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Dunkelheit lag über dem Sumpfwald des Irawadi-Deltas. Das Mondlicht stach wie mit silber...
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Seewölfe 223 1
Kelly Kevin 1.
Dunkelheit lag über dem Sumpfwald des Irawadi-Deltas. Das Mondlicht stach wie mit silbernen Nadeln durch das Blätterdach der Urwaldriesen, spiegelte sich in Schlamm und schwarzem, schillerndem Wasser und ließ ab und zu die Waffen der Männer aufblitzen, die sich keuchend durch das Dickicht kämpften. Drei Dutzend wilde, verwegene Gestalten: Malaien, Inder und Birmanen, Eingeborene der Inselwelt zwischen Pazifischem und Indischem Ozean, Gesindel aus aller Herren Länder, schließlich der schlitzäugige, kahlköpfige Mongole, der die wüste Horde mit eiserner Faust zusammenhielt. Bis heute jedenfalls war ihm das immer gelungen. Jetzt hatte sich seine Streitmacht in einen ungeordneten, von panischer Furcht getriebenen Haufen verwandelt. Bill, der Moses der „Isabella“, biß die Zähne zusammen und haderte mit sich selbst und dem Geschick, vor allem mit dem teuflischen Zufall, der ihn dieser Bande von Halsabschneidern und Halunken in die Hände gespielt hatte. Blut rann über seine Haut, er glaubte immer noch, die Spitze des Krummschwerts an der Kehle zu spüren. Er hatte den Mongolen stellen wollen, diesen elenden Hund, der versuchte, sich feige aus dem Kampf zu verdrücken. Aber dann war es umgekehrt gelaufen: Bill stolperte, stürzte unglücklich und konnte nicht verhindern, daß der Kerl ihn als Geisel benutzte. Ihn und Kyan Ki, den jungen Krieger aus dem Volk der Mon, der Bill hatte beispringen wollen. Dem Mongolen ging es um den legendären Schatz, den die Mon angeblich in ihrer geheimnisvollen Dschungelfestung am Irawadi versteckten. Ein Schatz, an dessen Existenz Bill nicht recht glaubte. Wenn die Mon solche Reichtümer besaßen - hätten sie es dann nötig gehabt, die „Isabella“ zu überfallen, nur um ein paar Waffen zu erbeuten? Hätten sie sich dann vor den ständigen Angriffen ihrer birmanischen Feinde in die
Die Schwarze Pagode
Wildnis des Deltas zurückziehen müssen? Selbst wenn sie keine Chance gegen die Übermacht des birmanischen Reichs hatten - mit Hilfe eines solchen Schatzes wären sie doch sicher in der Lage gewesen, wenigstens die Piraten zu verjagen und sich gegen jenen Priester der geheimnisvollen Schwarzen Pagode zu wehren, der mit Hilfe einiger versprengter Spanier eine Armee um sich gesammelt hatte und seinen Privatfeldzug gegen die Mon führte. Aber der Mongole glaubte daran. Er würde seine Pläne nicht aufgeben und auch weiter versuchen, dem jungen Mon-Prinzen die Wahrheit zu entreißen. Bill schauerte und zerbiß einen Fluch, als ihm einer die Piraten wieder einmal die Faust in den Rücken stieß, um ihn anzutreiben. Neben ihm stolperte Kyan und verlor das Gleichgewicht. Er war am Ende und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Mit brutalen Tritten versuchten seine Peiniger, ihn wieder hochzuscheuchen- und das war mehr, als Bill mit ansehen konnte. Fauchend vor Wut wirbelte er herum. Der Kerl, der den Wehrlosen getreten hatte, war viel zu überrascht, um zu reagieren. Blitzschnell drosch ihm Bill die Faust ins Gesicht. Der Pirat brüllte und taumelte zurück. Blut schoß aus seiner Nase, der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, und dieser Anblick entschädigte den Moses ein wenig für das, was im nächsten Moment über ihn hereinbrach. Die Piraten hatten eine vernichtende Niederlage erlitten. Entsprechend war die Wut, die sich in ihnen gestaut hatte und Bill jetzt zu spüren kriegte. Er wehrte sich wie ein Tiger, doch es dauerte nur Minuten, bis es dunkel um ihn wurde. Der Mongole hatte dem Ausbruch brutaler Gewalt schweigend zugesehen. Jetzt spuckte er aus. Seine schmalen schwarzen Augen funkelten wütend. „Narren!“ zischte er in seiner Heimatsprache. „Eure eigene Schuld, wenn ihr sie jetzt tragen müßt!“
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Wind strich durch das übermannshohe Sumpf gras und kräuselte die Rinnsale, die mit der auflaufenden Flut allmählich wieder breiter wurden. Dort, wo die „Isabella VIII.“ auf einer Untiefe festsaß, lag das Mondlicht wie ein fahler Silberschleier über dem Schwemmland des Deltas. Die Waldsäume wichen an dieser Stelle etwas zurück, das Filigran von Masten, Rahen und Stagen zeichnete sich als scharf umgrenzte Schatten auf dem dunklen Schlick ab. Die Galeone war nach einer endlosen Irrfahrt durch das Labyrinth der Wasserarme hier gestrandet. Nicht etwa, weil die Männer der Crew aus Leichtsinn ein zu hohes Risiko eingegangen wären, sondern weil unsichtbare Gegner, von deren Existenz sie nichts ahnten, ihnen den Rückweg abgeschnitten und sie ganz bewußt und sehr geschickt in die Falle gelockt hatten. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, stand mit verschränkten Armen auf dem Achterkastell und spähte zu dem etwas entfernten Wasserarm hinüber, wo jeden Moment die flachen Flußboote der Mon auftauchen mußten. Aber diesmal nicht, um die „Isabella“ von neuem anzugreifen. Das hatten sie zweimal versucht und sich dabei blutige Köpfe geholt, obwohl unter der Crew eine unbekannte Tropenkrankheit wütete und sechs Männer fiebernd und halb oder ganz bewußtlos im Vorschiff lagen. Nein, diesmal erschienen die Boote der Mon, um zu helfen. Die Kranken und Verletzten sollten den Irawadi hinauf zu der geheimnisvollen Stadt im Dschungel gebracht werden, der letzten Bastion jenes stolzen Volkes. Ihre Heilkundigen kannten sich mit dem tropischen Fieber aus. Und die Krieger kannten das Delta, jeden Mündungsarm des Irawadi, jedes Rinnsal, jeden Tümpel. Unter anderem auch die Bucht, die von der Piratenflotte des Mongolen als Schlupfwinkel benutzt wurde.
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Gegen diese Bande von brutalen Mördern, die nicht einmal Frauen und Kinder verschonten, hatten sich die Mon mit den Seewölfen verbündet. Ein paar Meilen entfernt stolperte Bill, der Moses, neben Kyan Ki her und hatte vergessen, daß es dieser Mann war, dem sie im Grunde den ganzen Schlamassel verdankten: weil er als vermeintlicher Schiffs-brüchiger die Wasservorräte der „Isabella“ ungenießbar gemacht hatte, um sie zu zwingen, in das Flußdelta zu laufen. Hier auf der „Isabella“ stand der Seewolf neben Yannay Ki, Kyans älterem Bruder, und verschwendete ebenfalls keinen Gedanken mehr an den Ärger, den sie den Mon verdankten. Nein, die feine Art war es nicht gerade gewesen, ein fremdes Schiff in die Falle zu locken, das keinerlei feindliche Absichten hegte, und dazu ausgerechnet die Hilfsbereitschaft der Crew auszunutzen. Aber die Mon befanden sich in einer verzweifelten Lage. Sie wurden von den Piraten bedrängt, und sie mußten jeden Tag damit rechnen, daß die Birmanen angriffen, die sich in den Bergen um die Schwarze Pagode eingenistet hatten. Letztere verfügten zwar ebenfalls kaum über Schüßwaffen, doch dafür war ihre Übermacht umso erdrückender. Der junge Kyan hatte einfach nach einem Strohhalm gegriffen, als er sah, wie leicht die „Isabella“ mit der Piratendschunke fertig wurde, die die Boote der fliehenden Mon verfolgten. Yannay, älter und weniger voreilig, hatte sich überzeugen lassen, da die Falle nun einmal gestellt war. Gefallen fand er von Anfang an nicht an dem Plan. Ganz davon abgesehen, daß die Rechnung nicht aufging, weil die Mon ihre Opfer gewaltig unterschätzen. Immerhin: die Lage der „Isabella“ war alles andere als rosig gewesen. Deshalb entschloß sich der Seewolf auch zu einem Bravourstück: mit zwei Mann holte er Yannay Ki mitten aus seinem Lager heraus, um ihn als Faustpfand zu benutzen. Doch so weit kam es nicht mehr. Unmittelbar danach hatten die Piraten das
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Lager überrannt. Sie wollten den Schatz. Kyan sollte ihnen verraten, wo sie die sagenhaften Reichtümer finden konnten — und die Schreie des Gefolterten waren noch auf der „Isabella“ zu hören gewesen. Daß die Seewölfe in dieser Situation nicht triumphiert, sondern sich bereit gefunden hatten, das Opfer herauszuhauen — das war eine Tatsache, die der Anführer der Mon erst einmal verdauen mußte. Jetzt wußte er, mit wem er es zu tun hatte. Mit Männern, die fair und anständig kämpften, die auf kleinliche Rachsucht verzichteten, die es sogar fertigbrachten, dem geschlagenen Gegner beizuspringen — auch wenn er es im Grunde nicht verdiente. Yannay Ki war überzeugt davon, daß er und seine Leute diese Hilfe nicht verdient hatten. Längst schämte er sich seiner eigenen Handlungsweise. Genauso, wie es Scham gewesen war, die seinen Bruder zu dem Versuch trieb, sich dem Mongolen als Geisel anzubieten, damit er Bill freiließ. Genutzt hatte es nichts. Jetzt befanden sich beide in der Gefangenschaft der Piraten. Vorerst! Für die Seewölfe war es selbstverständlich, die beiden Männer zu befreien. Inzwischen kannte Yannay Ki diese Teufelskerle gut genug, um zu glauben, daß sie es schaffen würden. Er, Yannay, würde mit den unverletzten Mon-Kriegern die dezimierte Crew der „Isabella“ verstärken. Für den Transport der Kranken und Verwundeten standen die flachen Flußboote zur Verfügung, de in diesem Augenblick auf dem Wasserarm erschienen. Die sechs Kranken waren bereits an Deck gebracht worden: Garry Andrews, Bob Grey und der weißhaarige Segelmacher Will Thorne bewußtlos, Dan O’Flynn und Jeff Bowie im Fieber phantasierend, selbst der bullige Smoky in einem Zustand, in dem er seine Umgebung offenbar nicht mehr richtig wahrnahm. Der Kutscher hatte die verwundeten Mon versorgt, so gut es ging. Außer ihm sollten Old O’Flynn und die Zwillinge mit in die Boote gehen. Letztere mit ziemlich
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gemischten Gefühlen, weil sie nicht recht wußten, was nun spannender war: gegen eine Bande heimtückischer Piraten zu kämpfen oder die geheimnisvolle Dschungelfestung der Mon kennenzulernen. Für den Seewolf gab den Ausschlag, daß die beiden Jungen in der Dschungelfestung sicherer sein würden. Das glaubte er jedenfalls. Wie sehr er sich irrte, konnte er noch nicht ahnen. Old O’Flynn versicherte mit grimmiger Miene, daß er schon auf die „Rübenschweinchen“ aufpassen werde. Hasard junior und Philip junior ignorierten diesen Punkt. Sie sonnten sich lieber in der Wichtigkeit ihrer Aufgabe: im Verein mit ihrem Großvater und dem Kutscher auf die Kranken aufzupassen. Noch lieber hätten sie allerdings geholfen, ihren besonderen Freund Bill zu befreien. Aber Widerspruch gab es nicht in einer solchen Situation. Um das zu wissen, fuhren die Zwillinge nun schon lange genug auf der „Isabella“. Ein paar Minuten später kletterten sie zusammen mit den anderen in eins der flachen Boote. Ein knappes Dutzend Mon-Krieger stakten die schwerfälligen Fahrzeuge durch das langsam auflaufende Wasser. Der Seewolf sah ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden. Ganz wohl war ihm nicht bei der Sache, aber er wußte, daß er keine Wahl hatte. Die Mittel gegen die heimtückische Krankheit gab es nur in der Festung am Irawadi. Inzwischen hätte Hasard seine Hand dafür ins Feuer gelegt, daß sie den Mon vertrauen konnten. Daß in diesem gefährlichen, von Unruhen geschüttelten Landstrich alles mögliche Unvorhergesehene passieren konnte, ließ sich nun einmal nicht ändern. Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Noch mußten sie warten. Yannay Ki hatte behauptet, die „Isabella“ werde bei der nächsten Flut von selbst aufschwimmen, weil der auffrischende Wind das Wasser tiefer ins Delta drückte. Ob das stimmte, war noch die Frage. Eine weitere Frage mußte ebenfalls geklärt werden: inwieweit
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die Mon tatsächlich eine Verstärkung für die Crew waren. Im Enterkampf Mann gegen Mann würden sie sich bestimmt bewähren. Aber mit den schweren Culverinen konnten sie vermutlich überhaupt nicht und mit Musketen und Pistolen nur sehr beschränkt umgehen. Und ob sie je vorher eine Galeone aus der Nähe gesehen hatten oder eine Brasse von einem Fall unterscheiden konnten, war gleichfalls fraglich. Einmal mehr mußte Pak-Sung, der Birmane, in Aktion treten. Er gehörte zur Streitmacht des schwarzen Priesters und war als Gefangener bei den Mon gewesen. Da er Spanisch sprach, hatten sie ihn geschickt, um den Seewölfen ihre Bedingungen zu stellen: die Waffen der „Isabella“ gegen freien Abzug und Hilfe für die Kranken. Pak-Sung hatte es vorgezogen, nicht zurückzugehen, sondern sich unter den Schutz der Engländer zu stellen. Er stand immer noch unter ihrem Schutz - eine Tatsache, die von den Mon stillschweigend akzeptiert wurde. Jetzt übersetzte er etwas mühsam Hasards Fragen. Yannay Ki lächelte leicht und straffte die Schultern. Er sei mit einem Teil seiner Leute lange genug zur See gefahren, erwiderte er. Bis ins ferne Reich des großen Chan und in die Inselwelt des Pazifik. Dabei hätten sie manchen Sturm und manches Gefecht überstanden, was auch gleich die Frage nach ihren Erfahrungen mit den Waffen beantwortete. Hasard nickte nur. Die Auskunft war beruhigend, vor allem im Hinblick auf die Übermacht, mit der sie sich würden schlagen müssen. Die genaue Stärke der Piratenflotte kannten auch die Mon nicht. Aber das war auch nicht der Punkt, über den sich der Seewolf den Kopf zerbrach. Das eigentliche Problem bestand nicht darin, mit dem Gesindel des Mongolen fertig zu werden, sondern in der Notwendigkeit, vorher die beiden Geiseln herauszuholen. Eine knappe halbe Stunde später plätscherten die ersten Wellen gegen die Bordwände der „Isabella“.
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Das Wasser stieg jetzt rasch. Es knirschte und rieb unter dem Kiel, eine Serie winziger Rucke erschütterte die Galeone. Jetzt konnte es nur noch Minuten dauern, bis sie aufschwamm. Der Seewolf stützte die Hände auf die Schmuckbalustrade des Achterkastells und atmete tief durch. „An die Brassen und Fallen! Fock und Besan klar zum Aufheißen!“ „Klar zum Aufheißen!“ bestätigte Ben Brightons ruhige Stimme. „Hoch damit!“ Es klappte wie am Schnürchen, was den Profos natürlich nicht daran hinderte, die „lahmen Säcke“ mit den schauerlichsten Höllenstrafen zu bedrohen. Die Mon packten mit an, ein bißchen zögernd zuerst. Der Wind fuhr in Fock und Besan, blähte das Tuch, die „Isabella“ legte sich leicht nach Steuerbord über. Wieder knirschte es unter dem Kiel - und dann, langsam und ruckhaft, nahm die Galeone Fahrt auf. Jubel brandete auf. Ein donnerndes „Arwenack“, das die Mon etwas erschrocken zusammenzucken ließ und den Papagei Sir John veranlaßte, sich schimpfend in die Toppen zurückzuziehen. Mit wachsender Fahrt glitt die Galeone über den Wasserarm, und auch Hasard atmete auf, als er endlich wieder die vertrauten Schiffsbewegungen unter den Stiefeln spürte. Yannay Ki, der hier jeden Fußbreit Boden kannte, spielte den Lotsen. Eine knappe Stunde brauchten sie, um die Stelle zu erreichen, wo ihnen während ihrer Odyssee durch das Delta klargeworden war, daß sie den Weg verloren hatten. Inzwischen kannten sie den Grund: ein Damm, den die Mon errichtet hatten und der sich in nichts von den grünen Wänden des Dickichts unterschied. Oder doch: inzwischen waren Büsche und Schlinggewächse etwas angewelkt und verrieten, daß sie keine Wurzeln mehr hatten. Die „Isabella“ drehte bei. Gemeinsam rupften die Mon und die Seewölfe die künstliche Barriere auseinander. Minuten später lag der Wasserarm vor ihnen, den sie kannten. Ben Brighton knirschte mit
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den Zähnen. denn er war es gewesen, der damals das Kommando gehabt hatte, als sie ahnungslos an dem Abzweig vorbeisegelten. Und Edwin Carberry, ebenfalls höchst erbittert, redete gestenreich auf dem kleinen Birmanen ein, von dem er offenbar verlangte, ihm ein paar bestimmte Worte im Dialekt der Mon beizubringen. Ein vergeblicher Versuch. Pak-Sungs Spanisch-Kenntnisse waren begrenzt. Was es mit den Affenärschen und den abgezogenen Hautstreifen auf sich hatte, konnte ihm der eiserne Profos beim besten Willen nicht verklaren. 2. Der Laderaum der Dschunke war ein unordentliches, vergammeltes Loch, das nach Bills Meinung eine Schande für die allgemeine Seefahrt darstellte. Nun ja, der Mongole war ja auch kein ehrlicher Seefahrer, sondern ein ganz besonders mieses Exemplar von Halsabschneider. Im Augenblick hielt ihn die Aufgabe, seine Flotte durch das Labyrinth des Deltas zu steuern, davon ab, sich weiter mit seinen Gefangenen zu befassen. Er hatte sie an Händen und Füßen gefesselt in den Laderaum werfen lassen. Das war zwar alles als angenehm, aber zumindest für Kyan ein wahres Glück. Das Schicksal, das den jungen Mon in den Händen der Piraten erwartete, mochte sich Bill lieber gar nicht erst ausmalen. Was sie bisher mit ihm angestellt hatten, war schlimm genug. Kyan lag reglos auf der Seite und kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen gegen Durst, Schwäche und Schmerzen. Bill konnte gut verstehen, daß dem anderen nicht nach Betätigung zumute war. Aber vom Nichtstun wurde ihre Lage nicht besser. Unterhalten konnte sie sich mangels Sprachkenntnissen nicht. Bill überlegte kurz, dann rollte er sich ein paarmal über die Planken, bis er sich in Kyans Rücken aufsetzen konnte. Der junge Mon stöhnte, als er Bills Stiefel ins Kreuz
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kriegte und auf dem Bauch landete. Das war der Zweck der Übung gewesen. „Entschuldigung“, murmelte der Moses und ließ sich rasch nach vorn fallen, bevor sich Kyan wieder herumwälzte. Der begriff in der Sekunde, in der er Bills Zähne an seinen Handfesseln spürte. Der Moses spannte die Muskeln, zerrte an den Knoten herum und verfluchte die Tatsache, daß die Piraten auf ihrem verdammten Kahn offenbar alles verrotten ließen, nur nicht das Tauwerk. Kyan rührte sich nicht, obwohl die Bauchlage für ihn ziemlich schmerzhaft sein mußte, da er ein paar böse Brandwunden auf der Brust hatte. Noch befuhr die Dschunke einen der Mündungsarme des Irawadi und lag ruhig im Wasser. Bill wußte, daß die Sache wesentlich schwieriger werden würde, sobald sie das offene Meer erreichten, deshalb beeilte er sich. Er hatte kräftige Zähne, aber er brauchte dennoch eine geschlagene Stunde, bis er den ersten Erfolg verzeichnen konnte. Inzwischen spürte er an den rollenden Schiffsbewegungen, daß die Piratenflotte das Delta verlassen hatte und nach Osten in den Golf von Martaban ablief. Bill verdoppelte seine Anstrengungen. Er nahm an, daß der Schlupfwinkel der Piraten irgendwo in der Nähe lag. Sobald sie ihn erreichten, würde sich der Mongole wieder auf seinen Gefangenen besinnen. Auf Kyan vor allem. Dem Moses lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht, das Blut rauschte in seinen Ohren, und die verkrampften Muskeln an Nacken und Schultern taten ihm so weh, daß er sich kaum noch bewegen konnte. Verbissen nagte und zerrte er an den Stricken, und dann, nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, hielten nur noch ein paar Fasern die Fesseln zusammen. Kyan hatte schon ein paarmal versucht, sie zu sprengen. Mit aller Kraft drückte er die Hände auseinander und diesmal schaffte er es. Mit einem Ruck riß der Strick. Kyan schüttelte die Reste der Fesseln ab, stützte sich mühsam hoch und kam auf die Knie.
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Seine Augen funkelten, als er sich Bill zuwandte. Der drehte sich bereits um und bewegte auffordernd die Hände. Die Dschunke fiel jetzt spürbar ab, ging mit dem Heck durch den Wind und nahm Kurs auf die Küste. Bill vermutete, daß sie eine versteckte Bucht anlaufen würde. Auch Kyan begriff, daß ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Hastig hantierte er an den Fesseln seines Mitgefangenen, und Minuten später hatte auch der Moses die Hände frei. Die Dschunke verlor an Fahrt. Während sie ihre Fußfesseln aufknüpften, hörten die beiden Männer im Laderaum deutlich, wie die Ankertrosse ausgefahren wurde. Kein Zweifel, die Piraten hatten ihr Ziel erreicht. Lange würde es jetzt bestimmt nicht mehr dauern, bis der Mongole seine Gedanken wieder auf den begehrten Schatz konzentrierte. Bill fegte die Reste der Fesseln beiseite, griff nach Kyans Arm und zog ihn in die Deckung einer verrotteten Kiste. Der Laderaum lag tief unten im Schiffsbauch und war nicht durch eine Luke, sondern durch ein Schott zu erreichen. Bill schüttelte den Kopf über sich selbst, als ihm einfiel, daß er sich darum noch gar nicht gekümmert hatte. Er holte es nach - vergeblich. Das Schott war verriegelt, aber es hätte ja immerhin sein können, daß die Piraten auch in diesem Punkt nachlässig gewesen waren. Kyan versuchte mit zusammengebissenen Zähnen, eine Latte aus der morschen Kiste herauszubrechen. Bill folgte seinem Beispiel. Es war nicht einmal schwierig. Zwar zeigte das Holz nicht gerade die beste Qualität, doch für die Köpfe der Piraten würde es hoffentlich ausreichen. Die beiden jungen Männer grinsten sich an. Auf leisen Sohlen huschten sie zurück zum Schott und bauten sich rechts und links davon auf. Ein paar Minuten verstrichen, dann konnten sie draußen auf dem Niedergang Schritte hören. Die Schritte von drei Männern.
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Wenn schon, dachte Bill verbissen. Seine Faust schloß sich fester um die Latte. Kyan preßte die Lippen zusammen und straffte sich. Beide hielten den Atem an, als die Schritte auf dem Niedergang verstummten. Das Schott flog auf. Die drei Piraten betraten den Laderaum ohne jede Vorsichtsmaßnahme. Einer von ihnen hielt die Lampe. Seine Komplizen sollten offenbar die beiden Gefangenen an Deck schaffen. Gefangene, denen sie jetzt ahnungslos den Rücken zuwandten. Mit einem einzigen Schritt sprangen Bill und Kyan vor. Als hätten sie es geübt, holten sie beide gleichzeitig aus. Falls ein winziges Geräusch entstand, wurde es übertönt vom Knarren der Rahen und Blöcke und dem steten Ächzen in den Verbänden. Die beiden Piraten begriffen die Gefahr erst, als schon die Latten auf ihre Köpfe krachten. Auch bei ihnen sah es so aus, als hätten sie die Art geübt, wie sie genau gleichzeitig nach vorn zusammensackten. Wider Erwarten überstand das morsche Kistenholz die Belastung. An den Schädeln der Getroffenen würden prachtvolle Beulen erblühen, doch darum konnten sich Bill und Kyan jetzt nicht kümmern. Der Kerl mit der Lampe fuhr auf dem Stiefelabsatz herum. Das dunkle MalaienGesicht verzerrte sich. Er holte Luft, um zu schreien, aber Bill war schneller. Mit einem Panthersatz sprang er dem Burschen an die Kehle. Den Alarmschrei rammte er ihm sozusagen in die Zähne zurück. Sie stürzten und rollten ineinander verkrallt über die Planken. Der Pirat verlor die Lampe aus dem Griff, doch inzwischen war auch Kyan heran und hob sie hastig auf, ehe sich das auslaufende Öl entzünden konnte. Der junge Mon umklammerte immer noch die Latte. Von Fairneß hielt er nicht viel, das wäre von zwei Männern, die allein gegen eine ganze Piratenbande standen, auch etwas viel verlangt gewesen. Kyan wartete, bis der schwarze, ölige Haarschopf des Malaien ein einladendes Ziel bot, dann hob
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er die Latte und schlug kurz und trocken zu. Der Pirat erschlaffte. Genau drei Minuten dauerte es, bis die Reste der Stricke ihn und seine Komplizen zu Bündeln verschnürten. Mit einem wenig edlen, aber äußerst befriedigenden Gefühl der Schadensfreude stopfte Bill den Kerlen ihre eigenen schmutzigen Fußlappen zwischen die Zähne. Kopftücher und Schärpen verhinderten, daß sie die Knebel ausspucken konnten. Kyan sah mit einem verzerrten Grinsen zu. Dann hob er fragend die Brauen, wies auf die blakende Lampe und machte eine Geste, die den ganzen Laderaum umfaßte. Bill begriff. Er runzelte die Stirn und biß sich heftig auf die Lippen. Die Idee war verlockend, würde Verwirrung stiften und ihnen vielleicht die entscheidende Chance verschaffen. Aber sie konnten die drei Bewußtlosen nicht in Sicherheit bringen, sondern höchstens ein Stück aus der Gefahrenzone schaffen. Und ob ein Kerl wie der Mongole überhaupt versuchen würde, sie zu retten? Bill schüttelte den Kopf. Kyan zuckte mit den Schultern. Daß er in mörderischer Stimmung war, konnte ihm niemand verdenken - schließlich waren seine Gegner schon auf dem besten Wege gewesen, ihm ein ganz ähnliches Schicksal zu bereiten, wie es die drei Bewußtlosen in dem brennenden Laderaum erwartet hätte. Aber im Grunde hatte wohl auch der junge Mon nicht den Nerv, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er schwang herum, glitt zum Schott und spähte in den Schatten des Niedergangs. Nichts rührte sich dort. Kyan winkte mit der Hand und schlich weiter. Bill folgte ihm, da er annahm, daß sich der Mon auf einer Dschunke besser auskannte als er selbst. So war es auch. Kyan stieg nicht nach oben, sondern tiefer in den Schiffsbauch zu einem weiteren Laderaum, der sich bis nach achtern hinzog. Schließlich lehnte er eine Bambusleiter an den unteren Süllrand einer
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Luke, die nach Bills Ansicht unmittelbar vor der Poop liegen mußte. Der Moses schluckte trocken. Er hätte Kyan gern gefragt, ob er etwa den Mongolen in seiner Kammer besuchen wolle, doch mangels Verständigungsmöglichkeiten ging das nicht. Bill blieb nichts anderes übrig, als hinter dem jungen Mon an der Leiter aufzuentern. Inchweise stemmte Kyan den Lukendeckel hoch, lauschte sekundenlang und glitt wie eine Schlange nach draußen. Platt auf dem Bauch liegend, hielt er die Luke ein Stück offen, während auch Bill hindurchkroch. Zwei Schritte, und sie schlüpften durch das Schott ins Achterkastell. Ein blitzschneller Rundblick hatte Bill gezeigt, daß niemand auf sie achtete. Die meisten Männer standen an den Schanzkleidern, riefen, winkten und unterhielten sich mit den Besatzungen der übrigen Schiffe, die in der Bucht vor Anker lagen. Da der Mongole vorher den Befehl gegeben hatte, die Gefangenen an Deck zubringen, vermutete Bill ihn auf der Poop. Im Achterschiff hielt sich kein Mensch auf — und Minuten später zeigte sich, daß in Kyans Plan auch das ITüpfelchen nicht fehlte. Durch die leere Kapitänskammer gelangten sie auf eine schmale Galerie. Und von dort aus konnten sie die Trosse des Heckankers erreichen und sich so gut wie lautlos ins Wasser hangeln. Bill brauchte beide Hände, sonst hätte er dem anderen krachend auf die Schulter geschlagen. Kyan grinste ihm zu und verzog dann schmerzlich das Gesicht, weil das Salzwasser in seinen Wunden brannte. Salz heilt, dachte Bill optimistisch. Ob das für den Mon ein Trost war, wagte er allerdings zu bezweifeln. Kyan wies mit dem Kopf nach Steuerbord. Vorsichtig, dicht im Schatten des Schiffsrumpfs, schwammen sie hinüber und hielten auf das Boot zu, das mit der Vorleine an einer Sprosse der Jakobsleiter belegt war. Hatte Kyan das gewußt oder sich einfach auf sein Glück verlassen?
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An Land zu schwimmen, wäre ziemlich riskant gewesen, weil die Bucht einen breiten Strand hatte, auf dem sich einfache Hütten drängten und eine Menge kleinerer Boote lagen. Und im offenen Meer hätten sie schon wegen Kyans Verletzungen mit Haien rechnen müssen, wobei zu bedenken war, daß ein Hai auch nicht viel schlimmer sein konnte als der Mongole. Bill verschob die Frage, während er sich lautlos ins Boot schwang und dem Mon auf die Ducht half. Wieder tauschten sie ein rasches Grinsen. Bill dachte daran, daß sie sich bisher eigentlich auch ohne Worte ganz gut verstanden hatten. Rasch warf er die Leine los. Behutsam begannen sie, die Riemen durchzuholen. Sobald sie den Sichtschutz der großen Dschunke verließen, würde es kritisch werden. Sie konnten nur hoffen, daß die Piraten anderes zu tun hatten, als auf ein kleines Boot zu achten. Aber sie mußten allmählich merken, daß die Kerle, die die Gefangenen holen sollten, ein wenig lange ausblieben. Darauf wiesen dann auch prompt die jähe Aufregung und das wütende Geschrei an Deck hin. Bill biß die Zähne zusammen. Jetzt glitten sie am Bug der Dschunke vorbei. Mindestens ein halbes Dutzend anderer Schiffe zählte der Moses in der Bucht. Es war eine tief eingeschnittene, von dicht bewachsenen Landzungen geschützte Bucht. Das hatte den Vorteil, daß die Piraten hier nicht so leicht entdeckt werden konnten – und den Nachteil, daß ein einziger entschlossener Gegner genügte, um die Einfahrt zu sperren, falls die Kerle nicht auf den Landzungen Kanonen in Stellung gebracht hatten. Bill vermutete, daß es sich tatsächlich so verhielt. Er warf Kyan einen Blick zu. Das Gesicht des jungen Mon wirkte hart und angespannt. Auch er bereitete sich Sorgen. Immer wieder sah er sich um, und Bill, der die Schiffe beobachtete, war allmählich fast sicher, daß weitere Gefahren in ihrem Rücken lauerten. Nicht mehr lange! Schon hatten sie sich der Ausfahrt bis auf ein paar Faden genähert und peilten das Strömungsluv an. Auch Bill spähte jetzt
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über die Schulter. Erst der Alarmschrei, der von der größten Dschunke herübertrug, ließ ihn wieder den Kopf wenden. Gestalten am Schanzkleid! Männer, die sichtlich erregt mit den Armen fuchtelten und auf das entschwindende Boot zeigten. Kyan sog scharf die Luft ein. Bill knirschte mit den Zähnen, pullte wie besessen und richtete sich nach Kyans abgehackten, rhythmischen Rufen, die in seiner Heimatsprache wohl das gleiche wie das „Hoool weg!“ der Seewölfe bedeuteten. Schwitzend und keuchend trieben sie das kleine Boot zwischen die Landzungen und hofften inständig, daß dort nicht noch eine böse Überraschung wartete. * Gleichmäßig und unermüdlich stakten die braunhäutigen Mon-Krieger die flachen, schnellen Flußboote durch die Wildnis. Der Morgen graute. An dem schmalen Streifen Himmel über dem Wasserarm verblaßten die Sterne. Leichter Dunst stieg auf, die Waldsäume verschwammen in diffusem Halbdunkel. Kranke und Verwundete waren in leichte Decken gehüllt worden. Old O’Flynn lehnte an der niedrigen Bordwand des Boote und döste vor sich hin. Selbst die unersättlich neugierigen Zwillinge hatten dem eintönig vorbeiziehenden Dickicht am Ende nichts mehr abgewinnen können. Zusammengerollt wie kleine Katzen lagen sie auf den Planken und schliefen den Schlaf der Erschöpfung. Sie erwachten erst, als die Boote einen der breiten Haupt-Mündungsarme des Irawadi erreichten. Was sie weckte, wußten sie selbst nicht. Vielleicht das Aufatmen der Mon, vielleicht irgendeine unmerkliche Änderung in der Geräuschkulisse. Niemand sprach, die Boote behielten ihr gleichmäßiges Tempo bei, das Wasser war immer noch ruhig, und doch begannen sich die beiden Jungen fast gleichzeitig zu rühren.
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Sie hoben die Köpfe, blinzelten -und richteten sich überrascht auf. Vor ihnen lag ein weißes, waberndes Nebelmeer. Der Strom erweiterte sich an dieser Stelle fast zu einem See, durch den Dunst waren die Ufer nur schattenhaft wahrzunehmen. Wie Ziehende Schleier stieg der Nebel höher, verhüllte den Himmel und begann, mit dem wachsenden Licht in einem eigentümlich opalisierenden Silberton zu schimmern. Die Boote hielten auf den Waldsaum zu. Zuerst sah es aus, als wollten sie sich mit dem Bug ins Dickicht bohren. Erst im letzten Moment war die schmale Durchfahrt zu erkennen. Ein neuer Wasserarm, dachten die Zwillinge, doch sie irrten sich. Nebelschwaden teilten sich, ein paar tiefhängende Zweige streiften fast ihre Köpfe, dann wich das Dickicht erneut zurück. Wieder eine Art See, schmaler und langgestreckter diesmal, soweit sich die Ufer erkennen ließen. Im Osten entstand jenseits der Dunstschleier ein mattes karmesinfarbenes Glühen. Undeutlich erkannten die Zwillinge den Hang eines dunklen, bewaldeten Hügels, der überraschend steil anstieg. Mit den schattenhaften Umrissen, die sich aus dem Nebel schälten, wußten sie zunächst nichts anzufangen, bis ihnen klar wurde, daß es sich um Gebäude handelte. Einer der Mon rief etwas in seiner Heimatsprache. Die vorderen Boote verlangsamten ihre Fahrt und trieben schließlich ruhig auf dem Wasser. Der Mon wandte sich den Zwillingen zu und lächelte. Mit einer Geste forderte er sie auf, den Hügel zu beobachten. Ein goldfarbener Reflex blitzte auf. Dann ein grüner, ein violetter, wieder ein goldener - es war, als habe jemand Juwelen verstreut, die jetzt durch den Nebel funkelten. Der Dunst lichtete sich etwas, die ersten Sonnenstrahlen stachen wie Finger über die Baumwipfel. Sonnenstrahlen, die ein Feuerwerk von Farben entfachten, tausendfach reflektiert in den winzigen Nebeltröpfchen, vielfach
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gebrochen, verschwimmend und auseinanderfließend zu einer phantastischen Traumkulisse. Das Schauspiel dauerte nur wenige Minuten. Die aufgehende Sonne löste den letzten Nebel auf, der Hang lag im Licht des Morgens. Gebannt starrten der Kutscher, Old O’Flynn und die Zwillinge auf die farbenprächtigen, fremdartigen Gebäude, die sich, terrassenartig ansteigend, bis hinauf zu dem turmbewehrten, uralt und düster wirkenden Komplex der Festung zogen. Die Stadt der Mon! Langsam wurden die Boote weitergetrieben. Die Menschen, die diesen Ort zum ersten Male sahen, verharrten vor dem Anblick wie verzaubert. * Der Mangrovensumpf an der Küste schien zu dampfen. Die Seewölfe waren froh, daß sie nicht mehr durch diese Suppe manövrieren mußten. Über der offenen See blies eine erfrischende Brise die Luft sauber. Der gleichmäßig raumschots einfallende Wind hatte den Mon-Kriegern noch nicht viel Gelegenheit gegeben, ihr seemännisches Können zu beweisen. Inzwischen dümpelte die „Isabella“ schon wieder beigedreht in der Dünung. Eine Jolle war abgefiert worden und hielt, mit acht Mann besetzt, Kurs auf die Küste. Yannay Ki kauerte im Bug. Ferris Tucker, der Profos und Batuti, zwei Mon-Krieger und der kleine Birmane pullten — letzterer, damit es im Falle eines Falles keine Sprachschwierigkeiten gab. Hasard hatte die Pinne übernommen. Er wollte in der Nähe der Bucht anlegen, die den Piraten als Schlupfwinkel diente. Zunächst einmal mußten sie die Lage peilen. Dann würde man ja sehen, ob es eine Chance gab, Bill und Kyan herauszuholen, bevor die Fetzen flogen. So jedenfalls sah der Plan aus, auf den sich der Seewolf und der Mon-Prinz geeinigt hatten.
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Ein riskanter Plan, denn bei der Operation auf der Dschunke des Mongolen konnten höchstenfalls zwei Mann unentdeckt bleiben, während die anderen ein Ablenkungsmanöver starteten. Wer diese zwei Mann sein würden, stand bereits fest: Philip Hasard Killigrew und Yannay Ki. Der Seewolf hätte lieber jemanden mitgenommen, auf den er eingespielt war, aber er sah ein, dass er Yannays speziellen Kenntnisse brauchte. Auch wenn er immer noch nicht ganz sicher war, ob der Anführer der Mon endlich den verrückten Gedanken aufgegeben hatte, sich den Piraten notfalls als Geisel im Austausch gegen die beiden Gefangenen zur Verfügung zu stellen. Das war schon einmal gründlich schiefgegangen. Kyan hatte es in dem Augenblick versucht, als ihm klar wurde, wie falsch er die Seewölfe eingeschätzt hatte. Das Ergebnis war gewesen, daß die Piraten jetzt statt über eine, nun über zwei Geiseln verfügten. So ähnlich, vermutete Hasard, würde es auch ausgehen, wenn Yannay den Helden spielte. Ein paar Minuten später wurden alle diese Befürchtungen von den Tatsachen überholt. Schüsse peitschten in der Bucht. Geschrei brandete auf, wütendes Geschrei, selbst noch aus der Entfernung zu hören. Yannay richtete sich kerzengerade auf. Der Seewolf kniff die Augen zusammen und starrte zu der schmalen Einfahrt hinüber. Sekundenlang tat sich überhaupt nichts — dann schoß ganz plötzlich ein kleines Boot zwischen den Spitzen der Landzungen hervor. Nicht einmal Dan O’Flynn mit seinen Falkenaugen hätte die Gesichter der beiden Insassen erkennen können. Aber Hasard kannte die Statur, die Haltung und die Bewegungen des schlanken, hochaufgeschossenen Moses der „Isabella“. Bill pullte wie besessen. Der zweite Mann im Boot mußte Kyan Ki sein — niemand wußte das besser als sein Bruder Yannay, der mit einer wilden,
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triumphierenden Gebärde den Arm hochriß. Eine Geste, die unbemerkt blieb, da die Flüchtenden ihre Aufmerksamkeit auf die Bucht richteten. Hasard hielt bereits die sächsische Reiterpistole in der Faust, um den beiden Männern im Boot ein Zeichen zu geben. Der Schuß peitschte, und Bill und Kyan rissen die Köpfe herum. Ihnen blieb keine Zeit für irgendwelche triumphierenden Gesten. Denn im selben Augenblick schien im Dickicht auf der westlichen Landzunge eine gespenstische Feuerblume aufzublühen. Donnernd krachte das schwere Geschütz, das die Piraten dort in Stellung gebracht hatten - offenbar in der weisen Erkenntnis, daß ihr Versteck, erst einmal entdeckt, nur zu leicht zur Falle werden konnte. Die schwere Eisenkugel jaulte durch die Luft. Sie lag zu kurz und klatschte wirkungslos hinter dem fliehenden Boot ins Wasser, doch das mußte nicht so bleiben. Bill und Kyan pullten, als gelte es das Leben - was ja leider stimmte. Auch die Männer in der Jolle legten sich mit aller Kraft in die Riemen. Hasard biß die Zähne zusammen, als er den Schwarm kleinerer Boote entdeckte, die aus der Bucht schossen und die Verfolgung aufnahmen. Aber diese Nußschalen waren nicht das Hauptproblem. Das bestand darin, auf Musketenschußweite an die feindliche Kanone heranzupullen und die Geschützmannschaft unter Sperrfeuer zu nehmen. Immer vorausgesetzt, daß die Jolle nicht vorher einen Treffer erhielt. Wieder rollte der dumpfe Kanonendonner über das Wasser. Diesmal klatschte die Kugel gefährlich knapp in die Hecksee des flüchtenden Bootes. Yannay schrie etwas. Der Seewolf wandte den Kopf - und atmete erleichtert auf. An Bord der „Isabelle hatte Ben Brighton offenbar erkannt, was los war.
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Die Galeone rauschte raumschots heran, unter Vollzeug und mit ausgerannten Kanonen. „Auf die Bugwelle achten!“ rief Hasard. Im nächsten Moment begann die Jolle zu tanzen und zu hüpfen und konnte nur durch ein blitzschnelles Manöver vor dem Querschlagen bewahrt werden. Ein halbes Dutzend Verfolgerboote wurde hastig gewendet. Die Piraten beeilten sich, wieder in den Schutz der Bucht zurückzupullen. Aber auf sie hatten es die Männer der „Isabella“ überhaupt nicht abgesehen. Die Galeone fiel etwas ab, luvte wieder an, und dann lag sie genau parallel zu der Landzunge. Unter ohrenbetäubendem Krachen entlud. sich ihre Backbord-Breitseite. Die geballte Kraft von acht siebzehnpfündigen Eisenkugeln zerfetzte das Dickicht. Schreie gellten, eine Wolke von Staub, Trümmern und Blattwerk wirbelte auf. Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Eine verdammt rabiate Methode, die Kanone auf der Landzunge zum Schweigen zu bringen, dachte er. Aber schließlich hatte Ben Brighton damit rechnen müssen, daß die nächste Kugel Bill und Kyan erwischte. Kein weiterer Schuß fiel. Die „Isabella“ wendete und ging auf Gegenkurs. Ein paar kräftige Riemenschläge trieben die Jolle an die Jakobsleiter in Lee, und wenig später war auch die Nußschale mit Bill und Kyan heran. Jubel erhob sich an Bord. Ein donnerndes „Arwenack“ dröhnte weit über das Wasser. Hilfreiche Hände streckten sich Bill und Kyan entgegen, als sie aufenterten. Beide waren so erschöpft, daß sie nichts einzuwenden hatten. Der Seewolf schwang sich als letzter über das Schanzkleid. Während die beiden Boote hochgehievt wurden, stand er schon wieder auf seinem Platz an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Krachend schlug er Ben Brighton auf die Schulter. „Die beste Idee, die du je hattest,
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Ben! Die hätten uns ganz schön mit ihrem Kanönchen eingeheizt.“ „Und jetzt?“ fragte der Bootsmann. Hasard verzog das Gesicht. Aus schmalen Augen spähte er zur Einfahrt der Bucht hinüber. „Jetzt gibt es Zunder“, sagte er trocken. „Ich wette, der Mongole wird uns mit allem angreifen, was er zur Verfügung hat.“ 3. Der Seewolf behielt recht. Nur wenige Minuten vergingen, dann glitt die erste Dschunke hart am Wind aus der Bucht. Ihre Stückpforten waren geöffnet, die Kanonen ausgerannt. Die „Isabella“ hatte wieder gewendet und segelte raumschots Ostkurs. An Deck standen die Bronzegestelle zum Abfeuern der chinesischen Raketen bereit. Gegen eine Übermacht von einem halben Dutzend Schiffen konnte es keinen Pardon geben, und der Mongole bewies schon im nächsten Moment, daß er sein Piratenhandwerk nicht schlecht beherrschte. Er versuchte gar nicht erst, die Luvposition zu gewinnen. Stattdessen ging er über Stag und legte. sich auf Westkurs, um an der Backbordseite der „Isabella“ vorbeizulaufen. Die zweite Dschunke folgte seinem Beispiel. Die vier anderen Schiffe — zwei davon Karavellen — hielten stur Südkurs, zweifellos mit der Absicht, die „Isabella“ in eine tödliche Zange zu nehmen. Die Seewölfe dachten nicht daran, in die Falle zu gehen. Hasard lächelte matt, als er zu der führenden Dschunke hinübersah. Gleich würde sie. abfallen, um in einem blitzschnellen Manöver der Breitseite der „Isabella“ zu entgehen. Das zweite Schiff konnte dann feuern, noch bevor die Seewölfe ihre Backbord-Kanonen nachgeladen hatten — so dachte sich das jedenfalls der Mongole. Schon schwang die Dschunke nach Steuerbord herum, und
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im selben Moment gab Philip Hasard Killigrew den Feuerbefehl. Nicht für die Culverinen, beileibe nicht. Zischend und fauchend löste sich ein Brandsatz von der Kuhl der „Isabella“. Diese kleinen Raketen flogen weiter als Kanonenkugeln und trafen genauer. Die Dschunke des Mongolen hatte keine Chance, dem Geschoß auszuweichen. Unmittelbar über dem Deck barst es auseinander, ließ unlöschbares Feuer regnen, und Sekunden später leckten bereits Flammen an den Segeln hoch. Der Kapitän der zweiten Dschunke begriff zu spät, daß er nicht an leergeschossenen Kanonen vorbeilaufen würde, sondern an einer feuerbereiten Breitseite. In letzter Sekunde versuchte er, abzufallen — zu spät. Er erreichte nur, daß die Entfernung für seine eigenen Waffen zu groß wurde, während die Culverinen mit den überlangen Rohren auch dieses Distanz noch spielend überbrückten. „Acht sauber gestanzte Löcher in die Wasserlinie!“ befahl Hasard. „Feuer!“ Ohrenbetäubendes Krachen rollte über die See. Während die Dschunke des Mongolen brennend in der Dünung trieb, riß der eiserne Segen aus den Geschützen der „Isabella“ dem zweiten Schiff die Backbord-Seite auf. Acht Löcher in der Wasserlinie, genau wie der Seewolf es gewünscht hatte. Die Piraten an Deck schrien und gestikulierten und versuchten verzweifelt, die Boote abzufieren. Die Dschunke sackte so schnell ab, daß sie es nur noch gerade eben schafften. Auf dem Schiff des Mongolen sprangen die ersten Männer ins Wasser, nachdem sie begriffen hatten, daß nichts und niemand dieses unheimliche Höllenfeuer löschen konnte. Die „Isabella“ rauschte immer noch raumschots nach Osten. Die vier kleineren, weniger stark armierten Piratenschiffe hatten eben noch versucht, den Kurs der Galeone zu kreuzen und von der Luvposition her anzugreifen. Jetzt sahen die Kerle, was da binnen Minuten mit
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ihren Kumpanen geschehen war, und schlagartig verließ sie alle Kampfeslust. Von dem chinesischen Feuer mochten sie schon gehört haben. Wenn nicht, dann erschien es ihnen jedenfalls als Wunderwaffe, gegen die kein Kraut gewachsen war. Daß die Kanonen mit den überlangen Rohren eine geradezu unheimliche Reichweite aufwiesen, hatte ebenfalls jeder gesehen. Ein Angreifer mochte da vielleicht zum Schuß kommen, aber er riskierte, dabei gnadenlos auf Tiefe geschickt zu werden. Als die „Isabella“ jetzt auch noch an den Wind ging, ein wahres Höllentempo lief und zeigte, daß ihre Crew nicht gesonnen war, sich die Luvposition abnehmen zu lassen, da brach die Kiellinie der Piratenschiffe so plötzlich auseinander, als sei ein Donnerkeil zwischen sie gefahren. Dem Kapitän der führenden Karavelle schwante, daß er der erste sein würde, den sich die ranke Galeone vorknöpfte. Der Pirat glaubte schon, den Feuerregen über sich zu sehen, der sein Schiff mit Mann und Maus vernichten würde. Ein paar Sekunden kämpfte er mit sich, dann entschied er, daß ruhmloser Rückzug immer noch besser sei als die sichere Niederlage. Die Karavelle fiel ab und rauschte raumschots davon. Die kleinere Dschunke war schon vorher aus der Formation ausgebrochen, jetzt kehrten auch die beiden anderen Schiffe der „Isabella“ den Achtersteven zu. Mit vollem Preß liefen sie nach Osten ab. Die Art, wie die Piraten jetzt auch noch den letzten Fetzen Tuch setzten, verriet deutlich die heillose Angst, verfolgt und doch noch gestellt zu werden. Die „Isabella“ hätte das zweifellos schaffen können, aber die Seewölfe hielten wenig davon, sich auf einen Gegner zu stürzen, der die Flagge strich oder sich zur Flucht wandte. Wieder ertönte auf der Kuhl ein donnerndes „Arwenack“, in das sich der fremdartige, aber nicht minder
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eindrucksvolle Schlachtruf der MonKrieger mischte. Ben Brighton fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn. In seiner bedächtigen Art ließ er den Blick von den fliehenden Schiffen nach achtern wandern. „Feige Bande“, brummte er. „Denen scheint es völlig egal zu sein, was aus ihren Leuten wird.“ Der Seewolf nickte nur. Auch er hatte inzwischen die hilflos im Wasser treibenden Gestalten gesehen. Diejenigen, denen es gelungen war, in die Boote zu gehen, pullten wie besessen auf die Küste zu. Ihre weniger glücklichen Genossen winkten und schrien verzweifelt um Hilfe, doch niemand dachte daran, sie aufzufischen. Garantiert hatte es Tote und Verletzte gegeben. Das hieß, daß es hier binnen Minuten von Haien wimmeln würde. Hasard ließ halsen — und einmal mehr erhielten die Mon Gelegenheit, sich über ihre neuen Verbündeten zu wundern. Beiboote wurden abgefiert. Die Piraten schwammen um ihr Leben. Da bereits die ersten unheilvollen Dreiecksflossen durchs Wasser pflügten, war es den Burschen völlig gleichgültig, von wem sie gerettet wurden. Auf der „Isabella“ konnte sie zwar ihrer Meinung nach nur die Rahnock erwarten, doch das erschien ihnen immer noch besser, als von Haien zerfleischt zu werden. Zwei erwischte es dennoch. Das Wasser verwandelte sich in einen kochenden Wirbel, minutenlang balgten sich die schwarzen Bestien um die Beute und wurden von den anderen Opfern abgelenkt. Einen Überlebenden nach dem anderen zogen die Seewölfe in die Boote. Schließlich war es ein gutes Dutzend Piraten, die naß, erschöpft und zähneklappernd an der Jakobsleiter aufenterten. Auf der Kuhl wurden sie liebevoll empfangen, entwaffnet und gefesselt, noch bevor sie begriffen, was ihnen geschah. Wie eine Hammelherde bei Donner standen sie am Schanzkleid. Und der
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Leithammel war auch dabei. Der Mongole zog den Kopf zwischen die Schultern und bemühte sich nach Kräften, nicht aufzufallen, aber sein kahler Schädel war nicht zu übersehen. Das Gesicht des jungen Kyan Ki verzerrte sich jäh. Ein Wutschrei brach über seine Lippen. Mit drei, vier Sätzen überquerte er die Kuhl, riß das Krummschwert aus dem Gürtel und holte aus, um den Mongolen zu durchbohren. * „Daß ihr euch anständig benehmt, ihr Rübenschweinchen!“ grollte Old O’Flynn. „Wegen des komischen Turban-Fürsten?“ fragte Hasard junior. „Sultan!“ sagte Philip junior. „Er sieht aus wie der Sultan von ...“ „Quatsch! Sieht er nicht! Er sieht aus wie ...“ „Keinen Streit!“ fuhr ihr Großvater dazwischen. „Der komische TurbanMensch ist für die Mon das gleiche wie ein Sultan oder unsere königliche Lissy, also richtet euch danach, klar?“ „Klar“, bestätigten Philip und Hasard einträchtig. Dann marschierten sie hinter Old O’Flynn und dein Kutscher durch die langgestreckte Halle auf den Thron zu, auf dem sie Marut Shai, der Fürst der letzten freien Mon, erwartete. Er war alt, dieser Fürst. Alt wie, das Gemäuer der Festung, alt wie die kostbaren geschnitzten Möbel, die prächtigen Baldachine, die herrlichen, immer noch in intensiven Farben glühenden. Wandteppiche. Ein glänzender weißer Mantel verhüllte Marut Shais Gestalt, ein weißer, juwelengeschmückter Turban rahmte das zerfurchte Gesicht ein. Dunkle, kluge Augen betrachteten die fremden Gäste, die sich mangels genauerer Kenntnisse der üblichen Zeremonie schlicht verbeugten. Falsch war das offenbar nicht, denn die Mon-Krieger taten das gleiche, wenn auch etwas feierlicher. Der greise Fürst kreuzte
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die Arme über der Brust und neigte den Kopf. Was er damit ausdrücken wollte, wußten die Gäste nicht, doch sie sollten es sofort erfahren. Ein Birmane wurde herbeizitiert, offenbar genau wie Pak-Sung ein Gefangener. Besonders viel Spanisch sprach er nicht. Aber es reichte, um zu erklären, daß der Fürst der Mon sich freue, gute Freunde willkommen heißen zu können. Informiert war Marut Shai Offenbar bestens. Er bedauerte, was geschehen war. Die Mon seien friedlich gegen jedermann, der ihnen nicht feindlich entgegenkomme, meinte er. Kyan Ki möge man seine Jugend und Hitzköpfigkeit zugute halten. Und Yannay Ki, Heerführer und Prinz der Mon, werde sicher eine Erklärung dafür haben, daß er über friedliche Seefahrer hergefallen sei. Old O’Flynn, der Kutscher und selbst die Zwillinge fanden, daß der greise Fürst der Mon angesichts der Lage seines Volkes die Friedensliebe wohl ein bißchen übertrieb. Wenn die Seewölfe nicht ein gewisses Verständnis für ihre Gegner gehabt hätten, wäre das Bündnis nie geschlossen worden. Yannay Ki hatte sich vom Gebot nackter Notwendigkeit leiten lassen, als er auf den Plan seines Bruders einging. Was Kyan betraf, so konnte man nur hoffen, daß sich überhaupt noch die Gelegenheit ergab, ihm seine Jugend, seine Hitzköpfigkeit oder was auch immer zugute zu halten. Old O’Flynn raffte sich zu einer längeren spanischen Erklärung auf, die darauf hinauslief, daß man das „kleine Mißverständnis“ schon vergessen habe. Der Birmane übersetzte. Der Kutscher hörte ungeduldig zu. Er fieberte danach, sich endlich wieder um seine Kranken zu kümmern, und dazu kriegte er wenig später Gelegenheit. Zwei Mon-Krieger führten die Gäste aus dem düsteren Palast in eins der Gebäude, die offenbar erst vor kurzem errichtet worden waren. Hier waren die Kranken in einem großen, angenehm kühlen Raum auf Bastmatten gebettet worden. Junge Mädchen in farbenprächtigen, kompliziert um den Körper gewickelten Gewändern huschten
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um sie herum. Zwei uralte Männer, deren Gesichter wie eingeschrumpft wirkten, erteilten Befehle. Der Kutscher blähte die Nasenflügel und schnupperte nach dem aromatischen Rauch, der aus einer Feuerschale aufstieg. Äußerst mißtrauisch beobachtete er, wie den Bewußtlosen irgendetwas aus einer grünlichen Phiole auf die Lippen geträufelt wurde. Old O’Flynn stützte sich auf seine Krücken und kniff die Augen zusammen. „Eh!“ knurrte er. „Hast du eine Ahnung, was die mit ihnen anstellen?“ „Wenn sie sie nur nicht vergiften!“ unkte der Kutscher. Aber das taten sie nicht. Im Gegenteil: es dauerte keine Viertelstunde, bis sich Gary Andrews, Bob Grey und Will Thorne zu regen begannen. Die Mon-Mädchen strahlten, lächelten und schnatterten wie eine Gänseherde. Gary Andrews murmelte etwas von schönen Wassernixen auf dem Meeresgrund. Übermäßig klar im Kopf war er bestimmt nicht, aber klar genug, um sich aufzusetzen und zu schlucken, als ihm eine braunhäutige Schöne einen Becher undefinierbaren Inhalts an die Lippen setzte. „Mann!“ stöhnte der Kutscher. „Der säuft das, als ob es Rum wäre!“ Damit hatte er recht. Auch Bob Grey, Will Thorne, Dan O’Flynn und Jeff Bowie tranken widerspruchslos. Lediglich Smoky, dem die Krankheit nicht ganz so heftig zusetzte wie den anderen, wehrte sich schwach, bis er den Geschmack auf den Lippen spürte, der tatsächlich ausgesprochen angenehm sein mußte. Der Kutscher raufte sich fast die Haare. Er hegte immer noch den Verdacht, daß die Mon ihre Patienten eher vergiften würden als sonst etwas. Aber da er selbst kein Mittel gegen die Krankheit kannte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf die Medizinmänner zu verlassen. Ein bißchen von dem geheimnisvollen Gebräu probierte er ebenfalls. Daß es entfernt nach andalusischem Wein schmeckte, machte es in seinen Augen noch verdächtiger.
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Daß es den Kranken nach dem Kräutertrank besser ging, war allerdings nicht zu übersehen. Zudem schleiften ein paar Mon-Krieger den birmanischen Gefangenen heran und ließen ihn übersetzen, daß die Gäste nur einen Wunsch zu äußern brauchten, er würde sofort erfüllt. Old O’Flynns Gedanken gingen in die Richtung einer Muck Rum. Aber damit kam er nicht zum Zuge. Der Kutscher, der jede Gelegenheit nutzte, um seine medizinischen Kenntnisse zu erweitern, belegte den Birmanen sofort mit Beschlag und ließ sich lang und breit erklären, woraus der geheimnisvolle Kräutertrank bestand, und wo man, falls nötig, die Zutaten finden konnte. Die Zwillinge fühlten sich ziemlich überflüssig. Krankenpflege interessierte sie nicht übermäßig. Schließlich wollten sie keine Feldscher werden, sondern Kapitäne, natürlich .mit Kaperbriefen in den Taschen, genau wie ihr Vater. Ganz gut Spanisch konnten sie inzwischen auch schon. Jedenfalls genug, um den Birmanen zu fragen, ob es erlaubt sei, sich ein bißchen in der Stadt umzusehen. Es war erlaubt. Old O’Flynn hatte ebenfalls nichts dagegen, weil er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was den Bengeln zustoßen sollte, solange sie - wie sie hoch und heilig versprachen - innerhalb der Stadt blieben. Wie sehr er sich irrte, begriff er erst viel später. * „Kyan!“ Mit einem langen Sprung hatte der Seewolf den jungen Mon erreicht. Mitten in der Bewegung fing er dessen Gelenk ab, riß ihn herum und stieß ihn ein Stück in die Richtung, aus der im selben Augenblick sein Bruder auftauchte. Der Mongole war gegen das Schanzkleid zurückgewichen. Er begriff sehr wohl, daß sein Leben an einem seidenen Faden hing. Keuchend
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starrte er auf die Szene vor seinen Augen. Auch Kyan atmete schwer. Hasard konnte den jungen Mann verstehen. Der Mongole hatte ihn bis aufs Blut gefoltert, doch selbst das war keine Entschuldigung dafür, einen Wehrlosen niederzumachen. So dachte offenbar auch Yannay. Eisern hielt er seinen Bruder fest. Kyan keuchte. Der Seewolf starrte ihm in die Augen und winkte dabei dem Birmanen zu, dessen Spanischkenntnisse die einzige Möglichkeit boten, sich untereinander zu verständigen. Pak-Sung hatte die Situation bereits erfaßt. „Er will ihn umbringen!“ rief er. „Er will ...“ „Unsinn!“ knurrte der Seewolf. „Er wird keinen Wehrlosen ermorden.“ Der Birmane übersetzte. Kyan biß die Zähne so hart aufeinander, daß seine Kiefermuskeln wie Stränge hervortraten. Yannay ließ seinen Arm los. Und der Mongole, der inzwischen begriffen hatte, daß es ihm doch nicht an den Kragen ging, straffte sich und sagte etwas, das schon wieder sehr arrogant klang. „Er - er sagt, daß Kyan eine feige Ratte sei“, stammelte der Birmane. „Er soll seine Zunge hüten!“ fauchte Yannay, was Pak-Sung ebenfalls übersetzte. Danach entspann sich eine erregte, wütende Diskussion, von der die Seewölfe nichts mitkriegten, da der verschreckte Birmane nur zwischen den Sprachen der Mon und des Mongolen vermittelte. Der Seewolf hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Die Debatte wurde immer heftiger, und als der Birmane endlich wieder ins Spanische übersetzte, war sie bereits bis zu dem Punkt gediehen, da der Mongole den jungen Mon zum Duell forderte. „Völlig verrückt“, stöhnte Hasard. Aber keiner der beiden Kontrahenten ließ sich auch nur im mindesten von seiner Entschlossenheit abbringen. Sie waren Feinde, sie haßten sich -mit einigem Grund, wenn man von Kyans Fall ausging -, und sie wollten es hier und jetzt austragen. Yannay zuckte nur mit den
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Schultern: er war offensichtlich nicht gewillt, seinen Bruder von diesem idiotischen Plan abzubringen. Kyan wollte Genugtuung, wollte sich rächen für die Folter; die er erlitten hatte. Und der Mongole, der ihn ganz bewußt provoziert hatte, sah eine Chance, der drohenden Rahnock zu entgehen und sich seine Freiheit zu erkaufen. Er wollte seinen Gegner nicht töten, nur besiegen und dann benutzen. Er schien völlig sicher zu sein, daß er Kyan mit Leichtigkeit besiegen konnte. Der Seewolf war anderer Ansicht. Er hätte das Duell verhindern können, aber er wußte, daß es Dinge gab, die ausgefochten werden mußten. Er hatte sich dazwischengestellt, als Kyan den wehrlosen Mongolen umbringen wollte. Bei dem Kampf, den sie jetzt auszufechten gedachten, konnte er sich nicht dazwischenstellen. Niemand konnte es. Auch nicht Yannay Ki, der schweigend sein Krummschwert aus dem Gürtel zog und wartete, bis einer der Seewölfe dem Mongolen die Fesseln durchgeschnitten hatte. Blitzend wirbelte die Waffe durch die Luft. Der Mongole fing sie auf und reckte die Schultern. Auch Kyan hatte das Schwert gezogen. Stumm standen sie sich gegenüber, und Hasard befahl beizudrehen, da er wußte, daß ohnehin alle Mann auf den Kampf, statt auf die Segel geachtet hätten. Sekunden später klirrten die mörderischen Krummschwerter gegeneinander. Der Mongole hatte blitzartig angegriffen, ohne Warnung - doch er konnte seinen Gegner nicht überraschen. Kyans Schwert zuckte hoch, fegte die gegnerische Klinge beiseite und holte in einem flirrenden Bogen von neuem aus. Der Mongole sprang zurück. Kyan setzte nach, im selben Augenblick schnellte auch der Pirat wieder vor. Diesmal prallten die gebogenen Klingen so hart zusammen, daß Funken stoben. Auf der Kuhl der „Isabella“ entbrannte ein Kampf, wie er wilder und verbissener nicht hätte sein können.
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Die Männer hielten den Atem an. Kein Wort fiel. Nur das helle, harte Klirren war zu hören, das Keuchen der Kämpfer, das Scharren ihrer Stiefel, der Mongole griff mit wuchtigen, weit ausholenden Hieben an. Kyan war kleiner als er, schlanker, zudem geschwächt von der Folter, aber er wehrte sich bravourös gegen die pausenlosen Attacken. In den dunklen geschlitzten Augen des Mongolen dämmerte Überraschung auf. Seine Bewegungen wurden langsamer, vorsichtiger. Er hatte mit einem Opfer gerechnet, nicht mit einem ernsthaften Gegner - und jetzt begriff er, daß er sich irrte. Ein Wutschrei brach über seine Lippen, als er nicht schnell genug auswich und Kyans Schwertspitze seine linke Schulter ritzte. Blut rann über seinen Arm. Kyan setzte sofort nach, doch da hatte sein Gegner schon wieder die Waffe hochgerissen. Wieder klirrten die Klingen. Der junge Mon taumelte. Unter der Gewalt des von unten geführten Hiebs flog sein Schwertarm hoch, und der Mongole holte aus, um das Opfer zu durchbohren. Nicht schnell genug! Der Seewolf ballte die Hände. Yannay Ki sog scharf die Luft durch die Zähne - doch Kyan fing sich wieder. Blitzartig drehte er sich zur Seite weg, die Faust mit der Waffe sauste nieder. Ein nervenzerfetzendes Klirren - und dem Mongolen wurde das Schwert aus den Fingern gerissen. Hart prallte es auf die Planken und schlidderte gegen das Schanzkleid. Der Mongole schrie erschrocken auf. Keuchend stand er da, wehrlos, mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen. Kyans Hand umklammerte den Griff der Waffe so fest, daß die Knöchel weiß und spitz hervortraten. Eine endlose Sekunde verstrich. Eine Sekunde, in der der Haß in den Augen des jungen Mon erlosch wie ein Feuer, das sich verzehrt hat. Langsam ließ er das Krummschwert sinken. Als er sprach, klang seine Stimme tonlos und rauh. Er hatte sich an den Seewolf
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gewandt, und die Birmane übersetzte die Worte ins Spanische. „Er will sein Schwert nicht mit dem Blut des Kerls besudeln. Es genügt ihm, wenn er sein Gesicht nicht mehr sehen muß.“ „Das braucht er auch nicht“, sagte Hasard trocken. „Der Kerl wird mit seinen Leuten zur Küste pullen. Und zwar in dem Boot, daß da achtern kieloben treibt.“ Kyan nickte nur: Der Mongole, der eben noch vor nackter Todesangst gezittert hatte, atmete auf. Schweißperlen rannen über sein bleiches verzerrtes Gesicht. Aber in den dunklen Augen glomm immer noch Wut, und der Seewolf hatte den Verdacht, daß er diesem Kerl nicht zum letzten Male begegnet war. Er konnte es nicht ändern. Wehrlose umzubringen, war nicht seine Arbeit, also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Burschen ziehen zu lassen. Zwei von ihnen nahmen die winzige Nußschale, in der Bill und Kyan aus der Bucht geflohen waren. Sie schafften es, das kieloben treibende Boot aufzurichten, fischten einen Riemen aus dem Wasser, dann enterten auch ihre Komplicen ab. Hasard sah ihnen nach, während sie wie besessen in Richtung Küste pullten. Der Mongole war der einzige, der es wagte, den Kopf zu heben. Haß und Rachsucht schienen in seinen Augen zu brennen wie ein loderndes Feuer. 4. Um dieselbe Zeit waren die Zwillinge eifrig dabei, die geheimnisvolle Stadt der Mon zu erforschen. Eine prächtige, fremdartige Stadt. Selbst die einfachste Hütte war noch farbenfroh bemalt und mit Schnitzereien verziert. Bunte Amulette baumelten von den Vordächern, in vielen Fenstern hingen kleine Glöckchen, die vermutlich der Abwehr von bösen Geistern dienen sollten und die abenteuerlich steilen Gassen bei jedem Windhauch mit einem feinen Klingen erfüllten. Jeder, dem die Zwillinge begegneten, lächelte ihnen freundlich zu. Nur den Kindern schienen die fremden
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Gäste etwas unheimlich zu sein. Jedenfalls verschwanden sie bei ihrem Anblick meist rasch im Schatten der Hütten, aber Philip und Hasard interessierten sich ohnehin viel mehr für die Krieger mit ihren glänzenden Gewändern und den mächtigen Krummschwertern. In einem umzäunten Geviert, in der Nähe des Seeufers, wurde offenbar exerziert, was die Aufmerksamkeit der Zwillinge für eine Weile fesselte. Das uralte Gemäuer der Festung wollten sie sich ebenfalls noch näher ansehen. Zunächst jedoch gingen sie ein Stück am See entlang, wo an einem hölzernen Steg eine Art Barke dümpelte - ein prächtig ausgestattetes und höchst ungewöhnliches Fahrzeug. An Bord zu gehen, trauten sich die beiden nicht recht. Also blieben sie auf dem Steg stehen, schauten - und dabei hörten sie ganz in der Nähe erregtes Flüstern. Nur ein paar Schritte entfernt begann die grüne, wuchernde Wildnis. Die drei Gestalten, die sich dort im Schatten drängten und die Köpfe zusammensteckten, legten offenbar keinen Wert darauf, gesehen zu werden. Hasard und Philip erkannten zwei ältere, nur mit Turban und Lendentuch bekleidete Mon. Der dritte Mann war ohne Zweifel Birmane. Da ein langer Dolch in seinem Gürtel steckte, konnte er eigentlich kein Gefangener sein. Jetzt nickte er den beiden Mon zu, wandte sich ab und war Sekunden später im Dickicht verschwunden. Hasard junior runzelte die Stirn. Philip junior kratzte sich am Kopf. Sie wechselten einen Blick. Beide fanden es merkwürdig, daß sich ein bewaffneter Birmane hier herumtrieb, da die Birmanen doch die geschworenen Feinde der Mon waren. Und das Verhalten der beiden anderen Männer ließ die Sache noch merkwürdiger erscheinen. Sie fuhren nämlich sichtlich zusammen, als sie das Dickicht verließen und ihr Blick auf die Zwillinge fiel.
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Sekundenlang blieben sie starr stehen. Schrecken flackerte in ihren Augen, dann ein Ausdruck, bei dem Hasard und Philip ziemlich unbehaglich wurde. Dann zuckten die beiden Kerle zum zweiten Male wie ertappte Sünder zusammen, warfen sich herum und verdrückten sich zwischen die Hütten. Ein paar andere Mon waren in der Nähe des Bootsstegs aufgetaucht, wie Hasard junior mit einem Blick erkannte. Freundliche, lächelnde Mon, die das Interesse der beiden Jungen für die Barke bemerkt hatten und ihnen durch Zeichen zu verstehen gaben, daß sie ruhig an Bord gehen könnten. Hasard und Philip strahlten. Den merkwürdigen Zwischenfall mit dem Birmanen hatten sie fast schon wieder vergessen. * Träge glitt die „Isabella“ über den breiten Mündungsarm des Irawadi. Diesmal würde sie sich nicht im Labyrinth des Deltas verirren. Die Mon kannten den Weg. Aber die raten kannten ihn auch und das war ein Punkt, der dem Seewolf Sorge bereitete. Die Kerle des Mongolen hatten schon bei ihrem blitzartigen Angriff auf das Lager der Mon bewiesen, daß sie sich bestens in der Wildnis zurechtfanden. Würden sie jetzt etwas Ähnliches versuchen? Kein angenehmer Gedanke. Auf dem Fluß ließ sich nur schwer manövrieren, und den Piraten waren immer noch vier Schiffe geblieben, deren Übermacht sie in dieser Situation voll würden ausspielen können. Hasard spürte, das Ärger in der Luft lag. Jeden Augenblick erwartete er, ein feindliches Schiff aus einem der Nebenarme hervorschießen zu sehen. Die „Isabella“ war gefechtsklar. Bei dem Kampf vor der Küste hatten die Mon bewiesen, daß sie sich tatsächlich recht gut auf die Seefahrt verstanden, auch wenn sie die fehlenden Männer der Crew natürlich nicht voll ersetzen konnten. Leicht würden es die Piraten jedenfalls nicht haben. Die
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Seewölfe waren entschlossen, ihre Lady notfalls mit Nägeln und Zähnen zu verteidigen. Sie beobachteten die Waldsäume, starrten sich fast die Augen aus - doch dann, als es soweit war, fuhr der Teufel aus einer völlig unerwarteten Richtung aus der Kiste. „Schaumstreifen- voraus!“ meldete Bill aus dem Großmars. Hasard sah es im selben Augenblick: ein dünner weißer Strich, wo sich das träge dahinfließende Wasser des Stroms an einem Hindernis dicht unter der Wasseroberfläche brach, einem Hindernis, das die ganze Breite des Mündungsarms einnahm. Eine Sperre, vielleicht aus versenkten Flußkähnen zusammengesetzt. Bill und Kyan hatten in der Bucht der Piraten eine ganze Menge solcher Fahrzeuge entdeckt. Der Seewolf holte schon Luft, um die Segel bergen und Anker werfen zu lassen, doch er kam nicht dazu. „Mastspitzen achtern aus!“ rief Bill aufgeregt. Eben hatten sie einen schmaleren Seitenarm passiert - und dort schob sich jetzt eine der Piratendschunken in ihr Blickfeld. „Verdammt!“ knirschte Ben Brighton. Der Seewolf sparte sich die Flüche. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er ihre einzige Chance erkannt, und die gedachte er zu nutzen. „Klar zum Halsen!“ schrie er. „Herum mit dem Kahn! Rammkurs, Mister Ballie!“ „Aye, aye, Sir!“ rief der Rudergänger gelassen. „Hopp-Hopp, ihr Rübenschweine!“ brüllte der Profos. „Nicht so müde, oder ich rücke euch die Gräten gerade. Himmelarsch, können diese Turban-Gespenster nicht einen Zahn zulegen, oder muß ich ihnen erst die Haut in Streifen ...“ Noch bevor der Profos seinen Lieblingsspruch zu Ende brachte, lag die „Isabella“ über Backbordbug am Wind und stieß auf die Dschunke zu. Deren Kanonen waren bereits ausgerannt. Es würde mit Sicherheit Kleinholz geben. Aber wenn die Rechnung des Seewolfs
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nicht aufging, stand das ganze Schiff auf dem Spiel, und dagegen nahm sich ein bißchen Kleinholz harmlos aus. An Bord der Piratendschunke wurde ein Befehl gebrüllt. Etwas verfrüht, wie Hasard gerade noch feststellte. Lunten wurden in Pulverpfannen gedrückt und dann entluden sich krachend die feindlichen Geschütze. Die „Isabella“ wandte ihnen den schmalen Bug zu und bot nur wenig Zielfläche. Die Blinde ging zum Teufel, das Schanzkleid wurde angekratzt, das war aber auch schon alles. Jetzt mußten die Kerle da drüben erst einmal nachladen, und das schafften sie bestimmt nicht schnell genug. „Klar zum Wenden“, befahl Hasard. „Wir schicken sie mit einer vollen Breitseite auf Tiefe, laufen aus ihrem Feuerbereich und ankern.“ Genauso geschah es. Die Piraten begriffen zu spät, daß sie einen schweren Fehler begangen hatten. Sie versuchten noch, anzuluven, zu entwischen oder wenigstens die Mündung des Wasserarms für ihre Kumpane zu räumen, doch nichts davon gelang ihnen rechtzeitig, Fast gemächlich schwang die „Isabella“ nach Steuerbord herum, ging über Stag und wandte der Dschunke die offenen Stückpforten der Backbordseite zu. „Feuer!“ befahl der Seewolf. Die Breitseite krachte, und alle acht Kugeln trafen mustergültig genau die feindliche Wasserlinie. Minuten später ragte nur noch das hohe Achterkastell der Dschunke aus dem Wasser. Die „Isabella“ drehte bei und ankerte — genau auf halber Höhe zwischen der gesunkenen Dschunke und der Sperre, die sich die Seewölfe noch nicht genauer angeschaut hatten. Jetzt konnten sie zwar weder vor noch zurück, aber die Piraten konnten auch nicht an sie heran, und das war zunächst einmal die Hauptsache. Falls der Mongole mit seiner Bande versuchen sollte, die „Isabella“ zu entern, würde er eine Überraschung erleben. *
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„Unglaublich!“ seufzte der Kutscher. „Fabelhaft! Wirklich nicht zu fassen!“ Sein verzücktes Gesicht entlockte dem alten O’Flynn ein unwilliges Grummeln. Old Donegal hinkte verbissen auf und ab und brütete vor sich hin. Schön und gut, den Kranken ging es besser. Sie schliefen ruhig, das Fieber war gesunken, alles sprach dafür, daß sich die sechs Männer schnell wieder erholen würden. Old O’Flynn war ja auch ein gewaltiger Stein von der Seele gefallen. Aber mußte der Kutscher deshalb solche Tiraden anstimmen? Hatte er vergessen, daß die „Isabella“ keinen Sonntagsausflug unternahm, sondern unterwegs war, um Bill und diesen Prinzen, den der Henker holen sollte, aus den Händen blutrünstiger Piraten zu befreien? Grimmig stampfte der Alte mit seinem Holzbein auf. „Sie müßten längst hier sein“, knurrte er. „Ich sage dir, da stimmt etwas nicht. Verdammt, wenn ich denke, daß dieses Gesindel vielleicht Bill massakriert hat ...“ „Du spinnst doch!“ fauchte ihn der Kutscher an. „Hör bloß mit der Unkerei auf, sonst drehe ich dir den Kopf nach hinten!“ „Kannst du ja mal versuchen, wenn du scharf darauf bist, daß ich dir mein Holzbein um die Ohren haue. Philip und Hasard könnten sich auch mal wieder blicken lassen. Wenn sie bloß nichts angestellt haben!“ „Was sollen sie denn anstellen, in drei Teufels Namen? Die brauchen schon lange kein Kindermädchen mehr, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.“ „Ha! Erzähl du Kombüsenhengst mir nichts über zwei Bengel, die zur Hälfte O’Flynns sind. Ich habe sieben Söhne großgezogen, hab ich! Sieben, du Kakerlakenjäger, und die hatten es alle faustdick hinter den Ohren!“ Damit war der alte O’Flynn bei einem seiner Lieblingsthemen. Ausgiebig erging er sich in der Schilderung der sieben O’Flynns, die demnach alle wahre Musterknaben
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gewesen waren — dank seiner Erziehung natürlich. Donegal junior schlief und konnte leider nicht hören, wie er über den grünen Klee gelobt wurde. Daß die Zwillinge wieder aufgetaucht waren, bemerkte Old Donegal im Eifer des Gefechts nicht. Philip und Hasard lauschten interessiert und grinsten sich eins, weil sie bei dieser Gelegenheit erfuhren, daß sie als halbe O’Flynns und Söhne des Seewolfs nur zu unübertrefflichen Zierden der menschlichen Gesellschaft heranwachsen konnten. Der Kutscher grinste ebenfalls, vor allem, als Old O’Flynn die beiden „Zierden“ endlich bemerkte und prompt zusammendonnerte. Hasard und Philip trugen es mit Fassung. Sie waren erfüllt von neuen Eindrücken, und die Sorgen ihres Großvaters konnten sie nicht recht teilen. Glaubte der etwa im Ernst, die „Isabella“ werde nicht mit einer lausigen Piratenbande fertig? Philip und Hasard zweifelten keine Sekunde am Erfolg des Unternehmens. Daß etwas schiefgehen konnte, daß vielleicht gar Bill etwas zugestoßen war — das lag ganz einfach außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Ein paar Minuten später vergaß auch Old O’Flynn seine Unkerei. Da nämlich entstand ganz plötzlich Unruhe in der Stadt. Menschen liefen zusammen, erregte Stimmen schnatterten durcheinander. Verstehen konnten die Engländer nichts, doch ihre Gastgeber waren so höflich, sie über den Grund der allgemeinen Aufregung zu unterrichten. Ein Grund, der die Seewölfe nicht weniger anging als die Mon. Späher hatten berichtet, daß aus den Bergen um die Schwarze Pagode eine Armee anrückte. Der birmanische Priester und seine spanischen Freunde waren offenbar entschlossen, die Dschungelfestung anzugreifen und endgültig zu vernichten. 5. Schüsse krachten.
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Die Luft erzitterte vom Geschrei der Angreifer, vom Dröhnen der Kanonen und dem Brechen und Splittern von Holz, wenn die schweren Kugeln ins Dickicht fuhren. Die „Isabella“ hatte sich in eine feuerspuckende Festung verwandelt. Pausenlos griffen die Piraten mit ihren Booten an, doch ebenso wie die Mon mußten sie einsehen, daß sie sich bei diesen Gegnern nur blutige Köpfe holen konnten. Zwei Enterversuche waren abgewiesen worden. Die Mon, allen voran Yannay und Kyan mit ihren mörderischen Krummschwertern, kämpften wie rasende Teufel. Die Seewölfe beförderten in gewohnter Manier jeden Mann, der sich auf die Kuhl schwang, vierkant wieder außenbords. Die meisten Piraten schafften es gar nicht, den Fuß auf die Decksplanken zu setzen. Die Kanonade hatte ihre Scharfschützen an den Ufern längst mattgesetzt. Gleichmäßiges Musketenfeuer hielt die meisten Boote, die noch nicht durchgebrochen waren, gnadenlos auf Distanz. Und am Schanzkleid standen Ferris Tucker und Batuti, schwangen Belegnägel und ließen sie unermüdlich auf die Köpfe derer niedersausen, die entern wollten. Den dritten Versuch unternahmen die Piraten nur noch sehr halbherzig. Der größte Teil ihrer Boote war Kleinholz. Immer wieder klatschte es, wenn ein Mann im hohen. Bogen ins Wasser fiel. Außerdem schwirrten die Musketenkugeln nur so herum, und als dann noch die ersten Flaschenbombe detonierte, wandten sich die Angreifer zur Flucht und pullten oder schwammen eiligst in Richtung Ufer. Dort zerrten sie ihre Boote mit und verschwanden wie ein Spuk im Sumpfland. Nur noch das Plätschern des Wassers und das Knacken von Ästen verrieten die Richtung des Rückzugs. Der Seewolf spähte und lauschte angespannt, bis er ungefähr wußte, wo die Kerle sich wieder sammelten. Fürs erste hatten sie wohl genug damit zu tun, ihre Wunden zu lecken.
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Endgültig aufgeben würden sie aber sicher nicht. Der Mongole wollte seine Rache, und Hasard kannte Männer dieses Schlages und wußten, daß sie sich bis zum Wahnwitz in eine Sache verrennen konnten. „Und jetzt?“ fragte Ben Brighton nüchtern. Hasard zuckte mit den Schultern. „Wir können hier nicht überwintern, Ben, also müssen wir die verdammte Sperre da wegräumen. Ich nehme an, daß wir das mit einem Warpanker schaffen.“ „Und wenn die Piraten die Männer wegputzen, die den Anker ausbringen?“ gab der Bootsmann zu bedenken. „Oder einfach hinpullen und die Trosse kappen?“ „Die Piraten lenken wir ab, und zwar mit einem Land-Unternehmen. Du übernimmst das Kommando, Ben. Macht es schön geheimnisvoll, laßt meinetwegen irgendwo eine Pulverladung hochgehen, um die Kerle vom Ufer wegzulocken, aber geht kein überflüssiges Risiko ein. Wenn wir mit der Sperre klargekommen sind, rufen wir euch durch einen Signalschuß zurück.“ „Aye, aye“, sagte Ben Brighton nur. Mit Pak-Sungs Hilfe wurde der. Plan den Mon auseinandergesetzt. Sofort- meldeten sie sich ausnahmslos, um mit an Land zu gehen. Hasard war es recht. Die Mon kannten die Wildnis, sie würden eine wertvolle Hilfe sein. Die Boote wurden bemannt, und wenig später pullte der Stoßtrupp bereits in Richtung Ufer. Drei Mann kehrten zurück, weil Hasard nicht riskieren wollte, die Fahrzeuge dort liegenzulassen. Der Rest des Trupps verschwand eilig im Dickicht. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet und verstanden zu kämpfen, aber ganz wohl war dem Seewolf doch nicht bei dem Gedanken, daß sie in dem unwegsamen Sumpf mit den Piraten aneinandergeraten würden. Die ließen sich nicht blicken. Auch als zehn Minuten später in der Tiefe der Wildnis eine Explosion krachte, blieb an den Ufern alles ruhig. Aber der Mongole würde jetzt zweifellos reagieren. Er wußte nicht, was ihn erwartete. Er hatte erfahren, daß die Seewölfe für jede Überraschung gut waren, also mußte er
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sich zumindest überzeugen, daß die Detonation für ihn und seine Leute kein Unheil heraufbeschwor. Die Männer an Bord handelten. Eilig wurde der Warpanker in eins der Boote gefiert. Bill hockte im Großmars und übte sich in Rundum-Sicherung. An den Schanzkleidern standen Musketenschützen bereit, Al Conroy lehnte an einer der Bugdrehbassen. Hasard war sicher, daß die Piraten Späher in Ufernähe zurückgelassen hatten. Aber die sollten vermutlich nur die anderen alarmieren, falls die Seewölfe versuchten, die Sperre auseinanderzunehmen. Und die anderen waren - hoffentlich - im Augenblick beschäftigt. Ferris Tucker und Big Old Shane pullten, Hasard übernahm die Pinne und hatte eine schußbereite Muskete neben sich liegen. Etwa die halbe Distanz schafften. sie unbehelligt. Dann endlich begriffen ihre Gegner, was die Trosse bedeutete, die das Boot nachschleppte, und von einer Sekunde zur anderen wurde es im Dickicht lebendig. Ein Schuß peitschte. Ein Signalschuß offenbar. An Bord der „Isabella“ krachte es ebenfalls. Zwar war kein Ziel zu sehen, aber die Männer wollten verhindern, daß Ben Brighton und die anderen etwa glaubten, die Sache sei schon ausgestanden. Der Seewolf schnappte sich die Muskete und zielte. Deutlich hatte er die schwache Bewegung im Dickicht gesehen, und jetzt glaubte er auch, das Schimmern von Waffenstahl wahrzunehmen. Ruhig drückte er ab. Ein schriller Schrei sagte ihm, daß er getroffen hatte. Ein Stück stromab raschelte es im Gebüsch, als sich jemand erschrocken herumwarf. Prompt fiel von der „Isabella“ ein einzelner Schuß, und wieder zeigte ein Schrei, daß auch der zweite Späher nicht mehr spähen konnte. Der dritte Mann zog sich geräuschvoll ins Dickicht zurück. Unbehelligt erreichte das Boot die Sperre. Versenkte Flußkähne, genau wie Hasard erwartet hatte. Vermutlich waren sie mit
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Steinen gefüllt, um sie an ihrem Platz zu halten, oder untereinander mit einer Trosse verbunden. Der Seewolf zog hastig Stiefel, Hemd und Hose aus. „Belegt den Anker an dem mittleren Boot“, befahl er knapp. „Auf Heckenschützen achten! Ich werde ...“ Er unterbrach sich. Denn im selben Augenblick krachte fernes Musketenfeuer. Ben Brightons Gruppe war mit den Piraten aneinandergeraten. Irgendwo in der unwegsamen Wildnis flogen jetzt die Fetzen, aber es war sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Hasard ließ sich ins Wasser gleiten, holte tief Luft und tauchte. Ein paar Sekunden später sah er, daß die Kähne tatsächlich mit Steinen gefüllt waren, jedenfalls teilweise. Auch seine Vermutung wegen der Trosse erwies sich als richtig. So ähnlich, entsann er sich, hatte jene Sperre ausgesehen, die ihnen einmal auf dem Blackwater in Irland fast zum Verhängnis geworden war, als sie sich zusammen mit Francis Drake im Auftrag der Krone mit aufständischen Iren herumgeschlagen hatten. Nur waren die Iren gründlicher gewesen - was daran liegen mochte, daß es hier im Delta zu wenig Steine gab. Sobald die Trosse gekappt war, würde es nach Ansicht des Seewolfs keine Schwierigkeit mehr sein, einen der Kähne aus dem Verband zu zerren. Hasard schwamm zur Oberfläche, holte Luft, tauchte wieder und begann, die Trosse mit dem Entermesser zu bearbeiten. Viermal mußte er zwischendurch nach oben, um sich die Lungen voll Luft zu pumpen. Beim zweiten Male paddelte auch Ferris Tucker im Wasser, um den Anker festzuzurren. Hasard säbelte verbissen an der Trosse herum und hätte beinahe Wasser geschluckt, weil er unwillkürlich aufatmen wollte, als er es geschafft hatte. Als er auftauchte, wurde an Land immer noch geschossen. Etwas näher jetzt, wenn er sich nicht täuschte. Und damit stand fest, daß sie sich höllisch beeilen mußten. *
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Um dieselbe Zeit stand Aikiba, Priester und Schamane von eigenen Gnaden, im Schatten der Schwarzen Pagode und starrte nach Süden, wo er seine Streitmacht im Anmarsch auf die Dschungelfestung der Mon wußte. Groß und düster ragte das unheimliche Bauwerk hinter dem Birmanen auf, krönte den Berg und gestattete, im Westen bis auf das blaue Wasser des Golfs von Bengalen zu sehen. In dem Tal im Osten drängten sich die Hütten eines birmanischen Dorfes. Armselige Hütten, denn die Bewohner verbrachten den größten Teil ihrer Zeit damit, für den Schwarzen Priester zu schuften, der sie terrorisierte und in abergläubischer Furcht hielt. Die Waffen und das Schwarzpulver der versprengten Spanier halfen ihm dabei. Auch die Dons — fünf an der Zahl — hatten sehr schnell die Vorteile erkannt, die sich aus der Zusammenarbeit mit dem gerissenen Birmanen ergaben. Der glaubte so wenig wie sie selber an den finsteren Dämonengott, mit dessen angeblichen Befehlen er seine Anhänger unter der Knute hielt. Aikiba wollte Macht. Reichtum ebenfalls, aber vor allem Macht. Da es sich bei den Spaniern genau umgekehrt verhielt, ergab sich eine gut funktionierende Partnerschaft zum beiderseitigen Nutz und Frommen. Die Spanier brachten ihre Kenntnisse ein und verhalten Aikiba dazu, sich den verschreckten Birmanen immer wieder als großer Magier zu präsentieren, bis sie den Feldzug gegen die Mon für ihre heilige Pflicht hielten. Dafür war der schwarze Priester bereit, seinen Verbündeten einen Anteil an dem legendären Schatz der Mon zuzugestehen und ihnen zu helfen, wieder ein Schiff zu erbeuten. Zweimal war der Angriff auf die Mon in ihrer Dschungelfestung schon schiefgegangen. Aber diesmal hatte Aikiba ihn besser vorbereitet. Er hatte Spitzel ausgeschickt und es geschafft, zwei verräterische MonKrieger als Spione zu gewinnen. Der Sieg war so gut wie sicher. Seine Streitmacht
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würde im Triumph zurückkehren, und das Schicksal der Gefangenen, falls es welche gab, würde sich als Opfer für den zürnenden Dämon erfüllen. Immer noch starrte der Schwarze Priester nach Süden. Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem teuflischen Lächeln. * „Zieh die Rübe ein, du Stint!“ grollte Edwin Carberry. „Selber Stint!“ fauchte Matt Davies, während vor ihm eine Muskete krachte und die Kugel durch das Blattwerk des Dickichts fetzte. Blitzartig richtete sich der blonde Stenmark hinter dem toten Baumstamm auf, schoß auf das Mündungsfeuer und grinste zufrieden, als er den gellenden Schrei hörte. Links von ihnen schimmerte ein dunkler Wasserarm. Den mußten die Piraten überqueren, wenn sie dem Signal folgen wollten, das ein Späher ihnen offenbar aus der Richtung der „Isabella“ gegeben hatte. Das wäre an und für sich nicht schwierig gewesen, da der Wasserarm seicht war und durchwatet werden konnte. Aber jedem der Kerle, der auch nur die Nasenspitze aus dem Dickicht steckte, wurde sie fast versengt, und zu einem heldenhaften Durchbruch konnten sie sich nicht entschließen. Stattdessen hatten sie sich zurückgezogen, um eine seichte Stelle außerhalb des Blickfeldes ihrer Gegner zu finden. Ergebnislos. Denn die Seewölfe und die Mon rückten unverdrossen nach, und dabei ließen sie sich auch nicht von den Kerlen aufhalten, die der Mongole als Nachhut zurückließ. Die erste Gruppe hatte sich durch Lärm verraten und war von den wütenden Mon auseinandergenommen worden. Der zweite Versuch endete mit einer kurzen, heftigen Schießerei zwischen der Nachhut und den Verfolgern. Der Mongole hatte die Chance nutzen wollen und ein halbes Dutzend Männer gleichzeitig ins
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Wasser gescheucht. Doch da existierte schon keine Nachhut mehr, und die Männer liefen in einen Kugelhagel. Im Augenblick wurde auf beiden Seiten Störfeuer geschossen. Blacky gähnte, weil ihm die Sache allmählich zu langweilig wurde. Die Mon starrten aus glühenden Augen in den Schatten hinüber und brannten offenbar darauf, sich endlich in den Kampf Mann gegen Mann zu stürzen. Aber das Kommando hatte Ben Brighton, und der hielt sich an die Anweisung des Seewolfs, unnötige Risiken zu vermeiden. Allerdings stand zu befürchten, daß es mit der Ruhe bald vorbei sein würde. Auch dem Mongolen mußte allmählich aufgehen, daß sich seine Gegner auf hinhaltenden Widerstand eingestellt hatten. Daß die „Isabella“ unterdessen versuchen würde, sich aus der Falle zu befreien, war nicht schwer zu erraten. Die wenigen Schüsse, die aus der Richtung der Galeone gefallen waren, hatten Ben Brighton und den anderen gezeigt, daß ein paar von den Piraten als Späher am Ufer zurückgeblieben waren. Mindestens einer der Schüsse, vermutlich der erste, war ein Signal gewesen. Jetzt tat sich nichts mehr, und der Mongole konnte sich an den Fingern abzählen, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. „Möchte wissen, wann dieser dämliche Hund endlich kapiert, daß er angreifen muß“, brummte Blacky. „Nie!“ prophezeite Ed Carberry. „Der Affenarsch ist doch zu blöd, um ...“ Er verstummte. Dünn und fern, aber deutlich, klang aus der Richtung der „Isabella“ ein Schuß herüber. Da keine weiteren folgten, mußte es der vereinbarte Signalschuß sein. „Scheiße“, sagte Blacky erbittert. Nicht weil es ihm mißfiel, daß ihre Kameraden Offenbar die Sperre geknackt hatten; sondern weil ihm jetzt die Chance entging, mit den Männern des Mongolen noch einmal so richtig herzhaft Ball zu spielen. Ben Brighton warf ihm einen Blick zu und schüttelte mißbilligend den Kopf.
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„Abmarsch!“ befahl er halblaut. „Wir ziehen uns ungefähr hundert Schritte: zurück, überqueren den Wasserarm und marschieren zu unserer Lady. Wer auch nur laut atmet, kriegt von mir persönlich die Haut vom Hintern gezogen, damit das klar ist.“ 6. Mit dem Mut der Verzweiflung bereiteten sich die Mon auf die Verteidigung ihrer Stadt vor. Oder nein: nicht der Stadt, denn die ließ sich gegen die Übermacht unmöglich halten. Aber die weitläufige Festung auf dem Hügel war eine ‚starke Fluchtburg. Notfalls konnte man sie sogar noch durch einen unterirdischen Gang verlassen. Die Mon ahnten nicht, daß sich diese Tatsache gegen sie wenden würde, weil zwei Verräter unter ihnen waren, Verräter, die im Augenblick um ihre Haut zitterten, weil sie sich von den Zwillingen durchschaut fühlten. Philip und Hasard dagegen maßen ihrer Beobachtung keine besondere Bedeutung bei. Wiedererkannt hätten sie die beiden Mon ohnehin nicht. Ändern ließ sich ihrer Meinung nach jetzt auch nichts mehr. Zwar waren sie entschlossen, den Mon bei der nächsten Gelegenheit mitzuteilen, daß sie wahrscheinlich zwei Spione unter sich hatten, aber das eilte nicht, und im Moment herrschte ohnehin zu viel allgemeine Aufregung, als daß sich die Gelegenheit ergeben hätte. Mon-Krieger mit Tragen erschienen, um die kranken Engländer ebenfalls in den Palast zu schaffen. Smoky konnte schon wieder auf den eigenen Beinen stehen. Dan O’Flynn versuchte es ebenfalls und fluchte das Blaue vom Himmel, weil er sich auf den Kutscher stützen mußte. Die anderen waren zwar bei Bewußtsein, aber viel zu schwach, um aufzustehen. Selbst die Flüche, die sie von sich gaben, ließen den gewohnten Schwung vermissen.
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Old O’Flynn dagegen lief zu großer Form auf, während er mühsam mit seinen Krücken bergan humpelte. Die Zwillinge bildeten den Schluß und lauschten hingerissen den Mutmaßungen, die ihrem Großvater über die Abstammung der birmanischen Angreifer einfielen. Daß sie Enkel verlauster Hurenböcke und triefäugiger Gewitterziegen seien, war noch der mildeste Ausdruck. Philip und Hasard grinsten sich an und versuchten, nicht daran zu denken, daß die anrückende Streitmacht im Grunde überhaupt nicht lustig war. Die offensichtliche Furcht in den Gesichtern der Mon, die sich auf den steilen Gassen drängten, wirkte auch nicht gerade beruhigend. Ganze Völkerscharen strebten der Festung zu und überholten die Gruppe mit den Kranken, die nur langsam vorwärts gelangte. Hasard junior hatte plötzlich den breiten Rücken eines Burschen mit Turban und Lendentuch vor sich. Der Kerl wurde langsamer, und zu Hasards Linken tauchte ein weiterer Mann auf. Der Junge fühlte sich abgedrängt. Zuerst hielt er es für Zufall und die beiden Mon für betrunken. Dann begriff er die Absicht, holte Luft zu einem Alarmschrei, aber da war es bereits zu spät. Blitzartig preßte sich eine Hand auf seinen Mund, Fäuste zerrten ihn in die Lücke zwischen zwei Hütten. Im selben Augenblick drehte sich der kleine Philip um. Er sah zwischen den Gebäuden nur noch schattenhafte Bewegung und einen Zipfel von Hasards Hosenbein. In der Meinung, daß sein Bruder etwas interessantes entdeckt habe, lief Philip ein paar Schritte zurück — und damit genau in die Falle. Er sah nur noch einen Schatten. Dem verräterischen Mon machte es nicht das geringste aus, einen zehnjährigen Jungen bewußtlos zu schlagen. Für die beiden Kerle ging es nämlich um den Kopf. Absetzen wollten sie sich ohnehin. Aber sie mußten wissen, ob die Zwillinge ihre Beobachtung weitergegeben hatten. War das nämlich der Fall, würden die Mon
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ganz sicher den unterirdischen Zugang zu ihrer Festung sperren. Dann konnte es sein, daß auch dieser Angriff der Birmanen zurückgeschlagen wurde, und das hieß für die beiden Mon, sich am besten in ein Mauseloch zu verkriechen und nie mehr aufzutauchen, weil auf keiner Seite mehr Weizen für sie blühte. Das alles konnte der kleine Hasard nicht wissen. Er sah nur, daß sein Bruder einen Schlag auf den Kopf erhielt und offenbar weder ihr Großvater noch sonst jemand den Zwischenfall bemerkte. Wütend trat der Junge nach hinten aus, stieß den Ellenbogen in den Bauch seines Gegners und biß gleichzeitig herzhaft in die Hand, die sich auf seinen Mund preßte. Der Mon schrie überrascht auf. Hasard ließ sich zusammensacken, um den Griff zu sprengen. Er schaffte es auch, aber da war schon der zweite Mann heran und holte mit der Faust aus. Hasard juniors letzte bewußte Wahrnehmung war ein bunter, schillernder Funkenregen, der es durchaus mit dem schönsten chinesischen Feuerwerk aufnehmen konnte. * Die Sperre existierte nicht mehr. Philip Hasard Killigrew stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und beobachtete die drei Boote, die von je einem Mann zum Ufer gepullt wurden. Irgendwo an Land war in rascher Folge ein Dutzend Musketenschüsse gefallen. Seither herrschte Stille. Der Seewolf vermutete, daß die Piraten aus purer Wut in die Landschaft geballert hatten, als sie erkannten, daß sich ihre Gegner absetzten. Die Männer an Bord starrten gebannt auf die grüne Wand des Dickichts. Was an Land geschehen war, konnten sie sich ungefähr vorstellen. Ständiger Schußwechsel, ein hinhaltendes Geplänkel — damit hatte der Stoßtrupp aus Seewölfen und Mon die Kräfte des Gegners gebunden und verhindert, daß die Piraten das Manöver der „Isabella“ störten.
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Aber die Männer an Bord wußten auch, daß bei so einem Geplänkel der eine oder andere Schuß auch mal traf, selbst wenn er von dreimal verdammtem Piratengesindel abgefeuert wurde. Hatte es Verletzte gegeben? Tote? Das Warten zerrte an den Nerven, und die Zeit schien sich endlos zu dehnen, bis querab im Dickicht Bewegung entstand. Minuten später atmete der Seewolf erleichtert auf. Die Gruppe war vollzählig. Zwei Mon hatten Verletzungen davongetragen und wurden von ihren Kameraden gestützt, aber solange sie nicht getragen werden mußten, konnte es nicht so schlimm sein. Hastig gingen die Männer in die Boote, pullten zur „Isabella“ und enterten an der Jakobsleiter auf. „Hoch mit den Booten!“ befahl der Seewolf. „Klar zum Ankerhieven! Alle Mann auf Stationen!“ „Hurtig, ihr Himmelhunde!“ brüllte der Profos, der schon wieder in voller Aktion war, kaum daß er sich auf die Kuhl geschwungen hatte. „Ihr denkt wohl, die Äppelkähne kriegen Flügel und schweben an Bord, was, wie? Smoky, du Rübenschwein ...“ „Wahrschau!“ schrie Bill aus dem Großmars. „Piraten Steuerbord querab.“ „Sperrfeuer auf das Ufer! Hievt den Anker!“ Musketen begannen zu krachen. Die Piratenhorde brach mit Gebrüll aus dem Dickicht — und zog sich mit noch lauterem Gebrüll wieder zurück. Im Schatten zwischen Buschwerk und Lianen blitzte es ein paarmal auf. Aber das waren ungezielte Schüsse, und Sekunden später wagte keiner der Angreifer mehr, auch nur den Kopf zu heben. „Aus dem Grund!“ erklang Ferris Tuckers Donnerstimme vom Ankerspill. „Heißt Fock und Besan!“ befahl Hasard knapp, und im nächsten Augenblick blähte bereits der Wind das Segeltuch. „Die „Isabella“ nahm Fahrt auf. Raumschots glitt sie auf die Reste der Sperre zu. Ein paar Sekunden der Ungewißheit verstrichen. Ganz leicht
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kratzte es am Kiel, beinahe wie ein schüchternes Anklopfen. Dann hatte die Galeone die kritische Stelle passiert, und die Männer an Bord quittierten es mit lautem Jubel. Ihr donnerndes „Arwenack“ war das letzte, was die Piraten in ihren Deckungen hörten. * „Himmel - Kreuz - Donnerkiel – und Wolkenbruch noch eins!“ knirschte der Kutscher. „Das gibt’s doch nicht!“ grollte Old O’Flynn. „Denen haue ich mein Holzbein um die Ohren, daß es nur so rappelt! Diesen Satansbengeln werde ich den Hintern mit dem Tauende tätowieren, bis sie ...“ „Jetzt halt mal die Luft an, Dad!“ meldete sich Donegal Daniel junior mit ziemlich schwacher Stimme. „Du glaubst doch selbst nicht daß sich Hasard und Philip in so einer Situation einen schlechten Scherz oder irgendwelche Eskapaden erlauben.“ „Was denn sonst, zum Teufel? Ausgerückt sind sie! Wahrscheinlich wollen sie ihre vorwitzigen Nasen ...“ „Nein!“ mischte sich Smoky ein. „Garantiert nicht! Da wette ich ein Faß Rum gegen einen stinkenden Stiefel.“ „Und was sonst?“ beharrte Old Donegal. „Das frage ich mich auch“, murmelte Dan. Er kauerte auf einer der Bastmatten in dem großen hellen Raum innerhalb der Festung, den man ihnen zugewiesen hatte. Sein Gesicht war bleich, nicht nur wegen des eben überstandenen Fiebers. „Irgendetwas stimmt da nicht“, wiederholte er. „Die Zwillinge sind keine Säuglinge mehr, die wissen, wann sie sich mal eine Extratour erlauben können und wann nicht. Wir müssen sie suchen.“ „Das sowieso“, knurrte der alte O’Flynn. „Verdammt, ich kapiere einfach nicht, wie sie ...“ „Das ist doch jetzt scheißegal“, sagte Smoky grob. „Wir gehen erst mal den Weg zurück, den wir gekommen sind, und ...“ „Wir?“ echote der Kutscher mit hochgezogenen Brauen.
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„Heiliges Kanonenrohr! Hast du vielleicht gedacht, ich haue mich in die Koje, Mann? Die verdammten Birmanen sind keine paar Meilen mehr entfernt, wenn ich das richtig mitgekriegt habe, also müssen wir uns höllisch beeilen. Dan, glaubst du, daß du inzwischen ein paar von den TurbanGespenstern auftreiben kannst und den Kerl, der Spanisch spricht?“ „Klar“, erwiderte Dan. Dabei erhob er sich bereits von der Bastmatte. Etwas schwankend und mit ziemlich zittrigen Knien, wie jeder sehen konnte. Aber das spielte im Augenblick nur eine Nebenrolle. Smoky, Old O’Flynn und der Kutscher strebten dem Ausgang der Festung zu. Der war inzwischen verriegelt und verrammelt worden. Mon-Krieger bewachten ihn. Sie wollten ihre Gäste in bester Absicht zurückhalten. Natürlich verstanden sie auch nicht, was die ihnen erklärten. Aber der Gesichtsausdruck der drei Seewölfe ließ die Mon auch ohne Worte begreifen, daß sie genauso gut hätten versuchen können, einen Wirbelsturm aufzuhalten. Smoky und der Kutscher rammten mit vereinten Kräften den Riegel auf. Die Stadt der Mon lag verlassen im letzten Licht der Abendsonne. Kein Mensch war zu sehen, nichts rührte sich zwischen den leeren Häusern, die mit ihrem Schnitzwerk und den leuchtenden Farben jetzt etwas seltsam Unwirkliches hatten. „Hasard!“ brüllte Smoky mit voller Lungenkraft. „Philip!“ Die anderen stimmten ein. Wieder und wieder riefen sie die Namen der Zwillinge, während sie langsam die steile Gasse hinunterstiegen. Diese Namen kannten offenbar auch einige von den Mon. Oder aber es war Dan O’Flynn schneller als erwartet gelungen, den spanisch sprechenden Gefangenen aufzutreiben. Jedenfalls schwärmte ein Trupp von Kriegern aus der Festung, und de Männer begannen, systematisch die Stadt zu durchsuchen. Ein paar Minuten später stieß Dan O’Flynn dazu, obwohl er sichtliche Schwierigkeiten
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hatte, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Den Gefangenen hatte er mitgeschleift. Und der war es wenig später, der die Erklärung lieferte, als oben auf dem Hügel plötzlich erregtes Geschrei ertönte. Die Seewölfe wollten schon aufatmen, weil sie glaubten, die Zwillinge seien gefunden worden. Aber dem war nicht so. Die Birmanen rückten an. Sie standen jenseits des Hügels und begannen, die Stadt zu umzingeln. Und das hieß, daß sich die Verteidiger schleunigst wieder in die Festung zurückziehen mußten. Smoky, der Kutscher und die beiden O’Flynns sahen sich an. „Verdammt!“ knirschte Dan. „Wie können doch nicht ohne Hasard und Philip ...“ Weiter gelangte er nicht. Denn im selben Augenblick gab es irgendwo in der Tiefe der Festung eine schmetternde Explosion, und von einer Sekunde zur anderen brach die Hölle los. 7. Philip junior erwachte mit dem Gefühl, unter einer Steinlawine begraben zu sein. Ringsum roch es nach fauligem Wasser. Außerdem drückte etwas gegen seinen Bauch, das er Sekunden später als Ducht eines Bootes identifizierte. Nach ein paar weiteren Sekunden begriff er, daß er nicht unter einer Steinlawine, sondern nur unter seinem Bruder Hasard lag. Demnach konnte ihm auch kein Stein auf den Kopf gefallen sein. Schlagartig fiel ihm wieder ein, welchem Umstand er den gewaltigen Brummschädel verdankte. Er fuhr hoch wie ein Kastenteufel. Hasard junior wurde dabei zur Seite befördert, das Boot schaukelte, jemand fluchte in einer fremden Sprache. Philip fühlte sich im Genick gepackt und energisch auf die Ducht zurückgedrückt. Genauso erging es seinem Bruder, der im nächsten Moment ebenfalls aufspringen wollte. „Nimm die Pfoten weg, du Sohn einer syrischen Wanderhure!“ fauchte Hasard junior.
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Die beiden Mon, die das Boot durch den Sumpf stakten, beeindruckte das überhaupt nicht. Sie verstanden weder Englisch noch Spanisch noch Türkisch, als störte es sie nicht, der Reihe nach als Nachkommen Londoner Kanalratten, kastilischer Ziegenböcke und - etwas unlogisch levantinischer Eunuchen bezeichnet zu werden. Die Zwillinge fühlten sich jedenfalls besser, als sie sämtliche ihnen bekannten Flüche dreier Sprachen durchhatten. Sie sahen sich an, warfen einen langen Blick auf die Umgebung, sahen sich wieder an. Daß sie sich ziemlich weit von der Stadt der Mon entfernt hatten, war nicht schwer zu erraten. Ihre Entführer erkannten sie inzwischen als die beiden Mon wieder, die sie zusammen mit dem bewaffneten Birmanen gesehen hatten. Verdammte Verräter, ganz klar! Nur der Grund für die Entführung blieb noch etwas schleierhaft. Hasard junior kratzte sich am Kopf. „Die spinnen doch“, meinte er. „Was wollen die Affenärsche?“ „Vielleicht wissen, ob wir die Sache mit dem Birmanen jemandem erzählt haben“, schlug Philip vor. „Quark! Da müßten sie erst mal englisch lernen, damit sie überhaupt fragen können, oder?“ „Na und? Vielleicht schippern sie gerade deshalb durch die Gegend. Könnte doch sein, daß sie zu dem anderen Rübenschwein wollen, dem Birmanen, weil der Spanisch spricht.“ Das leuchtete Hasard junior ein. Für eine Weile versanken die Zwillinge in Schweigen. Die beiden Mon kümmerten sich nicht um sie und versuchten auch nicht, sie an ihrer Unterhaltung zu hindern. Nicht einmal im Traum wären sie darauf verfallen, von zwei zehnjährigen Jungen irgendeine Gefahr zu erwarten. Aber sie kannten ja auch die Sippen der Killigrews und O’Flynns nicht. „Wir schmeißen sie ins Wasser und hauen ihnen die Riemen auf den Kopf“, schlug Philip vor.
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„Das sind keine Riemen, du Dussel“, sagte Hasard. „Jedenfalls sind sie aus Holz, und man kann damit auf Köpfe hauen.“ Philip legte eine Pause ein und peilte aus den Augenwinkeln erst nach vorn und dann nach achtern, wo die beiden Mon eilig das Boot weiterstakten. „Ist aber riskant“, meinte er in weiser Selbsterkenntnis. ..Hm! Müssen wir es eben mit Trick und Falle hinkriegen. Also paß auf, du fängst jetzt erst mal an zu jammern ...“ „Ich jammere nicht“, erklärte Philip mit Würde. „Du jammerst! Dabei krümmst du dich zusammen, als ob du gleich sterben würdest. Einer von den Kerlen läßt dann den Riemen los und beugt sich über dich. Wenn ich Jetzt’ sage, knallst du ihm den Kopf unter das Kinn, und ich beiße den anderen ins Bein. Dabei werden sie das Boot umkippen, klar?“ „Klar. Und wir verschwinden.“ „Genau“, sagte Hasard junior. „Also los! Fang an zu jammern.“ Philip jammerte. Das tat er so herzzerreißend, daß die beiden Mon erschrocken zusammenzuckten. Philip stöhnte, ächzte, rutschte von der Ducht und krümmte sich. Daß er dabei die Beine anzog und die Zehen gegen die Planken stemmte, wußte er geschickt zu verbergen. Hasard rutschte ebenfalls von der Ducht, rang die Hände und begann, im Tonfall eines orientalischen Klageweibs alle Heiligen anzurufen. Die beiden Mon starrten verblüfft auf das Bild des heulenden Elends. Sie waren keine Unmenschen. Deshalb geschah genau das, was Hasard junior vorausgesagt hatte: der Mann auf der vorderen Ducht ließ das fremdartige Stechpaddel los und beugte sich über den stöhnenden Jungen. Hasard wandte sich um und streckte dem zweiten Mon flehend die Hände entgegen. Der mußte den Eindruck kriegen, das arme Kind wolle sich ihm zu Füßen werfen. Das wollte das „arme Kind“ auch - nur zu einem völlig anderen Zweck, als der Mon sich träumen ließ.
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„Jetzt!“ zischte Hasard. Und in der nächsten Sekunde hatten die beiden Kerle das Gefühl, daß sie nicht zwei Kinder, sondern des Leibhaftigen talentierteste Unterteufel entführt hatten. Philip junior schnellte hoch wie eine geschmeidige Stahlfeder. Sein Schädel, schwungvoll von unten gegen das Kinn des Mon gerammt, konnte es durchaus mit einer mittleren Männerfaust aufnehmen. Hasard schlug seine Zähne in eine nackte braune Wade. Und wenn ein von der sprichwörtlichen Natter gebissener Mann aufzuspringen pflegt, dann tat das ein von Hasard Killigrew junior gebissener Mann schon lange. Philips Kopfstoß beförderte Mon Nummer eins außenbords. Mon Nummer zwei schwankte, schlug mit den Armen und kippte ebenfalls, da sich Hasard junior gegen seine Knie warf. Das Boot kippte natürlich auch. Aber da die Zwillinge auf das kühle Bad vorbereitet waren, hockten sie in Nullkommanichts wieder auf der Außenbeplankung und fischten nach den Riemen. Mon Nummer eins ging erst mal unter. Mon Nummer zwei tauchte auf, schüttelte sich verwirrt und wurde noch verwirrter, als es plötzlich von allen Seiten Prügel regnete. Im selben Augenblick durchstieß der Kopf seines halb ersoffenen Kumpanen die Wasserfläche. Der konnte noch nicht wieder denken, klammerte sich blindlings an dem anderen fest, und für den Augenblick waren beide vollauf mit sich selbst beschäftigt. „Weg!“ zischte Hasard junior, der erkannte, daß sie sich wohl etwas viel zugemutet hatten, als sie beschlossen, ihre Gegner bewußtlos zu schlagen. „Aber die Riemen klauen wir ihnen!“ fauchte Philip während er sich bereits herumwarf. Von dem wild schaukelnden Boot erreichten sie mit einem Sprung einen dicken Ast, der halb über den Wasserarm ragte. Als die beiden nassen, völlig überrumpelten Mon nach einer Weile
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wieder denken konnten, war von ihren Gefangenen nichts mehr zu sehen. * Die birmanischen Angreifer waren schon mitten in der Festung, bevor die Mon überhaupt begriffen, daß ihre Gegner durch den unterirdischen Gang eingedrungen waren und eine Reihe von Sprengladungen gezündet hatten. Die Hauptstreitmacht hatte die Stadt umzingelt und rückte von allen Seiten vor. Eine mörderische Zange schloß sich. Smoky, dem Kutscher und den beiden O’Flynns blieb nichts anderes übrig, als sich eilig in Richtung auf die Festung zurückzuziehen. Daß die bereits geknackt war, begriffen sie sogar etwas schneller als die Mon. Aber die Seewölfe mußten sich um ihre Kameraden kümmern. Gemeinsam konnten sie dann vielleicht einen Ausbruch unternehmen und weiter nach den Zwillingen suchen. Das stieß jedenfalls Old O’Flynn durch die Zähne, und niemand gestand sich ein, wie gering die Erfolgsaussichten waren. Noch stand das Tor offen. Als die letzten Mon die Festung erreichten, wurde es wieder geschlossen. Die Wächter wußten noch nicht, daß das längst sinnlos geworden war. Das alte Gemäuer hallte von Kampflärm, Waffenklirren und Geschrei wider. Keuchend stürmten die vier Seewölfe durch die Gänge, bis sie die reichverzierte Tür erreichten, hinter der sie die hilflosen Kranken wußten. Da sie in den Raum stürmten, ohne anzuklopfen, wurden sie von den „hilflosen Kranken“ fast massakriert. Die hatten sich nämlich inzwischen aufgerappelt und bewaffnet. Kampflärm war für sie schon immer eine gute Medizin gewesen. Jeff Bowie, Bob Grey und Will Thorne lehnten an den Wänden. Gary Andrews, den es am schlimmsten erwischt hatte, konnte nur sitzen. Aber er saß unmittelbar neben der Tür, streckte seine langen Beine in den Weg und sorgte dafür,
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daß jeder Eindringling zunächst einmal stolperte. Smoky vollzog eine Bauchlandung, Old O’Flynn fiel auf ihn, Dan und der Kutscher konnten so gerade eben das Gleichgewicht halten. Was in den nächsten Minuten an Flüchen laut wurde, hätte bestimmt den Teufel in der Hölle erröten lassen. „Raus hier!“ unterbrach Dan die Schimpferei. „Philip und Hasard stecken irgendwo im Schlamassel! Wahrscheinlich werden sie davon ausgehen, daß wir versuchen, ein Boot zu klauen, also brechen wir zum See durch. Bob, Will, ihr müßt Gary stützen.“ Noch einmal erklangen lästerliche Flüche, bis Gary Andrews eingesehen hatte, daß er tatsächlich eine Stütze brauchte. Dan und Smoky übernahmen die Spitze, Old O’Flynn humpelten verbissen hinter Gary, Bob und Will her, Jeff Bowie und der Kutscher folgten als Nachhut. Sie waren finster entschlossen, jeden Birmanen, dem sie begegneten, zu Haferbrei zu verarbeiten. Aber angesichts einer mittleren Armee hatten sie sich dabei ein bißchen zu viel vorgenommen. Als sie um die nächste Ecke bogen, strömten ihnen die birmanischen Angreifer wie eine Flutwelle entgegen. Jemand schrie einen Befehl. Die Fronten prallten aufeinander. Wäre der Gang ein bißchen schmaler gewesen, hätte die kleine Gruppe vielleicht eine Chance gehabt, sich kämpfend zurückzuziehen. So gelangte ein Dutzend Angreifer in ihren Rücken, und den Seewölfen blieb kaum noch die Zeit, sich darüber zu wundern, daß sie nicht durchbohrt, sondern nur mit Knüppeln und flachen Klingen niedergeschlagen wurden. * Das Krachen der Explosionen trug weit genug über das Delta, um auch auf der „Isabella“ gehört zu werden. Der Seewolf knurrte erbittert. Neben ihm hielt Yannay Ki den Atem an, und sein Gesicht versteinerte. Was er dachte, war klar. Die Mon hatten weder Schußwaffen
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noch Schwarzpulver. Das gab es nur bei den Birmanen, die es den versprengten Spaniern verdankten. Noch vor Minuten hatte sich Hasard erklären lassen, daß sie die Dschungelfestung bald erreichen würden. Hoffentlich nicht zu spät! Die Mon hatten versucht, die „Isabella“ auszuplündern, weil sie verzweifelt Waffen brauchten, und die brauchten sie, weil es Anzeichen für einen bevorstehenden birmanischen Angriff gab. Der Seewolf grub die Zähne in die Unterlippe. Er dachte an die Zwillinge, an die Kranken. Hatte er sich zu leichtfertig darauf verlassen, daß die Stadt der Mon sicher war? Möglich. Aber zumindest für die Kranken war es die einzige Chance gewesen. Und vor der „Isabella“ hatte das Gefecht mit der Übermacht der Piraten gelegen. Ändern ließ sich jetzt ohnehin nichts mehr. Schneller werden konnte die Galeone auch nicht, da sie schon unter Vollzeug lief. Sogar die Ersatz-Blinde war längst angeschlagen worden. Aber auf dem Flußarm zwischen den grünen Wänden des Sumpfwaldes fiel der Wind nur schwach ein, und für die Seewölfe verstärkte sich von Minute zu Minute der Eindruck, daß ihr Schiff dahinkroch wie eine altersschwache Schnecke. Fast zwei Stunden dehnten sich. Im Westen versank die Sonne als glutroter Ball hinter den Baumwipfeln, fast übergangslos wurde es dunkel. Hasard fieberte vor Ungeduld. Neben ihm verharrte Yannay Ki reglos wie ein Steindenkmal. Sein Blick hing an der Rauchwolke, die träge und fahl im ersten Sternenlicht in den Himmel stieg. Eine Rauchwolke, die keinen Zweifel mehr daran ließ, daß es in der Stadt der Mon eine Katastrophe gegeben hatte. Kyan enterte auf das Achterkastell und schleifte den birmanischen Gefangenen mit. Der junge Mon-Prinz hatte Sorge und ohnmächtigen Zorn in den Gesichtern der Seewölfe gelesen. Jetzt ließ er Hasard durch Pak-Sung erklären, daß die Angreifer zwar offensichtlich die Stadt angezündet, aber deshalb noch nicht
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unbedingt die Festung überrannt hatten. Immerhin ein Hoffnungsschimmer. Die Kanonen der „Isabella“ würden auch der birmanischen Streitmacht Respekt abnötigen. Aber Hasard dachte an die Explosionen, die sie gehört hatten, und fragte sich, ob die Festung wirklich so uneinnehmbar sei, wie die Mon glaubten. Eine Viertelstunde später erreichten sie die Stelle, wo sich der Mündungsarm des Irawadi auf die doppelte Breite erweiterte. Nur noch wenige Rauchschlieren stiegen in den Himmel, jetzt geisterhaft vom Mondlicht angestrahlt. Es war still, unheimlich still. Die „Isabella“ drehte bei und ging vor Anker, weil die Zufahrt zu dem langgestreckten See jenseits des Dickicht-Gürtels für eine Galeone unpassierbar war. Boote wurden abgefiert, Riemen klatschten ins Wasser. Hasard stand neben Yannay Ki im Bug der Pinasse. Ein paar kräftige Riemenschläge trieben das Boot durch die abenteuerlich schmale Lücke. Sekunden später wich das Dickicht zurück, der See glänzte im Mondschein, und die Männer starrten schweigend zu dem Hang hoch, wo einmal die stolze Stadt der Mon gestanden hatte. Jetzt waren nur noch ausgebrannte Ruinen übrig. Die Festung auf dem Hügel wirkte auf den ersten Blick unbeschädigt, doch der zweite Blick enthüllte das weit offene Tor, die zerschlagenen Fenster, die dunklen Umrisse der Toten auf den Treppenstufen. Nichts rührte sich. Es gab keinen Zweifel daran, daß die Angreifer mit ihrer Beute und -vielleicht ihren Gefangenen schon wieder abgezogen waren. 8. Die Zwillinge hatten sich sozusagen ins obere Stockwerk verzogen, nämlich in die Baumwipfel. Die beiden verräterischen Mon hörten sie nur noch kurze Zeit hinter sich fluchen und rumoren. Ohne Paddel nutzte den Kerlen nicht einmal ihr Boot mehr viel, und die
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Paddel würden sie in hundert Jahren nicht wiederfinden, genauso wenig wie ihre Gefangenen. Und selbst wenn, hatten sie keine Chance, sie zu erwischen. Denn über die Äste, auf denen die Zwillinge herumturnten, konnten ihnen ganz sicher kein Erwachsener folgen. Die luftige Höhe war ihnen wesentlich sympathischer als der stinkende, blubbernde Sumpf. Die Art, wie sie sich gelegentlich an armdicken Lianen von Baum zu Baum schwangen, hätte unter anderen Umständen vielleicht sogar Spaß bereitet. Aber da war die bedrohliche Rauchwolke, die in den Himmel stieg. Da war der Gedanke an den Angriff der Birmanen und die Gruppe der Seewölfe, die mittendrin steckten. Nein, Philip und Hasard fanden dieses Abenteuer inzwischen alles andere als spaßig. Deshalb bewegten sie sich auch äußerst zielstrebig auf die schwächer werdenden Rauchwolke zu, die ihnen den Weg wies. Nur einmal, schon in unmittelbarer Nähe der Stadt, hielten sie inne. Irgendwo unter ihnen bewegte sich jemand durch den Sumpf. Ein einzelner Mann, offenbar in wilder Flucht. Philip und Hasard verharrten auf einem dicken Ast, runzelten die Brauen und lauschten. Ein lautes Klatschen. „In den Bach gefallen“, sagte Hasard junior lakonisch. „Jetzt rappelt er sich wieder auf“, stellte Philip junior fest. Aber der Unbekannte blieb nur für wenige Sekunden auf den Beinen. Diesmal fiel er nicht ins seichte Wasser, sondern in irgendein Gestrüpp, wie das Rascheln und Knacken verriet. Dabei stieß er einen kurzen, erstickten Schrei aus. Ein schwaches, qualvolles Stöhnen folgte, und die Zwillinge wechselten einen Blick. „Entern wir ab?“ fragte Philip junior. „Klar“, sagte Hasard junior. Damit hatte auch schon jeder eine Liane am Wickel, und geschickt wie -zwei kleine Affen turnten sie abwärts. Minuten später hatten sie den Verletzten gefunden, einen jungen Mon, nicht älter als siebzehn oder achtzehn Jahre. Er blutete
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aus einer tiefen Säbelwunde und stöhnte vor Schmerz. Blindlings versuchte er, sich aus dem Gestrüpp zu befreien. Dann erkannte er die beiden Kinder und sank erschöpft und halb bewußtlos zurück. Die Zwillinge hatten in ihrem bewegten jungen Leben schon oft genug beobachtet, wie auch schlimmere Blessuren notdürftig verarztet wurden. Beide zogen ihre Hemden aus. Eins wurde zu einem festen Polster zusammengefaltet und auf die Wunde gepreßt, das andere mit dem Dolch des Mon in Streifen geschnitten und als Verband verwendet. Das sah zwar nach Meinung der Zwillinge mit ihren OrientErfahrungen aus, als wollten sie den Mon zur ägyptischen Mumie verarbeiten, aber es stoppte immerhin die Blutung. Ein bißchen Wangentätscheln und gutes Zureden brachten den Verletzten dann sogar wieder auf die Beine. Mühsam auf die Schultern der beiden Jungen gestützt wankte er vorwärts, und augenscheinlich war es ihm völlig gleichgültig, daß sie in die Richtung marschierten, aus der er eben noch geflohen war. Fünf Minuten später blieben Philip und Hasard so abrupt stehen, daß der Mon fast stürzte. Ein dumpfer, rollender Ton trug plötzlich durch die Dunkelheit. Ein Ton, der die Luft erzittern ließ und den sie nur zu gut kannten. „Kanonendonner“, stellte Hasard junior fest. „Die ‚Isabella’ jagt die Birmanen zum Teufel“, sagte Philip junior andächtig. Letzteres stimmte zwar nicht ganz, da die „Isabella“ jemand anderen zum Teufel jagte, doch das konnten die beiden Jungen nicht wissen. * Das Landkommando der Seewölfe hatte gerade vergeblich die Festung durchsucht, als der Feuerzauber losging. Philip Hasard Killigrews Gesicht glich einer steinernen Maske. Seine Söhne, die Kranken, Old O’Flynn und der Kutscher
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waren verschwunden. Daß sie sich nicht unter den Toten befanden, ließ das Entsetzen angesichts all des Grauens nur wenig abklingen. Als Gefangene der Birmanen hatten sie immerhin noch eine Chance. Und das war mehr, als das Schicksal dem größten Teil der Mon vergönnt hatte. Yannay Ki blieb lange schweigend und wie erstarrt stehen. Sein Bruder hatte sich abgewandt, damit niemand sein Gesicht sah. Die übrigen Mon verharrten stumm und wie benommen. Sie brauchten Zeit, um das Bild der Verwüstung wirklich zu erfassen. Hasard konnte sich vorstellen, wie es in ihnen aussah. Niemand fand Worte — und Worte wären auch sinnlos gewesen. Ferris Tucker fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn. „Hältst du es für möglich, daß es jemand geschafft hat, in den Sumpf zu fliehen?“ fragte er leise. Hasard zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung! Wir müssen ...“ Das war der Moment, in dem jählings Kanonendonner die beklemmende Stille zerriß. Hasards Kopf ruckte hoch. Auch die anderen fuhren zusammen. „Der Mongole!“ stieß jemand hervor — und das war genau der Gedanke, der auch den Seewolf durchzuckte. Verdammt, er hätte früher daran denken müssen! Diese elende Brut gab nicht auf. Und die „Isabella“ lag vor Anker und war im Augenblick total unterbemannt. Ein bösartiges Zischen bewies, daß Ben Brighton aus dieser Tatsache bereits die richtigen Konsequenzen gezogen hatte. Sekundenlang konnten die Männer die fauchende, funkensprühende Rakete sehen, die einen feurigen Schweif hinter sich herzog, auf ihrer gekrümmten Bahn wieder hinter den Baumwipfeln verschwand und im nächsten Moment krachend zerplatzte. Ein vielstimmiger Entsetzensschrei verriet, daß sie genau im Ziel lag. Wieder wummerten Geschütze, und dann, noch während sich Seewölfe und Mon herumwarfen und den Booten zustrebten,
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stieg bereits der nächste chinesische Brandsatz in den Himmel. Gut so, dachte der Seewolf kalt. Seiner Rechnung nach verfügten die Piraten immer noch über zwei Dschunken und eine Karavelle —oder vielmehr hatten sie bis zu diesem Augenblick darüber verfügt. Ben Brighton war gar nichts anderes übriggeblieben, als sich auf keinerlei Experimente einzulassen, sondern hart und kompromißlos zurückzuschlagen. Das hatte er denn auch gründlich besorgt. Als die Pinasse die schmale Durchfahrt zum Flußarm passierte, trieben zwei Dschunken brennend auf dem Wasser, während sich die Karavelle unter Vollzeug den Irawadi abwärts verdrückte. Ein ganzer Schwarm Männer paddelte im Wasser, von ihren Genossen schmählich im Stich gelassen. Flammen prasselten und knisterten, und immer noch dröhnen die Geschütze der „Isabella“, weil Ben Brighton die beiden Dschunken auf Tiefe schicken wollte, bevor das Feuer die Pulverkammern erreichte und die Schiffe explodierten. Daß die Piraten auf die Boote zu schwammen, die da scheinbar aus dem Nichts auftauchten, entsprang vermutlich reiner Verwirrung. Daß die Burschen es schafften, die Pinasse zum Kentern zu bringen, als sie sich an die Dollborde klammerten, war purer Zufall. Hasard und die anderen brauchten nur ein paar Schritte bis zu der Landzunge zu waten, die den Fluß von dem See trennte. Die Insassen der übrigen Boote setzten ebenfalls auf den schlammigen Uferstreifen über. Die entnervten Piraten strebten demselben Ziel zu, und sie begriffen zu spät, daß sie besser daran getan hätten, der Karavelle nachzuschwimmen. Ihre Gegner hatten das Grauen gesehen. Nicht einer unter den Mon oder den Seewölfen war noch in der Stimmung, auch nur eine Spur von Nachsicht zu üben. Es gab einen kurzen, wilden und harten Kampf, und diesmal bezogen die Piraten eine Lektion, die sie bestimmt nicht so schnell vergessen würden.
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Die meisten sprangen ins Wasser und schwammen tatsächlich stromab, weil das immer noch die schnellste Möglichkeit zur Flucht war. Ein paar schlugen sich ins Dickicht und schleppten diejenigen mit, die nur noch kriechen konnten. Inzwischen war die Kanonade verstummt. Von den beiden Dschunken ragten nur noch die Mastspitzen aus dem scharfen Wasser. Ein paar Planken, Spieren und abgerissene Schotts trieben langsam den Fluß hinunter, wo sie den schwimmenden Piraten vielleicht ihre trostlose Lage etwas erleichtern würden. Der Seewolf wischte sich das Haar aus der Stirn. Die kalte Wut in ihm klang nur langsam ab. Eine Wut, die im Grunde gar nicht den Piraten gegolten hatte, wie er sich eingestand. Er wollte etwas sagen, aber er kam nicht mehr dazu, denn jetzt nahmen die Ereignisse schon wieder eine überraschende Wendung. Es raschelte im Dickicht. „Arwenack!“ schrie jemand hell und triumphierend. „Isabella, ho!“ schmetterte eine Stimme, die der ersten auffallend ähnlich war. Dann teilten sich die Büsche, und die Männer starrten verblüfft auf die zwei kleinen Gestalten, die mühselig einen taumelnden, offenbar schwer verletzten Mon zwischen sich schleppten. Der Seewolf schloß die Augen und öffnete sie wieder. Eine Sekunde lang fühlte er sich fast schwindlig vor Erleichterung. Dann klingelten ihm die Ohren von dem donnernden, vielstimmigen „Arwenack“, das den Zwillingen antwortete. 9. Zehn Minuten später standen die beiden Jungen in einem Kreis von Männern auf der Kuhl der „Isabella“ und schickten sich an, den Bericht über ihr Abenteuer noch einmal zu wiederholten — diesmal ausführlich und mit Einzelheiten, die sie sich vorhin unter dem Blick ihres Vaters lieber gespart hatten.
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Der verletzte junge Mon — Chimal hieß er — lag im Logis in einer Koje. Vermutlich war er der einzige, der im Augenblick die Fragen der Seewölfe beantworten konnte. Aber zuerst galt es, seine notdürftig verbundene Wunde zu versorgen, eine lange, tiefe Schnittwunde quer über der Brust, wie Hasard feststellte. Noch hatte sie sich nicht entzündet. Blacky schleppte einen Kessel heißes Salzwasser und frische Leinentücher heran, und ein kräftiger Schuß Rum vollendete die Behandlung. Der Schmerz ließ den jungen Mann für eine Weile das Bewußtsein verlieren. Ein weiterer Schuß Rum, der in seine Kehle gluckerte, brachte ihn wieder zu sich. Verwirrt sah er sich um, dann klärte sich sein Blick, und er biß die Zähne aufeinander. Er war einem Inferno entronnen. Seine aufgerissenen Augen spiegelten immer noch nacktes Grauen. Yannay sprach mit ihm. Hasard wartete und beherrschte mühsam die brennende Ungeduld. Ein kaltes Gefühl entstand in seinem Nacken, als er Yannay erbleichen sah. Der Mon wandte sich um und redete leise und tonlos auf Pak-Sung ein. Die dunklen Augen des Birmanen wirkten glanzlos. Sein schmales braunes Gesicht spiegelte keinen Haß, keinen Triumph mehr. Er war lange in der Gefangenschaft der Mon gewesen, und er hatte in dieser Zeit nicht gerade das Paradies, aber auch nicht die Hölle erlebt. Das Schicksal der Mon war auch ihm unter die Haut gegangen. „Chimal ist entkommen, weil man ihn für tot hielt“, sagte er leise. „Er konnte einiges belauschen, was die Birmanen untereinander besprachen. Sie haben eine Menge Gefangener mitgeschleppt. Auch den Fürsten Marut Shai und die weißen Männer.“ „Und was werden sie mit ihnen tun?“ fragte der Seewolf. Pak-Sung sah ihn an. In dem schmalen Gesicht zuckte es. Die Birmanen waren seine Landsleute. Aber die Seewölfe hatten ihm damals erlaubt,
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auf der „Isabella“ zu bleiben, nachdem die Mon ihn als Kurier geschickt hatten, obwohl alles viel einfacher für sie gewesen wäre, wenn sie ihn zurückgejagt hätten. Und sie hatten ihn auch später geschützt, als sie sich mit den Mon verbündeten. PakSung atmete aus und senkte die Augen. „Die Mon werden Sklaven sein“, sagte er leise. „Marut Shai und die weißen Männer sollen den Göttern des Schwarzen Priesters geopfert werden.“ Hasard hielt den Atem an. Er spürte Yannays Blick. Sekundenlang blieb es ganz still, die Spannung schien wie ein körperlich spürbares Gewicht im Raum zu lasten. Ganz langsam ballte der Seewolf die Hände. In die eisblauen Augen trat ein harter, kalter Glanz. Da wußten seine Leute, daß der sogenannte Schwarze Priester, seine spanischen Freunde und alle seine Anhänger gut daran tun würden, sich schon jetzt nach einem geeigneten Mauseloch umzusehen. „Wo liegt diese Pagode?“ fragte der Seewolf knapp. Der Birmane antwortete, weil er wußte, daß Yannay und Kyan den Weg notfalls auch aufzeichnen konnten. „In den Arakan-Bergen. Unmittelbar am Meer. Und nur von der Seeseite her zu erreichen, wenn man keinen längeren Fußmarsch unternehmen will.“ „Um so besser! Kannst du es mir auf der Karte zeigen?“ „Ja.“ „Pak-Sung, wenn du uns belügst ...“ „Ich sage die Wahrheit. Fragt Yannay und Kyan, sie kennen den Ort ebenfalls. Ich — ich will nicht, daß eure Freunde sterben. Ihr habt mir geholfen, jetzt helfe ich euch.“ Der Seewolf nickte nur, atmete tief durch und straffte die Schultern. Ein paar Minuten später stand er mit Yannay und dem Birmanen in seiner Kammer und beugte sich über die Karten. Aber um diese Zeit war die „Isabella“ schon wieder ankerauf gegangen und segelte hart am Wind den Irawadi hinunter, um das Delta zu verlassen.
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Die Gefangenen der Birmanen wurden auf dem Landweg transportiert. Es war ein mörderischer Gewaltmarsch durch den Urwald, dann durch grünes Hügelland, schließlich immer höher in die zerklüfteten, hitzeglühenden Berge. Die wenigen Saumpferde brauchten die Sieger für die Beute. Die Gefangenen mußten zu Fuß gehen, und wer nicht weiterkonnte, wurde zurückgelassen. Das war das sichere Todesurteil. Es hätte vermutlich auch ein paar von den Seewölfen getroffen, die noch von dem Fieber geschwächt waren. Aber bei ihnen, genau wie bei. dem greisen Marut Shai, machten die Birmanen eine Ausnahme. Für die Männer war es alles andere als angenehm, bäuchlings über dem Sattel transportiert zu werden, aber sie blieben immerhin am Leben. Eine Tatsache, die Smoky, der Kutscher und Dan O’Flynn, die als einzige noch auf den Beinen waren, einerseits mit Erleichterung, andererseits aber auch mit gelinder Unruhe erfüllte. Sie glaubten nämlich nicht daran, daß man sie aus purer Humanität besser behandelte als die anderen. Die Birmanen wollten sie lebend zu ihrer verdammten Pagode bringen, Zweifellos, weil sie etwas Besonderes mit ihnen vorhatten. Das konnte nach Lage der Dinge nur Unheil bedeuten. Den letzten Teil des Marsches stand auch Dan O’Flynn nicht mehr auf den eigenen Beinen durch. Smoky und der Kutscher waren so erschöpft, daß sie die unheimliche schwarze Pagode auf dem Berg nur verschwommen sahen und eine Weile brauchten, bis sie begriffen, daß sie am Ziel waren. Der Saumpfad, der sich den steilen Hang hinaufwand, dehnte sich endlos. Rechterhand konnte sie das birmanische Dorf unten im Tal sehen, linkerhand erwischten sie ab und zu einen Blick auf den kleinen Hafen und die Befestigungsanlagen, die dort errichtet worden waren. Befestigungsanlagen ohne
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schweres Geschütz, soviel stand fest. Die Spanier, deren Galeone im unergründlichen Sumpf des Deltas versunken war, mochten alles mögliche gerettet haben, aber bestimmt keine Kanonen. Die Seewölfe registrierten alle diese Einzelheiten, ohne sich bewußt zu sein, daß sie ganz selbstverständlich mit einem Befreiungsversuch durch die „Isabella“ rechneten. Smoky und der Kutscher fühlten sich mehr tot als lebendig, als sie endlich den Berggipfel erreichten und durch einen Kreis neugieriger Gaffer auf die düster hochragende Pagode zugetrieben wurden. Bei dem bulligen Decksältesten grenzte es ohnehin an ein Wunder, daß er es bis hierher geschafft hatte. Der Kutscher war zwar stark und zäh, aber im Gegensatz zu den Birmanen nicht an solche Gewaltmärsche gewöhnt. Seine Kehle brannte vor Durst, Schweiß lief ihm unaufhörlich in die Augen, die Umgebung nahm er nur noch verschwommen wahr. Im Innern der Pagode herrschte wenigstens Schatten. Den Gefangenen blieb nur Zeit für einen kurzen Blick auf die düstere Pracht, dann wurden sie in einen Nebenraum und von dort eine Wendeltreppe hinunter in ein kaltes, feuchtes Felsengewölbe gestoßen. Ein Gewölbe, das ihnen als wahres Paradies erschien nach dem Gewaltmarsch, bei dem es die Birmanen nicht einmal für nötig gehalten hatten, ihnen auch nur einen Tropfen Wasser zu geben. Hier unten rann das Wasser an den Wänden herunter und sammelte sich in kleinen Lachen. Smoky und der Kutscher tranken kurzerhand auf dem Bauch liegend, dann gingen sie daran, die Gesichter der anderen zu bespritzen, ihnen die Lippen zu benetzen. Ein schwieriges Unterfangen mit auf den Rücken gefesselten Händen. Bei dem greisen Marut Shai, dem die Strapazen naturgemäß am meisten zugesetzt hatten, dauerte das ziemlich lange. Der Fürst der Mon lehnte immer noch apathisch und mit leeren Augen an
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der Wand, während die Seewölfe schon wieder fluchen konnten. Sie fühlten sich schwach und erledigt, aber sie kochten vor Wut. Und als sie wenig später Besuch in ihrem Verlies erhielten, hinderten nur die Fesseln sie daran, den Kerlen gleich mal zu zeigen, woher der Wind wehte. Es waren zwei Spanier und ein hochgewachsener Birmane, der sich in eine langwallende schwarze Kutte gehüllt hatte. Aikiba, kein Zweifel. Priester, Magier – oder was immer er sich zu sein einbildete. Das knochige Gesicht mit dem kahlen Schädel, den tiefliegenden Augen und der fahlen Pergament-Haut erinnerte fatal an einen Totenkopf. Die beiden Spanier sahen wie ganz normale Dons aus, nur ein bißchen abgerissen. Wenn sie schon einfachen birmanischen Kriegern Spanisch beigebracht hatten, mußten sie es bei dem Kutten-Mann wohl erst recht getan haben, überlegte Dan O’Flynn. Also grinste er gallig, fixierte die Totenkopf-Physiognomie und bediente sich der spanischen Sprache. „Buenos Dias, Senor Kinderschreck“, sagte er. pulvertrocken. „Wenn du auch noch eine Sense hättest, würdest du viel echter aussehen. Oder hast du Angst, dich in die Fingerchen zu schneiden, Gevatter?“ Der Vermummte stierte ihn an. „Ich bin Aikiba!“ donnerte er. „Aikiba, der Priester des schwarzen Dämons!“ „Ach du meine Fresse“, murmelte Smoky erschüttert. „Mach dir nichts draus“, sagte Dan tröstend. „Mir sieht er eher wie ein Fall von Skorbut aus“, meldete sich der Kutscher. „Ziemlich fortgeschrittener Fall. Muß schon aufs Gehirn geschlagen sein.“ Ob Aikiba den tieferen Sinn der Worte verstand, blieb unklar. Die Spanier dagegen verstanden sehr genau. Zuerst malte sich ungläubige Verblüffung in ihren Gesichtern, dann helle Wut. „Wartet nur, ihr verdammten Engländer!“ knirschte einer von ihnen. „Morgen bei Sonnenaufgang werdet ihr euer Leben auf dem Opferstein des schwarzen Dämons
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aushauchen. Mal sehen, ob euch bis dahin die große Klappe nicht vergeht.“ Damit wandte sich die ganze Gesellschaft um, und Sekunden später krachte die schwere Tür wieder zu. „Mahlzeit“, murmelte Jeff Bowie. „Sprich nicht vom Essen!“ fauchte der Kutscher. „Sieh lieber zu, daß du mit deinem verdammten Haken die Fesseln aufkriegst. Das ist nämlich unsere einzige Chance, diesem nachgemachten Sensenmann von der Schippe zu springen.“ * Schwarz und düster ragte das hohe, schlanke Gebäude mit den übereinander geschachtelten Pagodendächern in den Himmel. Der Seewolf war in den Großmars geentert. Langsam ließ er das Spektiv abwärts wandern und erfaßte die steilen Felsen, den gewundenen Saumpfad sowie die Befestigungsanlagen des natürlichen Hafens. Mit bloßem Auge war die „Isabella“ von dort aus noch nicht zu sehen. Die Gegner sollten nicht zu früh gewarnt werden — nicht bevor der Plan der Seewölfe feststand. Minuten später fanden sich Hasard, Ben Brighton, Ed Carberry und Big Old Shane, Yannay, Kyan und der kleine Birmane auf dem Achterkastell zusammen. Der Seewolf rekapitulierte noch einmal, was sie wußten: daß der schwarze Priester seine Gefangenen irgendwelchen Göttern oder Dämonen opfern wollte, daß sie es mit einer gewaltigen Übermacht zu tun kriegen würden — und daß die Birmanen die Befestigungen am Hafen angelegt hatten, weil auch sie sich offenbar vor Piratenüberfällen fürchteten. Vor allem der letzte Punkt war wichtig. Denn einen „Piratenüberfall“ gedachten die Seewölfe ihren Gegnern zu liefern. „Wir werden die Hafenanlagen beschießen“, sagte Hasard ruhig. „Das ist die beste Möglichkeit, für die nötige Ablenkung zu sorgen — auch wenn wir es so drehen, daß sich die Menschen rechtzeitig in Sicherheit bringen können.
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Vorher wird ein Stück weiter im Süden ein Stoßtrupp an Land gehen, bis zu der Pagode vordringen und die Gefangenen in einem Überraschungsschlag befreien.“ „Hört sich ganz einfach an, was, wie?“ grollte Ed Carberry. Big Old Shane zupfte an seinem grauen Vollbart. Ben Brighton hatte die Brauen zusammengezogen. „Sehr einfach“, sagte er sarkastisch. „Aber es ist die einzige Chance, die wir haben, oder?“ „Sag ich doch! Diesem sogenannten Priester werde ich die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch ziehen und an seine Pagode nageln. Auf was warten wir überhaupt? In ein paar Stunden wird es hell. Wir sollten sofort loslegen und diesen Rübenschweinen Feuer unter dem Hintern machen.“ Der Seewolf nickte nur. Kurz wiederholte er die wesentlichen Einzelheiten auf Spanisch, damit der Birmane sie für Yannay und Kyan übersetzen konnte. Die beiden Mon preßten entschlossen die Lippen zusammen. Sie wollten mit einigen Landsleuten den Stoßtrupp begleiten, und Hasard war einverstanden, da sie ihnen mit ihrer genaueren Kenntnis -von Land und Leuten nur nutzen konnten. Sie teilten sich. Eine Hälfte der Männer blieb auf der „Isabella“ zurück, die andere ging unter Führung des Seewolfs in die Boote. Sobald der Stoßtrupp in die Nähe der schwarzen Pagode gelangt war, würde er der Galeone ein Lichtzeichen geben — und dann konnte der Feuerzauber losgehen. Flaschenbomben und Pulverpfeile, chinesische Feuerwerkskörper, ein paar Brandsätze und ein Pulverfäßchen wurden vorsorglich in der Pinasse verstaut. Außerdem war jeder einzelne Mann des Landkommandos bis an die Zähne bewaffnet. Wenn sie sich auch gegen die Überzahl der birmanischen Krieger kaum eine Chance ausrechnen konnten — auf jeden Fall waren sie eine Streitmacht, mit der ihre Gegner eine böse Überraschung erleben würden.
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Schnell und fast lautlos glitten die Boote über das Wasser und strebten der Bucht im Süden zu, die sie anlaufen wollten. * „So!“ sagte Jeff Bowie zufrieden. „Mann, du hast mehr Fetzen aus meiner Haut als Fasern aus den verdammten Stricken gerissen“, beschwerte sich Smoky, während er die Reste der Fesseln abschüttelte. „Freu dich, daß ich dir die Haut nicht ganz woanders abgezogen habe, du Stint.“ Jeff Bowie grinste und betrachtete flüchtig die Spitze seiner Hakenprothese, die tatsächlich Blutspuren aufwies. Rasch lief er zur Tür, suchte vergeblich nach einem Schloß oder einer Klinke und fluchte. Während Smoky die anderen von den Fesseln befreite, untersuchte Jeff Bowie die Konstruktion des schweren hölzernen Tores. Eine einfache Konstruktion. Zwei armdicke Rundhölzer als Riegel, von außen natürlich, und Angeln, die beileibe nicht aus Eisen, sondern aus dicken, geflochtenen Lederschlingen bestanden. Mit bloßen Händen nicht zu knacken, ganz abgesehen davon, daß der Spalt zu schmal war, um auch nur den kleinen Finger hindurchzuschieben. Mit einem Messer hätte man die Dinger durchsäbeln können, aber Waffen pflegten die Kerkermeister ihren Gefangenen natürlich nicht zu lassen. Nur die Prothese hatten sie übersehen. Jeffs Augen funkelten schon wieder etwas optimistischer, als er begann, mit dem nadelscharf geschliffenen Haken die Lederschlingen zu bearbeiten. Es ging langsam. Sehr langsam. Aber es ging, und nach einer halben Stunde hatte Jeff Bowie die erste dieser merkwürdigen Türangeln durch. Für die zweite brauchte er etwas länger, weil allmählich sein Arm erlahmte. Schließlich war auch das geschafft. Smoky holte tief Luft, stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür und bog sie so weit auf, wie er konnte, ohne daß die Riegel barsten und mehr Krach entstand, als sie
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sich erlauben durfte. Der bullige Decksälteste hätte sich nie im Leben durch die Lücke quetschen können. Aber sie reichte für den hageren weißhaarigen Will Thorne und den schlanken Dan O’Flynn, und die beiden brauchten dann nur noch von außen die Riegel zu öffnen. „Bleibt hier unten“, flüsterte Dan. „Smoky und ich werden erst einmal die Lage peilen.“ Gesagt, getan... Die Wendeltreppe, die sie vorher halb betäubt hinuntergestolpert waren, lag am Ende eines langen, gewölbten Ganges aus feucht schimmernden Gesteinsquadern. Sie führte in den kahlen Nebenraum der Pagode. Dan und Smoky blieben einen Moment stehen und lauschten. Gemurmel. Endlose Litaneien: Gebete oder Beschwörungen vermutlich. In der Pagode war irgendeine Zeremonie im Gange. Aber schließlich gab es auch noch ein schmales, hohes Fenster. Dan huschte hinüber und spähte nach draußen. Nach einem einzigen Blick war ihm zumute, als habe er einen Schlag in den Magen empfangen. Oder einen Maultiertritt an den Kopf, je nachdem. Der Platz vor der Pagode war schwarz von Menschen — Männern, Frauen, Kindern und auch etlichen Kriegern mit blitzenden Waffen. Auf jeden Fall zu viele, um auch nur im Traum an einen gewaltsamen Ausbruch zu denken. „Heilige Appolonia“, murmelte Dan vor sich hin. „Was is’n das?“ wollte Smoky wissen. „Schutzheilige gegen Zahnschmerzen. Oder kriegst du etwa keine Zahnschmerzen, wenn du das siehst.“ „Hm. Und jetzt?“ Dan wandte sich vom Fenster ab. Unter dem blonden Haar wirkte sein Gesicht hart und kantig. „Schauen wir uns erst mal etwas genauer in dem verdammten Gewölbe um“, schlug er vor. „Und dann strengen wir unseren Kopf an und hoffen, daß uns etwas ganz besonders Schlaues einfällt.“
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Die „Isabella“ lag beigedreht im Schutz der Dunkelheit. Ben Brighton stand auf dem Achterkastell und starrte dorthin, wo sich schwarz und schroff die Küstenlinie vom glitzernden Sternenhimmel abhob. Auch die Pagode war zu sehen: als kröne ein mahnend erhobener Finger die Bergkuppe. Ben fragte sich, wie die Bucht aussehen mochte, die von den Booten angelaufen worden war. Steile Felsen, sicher weder Weg noch Steg. Auf jeden Fall lag ein anstrengender Aufstieg vor den Männern des Stoßtrupps, aber deshalb hatten sie ja auch Taue und Enterhaken mitgenommen. Jetzt mußten sie es eigentlich bald schafft haben. Ben nahm das Spektiv zur Hand, richtete es auf die Felsen oberhalb der Bucht und schwenkte die schmale, leicht bewegte Linie aus wucherndem Gestrüpp ab. Langsam ließ er den Kieker nach links wandern, in nördliche Richtung. War da nicht eine Bewegung gewesen? Heftiger, als sie vom Wind verursacht worden sein konnte? Ben hielt den Atem an, konzentrierte sich - und dann sah er etwas wie einen kleinen Funken aufglimmen. Einen Funken, der sich langsam im Kreis bewegte. Das vereinbarte Signal! Dreimal wurde es wiederholt. Die „Isabella“, antwortete mit einem chinesischen Feuerwerkskörper, denn das Schiff würde die Birmanen in kürzester Zeit ohnehin bemerken. Grimmig setzte Ben Brighton das Spektiv ab und straffte die Schultern. „Heißt Fock, Großsegel und Besan!“ rief er. „Heißt Marssegel und Blinde! Klar bei Kanonen und Drehbassen! Wir können den verdammten Hafen platt vor dem Wind anliegen, und dann werden wir den Typen mal zeigen, daß ihr verdammter schwarzer Dämon gegen englische Korsaren nur ein lächerlicher Waisenknabe ist.“ *
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„Die Mon-Krieger“, zischte Dan O’Flynn. Der greise Marut Shai, den Smoky und der Kutscher stützten mußten, hob ruckartig den Kopf. Auch er hatte die murmelnden Stimmen jenseits der schweren Holztür gehört. Dan glitt darauf zu. Jeff Bowie und Will Thorne schleppten Gary Andrews mit, der immer mal wieder ausprobierte, ob er nicht allein gehen konnte. Vermutlich hätte er es geschafft, aber er sah ein, daß er sich seine Kräfte besser für den entscheidenden Augenblick aufsparte. Bob Grey und Old O’Flynn schauten sich in einem anderen Teil des Gewölbes um. Während Dan vorsichtig die schweren Riegel zurückschob, dachte er daran, daß sie genau genommen ein ziemlich trauriger Haufen waren. Nun ja, schließlich hatte man sie ja auch als Schwerkranke in die Mon-Stadt gebracht, unter anderem, um sie aus dem Gefecht mit den Piraten herauszuhalten. Stattdessen waren sie in einen erbitterten Krieg geraten. Und jetzt würde besagter trauriger Haufen kämpfen müssen wie noch nie. Denn die gefangenen Mon waren in ihrem Zustand ganz sicher auch keine große Verstärkung. Zwei Dutzend abgekämpfter Gestalten, immerhin. Als die Tür aufschwang und Fackellicht hereinfiel, hoben sie matt die Köpfe. Erst der Anblick des blonden Engländers weckte ihre Lebensgeister. Sie begriffen sofort, sprangen auf und drängten zur Tür. Als sie dann noch ihren geschwächten, aber unverletzten Fürsten entdeckten, wirkten sie alle plötzlich sehr entschlossen. Dan bediente sich der Zeichensprache, um ihnen zu erklären, daß sie sich vorerst völlig still verhalten mußten. Am Ende des Gangs war Bob Grey aufgetaucht und winkte. Der junge O’Flynn eilte hinüber, Smoky folgte ihm. Bob grinste über das ganze Gesicht, hastete ein paar Schritte voraus, bog um eine Ecke und blieb vor einer offenen Falltür im Boden stehen, unter der eine Leiter in einem tiefer gelegenen Kellerraum führte. Dan leuchtete mit der Fackel hinunter — und pfiff leise durch die Zähne.
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„Mannomann!“ flüsterte er andächtig. „Schwarzpulver! Pistolen, Musketen! Und das sollen alles die paar Spanier hierher geschleppt haben?“ „Sie hatten Boote, und danach haben ihnen die Birmanen geholfen“, sagte Bob Grey sachlich. „Mit dem Pulver können wir jedenfalls die ganze Pagode in die Luft sprengen und den Leuten einen so heiligen Schrecken einjagen, daß sie morgen früh noch rennen.“ Dan kniff die Augen zusammen. „Na klar! Hier unten verteilen wir den Segen schön gleichmäßig, dann schmeißen wir ihnen ein Pulverhorn mit einer Lunte dran in die Pagode, stecken die Zündschnur an und verschwinden durchs Fenster. Und dann wollen wir mal sehen, ob noch jemand daran denkt, uns wieder einzufangen, wenn es erst einmal kracht.“ Sie gingen sofort daran, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Gary Andrews und Old O’Flynn, die sich am schlechtesten bewegen konnten, bauten sich mit geladenen Musketen in der Nähe der Wendeltreppe auf für den Fall, daß jemand erscheinen würde. Die anderen mannten Pulverfäßchen, deponierten sie an geeigneten Plätzen, verlegten Zündschnüre. Daß sie sich ebenfalls bewaffneten, so weit es möglich war, verstand sich von selbst. Zum Schluß versahen sie dann noch eins der Pulverhörner mit einer kurzen Lunte, die es in eine provisorische Bombe verwandelte. Alles in allem empfanden sie eine gewisse Dankbarkeit den Spaniern gegenüber, als sie schließlich einer nach dem anderen die steile Wendeltreppe hinaufhuschten. Bob Grey blieb unten, um im geeigneten Moment die Zündschnur anzustecken. Durch die Tür, die den Nebenraum vom Mittelteil der Pagode trennte, drangen immer noch dumpfe Litaneien. Draußen drängten sich die schweigenden Menschen. Doch das würde nicht mehr lange so bleiben. Das explodierende Pulverhorn konnte nicht viel Schaden anrichten - aber heillosen Schrecken, der zu einer ebenso heillosen Flucht führen mußte. Hoffentlich! Denn danach war ein ziemlich
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großer Schaden nicht mehr aufzuhalten. Viel würde an der schwarzen Pagode bestimmt nicht übrigbleiben. Und für die Menschen hier war Aas vielleicht sogar ein Segen, weil es ihnen endlich zeigte, daß ihr gefürchteter Priester durchaus nicht über magische Kräfte gebot. Mit zwei Schritten stand Dan O’Flynn an der Tür, wog das Pulverhorn in der Rechten und hob mit der Linken die Fackel, um die Lunte zu entzünden. * Aus zusammengekniffenen Augen spähte der Seewolf zu der hochragenden Pagode hinüber. Hinter sich konnte er die leisen Atemzüge der Männer hören. Sie lagen versteckt zwischen Felsbrocken und Gestrüpp und warteten. Jeden Augenblick mußte tief unter ihnen die Kanonade beginnen. Aber angesichts der Menschenmenge auf dem Plateau um die Pagode fragte sich Hasard inzwischen, ob der ganze Plan überhaupt eine Spur von Erfolgsaussichten hatte. Sinnlos, darüber zu grübeln! Sie würden es versuchen, koste es, was es wolle. Unwillkürlich packte der Seewolf die Muskete fester. Irgendwo in der Dunkelheit flüsterte jemand einen Fluch. Seit sie diesen Platz erreicht hatten, waren erst wenige Minuten vergangen, aber jede einzelne davon schien sich zur Ewigkeit zu dehnen. Ein paar Atemzüge später hörten sie jäh das dumpfe Donnern einer Breitseite. Die „Isabella“, endlich! Die Männer spannten sich und lauschten auf das Krachen der Einschläge, das dumpfe Poltern, das ferne Geschrei. In den Hütten dort unten würden sich die Fischer und ihre Familien jetzt eilig zur Flucht wenden. Das war der Zweck dieser ersten Breitseite, die nur Felsen und Boote getroffen hatte. Ein paar Minuten später würde es dann allerdings gewaltig rundgehen. „Verdammt!“ zischte Blacky. „Was ist denn da los?“ Auch Hasard hatte den schmetternden Krach gehört.
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Ein Geräusch, das aus der Richtung der Pagode ertönte. Als er den Kopf wandte, sah er ganz kurz den glutroten Widerschein hinter den Fenstern. Auch aus dieser Richtung wehte jetzt Geschrei herüber. Das breite Tor der Pagode sprang auf -und ein Dutzend Vermummter mit wehenden Kutten stürzte in sichtlicher Panik ins Freie. Die Menge geriet in Bewegung und wich blindlings zurück vor dem unheimlichen Bauwerk, in dessen Innerem offensichtlich etwas explodiert war. Nach allen Richtungen rannten die Menschen auseinander. im ersten Moment begriff der Seewolf überhaupt nichts mehr, doch dann wanderte sein Blick zufällig zur rechten Seite der Pagode. Dort mußte sich, unsichtbar für ihn, ein Fenster befinden. Den Platz davor, eben noch voller Menschen, war jetzt fast leergefegt. Die wenigen Birmanen, die sich noch dort bewegten, hinkten und stolperten eilig davon, um sich der blinden Flucht der anderen anzuschließen. Dafür löste sich eine dunkle Gestalt von der Wand und landete mit einem Sprung auf dem Boden. Eine zweite folgte, eine dritte, eine vierte. Danach flogen zwei Gegenstände aus dem Fenster, und ein bulliger Schatten bemühte sich, jemanden ins Freie zu zerren, der es offenbar nicht allein schaffte. Old O’Flynn mit seinen Krücken, durchzuckte es Hasard. „Himmelarsch, das ist doch Smoky!“ zischte der blonde Stenmark, der neben ihn gekrochen war. „Ha!“ jubelte Blacky unterdrückt. „Die haben sich befreit und ein Feuerwerk veranstaltet, um die Birmanen abzulenken.“ Genauso sah es aus. Und befreit hatten sich offenbar nicht nur die Seewölfe, sondern auch die gefangenen Mon. Mehr als zwei Dutzend Männer waren es, die einer nach dem anderen aus dem Fenster sprangen, weiterrannten und zwischen Felsen und Gestrüpp verschwanden, als sei der Teufel hinter ihnen her.
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„Da kommt noch was nach“, murmelte Stenmark. Hasard nickte. „Glaube ich auch! Signalschüsse, rasch, damit sie wissen, in welche Richtung sie müssen!“ Musketen krachten. Wieder und wieder, den mit einem einzigen Schuß, ließ sich das Geschrei der fliehenden Menschen und der ferne Kanonendonner von der „Isabella“ sicher nicht übertönten. Im Augenblick war die Gruppe der Gefangenen nicht zu sehen. Aber sie hatten das Musketenfeuer bestimmt gehört, und sie würden auch die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Hasard wollte etwas sagen, doch im selben Augenblick schien ein ohrenbetäubendes Krachen den ganzen Berg zu erschüttern. Eine Stichflamme zuckte auf. Die schwarze Pagode erbebte, als werde sie von einer unsichtbaren Gigantenfaust geschüttelt. Sekunden später war dort, wo eben noch das unheimliche Gebäude aufgeragt hatte, nur noch eine Wolke von Qualm, wirbelndem Staub und rotglühendem Wabern zu sehen. * Noch während der Nachhall der Explosion durch die Luft zitterte, hörte der Seewolf die ersten Schritte durch das Gestrüpp brechen. Dan O’Flynn und Jeff Bowie tauchten auf, ein paar Mon, Smoky und Bob Grey, die Gary Andrews stützten, Old O’Flynn im Griff zweiter kräftiger braunhäutiger Krieger, Will Thorne und der Kutscher folgten. „Marut Shai!” schrie Yannay auf. Mit zwei Schritten stand er vor dem greisen Fürsten und umarmte ihn. Kyan hatte Tränen in den Augen. Der Seewolf war ebenfalls aufgesprungen, schlug Dan auf die Schulter und verstand im allgemeinen Lärm nicht sofort, was der junge O’Flynn erregt hervorstieß. „Die Zwillinge, Hasard! Sie sind verschwunden, sie ...“ „Sie sind an Bord! Schnell jetzt, solange der Hexenkessel hier noch vorhält!“
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Eilig warfen sie sich herum. Zeit zum Reden blieb jetzt nicht, das konnten sie später noch zur Genüge tun. Hinter ihnen herrschten immer noch Geschrei und wildes Durcheinander. Wie Donnerrollen dröhnten die Schüsse, die auf der „Isabella“ unermüdlich abgefeuert wurden. Über den Trümmern der schwarzen Pagode stieg eine Rauchsäule in den Himmel. Atemlos erreichten die Flüchtenden die Klippen oberhalb der Bucht, in der die Boote lagen. Der Abstieg war einfacher als der Aufstieg, denn Hasard hatte Taue und Enterhaken anbringen lassen, um die Kletterei zu erleichtern. Old O’Flynn, Gary Andrews und der greise Mon-Fürst wurden fachmännisch abgeseilt. Das dauerte seine Zeit, doch falls die Birmanen die Flucht ihrer Gefangenen überhaupt bemerken würden, wußten sie damit noch lange nicht, wo sie sie suchen sollten. Der Seewolf atmete auf, als der letzte Mann auf den schmalen Sandstreifen der Bucht sprang. Jetzt galt es nur noch, der „Isabella“ ein Zeichen zu geben. Einer der chinesischen Feuerwerkskörper würde diese Aufgabe perfekt erfüllen. Und die Birmanen würden bestimmt nicht die richtigen Schlüsse daraus ziehen, denn auch auf der Galeone hatten die Männer ein eindrucksvolles Feuerwerk veranstaltet. Zischend und funkensprühend stieg der feurige Pfeil in den Himmel, zerplatzte und ließ einen Regen bunter, leuchtender Kugeln niedergehen. Dann, während Hasard und die anderen in die Boote gingen, verstummte die Kanonade. Nur noch das ferne Geschrei der Birmanen war zu hören. Und das rhythmische „Hoool weg! Hoool weg!“, in dessen Takt die Riemen durchgeholt wurden. Hart am Wind rauschte die „Isabella“ heran, als die Boote aus dem Schatten der Bucht glitten. Weiter im Norden hing Pulverdampf dicht und fahl im Mondlicht über dem Wasser. Dampf wölkte auch hoch oben auf dem
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Berg, wo die schwarze Pagode gestanden hatte. Gestalten erschienen zwischen den Felsen, starrten der entschwindenden Galeone nach, schrien aufgeregt durcheinander und gestikulierten. Der Seewolf lächelte matt. Er wußte, daß ihre Gegner ihnen jetzt nichts mehr anhaben konnten. * Pak-Sung, der Birmane, wollte versuchen, in seine Heimat zurückzukehren. Da niemand etwas von der Rolle ahnte, die er bei den Ereignissen gespielt hatte, konnte er das gefahrlos tun. Ein paar Seemeilen weiter südlich setzten die Seewölfe ihn mit Wasser, Vorräten und einer Muskete ausgerüstet an Land, und er stand lange da und winkte der „Isabella“ nach, die weiter nach Süden segelte. Die Mon wollten ebenfalls in ihre Heimat zurückkehren, in das Land, das sie kannten und in dem sie auch nach der Zerstörung ihrer Stadt überleben konnten. Sie glaubten nicht daran, daß die Birmanen sie noch einmal überfallen würden. Nicht jetzt, nachdem sie wußten, daß der riesige Schatz nur Legende war. Außerdem nahm Yannay an, daß die Macht des tyrannischen Priesters endgültig gebrochen sei. Nach allem, was mit der schwarzen Pagode geschehen war, teilte der Seewolf diese Meinung. Kurz nach Sonnenaufgang näherte sich die „Isabella“ dem Kap, das sie runden mußten, um wieder das Irawadi-Delta zu erreichen. Die Männer an Bord waren erschöpft von den hinter ihnen liegenden Strapazen und erleichtert, weil jetzt nichts sie mehr daran hindern konnte, sich gründlich auszuruhen. „Schiff genau voraus! Eine Dschunke!“ Hasard furchte die Stirn. Eine Dschunke? Etwa der Mongole mit den schäbigen Resten seiner Piratenbande? Nicht schon wieder, dachte der Seewolf erbittert, während er mit dem Spektiv ein Stück in die Besanwanten enterte. Es war der Mongole.
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Hasard erkannte die letzte der Piratendschunken ohne jeden Zweifel. Und wenig später erkannte er noch etwas - daß die Kerle ihnen diesmal rein zufällig und ohne jede kriegerische Absicht über den Weg segelten. Die Dschunke luvte nämlich sofort an und zeigte den Seewölfen das Heck, kaum daß die Piraten die ranke Galeone entdeckt hatte. Sie wollten fliehen. Das konnten sie nach Hasards Meinung auch getrost tun. Nur ließ es sich nun einmal nicht ändern, daß die „Isabella“ Südkurs segelte, und einen Umweg würden die Seewölfe wegen dieses Gesindels auch nicht vornehmen. Der Mongole glaubte sich verfolgt. Für seine Begriffe mußte sich die Lage völlig hoffnungslos ausnehmen. Er hatte gesehen, wie die Seewölfe mit einer Übermacht umgesprungen waren, wie sie Stück um Stück seine Flotte dezimiert und seine Leute total entnervt hatten. Er konnte nicht entwischen - und deshalb tat er das einzige, von dem er glaubte, daß es wenigstens sein nacktes Leben retten könne. Der Mongole strich die Flagge. Die Dschunke drehte bei, und die Piraten zogen ein weißes Hemd am Flaggenstag hoch, um zu zeigen, dass sich ergaben. Auf der „Isabella“ löste diese Tatsache zunächst einmal einen gewaltigen Heiterkeitsausbruch aus. Die Seewölfe waren schon gespannt auf die Gesichter, die die Piraten ziehen würden, wenn die Galeone an ihnen vorbeisegelte, aber dann fiel Hasard etwas Besseres ein. Yannay Ki hatte schon früher ein Schiff geführt.
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Die Mon waren passable Seeleute. Wenn sie die Dschunke in ihren Besitz brachten, entzogen sie dem Mongolen nicht nur seine letzte Basis, sondern konnten sich in Zukunft auch besser gegen ähnliche Galgenvögel und Schnapphähne zur Wehr setzen. Pak-Sung stand nicht mehr zur Verfügung, doch die Idee ließ sich den Mon auch in der Zeichensprache auseinandersetzen. Yannays aufleuchtenden Augen waren Antwort genug. Die „Isabella“ fiel etwas ab, glitt auf die Dschunke zu und schor längsseits, während bereits die ersten Enterhaken flogen. Der Mongole sprang außenbords, noch ehe einer der Seewölfe seinen Fuß auf das Deck der Dschunke setzte. Der schäbige Rest der Piratenbande folgten seinem Beispiel. Nicht einmal ein Boot wagten sie mehr abzufieren. Als säße ihnen der Teufel im Nacken, schwammen sie auf die Küste zu und kletterten wenig später triefend aus dem Wasser: ein trauriger, geschlagener Haufen, der für die Menschen dieses Landes ganz sicher keine Gefahr mehr darstellte. Eine halbe Stunde später hatten die Mon „ihre“ Dschunke in Besitz genommen. Yannay Ki stand auf dem Achterkastell und winkte zur „Isabella“ herüber. Die Seewölfe winkten zurück, und ihre Gesichter wirkten ausgesprochen zufrieden. Hart am Wind glitt die Dschunke nach Süden, ihrem Ziel zu. Einem Ziel, das nicht das der Seewölfe war. Vor ihnen lag der Golf von Bengalen, lagen ein neues, unbekanntes Land und neue Abenteuer.
ENDE