, alles wie immer«, antwortete sie. »Der Kopf tut mir so weh…« »Ich hole eine Heilerin«, entschied er und verschwand aus der Wabe. Doch auch die Heilerin wusste sich keinen Rat. Eine Krankheit wie diese hatte es noch nie gegeben, vor allem nicht so unerwartet, ohne vorherige Ankündigung. Windtänzer beratschlagte mit ihr, was sie Morgenblüte verabreichen sollten, um ihr Leiden zu lindern, während sie nach der Ursache forschten. Schließlich einigten sie sich auf einen bestimmten Heiltrank; und tatsächlich fühlte sich das Mädchen bald darauf besser. »Es ist nichts weiter«, sagte Morgenblüte abwehrend. »Ich bin bestimmt bald wieder gesund.« Sie sollte sich irren. Am Morgen war Morgenblüte nicht mehr die einzige Erkrankte. Voller Schrecken empfing Windtänzer die Mitteilung, dass mindestens fünf weitere Waldmenschen von verschiedenen Sippen dieselben Symptome aufzeigten. Er ordnete sofort an, dass die Erkrankten in einen isolierten Teil des Waldes gebracht wurden; in eine alte Wabensiedlung, die irgendwann einmal aus unbekanntem Grund verlassen und seither nicht mehr benutzt worden war. Baumsprecher und Heiler setzten sich zusammen und rätselten, worum es sich bei der Krankheit handeln
könnte. In ihrer mündlich überlieferten Historie gab es nirgends einen Hinweis auf etwas Ähnliches. Dann suchten sie nach einer Verbindung, die allen gemeinsam war. Doch wie sich herausstellte, gab es da keine. Die meisten hatten sich in den letzten Tagen nicht einmal gesehen. Sie hatten unterschiedliche Mahlzeiten zu sich genommen, kein Wasser aus derselben Quelle benutzt. Sie hatten keine Pflanzen gesammelt und waren nicht mit ungewöhnlichen Tieren in Kontakt gekommen. »Verdammt!«, rief Windtänzer schließlich aus. »Bei den heiligen Kraftquellen, das kann einfach nicht sein! Irgendwo muss es eine Verbindung geben! Es können nicht gleichzeitig sechs Menschen an derselben Krankheit leiden!« »Vielleicht haben wir nicht weit genug zurückgeblickt«, überlegte Vogler. Auf seiner Schulter saß wie gewohnt der Siebentöner Faust, heute jedoch ungewöhnlich schweigsam. Der Baumsprecher war wegen seiner Strenge gefürchtet; stets trug er sein rotbraunes Haar straff zurückgekämmt und zu einem dichten und festen Zopf geflochten. Er hatte Wega hinzugezogen, die zu seiner Sippe gehörte und die als Heilerin weit über die Grenzregionen der Wälder bekannt war. Doch hier stieß auch sie an ihre Grenzen. Immerhin konnte sie den Erkrankten Linderung gegen das Fieber und die Schmerzen spenden. In regelmäßigen Abständen bekamen sie starke, vitaminhaltige Getränke, um sie zu stärken und die
Abwehrkräfte zu mobilisieren. Sie nahmen allerdings nur widerwillig Nahrung zu sich und lagen apathisch da. »Wie meinst du das?« Windtänzer horchte auf. »Möglicherweise steckt die Krankheit schon länger in ihnen, kam aber jetzt erst zum Ausbruch«, führte Vogler aus. »Ausgelöst durch irgendeinen Katalysator, durch etwas, das jeder von uns an bestimmten Tagen zu sich nimmt.« »Die Honiggabe«, fiel es Wega sofort ein. »Die wird nicht täglich genossen. Wir sollten also den Zeitraum zwischen dem letzten und dem vorletzten Mal eingrenzen, als sie jeder von uns zu sich genommen hat.« Windtänzer machte ein erstauntes Gesicht. »Ihr… schlussfolgert sehr schnell.« »Wir schließen lediglich aus, was nicht in Frage kommt«, meinte Wega. Jeder von ihnen versuchte sich zu erinnern, was zwischen den Honiggaben-Tagen geschehen war, welche Gemeinsamkeit es geben könnte. Und dann fiel es ihnen schlagartig ein. Die Versammlung! Natürlich, sie hatten sich alle in Trance begeben, um eine friedliche Verhandlung mit den Städtern zu ermöglichen. Was auch geklappt hatte. Aber Morgenblüte hatte es nahezu alle Kräfte geraubt und sie war bereits an diesem Abend fiebrig gewesen. Das hatte sich aber schnell wieder gegeben – bis gestern Nacht. »Damit hängt es zusammen.« Windtänzer war davon überzeugt. »An diesem Abend ist irgendetwas passiert.
Morgenblüte und die anderen waren geschwächt, und so konnten sie von der Krankheit angegriffen werden. Zum Ausbruch kam sie aber erst jetzt durch die Honiggabe; irgendein Stoff darin hat den eingenisteten Erreger aktiviert. Deshalb sind wir nicht alle davon betroffen: weil unser Selbstheilungssystem intakt war.« »Es könnte ein bestimmter Pollenflug gewesen sein«, grübelte Heilerin Wega. »Da gibt es viele Faktoren, Windtänzer. Und ich muss dir ehrlich sagen, dass ich damit überfordert bin, nach den Ursachen zu suchen. So schwer es mir fällt, das zu sagen, aber ein medizinisches Labor könnte uns dienlich sein.« Einige Baumsprecher protestierten. »Wir haben genug von den Städtern!«, sprach Vogler für alle. »Je mehr wir mit ihnen zu tun haben, desto mehr Probleme gibt es! Am besten, wir werfen diejenigen, die noch hier sind, umgehend aus dem Wald und isolieren uns!« »Das geht nicht«, erklang eine weitere Stimme. Heilerin Leda kam gerade aus der Wabe, und ihr Gesicht verhieß nichts Gutes. Windtänzer spürte, wie eine schwarze Hand nach seinem Herzen griff. »Blaufeder ist soeben gestorben«, verkündete Leda mit Gram in der Stimme. Dann zeigte sie ihre Arme. Seltsame Flecken zeigten sich auf ihnen. »Die Krankheit ist ansteckend.« Windtänzer stürzte aufgelöst zum Lager seiner Tochter. Sie war wach und lächelte ihn an. »Wie geht es dir?«, fragte er.
»Besser«, antwortete sie. »Schwach bin ich, aber das gibt sich schon. Ich bin bestimmt auf dem Wege der Besserung.« Er strich über ihre heiße Stirn. »Du musst noch ruhen, Liebling. Du magst dich besser fühlen, aber du hast immer noch Fieber, und du siehst sehr krank aus.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist los?« »Nichts, ich wollte nur nach dir sehen.« »Vater, ich kenne dich, mir kannst du nichts vormachen. Du zerspringst fast vor Furcht.« Er seufzte. Sie blickte ihm stets tief in die Seele. Er wusste, er konnte sie nicht anlügen, sie durchschaute ihn sofort. »Blaufeder ist gestorben«, bekannte er leise. »Und Leda ist krank geworden.« Morgenblüte setzte sich auf. »Du meinst, es ist ansteckend?« Er nickte schwer. »Wir haben den Zeitpunkt, an dem ihr alle gleichzeitig krank geworden sein könntet, eingegrenzt. Das Ritual der Honiggabe hat es wahrscheinlich ausgelöst, aber jetzt verändert es sich und befällt auch andere. Denn Leda war bei der Versammlung, wo es passiert sein muss, nicht dabei.« »Vater, was machst du dann noch hier?«, flüsterte Morgenblüte erschreckt. »Du musst mir sofort fernbleiben!« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich niemals allein, Tochter. Und ich fühle mich gesund. Ich glaube, es befällt nicht jeden. Wenn wir herausfinden, warum nicht, finden wir vielleicht ein Heilmittel. Den Erkrankten muss
etwas fehlen, das die Gesunden schützt. Sternsang hat mich das einst gelehrt.« »Und wenn du dich täuschst?«, fragte sie leise. Er nahm sie in seine Arme, drückte sie fest an sich. »Dann ist es eben so, mein Liebstes.« »Ich werde sterben, Papa«, sagte sie gefasst. »Wenn Blaufeder es nicht überlebt hat, wird es uns alle…« »Nein!« Er schrie es fast. »Nein«, wiederholte er ruhiger. »Daran darfst du nicht einmal denken, Morgenblüte. Du wirst nicht sterben. Du wirst durchhalten, bis wir ein Heilmittel gefunden haben. Ich weiß es. Ich vertraue der Güte des Roten Vaters, der ein so kostbares, reines und unschuldiges Wesen wie dich niemals vorzeitig dem Leben entreißen würde.« Er küsste sie auf die Stirn und zwang sie dann, sich wieder hinzulegen. »Keine unnötige Bewegung, die dich schwächen könnte«, befahl er. »Ich werde bald wieder nach dir sehen. Vertrau mir. Alles wird gut.« »Was tun wir jetzt?«, fragte Starkholz, als Windtänzer zurückkehrte. Der künftige Erste Baumsprecher hob den linken Arm und aktivierte den PAC. »Ich hole Hilfe«, erklärte er. Vogler zog ein finsteres Gesicht, schwieg aber. Bevor Windtänzer den Funkcode eingab, blickte er Vogler an. »Sorge bitte dafür, dass die Städter nichts von alledem mitbekommen. Sie dürfen weiterhin ihre Behausungen nicht verlassen. Wenn sie störrisch sind,
fessle sie. Wir dürfen kein Risiko eingehen, solange wir nicht wissen, was es ist.« Als er merkte, dass die anderen nicht überzeugt waren, betonte er: »Das betrifft uns alle, ist euch das nicht klar? Einer Seuche ist es egal, ob das Opfer im Wald oder in der Stadt wohnt. Lasst uns vernünftig sein! Ich muss Maya Bescheid geben, und ich werde sie um Hilfe bitten!« Starkholz nickte. »Ja, wir sollten die Lage als sehr ernst betrachten. Wir werden tun, was du sagst, Windtänzer.« Doch die Städter hatten bereits gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie versuchten aus der »Gefangenschaft«, wie sie es bezeichneten, auszubrechen und griffen die Waldleute an. Vogler hatte keine Hemmungen, kräftig zurückzuschlagen. Er hatte genug von den ständigen Auseinandersetzungen und Problemen. Erst vor kurzem hatte Windtänzer Präsidentin Maya informiert, dass einige Städter mit der Landvermessung anfingen und vorhatten, sich ein Stück des Waldes unter den Nagel zu reißen. Die Präsidentin hatte versprochen, sich darum zu kümmern, aber bisher war nichts passiert. Vogler machte ihr keinen Vorwurf; sie war mit Problemen völlig überlastet, seit Kristallträumer am MieKrater eingetroffen war. Der Baumsprecher schätzte Maya und sah sie beinahe als Schwester an, so wie er ihre Mutter verehrte. Aber der Wille zur Unterstützung nützte ihnen in dieser Situation herzlich wenig. Vogler
sah den Tag des Kampfes zwischen Städtern und Waldleuten nahen. »Wir haben sie unter Kontrolle«, informierte er Windtänzer. »Aber wir können nicht sicher sein, ob einige von ihnen entkommen sind.« »Damit müssen wir rechnen«, meinte Windtänzer. Dann rief er Maya an. *** »Es fällt mir nicht leicht, euch um Hilfe bitten zu müssen«, erklärte Windtänzer, nachdem er die bedrohliche Lage geschildert hatte. »Aber wir schaffen es nicht ohne euch. Ich hoffe, ihr könnt bald jemanden zu uns schicken, denn ich habe große Angst um Morgenblüte. Sie ist schon sehr schwach.« »Ich verspreche dir, wir werden sofort etwas unternehmen«, sagte Maya und lächelte das Bild auf ihrem PAC aufmunternd an. »Wir schicken so schnell wie möglich jemanden raus. Am liebsten würde ich Nomi…« »Sie ist bei deiner Mutter in Sicherheit, Maya«, unterbrach Windtänzer nach einem Blickwechsel mit Leto. »Du solltest sie jetzt nicht zu dir holen. Vertrau mir.« Nachdem die Verbindung beendet war, musterte, Maya Leto. »Was hatte das eben zu bedeuten?« »Was meinst du?«, gab er sich unwissend.
»Tu nicht so unschuldig«, schnaubte sie gereizt. »Was ist da zwischen euch gelaufen?« Leto gab seufzend nach. »Ich hielt es für besser, Nomi und deine Mutter außerhalb von Elysium zu halten.« »Und warum?« »Weil… nun, es besteht die Möglichkeit, dass jemand…« Mayas Augen weiteten sich. »Meine Familie angreift? Ist es das, was du ansprichst? Weißt du etwas Konkretes?« Leto, der an der Tischkante lehnte, beugte sich vor und ergriff ihre Hände. »Maya, du stehst im Brennpunkt«, sagte er sanft. »Unser Volk bricht auseinander. Ich will nur vorsorgen, das ist alles. Niemanden auf dumme Gedanken bringen.« »Du spielst auf meinen Vater an«, stieß sie hervor. Im Moment großer Feierlichkeit hatte ein Irrer ihn erschossen und sich anschließend vom Dach gestürzt. Er deutete auf sein rechtes Bein. »Und auf mich«, ergänzte er. »Ich habe damals Glück gehabt. Verzeih mir, wenn ich mich jetzt nicht darauf verlassen, sondern dich und deine Familie beschützen will.« »Schon gut.« Maya drückte seine Hand kurz an ihre Wange. »Kümmern wir uns lieber um Windtänzer. Wen sollen wir hinausschicken?« Wie aufs Stichwort rief Carter Loy Tsuyoshi an. ***
Windtänzer empfing den Gleiter des Tsuyoshi-Hauses persönlich am Rand des Waldes. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er den Mann aussteigen sah, den er einmal beinahe umgebracht hätte: Carter Loy Tsuyoshi. »Was tun Sie hier?«, fragte er. »Sind Sie nicht ein Nachrichtenmensch?« Der grauhaarige, kräftig gebaute Mann lächelte verbindlich. »Genau genommen gehört mir der Sender zu zwei Dritteln. Aber ich bin natürlich nicht so einseitig, mich nur auf einen Holosender zu beschränken.« »Aber natürlich«, sagte Windtänzer. Er deutete auf einige Messgeräte, die seit Tagen in regelmäßigen Abständen den Waldrand entlang positioniert waren. »Sie sind das, oder?« »Ich bekenne mich schuldig.« Carter Loy lächelte immer noch. »Hören Sie, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Es geht jetzt um Wichtigeres.« »Zum Beispiel?« Windtänzers Gesicht war eine steinerne Maske. »Sie vermessen unser Land und beantragen die Genehmigung zum Bau einer neuen Siedlung, oder Stadt, wie auch immer.« »Sehen Sie, das ist die Frage: Wessen Land es nun ist. Ich will feststellen lassen, inwieweit sich Ihr Anspruch auf den gesamten Wald begründet. Ich glaube nämlich nicht, dass dieser durchsetzbar ist.« »Das ist doch Unsinn. Warum bauen Sie nicht dort, wo kein Wald ist? Dann brauchen Sie auch nicht zu roden. Ihnen geht es doch um etwas ganz anderes, Carter: um den Machtanspruch! Sie lassen die Vergangenheit
keineswegs ruhen, sondern wollen Ihre Niederlage von damals wettmachen.« Windtänzer wandte sich zum Gehen. »Sagen Sie Maya, dass ich ihr für ihren Einsatz danke, aber wir lehnen die Hilfeleistung durch Sie ab. Wir werden ohne Sie besser zurechtkommen. Mir ist sowieso schleierhaft, wie Sie sie dazu überredet haben.« Carter lachte. »Seien Sie nicht spitzfindig, Baummann! Und nicht so überheblich. Tatsache ist, dass ich derzeit der Einzige bin, der so schnell abkömmlich ist und Ihnen noch dazu helfen kann. Denn ich habe Anteile an einem ausgezeichneten medizinischen Labor, das sich mit exotischen Krankheiten beschäftigt. Dieses Labor hat unter anderem den Erdenmann Maddrax genau unter die Lupe genommen und alle Daten über ihn gesammelt.« Windtänzer machte ein ungläubiges Gesicht. »Wollen Sie mir weismachen, er hätte uns angesteckt?« »Natürlich nicht. Aber es ist doch möglich, dass diese Krankheit durch eine bestimmte genetische Struktur aktiviert wurde, die wir alle haben. Ein äußerer Reiz kann sie ausgelöst haben, und trotzdem kann es ein Erbe der alten Erde sein.« Carter breitete die Hände aus. »Ein umfangreicheres Archiv als in meinem Labor werden Sie nicht finden. Wenn jemand den Krankheitserreger finden kann, dann meine Leute. Nun?« Windtänzer ließ die Schultern hängen. »Sie sollen kommen.«
»Ausgezeichnet! Und Sie und ich, mein lieber Freund, werden uns derweil noch ein wenig unterhalten, am besten in Ihrer gemütlichen kleinen Siedlung.« Carter sagte ein paar Worte in seinen PAC und blickte den Baumsprecher dann auffordernd an. Windtänzer blieb nichts anderes übrig, als ihn einzuladen. Carter Tsuyoshis joviales Lächeln blieb, auch als er sich auf einer Matte auf dem Boden niederlassen musste. Unterdessen waren seine Leute eingetroffen und bauten in Windeseile ein Feldlabor auf. Windtänzer musste anerkennen, dass diese Leute einen kompetenten und ernsthaften Eindruck machten. Sie schienen auch keine Vorbehalte gegen die Waldbewohner zu hegen. Zur Untersuchung der Kranken zogen sie Schutzkleidung an; sogar eine kleine Dekontaminationsschleuse hatten sie aufgebaut. Was nicht allzu sinnvoll war, da Windtänzer nicht im Traum daran dachte, seine Tochter in so einem Anzug zu besuchen. Aber sollten die Städter sich ruhig sicherer fühlen, ihm war es gleich. Innerhalb weniger Minuten war den Erkrankten Blut und Gewebe abgenommen worden, Speichel und was man sonst noch brauchte, und alles wurde eingehend untersucht. »Zufrieden?« Carter Loy wirkte heiter und zuversichtlich. Für ihn war dies anscheinend wie ein gutes Geschäft.
Das erweckte erst recht Windtänzers Misstrauen. »Haben Sie keine Angst vor Ansteckung?« »Nun, ich habe ja auch keine Angst vor Ihnen, obwohl Sie ein Überträger sein könnten. Aber nun ernsthaft: Meine Leute werden bald wissen, worum es sich handelt. Und ich mache Ihnen noch einen Vorschlag: Wir übernehmen den Rücktransport der Städter in einem Klinikgleiter unter strengsten QuarantäneBestimmungen. Einverstanden?« Das war allerdings auch in Windtänzers Interesse. Er nickte. »Ich nehme an, Sie gedenken so lange hier zu bleiben, bis die Analyse beendet ist?« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ja. Ich habe gern alles unter Kontrolle. Außerdem erwartet Maya meinen Bericht. Wie ich hörte, ist auch Ihre Tochter erkrankt?« »Ja«, murmelte Windtänzer einsilbig. »Hm. Nun gut, so sieht es also derzeit aus. Wir können momentan nichts weiter tun als abwarten. Sie müssen natürlich nicht die ganze Zeit bei mir sitzen bleiben, ich kann mich sehr gut allein beschäftigen.« Carter deutete zu den Bäumen. »Ein himmlisches Plätzchen, fürwahr.« »Das Sie zerstören wollen.« Windtänzer erhob sich. »Entschuldigen Sie mich. Ich lasse Ihnen etwas zu essen und zu trinken bringen. Und ich darf Sie bitten, hier zu bleiben und nicht herumzulaufen. Meine Leute sind im Augenblick etwas nervös und nicht sonderlich gut auf Städter zu sprechen.«
Sah er da ein leichtes Zucken an der Wange? Dieser Tsuyoshi-Mann war keineswegs so mutig, wie er sich gab. Gut so. *** »Es ist ein Sporenpilz«, verkündete Carter Loy Tsuyoshi, als die Experimente abgeschlossen waren. Lange genug hatte es gedauert, fand Windtänzer. Inzwischen waren weitere Waldleute erkrankt, einer schwebte in Lebensgefahr, und Morgenblüte ging es auch nicht gut. Immerhin waren die Städter abtransportiert worden, von denen war nichts mehr zu befürchten. Sämtliche Baumsprecher und Heiler waren versammelt, als Carter seinen Bericht gab. Er fuhr fort: »Der Pilz löst unter bestimmten Umständen eine allergische Reaktion aus. Der Tod des armen Jungen war eine Überreaktion von Antikörpern, die einen rapiden Zellverfall mit sich brachte. Er starb sozusagen an allergischem Schock.« »Und wodurch wird die Allergie ausgelöst?«, fragte Starkholz. »Das wissen wir leider noch nicht, da die Kranken keinerlei physiologische Besonderheiten aufweisen«, antwortete Carter. »Und zumindest nichts, was auf Zusammenhänge schließen lässt. Aber – wir sind zuversichtlich, bald ein Gegenmittel zu haben, das die
Beschwerden rasch abklingen lässt und nach ein paar Tagen Ruhe zur völligen Gesundung führt.« Aufgeregtes Gemurmel machte sich breit. »Das heißt, wir können hoffen?« »Aber sicher!«, strahlte Carter. »Wir haben in den Archiven Hinweise auf Mittel bei ganz ähnlichen Reaktionen gefunden. Wir sind gerade dabei, dieses Mittel herzustellen, und werden es bald applizieren. Ehe Sie sich versehen, ist alles wieder in bester Ordnung!« »Die Krankheit wird also durch einen Pilz übertragen?« »Ja, durch dessen Sporen, genauer gesagt. Hautkontakt löst die Übertragung aus. Die Lungen werden davon allerdings nicht befallen, das heißt, es besteht keine Gefahr durch Niesen oder Husten. An der Luft überlebt der Erreger nicht lange, sodass sich eine Epidemie durch die Quarantäne leicht verhindern lässt. Sie haben sehr schnell reagiert, Windtänzer, gratuliere.« Der künftige Oberste Baumsprecher nickte. »Sie ebenfalls, Carter, und Sie scheinen die Sache leichter zu nehmen als wir.« Er machte seinen Leuten ein Zeichen, sich zu entfernen, was sie augenblicklich taten. Dann fixierte er Carter Loy. »Das ist doch nicht alles«, sagte er ruhig. »Sie helfen uns nicht selbstlos.« »Stimmt!«, sagte dieser fröhlich. »Ich bin Geschäftsmann mit Leib und Seele. Nun, irgendwo muss ich ja auch hin mit meiner Energie, nachdem man mich seinerzeit aus dem Rat geworfen hat, haha. Ich bin Maya deswegen übrigens nicht böse, ganz im Gegenteil. Sie hat
mich darauf gebracht, dass der Beraterposten nichts für jemanden wie mich ist.« »Diese Selbsterkenntnis hätte ich Ihnen nicht zugetraut«, bemerkte Windtänzer. »Was verlangen Sie?« »Verlangen ist so ein hartes Wort…« »Hören Sie auf! Bei uns ist es üblich, direkt zu sagen, was Sache ist, ohne langes Drumherum.« »Na schön.« Carters leicht schräg stehende Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Sie wissen, worauf es mir ankommt. Ich will, dass Sie mich künftig unterstützen bei meinen Bestrebungen, zu expandieren und den Mars zu einem Planeten reicher Hochkultur zu machen. Ich will, dass Sie freiwillig einen Teil des Waldes an mich abtreten und eine Vereinbarung unterschreiben, die genau regelt, wie wir uns als Nachbarn zu verhalten haben.« Windtänzer nickte. Er hatte es schon geahnt. »Ohne Vereinbarung keine Heilung«, sagte er tonlos. »Ach, nun ja, natürlich versagen wir unsere Hilfe nicht, dafür sind wir ja hier und von der Präsidentin beauftragt. Aber sagen wir mal so: Ich kann nicht dafür garantieren, dass das Mittel hundertprozentig wirkt, wenn wir uns nicht einig werden. Das heißt, es könnte sein, dass die Symptome nach einer Weile wieder ausbrechen, wenn das Mittel nicht regelmäßig eingenommen wird.« Carter lächelte wie ein Sandmauler kurz vor dem tödlichen Biss. Windtänzer hatte Mühe, Ruhe zu bewahren. Er hatte überhaupt keine Wahl, und das wusste auch Carter.
Natürlich könnte er Maya in Kenntnis setzen, aber das half seinen Leuten nicht. Und Carter konnte sicherlich nichts nachgewiesen werden, also stand Wort gegen Wort. Und was wollte ein Waldmensch vor dem Tribunal der Stadt schon ausrichten? »Einverstanden«, stieß er schließlich zwischen den Zähnen hervor. Bevor Carter freudestrahlend den Handel bestätigen konnte, trat er dicht an den Mann heran, der um fast einen Kopf kleiner war als er. Mit sehr tiefer, leiser Stimme warnte er: »Aber sollte ich jemals den Beweis dafür finden, dass dies alles von Ihnen so arrangiert war, nur um uns abhängig zu machen und Ihre Machtgier zu befriedigen, dann, das schwöre ich Ihnen, wird es keinen Platz auf der Welt geben, an dem Sie vor mir sicher sind.« Carters Lächeln war nun wie weggeputzt, und er wurde ein wenig blass. »Selbstverständlich«, sagte er. *** »Ich sage euch, was wir jetzt machen«, erklärte Matthew Drax nach seiner Wachablösung am späten Nachmittag. »Bin ganz Ohr«, bemerkte Chandra, ausgestreckt auf einer Liege. Fedor Lux, Clarice Braxton und der schweigsame Ranjen Angelis, zwei verlässliche Wegbegleiter der letzten Expedition in den Kronleuchter-Canyon, waren ebenfalls anwesend; alle hatten dieselben grauen Gesichter und den müden Gesichtsausdruck.
»Wir gehen heute Nacht rein und schnappen uns diesen Mistkerl«, fuhr Matt fort. »Das kann funktionieren, ich war schon einmal auf diesem Wege drin, als die Dinge… hmm… noch nicht zum Besten mit mir standen.« »Das müsste ich zuerst mit der Präsidentin absprechen«, wandte Fedor Lux ein. »Sie haben Recht. Vergessen wir das.« Matt gab sich unbefangen, holte sich etwas zu trinken und setzte sich wieder. Dann betrachtete er den Albino prüfend. »Aber wissen Sie was? Ich glaube, Sie brauchen dringend etwas frische Luft.« Matts Gesicht drückte Besorgnis aus. »Sie sehen ziemlich blass um die Nase aus. Und bestimmt wollen Sie unserer unermüdlichen Wache dort draußen auch einmal Mut zusprechen, das spornt ziemlich an.« Der Albino überlegte kurz. Dann stand er auf. »Ich glaube tatsächlich, ein kleiner Spaziergang wird mir gut tun, um mein Gehirn zu lüften und die Gedanken zu sammeln. Anschließend werde ich mich in meine Unterkunft zurückziehen. Ich glaube also nicht, dass wir uns vor morgen noch einmal sehen werden. Ich wünsche eine gute Nacht.« Damit verließ er den Raum. Chandra funkelte Matthew an. »Wenn das schief geht, Matt, sind wir dran, und zwar egal, wer von beiden uns erwischt – Kristallträumer oder Maya«, meinte sie. »Ich meine, dir wird wahrscheinlich nichts passieren, da Maya einen Narren an dir gefressen hat, aber mir wird sie den Kopf abreißen. Ganz abgesehen davon, was
Kristallträumer mit uns anstellen wird, da er noch eine Rechnung mit uns offen hat.« »Dann darf es eben nicht schief gehen.« »Du weißt, was der Rat ausdrücklich angeordnet hat!« »Ja, ich weiß, niemand soll gefährdet werden.« Auffordernd blickte Matt in die Runde. »Was schaust du mich an?«, meinte Clarice. »Ich setze schon langsam Fett an, weil ich nichts zu tun habe. Ich bin froh um jede Bewegung. Ein bisschen Climbing kann nicht schaden, und Nachttraining hatte ich schon lange nicht mehr. Vielleicht verirre ich mich ja und lande versehentlich auf dem Strahlgelände.« »Ich bin auch dabei«, brummte Ranjen. »Scheiß auf den Rat, der bringt sowieso nichts.« »Das will ich nicht gehört haben!«, sagte Chandra, aber nicht besonders nachdrücklich. Sie seufzte. »Da ich dich sowieso nicht zurückhalten kann, Matt, werde ich dich also auch begleiten. Wann wollen wir aufbrechen?« »Gleich nach Sonnenuntergang«, antwortete er. »Sehen wir zu, dass uns niemand bemerkt.« »Du hoffst wohl darauf, dass die dort unten nicht so wachsam sind wie wir?« »Werden sie nicht sein. Das sind keine Profis, Freunde. Die einzige Gefahr stellt Schnellwasser dar, weil er euch spüren kann. Mich allerdings nicht, wie wir schon festgestellt haben, und das gereicht uns wiederum zum Vorteil.« Sie redeten nicht mehr lange, sondern suchten ihre Waffen zusammen und warteten auf den Einbruch der
Dunkelheit. Dann verließen sie die Baracke. Hier oben war alles weitgehend still und verlassen, ganz im Gegensatz zu den Flutlichtern unten auf dem Strahlgelände. Dort versammelte sich die Anhängerschaft gerade zur Abendmeditation, die natürlich wie immer von den Medien übertragen wurde. Der Rat hatte versucht, diese Übertragungen zu unterbinden, hatte aber nachgeben müssen, weil das die öffentliche Meinung noch mehr aufgebracht hätte. Auf beiden Seiten des Zauns patrouillierten Wachen. Eine bizarre, ja, absurde Situation. Matt, der sich zuvor die Gegend auf der Karte eingeprägt hatte, führte die kleine Gruppe nach oben, tiefer in die Felsen hinein, bis er den richtigen Eingang gefunden hatte. Sie brauchten dafür fast eine Stunde, weil das Flutlicht von unten nicht bis hier oben drang, und das Sternenlicht war sehr schwach. Anders als auf der Erde reflektierten die beiden winzigen, über den Himmel eilenden Monde so gut wie kein Licht. Also mussten sie sich im schwachen Restlicht behutsam vorwärts tasten. Sie sicherten noch einmal in alle Richtungen, dann schlüpften sie hinein. Erst jetzt konnten sie es wagen, die Taschenlampen anzumachen. Ein löchriges Höhlensystem breitete sich vor ihnen aus, aber Matt fand ohne Mühe die unscheinbaren Markierungen wieder, die beim letzten Mal hinterlassen worden waren; weil er wusste, wo er suchen musste.
Langsam drangen sie in das Innere der Felsenregion vor. Die Luft wurde zusehends abgestandener und stickiger. Den Ortungsgeräten nach zu urteilen, waren sie zumindest in der richtigen Richtung unterwegs. »Der Weg endet oberhalb der Grotte, in der Nähe des Strahls«, erläuterte Matt flüsternd. »Es kann nicht mehr weit sein.« »Hast du dir schon überlegt, wie wir anschließend vorgehen wollen?«, fragte Clarice. »Ich meine, wissen wir, wo Kristallträumer nachts ist? Schläft er? Allein?« »Ich habe ihn so lückenlos beobachtet wie nur möglich«, antwortete Matthew. »Er betritt nach seiner abendlichen Ansprache immer denselben Raum und verlässt ihn erst morgens wieder. Ich kenne den Raum, er ist Teil eines Komplexes von fünf Räumen, in denen früher wohl Gerätschaften untergebracht waren, die jedoch bei der Abreise der Hydree ausgeräumt wurden. Die Räume sind untereinander verbunden, bis auf diesen einen, der steht völlig für sich und hat als einziger den Zugang nach außen zum Gelände, die anderen alle nach innen. Ich glaube, da hat Kristallträumer sich häuslich niedergelassen.« »Nun gut, er verbringt also die ganze Nacht dort«, sagte Clarice. »Aber nicht allein, oder? Ich habe ihn beobachtet, die Frauen stehen auf ihn. Keine Ahnung weshalb, denn er ist nicht gerade ein Ausbund an Schönheit.« »Er hat eine enorme Ausstrahlung«, bemerkte Matt. »Man kann sich ihm schwer entziehen, und er versteht
es, die Leute in seinen Bann zu ziehen, wie du bemerkt hast. Er manipuliert sie, und er benutzt fiese Tricks, wie die dunklen Kristalle und Schnellwasser. Aber die Frau wird kein Problem sein, oder?« Clarice hob die Schultern. »Natürlich nicht.« »Also werden wir dir Deckung geben, und du gehst rein und schnappst ihn dir?«, fragte Ranjen Angelis. »Das ist der Plan«, nickte Matt. »Er kann meine Anwesenheit nicht spüren. Der einzige Unsicherheitsfaktor ist Schnellwasser. Aber ich gehe davon aus, dass er nach den Ansprachen jedes Mal sehr erschöpft ist und Schlaf braucht.« »Der Junge sieht inzwischen einer Leiche ähnlicher als einem lebenden Menschen«, stimmte Chandra zu. »Und was ist mit Sandperle und der Kleinen?« »Sandperle wird ihre Tochter in Sicherheit bringen, und damit ist sie aus dem Weg«, antwortete Matt. »Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Sternsang immer noch da drin ist. Bestimmt wartet er schon ungeduldig auf uns. Er kann uns helfen. Sonst noch Fragen?« »Ja«, erklang Clarices Stimme von weiter vorn. »Wieso geht es hier nicht weiter?« »Was?« Matt drängte sich an dem wuchtigen Ranjen vorbei. Clarice stand vor einer Barriere aus Geröll. Matt fluchte. Der verdammte Gang war bei dem Beben eingestürzt! ***
»Es gibt da ein Problem, Herr Carter.« Der Leiter des Feldlabors hatte Carter Loy zu einem vertraulichen Gespräch gebeten. Sie standen am Rand der Siedlung, in der Deckung eines Busches, und unterhielten sich flüsternd, nachdem sie gründlich die Umgegend abgesucht hatten. »Was soll das für ein Problem sein?« Carter runzelte die Stirn. Unvorhergesehene Schwierigkeiten verabscheute er, es musste stets alles genau nach Plan verlaufen. »Mit der Probe«, antwortete der Mediker. »Sie… war verseucht.« Carter begriff immer noch nicht. »Ich dachte, sie wurde -zigmal getestet? Und es hat jedes Mal funktioniert?« »Ja, theoretisch. Aber… sie ist mutiert.« »Was? Wie ist das möglich?« Carter bezähmte sich nach seinem Ausruf. Zum Glück hatte ihn niemand gehört. Der Mann atmete schwer. »Die Kultur wurde einem Versuch unterzogen, der sie… veränderte. Sie ist virulent.« Carter Loy fielen fast die Augen aus den Höhlen. »Was sagen Sie da? Sind Sie verrückt geworden? Ich habe doch gesagt, dass wir eine Reinkultur brauchen, die lediglich ein paar harmlose Symptome hervorruft, die leicht beseitigt werden können!«
»Davon gingen wir bisher auch aus«, antwortete der Mediker. »Aber inzwischen sind zwei Menschen gestorben, und es werden noch mehr werden. Der Viruspilz mutiert rasend schnell und greift direkt das Immunsystem an. Wir haben nicht herausgefunden, warum es nicht alle trifft, aber das mindert seine Gefährlichkeit nicht.« Carter wurde aschfahl. »Das heißt, das Mittel… wirkt nicht?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Wir haben die besonderen Umstände im Wald nicht berücksichtigt. Bisher haben wir unter Laborversuchen getestet, auch an uns selbst. Es ist jedes Mal gut gegangen. Aber wir haben das angekoppelte Virus nicht entdeckt, weil es inaktiv war. Bis wir… den Pilz hier ausgesetzt haben. Verstehen Sie, hier gibt es Strahlung… die Korallenbäume. Die Verhältnisse haben sich geändert.« »Das bedeutet, dass die Menschen nicht nur hier daran sterben, sondern dass sich das Virus… bei den Monden, wir haben es mit einer Seuche zu tun!« »Ja, Herr Carter. Wenn wir Glück haben, haben wir hier im Wald alles unter Kontrolle. Aber sollte auch nur einer der Städter befallen gewesen sein… falls einer durch unser Netz geschlüpft ist…« Der Mann schob seinen rechten Ärmel nach oben. Er zeigte seltsame Flecken.
Carter Loy Tsuyoshi hatte das Gefühl, als wäre ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden, nachdem der Leiter ihn verlassen hatte. Völkermord… das hatte er nicht gewollt! Er hatte den Waldleuten lediglich einen Schrecken einjagen wollen mit einem Pilz, der Halluzinationen hervorrief und den man leicht bekämpfen konnte. Es schien ihm die beste Möglichkeit, so schnell wie möglich neue Pfründe zu erschließen und vor allem die aufsässigen Baumsprecher ein für alle Mal mundtot zu machen. Diese Leute hatten nicht das Recht, sich als gleichwertig zu betrachten, sie waren primitiv, ein Rückschritt der menschlichen Entwicklung! Und Carter hatte sich an Windtänzers Demütigung weiden wollen, jenem Mann, der ihm ein Messer fast bis ins Herz gestoßen hatte. Jenem Mann, der viel zu viel Einfluss bei der Präsidentin hatte. Und nun… war alles im Treibsand versunken, alle Hoffnungen und Träume und Rachegedanken. Er hatte etwas ausgelöst, das vielleicht nicht mehr aufzuhalten war. Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun?, dachte er verzweifelt. Auf die Verschwiegenheit seiner Leute konnte er sich verlassen, die würden kaum offenbaren, dass sie bei dieser Aktion geholfen und sich dadurch mitverantwortlich gemacht hatten. Aber das änderte nichts daran, dass Rettung gefunden werden musste. »Finden Sie ein Heilmittel!«, hatte er
panisch zu dem Mediker gesagt, und der hatte auf seine Male gezeigt und trocken erwidert: »Was denken Sie denn?« Carter Loy Tsuyoshi musste sich etwas einfallen lassen, sonst war er verloren. Und er konnte nur beten, dass seine Leute bald einen Impfstoff fanden. Eine Seuche… war der Anfang vom Ende. *** »Achtung – Kamera bereit? K1 Totale von vorn, K2 Profil mit Brust, K3 auf die Menge. Gebt mir Signal, wenn ihr so weit seid.« »Zentrale, bereit.« »Gut, dann auf mein Zeichen – 3-2-1 und… run!« »Volk des Mars!«, erklang Kristallträumers Stimme aus weithin schallenden Lautsprechern und aus den Holosendern. »Höre meine Stimme! Ich sage dir, der Untergang wird kommen, wenn du nicht erwachst! Hör mich, Volk des Mars!« »Wir hören dich!«, rief die Menge im Chor. Viele hatten die Arme erhoben. »Sprich zu uns, Meister, und erlöse uns!« Der Schamane stand auf einem Podest und sprach zu ihnen, jeden Tag zwei Mal. Manchmal predigte er, manchmal betete er mit ihnen gemeinsam, und manchmal forderte er ganz deutlich zu handeln auf. Er wiederholte sich nie. Und trotzdem sagte er immer dasselbe.
»Volk des Mars! Mit der Gabe, die mir der Vater verliehen hat, kann ich sehen, dass uns eine große Dunkelheit erwartet, wenn wir nicht von unserem gefährlichen Tun ablassen! Seht, ich bin hierher gekommen an den Ort des Bösen, um euch zu warnen und zu bitten, innezuhalten in dem, was ihr erweckt. Die Vergangenheit muss ruhen! Kaum vernarbt sind die Wunden, die die Alten einst in die Kruste des Mars schlugen. Zerstört haben sie alles, und weil dies noch nicht genug war, suchten sie eine neue Welt, die nun ebenfalls dem Untergang geweiht ist! Ihr habt die Bilder gesehen von der Schwester Erde: Sie brennt und blutet, Feuer und Asche regnen vom Himmel, und viele Gebiete sind lebensfeindlich geworden, wo sich auf Jahrtausende hinaus nichts mehr ansiedeln kann!« »Ja, gut so. Weiter drauf bleiben! Das wird eine große Sache. Schneidezentrale, Einschnitt der Erdsequenzen, die die PHOBOS mitgebracht hat, in das rechte untere Viertel! K2, schwenken auf Frontal! Ja, genau, den ausbrechenden Vulkan zu seinen geballten Fäusten, die er gen Himmel erhebt! Grandios.« »Jahrmilliarden brauchte unser Vater, um im tiefen Schlaf seine Wunden zu heilen. Als er es an der Zeit fand, einen neuen Versuch zu wagen, schickte er eine Botschaft zu den Menschen – und er wurde erhört. Der Vater hat es den Gründern gestattet, hier zu bleiben und eine neue Zivilisation des Friedens aufzubauen.«
»Nacheinander Profilbilder der Gründer einblenden, und Zeitraffer über Gründung und Entwicklung rechts unten einblenden! K1, Totale dazu.« »Es waren harte und entbehrungsreiche Jahre, doch wir lebten in Einheit mit dem Vater, nahmen seinen Atem in uns auf, lauschten seiner Stimme, dankten seiner Gastlichkeit durch Demut. Doch schon spaltete sich unser Volk zum ersten Mal, als die Städte groß und die Wälder von jenen, die nicht dort geboren waren, gemieden wurden. Anstatt auf den Vater zu hören, wurden die Städter Anhänger der Technik und entfernten sich immer weiter von ihrem Ursprung. Die Relikte der Alten wurden entdeckt, und die Forscher erlagen dem schwersten Irrtum, indem sie glaubten, diese wären ein Geschenk des Vaters. Der Vater warnte sie zum ersten Mal!« »Verdammt, wo sind die Vegas-Bilder? Schlaft ihr? Rein damit, sofort!« »Eine Stadt versank im Boden. Doch dies war keine Lehre, denn heute – heute ist bereits die zweite Stadt von den Auswirkungen der bösen Mächte der Alten betroffen!« »Ja, Utopia, hopp-hopp-hopp! Zeigt Nahaufnahmen, Blutende und Verletzte, weinende Kinder, rauchende Trümmer!« »Und ich sage euch, dabei wird es nicht bleiben, wenn wir nicht sofort damit aufhören, die Mächte des Bösen weiterhin zu erwecken! Was tief in der Erde ruhte, soll auch dort bleiben. Wir müssen uns besinnen auf das, was
uns der Vater gibt, zurückkehren zu den wahren Werten und in Einheit und Frieden leben! Nehmen wir Abstand von dem, was uns Unglück bringt, denn ich sage euch: Es wird weitere Katastrophen geben, wenn wir nicht zur Vernunft kommen! Die Vergangenheit hat es gezeigt, und es wurde mir offenbart in einer Schreckensvision, deren Bilder ich nie wieder aus meinem Kopf tilgen kann – deswegen werde ich alles unternehmen, um unser Volk zu retten!« Beifall brandete auf, wie immer, und dann fing die Menge an zu singen, während Kristallträumer langsam nach unten ging. Er hob noch einmal in einer segnenden Geste die Hände, bevor er in dem Raum neben der Grotte verschwand, den er zu seinem Lager umgestaltet hatte. Nacheinander betraten Anhänger das Podium und berichteten, wie sie durch Kristallträumer erleuchtet wurden, wie er ihnen geholfen, sie gerettet hatte. Jedes Mal erhielten sie Beifall und Sprechchöre. *** »Hier spricht Suzie Wang von ENT, ich bin vor Ort auf dem Strahlgelände des Mie-Kraters, bei dem Mann, der gerade unsere Welt in Atem hält und der Regierung die Stirn bietet. Ich möchte mich gern mit einigen Anhängern über die Gründe unterhalten, weshalb sie hier sind. Fangen wir doch gleich mit Ihnen an, junger Mann: Glauben Sie, dass der Schamane recht hat?«
»Unbedingt! Kristallträumer ist ein Prophet, er kann Dinge sehen, die uns verschlossen bleiben. Außerdem liegen die Beweise klar und deutlich auf der Hand, dass die Nutzung der Technik der Alten mit den Naturkatastrophen einhergeht.« »Denken Sie wirklich, dass es sich hier um eine Strafe des Vaters Mars handelt?« »Nun ja, so weit würde ich nicht gehen, ich bin nicht sonderlich erfahren in diesen Dingen, wissen Sie. Aber es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Probleme in letzter Zeit gewaltig häufen, oder? Das Erdbeben, Streit mit den Waldleuten… Das sollte einem schon zu denken geben, nicht wahr?« »Machen wir weiter mit Ihnen, Frau…« »Melinda.« »Melinda, was sagen Sie zu der Behauptung, dass der Mann von der Erde, Matthew Drax oder auch Maddrax, die Ursache allen Unglücks ist?« »Das steht ja wohl eindeutig fest! Natürlich hatten wir schon mal so was wie einen Krieg mit den Waldleuten, aber das ist lange her, und seitdem haben wir friedlich und in Wohlstand gelebt! Aber seit der Erdenmann bei uns eingetroffen ist, hat er das Volk gespalten und in große Gefahr gebracht – denken Sie an den Cyborg, der verwüstend durchs Land gezogen ist und viele Unschuldige ermordet hat! Auch das Erdbeben geht auf sein Konto, weil er die Forschungen am Strahl vorangetrieben hat!«
»Ex-Präsidentin Cansu Alison Tsuyoshi hat Maddrax seinerzeit zum Tode verurteilt. Denken Sie, das war in weiser Voraussicht geschehen? Ja, Sie bitte, mein Herr?« »Selbstverständlich! Ich halte es für einen großen Fehler, dass unsere derzeitige Präsidentin, die ich im Übrigen sehr verehre, aber derzeit nicht verstehen kann… also dass sie diesem Fremden, der sich unseres Vertrauens noch nicht als würdig erwiesen hat, den Status ›dem Haus Tsuyoshi zugehörig‹ verleiht! Sie wissen, was für ein langwieriger Prozess das für einen Marsianer ist, wenn er überhaupt von Erfolg gekrönt ist, und dieser Mann von irgendwo da draußen kriegt ihn einfach so? Das stinkt doch zum Himmel, sage ich! Diese Machenschaften, die offensichtlich auch das Präsidentenamt selbst ergriffen haben, müssen ein Ende finden!« »Würden Sie es für gut befinden, wenn wir Altpräsidentin Vera Akinora Tsuyoshi bitten würden, eine Ansprache zu halten?« »Nein, ganz ehrlich, denn sie ist die Mutter der jetzigen Präsidentin und daher voreingenommen. Verstehen Sie mich nicht falsch, sie war eine großartige Politikerin, aber das ist vorbei. Das war eine andere Zeit damals.« »Ich möchte auch etwas sagen! Mein Name ist Julima, und ich finde, dass die Präsidentin zurücktreten sollte! Was wir brauchen, ist jemand, der uns aus dieser Misere bringt, der verhindert, dass die Arbeiten am Strahl
weitere Katastrophen auslösen! Wir brauchen jetzt eine starke Hand, die uns führt und vereint!« »Ja, gebt Kristallträumer die Befugnis, etwas zu unternehmen! Er weiß, was zu tun ist!« »Weg mit dem Rat! Weg mit der Präsidentin!« »Sie hören die Zustimmung, liebe Zuschauer, aber es gibt natürlich auch Gegenstimmen. Beide Seiten haben gute Argumente, aber das ändert alles nichts daran, dass Kristallträumer zu Recht eine Entscheidung verlangt, die dem marsianischen Volk dienlich ist und nicht den Bedürfnissen eines Einzelnen, der von einem anderen Planeten kommt. Das wäre es für heute, ich verabschiede mich und wünsche Ihnen Frieden und klare Einsicht.« *** Sandperle hielt sich in diesen Tagen nicht oft in Kristallträumers Nähe auf. Meist war seine derzeitige Favoritin Eliana Margys bei ihm. Das war der jungen Frau nur Recht, dann ließ er sie wenigstens in Ruhe. Und auch Schnellwasser konnte sich endlich ein wenig von all den Strapazen erholen. Er schlief sehr viel in diesen Tagen, und wenn er wach war, war er oft verwirrt und desorientiert. Sandperle machte sich große Sorgen um ihren Bruder, dessen Verstand immer mehr zerrüttete. Dafür steigerten sich seine geistigen Kräfte beachtlich. Sandperle konnte es schon fast körperlich spüren, wenn er sie einsetzte. Kristallträumer verlangte seinen Einsatz, wenn er seine Ansprachen hielt. Das hielt
Sandperle schon für zu viel, aber immerhin wurde ihr jüngerer Bruder ansonsten nicht gefordert. Endlich einmal hatte Sandperle ausgiebig Zeit, sich ihrer Tochter zu widmen. Sonnentau brauchte ihre Nähe jetzt ganz besonders; das kleine Mädchen vermisste die Heimat, und es hatte Angst. Es spürte die Nähe des Strahls und empfand sie als unangenehm und gefährlich. Außerdem fürchtete das Kind sich vor seinem eigenen Vater. Sandperle konnte die Kleine verstehen, ihr erging es nicht anders. Kristallträumer war kaum mehr zugänglich, wenn sie mit ihm sprechen wollte, ihn darum bitten, nicht zu streng zu sein. Der normale Anhänger bekam es ja kaum mit, was mit den Vertrauten in unmittelbarer Nähe des Schamanen passierte. Sie waren ihm hörig und nahmen alles hin, doch vor allem wurden sie von Furcht bestimmt, ihm stets zu gehorchen. Aber was machte sie sich Gedanken? Die anderen mussten damit fertig werden, nicht sie. Zum ersten Mal konnte Sandperle sich nahezu frei bewegen, ohne ständig auf ihren Gemahl achten zu müssen. Zum ersten Mal trug ihr Körper keine Male seiner Misshandlungen. Sandperle sah nach Schnellwasser, der ausgestreckt auf einer Pritsche lag und sehr tief schlief. Sie drehte sich um, als sie den leisen Schritt Sonnentaus hörte. »Wie geht’s ihm, Mama?«, flüsterte die Kleine. »Ganz gut, Schätzchen. Ich denke, wir werden heute eine ruhige Nacht haben.« Sandperle sah, dass die Taschen des Kindes sich ungewöhnlich ausbeulten. Außerdem trug sie einen Beutel bei sich, der viel zu groß
für sie war und schwer wirkte, so wie er ihre Schulter nach unten zog. »Was hast du denn da?« Das Kind wich erschrocken zurück, als wäre ihm jetzt erst bewusst geworden, einen Fehler gemacht zu haben. »Nichts, nichts! Ich geh dann schlafen, ja?« Das machte Sandperle erst recht misstrauisch. Die Kleine war in letzter Zeit öfter allein unterwegs gewesen, was sie früher nie getan hatte. Aber die Mutter hatte sich keine allzu großen Sorgen gemacht, denn das Gelände war abgeriegelt. Außerdem gab es noch ein paar andere Kinder hier; vielleicht entdeckte Sonnentau endlich den Zugang zu Altersgenossen und blieb nicht mehr so für sich. Doch nun merkte Sandperle, dass ihre Tochter ein Geheimnis vor ihr hatte. Sie stand auf und streckte die Hand aus. »Gib mir den Beutel.« »Aber da ist nichts, Mama!« »Dann kannst du mir den Beutel ja geben. Na los!« Sonnentau gab zögernd nach, kauerte sich dann auf den Boden und versteckte das Gesicht, mit Ausnahme der Augen, zwischen den gekreuzten Armen. Sandperle öffnete den Beutel und entdeckte Lebensmittel. Erstaunt blickte sie ihre Töchter an. »Wolltest du weglaufen?« »Nein, das ist für den alten Mann.« »Für welchen alten Mann?« Sonnentau wand sich. Dann rückte sie heraus: »Da ist ein alter Mann in den Felsen. Ganz alt, Mama, mit ganz vielen Falten! Er ist sehr freundlich zu mir. Aber er hat gesagt, dass niemand wissen darf, dass er hier ist.« In
ihre Augen trat ein ängstlicher Ausdruck. »Du wirst es Papa nicht sagen, oder?« Sandperle warf einen Blick zu ihrem Bruder. Er hatte nichts mitbekommen, sondern lag weiterhin in ohnmachtähnlichem Schlaf. »Führ mich zu dem alten Mann«, forderte sie ihre Tochter auf. Sonnentau brachte ihre Mutter in die Grotte des Strahls. Sie wurde nicht gesondert bewacht, denn die meisten Leute mieden sie; Kristallträumer hatte ihnen genügend Angst eingejagt, was ihnen alles in der Nähe des Strahls passieren konnte. Sandperle konnte sich nur über ihre Tochter wundern, die sich trotz ihrer Abneigung hier ganz selbstverständlich bewegte. Sie ging außen an den Felsen entlang und kletterte dann über eine Kante nach oben. Sandperle stellte keine Fragen, sondern kletterte einfach hinterher. Da sie in den Felsen aufgewachsen waren, hatten sie beide keine Mühe, hinaufzukommen. Sonnentau folgte einem schmalen Grat, dann schlüpfte sie durch einen engen Durchlass, der Sandperle auf den ersten Blick nicht aufgefallen war und der von unten gewiss nicht zu sehen war. Drinnen wurde es deutlich dunkler, aber Sonnentau fand sich spielend zurecht. Sie musste schon öfter hier gewesen sein. Es ging wie durch ein Labyrinth, und selbst Sandperle hatte Mühe, sich den Weg einzuprägen.
Dann bog Sonnentau noch einmal ab und deutete auf einen düsteren Eingang. »Da ist er drin. Leise jetzt, er mag es nicht, gestört zu werden.« Sandperle war nervös; sie hatte keine Ahnung, wer sie da erwarten mochte. Er konnte eigentlich nicht gefährlich sein, wenn ihre scheue, misstrauische Tochter so unbefangen mit ihm umging. Als sie sich dem Eingang der Höhle näherte, erklang eine ruhige Stimme: »Willkommen, Sonnentau. Und wie ich sehe, hast du deine Mutter mitgebracht. Tretet ein.« Sonnentau nickte ihrer Mutter zu und ging in die Höhle. Sandperle folgte ihr gebückt. Es ging um einige Windungen, und dann erreichten sie eine Kammer mit einem Ausgang. Das letzte Tageslicht fiel hier in schmalen Streifen durch Lücken zwischen den aufeinander geschichteten Felsbrocken, und weiter hinten war das Ende der Kammer zu sehen, ein kleines Loch nach draußen. In der Mitte der Höhle kauerte ein uralter Mann – Sonnentau hatte nicht übertrieben. Er strahlte eine große Würde, aber auch Ruhe aus, sodass Sandperle sich scheu, aber ohne Furcht näherte. »Setzt euch.« Er wies mit einladender Geste vor sich. »Ich hab dir was mitgebracht«, sagte Sonnentau eifrig, leerte ihre Taschen und packte den Beutel aus. »Du musst ja was essen, sonst hast du bald keine Kraft mehr.« Der Greis lächelte. »Ich danke dir, mein Kind. Du besitzt schon sehr viel Güte und Weisheit.« Dann blickte er Sandperle an. »Ich bin Sternsang. Man nennt mich
auch den Weltenwanderer, denn ich reise durch den Strahl.« »Verehrter«, sagte Sandperle und neigte den Kopf. »Ich bin nicht würdig, Eurer Aufmerksamkeit teilhaftig zu werden.« »Willst du meine Entscheidung bezweifeln?«, fragte der Uralte. »Ich… ich…« , stammelte sie und sah verwirrt, wie der Greis heiter lachte. Kristallträumer hatte noch nie gelacht, zumindest nicht so. Und erst recht machte er nie Scherze. »Es ist in Ordnung, Tochter des fernen Volkes«, sagte Sternsang freundlich. »Ich weiß deine Demut zu schätzen, aber du musst nicht übertreiben.« »Was tut Ihr hier?«, fragte Sandperle fassungslos. »Ich warte darauf, dass jemand zu mir kommt, der mich um Hilfe bittet.« »Hilfe?« »O ja, Kind. Der dunkle Prophet wird euch nur Leid und Trauer bringen. Du weißt es längst, und es erfüllt dich mit Sorge. Wir müssen ihn daran hindern.« »Aber…« »Ich bin alt und gebrechlich, Sandperle. Der Weg, den ich nach draußen kannte, ist verschüttet. Einen neuen zu suchen ist sehr mühsam.« Sandperle verstand. Ihre Augen weiteten sich vor Furcht. »Das kann ich nicht, Ehrwürdiger! Kristallträumer ist mein Herr, ich muss ihm dienen. Er würde mich grausam bestrafen, wenn ich ungehorsam wäre… und Sonnentau…«
»Er wird es nicht erfahren«, erwiderte Sternsang. »Hier drin schütze ich dich.« »Nein!« Sandperle stand auf, von Angst getrieben. »Nein, verzeiht mir meine Ungehörigkeit, aber das… das kann ich nicht! Ich weiß, Kristallträumers Wege sind schwer verständlich, aber er ist ein Erwählter und ein Erleuchteter! Ich bin zu gering, um ihn begreifen zu können. Wenn ich mich gegen ihn stelle… nein. Das kann ich nicht… es wäre falsch, grundlegend falsch. – Sonnentau, wir müssen gehen.« Sie hielt ihrer Tochter die Hand hin. »Sonnentau wird Euch weiterhin Nahrung bringen, und wir werden Eure Anwesenheit nicht verraten, aber mehr… dürft Ihr nicht verlangen.« »Ich verlange nie etwas«, sagte der Greis sanft, »was du mir nicht selbst geben willst. Gräme dich nicht, Tochter des fernen Volkes, und sorge dich nicht. Ich werde einen anderen Weg finden. Aber ich danke dir, dass du mir zugehört hast. Gehe in Frieden.« Hastig floh Sandperle. *** Maya hatte sich gerade zum Frühstück niedergelassen, als Leto erschien. Sie lächelte ihn an; wenigstens ein kleines, positives Zeichen an diesem düsteren Morgen. Seine Miene war jedoch ernst. »Maya, ich muss dich sprechen, jetzt gleich«, eröffnete er. Maya nickte und bemühte sich, ihre Müdigkeit zu verbergen. Sie war gestern erst sehr spät mit der Bahn
aus Utopia im Tsuyoshi-Tower eingetroffen, um die weiteren Verhandlungen mit Kristallträumer zu planen und vor Ort Anweisungen zu geben, bevor sie wieder zum Strahlgelände zurückkehrte. Vorher wollte sie aber noch in den Wald und wenigstens kurz ihre Tochter Nomi sehen und sich davon überzeugen, dass es ihr wirklich gut ging. Bisher hatte die mysteriöse Krankheit sie nicht befallen, und Windtänzer hatte versichert, dass sie weiterhin sicher untergebracht war, fern von allen Kranken, zusammen mit Mayas Mutter. Das Gebiet, wo die Krankheit aufgetreten war, war ja sofort unter strenge Quarantäne gestellt worden, und auch diejenigen, die zuletzt mit den Erkrankten Kontakt hatten, wurden abgesondert und durften sich erst einmal nicht von der Stelle rühren. Wie es aussah, handelte es sich um eine Vireninfektion, die eine Seuche auslösen könnte. Einige Waldleute waren inzwischen gestorben, und Maya konnte sich Windtänzers Verzweiflung vorstellen – vor allem, da auch seine eigene Tochter krank war. Bisher hielt sich das Mädchen tapfer, aber Maya wollte sich nicht ausmalen, was mit Windtänzer passierte, sollte Morgenblüte etwas zustoßen. Schon der Gedanke, ihrer Tochter könnte es ähnlich ergehen, war für Maya unerträglich. Diese zusätzliche Sorge brachte sie fast an den Rand der Belastbarkeit. Was sie jetzt brauchte, war ein wenig Trost und Zuspruch, und Zuversicht, dass sich alles noch zum Guten wenden würde. Maya wusste, dass auch Leto
sich große Sorgen um Nomi machte; die beiden waren inzwischen wirklich wie Vater und Tochter und hatten ein sehr inniges Verhältnis. Vielleicht war er deswegen an diesem Morgen so seltsam. »Natürlich müssen wir reden«, sagte sie. »Ich wollte dich heute auch sprechen. Es tut mir Leid, dass wir in letzter Zeit-« »Es geht nicht um uns«, unterbrach er sie. Er näherte sich dem Tisch, schob ihren Teller beiseite und legte ein Dokument und einen Stift vor sie. »Was ist das?«, fragte sie verwundert. »Die Erstellung einer unumschränkten Vollmacht, die Zustimmung zu meiner vorübergehenden Einsetzung als Militär-Präsident, und dein Rücktritt«, erklärte er ohne Umschweife. Sie glaubte sich verhört zu haben. Sie musste sich verhört haben. Andernfalls war einer von ihnen beiden verrückt geworden. »Was?« Er blieb vor ihr stehen. »Du wolltest doch, dass ich Präsident werde. Ich sagte dir, ich denke darüber nach – das habe ich getan und eine Entscheidung getroffen.« Sie sah zu ihm auf. »Warum wirst du zynisch?« »Maya, die Lage ist ernst«, sagte er ruhig. »Ich werde das jetzt in die Hand nehmen, weil du es aus verschiedenen Gründen nicht kannst.« Sie runzelte kurz die Stirn, beherrschte sich aber. »Und was hast du vor?«
»Ich werde den Rat auflösen, den Ausnahmezustand erklären und mit dem Magistrat für Ruhe und Ordnung sorgen«, antwortete er. Es war ihm ernst. Maya wurde so bleich, dass ihre Pigmentflecken kaum mehr sichtbar waren. Hilflos sah sie sich im Raum um, als wolle sie Schutz herbeirufen. Doch sie waren allein in Mayas privatem-Apartment am höchsten Punkt über der Stadt, eine ganze Etage nur für sie, Leto und Nomi. Und ihre Mutter Vera, wenn sie hier weilte. Die übrige Familie verteilte sich auf die unteren Stockwerke. »Leto…«, flüsterte sie. »Du kannst nicht einfach –« Erneut unterbrach er sie. Was er nie zuvor getan hatte. Auf Händen hatte er sie bisher getragen, ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Hatte sie verehrt und vergöttert, ihr seine Liebe auf vielfältige Weise gestanden. Er hatte ihr gezeigt, dass er keineswegs in jeder Situation beherrscht, ausgeglichen und souverän war, sondern dass durchaus tief in ihm ein Feuer der Leidenschaft brannte, das er ungehemmt ausbrechen ließ, wenn sie… allein waren, im Schlafzimmer oder sonst wo. Wann immer sich die Gelegenheit ergeben hatte. Obwohl Maya es sich am Anfang nicht hatte vorstellen können, da Leto stets wie ein Bruder zu ihr gewesen war; aber diese Einstellung hatte er sehr schnell, sehr verführerisch geändert. (Ich bin dein Mann, nicht dein Bruder, hatte er beim ersten Mal gesagt. Du brauchst mich nicht zu begehren, lass dich einfach fallen und lieben, denke
nicht nach. O ja, das hatte sie getan, und von da an hatte sie ihn durchaus begehrt.) Das war schon die erste Überraschung nach der Heirat gewesen, die sie erkennen ließ, dass sie ihn wohl ihr Leben lang nicht richtig gekannt hatte. Das hätte sie misstrauisch machen müssen, wie sie jetzt erkannte, aber das Gegenteil war bisher der Fall gewesen. Denn für eine kurze Zeit, bevor all dies begonnen hatte, war Maya zum ersten Mal in ihrem Leben völlig ausgeglichen und glücklich gewesen, voller Zuversicht für die Zukunft. Er sagte: »Maya, wir haben Krieg.« »Krieg?« »So kann man es nennen, ja. Im Wald kommt es immer häufiger zu Ausschreitungen, in den Städten sind gewalttätige Auseinandersetzungen an der Tagesordnung, und dieser verrückte Schamane stachelt sie alle an. Wir befinden uns in einer sehr schweren Krise, und da ist Demokratie nicht mehr angebracht. Wir können nicht in langwierigen Sitzungen mit einem korrupten Rat darüber abstimmen, was wir tun werden. Es müssen Entscheidungen getroffen werden, und das schnell. Notfalls auch harte Entscheidungen, für die nur ein Einziger die Verantwortung übernehmen kann.« »Du denkst, weil du Kommandant der Erdmission warst, kannst du ganz allein das marsianische Volk anführen?«, versetzte sie. »So viel Unterschied besteht darin nicht«, erwiderte er. »Vergiss nicht, ich habe all dies studiert, auch die irdische Historie, die uns zeigt, was passieren kann. Ich
kann und ich werde dafür sorgen, dass Kristallträumer ausgeschaltet wird, und zwar mit allen gebotenen Mitteln. Das gilt auch für die Auseinandersetzungen zwischen den Städtern und den Waldleuten. Carter Loy schickt bereits seine Maschinen, obwohl sein Antrag noch nicht einmal geprüft worden ist. Er nutzt die Schwäche der Waldleute auf miese Weise aus, und keiner gebietet ihm Einhalt – außer den verzweifelten Menschen, die bald kein Zuhause mehr haben.« »Aber das Volk…« »Wird diese Änderung notgedrungen hinnehmen, was sonst? Gerade in solchen Zeiten braucht das Volk jemanden, der ihm ganz deutlich sagt, wo es langgeht und was Sache ist. Natürlich wird es den Leuten nicht gefallen, wenn ich Ausgangssperren verhänge und überall Exekutive positioniere. Aber sie werden sich schnell daran gewöhnen, wenn dafür Ruhe einkehrt.« Maya strich sich mit zitternder Hand eine Strähne aus der Stirn. »Ich kenne dich nicht wieder…« »Tut mir Leid, Maya.« Seine Stimme klang ruhig und ausgeglichen, wie immer. Aber seine Haltung drückte Unnachgiebigkeit aus. »Wenn du einen möglicherweise jahrelangen Bürgerkrieg vermeiden willst, musst du mir die Macht übertragen und dich aus allem raushalten.« Er tippte auf das Dokument. »Lass mich die Rolle des Bösen übernehmen. Das Volk kennt mich kaum durch meine bisherige geringe Präsenz in der Öffentlichkeit, und es liebt mich nicht so wie dich und setzt keine Erwartungen in mich. Ich kann es also nicht enttäuschen. Insofern
werde ich mich schnell durchsetzen können, wenn ich entsprechend auftrete.« Er ließ ihr kurz Zeit, das Gesagte zu verdauen. »Versteh doch, Maya«, fuhr er dann fort. »Du bist eine Frau des Friedens, du kannst das nicht tun. Und – du bist mit dieser Situation überfordert, gib es zu.« Sie schwieg. Er erklärte weiter: »Ich möchte aber, dass du in meinem Stab bleibst, ebenso wie ich einige im Rat bitten werde, mich zu unterstützen. Lass mich diese Arbeit machen, bis wieder Ruhe eingekehrt ist. Dann wirst du erneut dein Amt als Friedenspräsidentin übernehmen und den Wiederaufbau einleiten. Das Volk wird dich dafür mehr denn je lieben, wenn es mich los wird und dich wiederbekommt, und du wirst keinen Schatten von Blut und Härte auf deinem Amt haben.« Maya äußerte eine Vermutung: »Ich nehme an, das ist keine einmalige Sache. Du willst die Führungsstruktur für die Zukunft ändern: In Kriegszeiten übernimmst du das Amt, in Friedenszeiten ich.« »So könnte es funktionieren.« »Dürfen wir das überhaupt, als Ehepaar, wegen des drohenden Interessenkonflikts?« »Das interessiert mich momentan nicht«, versetzte er. »Solange wir unsere Sache gut machen, wird das marsianische Volk uns akzeptieren. Ich halte unsere Verbindung sogar für einen Vorteil. So ist unsere Gesellschaftsstruktur schließlich aufgebaut.« Er machte eine weitere kurze Pause, in der das Schweigen schwer zwischen ihnen lastete. Dann fuhr er deutlich sanfter fort:
»Genau wie du will ich das Beste für unser Volk. Wir stehen sehr nahe am Abgrund. Sollten wir alles überstehen, wie ich es plane und hoffe, werden wir uns neu orientieren müssen. Bis dahin brauchen wir eine starke, handelnde Führung und ganz gewiss keine demokratischen Wahlen mit hinderlichen Diskussionen. Und schon gar keinen selbstfixierten Rat, der größtenteils nur noch eigene Interessen verfolgt. Gerade weil die wirtschaftliche Macht der Konzerne wächst, müssen wir uns davon distanzieren. Das beste Beispiel ist Carter Loy aus deinem eigenen Haus! Kristallträumer macht es uns gerade vor, dass man in diesen Zeiten jemanden braucht, der genau sagt, was zu tun ist. Und sich nicht um Gesetze kümmert.« Maya betrachtete das Dokument. »Ich muss… darüber nachdenken…« »Nein«, sagte er bestimmt. »Maya, du magst mich hassen, du kannst mich aus deinem Leben werfen, was immer du willst. Aber du wirst jetzt deinen Namen unter das Dokument setzen, und dann wirst du mich in die Ratssitzung begleiten, die ich vorhin einberufen habe, und zu der Auflösung deine Präsidialstimme geben.« »So kannst du nicht mit mir umspringen!«, brauste sie auf. »Du hast gar keine andere Wahl«, sagte er gelassen, »weil ich andernfalls einen Putsch durchführen werde, was die schwelende Stimmung im Volk allerdings noch mehr aufheizen und die Lager tiefer spalten und
entzweien würde. Diesen Schritt möchte ich gern vermeiden.« Sie schluckte und schloss die Augen. »Das werde ich dir nie verzeihen«, flüsterte sie. »Ich weiß«, sagte er. »Vor allem deswegen, weil ich Recht habe.« Maya griff nach dem Dokument und unterschrieb, ohne es durchzulesen. Auf dem Weg zum Regierungsturm sprachen sie kein einziges Wort miteinander. Vor dem Ratsgebäude waren bereits eine Menge Exekutive postiert. Neronus Gingkoson, Sicherheitsmagister des Präsidialamtes, nahm das Präsidentenpaar in Empfang. Maya hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen, als sie von Leto und Neronus in die Mitte genommen wurde. Wie eine Gefangene. Obwohl es angeblich kein Putsch sein sollte, weil sie ihre Unterschrift gegeben hatte – für Maya machte es keinen Unterschied. Dies war ein Putsch. Leto hatte alles genau geplant, jeden einzelnen Schritt dieses Tages. Von langer Hand vorbereitet, denn ohne den Rückhalt des Magistrats hätte er dies niemals durchziehen können. Sie war versucht, Neronus zu fragen, was Leto ihm geboten hatte, ließ es aber klugerweise bleiben. Der Chef des Amtes war unbestechlich; Leto musste ihn irgendwie überzeugt haben.
Der gesamte Rat war bereits versammelt und blickte verunsichert auf Maya, denn zwei Exekutive waren in der Nähe der Tür postiert. Einzig Fedor Lux fehlte; vermutlich weilte er nach wie vor in Utopia. Also weiß auch er es bereits und ist auf Letos Seite, begriff Maya, und der Zorn auf ihren Mann wuchs. »Ich muss auf das Entschiedenste protestieren!«, fing Kyra Jolana Braxton empört an. »Die Art und Weise, wie wir hierher gebracht wurden, ist ja wohl beispiellos! Abgeholt zu werden von einem Exekutiven, und –« »Dame Rätin Kyra, ich darf Sie bitten, sich ruhig zu verhalten«, unterbrach Leto sie mit ruhiger, aber unterschwellig so scharfer Stimme, dass sie augenblicklich den Mund schloss. Diesen Ton, merkte Maya erschrocken, hörte sie nicht zum ersten Mal. Damals, als sie zum Mond geflogen waren, auf ihrer ersten Mission und Letos erstem Kommando, hatte er bei ein oder zwei heiklen Situationen an Bord durchgegriffen. Ruhig, aber nachdrücklich darauf hinweisend, dass er keinen Widerspruch duldete. Selbst der aufbrausende Lorres hatte sich Letos Autorität gebeugt. Wie immer, dachte sie bitter, hat Leto Recht. Auch Lorres hat damals Recht gehabt mit seiner Kritik an mir. Für solche Situationen bin ich nicht geschaffen; ich will es allen Recht machen, keinen Fehler begehen, niemandem wehtun. Verdammter Bastard, umso weniger werde ich dir das jemals verzeihen, was und wie du es mir angetan hast, und dass ich nie tief genug in deine Seele geblickt habe. Es ist meine Schuld:
Du hast dich nie verstellt; es ist mir nur nie aufgefallen, was da in dir lauert. Und ich öffnete dir Tür und Tor, zu meinem Amt und zu meinem Bett, weil ich eben schon ahnte, dass du ein besserer Präsident sein würdest als ich, und weil ich eine starke Schulter wollte, an die ich mich lehnen konnte. Doch so wollte ich nicht, dass es passiert! Wobei es fraglich war, ob Leto anders gehandelt hätte, wenn er nicht an ihrer Seite gewesen wäre. Sein Einfluss war beträchtlich, auch wenn er bisher stets aus dem Hintergrund heraus agiert hatte. Mühsam schluckte sie ihren Zorn hinunter; wenn sie jetzt eines wahren musste, dann war es ihre Fassung. Sie musste mitmachen, ob sie wollte oder nicht. Die Ratsmitglieder richteten ihre Blicke auf Maya. »Dame Präsidentin…?«, begann Ettondo Lupos Gonzales. »Mein Berater hat Ihnen eine Ankündigung zu machen«, sagte Maya beherrscht. »Ich bitte Sie alle, ihn bis zum Schluss anzuhören, und erteile ihm das Wort.« Auf dem Konferenztisch blinkte eine Lampe. »Dame Rätin Merú, seien Sie so freundlich und stellen Sie durch«, bat Leto höflich. »Ich nehme an, das ist meine gewünschte Konferenzschaltung.« Die vornehme alte Frau aktivierte die Verbindung, und das Sekretariat der Präsidentin meldete: »Fedor Lux ist nun zugeschaltet.« Die Luft flimmerte, dann wurde ein Holo genau an die Stelle projiziert, an der normalerweise der Ratsmann saß.
»Guten Morgen, alle zusammen«, sagte Fedor Lux höflich. »Ich bitte meine Verspätung und meine Abwesenheit zu entschuldigen, aber wie Sie wissen, haben wir in Utopia eine offene Krise zu bewältigen.« »Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Leto nicht minder förmlich. »Dies betrifft auch Sie.« Er ging ans Kopfende des Tisches, stellte sich neben Merú Viveca Saintdemars Stuhl. Die Vorsitzende des Rates blickte irritiert und beunruhigt zu ihm auf und rückte auf Distanz. Leto drückte noch einmal die Verbindung. »Jema, ist alles bereit?« »Ja, Herr Berater Leto, Sie können jederzeit starten«, erscholl es aus dem Lautsprecher. »Dame Präsidentin, wollen Sie sich nicht setzen?«, flüsterte Ruman Delphis Maya zu. Sie schüttelte den Kopf mit zusammengekniffenen Lippen. »Gut!«, sagte Leto plötzlich so laut, dass die gesamte Runde erschrocken zusammenzuckte. »Es ist so weit. Ohne lange Erklärungen lasse ich Sie an dem teilhaben, was soeben geschieht. Diese Aufzeichnung wird in diesem Moment von ENT und MP gleichzeitig ausgestrahlt.« Die Fenster wurden verdunkelt und auf einem Wandschirm ein Holo aktiviert, das Leto in offiziellem dunkelgrau-violettem Anzug mit dem Logo der Marsregierung vor neutralem Hintergrund zeigte. »Ich grüße das marsianische Volk«, begann er seine Ansprache. »Viele von Ihnen kennen mich bereits, doch
ich stelle mich trotzdem kurz vor. Mein Name ist Leto Jolar aus dem Haus Angelis. Ich war Kommandant der Missionen zum Mond und zur Erde, und ich leite unter anderem das Forschungsinstitut auf Phobos. Vor einigen Wochen schloss ich einen Ehevertrag mit der verehrten Präsidentin Maya Joy Tsuyoshi und übernahm die Beraterstelle an ihrer Seite.« In die kurze Kunstpause hinein hörte man nicht einmal einen Atemzug im Konferenzraum. »Wie Sie alle wissen, stehen wir derzeit vor einer schweren Krise, die unser Volk zu spalten droht. Ein Mann namens Kristallträumer, dessen Herkunft unbekannt ist, hat das Gelände des Zeitstrahls der Alten besetzt und stellt aberwitzige Forderungen. Er setzt die Regierung unter Druck, die ohnehin schon permanent den Demonstrationen unzufriedener Mitbürger ausgesetzt ist. Da es zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt und vor allem die Situation in Utopia mittlerweile schon archaischen Bandenkriegen der Erde ähnelt, sind wir gezwungen zu handeln.« Noch eine kleine Pause, um die ungeteilte Aufmerksamkeit zu fordern. Allmählich dämmerte es den Ratsmitgliedern, was nun folgte. »Bedauerlicherweise ist der Rat durch Zerstrittenheit und Korruption nicht mehr in der Lage, sich sachlich und entscheidungsfähig mit der Krise auseinanderzusetzen. Infolgedessen hat soeben Präsidentin Maya Joy Tsuyoshi ihren Rücktritt erklärt, weil sie keine Unterstützung
seitens des Rates mehr erhält und dadurch die Regierungsunfähigkeit beschlossen hat.« Nun wollten sich einige Ratsmitglieder Luft machen, aber diesmal gab es keine Pause – Leto redete schon weiter: »Vor ihrem Rücktritt hat die Präsidentin mir uneingeschränkte Vollmacht und Entscheidungsbefugnis durch ihre Präsidialstimme übertragen, wozu sie in Krisenzeiten ohne Ratsabstimmung berechtigt ist. Hiermit erkläre ich, dass ich ab sofort im Rang eines Militär-Präsidenten vorübergehend mein Amt an der Spitze des Staates einnehme. Meine erste Amtshandlung ist der Erlass, dass bis auf weiteres alle Gesetze zu Bildung einer demokratisch gewählten Regierung außer Kraft gesetzt sind. Ferner ruhen sämtliche gerichtliche Eingaben, Klagen und Anträge.« Mit strenger Stimme betonte er: »Der Mars wird mit sofortiger Wirkung unter Notstandsrecht gestellt. Gerichtsbarkeit und Exekutive unterstehen mir direkt und können nur von mir Weisungen erhalten. Alle Bürger sind hiermit aufgefordert, unverzüglich den Anweisungen der Exekutiven Folge zu leisten, und zwar widerspruchslos. Den Anhängern Kristallträumers ist ab sofort jegliche Missionsarbeit in Utopia verboten. Wer dem Propheten folgen will, hat sich nur noch in seiner Nähe aufzuhalten und darf das von ihm besetzte Gelände nicht mehr verlassen. Sollten diese angesprochenen Anhänger der Aufforderung nicht
nachkommen, werden sie von der Exekutive zum Lager im Strahlgelände begleitet.« Der holografische Leto hob seine Hände in einer beschwichtigenden und zugleich versöhnlichen Geste. »Ich weiß, dass dies für Sie alle sehr überraschend kommt, aber ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren und abzuwarten. Sie werden sehen, dass ich Ihr Vertrauen nicht enttäuschen werde. Für Sie, das Volk, ändert sich derzeit ohnehin nichts. Ich will lediglich die Unruhestifter aussortieren, damit wieder Sicherheit und Ruhe einkehrt. Gehen Sie weiter Ihrem geregelten Leben nach, es bestehen keine Reise- oder Arbeitsbeschränkungen. Es sind lediglich ab sofort öffentliche Demonstrationen, Ansprachen und der Aufruf zum Widerstand untersagt. Dies nur deswegen, damit die gewalttätigen Ausschreitungen der letzten Wochen mit vielen verletzten Unschuldigen und Unbeteiligten aufhören. Ich bin sicher, Sie stimmen mir zu, dass dies schon der erste Schritt zur Ordnung und Rückkehr zum Frieden ist. In meiner zweiten Amtshandlung werde ich nach Utopia reisen und Kristallträumer zu einer Verhandlung auffordern, die öffentlich übertragen wird. Dies wäre alles für heute. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und verspreche, alles nur Mögliche zu tun, um diese Krise schnellstmöglich zu beenden und wieder normale Verhältnisse einkehren zu lassen. Bis dahin muss ich Sie, das marsianische Volk, um Verständnis bitten, dass meine Entscheidungen nicht zur
Diskussion stehen. Ich kann mich nur für Sie einsetzen, wenn ich meine Aufgabe uneingeschränkt erfüllen kann.« Nachdem das Bild erloschen war und die Fenster wieder das Sonnenlicht durchließen, herrschte für einige Herzschläge gelähmtes Schweigen im Konferenzraum. Dann brach ein wütender Sturm los, in dem alle durcheinander schrien: »Sie können nicht einfach – dazu haben Sie kein Recht – was fällt Ihnen ein – verrückt geworden – werden Sie vors Tribunal bringen…« Was die Ratsmitglieder in ihrer Aufregung nicht bemerkt hatten, waren weitere Exekutive, die während der Ansprache den Raum betreten hatten. Maya hatte sie sehr wohl gesehen und die Schultern hochgezogen. Die Exekutiven schwärmten nun aus und postierten sich neben jedem Ratsstuhl, was einige sichtlich irritierte und zum Verstummen brachte, die anderen aber erst recht wütend machte. Leto ließ die Ratsmitglieder einige Minuten lang toben, bis sie merkten, dass von ihm keinerlei Stellungnahme, Verteidigung oder Widerspruch kam. Die erbosten Stimmen der ehrenwerten Politiker versiegten zusehends, als sie erkannten, dass sie gegen eine Wand rannten, und die Ratsleute starrten den neuen Präsidenten aus nunmehr durchwegs schreckgeweiteten Augen an. Sie begriffen allmählich, dass es ihm bitterernst gewesen war mit der Bemerkung in seiner Ansprache: Dies steht nicht zur Diskussion. Sie standen
einer Situation gegenüber, die sie nicht kannten, die sie zusehends einschüchterte. »Sind Sie fertig?«, fragte Leto schließlich, nachdem der Geräuschpegel versiegt war. »Gut. Dann darf ich Sie bitten, sich von unseren Exekutiven nach Hause begleiten zu lassen, wo Sie sich bis auf weiteres aufhalten werden. Darum bitte ich Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit, denn ich glaube, Ihnen ist immer noch nicht bewusst, wie aufgeheizt der Mob dort draußen ist. Viele haben schon verlangt, dass Kristallträumer die Regierung übernimmt. Um dem vorzubeugen, bin ich nun hier.« Ettondo Lupos Gonzales erhob sich langsam. »Dame Präsidentin, wollen Sie gar nichts dazu sagen?« Maya stand mit versteinerter Miene da. »Ich habe nichts mehr zu sagen«, antwortete sie langsam. »Ich bin zurückgetreten, Sie haben es gehört. Seien Sie also vernünftig, nehmen Sie die Auflösung und Ihre Entlassung an und gehen Sie. Eine andere Wahl haben Sie nicht.« »Und was ist mit Fedor Lux?«, rief Eva Billy Vonsonne. »Ich habe dem Präsidenten bereits meine Loyalität erklärt«, antwortete der holografisch zugeschaltete Rat. »Ich halte dies für die einzige Lösung, das totale Chaos zu verhindern.« »Kolporteur!«, schrie Kyra Jolana Braxton. »Sie hängen Ihr Fähnchen in den Wind!« »Ich werde alles tun, um das marsianische Volk zu retten«, versetzte der Albino. »Und ich werde gewiss
nicht das Vertrauen des Präsidenten in mich enttäuschen, und ihm daher als Berater dienen, solange er mich braucht.« »Danke, Fedor«, sagte Leto. »Und Sie hier im Rat: Die Mehrheit von Ihnen sollte darüber nachdenken, warum es dazu gekommen ist. Diejenigen, die so sind wie Herr Fedor – verantwortungsbewusst, geradlinig und unbestechlich –, werde ich noch einzeln aufsuchen und um Hilfe bitten. Bis dahin üben Sie sich in Geduld.« Und so wurden sie alle abgeführt, einer nach dem anderen, und eine langjährige Regierungsform der demokratischen Oligarchie auf dem Mars fand ihr unrühmliches Ende. *** Chandra schien fast durchsichtig, so blass war sie geworden, nachdem die Sendung beendet war. »Ich bring ihn um«, flüsterte sie. Matt war bisher sprachlos gewesen. Jetzt wandte er sich an Fedor Lux. »Ist ihm das wirklich ernst?« Der neue Berater nickte. »Es ist alles sehr schnell gegangen, ich wurde selbst erst kurz vor der Sendung in Kenntnis gesetzt. Sie können sich meine Überraschung vorstellen.« Chandra funkelte ihn wild an. »Aber Sie haben sich schnell damit abgefunden!« Fedor Lux hob eine Hand. »Glauben Sie mir, mir gefällt es auch nicht, auf welche Weise Leto das
durchzieht, und ich weiß nicht, ob ich mich je wieder unter die Augen der Präsidentin wagen werde. Aber er hat Recht. Ganz egal, wie moralisch entrüstet Sie sein mögen – lassen Sie ihn einfach handeln, und verurteilen Sie ihn dann, wenn alles vorüber ist.« »Warum vertraut er gerade Ihnen?«, fauchte Chandra. »Ich bin und war immer unabhängig, Dame Chandra, und ich habe nie meine persönlichen Bedürfnisse über die des Volkes gestellt«, antwortete Lux. »Auf meine Weise bin ich genauso unbestechlich wie Leto – und Sie, Maddrax, wissen am besten, wie oft Leto und ich Sie rausgehauen haben.« Matt nickte langsam. Er war noch so erschlagen von der plötzlichen Wendung der Dinge, dass er sich dazu vorerst nicht äußern konnte. Bisher war das marsianische Volk behäbig, unbedarft, naiv… durchschaubar gewesen. Was Leto nun getan hatte, überraschte auch ihn über alle Maßen. Hatte er diesen Mann völlig falsch eingeschätzt? »Was immer Sie auch von Leto jetzt glauben mögen«, fuhr Fedor Lux fort, »er ist nach wie vor ein Mann von Ehre und Integrität. Seine Entscheidung beruht auf einer sachlichen Analyse der Situation und wie sie am besten gelöst werden kann.« »Wenn er nicht an die Macht wollte, hätte er nicht die Lage ausgenutzt«, murmelte Chandra. »Sie täuschen sich«, widersprach Fedor Lux. »Er tut das vor allem für Maya, um sie zu schützen, denn das Volk hat angefangen, sich gegen sie zu wenden. Leto will unbedingt die Tradition der Häuser wahren, die
vielleicht nicht gerecht ist, aber für Ordnung sorgt. Aber das spielt jetzt alles keine Rolle. Was ich von Ihnen brauche, ist eine konkrete Antwort darauf, wie Sie sich verhalten werden, denn davon hängt es ab, wie wir weiter verfahren.« Chandra stand auf. »Ich werde zuerst mit Maya sprechen, dann kriegen Sie meine Antwort.« Sie verließ den Raum. Matt blieb sitzen. »Ich habe keine Wahl der Entscheidung«, erklärte er. »Ich bin nicht Teil des marsianischen Volkes.« Lux lachte plötzlich. »Sie sind jedoch ein Mann der Tat, Maddrax, und wenn Sie zu der Überzeugung kämen, dass Leto dem Volk schaden könnte, würden Sie nicht zögern, einen Aufstand gegen ihn anzuzetteln!« »Ich muss Prioritäten setzen«, brummte der Mann von der Erde, der einsehen musste, dass er nicht nur Leto unterschätzt hatte. »Die Justierung des Strahls ist mein Ziel, und die Rückkehr auf meine Welt.« »Genau dies ist auch mein Ziel«, sagte Lux. »Es muss in unserem Interesse liegen, Beziehungen zur Erde aufzubauen, die Technik der Hydree weiter zu nutzen und vor allem Ihnen die Heimreise zu ermöglichen. Sie haben sehr viel für uns getan.« *** Als sie allein im Büro der Präsidentin waren – Leto hatte sie gebeten, ihn zu begleiten –, setzte Maya sich hin,
sprang wieder auf und rannte unruhig vor der Fenstergalerie auf und ab. Sie war so außer sich, dass sie nicht mehr stillsitzen und Ruhe bewahren konnte. In diesem Moment war sie viel zu aufgebracht, um zu entscheiden, was sie nun tun sollte. Leto arbeitete einige Funkgespräche ab, dann lehnte er sich in seinem – ihrem – Stuhl zurück und betrachtete sie. Sie ignorierte ihn, sah nicht einmal zu ihm hin. »Ich musste es tun, Maya«, sagte er schließlich. »Ich habe es vor allem für dich getan – für dein Amt. Das Volk braucht dich als Vorbild. Als Erbin der Gründer, direkte Nachkommin Akira Tsuyoshis und John Carters. Du trägst eine sehr schwere Verantwortung durch die Last der Geschichte. Ich kann nicht zulassen, dass dies dem Volk genommen wird. Wenn diese Krise überstanden ist, werden sie dich mehr denn je brauchen.« »Sie werden dich hassen«, platzte es aus ihr heraus, obwohl sie nicht mit ihm sprechen wollte. Aber gehen wollte sie auch nicht. »Natürlich. Deswegen habe ich ja diese Rolle übernommen. Ich bin Kristallträumers Widerpart. Er will sich allein an die Spitze des Staates stellen, wo ich bereits bin.« Sie hatte genug. »Fedor Lux, Neronus Gingkoson – sie alle wussten bereits Bescheid! Warum hast du mit mir nicht vorher darüber gesprochen?«, fuhr sie ihn an. »Verdammt noch mal, wir kennen uns seit Kindesbeinen! Bin ich deines Vertrauens nicht würdig?«
Er seufzte. »Aber darum geht es doch: Handeln, nicht reden. Hätte ich angefangen, mit dir zu diskutieren, hätte ich mein Vorhaben von vornherein ad absurdum geführt.« »Bullshit!«, schnaubte sie. Das Wort hatte sie von Maddrax gelernt. »Das zwischen uns ist etwas anderes, Leto! Wir waren wie Geschwister, die besten Freunde… und nun sogar ein Liebespaar!« Das war vielleicht nicht dienlich, die Diskussion sachlich und außerhalb des privaten Bereichs zu halten. Aber Maya hatte sich so lange beherrschen müssen, jetzt musste sie sich irgendwie Luft machen. Am liebsten wäre sie auf Leto losgegangen, hätte ihn angegriffen und seine Überheblichkeit aus ihm heraus geprügelt. Alternativ dazu erwog sie, wenigstens die Einrichtung zu zertrümmern – aber nicht einmal das durfte sie tun. So kleidete sie ihr Wut in Worte. »Ich fühle mich von dir hintergangen! Verraten! Benutzt!«, schrie Maya ihren Ehemann an. »Du hast alles, was uns verbindet, mit Füßen getreten!« »Ich weiß«, sagte er leise. »Ich war glücklich mit dir!«, tobte sie weiter. »Ich… ich habe mich dir völlig geöffnet, dir alles gegeben…« »Und ich dir, Maya!«, erwiderte er, nun ebenfalls laut. »Ich habe dich nie belogen! Und ich will dich nicht verlieren. Du bist alles für mich. Bist es immer gewesen!« Sie wandte sich wieder zum Fenster. »Dennoch warst du bereit, alles aufs Spiel zu setzen und unsere Verbindung zu opfern!«
»Das bringt unser Amt mit sich«, antwortete er. Er stand auf, ging zu ihr und trat neben sie ans Fenster. In der Ferne ragte der Elysium Mons in den Himmel, ins rote Licht der Mittagssonne getaucht. »Wir dürfen unsere privaten Interessen nicht über alles andere stellen, Maya. Wir haben uns damals, als wir uns für die Raumfahrt ausbilden ließen, entschieden, dem Volk zu dienen. Wenn wir es ernst meinen – und ich weiß, wie ernst es dir ist –, müssen wir in bestimmten Situationen solche Entscheidungen fällen, auch wenn der Preis hoch erscheint. Wir sind nun einmal keine einfachen Leute, sondern haben eine Verantwortung unseren Häusern, noch mehr aber dem Volk gegenüber.« Das hatte schon einmal jemand zu ihr gesagt, den sie liebte, und sie anschließend fortgeschickt. Es war noch gar nicht so lange her. Maya verschränkte die Arme vor der Brust. Sie verfluchte ihr Leben, ihren Drang zu den Sternen, alle Entscheidungen, die sie in diese Situation gebracht hatten. Sie hätte es viel einfacher haben können. Nein. Was redete sie sich da ein! Es war nie einfacher. »Erst wenn die Arbeit getan ist, dürfen wir gehen«, murmelte sie. »Ja.« Leto wandte sich ihr zu. »Ich habe dich tief verletzt, Maya. Ich kann dich deswegen aber nicht um Verzeihung bitten, weil ich nicht falsch gehandelt habe, und weil ich weitermachen werde. Ich werde bald… Dinge tun, die dir noch bedeutend mehr missfallen werden.«
»Du willst kompromisslos sein«, sagte sie tonlos. »Den Anfang hast du ja schon getan.« »Das muss ich sein, sonst hätte das alles keinen Sinn. Ich werde noch weitere Entscheidungen treffen, die das Volk zutiefst schockieren werden. Und deshalb wird es funktionieren.« Er starrte kurz auf seine Hände, bevor er fortfuhr: »Ich weiß, ich verlange viel von dir, doch ich bitte dich trotzdem um deine politische Unterstützung. Zumindest solange, wie du es verantworten zu können glaubst.« »Kann ich es denn derzeit verantworten?« »Ja. Sei ehrlich zu dir selbst: Ja. Der hinderliche Rat musste aufgelöst werden. Wir müssen Kristallträumers Treiben Einhalt gebieten.« Sie schwieg. Nach einer Weile fuhr Leto zögernd fort: »Was das Private betrifft… soll ich in den Angelis-Tower umziehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das würde keinen guten Eindruck machen. Mein Apartment ist groß genug, es hat genug Zimmer, da müssen wir uns nicht allzu oft über den Weg laufen. Und wenn Nomi wieder hier ist, braucht sie ihren Vater.« Sie blickte ihn an. »Also tu, was du glaubst tun zu müssen. Aber verstehe mich nicht falsch: Ich werde deswegen an deiner Seite bleiben, um jeden deiner Schritte zu beobachten. Solltest du auch nur einen falschen Zug machen, werde ich umgehend etwas gegen dich unternehmen, das verspreche ich dir. Mein Vertrauen musst du dir erst wieder verdienen.«
»Das ist fair«, sagte Leto. »Ich danke dir.« Sie drehte sich brüsk um und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro. *** Endlich in ihrem Apartment angekommen, aktivierte Maya ihren PAC und sah, dass Chandra seit einiger Zeit verzweifelt versuchte, sie zu erreichen. Sie drückte auf den Rückruf, und kurz darauf erschien das Brustbild ihrer Cousine auf dem Display. »Maya!«, rief Chandra. »Endlich! Ich wollte schon nach Elysium kommen und…« Maya war gerührt. Es war noch nicht lange her, da hatte Chandra zu ihren schärfsten Kritikerinnen gehört. Jetzt schien sie wirklich besorgt. »Alles in Ordnung«, antwortete sie. »Wir mussten nur einige Umwege in Kauf nehmen, damit niemand weiß, wo ich jetzt bin. Du kannst dir sicher vorstellen, wer nun alles versucht, mit mir zu sprechen. Doch es kommt niemand durch, dafür hat Leto gesorgt. Ich bin nur froh, dass Nomi und meine Mutter im Wald sind. Ich habe vorhin schon versucht, sie zu erreichen, aber die Verbindung ist wieder mal gestört. Ich denke aber, sie wissen bereits Bescheid.« Chandra musterte sie prüfend. »Wie geht es dir?« Maya hob die Schultern. »Ich bin noch immer benommen. Leto hat mich völlig überfahren.« »Er hat uns alle überfahren. Soll ich ihm das Genick brechen?«
»Nein, Chandra. Er hat es geschickt eingefädelt und das gesamte Magistrat hinter sich. Es gibt kein Zurück mehr, für keinen von uns. Wir müssen ihn unterstützen, sonst bricht alles auseinander.« »Ich soll also nichts unternehmen?« »Nein, ich bitte dich. Du und Maddrax, ihr arbeitet weiterhin mit Fedor Lux zusammen und unterstützt Leto so, wie ihr mich unterstützt habt. So weh es auch tut; aber ich glaube, er tut das Richtige. Er greift durch. Und er will es nur vorübergehend tun.« Chandra nickte zögernd. »Ich hoffe, du hast Recht. Wie ist eigentlich die Lage in Elysium?« »Erstaunlich ruhig«, antwortete Maya. »Überall sind Exekutive. Auf Spruchbändern und Infoholos bittet man darum, ganz normal weiterzumachen, es habe sich nichts geändert. Warten wir ab, was passiert, wenn Leto Kristallträumer zur Verhandlung zwingt.« »Wann kommt er hierher?« »Ich gebe dir Bescheid. Vorhin haben wir uns nur angeschrien… na ja, eigentlich nur ich ihn, aber heute Nachmittag sollten wir schon wieder vernünftig miteinander reden können.« »Wer hätte gedacht, dass es jemals so weit kommt«, knurrte Chandra. »Und dann noch dazu von Kristallträumer ausgelöst! Wir hätten den alten Sack gleich wegputzen sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten.«
Maya hob den Kopf, als sie den Türsummer hörte. »Entschuldige, Chandra, ich muss aufhören. Wir sehen uns bald.« *** Hanukk Tar hatte es gerade noch rechtzeitig aus dem Lager geschafft, bevor alles abgeriegelt worden war. Ja, er war Eliana Margys dankbar für das, was sie für ihn getan hatte. Er sah die Dinge nun viel klarer und in deutlicheren Zusammenhängen. Aber bisher hatte er nicht mit Kristallträumer sprechen können – und damit auch nicht mit Miriam. Nun, wusste er, war es zu spät. Er würde sich niemals mehr von ihr verabschieden können. Was blieb ihm da noch? Der schwarze Kristall war ihm kein Trost. Er warf ihn einfach weg. Für die düsteren Prophezeiungen Kristallträumers hatte Hanukk Tar nichts übrig. Für ihn zählte nur Miriam. Sie würde ihm niemals verzeihen können, dass er sie im Stich gelassen hatte, für den Trugschluss, mit ihrem Geist Kontakt aufnehmen zu können. Nun konnte er nicht einmal ihren Körper auf würdige Weise bestatten. Das war wahrscheinlich längst erledigt und die Asche irgendwo in ein Massengrab geworfen, wo alle anderen Opfer des Erdbebens gesammelt worden waren. »Was habe ich getan?«, murmelte Hanukk Tar. »Miriam, ich habe dich im Stich gelassen, sie nahmen dich mir einfach weg… nun kann ich nur noch nach den Resten der Erinnerung suchen…«
Hanukk Tar hatte vor, zu seinem Haus zurückzukehren und in den Trümmern nach persönlichen Sachen zu suchen. Einem Holoalbum, am besten das mit ihrer Hochzeit. Das waren die schönsten Bilder, die schönsten Erinnerungen. Er konnte nur Frieden finden, wenn er wenigstens dies retten konnte. Er nahm sich vor, solange zu suchen, bis er gefunden hatte, was er brauchte. Und wenn es den Rest seines Lebens dauerte. Als Hanukk Tar die Ruine erreichte, sah er zwei Menschen dort stehen, Mann und Frau. Er kannte sie doch… dann erinnerte er sich. Seine Nachbarn und Freunde! »Jorge! Maren!« Erfreut ging er auf die beiden zu. »Ich dachte, ihr wärt auch in den Trümmern umgekommen!« Sie bückten ihn erstaunt an, dann leuchteten ihre Gesichter vor Freude auf. »Hanukk! Wir dachten dasselbe von dir! Wir sind damals mit einigen anderen in den Wald geflogen, weil uns Elysium oder eine der anderen Städte nicht sicher genug erschienen! Wo warst du?« Sie umarmten einander. »In einem Auffanglager draußen, aber wir sind so schnell wie möglich zurückgekehrt, als die Stadt wieder geöffnet wurde«, erklärte Hanukk. »Aber ihr seht ja…« Er deutete auf das zusammengebrochene Haus. »Es hat nicht viel genutzt. Das Haus hat tapfer durchgehalten, und dann ist es doch eingestürzt. Diese Idioten vom Bau sind schuld daran!«
Jorge kratzte sich am Arm. Maren sah sich suchend um. »Wo ist Miriam?« Ein Schatten fiel über Hanukks Gesicht. »Tot«, sagte er schroff. »Ohne Abschied. Da kann man nichts machen, was?« Die beiden sahen ihn schockiert an. »Aber… wo wurde sie bestattet?« »Weiß nicht. Sie haben sie mir einfach weggenommen. Ich will jetzt nur noch unsere Sachen zusammensuchen, und dann haue ich ab. Ich gehe nach Hope! Da passiert einem nichts.« Maren streichelte seinen Arm. »Tut mir Leid, Hanukk. Ich verstehe, wie sehr dich das mitnimmt. Willst du nicht zuerst mit uns kommen? Wir –« »Nein«, lehnte Hanukk ab. »Entschuldigt bitte, aber ich habe zu tun.« Er fing an, die Trümmer hinaufzuklettern. Jorge wollte ihn zurückhalten, aber Maren winkte ab. »Hat keinen Zweck.« Sie kratzte sich den Hals. »Mach’s gut, Hanukk! Wir sehen uns sicher irgendwann mal wieder.« Sie machten sich auf den Weg. Hanukk warf ihnen keinen Gruß nach, er war viel zu beschäftigt. Am Abend war er immer noch am Suchen. Er hörte auch nicht auf, in den Trümmern zu wühlen, als ein Vierertrupp Exekutive vorbeikam. »Sie haben da oben nichts zu suchen!«, rief einer von ihnen. »Kommen Sie herunter, das ist gefährlich!«
»Mir egal!«, gab Hanukk zurück. »Ich muss erst die Bilder finden. Meine Frau, wissen Sie? Sie erwartet, dass ich sie ihr bringe.« Er unterbrach immer wieder seine hektische Suche, um sich zu kratzen. »Meine Frau ist sehr pedantisch, verstehen Sie, und wenn ich ihr nicht das Gewünschte bringe, herrscht erst einmal Eiszeit! Das würden Sie auch nicht wollen.« Die Exekutiven unterhielten sich murmelnd. Dann kletterte eine Frau die Trümmer hinauf. »Hören Sie, guter Mann«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Ihre Frau hat bestimmt nichts dagegen, wenn Sie morgen weitersuchen. Es ist schon fast dunkel, und dann erfrieren Sie hier draußen, Sie haben ja keinen ausreichenden Schutz. Kommen Sie mit und wärmen Sie sich bei einer guten Tasse Tee! Das bringt Ihre Kräfte zurück, und Sie können morgen mit neuem Schwung weitersuchen.« Hanukk hielt inne. »Meinen Sie wirklich?« »Aber ja, bestimmt. Kommen Sie!« Die Frau streckte eine Hand aus. »Sie klingen sehr nett. Fast wie meine Frau.« Hanukk wandte sich ihr zu. Dann stutzte er. »Miriam?« »Ich bin Helim«, sagte die Frau und lächelte. »Freut mich, dass ich Sie an Ihre Frau erinnere. Sie müssen mir unbedingt mehr von ihr erzählen!« »M-Miriam«, stotterte Hanukk. Er sah sie ganz deutlich vor sich. Verflucht, wenn nur dieses Jucken nicht wäre! Außerdem brannten seine Augen, und ihm
war sehr heiß. Er spürte nicht einmal die einsetzende Nachtkälte. Aber sie war es wirklich, er konnte sie nun ganz deutlich sehen. Höchstens die Ränder waren ein wenig verschwommen. Aber sie sah so aus wie damals, als er ihr den Antrag gemacht hatte. Im Frühling war es gewesen, und eine weiche Brise hatte mit ihrem Haar gespielt. »Miriam!«, rief Hanukk glücklich. »Endlich habe ich dich wieder!« Er stolperte auf die Frau zu, um sie zu umarmen und an sich zu drücken, erwischte sie jedoch nur am Arm. Sie wich ihm aus. »Lassen Sie das!«, rief sie. »Also kommen Sie nun mit oder nicht?« »Miriam!«, schrie er. »Rede nicht so mit mir!« Als er sah, dass nun auch die Männer zu ihm heraufkamen, drehte er sich um und eilte wieselflink über die Ruine davon. »Wir sollten ihn suchen«, sagte die Frau. »Der Kerl ist ja total durchgedreht.« »Vergiss es, bis wir den finden, ist er längst erfroren. Es gibt noch Wichtigeres«, winkte der Sub ab. Die Frau kratzte sich am Arm. »Armer Irrer«, murmelte sie mitleidig, dann setzte sie ihren Weg mit den anderen fort. Hanukk Tar glühte innerlich. Dennoch merkte er, dass die Kälte ungesund war. Sie schwächte ihn, und er musste doch nach Miriam suchen! Verzweifelt irrte er
durch die Straßen der Stadt, über die er einst mit Miriam gewandelt war. »Miriam!«, rief er. »Bitte, antworte doch!« Als er ein Feuer entdeckte, stolperte er dorthin. Und tatsächlich, dort war Miriam! Er lachte vor Glück und rannte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Endlich!« Aber Miriam freute sich nicht, ihn zu sehen, sie schob ihn energisch von sich und schrie ihn an: »Spinnst du? Was willst du von mir, du Irrer? Ich bin nicht deine Miriam, und jetzt hau ab!« »Aber Miriam«, sagte er verstört, zog und zerrte an ihr, »du kennst mich doch, warum sagst du so was zu mir?« »He, Karen, macht dir der Typ Ärger?«, erklang eine weibliche Stimme hinter seinem Rücken. Er ließ von Miriam ab und drehte sich um. »Miriam?« »Nee«, sagte sie. »Mann, was ist denn mit dir passiert? Was sind das für Flecken da auf deiner Haut?« »Miriam!«, rief Hanukk Tar. »Da bist du ja!« Er stürmte auf seine Frau zu. »He, nun geh nicht auf mich los! Bist du irre? Hau bloß ab!« Sie rannte weg von ihm! Was hatte er nur getan, dass Miriam ihn so behandelte? Aber Hanukk war schneller als seine Frau, immer schon gewesen. Er holte sie ein und riss sie mit seinem Schwung zu Boden. Sie kreischte, kratzte ihn im Gesicht, schlug ihn und trat ihm schließlich so heftig in die Weichteile, dass er aufjaulend
zusammensackte. Sie sprang auf und rannte davon in die Dunkelheit. »Miriam!«, rief Hanukk Tar kläglich und rollte sich auf dem Boden zusammen. Tränen liefen über seine Wangen. »Miriam, verlass mich nicht… ich liebe dich doch… bitte…« Irgendwann schlief Hanukk Tar vor Erschöpfung ein. Er wachte nie mehr auf. *** Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, als Leto und Maya mit einem Gleiter am Mie-Krater eintrafen. Exekutive schirmten das Präsidentenpaar ab, als es Richtung Tor ging, wo Maddrax, Chandra und Fedor Lux warteten. Matt erwartete diese Begegnung mit gemischten Gefühlen. Nachdem sie in jener Nacht unverrichteter Dinge hatten umkehren müssen, hatte sich allgemein Frustration breit gemacht, bis Letos Ansprache wie eine Bombe in die Lethargie geplatzt war. Würde sich nun tatsächlich etwas ändern? Er spürte Chandras angespannte Haltung neben sich; sie konnte sich nur schwer zurückhalten, Leto nicht ins Gesicht zu springen. Maya war sehr blass, aber sie schien gefestigt zu sein. Sie lächelte Matt sogar an. »Vor zwei Tagen haben wir uns erst verabschiedet«, sagte sie. »Inzwischen hat sich eine Welt bewegt. Danke, dass ihr geblieben seid.«
Fedor Lux neigte leicht den Kopf. »Dame Präsidentin, Herr Präsident – wir haben alles vorbereitet. Die Vertreter von ENT und MP warten bereits. Sie sind leicht verärgert, weil sie seit vorgestern nicht mehr senden durften.« Leto hatte noch am Tag seiner Amtsübernahme beide Sender unter Druck gesetzt, sofort ihre Übertragungseinrichtungen zurückzuziehen, damit Kristallträumer keine Predigt mehr ausstrahlen lassen konnte. Es war mit ENT eine harte Auseinandersetzung gewesen, der auch der eilends aus dem Wald angereiste Carter Loy Tsuyoshi beiwohnte – und überraschend schnell nachgab. Er sah wohl ein, dass er sich zusehends auf gefährlichen Treibsand begab, wenn er sich offen gegen die neue Regierung stellte. Bei MP war das Problem anderer Natur: Die Leute vor Ort waren Anhänger von Kristallträumer geworden und weigerten sich, das Gelände zu verlassen. Also durften sie bleiben, aber die Übertragungsfrequenz wurde unterbunden. Die übrigen Teams verließen mit der Ausrüstung bald darauf das Gelände. Dann ließ Leto den Saft abdrehen. Die HydreeAnlagen funktionierten durch ihre Energiezufuhr direkt aus dem Planetenkern natürlich weiterhin, aber die Maschinen der Marsianer wurden über externen Strom versorgt. Das Licht fiel aus, ebenso der Funk. Kristallträumer war von der Welt draußen abgeschnitten. »Nun werden die Sender wieder Gelegenheit bekommen zu senden«, bemerkte Leto. Er trug wie bei
seiner ersten Ansprache einen dezenten grau-violetten Anzug mit dem Logo der Regierung an der rechten Brustseite. Matthew hätte gedacht, angesichts dieser Situation endlich einmal ein Zeichen von Nervosität an dem Mann zu erkennen, aber Leto zeigte sich wie stets völlig gelassen, kühl und distanziert. Wie hält Maya es mit diesem Eiswürfel aus?, fragte Matt sich. Allerdings musste er zugeben, dass Leto in seiner neuen Rolle eine gute Figur machte. Er strahlte Autorität und Überlegenheit aus, und er wirkte zielstrebig. Ein Mann, der genau wusste, was er wollte. Die Teammitglieder von ENT und MP warteten ein wenig abseits. Es sah so aus, als wollten sie Leto bestürmen, als er sich ihnen näherte. Doch dann wagte niemand den Anfang, und es rührte sich auch keiner, als er bei ihnen verharrte und sagte: »Ich weiß, das ist einmalig in der marsianischen Geschichte. Sie werden eine Weile brauchen, um die Vorgänge zu verdauen. Doch jetzt appelliere ich an Ihre Professionalität. Übertragen Sie diese Verhandlung mit Kristallträumer ohne jeglichen Kommentar. Lassen Sie das Volk alles genau so erleben, wie es geschieht. Anschließend können Sie gern Ihrer gewohnten Tätigkeit nachgehen, mit einer Ausnahme – es gibt keine Übertragungen mehr von dem Propheten. Wenn Sie mit diesen Bedingungen einverstanden sind, dürfen Sie jetzt senden.« Die Leute zögerten. Dann machten sich die ersten an die Arbeit.
Das Tor wurde geöffnet. Drinnen stand eine große Menschenmenge neben dem Podium, von dem herab der Prophet sonst sprach. Es herrschte tiefes Schweigen. Die Gesichter der Menschen wirkten seltsam leer. »Denken Sie, er wird mit Ihnen sprechen?«, fragte Matt, als Leto sich anschickte zu gehen. »Er wird«, sagte der Präsident zuversichtlich. »Er schmort seit vierzig Stunden in Isolation. Das ist den Marsianern noch nie bekommen.« »Sie sollten nicht allein gehen«, mischte sich Fedor Lux ein. Leto lächelte. »Hier am Zaun und oben in den Felsen sind hundert bewaffnete Exekutive versammelt. Das weiß er. Er wird sich hüten, einen Märtyrer aus mir zu machen.« Mit einem Funkverstärker ausgestattet, betrat Leto Angelis das Strahlgelände. Zwanzig Meter vor dem Podest blieb er stehen, völlig allein. Die Anhängerschaft war hinter das Podest zurückgewichen. Über ihm schwebten die Kameras. »Kristallträumer!«, rief Leto. »Hier spricht der Präsident des marsianischen Volkes. Dies ist meine einzige Aufforderung, herauszukommen und mit mir zu sprechen. Ich habe die Sendung dieser Verhandlung gestattet, und Sie können auch wieder gehört werden, wenn Sie Ihre Stimme erheben. Nehmen Sie ruhig Ihren gewohnten Platz ein, ich habe kein Problem damit.« Schweigen antwortete ihm. Nichts geschah, nichts rührte sich.
Leto wiederholte: »Kristallträumer, falls Sie mich nicht gehört oder verstanden haben: Dies ist meine einzige Bereitschaft zum Gespräch. Wenn Sie dem marsianischen Volk etwas mitzuteilen haben, dann tun Sie es jetzt. Eine andere Gelegenheit gibt es nicht. Sie haben die Regierung aufgefordert zu handeln – ich bin jetzt hier. Sprechen Sie mit mir, wenn Sie es ernst gemeint haben. Zeigen Sie, wer von uns beiden die besseren Führungsqualitäten hat. Ich warte noch eine Minute, dann gehe ich.« Es dauerte keine Minute mehr. Der Prophet erschien, auf seinen Stock gestützt, das verkrüppelte Bein hinter sich herziehend. Doch dies zeigte nun weniger Wirkung als sonst. Denn auch der Präsident zog sein rechtes Bein nach, das ab dem Knie von einer Prothese getragen wurde; allerdings kaum merklich. Was dies betraf, waren sie sich ebenbürtig. Kristallträumer stieg auf das Podest und blickte auf den Präsidenten herab. »Schalten Sie den Strahl ab«, sagte er. »Tut mir Leid, das werden wir nicht tun«, antwortete Leto. »Warum hören Sie mir nicht zu?« Kristallträumer wies hinter sich. »Diese Leute hören mir zu. Die halbe Bevölkerung hört mir zu! Warum sind Sie nicht dazu in der Lage? Glauben Sie, Sie können den Willen des Volkes brechen, indem Sie mich zum Schweigen verdammen?« »Was ist der Wille des Volkes?«, fragte Leto.
»Ich sagte ja, Sie hören nicht zu. Jeden Tag sagt Ihnen das Volk, dass es den Strahl nicht will. Die Anlagen der Alten müssen abgeschaltet werden.« »Sollen wir darüber abstimmen? In einer öffentlichen Wahl, wo jeder deutlich erkennbar seine Stimme abgibt, wem er mehr glaubt – der Regierung, die aus den traditionellen Häusern gebildet wird, die diese Welt aufgebaut haben, oder einem Mann aus der Felswüste, der sein Leben in einer radioaktiv verseuchten Umwelt verbracht hat und dessen Vorfahren Waldleute sind?« Matt spürte, wie Chandra ihre feingliedrige Hand in seine schob. »Zum ersten Mal habe ich Hoffnung…«, wisperte sie. »Ich wünsche es uns«, murmelte er und drückte ihre Hand. Er warf einen Seitenblick zu Maya, deren Gesicht undurchdringlich war. »Sie machen es sich ein bisschen sehr einfach, denken Sie nicht?«, fuhr Leto fort. »Zuerst sollten die Leute alle Zusammenhänge sehen und die Hintergründe kennen, bevor sie eine Entscheidung treffen.« »Ich bin ein einfacher Mann«, erwiderte Kristallträumer sanft. »Die Stimme des Volkes. Wir sind alle eins. Die Menschen verstehen mich auch ohne viele Worte, und sie erkennen mich, wenn sie mich ansehen.« »Und Sie glauben, das genügt, um eine blühende Kultur zu erhalten?« »Ich habe eine Vision, Herr Präsident. Ich möchte das Volk zu seinen Wurzeln zurückführen. Auf den wahren Weg der Erleuchtung, der ihm die Verbindung mit dem
Vater Mars ermöglicht. Alle sollten ihn so fühlen können wie ich. So werden wir dauerhaft in Frieden leben.« Leto breitete die Arme aus. »Dies hier sind unsere Wurzeln, Prophet! Und der Strahl dort«, er deutete auf den wasserartigen Schlauch, der, im Sonnenlicht gerade gut sichtbar, ins All zielte, »ist der Ursprung unserer Wurzeln. Wir sind als Gäste hierher gekommen und haben eine neue Heimat gefunden. Aber wir werden weder die Vergangenheit noch die Traditionen vergessen. Und wir werden niemandem unsere Hilfe versagen. Auch nicht einem angeblich Fremden, der in Wirklichkeit unser Bruder ist und von jener Welt stammt, die auch unser Ursprung ist, wo die Gründer geboren wurden und von wo sie hierher aufbrachen.« »Das heißt, Sie verweigern weiterhin die Vernunft?« »Nun hören Sie mir nicht zu.« »Ich habe es gesehen!«, donnerte Kristallträumer. »Großes Unglück wird über uns kommen!« »Naturkatastrophen gibt es immer«, versetzte Leto. »Die Historie ist voll davon. Weder Sie noch ich können sie verhindern. Aber ich bin nicht hier, um philosophische Diskussionen mit Ihnen zu führen, sondern Sie aufzufordern, bis übermorgen früh das Gelände zu verlassen. Wir bringen Sie und Ihre Anhängerschaft wohin auch immer Sie wollen, allerdings unter der Auflage, keine weiteren Missionierungen durchzuführen. Wenn Sie in einer der Städte bleiben möchten, können wir Ihnen ein Angelis-Gebäude
anbieten, das wir räumen werden. Sie haben knapp zwei Tage Zeit, uns Ihre Wünsche mitzuteilen.« »Dafür bin ich nicht gekommen«, sagte Kristallträumer, und seine Stimme nahm auf einmal einen gefährlich vibrierenden Klang an. »Niemand wird mich aufhalten, das Volk zu erlösen. Und keinesfalls werde ich es zulassen, dass meine Gefolgschaft unter Ihrer Ignoranz zu leiden hat. Meine Brüder und Schwestern werden nicht der Katastrophe zum Opfer fallen, sondern vorher in den Vater Mars eingehen. Wenn Sie in zwei Tagen das Gelände räumen wollen, werden Sie keine lebende Seele mehr vorfinden.« Daraufhin trat lähmende Stille ein. Matt war schockiert. Er hätte nie gedacht, dass dieser verrückte Prophet so weit gehen und mit Massenselbstmord drohen würde, wenn seine Forderungen nicht erfüllt würden. »Jetzt wissen wir, warum er damals alle rausgeworfen hat, die ihm nicht folgen wollten«, sagte er leise. »Er hat bereits jede Menge Geiseln – und zwar treue, die alles für ihn tun. Er hat dies schon von Anfang an so geplant.« »Das… das kann er doch nicht Ernst meinen?«, stammelte Chandra. »Ich verstehe das nicht… das ist doch Wahnsinn…« Maya presste die geballten Fäuste an ihre Brust. Sie schloss die Augen und schwankte leicht. Die Leute der Holosender schwirrten panisch um das Tor.
Alles wartete darauf, was der Präsident nun sagen würde. Er ließ sich nicht lange Zeit. Als er redete, war seine Stimme leise, aber gut verständlich und wohl akzentuiert. Letos Gesicht war hart geworden. »Ich lasse mich nicht erpressen«, erklärte er dem gesamten marsianischen Volk. »Tun Sie, was Sie glauben tun zu müssen. Gehen Sie als größter Massenmörder in der Geschichte ein, der selbst vor Kindern nicht zurückschreckte. Glauben Sie nicht, dass ich mir die Verantwortung dafür aufbürden lasse. Das ist ganz allein Ihre Entscheidung. Unsere Unterhaltung ist beendet.« Und dann wandte er sich tatsächlich zum Gehen, hielt jedoch kurz inne und hob warnend einen Arm. »Die Zeit läuft, Prophet. Überlegen Sie, wie groß Sie wirklich sind bei der Entscheidung, die vor Ihnen liegt. In zwei Tagen werde ich mit meinen Exekutiven zurückkommen und diese Sache hier beenden. Hören Sie mir gut zu: Ich meine dies ohne Hintergedanken, ohne Hoffnung auf Ihre Vernunft, ohne weitere Verhandlungsbereitschaft. Sie haben es in der Hand. In zwei Tagen ist es zu Ende.« Damit drehte er sich um und machte Fedor Lux ein Zeichen, während er zum Tor zurückkam. Der reagierte sofort und befahl den Teams, die Sendung zu beenden. Sie taten es ohne Widerspruch. Sie waren völlig verstört. Matthew Drax war nicht weniger irritiert. Leto hob die Hand, um den Fragen zuvorzukommen, als er bei ihnen eintraf. »Fedor, setzen Sie Neronus in
Kenntnis, dass alle verfügbaren Einheiten gut sichtbar postiert werden. Das Gelände wird ununterbrochen beobachtet. Sollte Kristallträumer seine Drohung umsetzen wollen, stürmt ihr sofort das Gelände und holt so viele Leute raus wie möglich.« »Warum gehen Sie nicht gleich rein?«, fragte Matt. Er dachte vor allem an Sternsang. Der alte Mann saß seit Tagen dort drinnen fest. Wenn er sich nicht irgendwie Nahrung beschafft hatte, konnte er nicht mehr am Leben sein. Leto blickte ihn ruhig an. »Geben Sie den Leuten die Möglichkeit, von selbst zur Vernunft zu kommen. Andernfalls haben wir das Problem nur örtlich verlagert, aber nicht gelöst. Kristallträumer ist einen Schritt zu weit gegangen, weil er nicht mit meiner Reaktion gerechnet hatte. Er ist jetzt in die Enge getrieben, und das gibt seinen Anhängern Gelegenheit, nachzudenken.« Er wandte sich wieder Fedor zu. »Sobald es Anzeichen gibt, dass einige das Gelände verlassen wollen, holt sie euch, schnell und unblutig!« Dann hob Leto entschuldigend seine Hände und sprach in die Runde: »Es tut mir Leid für diese Eile, aber ich muss nach Elysium zurück. Während ich mit Kristallträumer sprach, erhielt ich ein bestimmtes Signal. Wir haben große Probleme im Wald und, wie es scheint, inzwischen auch in Utopia,« »Worum geht es?«, fragte Matt. Leto sagte es ihm. Beschrieb die Krankheit, die sich rasend schnell ausbreitete; obwohl umgehend der Wald
unter Quarantäne gestellt worden war, waren nun auch Fälle in Utopia bekannt geworden. »Irgend jemand muss ohne unser Wissen den Wald verlassen und den Virus nach Utopia eingeschleppt haben. Das Ganze muss im Verlauf eines einzigen Tages geschehen sein. Das bedeutet, jetzt muss ich auch noch die Stadt abriegeln.« »Mein Gott«, entfuhr es Matt, dem schlagartig klar wurde, was hier los war. »Ich Narr, das habe ich völlig vergessen. Sie sagen, die Leute haben Wahnvorstellungen? Fieber?« »Ja. Was vermuten Sie?« Matt erzählte von einem PAC-Gespräch, das er vor Monaten zufällig auf dem Strahlgelände belauscht hatte, kurz bevor sie zum Canyon geflogen waren. Er hatte Chandra oder Maya längst darüber in Kenntnis setzen wollen, es aber wegen der Jagd nach dem Kristall und dem Erdbeben völlig vergessen. Nun verfluchte er sich für diese unverzeihliche Nachlässigkeit. »Wahrscheinlich bin ich tatsächlich an dem schuld, was jetzt geschieht!« »Sie waren höchstens nachlässig, aber gewiss tragen Sie keine Verantwortung«, schmetterte Leto ab. »Bedeutend ist, dass Ihr Bericht einen Zusammenhang zu einem Vorfall auf Phobos herstellt. Der Leiter der Forschungsabteilung für den Geosiphon ist unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen, und einige Mitarbeiter, darunter sein Assistent, sind spurlos verschwunden. Wir suchen schon intensiv nach ihnen, aber bisher ohne Erfolg. Einer muss seinerzeit, als Sie das Gespräch mithörten, eine Probe gestohlen und verkauft
haben, und lief jetzt Gefahr aufzufliegen. Also hat er möglicherweise den Abteilungsleiter ermordet und sich abgesetzt. Die Frage ist jedoch: Wer hat den Pilz?« »Ich hörte den Namen Carter…«, fing Matt an, wurde jedoch unterbrochen. »Dieser Plattlurch!«, rief Maya, und ein Licht glühte in ihren Augen auf. »Ich ahnte es, dass er sich an Windtänzer rächen will!« »Der Name Carter ist weit verbreitet…«, versuchte Matt einen vorschnellen Verdacht zu vermeiden, aber Leto schüttelte den Kopf. »Nein, auch hier reimt sich nun einiges zusammen. Carter Loy hält sich nämlich schon seit einiger Zeit im Wald auf, um den Waldleuten zu helfen. Wahrscheinlich hat er ein Gegenmittel entwickelt, bevor er den Pilz ausgesetzt hat. Aber wie es aussieht, hat es nicht geklappt, denn die Leute erkranken rasend schnell, und viele sterben.« »Sind denn auf einmal alle wahnsinnig geworden?«, stieß Chandra hervor. »Warum hat Carter das getan?« »Er will ein großes Stück des Waldes, das weiß ich durch einen Antrag seines Konsortiums, und dazu vermutlich die Verpflichtung der Waldleute«, antwortete Leto grimmig. »Das Problem ist, ich habe keine Beweise, ihn festzunageln. Aber mir wird schon etwas einfallen.« »Holen Sie Palun Saintdemar«, riet Matt. »Er hat von Anfang an alle Unterlagen besessen und könnte bei der Entwicklung eines Gegenmittels helfen.«
»Und steckt wahrscheinlich auch mit drin«, meinte Maya tonlos. Sie blickte Leto an. Für einen Moment sah es so aus, als wolle sie ihn berühren. Aber sie vollendete die Geste nicht, sondern ging sogar auf Distanz. »Ich bleibe hier, wenn es dir recht ist.« »Sehr recht, ich danke dir«, sagte Leto. Zum ersten Mal sah Matt eine Emotion bei ihm, nur eine Sekunde lang den Ausdruck tiefen Schmerzes, als Maya sich von ihm abwandte. Es war erstaunlich, wie diese Frau bestimmte Männer in ihren Bann zog. Matt hatte einen ähnlichen Ausdruck auf dem Gesicht von Lorres gesehen, kurz bevor er starb. Und Windtänzer… im Canyon… Chandra rieb sich die Oberarme und starrte zum Himmel. »Kann es noch schlimmer kommen…?«, flüsterte sie. *** »Meister, ich werde dir folgen, wohin auch immer du gehst«, sagte Eliana Margys, als Kristallträumer von dem Podest herunterkam. »Mit einer so treuen Seele an meiner Seite braucht mir nicht bange zu sein«, antwortete er und streichelte ihre Wange. Dann wandte er sich seiner Anhängerschaft zu, die noch immer zu begreifen versuchte, was gerade geschehen war. »Geht in euch«, forderte er sie auf, »meditiert und ruht. Ich werde heute Abend zu euch sprechen. Rücken
wir eng zusammen und entzünden ein Feuer. Zweifelt nicht und fürchtet euch nicht. Der Vater ist gütig, und sein Atem ist in uns.« »Der Vater ist gütig«, murmelten einige, die näher standen. Dann zerstreute sich die Menge. Sandperle hatte alles vom Rand aus beobachtet. Sonnentau war drinnen bei Schnellwasser, der alles verschlafen hatte. Sie versuchte Kristallträumer anzulächeln, als sie sah, dass er auf sie zukam. Diesmal konnte sie ihm nicht entkommen. Zu Eliana gewandt sagte er: »Warte hier. Ich kümmere mich später um dich.« Sandperle folgte ihm in die Kammer und verschloss sie. »Du scheinst vergessen zu haben, dass du meine Frau bist«, sagte der Prophet, während er anfing, seine Kleidung abzulegen. Die junge Frau schlug die Augen nieder. »Ich war immer hier, Gebieter.« »Ah… ja.« Er lächelte freudlos, trat auf sie zu und fing an, die Verschnürung ihres Kleides zu lösen. »Natürlich, meine Sandperle. Es ist meine Schuld, ich habe dich vernachlässigt. Doch dies ist ein großer Moment, den ich mit niemandem teilen will außer mit dir.« Er drückte sie auf sein einfaches Lager. »Willst du es wirklich tun?«, flüsterte sie, während er sich ohne weitere Vorbereitung auf sie legte. Sie zuckte kurz im Schmerz, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt.
»Hättest du Furcht, mir zu folgen?«, fragte er. »Natürlich nicht«, antwortete sie. Aber sie dachte dabei an Sonnentau. »Schweig nun«, befahl er. »Störe nicht die Erhabenheit dieses Augenblicks, und empfange demütig, was ich dir gebe.« Eliana Margys wartete lange geduldig. Sie schämte sich für den glühenden Hass, den sie gegen Kristallträumers Frau hegte. Sandperle hatte ihn gar nicht verdient, so hochmütig wie sie war, immer zum Widerspruch bereit! Viel für die Sache getan hatte sie bisher nicht, meistens stand sie nur am Rand und schaute zu. Oder sie kümmerte sich um ihren schwachsinnigen Bruder, der entweder schlief oder dem Propheten wie ein Sandfloh folgte. Sie zuckte zusammen, als die Tür sich plötzlich öffnete und Sandperle herauskam. Ohne Eliana auch nur eines Blickes zu würdigen, ging sie an ihr vorbei Richtung Felsen. Noch nie hatte sie Eliana angesehen oder auch nur einmal gegrüßt! Eliana unterdrückte einen Fluch. »Ich spüre Dunkelheit in deinen Gedanken.« Die Frau aus Utopia fuhr zusammen und sah ertappt zu Kristallträumer hoch. »Vergebung, Meister«, flüsterte sie. »Ich… empfinde Eifersucht…« »Tatsächlich«, sagte er. »Dies ist ein Mangel, Eliana, für den du Abbitte leisten musst. Dafür werde ich lange mit dir beten müssen.« Er legte seine Hand unter ihr
Kinn und hob es zu sich an. »Aber ich vergebe dir, denn du bist schwach, fast noch ein Kind, das erst am Anfang seines Weges steht.« »Ich werde dich bis zum Ende begleiten, Meister…« »Nicht so voreilig, Schwester. Du wirst nicht bis zum Ende hier bleiben.« Sie blinzelte. »Das… ist nicht dein Ernst, Erhabener!« »Doch, mein Kind.« Kristallträumer streichelte erneut ihre Wange. »Du wirst morgen das Gelände verlassen. Ich habe einen Auftrag für dich. Du darfst mit niemandem darüber reden.« Elianas Augen begannen zu glänzen. »So sehr vertraust du mir? Was soll ich tun?« »Komm mit in mein Gemach, Schwester. Nur deine Ohren dürfen hören, was ich dir auftragen werde.« »Ich diene dir, Meister«, sagte Eliana hingebungsvoll und folgte ihm glücklich. Sandperle fand Sonnentau eingeschlummert, fest an Schnellwasser geschmiegt. Zärtlich streichelte sie über die gelockten Haare der Tochter. Dann weckte sie sie. »Komm, Schatz. Wir besuchen den alten Mann.« Die Augen der Kleinen leuchteten auf. »Er hat gesagt, dass du wiederkommen wirst!« Sandperle hatte Tränen in den Augen. »Er ist ein weiser Mann.« Sie wusste, Kristallträumer würde sie nicht so schnell vermissen. Zuerst würde er noch ein wenig »meditieren«, mit irgendeiner seiner Verehrerinnen, und
dann zu seiner Anhängerschaft sprechen. Das würde bis tief in die Nacht dauern. An den Weg erinnerte sie sich noch genau, obwohl sie ihn nur einmal gegangen war. Sie packte rasch einen Beutel mit Nahrungsmitteln und Lampen zusammen und brach mit Sonnentau auf. Sternsang lächelte, als er Sandperle erblickte. »Ich freue mich, dich zu sehen, Tochter der Felsen.« Sandperle sank vor ihm in die Knie, legte ihr Gesicht in seine Hände und brach in Tränen aus. Stockend berichtete sie, was geschehen war. »Er wird es tun, Ehrwürdiger«, schluchzte sie. »Er ist verrückt genug, sie alle sterben zu lassen und zu verschwinden. Und zu allererst wird er meine Tochter opfern!« »So gut kennst du ihn?« Sie nickte. Hilflos blickte sie den Greis an. »Mein eigenes Leben bedeutet mir nichts, aber Sonnentau… für sie tue ich alles. Sagt mir, was ich tun soll. Bitte helft mir!« Er streichelte ihren Kopf. »Beruhige dich, Kind. Wir finden gemeinsam den Weg. Dort draußen haben wir Freunde, die schon lange auf ein Zeichen von mir warten. Oder auch nicht mehr, weil sie annehmen, dass ich inzwischen zu Staub zerfallen bin. Also überraschen wir sie!« Sandperle wischte sich die Augen, von zaghafter Hoffnung erfüllt. »Ich würde so gerne Schnellwasser mitnehmen, aber er würde uns verraten. Er ist Kristallträumer viel zu sehr hörig.«
»Ihn retten wir, wenn wir mit Verstärkung zurückkommen«, versprach Sternsang. Dann erklärte er Sandperle, wie sie vorgehen sollten. *** Die Erkenntnis, dass es mit Morgenblüte zu Ende ging, wollte lange nicht in Windtänzers Bewusstsein einsickern. Er saß die ganze Zeit bei ihr und hielt ihre Hand, betete um ihre Heilung, klammerte sich hartnäckig an seine Hoffnung, dass sie es schaffen würde. Vogler kam herein, außer Atem. »Ich kann Carter nicht finden«, erklärte er. »Er ist in den Wald geflohen, der feige Bastard.« Windtänzer nickte. »Ich hätte es ahnen müssen. Aber ich ließ mich zu sehr ablenken. Zu viel Städtisches ist schon in mir und hat meine Sinne vergiftet.« Er starrte auf den PAC an seinem Handgelenk. Wozu war dies noch gut? Ihnen konnte nicht mehr geholfen werden. Er hatte um Hilfe gebeten, hatte sie angefleht, etwas zu unternehmen. Maya, Leto – nannten sie sich nicht Präsidenten? Hielten sie sich nicht für die Regierung, die für Frieden und Ordnung sorgen sollte? Wie konnten sie dies zulassen? Warum wussten sie nicht, was Angehörige ihres eigenen Hauses taten? In einer kurzen, heftigen Regung riss Windtänzer den PAC von seinem Handgelenk und warf ihn mit solcher Wucht an die Wand, dass er zu Bruch ging. »Wir sind
verlassen«, zischte er. »Sie haben uns verraten. Es hat sich nichts seit dem letzten Krieg verändert. Die Städter sind unsere Feinde. Sie wollen uns unterjochen, uns den Wald wegnehmen, sie wollen alles für sich.« Er unterbrach sich, als Morgenblüte sich regte. Flatternd öffnete sie die Augenlider. »Vater…?« »Ich bin hier, Tochter«, sagte er angespannt. »Fühlst du dich besser?« »Ich spüre Dunkelheit in dir…«, flüsterte sie. »Mein Gesang ist in dir erloschen. Das darfst du nicht zulassen…« »Ich kann es kaum mehr ertragen«, stieß er brüchig hervor. »Ich würde alles darum geben, wenn ich an deiner Stelle sein könnte…« Das Mädchen lächelte. Selbst jetzt noch war es ein sanftes Strahlen. »Du wirst gebraucht, Vater. Eine große Aufgabe liegt noch vor dir. Es tut mir Leid, dass ich dich nicht mehr begleiten kann. Ich mache mir große Sorgen um dich…« »Um mich?« Er konnte nur noch mühsam die Fassung wahren. »Ich sollte es sein, der für dich sorgt… und ich versage jämmerlich dabei…« »Du musst mir versprechen… dass du dich der Dunkelheit nicht ergibst«, wisperte Morgenblüte. »Versprich es mir!« »Alles, Tochter. Wenn du nur wieder gesund wirst.« »Ich muss gehen, Vater. Ich höre schon den Ruf der Ahnen. Verzeih mir…«
Windtänzer presste ihre Hand. »Morgenblüte, du darfst nicht aufgeben! Halte durch! Sie werden ein Mittel finden, das dich rettet! Du bist doch so stark, so mutig, du kannst jetzt nicht einfach…« Die Sterbende schüttelte langsam den Kopf. »Ich hab keine Kraft mehr, Papa. Versprich mir, dass du nicht trauerst. Ich verlasse dich ja nicht ganz, mein Gesang bleibt in dir, wenn du ihn nur hören willst…« »Nein«, stammelte er, »nein…« »Lass mich noch einmal die Bäume sehen«, wisperte sie. »Und den Himmel.« »Alles, was du willst.« Er hob sie auf seine Arme; sie wog fast nichts mehr. Langsam trug er sie hinaus, gefolgt von Vogler. Draußen standen Starkholz, ihre Mutter Rotbeer und viele andere mehr, die Morgenblüte kannten und liebten. Das Mädchen hob schwach einen Arm. »Friede, Licht und die Kraft des Waldes sei mit euch allen«, sagte es. »Ich bin froh, euch zu sehen. So fällt mir der Abschied leichter. Und ich sehe den Wald…« Lächelnd blickte Morgenblüte sich um. Dann verließen sie ihre Kräfte und ihr Kopf sank an die Schulter ihres Vaters. Ihre Hand streichelte seine Brust ein letztes Mal. Windtänzer kniete sich hin, weil seine Beine zu sehr zitterten. »Morgenblüte…«, flehte er. »Morgenblüte…« Doch sie hatte bereits aufgehört zu atmen. Windtänzer hob den Kopf, sein Mund öffnete sich weit. Einen ganzen langen Atemstoß hindurch war kein
Ton zu hören, obwohl die Lungen alle Luft aus sich herauspressten. Es schien so, als wolle auch Windtänzer ganz aufhören zu atmen. Doch schließlich holte er Luft, füllte seine Lungen bis zum Bersten, und sein zuvor erstickter Schrei bahnte sich nun seinen Weg aus der Kehle. Alle Geräusche im Wald verstummten, als sich dieser Schrei unendlichen Leids und Schmerzes bis über die Baumwipfel erhob. Windtänzer presste seine Tochter an sich, wiegte sich mit ihr vor und zurück und schrie, bis seine Lungen keine Kraft mehr hatten. Rotbeer sank neben ihm in die Knie und begann einen Klagegesang, mit dünner, zitternder Stimme, das tränenüberströmte Gesicht um Jahre gealtert. Felsspalter kauerte sich neben sie und stimmte mit ein. Immer mehr Stimmen erhoben sich. Vogler wagte es schließlich, sich Windtänzer zu nähern. Vorsichtig nahm er Morgenblüte aus seinen Armen, übergab sie an Starkholz. Windtänzer ließ sich mit dem Gesicht nach vorne auf den Boden fallen, riss Gras und Wurzeln aus, krallte seine Finger in die trockene Erde und bewarf sich damit, während er ununterbrochen klagte und schrie. Niemand konnte ihm helfen, niemand wagte sich mehr in seine Nähe. Schließlich lag er still auf dem Bauch, mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht in der Erde verborgen, und rührte sich nicht mehr. Nur gelegentlich zuckte sein Körper in einem stillen Krampf. Felsspalter hob die zitternde Rotbeer auf seine Arme, und sie zogen sich alle lautlos zurück, um Morgenblüte
zum Totenbaum zu geleiten und alles für die Zeremonie vorzubereiten. Dabei wechselten sie sich in den Gesängen ab. Als Windtänzer am Abend beim Baum erschien, brannten schon überall die Öllampen, und Morgenblütes Körper war gewaschen und gesalbt. »Ehrwürdiger Meister, wir bitten dich um den Großen Abschiedshymnus«, sagte Starkholz. Aber Windtänzer schüttelte den Kopf. Seine langen schwarzen Haare hingen in Strähnen herab, sein Gesicht war von Schlamm bedeckt. Mit fremder rauer Stimme sagte er: »Ich bitte dich darum, Starkholz, mein Freund, der du mich und meine Sippe aufgenommen hast, der du für Morgenblüte wie ein Großvater warst, der du Baumsprecher dieser Sippe bist. Ich muss gehen.« Alle Anwesenden reagierten zutiefst schockiert. So etwas war noch nie geschehen! »Du… du kannst nicht…«, fing Starkholz erschüttert an. Windtänzer schüttelte erneut den Kopf. »Richtig, ich kann nicht«, flüsterte er. Frische Tränenspuren zeichneten dünne Fährten durch den trocknenden Schlamm in seinem Gesicht. »Ich kann und werde meine Tochter nicht bestatten. Ich kann es nicht tun, mit diesem einzigen Gedanken voller Hass in meinem Herzen, Blutrache zu nehmen. Und Blutrache nehmen werde ich, und vollenden, was ich schon bei Rosens Tod hätte tun sollen. Damals zögerte meine Hand und zitterte, und ich verfehlte sein Herz, doch diesmal wird der Mörder nicht
entkommen.« Er hob die Hand, als Vogler den Mund öffnete. »Folgt mir nicht, und versucht nicht, mich aufzuhalten! Ich bitte euch, ehrt Morgenblütes Mutter, indem ihr ihrer Tochter ein ehrvolles Ritual zuteil werden lasst. Ich werde mich von meiner Tochter verabschieden, wenn es an der Zeit ist.« Er drehte sich um und verschwand im Wald. Lange Zeit sprach niemand. Dann fasste Starkholz einen Entschluss. »Wir werden das Ritual noch nicht vollenden. Morgenblüte wird fertig balsamiert und vorbereitet. Aber wir werden sie erst dem Baum übergeben, wenn das Sterben aufgehört hat und Windtänzer wieder bei Sinnen ist.« Damit waren alle einverstanden. Es war besser, wenn das Ritual in die Länge gezogen wurde und in mehreren Stufen stattfand, denn Morgenblüte war ein außergewöhnliches Mädchen gewesen. Sie standen der trauernden Rotbeer zur Seite und sangen einen kleinen Hymnus, der Morgenblüte auf ihren Weg vorbereiten sollte. *** Aquarius beteiligte sich nicht an den Trauergesängen. Er sammelte alle Waffen, die er finden konnte, und dann suchte er sich Gefährten. Er fand zahlreiche. Uranus war nur einer von ihnen, und sie waren sich alle einig: Das Maß war voll. Windtänzer war fort und die Baumsprecher waren
hilflos. Draußen an der Waldgrenze marschierten die Städter auf, um die Waldleute zusammen zu treiben; sie ließen sich durch die Exekutive nicht mehr aufhalten. Wie lange sollten sie dem noch zusehen? Sich alles gefallen lassen, nur um den Frieden zu wahren? Weshalb musste ihre Seite es sein, die vernünftig war; hatten sie denn die Seuche ausgelöst? Nein, sie waren die Leidtragenden, bei ihnen war sie ausgebrochen! Und weshalb? Nur aus der Profitgier eines Städters, der sie zudem von seinem Willen abhängig machen wollte… »Genug der Toten!«, rief Aquarius. »Solange wir noch atmen können, werden wir uns jetzt zur Wehr setzen! Wir lassen uns nicht mehr demütigen und uns den Wald wegnehmen! Dort draußen sind die Städter, die uns dies alles angetan haben, die Morgenblüte und unsere Freunde und Verwandten auf dem Gewissen haben! Lasst sie uns hinauswerfen und den Wald absperren!« Sein Aufruf setzte sich rasch fort, die Siebentöner trugen ihn weiter, viele konnten ihn auch im Geiste hören und griffen zu den Waffen. Hunderte stürmten durch den Wald, durch nichts mehr aufzuhalten. Doch sie stockten im Schritt, als sie jener Zone näher kamen, die einst Windtänzers Sippe gehört hatte. Schwarze Rauchwolken stiegen zum Himmel und ein heißer Wind fegte ihnen entgegen. »Diese Wahnsinnigen!«, schrie Uranus. »Sie zünden den Wald an! Der Präsident hat uns verraten, er
unterstützt uns nicht mehr! Ruft sie alle zusammen, jetzt muss sich das ganze Volk erheben!« Ein Aufschrei erschütterte den Wald und mobilisierte nun das gesamte Waldvolk. Der Geruch nach brennendem Holz trieb sie fast in den Wahnsinn, die Schreie der sterbenden Bäume, die krachend und berstend in Flammenlohen umstürzten, zerriss ihre Herzen. Die Welt um sie herum starb – das durften sie nicht zulassen. Von allen Seiten, selbst noch aus fünfzig Kilometern Entfernung, strömten sie herbei, Männer und Frauen jeden Alters, bewaffnet und zu allem entschlossen. Während draußen die Städter mit Baggern und Rodungsmaschinen auffuhren, brach ein Heer Waldleute zwischen den brennenden Bäumen und Büschen hindurch und fiel über ihre Feinde her. Es gab keine Verhandlungen, keine Drohungen, keine Zurückhaltung mehr. Wie im Blutrausch metzelte das einst so friedliche, sanfte Waldvolk die Städter nieder, ohne Rücksicht und Gnade. Sie waren nur noch auf Töten aus, auf Rache, um über den Verlust und die Trauer hinwegzukommen. Und um ihr Volk vor dem Untergang zu bewahren. Die erste Welle schlug sich erfolgreich durch; die Städter wurden völlig überrascht und waren zuerst wie gelähmt. Aber dann riefen sie bewaffnete Verstärkung herbei und schlugen zurück. Bald wurde überall gekämpft, im Wald und auf dem freien Feld. Eine Schlacht, die keiner gewinnen konnte.
Aus Elysium kamen Goliaths, Gleiter und Flugpanzer der ersten Generation mit dem Logo des Magistrats und versuchten die Kämpfe einzudämmen, möglichst schnell zu beenden. Doch Städter und Waldleute wandten sich gleichermaßen gegen sie und griffen sie so wütend an, dass sie in die Defensive gerieten. Natürlich besaßen die Exekutiven die bessere Ausrüstung und konnten aus der Luft feuern – aber sie sollten nicht töten, sondern schlichten. Alle Aufrufe, die über Lautsprecher getragen wurden, fruchteten nicht. Niemand hörte mehr auf die Bitte, Vernunft walten zu lassen und den Wahnsinn zu beenden. Wer nicht an der Krankheit starb, starb jetzt im Kampf. Und der Wald brannte weiter, das Feuer fraß sich immer tiefer hinein, trotz flächendeckender Löschversuche. *** Die Situation in Utopia eskalierte. Überall zogen verzweifelte Kranke durch die Straßen und bettelten um Hilfe. Viele hatten Wahnsinn in den Augen, waren von Fieber gezeichnet, die Haut mit schorfigen Flecken übersät. Exekutive rückten in geschlossenen Schutzanzügen mit gezückten Waffen vor und trieben die Menschen wie Vieh zusammen. Sie sortierten die augenscheinlich
Gesunden aus und brachten sie in ein weitgehend intaktes Viertel der Stadt. Die Kranken wurden hinter Energiegitter gesperrt. Notkliniken wurden in Windeseile errichtet, doch viele, von Wahnvorstellungen getrieben, wollten sich nicht behandeln lassen. Größtenteils konnte das medizinische Personal nur dem Sterben zusehen. Palun Saintdemar war von Utopia zusammen mit einem Team und umfangreicher Ausrüstung umgehend nach Letos Anruf in den Wald geflogen, sammelte Proben von Kranken und Gesunden und suchte verzweifelt nach einem Heilmittel. Der Präsident hatte keine verfänglichen Fragen gestellt und dem Mediker alle Daten, die er von der Mondstation und von Phobos erhalten hatte, übermittelt. Der Mediker seinerseits hatte sich nicht weiter zu dem mittlerweile bestätigten Verdacht geäußert, dass eine mutierte Variante des Geosiphons grassierte. Er gab der Seuche den Namen ISS-Virus und hoffte, dass er anhand der vorliegenden Daten und seiner eigenen Unterlagen dem Erreger bald auf die Spur kam. Immerhin erkrankte nicht jeder; die Seuche wurde wohl nur bei unmittelbarem Kontakt übertragen und brach auch hier nicht bei jedem aus. An der Luft starb der Erreger wohl schnell ab. Aber die Ansteckungsgefahr war trotzdem sehr hoch, und der Ausbruch der Krankheit beschleunigte sich von Fall zu Fall und endete nunmehr in fast allen Fällen tödlich.
Irgendwie sickerte das Gerücht mit dem Geosiphon an die Öffentlichkeit durch, was zu Turbulenzen in Elysium führte. Man forderte lautstark, Maddrax dafür verantwortlich zu machen, weil es sich um ein irdisches Forschungsprojekt handelte, das er mitgebracht hatte. Der Präsident fackelte daraufhin nicht lange. Er ließ alle, die zum Protest aufmarschierten, inhaftieren und verhängte eine durchgehende Ausgangssperre. Natürlich wusste er, dass dies nur ein Aufschub war. Der Funke in Elysium schwelte bereits und würde die Bombe irgendwann explodieren lassen. Kristallträumer nutzte diese Information sofort für seine Zwecke, forderte die Inhaftierung des Verbrechers von der Erde, der die Ursache alles Bösen war, und seine öffentliche rituelle Hinrichtung. Nur wenn das Böse vernichtet sei, würde auch das Leid ein Ende nehmen. Der Prophet sah die Seuche als erstes Zeichen, dass seine Visionen wahr wurden, und hielt flammende Ansprachen, die er jedoch nur noch vor seinen Anhängern halten konnte, da kein Holosender mehr vor Ort sein durfte. *** Einige hörten Kristallträumer nicht mehr zu. Seit sie von der Seuche erfahren hatten, erinnerten sich so manche an ihre Familien und Verwandten, die noch in Utopia weilten. Zu ihnen wollten sie jetzt, um ihnen beizustehen. Es war ihnen egal, dass die Stadt offiziell
abgeriegelt war; irgendwie, so glaubten sie, würden sie hineingelangen. Eliana Margys mischte sich unter sie. Sie hatte ihre Kutte abgelegt und trug nun unauffällige Alltagskleidung, die deutlich machen sollte, dass sie sich ernsthaft vom Propheten abwandte. Den schwarzen Kristall hatte sie in einer verborgenen Tasche versteckt, denn die Bedingung war, dass alle, die das Gelände verlassen wollten, ihren Kristall hergeben mussten. Allerdings wurden sie nicht besonders gründlich durchsucht. Wer sollte auch damit rechnen, dass sich jemand unter die Aussteiger mischte, der immer noch treu ergeben war? Eliana wusste, ihr Auftrag war von höchster Brisanz. Die meisten würden nicht verstehen, warum Kristallträumer so handelte. Aber Eliana sah alles völlig klar. Der Meister wusste immer einen Weg. Manche, wie Turem zum Beispiel, wollten auch nicht einsehen, dass Kristallträumer die Abtrünnigen so einfach ziehen ließ. Aber der Prophet hatte ihn mild zurechtgewiesen: »Wer vom wahren Weg abfällt, dem müssen wir vergeben und ihn ziehen lassen. Wir haben nicht das Recht, ihn zu zwingen. Und ob wir nun fünf sind oder fünftausend, es ändert nichts an unserer Mission. Ich bin sicher, die meisten werden bald wieder zurückkehren, weil sie erkennen, dass sie falsch gehandelt haben.« Ein wenig mulmig war es Eliana Margys schon, als sie die vielen Exekutiven überall postiert sah. Das Tor wurde
allerdings sofort geöffnet, als die kleine Gruppe sich ihm näherte. »Gehen Sie durch und warten Sie vorn bei der ersten Baracke«, sagte ein Submagister. »Sie werden dann abgeholt und zu Ihrem gewünschten Ziel gebracht. Benötigen Sie zuerst Essen und medizinische Versorgung, melden Sie sich rechts am Rand der Felsen. Da sehen Sie eine Baracke mit der medizinischen Fahne.« Eliana entschloss sich, schnurstracks zur Notklinik zu gehen, denn schließlich wollte sie nicht abtransportiert werden. Auf dem Weg dorthin sah sie sich genau um. Es beachtete sie weiter niemand; es war wohl nichts besonderes, dass ehemalige Anhänger hier herumliefen. Vor der Baracke standen schon einige Abtrünnige herum. Eliana sicherte nach allen Seiten, dann schlüpfte sie durch einen offen stehenden Seiteneingang hinein. Und stand gleich im richtigen Raum – der Wäschekammer. Anscheinend wurde demnächst Wäsche zur Reinigung abgeholt, weswegen alles sperrangelweit offen stand. Eliana konnte sich in Ruhe umsehen und sich bedienen. Sie wählte die Uniform eines Helfers und schlüpfte gerade in dem Moment ungesehen hinaus, als die nächste Ladung Wäsche hereingebracht wurde. Nun konnte Eliana sich in Ruhe umsehen, sie fiel nicht im Geringsten auf. Ständig liefen Leute von einer zur anderen Baracke und hatten augenscheinlich Wichtiges zu tun.
Wenn sie nur wüsste, wo sie suchen musste! Ihr war bewusst, dass der Auftrag nicht einfach war. Aber sie würde den Meister niemals enttäuschen. Er schenkte ihr sein Vertrauen, das war die höchste aller Auszeichnungen, die man von ihm bekommen konnte. Eliana war stolz darauf, dass er sie erwählt hatte. Er war wie kein anderer Mann. Einzigartig. Das Licht in der Dunkelheit. Elianas Hand glitt verstohlen in die verborgene Tasche und tastete nach dem schwarzen Kristall. Seine beruhigende Wärme durchströmte sie. Ja, sie war auf dem richtigen Weg. Es würde ihr gelingen. Sie konnte alles schaffen. Sie war eine Auserwählte. Etwa eine Stunde lang drückte Eliana sich in dem Lager der Regierung herum, darauf achtend, dass sie nicht zu oft gesehen wurde und vor allem nicht aufzufallen. Sie sah bescheiden und unbedeutend aus, das war schon ein wichtiger Vorteil. Niemand würde so schnell auf sie aufmerksam werden. Trotzdem musste sie vorsichtig sein. Einmal konnte sie sich gerade noch um eine Ecke herumdrücken, als sie den Erdenmann sah. Bisher kannte sie ihn nur von Bildern, und ihm auf einmal so nahe zu sein, erschreckte sie zutiefst. Von grusliger Faszination ergriffen lugte sie um die Ecke, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er sah wirklich abstoßend aus. Klein, gedrungen, fett… so viel Fleisch und Muskeln, einfach abscheulich. Nichts von der Ästhetik eines harmonischen, fein
gestalteten Marsbewohners war an ihm. Er war plump und ungeschlacht, ja… barbarisch. Eliana schüttelte es. Sie wollte sich gerade trollen, als sie die Frau auf diesen Maddrax zukommen sah. Sie hatte kurze weißblonde Haare und war viel zu klein gewachsen – armes Ding. Eliana hatte auch sie schon auf Bildern gesehen; sie gehörte dem Haus Tsuyoshi an und hatte sich mit irgendwelchen Presseerklärungen wichtig gemacht. Aber was taten die beiden da? Gingen auf Tuchfühlung… küssten sich? Eliana hätte sich beinahe übergeben. Für ihre Kleinwüchsigkeit konnte diese Tsuyoshi ja nichts, aber dass sie dazu noch pervers war, das war der Gipfel! Der Meister hatte schon Recht, wenn er gegen den Erdenmann zu Felde zog, und gegen die Regierung. Es war einfach in höchstem Maße unanständig, was hier vor sich ging; es gefährdete den wahren Weg zur Vollkommenheit der Marsianer! Umso überzeugter war Eliana Margys, dass sie das Richtige tat. Sie hatte genug gesehen. Sie wandte sich ab und huschte davon. Doch noch bevor sie über ihr weiteres Vorgehen nachdenken konnte, hörte sie, wie jemand auf der anderen Straßenseite in Richtung des Liebespaares lief. »Dame Mayas Gleiter landet jeden Moment! Sie werden gebeten, in der Besprechungsbaracke auf sie zu warten!« Eliana rieb sich die Hände. Endlich kam Bewegung in die Sache! Sie beobachtete, wohin Maddrax und die
Tsuyoshi gingen, und suchte sich dann einen geeigneten Platz zum Lauschen. Es gab eine kleine Nische zwischen den Baracken, wo Eliana nicht so schnell entdeckt werden konnte. Sie ging dort in Lauerstellung, unterhalb des Fensters. Als sie Schritte hörte, duckte sie sich. Maddrax und seine Geliebte waren bereits im Raum und unterhielten sich leise murmelnd. Als deutlich hörbar die Tür aufging, riskierte Eliana einen Blick über den Fensterrand. Sie erblickte eine große, wirklich sehr große Frau, eine ätherische Erscheinung mit einer Ausstrahlung, die Eliana noch nie erlebt hatte. Sofort war sie gefangen, verzaubert. Ja, Kristallträumer hatte Recht gehabt. Sie war die Einzige, die noch alles retten konnte. Maya Joy Tsuyoshi war eine Frau, die das Leben hoch achtete. Sie war klug und… wunderschön. Es war nicht recht, dass sie von ihrem Amt zurückgetreten war! Eliana wäre beinahe neidisch geworden, aber über solche niederen Gefühle war sie nun erhaben. Sie war eine gute Schülerin. Angestrengt lauschte sie, als die drei sich begrüßten. »Wie ist die Lage in Utopia?«, fragte Maddrax. Er besaß eine ziemlich voluminöse Stimme. Kein Wunder, bei dem Brustkorb. »Beklagenswert«, antwortete die ehemalige Präsidentin. »Immer wieder versuchen Leute, die energetischen Absperrungen zu umgehen. Ich kann sie verstehen. Andererseits hat es keine neuen
Erkrankungen mehr gegeben. Ich hoffe nur, dass bald das Heilmittel gefunden wird.« »Die Situation im Wald ist leider unverändert«, sagte die Weißblonde. Dann sanken die Stimmen zu einem undeutlichen Gemurmel herab. Eliana machte es sich in ihrer Nische bequem und nickte ein wenig ein. Als die Tür klappte, fuhr Eliana hoch und blickte verstört um sich, bis sie begriff, wo sie war. Und was sie zu tun hatte. Sie warf einen Blick durch das Fenster und sah, dass alle gegangen waren. Hastig verließ sie ihren Posten und huschte um die Baracke. Sie sah Maya gerade um die Ecke verschwinden und eilte ihr nach. Die ehemalige Präsidentin betrat eine kleine Notunterkunft. Vermutlich wollte sie sich ein wenig erholen, bevor sie wieder an die Arbeit ging. Jetzt oder nie, dachte Eliana. Die Dämmerung brach bereits herein, die Schatten wurden länger, und die meisten Leute hielten sich jetzt in den Baracken auf. Eine gute Voraussetzung für ihr Vorhaben. Sie ging sie auf die Unterkunft zu und klopfte an die Tür. »Ja?«, erklang es von drinnen. »Dame Präsidentin, man hat mich geschickt, um Ihnen eine Information über den Seuchenpilz zukommen zu lassen!«, sagte Eliana forsch. »Es sind Unterlagen, die man nicht auf anderem Wege schicken wollte.« »Kommen Sie herein.« Eliana freute sich, wie glatt es ging. Sie öffnete die Tür und trat ein. Maya kam aus der Nasszelle nebenan, mit
feuchten Haaren, die sie mit einem Handruch trocken rubbelte. Sie trug einen leichten Hausanzug. Prüfend betrachtete sie Eliana, doch dann siegte die Neugier. »Lassen Sie mich sehen.« Eliana näherte sich ihr. »Ich zeige es Ihnen, hier…« Sie zog die Hand aus der Tasche, und während sich Maya nach vorn beugte, presste Eliana die Finger kurz zusammen. Mit einem leisen Puff zerbarst die Pollenkugel in ihrer Hand und schickte ihre betäubende Gaswolke genau in Mayas Gesicht. Die Frau wollte etwas sagen, doch die Wirkung der Mohnpolle setzte augenblicklich ein. Maya sackte gegen Eliana, die sie hastig auffing. »Das ist nur ein kurzer Moment, Dame Präsidentin«, sagte sie behutsam. »Sie sind gleich wieder in Ordnung und können auf eigenen Beinen stehen.« Maya würde alles mitbekommen, wie durch Watte, sich aber nicht aus eigenem Antrieb vorwärts bewegen können. Ihr Wille war von der Droge gelähmt; sie würde alles tun, was man ihr sagte. »Diese Ungelegenheit tut mir sehr Leid«, versicherte Eliana, während sie Maya energisch wieder hinzustellen versuchte. »Aber sie ist leider notwendig, denn ich fürchte, Sie würden Widerstand leisten und uns vielleicht verraten. Fühlen Sie sich gut?« Maya nickte. Ihre Augen waren glasig. Immerhin konnte sie tatsächlich wieder stehen.
»Kommen Sie«, forderte Eliana sie auf. »Gehen wir. Hoffen wir, dass uns niemand sieht. Wenn ich es sage, gehen Sie sofort in Deckung, verstanden?« Maya nickte wiederum. Willenlos wie eine Puppe folgte sie der kleineren Frau aus der Unterkunft. Draußen war es fast dunkel, und die Temperatur fiel. Hoffentlich erkältete sich die Präsidentin nicht in ihren leichten Sachen und mit feuchten Haaren. Vereinzelt brannte elektrisches Licht, das musste reichen. Niemand war unterwegs, hier direkt gab es auch keine Wachen. Die standen vor dem Lager und behielten die Straße und den Luftraum im Auge, damit kein Unbefugter hereinkam. Kristallträumer hatte Eliana den Weg genau beschrieben. Sie hätte ihn auch blind gefunden. Ungehindert verließen sie das Lager und bewegten sich auf die Felsen zu. Schnellwasser war bereits da und hatte den einsamen Wachposten hier oben in seine Gewalt gebracht. Seine Kräfte wirkten immer besser, wenn auch nur kurzzeitig bei den Städtern. Doch für diesen Zweck ausreichend. Eliana sah Schnellwassers roten Schopf kurzzeitig aufleuchten und stieß ein leises Pfeifen aus. Sofort verschwand der Kopf, und gleich darauf tauchte Schnellwasser hinter einem Felsen auf. »Endlich! Ich warte schon seit Stunden!« »Wir haben doch verabredet, in der Dunkelheit!«, zischte Eliana. »Komm, gehen wir.«
Auf heimlichen Wegen kletterten sie die Felsen hinab. Bei diesen Lichtverhältnissen waren sie nicht mehr als Schatten in der Nacht. Maya musste von Schnellwasser gestützt werden, da sie sich nur unsicher vorwärts bewegen konnte. Außerdem fror sie. Die Wirkung der Mohnpolle würde noch eine gute Stunde anhalten, bis dahin mussten sie das Lager erreicht haben. Aber Eliana war zuversichtlich. Ihre heilige Mission würde durch nichts gestört werden. Der Vater wollte es so, das hatte er durch den Meister mitgeteilt, und war mit ihr. »Ist der Weg unten frei?«, wisperte sie, als der Zaun bereits in Sicht kam. »Er wird es sein«, antwortete Schnellwasser. »Sie werden nur einen Windhauch verspüren, und wir schlüpfen schnell durch die Lücke.« *** »Verdammt noch mal, irgendwo muss sie doch sein!« Zum ersten Mal verlor Fedor Lux die Fassung. Das ganze Lager war in heller Aufregung und suchte nach Maya Tsuyoshi. Zuletzt war sie gestern Abend gesehen worden, als sie ihre Unterkunft aufsuchte. Doch diese war heute Morgen leer und verlassen. Kein Anzeichen von Gewalt, sie war einfach verschwunden. Ein Glück nur, dass die ENT- und MP-Leute nicht mehr vor Ort waren. Leto hatte sie inzwischen vollends abgezogen und eine allgemeine Nachrichtensperre
verhängt, mit Ausnahme der Informationen, die er herausgeben ließ. Matt hätte sich in den Hintern beißen können. Nun hatte er sich schon selbst von der Naivität der Marsianer anstecken lassen, die mit solchen Situationen erst umgehen lernen mussten. Die Wache war zu nachlässig gewesen, und man war davon ausgegangen, dass Kristallträumer in seinem Fanatismus nur auf Öffentlichkeit bedacht war und das Ultimatum ablaufen lassen wollte, um eine großartige Inszenierung vorzubereiten. Dass er jedoch eine weitere Hinterlist ausheckte, hätten sie sich denken können! »Ich bin sicher, Kristallträumer hat sie entführen lassen«, sagte er zu Fedor und Chandra. »Er wird Leto unter Druck setzen, seine Drohung zurückzunehmen. Damit kommt er auch um die Entscheidung des Massenselbstmords herum und kann die Verhandlungen in die Länge ziehen. Je länger es dauert, umso mehr Zulauf wird er bekommen.« Die beiden Marsianer waren blass geworden, ihre Nasenflügel bebten. »Wer wagt es, Leto anzurufen?«, fragte Chandra leise. »Er bringt uns um. Oder alle im Lager.« »Ich mache das«, sagte der Albino. »Es ist meine Aufgabe. Ich habe versagt.« »Das haben wir alle«, versetzte Matt.
Mit versteinerter Miene nahm Leto Angelis im Regierungstower von Elysium die Hiobsbotschaft zur Kenntnis. »Hat er schon Forderungen gestellt?« »Nein«, gestand Fedor Lux. »Wir haben noch nicht einmal den Beweis, dass er Maya hat. Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch.« Der Präsident stützte das Kinn auf die Hand. Sein Bild wirkte verwaschen. »Ein geschickter Zug«, sagte er schließlich. »Nun gut. Jetzt bin ich wieder dran.« »Ich werde noch einmal reingehen«, schlug Matt vor. »Wir suchen einfach so lange, bis wir den richtigen Durchgang finden.« »Nein«, lehnte Leto ab. »Darauf wartet er ja nur, Matt. Er weiß um Ihre Freundschaft mit Maya, und dass Sie bereit sind, jedes Risiko einzugehen. Wenn er Sie erst hat, wird er Sie persönlich öffentlich hinrichten.« »Was wirst du also tun?«, fragte Chandra. »Nichts«, antwortete der Präsident. »Nichts davon darf nach draußen durchsickern. Lasst euch etwas einfallen, wo sich Maya aufhalten könnte und warum man sie derzeit nicht erreichen kann.« »Aber du kannst doch nicht –«, fing Chandra protestierend an. »Ich kann mich nicht erpressen lassen!«, unterbrach er sie, und für einen kurzen Moment bebte seine Stimme. »Wir werden Maya da rausholen, aber zu dem Zeitpunkt, den wir bestimmen, und nach unseren Bedingungen! Momentan kann ich nichts anderes tun, als
Kristallträumer weiter schmoren und die Frist ablaufen zu lassen.« »Und dann willst du das Gelände stürmen?« »Natürlich! Bis dahin haben wir Maya befreit, Chandra. Sobald ich Neronus abziehen kann, werde ich kommen. Derzeit haben wir aber noch mit den Kämpfen im Wald zu tun, die inzwischen eskaliert sind, seit Windtänzers Tochter gestorben ist.« Matt und Chandra schrien gleichzeitig: »Morgenblüte ist tot?« Der Präsident nickte. »Windtänzer ist verschwunden, und von Carter Loy fehlt auch jede Spur. Die Leute sterben wie die Fliegen, und wir haben immer noch kein Heilmittel. Ich weiß, es gefällt euch nicht, was ich jetzt sage, aber das hat momentan oberste Priorität. Die Menschen, die nicht erkrankt sind, bringen sich gegenseitig um, wir haben schon Hunderte Tote und über tausend Verletzte, die wir zusätzlich in den Notstationen unterbringen müssen, und der Wald brennt. Und ich habe kaum mehr Exekutive, die ich noch einsetzen könnte. Im Wald sind sie in harter Bedrängnis und können sich kaum mehr wehren. Wenn wir nicht bald durchgreifen können, muss ich den Schießbefehl erteilen. Versteht ihr, was das bedeutet?« Er atmete schwer aus. »Ich kämpfe momentan an zu vielen Fronten. Wenn ich jetzt irgendwo nachgebe, ist alles verloren.«
Das Bild knisterte plötzlich und bekam Streifen, bevor es sich wieder stabilisierte. Matt musste sich festhalten, weil er beinahe den Halt verloren hätte. »Was war das?« »Ich glaube, der Boden hat gezittert«, sagte Fedor. »Verdammt, nicht das auch noch. Ich kümmere mich sofort darum.« Er hastete nach draußen. Leto runzelte die Stirn. »Was ist bei euch los?« »Keine Ahnung«, antwortete Chandra. »Wir versuchen es gerade herauszufinden.« »Ich muss jetzt Schluss machen. Haltet den Kopf klar. Maya kann gut auf sich aufpassen. Sie ist stärker als wir alle zusammen. Solange die Frist läuft, wird Kristallträumer ihr nichts antun.« Leto beendete die Verbindung. Kurz darauf kehrte Fedor Lux zurück. Er sah aus wie ein wandernder Leichnam. »Wir haben ein Problem«, sagte er. In diesen Tagen klang der Satz mittlerweile abgedroschen. *** Sandperle hastete mit Sonnentau in Sternsangs Höhle. »Wir müssen los!«, rief sie. »Jetzt sofort, es ist etwas Schreckliches geschehen!« Der Greis erhob sich langsam mit knackenden Gelenken. »Berichte«, forderte er die junge Frau auf.
»Kristallträumer hat Maya entführt!«, sprudelte Sandperle hervor. »Sie ist jetzt bei ihm, er hält sie als Geisel!« Sternsangs Stirn legte sich in tiefe Falten. »Dann müssen wir in der Tat etwas unternehmen, Tochter der Felsen. Wird er dich vermissen?« »Im Augenblick nicht, er ist viel zu beschäftigt. Ich hoffe nur, dass der Weg, den wir in der Nacht gefunden haben, auch wirklich nach draußen führt!« »Wir müssen einfach darauf vertrauen, Sandperle. Es ist notwendig, dass wir unverzüglich handeln.« Auf seinen Stock gestützt, folgte er Sandperle und der kleinen Sonnentau. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht zu spät kamen. Er machte sich vor allem große Sorgen um Windtänzer, den er nicht mehr erreichen konnte. Irgendetwas Furchtbares, das das mentale Band zerrissen hatte, musste im Wald passiert sein. Es war, als wäre Windtänzers Verstand in einen tiefen Abgrund gestürzt. Und Sternsang hörte den Gesang des Todes, seit Tagen schon. Viele Lichtpunkte, die er in sich trug, erloschen, immer schneller, immer mehr. Er spürte, wie etwas in ihm starb, Stück für Stück, als würde jede einzelne Seele seines Volkes aus ihm gerissen. Das schwächte seinen gebrechlichen Körper, obwohl er gerade jetzt alle seine Kräfte brauchte. Vater, dachte er voller Trauer, schwer sind deine Prüfungen, die du uns auferlegt hast…
* * *
»Wir müssen Utopia sofort evakuieren!«, schrie Matt. »Rufen Sie Leto an, wir brauchen Luftschiffe, Gleiter, alles was fliegt und einigermaßen Fassungsvermögen hat, und –« »Das kann ich nicht!«, gab Fedor Lux zurück. »Die Stadt steht unter Quarantäne! Was glauben Sie, welche Katastrophe es erst gibt, wenn wir die Krankheit mit nach draußen schleppen?« »Sie können die Leute nicht einfach ihrem Schicksal überlassen!«, brüllte Matt außer sich. »Hören Sie auf damit! Denken Sie, es fällt mir leicht? Ich habe keine Luftschiffe, ich habe nicht genug Leute, die schnell genug hier sind, um überhaupt die Gesunden abtransportieren zu können! Wir unternehmen bereits alles Menschenmögliche, aber wissen Sie, wie das ist, eine Auswahl treffen zu müssen? Wir haben keine Tage, sondern nur noch Stunden!« Der Albino hämmerte mit der Faust auf den Tisch. »Wir können froh sein, wenn wir das Lager rechtzeitig evakuiert haben! Sehen Sie lieber zu, dass Sie hier rauskommen! Nehmen Sie meinen Gleiter und verschwinden Sie, und Sie auch, Chandra!« »Ich gehe hier nicht weg, bevor nicht wenigstens unsere Leute in Sicherheit sind!«, gab Chandra zurück. »Und was ist mit Maya? Und den anderen da unten?« Matt konnte es nicht fassen, dass er gar nichts tun konnte.
»Haben Sie denn nicht bemerkt, dass unsere Leute angegriffen und abgewehrt werden? Wir können doch nicht alle erschießen, um ins Lager zu kommen, wen sollen wir dann noch retten?« Fedor Lux war völlig verzweifelt. »Wir konnten uns nicht einmal Gehör verschaffen, und dieser Größenwahnsinnige hat sich irgendwo mit unserer Präsidentin verschanzt!« In diesem Augenblick fing der Boden wieder an zu zittern. Die drei hielten inne und starrten sich aus irrlichternden Augen an. »Wir haben keine Stunden mehr…«, flüsterte Matt. Und dann begann es. *** Das mit der Aktivierung der Anlage gebannt geglaubte Superbeben hatte sich nur verzögert, wochenlang, sich aufgestaut und in aller Stille unbemerkt bis zu diesem Moment gewartet. Es kam ohne weitere Vorwarnung. Bereits zwei Stunden nach dem ersten leichten Zittern des Bodens, als urplötzlich gewaltige seismologische Aktivitäten gemessen wurden, schlug es zu. Der Boden begann zu zittern und zu schwanken, zuerst nur ganz leicht, dann trat eine Pause von zehn Sekunden ein. Jedermann hielt inne, in allen Städten, im Wald, auf dem Land. Niemand wurde ausgenommen, alle konnten es spüren. Alle wussten, dass Kristallträumers Prophezeiung nun ihren Anfang nahm.
Der Untergang der Welt stand bevor. Die Menschen hatten gerade noch Zeit, einmal einzuatmen. Dann brach die Katastrophe über sie herein. Der Boden bäumte sich auf, riss Löcher und Spalten, türmte sich in gewaltigen Wellen auf, die über das ganze Land donnerten. Gigatonnen Sand und Staub wurden aufgewirbelt und im aufkommenden Sturmwind um den ganzen Planeten geblasen. Es wurde dunkel. Brüllend tobte und zitterte der Mars, schüttelte sich, als wolle er alles, was über seine Oberfläche kroch, abstreifen und von sich schleudern. Matt riss Chandra an sich und zog sie unter den Tisch; das war alles, was er noch tun konnte, bevor er das Bewusstsein verlor. Drei Minuten dauerte das Beben an. Danach wurde es still. So still, wie der Mars äonenlang vor dem Betreten der Raumfahrer von der Erde gewesen war. Der Staub senkte sich langsam auf den Boden herab und überdeckte alles wie mit einem Schleier. Einem Leichentuch. - Fortsetzung folgt
Das Abenteuer geht weiter!
Im nächsten Band lesen Sie:
Nun scheint alles verloren! Soll Matthew Drax fern der Heimat sein Grab finden? Wenn Kristallträumers Prophezeiung zutrifft, wird die Zivilisation auf dem Mars untergehen, ausgelöst durch das uralte Erbe der Hydree. Aber Matt Drax wäre nicht Matt Drax, wenn er nicht bis zum letzten Atemzug auch in aussichtsloser Situation kämpfen würde. Immerhin liegt der Weg zurück auf die Erde so nah in der Grotte des Strahls! Doch kann er seine neuen Freunde in der Stunde größter Not allein lassen?
Rückkehr zur Erde von Susan Schwartz