Die Schönste für Ian
Nora Roberts
Julia Nora Roberts Festival 01/00 -3
1. KAPITEL Manchmal hat der Tag einfach nic...
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Die Schönste für Ian
Nora Roberts
Julia Nora Roberts Festival 01/00 -3
1. KAPITEL Manchmal hat der Tag einfach nicht genug Stunden, dachte Ian. Er hasste es, in Eile zu sein, gleichgültig ob bei der Arbeit, in der Freizeit oder sonstwo. Aber in letzter Zeit schien er sich nur abzuhetzen. Und jetzt musste er sich auch noch im Feierabendverkehr einen Weg durch den Verkehrsdschungel von Boston bahnen. Noch ein kurzer Zwischenstopp, und dann war er end lich zu Hause. In seinem neuen Heim. Der Gedanke an das schöne alte Haus, das versteckt hinter mächtigen Ahornbäumen lag, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht und ließ ihn eine unfreundliche Hupe überhören. Seit zwei Monaten konnte er sich jetzt schon an seinem Erwerb erfreuen, und er suchte sämtliche Antiquitäten- und Haushaltsgeschäfte der Stadt ab, um jeden Raum ganz genau nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Und jedes Mal, wenn er seine Haustür aufschloss und die elegante Eingangshalle mit den tiefgrünen Wänden und dem goldgelben, spiegelblanken Parkettfußboden betrat, war er entzückt, dass seine Tage in College-Schlafsälen und beengten Apartments end gültig vorüber waren. Obwohl er gern Leute um sich hatte. Er kam einfach aus einer zu großen Familie, um das Durcheinander und den Unterhaltungswert, der sich aus dem Aufeinanderprallen gegensätz licher Persönlichkeiten ergab, nicht zu schätzen zu wissen. Aber er wollte sein eigenes Reich. Er brauchte sein eigenes Reich. Und er war seiner Cousine Julia noch immer dankbar, dass sie ihm dabei geho lfen hatte, das perfekte Haus in der perfekten Gegend zu finden. Alt und gediegen war das, was er sich gewünscht hatte, und es war das, was er bekommen hatte. Würde, Stil und Charakter. Vermutlich lag das Bedürfnis nach solchen Werten den MacGregors im Blut. Er war Würde, Stil und Charakter von Kindesbeinen an gewöhnt, zu Hause und bei der Arbeit. Die Kanzlei „MacGregor und MacGregor" stand für alle drei Dinge ebenso wie seine Eltern, seine Großeltern und sämtliche Zweige der Familie. Jetzt war er zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester Teilhaber dieser angesehenen Anwaltskanzlei. Er beabsichtigte, ihr seinen Stempel aufzudrücken, die Traditio nen aufrechtzuerhalten und vielleicht in einiger Zeit in die Fußstapfen seines Vaters sowie seines Onkels in Washington zu treten. In der Presse konnte man gelegentlich lesen, dass Ian MacGregor der geborene Politiker sei. Man behauptete, dass er durchaus das Zeug dazu habe, entweder seinem Vater, der Generalbundesanwalt gewesen war, oder seinem Onkel, dem ehemaligen Präsidenten des Landes, nachzueifern. Er "war eine blendende Erscheinung mit dem blonden Haar, den ru higen blauen Augen, den ausgeprägten Gesichtszügen und dem entschlossenen Mund, der Frauen aufseufzen und Männer Vertrauen fassen ließ. Die Sensationspresse hatte ihren großen Tag gehabt, als ihn ein Fotograf mit nichts als einer Badehose bekleidet beim Segeln auf der „Charles" vor die Linse bekommen hatte. Der Schnappschuss hatte die Verkaufszahlen der Boulevardblätter in die Höhe getrieben und ihm den Titel „Harvard-Adonis" eingebracht, der - zu seiner eigenen Bestürzung und zur Belustigung der Familie - an ihm kleben geblieben war. Schließlich hatte er es mit Humor genommen - was hätte er auch sonst tun sollen? - und es all denen gezeigt, die behaupteten, er sei nur ein hübscher Junge, indem er seinen Abschluss mit „magna cum laude" machte und die Prüfung vor der Anwaltskammer auf Anhieb bestand. Ian MacGregor traf, worauf er zielte, und er hatte es, solange er sich erinnern konnte, auf die Juristerei abgezielt. Aber trotz der Lorbeeren, die er schon eingeheimst hatte, war er das jüngste Mitglied der Anwaltskanzlei und fand sich deshalb nicht selten zum Laufburschen degradiert. Sein gegenwärtiger Auftrag war allerdings ein bisschen mehr.
Ian fuhr im Kreis und hielt wenig hoffnungsvoll nach einem Parkplatz Ausschau. Schließlich entschied er sich für einen, der sechs Häuserblocks von seinem eigentlichen Ziel entfernt lag, und dachte, er hätte genauso gut nach Hause fahren und von dort aus zu Fuß gehen können. Er griff aber dennoch nach seinem Aktenkoffer und ent spannte sich genug, um auf dem Weg zu „Brightstone's" immerhin gemütlich an den hübsch dekorierten Schaufenstern entlangzuschlendern. Es war ein herrlich milder Spätsommertag, perfektes Neuenglandwetter, mit Bäumen, deren gefärbtes Laub in dem Abendlicht eines sich langsam verdunkelnden Himmels schon eine leise Ahnung des herannahenden Herbsts gaben. Ian nahm sich vor, sich gleich nach dem Heimkommen ein Glas Wein einzuschenken, sich damit auf die Hinterveranda zu setzen und den Blick über sein kleines Königreich schweifen zu lassen. Es war eine äußerst angenehme Vorstellung. Mit in der leichten Brise flatternden Mantelschößen blieb er vor „Brightstone's" stehen und schaute an der verwitterten roten Backsteinfassade des alten, gediegenen Gebäudes hinauf. „Brightstone's" war eine Institution in Boston, und er bedauerte es, in den letzten zwei Jahren nicht mehr Zeit gefunden zu haben, in der renommierten Buchhandlung herumzu stöbern. Aber jetzt wohnte er ganz in der Nähe und würde sicher ab und an Gelegenheit bekommen, durch die Räume mit den vielen Nischen, Regalen und Türmen aus Büchern zu wandern. „Brightstone's" bedeutete in Boston Bücher. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er an der Hand seiner Mutter als Kind hier hineinging und, noch während sie in den Neuerscheinungen blätterte, in der Kinderecke verschwand. Das Personal war immer hilfreich und unaufdringlich gewesen, die Atmosphäre angenehm ruhig und das Sortiment groß und vie lfältig. Und während er sich dieser zufriedenen Stunden erinnerte, die er in dem Geschäft verbracht hatte, kam ihm die Idee, eines seiner vielen Zimmer in eine Bibliothek umzuwandeln. Er trat ein und freute sich, die vertrauten hohen Decken mit ihren eleganten Stuckverzierungen zu sehen, das blank polierte Walnussholz, die Unmengen von Büchern. Im ersten Stock standen seiner Erinnerung nach die Biografien, Geschichtswerke, Bildbände und Reiseführer sowie die einheimischen Autoren. Und einen Stock höher befand sich eine Fundgrube seltener Bücher. Das Geschäft ging offensichtlich gut, ein Umstand, der ihn ein bisschen überraschte. Vor einem Jahr etwa hatte er gelesen, dass die alte Bostoner Institution in ernsthaften Schwierigkeiten stecke und allem Anschein nach nicht in der Lage sei, mit den Großhandelsketten und Bücherabteilungen in den Kaufhäusern Schritt zu halten. Aber jetzt schlenderte eine erkleckliche Anzahl von Kunden durch die Regalreihen, einige warteten an dem eleganten Tresen vor der Kasse, und andere hatten sich in den einladenden Sitzecken niedergelassen und blätterten in Büchern. Das war doch neu, oder? Diese gemütlichen Sessel und die schweren alten Tische? Und im hinteren Teil des Raums, der ein bisschen erhöht lag und wo früher ebenfalls Re gale gestanden hatten, befand sich jetzt ein kleines Cafe. Und bei der Musik, die leise im Hintergrund spielte, handelte es sich nicht um ernste, klassische, sondern um helle Flöten- und Harfenklänge. Neugierig wanderte er durchs Erdgeschoss und registrierte, dass sich die Kinderbuchecke bis auf einen Korb mit buntem Plastikspielzeug und entzückenden großformatigen Drucken, auf denen Märchenszenen zu sehen waren, nicht verändert hatte. Und hier stand eine riesige Vitrine mit ausgefallenen Le sezeichen, Leselampen, Briefbeschwerern und einer Vielzahl von Geschenken für den Bücherfreund. Nachdem er sie umrundet hatte, stieg ihm verführerischer Kaffeeduft in die Nase.
Geschickt, sehr geschickt, dachte er. Es würde eine Menge Willenskraft erfordern, das Geschäft zu verlassen, ohne eine Kostprobe genommen oder ohne etwas gekauft zu ha ben. Er sagte sich jedoch, dass er weder Zeit für das eine noch für das andere hatte, und machte sich auf den Weg zur Kasse. „Ich suche Miss Naomi Brightstone. Ich bin Ian MacGregor. Sie erwartet mich." „Miss Brightstone ist in ihrem Büro im ersten Stock. Möchten Sie, dass ich sie hole?" Höfliches, tüchtiges Personal "war offensichtlich noch immer an der Tagesordnung. Ian lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich gehe nach oben." „Ich sage ihr Bescheid, dass Sie kommen, Mr. MacGregor." „Das wäre nett." Während er die gewundene Treppe hinaufging, sah er in Gedanken plötzlich seine Mutter vor sich, wie sie von hier oben zu ihm hinabsah und ihm mit einem Lächeln versprach, dass sie anschließend Eis essen gehen würden, wenn er sich noch etwas gedulde. „Rocky Road", murmelte er. Dort hatte er immer sein Eis essen wollen, und seine Mutter hatte ihn stets an die Hand ge nommen, wenn sie die Straße zu dem Eissalon überquerten. In diese Erinnerung versunken, betrat er den ersten Stock, und ihm fiel auf, dass dieser nicht mehr so düster und einschüchternd wirkte wie früher. Er glaubte aber nicht, dass es daher kam, weil der ganze Raum jetzt mehr als doppelt so groß war. Man hatte zusätzliche Lichtquellen angebracht, und die Regale waren nicht mehr dunkelbraun, sondern aus honigfarbenem Holz. In einer Ecke standen zwei lange Tische mit Stühlen, die dem Raum eine gemütliche Bibliotheksatmo sphäre verliehen. Das halbwüchsige Pärchen, das dort saß, schien allerdings mehr aneinander interessiert als an den Büchern, die aufgeschlagen auf dem Tisch lagen. Beim Anblick der beiden Jugendlichen erinnerte Ian sich an Verabredungen zum Lernen in weitaus weniger gemütlichen Ecken seiner Schulbibliothek. Für noch etwas scheint der Tag nicht genug Stunden zu haben, fiel ihm dabei ein. Nicht fürs Lernen natürlich, aber für Verabredungen. Das musste sich dringend ändern. Die Frauen fehlten ihm. „Mr. MacGregor?" Er drehte sich um und sah eine Frau auf sich zukommen. Eine adrette kleine Person, stellte er bei sich fest. Wie aus dem Ei gepellt in ihrem roten Kostüm und den bequemen halbhohen Schuhen. Das glänzende schwarze Haar, das ihr ebenmäßiges hübsches Gesicht frei ließ, hatte sie sich zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Die Lippen über den ganz leicht vorstehenden Zähnen waren voll, und ihr Lippenstift hatte dieselbe Farbe wie ihr Kostüm. In den Ohrläppchen trug sie schlichte goldene Kreolen, und die Hand, die sie ihm jetzt hinstreckte, war schmal und unberingt. „Miss Brightstone?" „Ja." Sie lächelte. „Tut mir Leid, dass ich nicht unten war." „Ich habe es nicht geschafft, mich rechtzeitig aus der Kanzlei loszueisen. Es macht nichts." „Kommen Sie mit in mein Büro. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Cappuccino?" „Ist dieser Cappuccino so gut, wie er riecht?" Diesmal erreichte das Lächeln ihre klaren grauen Augen. „Er ist noch besser, vor allem, wenn Sie auch noch eins unserer Haselnusstörtchen dazu probieren." „Einverstanden." „Sie werden es nicht bereuen." Sie ging mit ihm durch die Regalreihen zurück zu einer Tür. „Ich werde jemanden bitten, Ihnen Kaffee heraufzubringen. Entschuldigen Sie das Durcheinander", sagte sie, während sie um eine Leiter und Malerutensilien herumging. „Wir haben unser Facelifting noch nicht ganz abgeschlossen." „Ich habe die Veränderungen bereits bemerkt. Es ist wirklich sehr hübsch geworden." „Danke." Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu und öffnete eine zweite Tür. „Sie sind allgemein sehr positiv aufgenommen worden."
Ihr Büro war ebenfalls frisch renoviert. Die Wände hatten ein weiches Perlweiß, das von Aquarellgemälden, auf denen Bostoner Straßenszenen zu sehen waren, aufgelockert wurde. Der glänzende elegante Kirschholzschreibtisch war mustergültig aufgeräumt und passte in Größe und Stil zu ihr. Sie deutete auf zwei bunt gestreifte Sessel. „Nehmen Sie bitte Platz. Ich bestelle nur schnell den Cappuccino." Er folgte ihrer Aufforderung und musterte sie eingehend, während sie telefonierte. Aus den Unterlagen in seinem Ak tenkoffer wusste er, dass sie die Tochter des Eigentümers war, was bedeutete, dass „Brightstone's" seinen Berechnungen nach jetzt schon in der vierten Generation in Familienbesitz sein musste. Er hatte sie sich nicht so jung vorgestellt - sie war bestimmt erst Anfang zwanzig - und viel steifer. Sie wirkte sehr tüchtig, aber nicht unmodern. Und sie ist gut gebaut, fügte er in Gedanken hinzu, als er sah, wie hübsch sie ihr rotes Kostüm ausfüllte. Nachdem sie aufgelegt hatte, setzte sie sich in den Sessel ihm gegenüber und faltete die Hände im Schoß. „Der Cappuccino kommt gleich. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie sich extra herbemüht haben. Das Geschäft beansprucht im Augenblick meine ganze Zeit." Ihre Stimme war so klar und ruhig wie ihr Blick. „Ich kenne das. Und ich bin Ihrer Bitte gern nachgekommen. Ihr Geschäft liegt direkt auf meinem Weg." „Das beruhigt mich. Ihre Sekretärin sagte mir, Sie hätten alles so "weit vorbereitet, dass ich nur noch zu unterschreiben brauche." „Die Teilhaberschaftsvereinbarung, ja. Es ist nur eine Routineangelegenheit, und ich denke, wir haben alles aufge nommen, worum Ihr Vater gebeten hat." Neugierig geworden, klappte er seinen Aktenkoffer auf und versuchte ein bisschen Zeit zu gewinnen, indem er überflüssigerweise darin herumsuchte. „Darf ich annehmen, dass Ihr Vater sich zur Ruhe setzt?" „Mehr oder weniger. Er und meine Mutter beabsichtigen, mehr Zeit in ihrem Winterdomizil in Arizona zu verbringen, und vielleicht wollen sie sogar ganz dorthin umziehen. Mein Bruder lebt mit seiner Familie bereits dort." „Und Sie zieht es nicht gen Westen?" „Nein, ich liebe Boston." Und Boston ist „Brightstone's", dachte sie mit einem kleinen Herzflattern. Oder wird es werden. „Ich habe in den letzten achtzehn Monaten eine größere Verantwortung im Geschäft übernommen." „Die Veränderungen waren also Ihre Idee?" „Ja." Eine, die sie hartnäckig verteidigt hatte. „Der Markt hat sich verändert, die Kunden verlangen und erwarten Veränderungen. Es war Zeit aufzuholen." Sie stand auf, als es klopfte, nahm aus den Händen eines jungen Mannes ein Tablett entgegen und bedankte sich. „Zum einen ist da jetzt das Cafe", fuhr sie fort, während sie das Tablett auf dem Schreibtisch abstellte und Ian eine große Tasse samt Untertasse reichte. „Es ist die Art Service, den die Leute heutzutage in einer Buchhandlung erwarten. Sie kommen nicht mehr nur wegen der Bücher, sondern auch wegen der Atmosphäre. Es ist eine Begegnungsstätte, ein Ort, an dem man mit Gleichgesinnten Gespräche führen kann ...", sie lächelte wieder, als sie sich mit ihrer eigenen Tasse in der Hand hinter ihren Schreibtisch setzte, „... und wo es guten Kaffee gibt." „Nun, Letzteres kann ich nur bestätigen", sagte Ian, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. „Der Cappuccino schmeckt ausgezeichnet. Und da ich einen Blick auf Ihren Geschäftsbericht geworfen habe, muss ich feststellen, dass Ihre Rechnung bis jetzt zumindest aufgeht. Die vorgenommenen Veränderungen haben sich bereits ausgezahlt." „Wir hatten in den letzten neun Monaten eine fünfzehnprozentige Gewinnsteigerung." Sie wollte nicht daran denken, nicht jetzt, was es sie gekostet hatte, diese Veränderungen durchzusetzen. „Ich schätze, dass wir in den nächsten sechs Monaten noch einmal fünfzehn haben werden."
„Ich war als Kind sehr gern bei Ihnen", bemerkte er. „Und waren Sie im letzten Jahr auch unser Kunde?" Er schüttelte den Kopf. „Ertappt. Aber ich habe vor, es nachzuholen." Er stellte seine Tasse auf dem Schreibtisch ab, dann reichte er ihr den Vertrag. „Sie möchten bestimmt noch einen Blick darauf werfen, bevor Sie unterschreiben. Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie." „Danke", sagte sie und griff nach einer Brille mit einer dünnen Goldfassung. In dem Moment, wo sie sie aufsetzte, schmolz Ian langsam, aber unabwendbar dahin. Frauen mit Brillen brachten ihn um den Verstand. Er schaute verzweifelt an die Decke, langte nach seinem Kaffee und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen. Sie war schließlich seine Mandantin. Deren ernste und intelligente grauen Augen betörend aussahen hinter diesen Gläsern. Und dann war da noch die ser leuchtend rot geschminkte und so sexy unvollkommene Mund. Der gut proportionierte Körper in dem adretten, fast militärisch strengen Kostüm. Vernünftige Schuhe. Atemberaubende Beine. Diese Kombination würde sogar einen Heiligen in Versuchung bringen, tröstete er sich. Und die MacGregors waren schließlich nicht gerade als Heilige bekannt. Trotzdem konzentrierte er sich so weit wie möglich auf seinen Cappuccino und bemühte sich, nicht an den dicken, ordentlich geflochtenen Zopf und das dezente und ganz und gar weiblich duftende Parfüm zu denken, das alles nur noch schlimmer machte. Aber was sprach eigentlich dagegen, sie zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, irgendwann einmal in nächster Zeit mit ihm auszugehen? Zum Abendessen vielleicht. Nein, zum Mittag essen, entschied er dann. Mittagessen war bestimmt besser, irgendwie geschäftsmäßiger. Ein ganz normales Geschäftsessen, bei dem er überhaupt nicht auf die Idee kommen würde, an ihrem Hals zu schnuppern, um herauszufinden, ob dort dieser Duft noch intensiver war. Er betrachtete sich ihre Hände. Ihre Nägel waren kurz, rund und unlackiert. Sie trug keinen Ring, was ihn zu der Hoffnung veranlasste, dass sie ungebunden war. Er lehnte sich zurück, während sie noch immer las, und plante in allen Einzelheiten, wie er das Thema eines netten kleinen Mittagessens in der nächsten Woche am besten zur Sprache bringen könnte. Naomi prüfte jede Zeile, dann gestattete sie sich einen tie fen, kaum hörbaren Atemzug. Es war ein bedeutsames Ereignis für sie, selbst wenn dieser Juristenjargon noch so ge spreizt und förmlich klang. Wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie sich jetzt den Vertrag an die Brust gepresst und ge weint. Oder laut gejauchzt vor Freude. Aber so legte sie nur die Blätter auf den Schreibtisch und nahm die Brille ab. „Sieht aus, als sei alles in Ordnung." „Haben Sie noch irgendwelche Fragen?" „Nein, es ist alles klar. Ich habe im Nebenfach Wirtschaftsrecht studiert." „Na wunderbar. Wenn Sie also einverstanden sind, können Sie jetzt unterschreiben. Aber Sie brauchen noch einen Zeugen. Ich schicke den Vertrag dann Ihren Eltern zu. Sobald sie ebenfalls unterzeichnet haben, tritt die Vereinbarung in Kraft." „Ich werde meine Assistentin rufen." Fünf Minuten später streckte Naomi ihm eine ruhige Hand entgegen und sah ihn mit etwas unterkühltem Blick an. „Vielen Dank, dass Sie das für uns unter Dach und Fach gebracht haben." „Es war mir ein Vergnügen. Ach ja, da hätte ich noch etwas. Ich habe hier eine Bücherliste. Mein Großvater ... Sie kennen ihn?" „Ja." Ihre Augen erwärmten sich wieder, und der leuchtend rote Mund verzog sich zu einem weichen Lächeln. „Er und Ihre Großmutter schauen regelmäßig bei uns rein, wenn sie in Boston sind." „Er ist hinter ein paar Erstausgaben her. Ich sollte Sie fragen, ob Sie vielleicht etwas für ihn tun könnten ... weil ich sowieso schon einmal hier bin."
„Ich wüsste nicht, was ich lieber täte. Lassen Sie uns nach oben ins Antiquariat gehen, und wenn wir nicht vorrätig ha ben, was er sich wünscht, dann werde ich mich danach er kundigen." „Großartig." Sie trat einen Schritt vor, doch er blieb stehen. Als sie ihn fragend anschaute, lächelte er verschmitzt. „Sie duften wunderbar." „Oh." Ihre Wangen röteten sich, und sie senkte rasch den Blick. Dann sah es plötzlich so aus, als sacke sie in sich zusammen. „Danke. Es ist, äh, neu. Das ist, ich habe nur ... Nun ja", sagte sie, verärgert über sich selbst, „lassen Sie uns nach oben gehen." Himmel, dachte er, während er die Tür öffnete und ihr den Vortritt ließ, sie ist sichtlich verwirrt. Diesmal hast du es dir gründlich vermasselt, MacGregor.
2. KAPITEL Der Grand Canyon wäre nicht tief genug, um sie zu verschlingen, davon war Naomi über zeugt. Nur die Tatsache, dass sie von Büchern umringt gewesen war, die ihr schon immer Halt und Trost gegeben hatten, bewahrte sie davor, die Fassung in Ians Gegenwart zu verlieren. Nachdem sie zwei Bücher von seiner Liste gefunden und eine Bestellung für das dritte aufgegeben hatte, hatte sie ihn nach unten begleitet, ihm höflich die Hand geschüttelt und sich noch einmal bei ihm bedankt. Dann war sie zurück in ihr Büro gegangen, hatte die Tür hinter sich geschlossen und den Kopf auf den Schreibtisch gelegt. Dumme Gans, schimpfte sie mit sich. Würde sie sich bis in alle Ewigkeit in ein stotterndes Etwas verwandeln, sobald ein attraktiver Mann ein persönliches Interesse an ihr zeigte? Dabei hatte sie geglaubt, sie hätte es geschafft - die Verwandlung von dem pummeligen, schüchternen, schlecht gekleideten Mädchen in eine schlanke, modische und selbstbewusste Frau. Und jetzt machte sie sich zum Narren, nur weil Ian MacGregor ihr etwas Nettes über ihr Parfüm gesagt hatte. Eine volle Woche später war sie immer no ch nicht darüber hinweg. Das bestellte Buch war inzwischen eingetroffen. Es lag auf ihrem Schreibtisch, ordentlich eingepackt und bereit, verschickt oder abgeholt zu werden. Sie hatte bis jetzt noch nicht den Mut gefunden, nach dem Telefonhörer zu greifen und Ian zu sagen, dass seine Bestellung eingetroffen sei. Dumme Gans, dachte sie wieder. Und das nach der ganzen Mühe, die sie sich gemacht hatte. „Brightstone's" war nicht das einzige Projekt, das sie wie besessen in Angriff genommen hatte. Auch an sich selbst hatte Naomi während des vergangenen Jahrs gehörig gearbeitet. Nachdem ihr klar geworden war, dass sie aufhören musste, ihre Schüchternheit, ihr ungeschicktes Auftreten und ihre Unzufriedenheit mit ihrer Erscheinung dadurch zu kompen sieren, indem sie mehr und mehr aß, hatte sie allmählich abgenommen. Und im Laufe dieser Entwicklung hatte sie sich auf die Suche nach der Frau in sich gemacht. Die Frau, die sie gefunden hatte, mochte und achtete sie. Nach und nach hatte sie ihre unvorteilhafte sackförmige Garderobe aussortiert und durch attraktive Kleider und Kostüme, die ihrer Figur schmeichelten, ersetzt. Und bei den Farben hatte sich auch etwas verändert. Sie seufzte, als sie an dem neuen quittengelben Kostüm hinunterschaute. Vorbei waren die Tage, als sie noch vernünftiges Dunkelblau, ge decktes Braun und unauffälliges Grau getragen hatte. Und alles unförmig und viel zu weit. Aber das war nur ihr Äußeres, genau wie die kleinen kosmetischen Tricks, derer sie sich zu bedienen gelernt hatte. Sie hatte auch die Verwandlung von dem unsicheren jungen Mädchen, das in Gesellschaft vor lauter Hemmungen über die eigenen Füße stolperte, zu einer selbstsicheren jungen Frau zuwege gebracht. Sie würde es sich nicht gestatten, sich wieder schüchtern in eine Ecke zu verkriechen, so wie sie es fast ihr ganzes Leben lang getan hatte, nur weil sie nicht so schön und gewandt sein konnte wie ihre Mutter oder so ge sellig und selbstbewusst wie ihr Bruder. „Brightstone's" brauchte eine gewandte, gut aussehende Geschäftsführerin, und dass sie das mittlerweile geworden war, stand außer Zweifel. Dabei hast du deine Sache bis jetzt so gut gemacht, dachte sie unglücklich. Sie war so stolz auf sich gewesen. Wenn man nur bedachte, wie gut sie sich am Anfang bei Ian MacGregor gehalten hatte. Obwohl er genau die Art von Mann war, bei dem sie sich früher eher die Zunge abgebissen hätte, als Hallo zu sagen.
Der Harvard-Adonis. Oh ja, diesen Titel verdiente er eindeutig. Er sah so gut aus, er war so gewandt, und wenn er lä chelte ... Nun, sie bezweifelte, dass ihr Herz das einzige Frauenherz war, das dann höher schlug. Aber sie hatte sich trotzdem gut gehalten. Sie hatten zusammen Kaffee getrunken, ein bisschen Konversation ge macht, über geschäftliche Angelegenheiten gesprochen. Und dann hatte er ihr ein beiläufiges Kompliment ge macht, und sie hatte angefangen herumzustottern wie ein Idiot. Sie war rot geworden, um Himmels willen. Und das alles nur, weil er etwas Nettes über ihr neues Parfüm gesagt hatte. Für einen Mann mit seinem Hintergrund und seinem Charme war es das Normalste von der Welt, Frauen Komplimente zu machen. Und natürlich erwartete er, dass diese Komplimente auf eine leichte, gewandte - vielleicht sogar flirtende - Art angenommen wurden. Wahrscheinlich hatte sich Ian über ihre alberne und unreife Reaktion auf dem Heimweg halb totgelacht. Oder schlimmer noch, sie hatte ihm Leid getan. Allein der Gedanke daran bewirkte, dass sie sich innerlich wand. Sie war zu viele Jahre lang die Zielscheibe von Spötteleien oder Mitleid gewesen. Selbst ihre Eltern hatten sich oft über sie lustig gemacht, aber das hatte sie nicht als besonders schlimm empfunden, da sie ja wusste, dass sie sie im Grunde liebten. Genauso wie sie wusste, wie sehr sie sich jetzt freuten, dass sie endlich anfing, etwas aus sich zu machen. Vor ihrer Abreise nach Arizona hatte ihr Vater sie wie üblich umarmt, aber diesmal sie nicht wie sonst sein liebes Mädchen genannt, sondern sein schönes Mädchen. Sie hatte sich dabei - törichterweise - wie eine Prinzessin gefühlt. Sie hatten ihr „Brightstone's" anvertraut, weil sie davon überzeugt waren, dass sie hart arbeiten konnte. Ihr Vater hatte die Veränderungen, die sie vorschlug, anfangs nicht ge wollt. Entweder hatte er die Kosten gescheut oder das finanzielle Risiko. Er hatte sich einfach nur verständlicherweise - zur Ruhe setzen und die Buchhandlung, die mittlerweile mehr Bürde als Lebensunterhalt geworden war, aufgeben wollen. Aber sie liebte sie so. Und sie brauchte sie. Die Buchhandlung war ihre Zuflucht, ihre Freude, ihr Herz gewesen, solange sie denken konnte. Am Ende hatte ihre Familie das verstanden und nachgegeben. Sie würde sie nicht enttäuschen. Und sie würde auch sich selbst nicht enttäuschen. Alles Grübeln und Stöhnen über die kleine Ungeschicklichkeit, die ihr bei Ian unterlaufen war, brachte sie nicht weiter. Wahrscheinlich hatte er den Vorfall längst vergessen. Und damit sie ebenfalls vergessen und auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergehen konnte, musste sie sich ihrem Fehler stellen. Und Ian MacGregor auch. Sie nahm das Buch von ihrem Schreibtisch und ging zur Tür, wobei sie sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, vor Nervosität auf ihren Lippen zu kauen. Sie hatte beschlossen, ihm das Buch persönlich vorbeizubringen. Als Naomi das hübsche alte, zweistöckige Backsteinhaus betrat, in dem sich die Anwaltskanzlei „MacGregor und MacGregor" befand, war sie davon überzeugt, dass sie sich perfekt im Griff hatte. Sie hatte sich die Zeit genommen, im Auto ihren Lippenstift noch einmal zu erneuern, und sie hatte zehnmal tief durchgeatmet, weil sie das beruhigte. Wenn sie ganz ehrlich zu sich war, musste sie zugeben, dass ihr einziges Problem ihre Reaktion auf Ian MacGregor war. Sie hatte schon in dem Moment so heftig auf ihn reagiert, als sie ihn mit einem versonnenen Lächeln und etwas verloren im Laden hatte stehen sehen. Das Gefühl, das sie in diesem Moment empfand, war ähnlich gewesen, als hätte sie etwas besonders Schönes, Be gehrenswertes gesehen, das ganz und gar außerhalb ihrer Reichweite lag. Eine Art tiefer Sehnsucht. Aber jetzt hatte sie sich wieder unter Kontrolle, weil sie sich - und das nicht nur einmal daran erinnert hatte, dass Ian MacGregor sich im Zusammenhang mit ihr nur fürs Ge schäftliche interessierte.
Während sie jetzt den in Lindgrün und Creme gehaltenen Empfangsraum mit dem Marmorkamin, in dem ein Feuer brannte, durchquerte, erinnerte sie sich als Vorbereitung auf das Treffen ein weiteres Mal daran. Hier herrscht Klasse, dachte sie. Und Tradition. Das waren Werte, die sie schätzte und sehr gut verstand. Sie lächelte die Frau an, die hinter dem wunderschönen, matt glänzenden Schreibtisch saß. „Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?" „Ich bin Naomi Brightstone. Ich habe ..." Sie brach ab, als die Tür aufflog. „Hurra! Ich habe gewonnen! Die Gerechtigkeit hat einen neuen Sieg errungen, und die Welt ist für unsere Kinder wieder ein bisschen sicherer geworden." Die Frau, eine atembe raubend schöne Brünette in einem pflaumenfarbenen Ho senanzug, warf Naomi ein strahlendes Lächeln zu. „Entschuldigung. Normalerweise geht es bei uns würdevoller zu. Ich bin Laura Cameron." „Ich bin Naomi Brightstone. Herzlichen Glückwunsch." „Danke. Warten Sie ... Brightstone? Etwa die Buchhand lung?" „Richtig." „Oh, ich liebe dieses Geschäft. Ich habe es immer geliebt." Laura schob sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Und das neue Cafe ist herrlich." Das nervöse Kribbeln in Naomis Bauch ließ nach. „Danke. Wir sind sehr stolz darauf." „Wir setzen einen Vertrag für Sie auf, stimmt's? Oder, besser gesagt, Ian macht es." „Ja, ich bin nur gekommen, um ..." „Ich bin seine Schwester." „Ja, ich weiß. Ihr Großvater wollte ein Buch." Sie hob die kleine Einkaufstüte hoch. „Ich hatte gerade in der Nähe zu tun und wollte es nur schnell vorbeibringen. Ich dachte, ich könne es ja auch persönlich bringen." „Ach so. Möchten Sie es mir geben, oder wollen Sie mit Ian selbst sprechen?" „Nun, ich ..." Sie merkte, wie sie mit beginnender Verzweiflung nach Worten rang, dann fiel ihr ein Stein vom Herzen, als das Handy in ihrer Handtasche klingelte. „Ent schuldigen Sie mich einen Moment." Sie langte in ihre Tasche und holte das Handy heraus. „Hallo." „Naomi? Ian MacGregor hier." „Oh." Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Wie seltsam." „Was?" „Ich meine, ich bin gerade ... Ich habe Ihr Buch. Ich wollte nur..." „Großartig, dann schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ihre Eltern haben den Vertrag unterschrieben zurückgeschickt. Ich kann nachher vorbeikommen und Ihnen Ihre Ausfertigung bringen und dann gleich das Buch mitnehmen." „Das ist nicht nötig. Ich ..." „Es macht mir nichts aus. Es liegt auf meinem Weg, erinnern Sie sich?" „Ja, ich erinnere mich. Aber ich bin unten." „Unten? Wo? Hier?" Er lachte dröhnend. „Warten Sie", befahl er und legte auf. Naomi schaute verdutzt ihr Handy an. „Das war Ihr Bruder." „Ja." Laura grinste. „Das habe ich mitbekommen. Die Wunder der modernen Technik", murmelte sie und fragte sich, was diese plötzliche Röte in Naomis Wangen wohl bedeuten mochte. Ian kam im Laufschritt die Treppe herunter. Oh ja, dachte er. Sie sah genauso aus, wie er sich erinnerte. Er streckte ihr die Hand hin, sah, dass sie noch immer das Telefon hielt, und grinste sie an. „Sie können jetzt auflegen." „Ja, natürlich." Das war wieder einmal brillant von dir, Naomi, dachte sie mit leiser Selbstironie. Warum machst du nicht noch einen braven Knicks vor ihm, wenn du sonst schon nichts kannst? „Ich hatte gerade in der Nähe zu tun, deshalb dachte ich mir, ich könnte gleich Mr. MacGregors Buch vorbeibringen."
„Wunderbar. Kommen Sie mit rauf." „Ich möchte Sie nicht bei Ihrer Arbeit stören." „Sie stören mich nicht. Sie ganz bestimmt nicht." Er warf seiner Schwester einen Blick zu, als diese sich räusperte. „Was ist?" „Oh, nichts. Gar nichts." Laura musste ein Lachen unterdrücken. Ian gab ihr einen brüderlichen Rippenstoß, nahm Naomis Arm und bugsierte sie zur Treppe. „Bestimmt haben Sie zu tun", begann Naomi von neuem, während sie neben ihm die Treppe hochging. Das Szenario in ihrem Kopf beinhaltete keinen Abstecher in sein Büro. „Ich habe ein paar Minuten Zeit. Das mit dem Buch hat ja schnell geklappt." „Wir haben ein paar gute Quellen. Der Preis liegt innerhalb des Rahmens, den ich Ihnen genannt habe ... ziemlich weit oben, leider." „Er will es unbedingt, also wird er auch gern dafür bezahlen", sagte Ian, nahm wieder ihren Arm und führte sie einen mahagonigetäfelten Flur hinunter. Er versuchte, sie unauffällig zu betrachten. Sie duftet immer noch wunderbar, dachte er, aber er war vorsichtig genug, es nicht noch einmal zu erwähnen und sie womöglich wieder vor den Kopf zu stoßen. Er öffnete eine Tür. „Nehmen Sie bitte Platz", forderte er sie auf. Sein Büro spiegelte die Atmosphäre des alten Stadthauses wider. Wenn sie sich nicht sehr irrte, war der Schreibtisch unter den Aktenbergen und dem natürlich hochmodernen Computer Chippendale und der Teppich über dem spiegelnden Parkett ein Bristol. Aktenschränke aus Eichenholz säumten eine Wand und Bücherregale eine andere. Das große Fenster ging auf die Straße hinaus, wo prächtige alte Bäume gerade begannen, ihr Herbstkleid anzulegen. Da es aus der Situation kein Entrinnen gab, ließ sie sich in einem der burgunderroten Ledersessel nieder. „Ein wunderschönes Haus ist das." „Mein Vater hatte es bereits vor seiner Heirat gekauft. Er war noch dabei, es zu renovieren, als meine Mutter schon hier eine Kanzlei eröffnete. Er wollte - und dann wollten sie es beide , dass das Recht in einem Haus mit Charakter beheimatet ist." „Das haben sie mit Sicherheit erreicht." „Wie wäre es mit Kaffee? Nicht, dass ich Ihnen etwas anbieten könnte, was Ihrem auch nur im Entferntesten nahe käme." „Nein, danke, ich möchte nichts. Ich sollte wirklich ... wirklich jetzt gehen ... sonst..." „Ich werde den Vertrag sofort einreichen", unterbrach er sie. Auf keinen Fall würde er sie gehen lassen, ohne dass er die Chance genutzt hätte, seinen Schnitzer wieder gutzuma chen. Er setzte sich, nicht hinter seinen Schreibtisch, wie sie es erwartet hatte, sondern in den Sessel neben sie. „Ich habe Kopien für Sie", fuhr er fort. „Die Originale bleiben im Gericht. Bevor ich sie eingereicht habe, ist es noch nicht ganz offiziell, aber Sie können sich trotzdem schon als Teilhaberin und Vizepräsidentin von ,Bnghtstone Books' fühlen. Herzlichen Glückwunsch." Sie wo llte ihm höflich danken, aber sie brachte kein einziges Wort über die Lippen, weil sie urplötzlich von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Sie konnte nur noch die Augen schließen. „Ist alles in Ordnung?" fragte er sanft. Sie nickte und atmete ein paarmal ein und aus, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. „Ja, danke." „Nichts zu danken." Impulsiv griff er nach ihrer Hand. Sie wirkte so aufgewühlt und ... erschrocken. „Es ist ein großer Augenblick, nicht wahr?" „Der größte. Ich dachte, ich sei darauf vorbereitet. Natürlich bin ich auf die Aufgabe vorbereitet", korrigierte sie sich schnell. „Aber es zu hören, dass es jetzt Wirklichkeit ist, hat
schon etwas Überwältigendes. Ich danke Ihnen." Sie brachte ein kleines Lachen zu Stande. „Ich bin bloß froh, dass ich sitze." „Ich kenne das Gefühl. An dem Tag, an dem ich in dieses Büro kam, mich an diesen Schreibtisch setzte und wusste, dass ich jetzt Teil dessen bin, was mir am wichtigsten ist, ging es mir genauso. Ich saß hier ... bestimmt eine Stunde ... und grinste einfach nur in mich hinein. Euphorie und Angst, das sind die Gefühle, die man in solchen Augenblicken ver spürt." „Ganz genau." Ihre Hand, die noch immer in seiner lag, entspannte sich. „Der Gedanke, dass man das nächste Glied in einer langen Kette der Familientradition ist, lässt einen richtig ehrfürchtig werden. Ist es nicht so?" „Auf jeden Fall. Wie werden Sie es feiern?" „Feiern?" Ihr Kopf wurde leer. „Ich nehme an, ich gehe ins Geschäft zurück." „Das ist nicht annähernd gut genug. Wie steht's mit einem Abendessen?" „Abendessen? Ja, ich mache mir irgendetwas, wenn ich nach Hause komme." Er starrte sie einen Moment an, dann schüttelte er verständnislos den Kopf. Schön, dann musste er wohl deutlicher werden. „Naomi, ich würde Sie gern heute Abend zum Essen einladen. Das heißt, wenn Sie nicht schon etwas anderes vorhaben." „Oh. Also ... nein, ich habe nichts anderes ... äh ..." Bitte, bitte, dachte sie, fang jetzt nicht schon wieder an zu stottern. „Sie brauchen sich nicht verpflichtet zu fühlen ..." „Lassen Sie es mich anders sagen", unterbrach er sie, fasziniert von der Art, wie die Röte in ihren Wangen aufstieg. „Haben Sie Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen?" „Äh ... ja, danke. Das wäre nett." „Gut. Ist Ihnen sieben Uhr recht?" „Sieben, ja, das ist gut." „Soll ich Sie in der Buchhandlung abholen oder zu Hause?" „Äh ... zu Hause. Ich gebe Ihnen meine Adresse." „Ich habe sie in meinen Unterlagen." „Oh ja. Natürlich." Dummkopf. „Ich wohne nicht weit vom Geschäft entfernt. Ich gehe jeden Tag zu Fuß dorthin. Ich mag das Viertel." Hör auf, hör auf und sieh zu, dass du wegkommst, bevor du dich noch mehr blamierst. „Ich sollte jetzt gehen." Sie stand auf und erstarrte, als sie merkte, dass er ihre Hand noch immer festhielt. „Zurück zur Arbeit. Ins Geschäft." Sie blickte ihn aus riesengroßen, wunderschönen und aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte - verwirrten Augen an. „Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?" Er stand jetzt auch auf. „Ja, danke. Mir geht es gut. Vielen Dank." „Ich bringe Sie noch nach unten." „Nein, nein, machen Sie sich keine Mühe." Mittlerweile fast verzweifelt, riss sie ihre Hand los. „Ich kenne den Weg." „Naomi", sagte er, bevor sie an der Tür war. „Hm?" „Was ist mit dem Buch?" „Dem Buch? Oh." Sich verwünschend, ging sie wieder zurück und gab ihm die Tüte, die sie immer noch in der Hand hielt. „Wie dumm von mir. Ich hatte es völlig vergessen. Also dann, auf Wiedersehen." „Bis heute Abend." „Ja, heute Abend", brachte sie mühsam heraus, und dann floh sie förmlich aus dem Zimmer. Ian schob die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Absätzen. Komisch, dachte er. Sie war ihm gar nicht zerstreut vorgekommen. Wahrscheinlich hatte sie die Tatsache, dass ihre Teilhaberschaft jetzt beschlossene Sache war, durcheinander gebracht.
Oder hatte er sie womöglich durcheinander gebracht? Wäre das nicht ein netter Nebeneffekt? Er hätte nie gedacht, dass er die hübsche und tüchtige Naomi Brightstone nervös machen könnte. Niemals. Er schlenderte zu seinem Schreibtisch, griff zum Telefonhörer und bat seine Sekretärin, um halb acht bei „Rinaldo's" einen Tisch für zwei Personen zu bestellen. Dann verstaute er seine Unterlagen in seinem Aktenkoffer und verließ pfeifend sein Büro, um ins Gericht zu fahren. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals mehr auf einen Abend gefreut zu haben.
3. KAPITEL
Ian band sich gerade seine Krawatte, als das Tele fon klingelte. Weil er in Eile war, beschloss er es zu überhören. Er musste auf dem Weg zu Naomi noch bei einem Blumenladen vorbei. Aber als er das dröhnende „Warum, zum Teufel, bist du nicht zu Hause?" vernahm, in dem unüberhörbar ein schottischer Akzent mitklang, grinste er und schnappte sich sein schnurloses Telefon. „Ich bin zu Hause, aber nicht mehr lange." „Kann nicht wenigstens eines meiner Enkelkinder ir gendwann mal zu Hause sein?" polterte Daniel los. „Herumtreiber seid ihr alle. Wenn deine Großmutter das hört, hat sie wieder keinen Moment Ruhe, so sehr sorgt sie sich." „Ach ja?" Ian bohrte sich die Zungenspitze in die Backe. „Ich dachte, sie macht sich Sorgen, weil ich nie ausgehe und meine Nase ständig nur in Rechtsbücher stecke." „Das auch", gab Daniel ungerührt zurück. „Die Frau macht sich Tag und Nacht über alles Mögliche Sorgen. Wann besuchst du sie endlich mal wieder?" „Grandpa, ich war erst letzten Monat zu Duncans Hochzeit bei euch, erinnerst du dich?" „Na und? Das war letzten Monat, oder? Was stimmt nicht mit dem Monat, den wir jetzt haben?" „Nichts. Ich komme bald." „Das will ich hoffen. Glaubst du vielleicht, ich möchte, dass deine Granny mich mit ihrem Gejammer noch ins Grab bringt? Was hast du denn vor heute Abend?" „Ich gehe mit einer hübschen Frau essen, und das habe ich dir zu verdanken." „Mir? Mir? Wieso das denn? Ich habe doch gar nichts ge macht. Und komm bloß nicht auf die Idee, deiner Großmutter so etwas zu erzählen. Ich habe lediglich ..." „Beruhige dich", sagte Ian mit einem Lachen. „Ich habe dich nicht verdächtigt, mich zu verkuppeln. Es ist einfach nur ein glücklicher Zufall. Du hast mich doch gebeten, dass ich dir bei ,Brightstone's' ein paar Bücher besorge, wenn ich sowieso bei Naomi bin." „Na, und wenn schon. Ein Mann wird doch schließlich noch das Recht auf ein paar Bücher haben, oder?" „Ja, Grandpa." Ian schaute verzweifelt an die Decke. „Naomi hat mir heute den Walter Scott in die Kanzlei ge bracht ... kurz nachdem der Vertrag da war. Deshalb hat mir dein Buch zu einer weiteren persönlichen Begegnung mit ihr verholfen. Und ich habe sie gebeten, mit mir auszugehen. Deshalb vielen Dank." „Ah, gut dann." Daniel in seinem Büro in Hyannis Port lachte in sich hinein. Ein helles Köpfchen, dieser Junge, dachte er, aber nicht hell genug, um es mit seinem Grandpa aufnehmen zu können. Ha! „Das ist fein. Sie ist eine schöne junge Frau, die kleine Naomi. Sie hat einen guten Verstand und beste Umgangsformen." „Es ist nur ein Abendessen, Grandpa. Fang nicht schon wieder an." „Anfangen? Womit? Ich sage nur, dass ich mich für dich freue, weil du mit einer schönen jungen Frau essen gehst. Was ist falsch daran, möchte ich wissen? " „Nichts, gar nichts." Ian schaute auf seine Uhr. „Ich muss jetzt aber los, sonst komme ich womöglich noch zu spät." „Was trödelst du dann noch herum? Mach dich auf den Weg, Bursche, und ruf deine Großmutter an, bevor sie sich noch die Augen aus dem Kopf weint." Daniel legte auf und rieb sich die Hände. Nun, triumphierte er, das ging ja einfacher als gedacht. Naomi zermarterte sich das Hirn, was sie anziehen sollte, dann durchlebte sie eine weitere Phase der Verzweiflung, weil sie nicht wusste, was sie mit ihrem Haar anstellen sollte. Am Ende entschied sie sich für ein schlichtes schwarzes Kleid mit einem runden Ausschnitt, eng anliegenden Ärmeln und geradem Rock. Das Haar ließ sie offen.
Sie dachte - hoffte -, dass sie so lässige Eleganz ausstrahlte, bei der er erst gar nicht auf den Gedanken kommen könnte, dass sie sich über ihr Erscheinungsbild stundenlang den Kopf zerbrochen hatte. Sie legte die dreireihige Perlenkette ihrer Großmutter um und schlüpfte in schwarze Pumps mit hohen Absätzen, in denen ihre Füße zwar wie Feuer brennen würden, die ihr jedoch ein gutes Gefühl gaben. Zum Schluss sprühte sie sich mit dem Duft ein, dem Ians Kompliment ge golten hatte. „Da", sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Du siehst hübsch aus. Du bist bereit und wirst nicht dumm sein. Ein sehr netter Mann ist aufmerksam genug, um dich zum Abendessen einzuladen und mit dir den wichtigsten Moment deines Lebens zu feiern. Das ist alles. Oh Gott!" rief sie in einem Anflug von Panik, als es an der Tür klopfte. Dann schloss sie die Augen und atmete, wie sie es sich zur Beruhigung ange wöhnt hatte, zehnmal tief durch. Diesmal wollte sie es auf keinen Fall vermasseln. Einigermaßen gefasst, öffnete sie lächelnd die Tür. Und wenn ihr Herz bei seinem Anblick - er sah aus wie ein Märche nprinz — auch aufseufzte, schaffte sie es doch, weiterhin Haltung zu bewahren. „Oh, wie hübsch Sie sind." „Danke, Sie auch", platzte sie heraus und lachte über sich selbst. Dieses Mal würde sie sich nicht so töricht benehmen. „Ich meinte die Blumen natürlich." „Ach, die." Er schaute auf den Strauß aus rosa Rosen in seiner Hand. „Ich dachte mir, Sie würden sich vielleicht freuen. „Oh ja, das tue ich." Sie nahm ihm den Strauß ab. „Kommen Sie herein, ich stelle die Rosen nur schnell in eine Vase. Machen Sie es sich so lange bequem." Ian trat ein und sah sich um. Ihre Wohnung war hübsch, zweckmäßig, schlicht. Wie ihr Büro. Wie sie selbst. Ihm gefielen diese Farbkombinationen - Dunkelgrün mit einem blassen Violett -, die traditionellen Linien von Queen Anne und Chippendale, die feminine Ausstrahlung der Accessoires, mit denen sie Akzente gesetzt hatte, und nicht zuletzt die Bilder an den Wänden. Sie kam mit den Blumen zurück, die jetzt in einer Vase steckten, zufrieden darüber, dass sie nur einen ganz kurzen Moment ms Träumen geraten war und sich geschmeichelt gefühlt hatte, obwohl ihr zum ersten Mal in ihrem Leben ein Mann Blumen geschenkt hatte. Später hätte sie alle Zeit der Welt zu träumen und sich ge schmeichelt zu fühlen. „Sie sind wirklich hübsch, vielen Dank." „Gern geschehen. Ihre Wohnung gefällt mir." „Oh." Es gelang ihr sogar, die Vase auf den Tisch zu stellen, ohne dass sie umkippte. „Ich wollte etwas in der Nähe meiner Arbeitsstelle ... und ich brauche nicht viel Platz. Ich weiß, dass ein Neubau oft mehr Luxus bietet, aber ich liebe alte Häuser. Mit all ihren Nachteilen." „Ich auch. Ich habe mir gerade vor zwei Monaten ein altes Haus gekauft. Die Fußböden knarren, die Wasserleitungen röhren, und der Keller ist feucht wie eine Gruft. Ich liebe es dennoch." „Das klingt ganz nach dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich kann immer noch nicht daran vorbeifahren, ohne rührselig zu werden. Möchten Sie noch etwas trinken, bevor wir gehen?" „Nein, danke. Sie müssen sich aber etwas überziehen. Draußen ist es kalt." „Ja, ich weiß." Sie ging in die kleine schmale Diele, öffne te den Schrank, der dort stand, und holte einen Mantel heraus. Unbemerkt trat Ian hinter sie. Sie hatte sich eben dazu gratuliert, wie normal sie sich verhielt, als sie beim Umdrehen mit ihm zusammenstieß und so heftig zurückzuckte, dass sie fast in den Schrank gefallen wäre. Um sie davor zu bewahren, packte Ian sie geistesgegenwärtig an den Armen. Er lächelte amüsiert. Oh ja, er machte sie ganz schön nervös. Und war das nicht erfreulich? „Ent
schuldigen Sie. Es tut mir Leid", log er ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich wollte Sie nicht erschrecken." „Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Sie hinter mir standen. Ich wollte nur ... rasch meinen Mantel holen", sagte sie und riss ihn vom Bügel, wobei sie mit ihrem Ellbogen sein Kinn nur haarscharf verfehlte. „Ich verstehe." Er nahm ihr den Bügel aus der Hand, hängte ihn wieder in den Schrank und griff dann nach ihrem Mantel. „Gestatten Sie?" Sie bezweifelte, dass ihr Ego noch viele derart harte Schläge aushalten konnte. Sie verabscheute sich für ihre Ungeschicklichkeit, nein, sie verfluchte sich dafür. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie in einer solchen Situation Zuflucht bei einer Riesentüte Kartoffelchips gesucht hätte. Also kehrte sie ihm den Rücken zu und befahl sich, tief durchzuatmen, während er ihr den Mantel um die Schultern legte. Mit mehr Hast als Anmut duckte sie sich dann, schlüpfte unter seinem Arm hindurch und schnappte sich ihre Hand tasche. „Wir können gehen." In dem Restaurant mit dem sanften Kerzenlicht und dem guten Wein entspannte sich Naomi allmählich. Ian war ein wunderbarer Gesprächspartner, und er konnte gut zuhören. Und sie war höchst überrascht, dass sie so viele gemeinsame Interessen entdeckten. „Ich mag den Geist und den Charme von Folkloremusik", sagte sie. „Deshalb habe ich sie auch für unseren Laden gewählt. Ich glaube, dass Folkloremusik die Stimmung der Kundschaft hebt, ohne aufdringlich zu wirken." „Waren Sie im Sommer auch auf dem Keltenfestival?" „Leider nicht. Ich arbeite im Moment viel und habe so gut wie nie einen ganzen Tag frei." „Geht mir genauso." Er hatte ein Stück von seinem ge grillten Portabellopilz auf seine Gabel gespießt und hielt es ihr hin. „Ich war aber trotzdem dort. Herrliche Musik ... und die Tänzer, ganz erstaunlich." „Ich liebe Stepptanz." Ohne nachzudenken beugte sie sich vor, um mit dem Mund den Bissen von seiner Gabel zu nehmen. „Ist es nicht seltsam, wie etwas so Diszipliniertes und Präzises so sexy aussehen kann? Mmm." Sie schluckte. „Schmeckt köstlich." „Möchten Sie noch mehr?" „Nein, danke. Ich habe übrigens eine Schwäche für italienisches Essen." „Ich auch. Wenn Sie möchten, mache ich Ihnen irgend wann einmal eine echt tolle Hähnchen-Picata." „Sie kochen?" Sie versuchte sich vorzustellen, wie er in seiner Küche herumhantierte, gab es dann aber schnell "wieder auf, weil sie befürchtete, ihr Blutdruck würde steigen. „Ich könnte mich mit einer Venusmuschelsoße revanchieren." „Dann werden wir wohl bald einmal ein großes Essen anberaumen müssen." Als sie nur vage lächelte, ermahnte er sich, kein allzu schnelles Tempo vorzulegen. Sein Großvater war nicht der einzige MacGregor, der Ränke schmieden konnte. Und einen Plan hatte er schon. „Naomi, ich möchte Sie um etwas bitten." „Ja?" Sie warf ihm einen verständnislosen Blick zu, während ihre Vorspeisenteller abgeräumt "wurden und der nächs te Gang aufgetragen wurde. „Es ist etwas, das Ihnen vielleicht ebenso viel Spaß ma chen würde wie mir. Ich will nämlich eins meiner Zimmer in eine Bibliothek umwandeln. Ich habe auch schon bestimmte Vorstellungen im Kopf und wollte Sie fragen, ob Sie nicht Lust hätten, sie mit mir durchzusprechen und mir womöglich noch ein paar Tipps zu geben. Und dann könnten Sie mir auch ein bisschen helfen, meine Sammlung aufzustocken." „Ja, gern." Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter und sagte sich, dass es so besser sei. Natürlich war er nur auf geschäftlicher Ebene an ihr interessiert. Was hatte sie anderes erwartet? „Sie sammeln Erstausgaben und andere Raritäten als Kapitalanlage?"
„Nein, nicht unbedingt. Ich wünsche mir eine richtig schöne, behagliche Bibliothek und will meinen Bestand aus weiten. Anfangen möchte ich mit meinen Lieblingsautoren, und dann bin ich bereit, ein bisschen zu experimentieren." „Ich helfe Ihnen gern dabei. Wenn Sie mir eine Liste von dem geben, was Sie bereits haben und wonach Sie suchen, können wir von dort aus anfangen." „Großartig. Haben Sie irgendwann Zeit, sich den Raum und meine Pläne anzuschauen?" „Ja, sicher. Sagen Sie mir einfach nur, wann es Ihnen passt." „Wie wäre es mit Sonntag, gegen sechs?" fragte er und lächelte entwaffnend. Mehr als ein Nicken brachte sie nicht zu Stande, sie war einfach zu überrascht und zu verwirrt von seinem Lächeln. Als Ian vor Naomis Apartmenthaus anhielt, kam ein Wind auf und rauschte durch die Blätter der Bäume. Der Mond ergoss sein Licht über die Straße und den Bürgersteig, und aus dem Autoradio erklang leise verträumte Musik. Es war seiner Meinung nach ein perfekter Abend. Ihr dezenter Duft erfüllte das Auto. Sie war lockerer ge worden, und als sie auf der Heimfahrt weiter über Bücher gesprochen hatten, war sie sogar richtig aufgetaut. Er konnte sich dazu gratulieren, den richtigen Trick gefunden zu ha ben. Nicht, dass es wirklich ein Trick wäre, korrigierte er sich. Immerhin wollte er die Bibliothek ja tatsächlich, und was Bücher anging, war er bei ihr an der richtigen Adresse. Er war fest davon überzeugt, dass es immer besser war, Fachleute zu konsultieren. Es war nur ein angenehmer Nebeneffekt, dass sie eine hübsche Frau war, die elementarere Be dürfnisse in ihm weckte. Und wenn ihn nicht alles täuschte, war es bei ihr nicht anders. „Der Abend war wundervoll." Sie wandte sich zu ihm um und strich sich gedankenverloren das Haar aus dem Gesicht. „Danke, dass Sie mit mir gefeiert haben." „Es hat mir Spaß gemacht." Er stieg aus und ging um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen. Sie nestelte nicht hektisch an dem Sicherheitsgurt, aber sie war nahe daran. Bevor sie ihm sagen konnte, dass es nicht nötig sei, sie zur Haustür zu begleiten, hatte er auch schon ihre Hand genommen. Nicht den Arm, dachte Naomi mit plötzlich aufkeimender Panik, sondern die Hand, die er noch immer hielt, während sie auf ihre Haustür zugingen. Und das war viel persönlicher ... intimer. Sollte sie ihn noch für einen Augenblick hereinbitten? Völlig unmöglich, auf keinen Fall. Sie hatte sich darauf nicht vorbereitet, deshalb war es fast zwangsläufig, dass sie irgend etwas Demütige ndes tun würde. „Ich kann mir vorstellen, dass Sie morgen sehr früh aufstehen wollen", bemerkte er, als sie den Hausflur betraten. „Ihr erster Tag als Teilhaberin." „Ja." Der Rettungsanker, den er ihr zuwarf, bewirkte, dass sie sich in ihrer Erleichterung fast auflöste. „Das will ich. Wir haben eine Belegschaftsversammlung, und ich muss mit der für die Veranstaltungen zuständigen Kollegin abklä ren, dass wir die Signierstunden ab jetzt anders handhaben. Am Samstag findet die erste Lesung für Kinder in diesem Herbst statt." „Sie verkaufen nicht einfach nur Bücher, stimmt's?" Müßig fuhr er mit dem Daumen über ihr Handgelenk und war erfreut, ihren jagenden Puls zu spüren. „Nein ..." Sie stockte. Irgendwie hatte sie Atemnot, während sie jetzt zusammen die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufgingen. „Eine gute Buchhandlung muss eine Stätte der Begegnung sein. Ich will ... wir wollen allen Altersgruppen Veranstaltungen anbieten. Also ..." Vor ihrer Tür angekommen, drehte sie sich zu ihm um und zuckte zusammen, als er ihre andere Hand auch noch nahm. „Und wir unterstützen drei Leseclubs. Sie halten ihre monatlichen Treffen in dem ... in dem ...", Himmel, ihr Kopf war leer, „... Cafe ab", beendete sie ihren Satz mit einem fast explosiven Ausatmen.
Sie entzog ihm ihre Hände, riss sich die Tasche von der Schulter und kramte nach ihrem Schlüssel. „Dann also ... vielen Dank für den netten Abend." Sie ließ den Schlüsselbund fallen, und als sie sich gleichzeitig danach bückten, stießen sie beinahe mit den Köpfen zusammen. Naomi schnellte hoch. Ian hob seelenruhig die Schlüssel auf und gab sie ihr. Dann nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände. „Lass es uns so versuchen", murmelte er und legte seine Lippen sanft auf ihre. Sie versteifte sich augenblicklich, was ihn veranlasste sich zu fragen, ob er die Signale missverstanden hatte. Doch dann öffnete sie ihren Mund unter seinem, um zitternd Atem zu holen, und er konnte nicht länger widerstehen, mit seiner Zunge hineinzugleiten. Er schob seine Finger in die glänzende Fülle schwarzen Haares, zog sie näher an sich heran und strich mit seiner Zunge über ihre. Der Boden unter ihren Füßen hatte ohnehin schon ge fährlich geschwankt, doch jetzt rutschte er ihr einfach weg. Die Schlüssel entglitten ihr ein zweites Mal und landeten mit einem Klimpern auf dem Boden, während sich ihre Finger in die Ärmel seines Mantels krallten. Dann sank sie langsam an seine Brust. Farbige Kreise tanzten hinter ihren geschlossenen Lidern. Er beendete den Kuss, zog sich ein wenig von ihr zurück und beobachtete, wie sich die Lider über diesen grauen, jetzt verschleierten Augen langsam hoben. Beobachtete, wie dieser entzückend unperfekte Mund mit seiner verführerischen vollen Oberlippe zitterte, als sie unsicher Atem holte. Er strich ihr mit den Händen über die Schultern und spürte, wie sie erschauerte. „Ich muss es einfach noch mal tun." „Oh, also ..." Sie starrte ihn so verwirrt an, dass er amüsiert lächelte. „Na gut." Sein Mund senkte sich erneut auf ihren, und dieser Kuss war noch ein bisschen intensiver, noch ein bisschen leidenschaftlicher als der erste. Schließlich legte sie ihm die Arme um den Nacken und stieß einen kleinen Seufzer aus. Tief atmete er ihren einzigartigen Duft ein, der schon seit dem ersten Moment ihrer Begegnung seine Sinne betört hatte. Nein, die ganze Frau betörte ihn. Ihre Finger, die jetzt zö gernd seinen Nacken streichelten, ihr Mund, der sich langsam unter seinem bewegte, all das stachelte sein Begehren noch mehr an. Und weil er wusste, dass er sie gleich um mehr bitten würde, beendete er den Kuss. Er bückte sich wortlos nach ihren Schlüsseln, dann schloss er ihre Wohnungstür auf. „Gute Nacht, Naomi", sagte er, schaute ihr tief in die Augen und drückte ihr den Schlüsselbund in die Hand. „Ja, gute Nacht. Danke." Sie taumelte fast in ihre Wohnung und schlug ihm, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Tür vor der Nase zu. Er blieb einen Moment stehen und fragte sich, ob es wo möglich ein Fehler gewesen sei, sie zu küssen ... oder damit aufzuhören. Dann hörte er wieder das Klimpern, als ihre Schlüssel erneut zu Boden fielen. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht ging er die Treppe hinunter. Weder das eine noch das andere war ein Fehler gewesen. Und er hatte vor, die äußerst interessante Miss Brightstone wieder zu küssen. Bald. Sehr bald.
4. KAPITEL Hast du denn wirklich überhaupt keine Schokolade im Haus?" Ian, der in einem Topf Tomatensoße rührte, warf einen Blick über die Schulter auf seine Cousine Julia. Obwohl hochschwanger, war sie so hübsch und so ungeduldig wie immer. „Du hast alles weggefuttert, als du das letzte Mal hier warst." Julia hörte dennoch nicht auf, in den Schränken herumzukramen. „Du könntest ja ab und zu einkaufen gehen, oder was meinst du?" „Im Kühlschrank liegt frisches Obst, aber leider nicht mit Schokolade überzogen. Hier." Er winkte sie mit dem Kopf zu sich herüber und hielt eine Hand unter den vollen Holzlöffel mit Soße. „Koste." Bettler können nicht wählerisch sein, entschied Julia und probierte davon, eine Hand über ihren dicken Bauch gelegt. „Schmeckt gut. Wo ist die Nachspeise?" Er lachte und legte den Kochlöffel beiseite. „Gibt Cullum dir nicht genug zu essen?" „Das bin nicht ich. Unser Junior hier will Schokolade." Sie tätschelte ihren dicken Bauch. „Ich sorge nur für Nachschub. Nicht mal einen Schokoriegel?" „Tut mir Leid. Ich werde meine Vorräte aufstocken. Bei Travis war es Eiscreme. Unmengen, wenn ich mich richtig erinnere." „Er ist immer noch ganz wild auf Eiscreme", gab sie mit einem nachsichtigen mütterlichen Lächeln zurück. „Sein erstes Wort war Eis." Als Ian wieder lachte, legte sie den Kopf schräg. „Du bist ja wirklich in Feiertagslaune, mein Freund." „Es gibt da eine Frau." „Wie sollte es auch anders sein. Brightstone?" „Du hast es erfasst. Sie wird gleich hier sein, deshalb ..." „Ich kann das Feld jetzt nicht räumen", unterbrach sie ihn. „Cullum wollte mit Travis vorbeikommen und mich abholen. Lass dich aber von mir nicht stören. Wo ist denn nun dein endgültiger Plan für die Bibliothek?" „Oben. Ich habe ihn mir gestern Abend noch einmal angeschaut." „Na los dann, holen wir ihn." „Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du einen Blick darauf werfen würdest, Jules." Er legte ihr freundschaftlich einen Arm um die Schultern. „Du und Cullum, ihr habt aus diesem Haus ein echtes Schmuckstück gemacht." „Na, du hast auch nicht gerade mit den Händen in den Hosentaschen dabeigestanden. Du hast gute Arbeit geleistet, Ian. Aber ich weiß, dass viele Leute der Ansicht sind, ein Single würde sich mit so einem großen Haus nur einen Klotz ans Bein binden." „Aber du nicht." „Für mich gibt es kaum etwas Schöneres, als ein Haus umzubauen. Alle Möglichkeiten voll auszuschöpfen, die man mit der Bausubstanz hat." Sie fuhr mit der Hand über den glänzenden Treppenpfosten aus Eichenholz. „Dieses Haus ist wie du. Offen, stabil, mit Tradition, aber auch für die Zukunft gerüstet." Dann seufzte sie. „Und ich glaube nicht, dass ich diese Stufen hinaufgehe. Dann muss ich sie nämlich wieder runtergehen, und ich habe derzeit Schwierigkeiten, meine Füße zu sehen." „Ich hole den Plan. Warum setzt du dich nicht ins Wohnzimmer in einen Sessel?" „Ich brauche keinen Sessel." Sie legte sich eine Hand ins Kreuz, um den Druck ein bisschen zu lindern. „Ich brauche Schokolade." „Wenn du das nächste Mal kommst, habe ich welche da. Ich schwöre es." Während er nach oben ging, wanderte Julia im Erdgeschoss umher. Sie hatte ihre Bemerkung, dass dieses Haus wie ihr Cousin sei, ernst gemeint. Sie freute sich, dass sie es für ihn gefunden hatte, und es hatte richtig Spaß gemacht, es zusammen mit ihm und Cullum zu einem richtigen Zuhause umzugestalten.
Ian brauchte nämlich dringend ein Zuhause, wie sie wusste. „Ganz ruhig, Junior", murmelte sie und rieb sich die Stelle, gegen die das Baby immer wieder trat. „Daddy wird gleich hier sein, und er wird uns eine Familienpackung Scho koschaumgebäck mitbringen." Als es draußen klingelte, bewegte sie sich so schnell, wie ihr Bauch es zuließ, zur Tür und öffnete sie. Naomi war von Julias Erscheinung regelrecht geblendet. Diese Art Stil kommt von innen heraus, dachte sie mit einem Anflug von Neid. Eine ungebändigte Flut roter Haare lockte sich um ein Gesicht, das vor Gesundheit strahlte. Warme braune Augen musterten sie aufmerksam und hießen sie willkommen. „Hallo, Sie müssen Naomi sein. Ich bin Julia, die Cousine des Goldknaben. Vielleicht hat Ian Ihnen ja schon von mir erzählt." „Ja, ich weiß. Ich habe Sie gleich erkannt. Ich habe vor zwei Jahren bei dem Verband der Geschäftsfrauen einen Vortrag von Ihnen gehört." „Oh ja. Na, damals war ich ein bisschen schlanker." Sie tätschelte ihren Bauch und trat einen Schritt zurück. „Kommen Sie herein. Ian ist kurz raufgegangen, um die Pläne für die Bibliothek zu holen. Mein Mann und seine Belegschaft werden den Großteil der Arbeit machen." Hübsch, ging es Julia durch den Kopf. Ein bisschen schüchtern. Sehr gut entwickelt. Ein attraktiver Körper, schönes Haar, ruhige Augen. Einzelheiten, nach denen die lieben Cousinen Laura und Gwen ganz bestimmt fragen werden, dachte sie belustigt. „Dann haben Sie jetzt also ,Bnghtstone's' übernommen." „Ich leite es jetzt, ja." „Haben Sie auch Mokkatörtchen in Ihrem Cafe?" „Ja. Sie schmecken himmlisch." Julia stöhnte. „Ganz ruhig, Junior. Er ist ganz verrückt nach Schokolade", erklärte sie mit einem Lächeln, als Naomi leicht beunruhigt dreinschaute. „Keine Sorge, er muss noch zwei Monate hier drin schmoren." „Er mag Schokolade?" Verdutzt schaute Naomi jetzt auf Julias Bauch unter dem langen dunkelgrünen Pullover. „Ich habe eine Tüte M&M's in meiner Tasche." Julia griff nach Naomis Arm. „Treiben Sie keine bösen Scherze mit mir." „Nein, wirklich. Ich habe immer etwas bei mir, für den Fall, dass ich eine Mahlzeit ausfallen lassen muss oder dringend einen Energieschub benötige." Das war auch noch etwas, das sie gelernt hatte, nämlich das Bedürfnis nach Trost nicht ganz und gar zu verdrängen, sondern es zu steuern. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm eine kleine Tüte heraus. „Wenn ich sie haben darf", sagte Julia mit leise drängender Stimme, „nenne ich das Baby nach Ihnen. Ob Junge oder Mädchen, es heißt Naomi." „Das hast du mir auch versprochen, als du mit Travis schwanger und so scharf auf meinen Krokanteisbecher warst", bemerkte Ian, der die Treppe herunterkam. „Heißt du denn nicht Travis?" Kichernd hielt Naomi ihr die Tüte mit den Schokoladenbonbons hin. „Viel Spaß." „Das werde ich Ihnen nie vergessen", versprach Julia, riss die Tüte auf und nahm sich eine Hand voll heraus. „Mmh. Ja. Gut. Sehen Sie, jetzt ist er glücklich. Zack, Volltreffer." „Er strampelt?" Erfreut legte Ian seiner Cousine eine Hand auf den Bauch und grinste. „Wow, aus dem Mittelfeld direkt ins Tor. Fühl doch auch mal", sagte er zu Naomi, und bevor sie sich versah, hatte er schon ihre Hand auf Julias Bauch gelegt und seine obenauf. Ihre anfängliche Beschämung wich sofort, als sie die lebhaften Bewegungen unter ihrer Hand verspürte. „Oh! Das ist wunderbar!" Sie warf Julia einen Blick zu, und ein Funke sprang zwischen ihnen über, den nur Frauen kennen. „Ah, Cullum ist da." Julia legte den Kopf schräg, als ein zweimaliges kurzes Hupen ertönte. „Ich habe ihm gesagt, dass er nur hupen soll, wenn Travis in seinem Autositz ein
geschlafen ist. So wie ich dich kenne, hast du dir bestimmt Kopien gemacht. Gib mir die Pläne mit, Ian, wir schauen sie uns zu Hause an." Sie nahm ihm die Blätter aus der Hand, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. „War nett, Sie kennen gelernt zu haben, Naomi." Sie hob die Bonbontüte und schwenkte sie, ehe sie die Haustür öffnete. „Und nochmals danke." „Zu schade, dass der Kleine schläft", sagte Ian zu Naomi, während er in der Tür stand und seiner Cousine hinterherschaute, wie sie zu dem wartenden Auto watschelte. „Er ist ein toller Bursche. Noch nicht mal zwei Jahre alt, aber plappert schon ununterbrochen." „Du magst Kinder." „Ja." Nachdem das Auto davongefahren war, sperrte er den frischen Herbstwind aus und schloss die Tür. „Sehr sogar. In einer Familie wie meiner bleibt einem gar nichts anderes übrig. Bei uns gibt es Unmengen Kinder, und irgendwo ist immer eins unterwegs. Im Moment sind zwei in der Mache, bei Julia das zweite und bei meinem Cousin Mac und seiner Frau das erste. Danke, dass du gekommen bist", sagte er dann, nahm sie bei den Schultern und küsste sie. Als sie sich abrupt von ihm löste und einen Schritt zurücktrat, hob er eine Augenbraue. „Ist etwas?" „Nein, nein, nichts." Bis auf die Tatsache, dass es ihr während der vergangenen Tage gelungen war sich einzureden, dass er sie nur deshalb geküsst hatte, weil die Leute das am Ende eines schönen Abends eben so machten. „Na gut. Darf ich dir dann ein Glas Wein anbieten?" „Ich sollte nichts trinken. Ich bin mit dem Wagen da." Aber schon führte er sie den Flur hinunter. „Ich dachte, wir würden uns nur kurz ... den Raum anschauen, den du dir als Bibliothek einrichten willst, und dann ..." Der herrliche Duft der Soße, die auf dem Herd köchelte, stieg ihr in die Nase. Noch ein Schritt, und sie stand in der Küche und betrachtete sich den schönen gekachelten Kü chentresen, die bunten Keramiktöpfe mit Kräutern auf der Fensterbank, den chromblitzenden Herd. „Du erwartest Besuch", sagte sie beim Anblick der kup fernen Kasserolle. „Ich werde dich nicht lange aufhalten." Er hatte bereits vorher eine Flasche entkorkt, damit der Wein atmen konnte, und war gerade dabei, zwei Gläser zu füllen. Aber jetzt hielt er inne und starrte sie verwundert an. „Naomi, ich habe dich eingeladen. Du bist der Besuch, den ich erwarte." „Oh." Nachdem er eingeschenkt hatte, reichte er ihr ein Glas. „Ich dachte mir, dass ich dir wenigstens etwas kochen könnte, wenn ich dir schon an einem Sonntag die Zeit stehle." „Aber der Aufwand ist doch gar nicht nötig. Es macht mir nichts aus vorbeizukommen. Ich interessiere mich für dein Bibliotheksprojekt." „Hm." Er lehnte sich an den Tresen. „Werde ich mir in Zuk unft immer eine Ausrede einfallen lassen müssen, wenn ich Lust habe, mit dir zu Abend zu essen?" „Ich ... nein." Verlegen schaute sie in ihr Glas. „Vielleicht sollte ich fragen, ob du nur an meiner Bibliothek interessiert bist oder auch ein wenig an mir." Ihr Kopf fuhr hoch, und sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Doch das, was er in ihrem Blick sah, machte ihm Mut, einen Schritt auf sie zuzugehen. „Oder vielleicht sollte ich nur einfach sagen, dass ich mich von dir sehr angezogen fühle und deine Gesellschaft genieße." Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es ab. „Dass ich mehr Zeit mit dir verbringen möchte." Er senkte den Kopf und streifte mit seinem Mund ihre Lippen. „Dass ich dich besser kennen lernen möchte." Knabberte an ihnen. „Dass ich dich will." Ihr kam es vor, als hätte eine dichte Nebelwolke ihren Verstand eingehüllt. „Wollen? Wofür?" Doch als sich plötzlich sein Mund auf ihren presste, durchfuhr es sie wie ein Blitz,
und der Nebel zerriss. Sie öffnete die Lippen und schnappte erschrocken nach Luft, während ihre Hände Halt an seinen Schultern suchten. Er will dich! Dich! schoss es ihr durch den Kopf, bevor ihr Körper anfing verrückt zu spielen. Ihre Knie wurden seltsam weich, so als wären sie aus Gummi, und das Blut strömte heiß durch ihre Adern. Die Welle der Empfindungen, die sie in diesem Moment überflutete, war so stark, dass sie den Griff um seine Schultern verstärkte, um nicht mit fortgespült zu werden. Er hatte nicht beabsichtigt, ein derartiges Tempo vorzule gen, aber ihr e heftige Reaktion riss ihn einfach mit. Er umfasste ihre Taille, drehte sie mit dem Rücken zum Tresen und drängte sie dagegen. Dann begann er sie ungestüm zu küs sen. In dem sehnsüchtigen Verlangen, sie zu spüren, fuhr er mit den Händen an ihren Seiten hoch, bis er sie auf diese wundervollen Brüste legen konnte. Irgendetwas in ihr schien sich gegen diese Hände zu sträuben, dann aber überwogen die angenehmeren Gefühle, und sie ließ es geschehen. „Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns erst ein bisschen näher kennen lernten", sagte er stöhnend, ließ sich aber nicht davon abhalten, ihren Hals mit seinen Zähnen zu attackieren. „Wir sollten uns erst alles erzählen ... unsere Lebensgeschichten, unsere Hoffnungen und Träume, unsere Vorlieben und Abneigungen. Verdammt, Naomi, ich muss dich haben." „Ja. Nein. Warte." Ihr eigenes Verlangen, das er in ihr ge weckt hatte, erschreckte sie. „Lass uns bei Ja weitermachen." „Nein, bitte." Sie legte ihm abwehrend die Hände auf die Brust und merkte, wie er vor Anspannung vibrierte. Als sie den Blick hob und ihm in die Augen schaute, sah sie wildes Begehren darin. „Bitte", sagte sie ganz ruhig und fing erst an zu zittern, nachdem er einen Schritt von ihr zurückgetreten war. „Es tut mir Leid." „Das muss es nicht. Vielleicht ge ht ja alles ein bisschen zu schnell." Er nahm sein Weinglas und trank einen großen Schluck. „Ich glaubte nur, wir wären im Gleichschritt." Jetzt ist er verärgert, dachte sie betrübt. Er versucht zwar dagegen anzugehen, aber es gelingt ihm nicht. „Nein, es tut mir wirklich Leid, wenn du jetzt enttäuscht bist. Mir war eben nicht klar, warum du mich eingeladen hast, warum du ..." „War dir auch nicht klar, warum ich dich das letzte Mal geküsst habe? Hast du denn nicht gemerkt, wie ich dich geküsst habe?" „Ich weiß es nicht." Ihre Stimme klang fast verzweifelt, während sie ihre Ellbogen umklammerte und gegen eine törichte Mischung aus Beschämung und Verwirrung ankämpfte. „Ich weiß es einfach nicht. Ich habe keine Erfahrung mit solchen Dingen. Es tut mir Leid, aber ich habe das, was du anscheinend mit mir vorhast, noch nie gemacht." Seine Wut schwand schlagartig, die Verwunderung war einfach zu groß. „Du hast es noch nie gemacht? Noch nie?" „Nein." Die Beschämung siegte. „Ich muss gehen." Und weil er immer noch ganz verdattert war, schaffte sie es, an ihm vorbeizuhuschen. „Naomi, warte. Verdammt." In der Eingangshalle bekam er sie zu fassen. „Warte doch", bat er und zog sie an sich. „Gib mir eine Minute, bitte." „Ich werde mich nicht noch einmal entschuldigen", stieß sie hervor. „Nein, ich möchte mich entschuldigen, wenn du mir nur eine Minute Zeit gibst." Er ließ sie los und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er musste sich beruhigen, auf der Stelle. Um über die Überraschung, die Schuldgefühle und, Gott helfe ihm, über die Erregung, die ihre Worte in ihm ausgelöst hatten, hinwegzukommen. „Es tut mir Leid." Sie war noch unberührt. Guter Gott, und er wäre um ein Haar wie ein Wilder über sie hergefallen. „Naomi, es tut mir Leid, dass ich dich so bedrängt habe. Be stimmt habe ich dich erschreckt." „Ein bisschen. Ja."
„Es wird nie wieder geschehen." Er strich mit der Hand über ihre Wange, so sanft wie nur möglich, damit sie nicht erneut Angst bekam. „Ich werde dich nie wieder bedrängen. Warum gehen wir es nicht einfach ein bisschen langsamer an?" Sie musterte ihn einen Moment, dann schloss sie die Augen und machte ihre zehn Atemzüge. „Und wie?" „Wir nehmen unseren Wein mit nach oben, und während wir etwas trinken, schauen wir uns den Raum an, in dem die Bibliothek untergebracht werden soll. Ich zeige dir auch die Pläne. Und hinterher essen wir, was ich gekocht habe." „Du bist mir nicht mehr böse?" „Nein, natürlich nicht. Und ich hoffe, du bist mir auch nicht böse. Wirst du bleiben und mir eine Chance geben, dich ... besser kennen zu lernen?" „Na gut." Sie lächelte zaghaft. „Ich bleibe." „Also, dann hole ich jetzt den Wein." Einigermaßen beruhigt ging er wieder in die Küche. Es braucht Zeit, tröstete er sich. Er musste sich ihr Vertrauen erst verdienen. Er glaubte nicht, dass es an der Situation etwas ändern würde, wenn er ihr sagte, dass er sie jetzt noch mehr begehrte. Jetzt, nachdem er wusste, dass er der Erste sein würde. „Sei vorsichtig, MacGregor", ermahnte er sich, als er die beiden Gläser nahm. „Sei sehr vorsic htig."
5. KAPITEL
Es wäre sinnlos, vor Scham fast in den Boden zu versinken, weil sie ihm ihren völligen Mangel an Erfahrung mit Männern gestanden hatte. Eine klügere Frau hätte wahrscheinlich einfach nur gesagt, dass sie mehr Zeit brauche oder dass sie sich nicht sicher sei, ob sie eine Affäre wolle. Und manche, konnte Naomi sich vorstellen, hätten die sen Kuss genossen und noch ein paar mehr mitgenommen, um den Mann dann anschließend kühl abblitzen zu lassen. Später, Darling. Vielleicht, hätten sie ihm zum Abschied gesagt. Solche vagen Versprechungen wurden mit heiserer Stimme gesagt und von einem kehligen Lachen begleitet, während man den Mann auf Armeslänge von sich abhielt, um ihm mit langen, sorgfältig manikürten Fingernägeln quälend langsam über die Wange zu streichen und ihm unter langen Wimpern hervor einen schwülen Blick zuzuwerfen. Naomi entschied, dass sie so viel weibliches Geschick nicht einmal in ihren Träumen, geschweige denn in der Wirklichkeit aufbrächte. Aber es gab keinen Grund, sich zu schämen, weil sie einfach damit herausgeplatzt war, dass sie noch nie mit einem Mann zusammen gewesen war. Auf jeden Fall hatte es die Spannung, die an jenem Abend in der Luft lag, deutlich gemildert. Wahrscheinlich war es seine diplomatische Ader, die es Ian ermöglicht hatte, so schnell und mühelos über die peinliche Situation hinwegzukommen und sie mit nach oben zu nehmen, um ihr das Zimmer, das er als Bibliothek vorgesehen hatte, zu zeigen. Nachdem sie erst einmal dort waren, hätte sich kein Außenstehender vorstellen können, dass sie sich noch vor ein paar Minuten in seiner Küche leidenschaftlich geküsst hatten. Ein paar Tage später fiel es Naomi selbst schwer, sich dies vorzustellen. Es ist besser so, sagte sie sich. Eine deutlichere Erinne rung würde nur wieder dieses Gefühl von Unruhe in ihr wachrufen. Arbeit war ein viel besserer, viel produktiverer Weg, die Zeit zu verbringen. Sie stand mit gefalteten Händen am hinteren Ende der Veranstaltungsfläche, die sie und ihre Angestellten mit viel Mühe für den Frauenabend, der seit kurzem monatlich bei „Brightstone's" stattfand, hübsch hergerichtet hatten. Die eingeladene Autorin unterhielt ihr Publikum mit Passagen aus ihrem neuesten Buch „Verabredungen in der Hölle ... und wie man sie überlebt". Das spontane Gelächter hatte noch ein paar weitere Kunden angelockt, die jetzt hinter den dicht besetzten Stuhlreihen standen. Wahrscheinlich werden die Bücher nach der Lesung, wenn die Autorin sie signiert, weggehen wie warme Semmeln, dachte Naomi zufrieden. Sie war glücklich, dass ihre Idee so viel Erfolg zu haben schien. Sie ging unauffällig zu dem Signiertisch und rückte gerade, was nicht gerade gerückt zu werden brauchte. Die Bücher waren ordentlich gestapelt, Kugelschreiber lagen in Reichweite. Das Blumenbouquet stand an seinem Platz und würde der Autorin am Ende der Veranstaltung überreicht werden. Außerdem gab es noch einen Krug mit Eiswasser, und man würde dem Gast ein Getränk nach Wahl aus dem Cafe anbieten. Soweit Naomi es sehen konnte, war ihr erstes Mittwochabendprogramm ein Riesenerfolg. Nachdem sie sich bei ihrer Veranstaltungsleiterin davon überzeugt hatte, dass die Signierstunde nach der Lesung über Lautsprecher angekündigt würde, wandte sie sich ab. Und prallte mit Ian zusammen. „Entschuldigung." Er packte sie an den Armen, um zu verhindern, dass sie das Gleichgewicht verlor. „Ich scheine die Angewohnheit zu haben, mich an dich heranzuschlei chen." „Ich habe nicht aufgepasst..." Sie schaute ihm in die Augen, und plötzlich konnte sie sich nur allzu gut an diesen atemberaubenden Kuss erinnern. Sie konnte ihn fast schmecken.
Nachdem er sie leicht, fast brüderlich gedrückt hatte, ließ er sie los. „Das ist ja eine ganz schöne Menschenmenge, die du da heute Abend angelockt hast." „Ja." Sie warf einen Blick über die Schulter, als wieder Gelächter zu hören war. „Shelly Goldsmith." „Ich habe die Anzeige gelesen. Eine gute Idee, dieser Frauenabend. Deine?" „Ich habe es mir zusammen mit meiner Veranstaltungs leiterin ausgedacht. Kommst du wegen der Lesung?" Er hob eine Augenbraue, als die Leute Beifall klatschten. „Falls ja, wäre ich ein bisschen spät dran." „Oh. Entschuldige mich." Sie eilte nach vorn, stieg aufs Podium und schüttelte der Autorin die Hand. Sie macht ihre Sache gut, dachte Ian, der sie beobachtete. Professionell, höflich, aber warm. Die freundlichen Dankesworte, die sie ins Mikrofon sprach, kamen ihr glatt über die Lippen und beinhalteten eine Einladung ans Publikum, sich die erworbenen Bücher von der Autorin signieren zu lassen. Er hielt sich etwas abseits, während er weiter zusah, wie Naomi ihren Verpflichtungen nachging. Sie bot ihrem Gast etwas aus dem Cafe an und warf einer Angestellten einen kurzen Blick zu, die daraufhin davoneilte, um Kaffee zu ho len. Danach beugte sie sich mit einem Lächeln zu Shelly Goldsmith hinunter und plauderte mit ihr. Tüchtig, sympathisch. Unglaublich sexy in dem adretten moosgrünen Kostüm und diesem glänzenden schwarzen Haar, das sie heute hochgesteckt hatte. So dass es ihren wunderschönen schlanken Nacken frei ließ. Und er musste sofort aufhören, in dieser Weise an sie zu denken. Er hatte gewusst, dass sie beschäftigt sein würde. Eigent lich hatte er von der Kanzlei aus direkt nach Hause fahren wollen, denn es gab keinen Grund für ihn, in der Buchhand lung noch vorbeizuschauen ... außer dass er Lust gehabt hatte, sie zu sehen. Hatte er sich nicht geschworen, ihr viel Zeit zu geben? Und doch war er jetzt hier, nur ein paar Tage, nachdem er sich in seiner Küche über sie hergemacht hatte, und strich um sie herum wie ein verliebter Kater. Es war demoralisierend. Es war dumm. Es war unwiderstehlich. Er warf einen Blick auf die Menschenschlange, die sich vor dem Signiertisch gebildet hatte, und kam zu dem Ergebnis, dass die tüchtige Miss Brightstone bis zum Schluss der Veranstaltung bei ihrer Autorin ausharren würde. Deshalb beschloss er, einen kleinen Rundgang durch die Geschäftsräume zu machen. Als Naomi aus dem Augenwinkel sah, wie er davonging, zwang sie sich, ihre Schultern vor Enttäuschung nicht hängen zu lassen. Wahrscheinlich war er nur wegen eines Buchs gekommen, denn schließlich war das hier immer noch eine Buchhandlung. Dann hatte er die Menschenansammlung ge sehen und war neugierig näher getreten. Jetzt würde er sein Buch kaufen und den Laden verlassen. Und alles, was sie zu Wege gebracht hatte, war, über seine Füße zu stolpern. Sie riss sich zusammen und wandte sich an einen in der Schlange wartenden Kunden, um mit ihm zu plaudern. Es war bereits nach neun Uhr abends, als endlich alles vorbei war. In Naomis Augen war es eine höchst erfolgreiche zweistündige Veranstaltung gewesen ... die vierzig Arbeitsstunden Vorbereitungszeit erfordert hatte. Wovon sich jede Minute gelohnt hat, entschied sie, nachdem sie die Autorin persönlich zur Tür begleitet hatte. Jetzt war alles, wonach sie sich noch sehnte, ein ruhiges Plätzchen, wo sie sich hinsetzen und kurz die Augen schließen konnte. „Das war ja ein voller Erfolg." Ian hatte auf sie gewartet, aber die Zeit nicht vertan. Er trug in der Hand eine prall volle „Brightstone's"- Tragetasche, die ihm den Arm nach unten zog.
„Ich wusste gar nicht, dass du noch hier bist." „Ich habe mich ein bisschen umgeschaut." Er schwang schmunzelnd die Tasche. „Wenn ich in diesem Tempo weitermache, sollte ich in meiner Bibliothek besser gleich noch ein paar Regale dazustellen." „Die Firma dankt. ,Brightstone's' weiß dich als Kunden zu schätzen", sagte sie mit einem Lächeln und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, an ihrem Haar herumzunesteln. „Hast du alles gefunden, was du wo lltest?" Ja, dich. „Ich denke schon. Und als kleinen Extraservice habe ich noch ein bisschen für dich spioniert." „Spioniert?" „Na ja, gelauscht. Du hast eine höchst zufriedene Kund schaft. Ich konnte hören, wie sich ein paar Frauen unterhielten. Sie haben die Veranstaltung in den höchsten Tönen ge lobt und sprachen schon davon, dass sie das nächste Mal wieder kommen werden." „Wundervoll. Genau das wollten wir erreichen." „Bist du jetzt endgültig fertig, oder hast du noch etwas zu tun?" „Nein, für heute mache ich Schluss." Sie atmete aus. „Gott sei Dank." Er lachte vergnügt. „Was hältst du davon, wenn ich dich zu einer Tasse exzellentem ,Brightstone's'-Kaffee einlade?" Er sah, wie sie überrascht blinzelte, und beschloss, seine Schuldgefühle beiseite zu schieben und ihr doch einen kleinen Schubs zu geben. „Ich möchte dir nämlich die neuen Pläne für die Bibliothek zeigen." „Oh, die würde ich gern sehen. Sollen wir damit in mein Büro gehen?" Wo er allein mit ihr war? Keine so gute Idee, entschied er. „Ich hätte nichts gegen das Cafe einzuwenden." „In Ordnung. Aber der Kaffee geht aufs Haus. Es ist das Mindeste, was wir für so einen guten Kunden tun können." Sie ging ihm voran und bemerkte, dass die Kinderecke aufgeräumt werden musste. Wäre Ian nicht bei ihr gewesen, wäre sie kurz stehen geblieben und hätte die Spielsachen und Bücher selbst eingeräumt. „Müde?" fragte er, während sie die paar Stufen zum Cafe hinaufgingen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, im Gegenteil, ich fühle mich ziemlich aufgekratzt. Ich habe heute das Werbebudget für dieses neue Veranstaltungsprogramm unterschrieben. Ich konnte fast sehen, wie mein Vater zusammenzuckte, als ich ihm am Telefon davon erzählte." „Er lässt dir ziemlich freie Hand, stimmt's?" „Ja. Er vertraut mir." Ihre Stimme erwärmte sich bei ihren Worten. „Und ich werde ihm beweisen, dass er damit keinen Fehler macht." Sie ließ ihre Blicke durch das Cafe schweifen, registrierte zu ihrer Befriedigung, dass fast alle Tische besetzt waren, und lächelte, als sie einen Tisch mit Frauen entdeckte, die in lautes Lachen ausbrachen, nachdem eine von ihnen eine Passage aus Shelly Goldsmiths Buch vorgelesen hatte. „Hier." Ian führte sie am Ellenbogen zu einem der letzten freien Tische. „Wir haben ja Glück, dass wir noch einen Platz bekommen. Scheint so, als ginge im Cafe bei ,Bright-stone's' die Post ab." „Ja, stimmt. Wenn ich manchmal hier durchgehe, könnte ich vor Freude weinen. Wie albern", fügte sie schnell hinzu, verärgert über ihr überflüssiges Geständnis. „Nein, es ist gar nicht albern. Du drückst der Buchhand lung deinen Stempel auf, Naomi. Du solltest stolz sein auf das, was du erreicht hast. Ich habe dich vorhin beobachtet. Du machst deine Sache wirklich sehr gut." Sie war sich nicht sicher, was sie mehr freute, das Kompliment oder die Tatsache, dass er sie beobachtet hatte. „Es ist das, was ich schon immer tun wollte. Als Kind kam ich oft hierher, um meinen Vater zu besuchen. Ich wanderte durch die Regalreihen, drückte mich in
den Ecken herum, setzte mich an die Kasse. Meine Mutter kaufte mir Puppen, aber ich spielte immer nur Kaufladen mit ihnen." Und tat so, als verkaufte ich ihnen Bonbons, während ich sie mir selbst in den Mund stopfte, um mich damit zu trösten, weil ich nicht so ein süßes Mädchen war, wie meine Mutter es sich wünschte, fuhr sie in Gedanken fort. „Manche Menschen sind mit einer Bestimmung auf die Welt gekommen", murmelte er. „Das hier ist deine Bestimmung." „Ja, das ist wohl so." Und die Tage, in denen sie sich in Ecken herumgedrückt hatte, gehörten der Vergange nheit an. Sie winkte der vorbeieilenden Bedienung zu. „Eine Menge los heute Abend, was, Tracy?" „Wir hatten seit halb sechs keine ruhige Minute. Was darf ich Ihnen bringen, Miss Brightstone?" „Zwei Cappuccino, bitte", bestellte Naomi und schaute Ian an, der zustimmend nickte. „Kommt gleich. Sie sollten ein Stück von dieser Schokoladensünde probieren, Miss Brightstone. Sie schmeckt himmlisch, und Sie sind ja auch schon seit Stunden auf den Beinen." „Oh, ich ..." „Ja, danke, wir teilen uns ein Stück", fiel Ian ihr ins Wort und warf der Bedienung ein Lächeln zu. „Mindestens tausend Kalorien", murmelte Naomi voller Entsetzen, und Ian lachte. „Honey, die Chancen stehen gut, dass du sie schon im Laufe des Abends verbrannt hast. Wo hast du dein Aussehen her?" Dass er sie Honey nannte, hätte sie fast umgehauen, und der abrupte Themenwechsel tat ein Übriges. „Wie bitte?" „Deine Haarfarbe. Du hast ebenso tiefschwarzes, glänzendes Haar wie meine Mutter. Hast du auch indianisches Blut in deinen Adern?" „Ja, tatsächlich. Auf der Seite meines Vaters gab es einen Irokesen und noch etliche andere — Italiener, Franzosen und Engländer. Und auf der Seite meiner Mutter gab es Engländer und Waliser. Sie brüstet sich gern damit, dass ihre Kinder Mischlinge sind." „Durch meine Adern fließt Komantschenblut von meiner Mutter, aber nur Laura hat ihren dunklen Teint und die Haarfarbe geerbt." „Sie ist sehr schön, deine Schwester." „Ja, das ist sie." „Deine ganze Familie ist umwerfend. Immer, wenn ich von jemandem ein Bild in einer Zeitung oder im Fernsehen sehe, bleibt mir die Luft weg. Aber du mit deinem blonden Haar schlägst deinem Vater nach. Vermutlich wirst du eines Tages eine Mischung aus distinguiertem Staatsmann und Harvard-Adonis sein." Als er das Gesicht verzog, schaute sie ihn einen Moment sprachlos an. War das wirklich aus ihrem Mund gekommen? „Entschuldige. Wie albern, so etwas zu sagen." Er legte den Kopf schräg, belustigt darüber, dass ihr die Bemerkung peinlicher war als ihm. „Na schön, dann bin ich eben kein Adonis, aber heißt das, dass ich mir auf den Distin guiertenstatus gar keine Hoffnungen zu machen brauche?" „Nein, natürlich bist du ..." Sie brach ab, schloss die Augen und fragte sich, ob der Grand Canyon vielleicht doch tief genug wäre. Er lachte, bis ihm der Ba uch wehtat, was Tracy, die die Bestellung brachte, zu einem erfreuten Lächeln veranlasste. Ihrer Meinung nach wurde es auch Zeit, dass Miss Brightstone glücklich wurde. Und es sah ganz danach aus, als hätte sie das große Los gezogen. „Dieses Foto wird mir ewig nachhängen", seufzte Ian, als sie wieder allein waren, und rührte in seinem Kaffee. „Wie alt war ich damals? Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig? Beim Segeln und nur mit mir selbst beschäftigt. Da zieht man sein Hemd aus, um sich ein paar Sonnenstrahlen einzufangen, und, klick, ist man unsterblich."
„Es muss lästig sein, dauernd die Presse im Nacken zu haben." „Ich bin damit aufgewachsen." Er spießte ein Stück Schokoladentorte auf und hielt ihr seine Gabel hin. „Man ge wöhnt sich daran." „Ich bin mir nicht sicher, ob ich es könnte." Erleichtert darüber, dass er nicht eingeschnappt war, nahm sie den Bissen. „Ich hatte vor über einem Jahr mit den Medien zu tun, um das Geschäft ein bisschen auf Trab zu bringen. Es war notwendig, aber ich kann nicht behaupten, dass es mir besonders großen Spaß gemacht hätte. Vermutlich gewöhnt man sich irgendwann daran." „Man muss sich im Umgang mit den Medien nur eine ge eignete Strategie zurechtlegen, das reicht." Er nahm selbst einen Bissen. „Der Name Schokoladensünde passt", meinte er und marterte sich selbst, indem er sich ihren Geschmack, vermischt mit Schokolade, vorstellte. „Du wirst allein sündigen müssen." Sie griff nach ihrer Kaffeetasse. „Ich bleibe standhaft." „Wieder einmal", murmelte er, teilte mit der Gabel ein Stück von der Schokoladencreme ab und hielt es ihr hin. Und als sie den Bissen nahm, registrierte er erfreut, dass man sie in der Tat verführen konnte. Gleich darauf entschied er, dass es wohl besser sei, zum Geschäftlichen überzugehen, wenn er den Abend heil überleben wollte. „Nun, dann will ich dir mal die geänderten Pläne zeigen. Sag mir, was du davon hältst." Er öffnete seinen Aktenkoffer und holte die Skizzen heraus. „Ich werde sie morgen Cullum geben. Er kann dann gleich anfangen." „Du bist schnell." „Normalerweise", brummte er, dann breitete er die Skizze auf dem Tisch aus. Naomi zog ein kleines Brillenetui aus ihrer Tasche und setzte ihre Brille auf. Ian musterte sie anerkennend, ehe sie sich über die Skizze beugte, und verlor fast den Verstand, als ihm nun ihr Duft in die Nase stieg. „Oh, das ist "wundervoll. Einfach wundervoll. Du hast jetzt auch die Bibliotheksleiter und die Konsole mit eingezeichnet." „Es waren gute Vorschläge. Danke." „Du glaubst gar nicht, wie es mich freut, dass ich dir helfen konnte. Es wird wunderschön werden. Auf diese Weise hast du einen herrlichen Platz für eine Sitzecke vor dem Kamin, von dem aus man die Bücher gut sehen kann." Er stellte sich sie beide vor, wie sie aneinander gekuschelt auf der Couch vor einem knisternden Kaminfeuer saßen. Neben sich auf dem Tisch eine gute Flasche Rotwein und im Hintergrund leise Musik. Er würde ihr die Füße massieren, überlegte er. Dann an ihren Zehen knabbern und sich einen Weg langsam nach oben bahnen, bis er ... Stopp, befahl er sich, schob das Bild entschlossen beiseite und räusperte sich. „Hast du vielleicht noch irgendwelche Vorschläge?" Sie schaute immer noch auf die Skizze und schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke, so ist es perfekt. Ich finde es wunderbar, Ian." „Gut. Ich auch." Er hätte gern ihre Hand berührt, die auf dem Tisch lag, mit der Fingerspitze über ihre Knöchel gestrichen, bis hinauf zu ihrem Handgelenk. Lass das, Junge, dachte er und tröstete sich mit der Scho koladentorte. Die Ankündigung über Lautsprecher, dass das Geschäft in fünfzehn Minuten schließe, veranlasste Naomi aufzuschauen. Wo war die Zeit geblieben? „Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist." „Jetzt hast du auf jeden Fall Feierabend." „Ja. Und ich muss auch erst morgen Mittag wieder hier sein. Meine kleine Belohnung für die letzten Zwölfstundentage." „Wollen wir ins Kino gehen?" „Ins Kino?"
„Wir haben uns gerade mit Koffein voll gepumpt." Er lä chelte, als er ihren wachsamen Blick auffing. Wenn sie erst gelernt hatte, ihm zu vertrauen, würde er sie behutsam an re gelmäßige Treffen mit ihm gewöhnen. „Wir werden beide noch für eine Weile nicht schlafen können. Warum dann nicht ins Kino gehen?" „Ich nehme an..." „Großartig." Eilig faltete er die Skizze zusammen. „Du bist zu Fuß hier, richtig? Mein Auto steht in der Nähe. Ich fahre dich anschließend nach Hause." Schon hatte er sich erhoben, in der einen Hand die Büchertüte und den Aktenkoffer, während er ihr die andere hinhielt, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein.
6. KAPITEL
Ian war ein geduldiger Mann. Er konnte warten. Er wusste, wie man Beziehungen anknüpfte, wie man sie aufrechterhielt, aber er wusste auch, dass Vertrauen die Basis dazu bildete. Es machte ihm Spaß, sich Zeit zu nehmen, Augenblicke zu genießen, Tage zu planen. Ihm waren diese Zeit, diese Augenblicke, diese Tage, die er mit Naomi verlebte, sehr wertvoll. Und es freute ihn, mehr über sie zu erfahren, indem er mit ihr Gespräche über Familie, Arbeit und beiderseitige Interessen führte. Er war schließlich ein zivilisierter und vernünftiger Mensch, der Spaß und Befriedigung in der Gesellschaft einer Frau fand, die er mochte, respektierte und die ihm gefiel. Zumindest, was die Hälfte der Zeit anging, die er mit ihr verbrachte. Die andere Hälfte allerdings war die reinste To rtur. Naomi war so faszinierend und so unterschwellig sexy, dass er sich nur mit Mühe zu beherrschen vermochte. Dennoch achtete er immer sorgfältig darauf, sie nicht zu berühren. Oh, natürlich gab er ihr ab und zu einen brüderlichen Kuss auf die Wange oder tätschelte ihr die Hand, aber nichts davon kam dieser leidenschaftlichen Umarmung von damals in seiner Küche auch nur im Entferntesten nahe. Er wollte es unter keinen Umständen riskieren, sie noch einmal zu verschrecken. Und nachdem er sie ein bisschen besser kennen gelernt hatte, wurde ihm auch allmählich klar, dass sie noch viel schüchterner, verletzlicher und unsicherer war, als er anfangs angenommen hatte. Sie besuchten Konzerte, gingen ins Kino, machten lange Spaziergänge. Sie kochten ein paarmal zusammen und verbrachten lächerlich viel Zeit damit, spätabends miteinander zu telefonieren. So eine intensive, wunderbare, unschuldige und sexuell frustrierende Beziehung hatte er seit der High School nicht mehr gehabt. Als er ein- oder zweimal einen behut samen Vorstoß unternahm, schreckte sie zurück wie ein scheues Reh, und seine Gelüste köchelten weiterhin auf Sparflamme. Er erinnerte sich daran, dass er - vorausgesetzt, es kam überhaupt dazu - ihr erster Liebhaber sein würde, ein Umstand, der ihm nicht nur Freude, sondern auch Verpflichtung brachte. Es war nichts, das er auf die leichte Schulter zu nehmen gedachte, und Eile war völlig fehl am Platz. Aber ich bin ja ein geduldiger Mensch, sagte er sich erneut, als er sich in seiner fast fertigen Bibliothek umschaute. Er hatte schon immer auf einer Sache beharren können, wenn sie ihm nur wichtig genug erschien. Und sie ist mir wichtig, dachte er, während er mit den Fingerspitzen über die frisch gewachsten Einbauregale strich. Cullum hatte erstklassige Arbeit geleistet. Präzise, einfallsreich. Das Kirschholz glänzte, die Kanten waren sanft geschwungen, fast fließend. Er betrachtete versonnen das beeindruckende Ergebnis von Cullums Arbeit. Die Regale waren unterschiedlich hoch, weil Ian den Eindruck von Uniformität hatte vermeiden wollen. Er wollte in dem Raum nichts Steifes oder Abschreckendes. Zwischen den beiden hohen Fenstern stand ein großer Zitronenbaum in einem Kupferkübel. Ein Geschenk seiner Eltern. Sie wussten schon immer, was das Beste für mich ist, sinnierte er und berührte ein glänzendes Blatt. Die Sitzecke war bereits fertig. Ein lang gestrecktes Sofa in hellem Blau, das sich gut für ein Nickerchen eignete, und zwei tiefe Sessel mit passenden Hockern davor, die dazu ein luden, die Beine hochzulegen und sich zu entspannen. Naomi hatte ihm auf einem ihrer gemeinsamen Beutezüge geholfen, die Lampen auszusuchen. Die beiden prächtigen Kerzenleuchter aus Zinn auf dem Kaminsims waren Erbstücke, Geschenke seiner Großeltern zum Einzug. Der Strauß bronzefarbener Herbstastern, der in einer Wedgwood-Vase dazwischen stand, stammte aus seinem Garten.
Ihm fiel auf, dass es in dem Zimmer eine Menge von ihm gab. Und von jenen, die er liebte. Einschließlich Naomi. Er setzte sich in einen der Sessel und fuhr sic h mit der Hand durchs Haar. Es hatte keinen Zweck, die Augen davor zu verschließen. Er liebte Naomi, und das schon von dem Moment an, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er glaubte an solche Dinge - an Liebe auf den ersten Blick, an das Schicksal, an Bindungen fürs Leben. Und er wollte solche Dinge auch für sich, wie ihm jetzt nicht schwer fiel, sich einzugestehen. Schon während der Zeit auf dem College hatte er immer seine Zukunft im Auge gehabt: seine Karriere und wie er sie anpacken wollte, sein Leben und wohin es ihn führen sollte. Und dass ein Zuhause Ehe, Familie und Kinder bedeutete. Er stand auf und begann auf und ab zu gehen. Er durfte seine Gefühle nicht als Vorwand benutzen, um Druck auf Naomi auszuüben. Sie würde mit ihm schlafen, wenn er ihr sagte, dass er sie liebte, da war er sich absolut sicher. Als Nächstes könnte er sie dazu überreden, bei ihm einzuziehen, und dann wäre es bis zur Heirat nur noch ein kleiner Schritt. Und er hätte genau das, was er sich wünschte. Was allerdings nichts darüber aussagte, was sie sich wünschte. Er ging ans Fenster, schob die Hände in die Ho sentaschen und schaute nachdenklich hinaus. Es musste ihre eigene Entscheidung sein. Naomi hielt vor Julias wunderschönem alten Backsteinhaus an und blieb unschlüssig im Auto sitzen. Das Haus lag nur ein paar Häuserblocks entfernt von Ians. Sie wäre jetzt lieber bei ihm gewesen. Auch wenn es ihr nicht ganz leicht fiel, sich das einzugestehen, wollte sie doch dort sein, wo er war. Er wird heute die Bücher in die Regale einräumen, dachte sie und seufzte. Bücher, über denen sie lange gebrütet hatten, Bücher, die sie ihm auszusuchen geholfen hatte. Er hatte sie gefragt, ob sie bei diesem letzten Schritt auch dabei sein wollte. Wie lieb von ihm, dachte sie und seufzte wieder. Aber sie hatte bereits die Einladung zu dem, was Julia den „Mädchentreff" nannte, angenommen. Naomi hatte sich in den letzten Wochen während Ians Umbau so mit Julia angefreundet, dass sie es einfach nicht übers Herz brachte, die Einladung auszuschlagen. Schließlich nahm sie die riesige Konditoreischachtel auf den Arm und stieg aus ihrem Auto aus. Und lächelte erwartungsvoll, als sie an diesem sonnigen Sonntagnachmittag auf das Haus zuging. Nun, immerhin war sie noch nie auf einem Mädchentreff gewesen. Als Teenager hatte sie immer abseits gestanden, wenn sich die anderen Mädchen zu Cliquen zusammenschlössen, Schlummerpartys veranstalteten und sich über Jungs und Kleider unterhielten. Einerseits wurde sie dazu nicht eingeladen, und andererseits hatte sie ihre langsam erwachende Weiblichkeit nicht wahrhaben wollen. Jetzt würde sie, zumindest für einen Nachmittag, eine Kostprobe von solchen Zusammenkünften bekommen. Leger, hatte Julia gesagt. Naomi zupfte am Bund ihres roten Pullovers, bevor sie an die Haustür klopfte. Die Tür flog auf. „He!" Julia nahm die Schachtel an sich, noch ehe sie Naomis Hand ergriff. „Was hast du mitgebracht?" „Brownies." „Ich liebe dich. Und du kommst genau richtig, weil wir die Zwerge gerade zu einem Mittagsschläfchen hingelegt ha ben." „Oh, ich hatte gehofft, Travis zu sehen." „Keine Angst, das wirst du schon noch. Er und Lauras Daniel schlafen nie lange." Sie zog Naomi in einen wunderschön eingerichteten Salon. „Ians Schwester Laura kennst du bereits, richtig?"
„Ja, hallo." „Hi, schön, dass du gekommen bist." Laura saß auf dem Boden und futterte aus einer Schale Kartoffelchips. „Was ist in der Schachtel?" „Brownies." „Her damit." „Sei nicht so gierig", ermahnte Julia sie. „Und das ist unsere Cousine Gwen, verheiratet mit Branson Maguire, dem berühmten Schriftsteller." „Ich habe schon eine Menge von Ihnen gehört." Gwen, die gerade dabei war, sich die Fußnägel zu lackieren, stand aus ihrem Sessel auf. „Ich bin sehr oft in Ihrer Buchhand lung. Branson erzählte mir, dass er nächsten Monat eine Lesung bei Ihnen hält." „Ja, das stimmt", entgegnete Naomi. „Ihr Mann ist einer unserer besten Autoren. Ich habe auch sämtliche Bücher von ihm in meiner Privatsammlung ... und alle handsigniert." „Wusstest du, dass Gwen für die Verrückte in ,Tu nichts Böses' das Vorbild war?" mischte sich Laura ein. „Aber nur für das Kapitel mit der aufopferungsvollen Ärztin", stellte Gwen mit einem Lachen richtig. „Wir haben heiße Schokolade. Mousse au chocolat, Schokoladenplätzchen und mit Schokolade überzogene Brezeln." „Julia hat das Menü zusammengestellt", warf Laura ein. „Nein, Junior." Julia stellte die Schachtel auf den Tisch und öffnete sie. „Und darauf wird er ganz wild sein. Setz dich, Naomi, und zieh dir ein paar Kalorien rein." Drei Stunden später hatte Naomi unzählige Tassen Kaffee getrunken, ihr Magen ächzte unter dem übermäßigen Genuss, den sie sich drei Jahre lang nicht gestattet hatte, und sie hatte mehr gelacht als je zuvor in ihrem Leben. Das Mädchen, das sie vorher gewesen war, hätte niemals so aus sich herausgehen können. Es wäre nicht in der Lage gewesen, sich auf dem Fußboden herumzulümmeln und über so viele wundervolle und törichte Dinge zu reden oder sich so zugehörig zu fühlen. Vorher und nachher, dachte sie. Wann würde sie aufhören, Vergleiche zu ziehen und endlich akzeptieren, dass sie jetzt und heute lebte? Hier, in der Zeit, die es dauerte, eine Schachtel Brownies zu verputzen, hatte sie drei Freundinnen gewonnen. „Mmm." Julia schleckte sich die Schokolade von den Fingern. „Du solltest dir mal Ians Bibliothek ansehen", sagte sie zu Gwen. „Sie ist wundervoll geworden." „Cullum hat bei den Einbauregalen fantastische Arbeit geleistet." Laura schenkte heiße Schokolade nach. „He, ich habe geholfen, sie zu entwerfen." Julia zeigte mit dem Daumen auf Naomi. „Und sie auch." „Ich habe nicht so viel gemacht", wehrte Naomi bescheiden ab. „Ian wusste bereits ziemlich genau, was er wollte." „Hat er die Bücher schon eingeräumt?" wollte Julia wissen. „Das macht er heute." „Aha ... Und wie läuft's mit euch beiden so?" „Oh, bestens. Er ist ein wunderbarer Freund." „Freund?" platzte Laura lachend heraus. „Ich würde nicht sagen, dass die Blicke, die er dir zuwirft, besonders freundschaftlich sind. Für mich sieht es eher so aus, als wollte er dich vernaschen." „An so etwas denkt er nicht mal." „Seit wann?" Naomi zuckte die Schultern und entschied, dass ein weiteres Schokoladenplätzchen nicht schaden könnte. „Er hat so gedacht, aber jetzt nicht mehr." „Entschuldige." Julia hob eine Hand. „Sind wir alle Freundinnen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, nickte sie. „Gut. Naomi, hast du den Verstand verloren?"
„Ich weiß nicht, was du meinst." „Ian ist verrückt nach dir. Er ist bis über beide Ohren verliebt, völlig durchgedreht. Ach, nenn es, wie du willst. Gwen, du kennst doch unseren Ian, stimmt's?" „Ich kenne und liebe ihn", sagte Gwen und streckte ihre nackten Füße aus, um ihre Zehen zu bewundern. „Schön. Also, da du den Patienten gut kennst, frage ich dich als Ärztin jetzt nach deiner Diagnose. Was hältst du von einem Kerl, der seine gesamte Freizeit mit ein und derselben Frau verbringt, ständig von ihr spricht, mit blödem Gesichtsausdruck Tagträumen nachhängt und romantische Abendessen für zwei kocht?" „Hm." Gwen spitzte die Lippen und wackelte mit den Zehen. „In der medizinischen Fachsprache nennt man das ,gaga’." Julia tätschelte ihren Bauch, um den heftig strampelnden Junior zu beruhigen. „Siehst du?" „In der Kanzlei träumt er auch", bemerkte Laura. „Und ich habe gehört, wie er letzte Woche, als er eine Akte studieren musste, seine Sekretärin anwies, ihm alle Anrufer vom Hals zu halten ... bis auf Miss Brightstone." „Hoffnungslos gaga", sagte Gwen mit einem ernsten Nicken. „Ein schlimmer Zustand, der die medizinische Fachwelt in Erstaunen versetzt." „Aber das stimmt doch nicht." Unsicher, ob sie lachen oder weinen sollte, griff Naomi nach dem nächsten Schokoladenplätzchen. „Er behandelt mich wie eine Schwester." „Ein sehr, sehr kranker Mann", murmelte Gwen. „Wenn du mir mehr Einzelheiten erzähltest, könnte ich dir vielleicht einen Vorschlag für eine Therapie machen." „Er küsst mich auf die Wange", sagte Naomi und runzelte die Stirn. „Tätschelt meinen Kopf. Manchmal schaut er mich an, und ich denke, Junge, jetzt kommt's. Und dann ... nichts. Bevor ich ihm erzählte, dass ich noch nie Sex hatte, hat er mich geküsst, dass mir Hören und Sehen verging, und jetzt ... oh!" Sie fuhr herum und klopfte Laura auf den Rücken, als diese einen Erstickungsanfall bekam. „Bist du okay?" „Oh, armer Ian!" keuchte Laura und brach dann in lautes Lachen aus. Naomi stand verblüfft auf und schaute in die Runde, während ihre drei neuen Freundinnen lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. „Entschuldigung, Entschuldigung." Laura presste sich die Hände aufs Herz. „Ich bezweifle, dass es für dich - oder für ihn - so lustig ist, aber wir sind seine Familie. Wir müssen lachen. Er muss Höllenqualen leiden. Gwen? Ich kann nicht mehr", prustete sie und forderte ihre Cousine mit einer hilflosen Handbewegung auf zu übernehmen. „Er hat Angst", sagte Gwen. Und plötzlich verklärte sich ihr Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie süß, wie romantisch Branson bei ihrem ersten Mal gewesen war. „Das ist doch völliger Blödsinn." „Nein." Gwen, die jetzt mit Naomi mitfühlen konnte, hob eine Hand. „Er will dich nicht drängen, nicht ein Mann wie Ian. Er hat Angst, etwas falsch zu machen, dich zu erschrecken oder dir wehzutun. Und wenn er sich so angezo gen von dir fühlt, wie ich glaube, dürften ihm diese brüderlichen Gesten nicht leicht fallen. Er wartet darauf, dass du den ersten Schritt machst. Er möchte, dass du dir wirklich sicher bist. Dass es das ist, was du willst. Und genau so sollte es auch sein." Für zehn atemberaubende Sekunden starrte Naomi in drei grinsende Gesichter. „Ich dachte, er wäre in dieser Hinsicht einfach nicht mehr an mir interessiert, seitdem er weiß, dass ich keine Erfahrung habe." „Er würde eine Frau nie drängen, Naomi." Laura nahm Naomis Hand und drückte sie. „Und je mehr er sich aus einer Frau macht, desto vorsichtiger wird er sein." „Glaubt ihr wirklich ..." Naomi brach ab und lächelte verträumt vor sich hin. „Oh, oh, Dr. Maguire, ich glaube, wir haben noch einen Fall von gaga." Julia grinste und blinzelte ihren Cousinen zu. „Hoffentlich breitet sich da keine Ep idemie aus."
Es dämmerte bereits, als Naomi ihr Auto vor Ians Haus parkte. In allen Zimmern brannten Lampen und warfen ihren warmen Schein durch die Fenster. War er immer noch in seiner Bibliothek und räumte Bücher ein? Wartete er darauf, dass sie ihn anrief? Oder wartete er darauf, dass sie kam? Oder irrte sich seine Familie? War sie vielleicht für ihn doch nicht mehr als eine Freundin? Vielleicht war er ja gar nicht allein. Als sich dieser Gedanke in ihren Kopf stahl, umklammerte sie das Lenkrad fester. Er war so attraktiv, so charmant, so ... Sie seufzte. Er verkörperte einfach alle guten Eigenschaften. Bestimmt gab es weit mehr als ein Dutzend Frauen, die er haben konnte. Er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen. Schöne, erfahrene, weltgewandte Frauen. Warum sollte er ausgerechnet auf sie warten? „Hör auf, hör auf, hör auf." Wütend über sich selbst, schlug sie mit der Faust dreimal aufs Lenkrad. „So hast du vorher gedacht. Du hast dich verändert." Sie hatte aus sich eine andere gemacht. Vielleicht war der Verwandlungsprozess noch nicht ganz abgeschlossen, aber sie hatte schon gute Fortschritte erzielt. Sie war durchaus attraktiv, wenn sie sich die Zeit nahm und daran arbeitete. Sie wusste, wie man Konversation machte. Sie führte ein eigenes Geschäft, um Gottes willen. Sie hatte Angestellte, und niemand von ihnen hielt sie für unfähig. Drei unglaublich reizende und intelligente Frauen betrachteten sie jetzt als ihre Freundin. Oh, du wirst deine neuen Freundinnen hüten wie einen Schatz, dachte Naomi und schloss die Augen. Sie würde sich ihr ganzes Leben lang an diesen wundervollen ungezwungenen, ja fast albernen Nachmittag erinnern. Und diese drei Frauen kannten und liebten Ian, oder etwa nicht? Warum sollte sie ihre Meinung in Frage stellen? „Okay. In Ordnung. Ich gehe", sagte sie zu sich selbst und stieg aus. Auf dem Weg zur Tür atmete sie zehnmal tief durch. Aber dieses Mal schien die beruhigende Wirkung auszubleiben. Zu viel Koffein, entschied sie und wappnete sich inner lich, als sie auf die Klingel drückte. Er kam barfuß, in ausgewaschener Jeans und einem aus geleierten Harvard Law Sweatshirt an die Tür. Und sein schnell aufblitzendes Lächeln erwärmte ihr banges Herz. „Hi. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich dich heute noch sehe." „Ich hätte anrufen sollen. Aber ich war gerade drüben bei Julia, und da dachte ich ..." „Mädchentreff, ich weiß." Er ergriff ihre Hände und zog sie aus der Dämmerung ins Haus. „Das machen sie alle zwei Monate. Was, zum Teufel, treibt ihr denn da so?" „Nägel lackieren, sehr, sehr viel Schokolade essen. Über Männer tratschen." „Ach ja? Und was habt ihr über mich getratscht?" „Äh ... könnte ich vielleicht etwas zu trinken haben?" „Aber ja, entschuldige. Komm mit nach oben. Ich habe in der Bibliothek eine Flasche Wein deponiert, und ich muss dir unbedingt zeigen, was ich heute alles geleistet habe." Sie sah zum Anbeißen aus. Ihre Wangen waren rosig, die Augen geheimnisvoll dunkel, und der übergroße rote Pullover bewirkte, dass es ihn in den Fingern kribbelte nachzuschauen, was sich darunter verbarg. Deshalb steckte er vorsichtshalber die Hände in die Hosentaschen, als er neben ihr die Treppe hochging. „Ich habe den ganzen Tag praktisch nichts anderes ge macht als Bücher eingeräumt", fuhr er fort. „Nachdem ich erst einmal damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören." Kurz vor der Tür stellte er sich ihr in den Weg. „Mach die Augen zu." Als sie seine Aufforderung ohne zu fragen befolgte und einfach nur mit geschlossenen Augen dastand, ballten sich seine Hände in den Taschen zu Fäusten. Es kostete ihn einige Anstrengung, eine Hand herauszunehmen und sie ihr auf die Schulter zu legen. „Okay. Jetzt darfst du die Augen aufmachen", sagte er und führte sie ins Zimmer.
Sie tat es und schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh, Ian, es ist wundervoll. Es ist mehr als wundervoll." Mit glänzenden Augen drehte sie sich langsam um die eigene Achse und schaute sich in dem Raum um, dessen herrliche Kirschholzregale jetzt voll mit Büchern waren. Buchrücken aus Leinen und Leder, alt und abgeschabt oder neu und glänzend, ramponierte Schutzumschläge. „Perfekt. Und deine Bibliotheksleiter ist auch schon gekommen. Ich finde es herrlich hier." Sie drehte sich noch einmal im Kreis, dann strahlte sie ihn an. „Ich habe mir gewünscht, dass du hier bist." Sein Herz hatte sich mit ihr im Kreis gedreht, und jetzt schlug es unangenehm hart gegen seine Rippen. „Ich wollte wissen, welche Atmosphäre der Raum ausstrahlt, wenn du darin bist. Genau richtig." Er steckte seine Hände erneut in die Taschen, um sie gleich darauf wieder herauszuziehen. „Warte, ich gieße dir Wein ein." Während Naomi ihm dabei zusah, wie er ihr Glas füllte, kämpfte sie innerlich mit sich. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und platzte heraus: „Ian, willst du mit mir schlafen?" Er schüttete sich vor Schreck Wein über sein Sweatshirt und fluchte. „Was?" „Ich möchte nicht unhöflich sein und dich jetzt in eine unangenehme Lage bringen. Ich will nur wissen, ob du dich immer noch so von mir angezogen fühlst wie zu Anfang. Falls nicht, ist es okay. Aber wenn es anders sein sollte und du nur versuchst, rücksichtsvoll zu sein, weil ich noch nie mit einem Mann zusammen war, kannst du damit aufhören. In dem Fall würde ich es vorziehen, wenn du nicht mehr rücksichtsvoll wärst." Ihr gingen die Worte und die Luft aus, und sie kompensierte den Mangel, indem sie die Schultern zuckte, während er, mit der Weinflasche in der einen, einem halb vollen Glas in der anderen Hand und einem großen Fleck auf seinem ge liebten Harvard Sweatshirt einfach nur dastand und sie anstarrte.
7. KAPITEL Ian stellte die Flasche ab. „Du willst, dass ich nicht mehr rücksichtsvoll bin?" "Ja." Er stellte das Glas neben die Flasche. „Du willst, dass ich mir keine Mühe mehr gebe, die Finger von dir zu lassen?" Ein Schauer rann ihr über den Rücken. „Nur, wenn du immer noch ... äh ... an mir interessiert bist." Seine Kehle wurde staubtrocken. Da stand die Frau, die er wollte, und sie bot sich ihm freiwillig an, so wie sie es noch nie bei einem anderen Mann ge tan hatte. Konnte er behutsam genug sein, um ihr zu zeigen, wie schön die körperliche Liebe war? Er musste es, weil es nichts Wichtigeres gab. Um seine Lippen spielte ein Lächeln, als er auf sie zuging. „Die Zeugin wird gebeten, die Frage mit Ja oder Nein zu beantworten. Willst du, dass ich meine Finger von dir lasse?" „Nein." Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. „Gott sei Dank." Im nächsten Moment riss er sie in seine Arme, und sein Mund eroberte ihren zu einem langen, leidenschaftlichen Kuss, der bewirkte, dass ihr Herz hilflos in der Brust hüpfte. „Beantwortet das deine Fragen?" murmelte er und verlagerte seine Aufmerksamkeit von ihrem Mund auf ihren Hals, bis ihr ein leises Stöhnen entschlüpfte. „Welche Fragen?" „Ob ich noch an dir interessiert bin. Ob ich dich lieben will." Gott, war sie köstlich. „Für den Fall, dass dir meine Antwort entgangen sein sollte, wiederhole ich sie noch einmal. Und zwar so." Seine Lippen wanderten über ihr Gesicht und legten sich wieder auf ihren Mund. „Hast du es jetzt begriffen?" wollte er wissen, nachdem er sie voller Inbrunst geküsst hatte. „Ja." Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und einfach weil sie es herrlich fand, legte sie ihm die Arme um den Hals. „Ja, jetzt habe ich es begriffen." „Du machst mich schon seit Wochen völlig verrückt." Er drehte sich langsam im Kreis mit ihr in Richtung Tür. „Ich ..." Der Gedanke schockierte und erfreute sie zugleich. „Wirklich?" „Meine Rücksichtnahme hat mich fast umgebracht." „Und ich dachte, du wolltest, dass wir einfach nur Freunde sind." „Wir sind Freunde." Er drehte sich weiter mit ihr im Kreis. Es war ein langsamer Tanz zur Tür hinaus, den Flur hinunter und in sein Schlafzimmer hinein. „Das macht dich für mich nur umso begehrenswerter." „Ich habe außer dir noch nie einen Mann gewollt." In ihren Augen spiegelten sich ihre aufgewühlten Gefühle wider, und sie legte ihm fast verzweifelt eine Hand an die Wange. „Ich weiß nicht, was ich tun soll." „Ich helfe dir dabei." Er drehte den Kopf so, dass er mit seinen Lippen ihre Handfläche streifte. „Vertrau mir, Naomi, ich werde dir nicht wehtun. Und wenn du möchtest, dass ich aufhöre, werde ich auf der Stelle aufhören." „Ich werde ganz bestimmt nicht wollen, dass du aufhörst." Er ließ das Lic ht an. Obwohl er sich wünschte, ein Feuer im Kamin angemacht und Kerzen angezündet zu haben, glaubte er nicht, dass er sie lange genug loslassen könnte, um sich jetzt darum zu kümmern. Sie zitterte leicht, aber diese schönen großen Augen hielten seinem Blick ruhig stand. In ihnen las er das Vertrauen, um das er sie gebeten hatte, und er schwor sich, dass er sie nicht enttäuschen würde, selbst wenn er dabei seine eigenen Bedürfnisse verleugnen musste. Er küsste sie ganz behutsam, hüllte sie ein in seine Wärme. „Ich liebe deinen Mund." Er nahm ihre Oberlippe zwischen die Zähne und biss sanft zu. „Er ist so sexy." Sie riss die Augen auf, und ihr überraschter Blick entlockte ihm ein Lachen. „Du hast keine Ahnung, stimmt's? Hübsche Naomi. Ich sterbe seit Wochen fast vor Sehnsucht danach, in
deine Lippen zu beißen", sagte er und küsste sie jetzt so stürmisch, dass sich der Druck, der sich in ihr aufgestaut hatte, explosionsartig entlud. Mit einem unterdrückten Aufschrei warf sie sich ihm an die Brust. Und erwiderte voller Leidenschaft seinen Kuss. Pure Lust brachte sein Blut in Wallung, trübte seinen Verstand. Nur langsam, mach langsam, befahl er sich. Auch wenn ihre Reaktion die Antwort auf jeden einzelnen seiner erotischen Träume war, war sie immer noch unberührt. Und er hatte ihr sein Wort gegeben. Er zügelte seine Wildheit und küsste sie noch einmal, die ses Mal sanft, ehe er anfing, den Zopf, der ihr über den Rücken hing, zu lösen. Er wollte ihr Haar in seiner Hand spüren, wollte, dass sich die schwarze Flut über sein Bett ergoss, wollte sich darin einhüllen. Das Gewicht ihres Haars, seine Struktur und sein Duft erregten ihn maßlos. Nachdem er den Zopf entflochten hatte, kämmte er ihr die Haare mit den Fingern durch und trat einen Schritt zurück. Langsam, fast zögernd, griff er dann nach ihrem Pullo ver und schob ihn hoch, wobei er ihr tief in die Augen schaute. Ihr erster Impuls "war, ihre Blöße zu bedecken, aber er hielt ihre bereits erhobenen Hände fest. Sie schnappte nach Luft und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, während sein Blick an ihr hinunterwanderte und wieder hinauf zu ihren Augen. Schüchternheit und Begehren rangen miteinander in ihr, als er ihr schließlich den Pullover ganz auszog und mit der Fingerspitze über die sanfte Wölbung fuhr, die sich über dem Rand ihres BHs erhob. Sie stand mit verkrampften Händen steif da, bis sie sich selbst befahl, sich zu entspannen und mutig genug zu sein, um das zu tun, was sie zu tun wünschte. Nachdem sie zitternd Atem geholt hatte, fasste sie nach dem Bund seines Sweatshirts und zog es ihm über den Kopf. „Oh", entfuhr es ihr. Er war schön. Geschmeidige Mus keln, glatte Haut. Ohne nachzudenken legte sie ihm die Hände auf die Brust, doch als sie spürte, wie er erschauerte, nahm sie sie eilig fort. Mit einem erstickten Lachen legte er sich ihre Hände wieder auf dieselbe Stelle. „Zieh deine Schuhe aus." Wie sein Herz rast, dachte sie. Und seine Brust ist so ... hart. „Meine Schuhe?" „Zieh sie aus." „Mmm." Fasziniert davon, wie er sich anfühlte, spreizte sie die Finger über seiner Brust und schlüpfte gehorsam aus ihren Schuhen, zuckte im nächsten Moment jedoch zurück, als er den Reißverschluss ihrer Hose öffnete. „Entspann dich", murmelte er, ehe er seinen Mund wieder auf ihren legte. Und sie entspannte sich, ließ sich von seinem Kuss davontreiben und nahm kaum wahr, wie er ihr die Hose zusammen mit dem Slip auszog, sie hochhob und, sie noch immer küssend, aufs Bett legte. Über sich spürte sie die Hitze seines Körpers, unter sich die Kühle der Tagesdecke. Und während ihr Herz zu rasen begann, spürte sie seine Hände, die langsam, viel zu langsam über ihren Körper strichen. Sie hob die Arme, packte seine Schultern und bewegte sich unruhig unter ihm. Sie sehnte sich nach mehr, sehnte sich nach irgendetwas, das ihr die Erfüllung brachte. Ian hingegen ließ sich Zeit. Er hatte noch nie zuvor eine Frau mit mehr Sorgsamkeit behandelt, das wusste er. Er wollte ihr jedes Vergnügen schenken, ihr Begehren noch mehr erwecken. Und es fiel ihm leichter als gedacht, die Flammen, die in ihm loderten, im Zaum zu halten. Während er sie mit seinen Zärtlichkeiten verwöhnte, hielt sie die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. Dennoch raste ihr Herz, das konnte er fühlen, als er den Ansatz ihrer Brüste küsste. Und als er dann ihren BH ganz zur Seite schob, entfuhr ihr ein unbewusstes Aufstöhnen.
Ihre Brüste glitten in seine Hände, fest und voll. Ihre Hüften hoben sich ihm instinktiv entgegen. Und während er mit den Daumen ihre Knospen liebkoste, beobachtete er, wie ein Ausdruck sprachloser Verzückung sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, wie ihre Lider flatterten, sich dann hoben, um vor Leidenschaft verschleierte Augen zu enthüllen. Sie holte tief und zitternd Atem, ihre Hände wanderten unruhig über seinen Rücken. „Was soll ich machen?" wis perte sie. „Genießen." Sein Mund senkte sich, sein Atem strich über die sensibilisierte Haut ihrer Brüste, seine Zunge umspielte mit quälender Langsamkeit ihre Knospen, bis sie schließlich vor Unge duld in sein Haar griff und seinen Kopf noch näher an sich heranzog. Er nahm ihre Knospe in den Mund und saugte daran, was ihr ein schockiertes Keuchen, gefolgt von einem heftigen Schauer, entlockte. Er kostete ihren Geschmack aus, während seine Hände allmählich abwärts wanderten, der Hitze entgegen. Und dann legte er seine Hand zwischen ihre Schenkel, ganz sanft, um ihr Zeit zu geben, sich an diese neue Intimität zu gewöhnen. Es schien, als explodierte sie unter ihm. Ihr Körper bäumte sich auf, sein Name entrang sich ihren Lippen, und die Hitze strömte aus ihr heraus in seine Hand. Ihre heftige Reaktion zwang ihn, sein Gesicht in ihrem Haar zu vergraben und eine Weile ganz ruhig liegen zu bleiben. Zum ersten Mal wäre es um seine Beherrschung fast ge schehen gewesen. Ihr Körper unter ihm wurde schlaff, ihr Atem ging schnell und stoßweise. Nichts hatte sie auf diese lange, köstliche Erschütterung, auf diese hoch aufbrandende Welle heißer Lust vorbereitet. Wie im Fieber warf sie den Kopf hin und her, ihre Hände zerrten an ihm, bis ihr Mund seinen gefunden hatte. Seine Haut "war heiß, feucht und schmeckte nach Salz. Mit den Lippen fuhr sie weiter über seinen Hals und die Schultern, wobei sie sich ihm einladend entgegenbog. Nur widerstrebend löste er sich von ihr und zügelte seine Begierde lange genug, um sich die Jeans vom Leib zu reißen und sie beide zu schützen. Ein letztes Mal setzte er alles daran, sein eigenes Begehren einzudämmen und sie mit Zärtlichkeiten erneut den Gipfel der Lust erklimmen zu lassen. Und als ihr Körper sich wieder aufbäumte, als dieses Stöhnen der Erlösung sich ihrer Kehle entrang, hob er ihre Hüften an und drang behutsam in sie ein. Der Widerstand der Unschuld ließ ihn erschauern und machte ihn sanft. Er dämpfte ihren kurzen spitzen Schrei mit seinem Mund und machte sie zu der Seinen. Allein zu der Seinen, dachte er, als er sie zum ersten Mal ausfüllte. Sie zitterte noch immer in seinen Armen. Er hielt sie fest, streichelte ihr Haar und wartete darauf, dass er sich selbst beruhigte. „Bist du okay?" „Mmm", war alles, was sie sagen konnte, und brachte ihn damit zum Lächeln. „Wie fühlst du dich?" „Benommen, fast ein bisschen beschwipst. So als würde ich fliegen." Sie seufzte. „Und überhaupt nicht verlegen. Ich war mir sicher, dass ich mich hinterher verlegen fühlen wür de. Hab ich alles richtig gemacht?" Er hob eine Augenbraue. Ihre Stimme klang schleppend, schläfrig. „Nein. Du warst eine Riesenenttäuschung für mich. Ich fürchte, ich muss dich jetzt bitten zu gehen." Ihr Kopf fuhr hoch, die großen Augen glühten noch immer. Dann sah sie sein Grinsen und lächelte erleichtert. „Mit ein bisschen Übung werde ich vielleicht noch besser", sagte sie, überrascht über sich selbst.
„Hm. Also gut, vielleicht sollte ich dir noch eine Chance gewähren, hübsche Naomi." Er legte eine Hand an ihre Wange und gab ihr einen kurzen Kuss auf den Mund. „Möchtest du jetzt ein Glas Wein?" „Na gut." Sie interessierte im Augenblick nichts weniger als der Wein, aber es würde ihr Gelegenheit geben, sich von dem Schauer zu erholen, der ihr bei seinem Kompliment über den Rücken gelaufen war. Sie stützte sich auf und beobachtete unauffällig, wie er aus dem Bett stieg und nackt aus dem Zimmer ging. Nachdem er fort war, presste sie sich eine Hand aufs Herz. Wie, um alles in der Welt, hatte sie es geschafft, das Interesse eines Mannes zu erwecken, der so attraktiv, so begehrenswert aus sah? Und der zu allem Überfluss auch noch so freundlich und nett war? Besser, es nicht zu hinterfragen, sagte sie sich. Dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie ebenfalls nackt war. Sie zog die zerwühlten Laken hoch und hatte sich eben wieder hingelegt, da kam er auch schon zurück. Er stand einen Moment da, musterte sie, dann schüttelte er den Kopf. „Warum, zum Teufel, hat dich nicht schon längst jemand vor mir vernascht?" Sie errötete, was den Reiz des sexy Bildes, das sie bot, nur noch erhöhte. „Wahrscheinlich hat es einfach noch nie jemand wirklich versucht." Mit einem Lachen trug er den Wein und die Gläser ans Bett. „Sei ernst. Ich nehme an, du hast es einfach nicht bemerkt." „Nein, ich war immer unbeholfen im Umgang mit Jungen. Und später mit Männern." Und weil sie wieder anfing, sich linkisch zu fühlen, nahm sie dankbar den Wein entgegen und trank einen kleinen Schluck. „Honey, ich würde sagen, dass die Männer, denen du über den Weg gelaufen bist, unbeholfen gewesen sein müs sen, wenn sie es nicht geschafft haben, dich festzuhalten." Er schob das Laken, das sie über der Brust zusammenhielt, mit der Fingerspitze etwas nach unten. „Du hast einen erstaunlichen Körper." „Finde ich nicht. Ich wollte immer groß und schlank sein." In dem Versuch, sich zu entspannen, nippte sie wieder an ihrem Wein. „Aber ich entwickelte mich schon sehr früh, weißt du. Es war schrecklich." „Warum?" „Oh ... ich nehme an, man muss erst einmal ein Kind ge wesen sein, um eine Heranwachsende werden zu können, und plötzlich..." „Bekamst du wunderschöne Brüste", beendete er ihren Satz mit einem Lächeln. „Aber Männer lieben Brüste, Naomi. Sie gehören für uns zu den schönsten Attributen einer Frau." Sie lachte verlegen. „Ich habe Jahre damit verbracht, meine zu verstecken." „Und tust es noch immer", behauptete er, zog ihr das La ken bis zur Taille hinunter und grinste, als sie peinlich berührt die Augen schloss. „So ist es schon viel besser. Wie schmeckt dir der Wein?" Sie öffnete die Augen. „Gut." Entschlossen zerrte sie das Laken wieder hoch. Sie konnte unmöglich mit entblößtem Oberkörper hier sitzen und Wein trinken. „Tut mir Leid wegen deines Sweatshirts. Wenn du es jetzt gleich einweichst, kriegst du den Fleck vielleicht noch raus." „Ich lass ihn einfach drin, als Erinnerung an die größte Nacht meines Lebens." Ihr Gesicht leuchtete vor Freude auf. „Du bist so lieb. Aber wie kannst du dich bloß für mich interessieren?" Sie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, aber er legte den Kopf schräg und schaute sie lange und nachdenk lich an. „Du hast Brüste." Ihre Augen weiteten sich, sie sperrte den Mund auf. Dann sah sie das Glitzern in seinem Blick und fing an zu lachen. „Glück für mich." Seine Fingerspitze wanderte über die Kurve ihrer Schulter, hinunter an ihrem Hals und noch ein Stück weiter und begann dann wieder mit dem Laken zu spielen. „Wenn du deinen
Wein ausgetrunken hast, sollten wir diese Übungsstunde einlegen, von der du vorhin gesprochen hast." „Oh." Er wollte sie wieder. Das Leben war plötzlich voller Wunder. „Na gut. Aber ich würde diesmal gern in die Bibliothek gehen." Jetzt weiteten sich seine Augen vor Überra schung. „Umringt von Büchern bin ich nämlich wirklich gut", fügte sie keck hinzu. Die Vorstellung bewirkte, dass er erregt wurde. „Naomi?" „Ja?" „Trink deinen Wein aus." Sie musste erst schlucken, ehe sie nach ihrem Glas griff und es in einem Zug leerte. „Fertig", verkündete sie sodann. Ian fand es wundervoll, mit Naomi, die eng an ihn gekuschelt schlief, im Dunkeln zu liegen. Das war es, was er wollte, jetzt, morgen, immer. Er konnte es noch gar nicht fassen, dass es so einfach gewesen war, sie für sich zu gewinnen. Er hatte keine Mühe, sie sich beide vorzustellen, in diesem großen Bett, in dem weiträumigen alten Haus, Jahr um Jahr. Mit Kindern, die nebenan im Kinderzimmer schliefen, und einem Hund, der auf dem Bettvorleger schnarchte. Sie würden alle Hände voll zu tun haben mit ihren Berufen, den Kindern und einer Ehe, die gepflegt sein wollte, aber sie würden es schaffen. Seine Eltern hatten es auch geschafft. Und das, was sie ihm vorgelebt hatten, wünschte er sich ebenfalls. Mit Naomi. Er musste sich nur ein bisschen Zeit lassen, nichts überstürzen und einen Schritt nach dem anderen machen. Behut samkeit und Umsicht hatten ihn bis hierher gebracht, und das war schon sehr weit. Er hatte ihr die Zeit gegeben, sich an den Gedanken körperlicher Intimität zu gewöhnen, und am Ende war sie nicht nur willig zu ihm gekommen, sondern begierig. Wenn er daran dachte, wie begierig, begann sein Blut sofort erneut zu sieden. Er würde ihr jetzt wieder ein paar Wochen Zeit lassen und ein wenig Abstand nehmen, ehe er sie bat, bei ihm einzuziehen. Schritt für Schritt, sagte er sich. Genau so musste er vorgehen. Er konnte seine Ungeduld, seine Bedürfnisse zügeln, wenn die zu erwartende Belohnung so hoch war. Ja, ich werde ihr Zeit und Raum geben, dachte er, obwohl er sie enger an sich heranzog. Dann würden sie ein Leben lang zusammen sein.
8. KAPITEL
Ian legte den Telefonhörer auf und schüttelte den Kopf. Sein Großvater war in letzter Zeit wirklich anhänglich. Das war jetzt schon der dritte Anruf in weniger als zwei Wochen. Ich muss unbedingt demnächst nach Hyannis Port fahren, um einmal nach dem Rechten zu sehen, entschied er und wandte sich wieder seinem Computer zu. Er hatte große Lust, Naomi mitzunehmen, aber ... Wenn sie dem großen MacGregor gefiel, würde dieser zweifellos seine nicht sehr subtilen Bemerkungen übers Heiraten und Kinderkriegen fallen lassen und darüber, dass ein jeder MacGregor die Pflicht habe, den Familiennamen weiterzugeben. Ian grinste, dann veränderte er einen Absatz auf dem Bildschirm. Nur gut, dass der große MacGregor nicht wusste, dass sein Enkel genau dies vorhatte. Und Ian wollte, dass das auch so blieb. Es klopfte. Er hob den Kopf und zog die Augenbrauen hoch, als seine Mutter kurz darauf in der Tür stand. „Bist du sehr beschäftigt?" „Im Moment nicht." Sie kam herein, groß und schlank, mit im Nacken zusammengefasstem, dunklem Haar, das ein schön geschnittenes Gesicht frei ließ, und legte ihm einen dicken Aktenordner auf den Schreibtisch. „Aber jetzt bist du es." „Gott, bloß nicht noch eine Perinsky-Sache." Diana lächelte vergnügt über die Verzweiflung, die sich auf dem Gesicht ihres Sohnes widerspiegelte. „Dann geht es alles in einem Aufwasch. Diesmal ist sie wild entschlossen, den Lebensmittelhändler in ihrer Straße zu verklagen, weil er ihre Teesorte nicht führt. Sie behauptet, das sei eine Verletzung ihrer Bürgerrechte." Er blätterte den dicken Aktenordner durch, der angefüllt war mit dem Papierwust, den Mrs. Perinsky produziert hatte. Alte Schachtel, dachte er, aber nicht ohne eine Spur widerwilliger Zuneigung. „Laura kommt viel besser mit ihr klar", bemerkte er und sah seine Mutter hoffnungsvoll an. „Mrs. Perinsky will aber ausdrücklich dich." Lachend lehnte sich Diana mit einer Hüfte an den Schreibtisch. „Ich glaube, sie ist verliebt in dich." „Sie ist mindestens hundertfünfzig." „Und hat immer noch nicht vergessen, wie es ist, wenn ein gut aussehender junger Mann nach ihrer Pfeife tanzt. Ich weiß, dass sie eine Prüfung ist, Ian, aber sie war schon unsere Mandantin, bevor du geboren "warst." „Nein, bevor du geboren warst", brummte er und brachte Diana damit wieder zum Lachen. „Fast, aber auf jeden Fall ist sie einsam und sucht Aufmerksamkeit. Du gibst ihr ein bisschen davon, isst ein paar ihrer Plätzchen und redest es ihr aus, diesen wirklich unver schämten Lebensmittelhändler zu verklagen." „Gut. Aber dann schuldest du mir etwas." „Würde ein selbst gekochtes Essen es wieder gutmachen?" Er überlegte. Jeder Fingerstreich, den er für Mrs. Perinsky tat, erforderte beste Bezahlung. „Vielleicht ließe sich die Sache mit einem Schmortopf regeln." „Ich denke, das lässt sich einrichten. Wäre dir Sonntag recht?" „Es wäre mir recht, wenn du den Schmortopf noch ein bisschen strecken könntest." „Naomi?" „Ja." Da sie noch nicht wirklich darüber gesprochen hatten, studierte Ian jetzt aufmerksam das Gesicht seiner Mutter. „Ist das okay für dich?" „Ich mag sie sehr." „Ich liebe sie."
„Oh." Diana, die spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, hob hilflos eine Hand. „Entschuldige." „Moment." Erschrocken sprang er auf und schloss die Tür, ehe er seiner Mutter einen Arm um die Schultern legte. „Hast du nicht eben gesagt, du magst sie?" „Ich mag sie ja auch." Diana wedelte mit der Hand, dann legte sie sie an seine Wange. „Du bist mein Baby." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schmiegte ihre Wange an seine und erinnerte sich an hundert süße und törichte Augenblicke. „Mein Baby", murmelte sie wieder. „Oh, Ian, ich freue mich so für dich." „Jetzt hast du mich aber ganz schön zum Narren gehalten." „Nein, ich bin der Narr." Sie lachte ein bisschen gezwungen und löste sich von ihm. „Aber irgendwo ganz tief in mir drin wirst du immer mein kleiner Junge bleiben, während ich andererseits unglaublich stolz auf den Mann bin, der aus dir geworden ist." Diesmal legte er seine Wange an ihre. „Gleich werde ich auch noch sentimental." Sie erstickte ihn fast mit ihrer Umarmung. „Ich weiß, dass es da noch andere Mädchen, andere Frauen gab." Sie holte tief Luft, dann atmete sie seufzend aus und trat einen Schritt zurück. „Bei mir? Mädchen? Frauen? Ich weiß wirklich nicht, wie du auf so eine Idee kommst." Sie lachte wieder, und dieses Mal klang es entspannt. „Vielleicht weil sie öfter bei uns zu Hause aufgetaucht sind oder weil sie im College, wenn ich bei dir anrief, ans Telefon gingen. Aber ...", sie umrahmte sein Gesicht mit den Händen, „... es ist das erste Mal, dass du mich anschaust und mir dabei sagst, du hättest dich verliebt. Deshalb weiß ich, dass es dir diesmal ernst ist." „Ja, es ist mir wirklich ernst." „Sie kann sich glücklich schätzen." Diana küsste ihn leicht. „Und das sage ich ganz unvoreingenommen." „Dann könntest du ja vielleicht unauffällig ein paar Be merkungen darüber fallen lassen, was für ein toller Kerl ich bin, wenn wir zum Essen kommen." „Ich denke, das lässt sich machen." „Aber mit Fingerspitzengefühl. Sie ist ein bisschen ge hemmt, und ich will sie nicht in die Flucht jagen." Diana hob überrascht die Augenbrauen. „Du hast ihr noch nicht gesagt, was du für sie empfindest?" „Ich arbeite noch daran. Mein Plan ist noch nicht ganz fertig." „Wirklich, Ian, wenn ich etwas an dir kritisiere, dann ist es das, dass du immer alles ein bisschen zu sorgfältig planst. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, dass du gelegentlich dazu neigst, Komplotte zu schmieden", ergänzte sie mit einem Glitzern in den Augen. „Ganz nach Daniel MacGre-gor." „Solange es funktioniert", gab Ian vergnügt zurück. „Und glaubst du nicht, es würde ihm wenigstens ein bisschen den Wind aus den Segeln nehmen, wenn ich ihm meine zukünftige Ehefrau präsentiere, bevor er dazu kommt, sich einzumischen?" Diana spitzte die Lippen und dachte an die Bücherliste, die Daniel Ian gegeben hatte, obwohl es Daniel ein Leichtes gewesen wäre, nach dem Telefonhörer zu greifen und die Bücher selbst zu bestellen. „Bestimmt", murmelte sie und beschloss, ihrem Junge n seine Illusion zu lassen. Naomi arrangierte eigenhändig den Büchertisch, auf dem sich die Exemplare von Branson Maguires neuestem Thriller stapelten. Sie verspürte jetzt, nachdem sie mit seiner Frau und seiner Familie befreundet war, ein besonderes Interesse an ihm. Sie hatte sogar schon seine Kinder kennen gelernt.
Die beiden Mädchen waren so süß. Genau wie Lauras Buben und Julias Travis. Alle waren sie die reinste Augenweide. Naomi musste allerdings zugeben, dass sie den quicklebendigen Travis ganz besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Eigentlich habe ich Kinder schon immer gemocht, dachte sie, während sie die Exemplare von „Wettlauf mit dem Tod" zu einem gewagten spiralförmigen Turm anordnete. Eine ihrer ersten Pflichten bei „Brightstone's" war es nämlich gewesen, die Kinderecke und die wöchentliche Vorlesestunde für die Kleinen zu betreuen. Und doch hatte sie sich den Gedanken an eigene Kinder nur selten gestattet. Wenn sie nicht alles zerstörte, könnte sich Ian in sie verlieben. Es war nicht unmöglich. Nichts war mehr unmöglich. Er begehrte sie, und sie wusste, dass er ihr starke Gefühle entgegenbrachte. Es gab keinen Grund, warum diese Gefühle nicht zu Liebe erblühen konnten. Die Art von tiefer, bewegender, verzehrender Liebe, die sie für ihn empfand. Und dann würde er eines Tages ihr Gesicht mit den Händen umrahmen, so wie er es oft tat, ihr tief in die Augen schauen und sagen: „Ich liebe dich, Naomi." „Naomi?" Als ihr jemand energisch auf die Schulter tippte, fuhr sie erschrocken herum. Einen Moment lang schaute sie Julia verständnislos an. „Na, wo warst du denn mit deinen Gedanken?" „Oh." Naomi schüttelte lachend den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. „Weit weg. Aber, Julia! Du solltest in deinem Zustand wirklich nicht mehr durch die Gegend fahren. Es kann doch jeden Augenblick so weit sein." „Gott, du klingst schon wie Cullum." Julia verdrehte die Augen. „Und zu deiner Beruhigung - er kommt auch gleich. Er sucht nur noch nach einem Parkplatz. Er hat mich direkt vor der Tür abgesetzt, ich brauchte also nur noch reinzuwatscheln. Anders kann ich mich derzeit auch nicht mehr fortbewegen." Sie presste sich eine Hand ins Kreuz und schob den dicken Bauch vor. „Du weißt, dass ich dir alles selbst gebracht hätte, was du aus dem Laden nur brauchst." Julia lächelte gerührt. „Ja, ich weiß. Du bist ein Schatz, Naomi. Aber ich musste dringend ein bisschen raus. Ich bin den ganzen Tag schon irgendwie so unruhig, und sehr wahr scheinlich habe ich Cullum den letzten Nerv geraubt. Er hatte die glänzende Idee, mich mit einem Schokomokka abzulenken." „Schön, dann lass uns ins Cafe gehen und einen trinken." „Übrigens, das hier sieht toll aus", bemerkte sie und deutete auf den Bücherturm. „Die Leute werden bei Brans Le sung bis auf die Straße Schlange stehen." Naomi warf einen Blick auf den fast fertigen Aufbau und ergriff Julias Arm. „Davon gehen wir aus. Hast du das Buch schon gelesen?" „Ich kann mich im Augenblick nicht darauf konzentrie ren. Vor Travis' Geburt ging es mir genauso. Aber es steckt in meiner Tasche, die ich fürs Krankenhaus gepackt habe. Gleich nach der Entbindung rolle ich mich wie eine Katze zusammen und lese ein paar Stunden hintereinander." „Es wird dir gefallen. Wenn man erst einmal angefangen hat, kann man gar nicht mehr aufhören, so spannend ist es." „Vielleicht sollte ich mir gleich noch ein paar andere Bücher mitnehmen, wo ich schon mal hier bin." Sich noch immer die Hand ins Kreuz pressend, ging sie ein paar Schritte und schaute sich in dem Laden um. Doch die Auswahl kam ihr plötzlich so riesengroß vor, dass sie sich nicht zu ent scheiden vermochte. „Ich glaube, ich bin heute nicht in Einkaufslaune." „Soll ich dir etwas aussuchen?" „Oh ja, gern. Aua!" Sie blieb ruckartig stehen und tastete Halt suchend nach einem Regal. Drei Bücher fielen zu Bo den. „Strampelt er? Möchtest du dich hinsetzen?"
„Nein, er strampelt nicht. Er will raus. Kein Wunder, dass ich heute schon den ganzen Tag so unruhig bin." „Raus?" In Naomi stieg Panik auf, als Julia sich keuchend nach vorn beugte. „Du meinst richtig raus? Hier?" „Nicht in dieser Minute", brachte Julia mühsam hervor, ein bisschen überrascht darüber, wie stark die Wehen schon waren. Bei Travis waren sie erst nach und nach stärker geworden. „Aber sehr bald. Oh Himmel, jetzt komme ich doch nicht mehr zu meinem Mokka." „Du musst dich hinsetzen. Du musst dich auf der Stelle hinsetzen." Verzweifelt schaute sich Naomi in dem Laden um. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wo sich die nächstgelegene Sitzgelegenheit befand. „Da drüben. Setz dich einfach hin und tu ... "was auch immer. Ich werde Cullum suchen." „Gute Idee." Julia schleppte sich zu dem hübschen Zweiersofa und ließ sich erleichtert darauf sinken. „Und, Naomi, sag ihm, er soll sich beeilen. Ich glaube nicht, dass Junior noch viel Zeit verschwendet." Zwei Stunden später lief Naomi im Wartezimmer des Krankenhauses, in dem sich alle derzeit verfügbaren MacGregors drängten, nervös auf und ab. Ihr war schleierhaft, wo die anderen ihre Ruhe hernahmen, wie sie schwatzen, lachen und sich Familiengeschichten erzählen konnten. Ihr Magen schmerzte, und ihre Handflächen waren schweißnass. Ians Mutter saß mit hochgezogenen Beinen und einem Handy am Ohr in einem der Sessel und plauderte vergnügt mit Julias Eltern - dem ehemaligen Präsidenten und der First Lady. Sie befanden sich auf dem Weg nach Boston und hielten sich per Telefon auf dem Laufenden. Ians Vater hing ebenfalls am Telefon und lachte, während er mit den zukünftigen glücklichen Urgroßeltern sprach. Nur von Ian ist weit und breit nichts zu sehen, dachte Naomi verzweifelt, verließ das Wartezimmer und spähte erneut den Flur hinunter. Aber sie entdeckte Gwen, die gerade aus dem Kreißsaal kam. Naomi stürzte sich auf sie. „Wie geht es ihr? Was passiert gerade?" Ihre Augen weiteten sich, als sie aus dem Kreißsaal einen nicht endenden Strom von wilden Flüchen hörte. „Erzähl mir nicht, wie ich atmen soll, Murdoch, du Holzkopf. Ich weiß es besser!" Gwen kicherte und tätschelte Naomis bleiche Wange. „Sie hält sich großartig. Sie wird es bald hinter sich haben, es gibt keinerlei Komplikationen. Der Herzschlag des Kindes ist normal, der Muttermund weit offen." Sie legte einen Arm um Naomis Schultern, brachte sie ins Wartezimmer zurück und lächelte dem munteren Grüppchen zu. „Ich gehe sofort wieder zu ihr. Ich wollte nur sagen, dass die Presswehen sich bereits angekündigt haben und ihr den Sekt und die Zigarren schon mal bereithalten könnt." „Shelby, hast du das gehört?" rief Diana ins Telefon und lachte. „Nein, ich bleibe dran. Sie hat es fast geschafft. Ja, ich weiß. Gwen wird ihr ausrichten, dass du sie liebst." „Bin schon unterwegs", verkündete Gwen, dann winkte sie jemandem auf dem Flur zu. „Ian kommt." Sie ging ihm entgegen. „Bin ich zu spät?" fragte er sie und holte tief Luft. Er war vom schnellen Laufen über den Parkplatz und die Treppen nach oben ein bisschen außer Atem. Der Aufzug war ihm zu langsam erschienen. „Fast." Gwen machte die Tür zum Kreißsaal auf, aus dem der nächste Strom von Beschimpfungen kam. „Sag mir nicht, dass ic h noch nicht pressen soll, du Sadist. Du bist gefeuert." „Das ist jetzt das dritte Mal, dass sie ihren Geburtshelfer feuert. Bei Travis hat sie es auf fünfmal gebracht." Offensichtlich amüsiert, ging Gwen wieder hinein und machte die Tür hinter sich zu, während Ian das Wartezimmer aufsuchte.
„Sie muss schreckliche Schmerzen haben", empfing Naomi ihn und rang die Hände. „Sie muss furchtbare Angst ha ben." „Angst? Julia? Nie im Leben", entgegnete er ruhig. „Oh, was weißt du denn schon?" schrie Naomi ihn an, was ihn und seine Familie veranlasste, ihr einen überraschten Blick zuzuwerfen. „Du warst ja nicht einmal hier. Wo bist du gewesen?" „Ich habe bei einer gereizten alten Frau trockene Kekse essen müssen. Ich bin aber sofort losgefahren, als ich die Nachricht bekam. Soll ich dir ein Glas Wasser holen, Naomi?" „Nein", sagte sie schroff, verließ das Wartezimmer und marschierte den Flur hinunter. Als sie kurz darauf wieder zurückkam, sahen ihr ein paar grinsende Gesichter entgegen. Sie wurde rot. „Ich ... ich ...", stammelte sie. „Es ... tut mir Leid. Es tut mir schrecklich Leid. Ich habe so etwas noch nie mitgemacht. Ich bin furchtbar nervös. Warum ist eigentlich sonst niemand nervös?" „Wir erleben das seit ein paar Jahren mit schöner Regelmäßigkeit", erklärte Ian. „Warum setzt du dich nicht, Schatz?" „Ich kann nicht." Sie schloss die Augen und machte ihre Atemzüge. Ian zählte mit ihr bis zehn. „Es tut mir Leid", wiederholte sie und schaute ihn wieder an. „Ich hätte dich nicht so anschnauzen dürfen." „Du kannst mich ruhig anschnauzen, wenn es dir hilft." Er legte ihr fürsorglich einen Arm um die Taille und führte sie zu einem freien Platz. Sie merkte gar nicht, wie Ian sie auf den Stuhl drückte und sie plötzlich saß. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her. „Glaubst du, es wird lange dauern?" „Schwer zu sagen. Bei Travis kam es mir wie ... na, bestimmt wie ein Jahrzehnt vor." „Fünfzehn Stunden", korrigierte Laura. „Drei Stunden weniger als bei meinem ersten, und eine Stunde länger als bei meinem zweiten." „Da war es genauso", erzählte Ian, während er sich an Lauras erste Niederkunft erinnerte, bei der er ähnlich mit den Nerven herunter gewesen war wie jetzt Naomi. „Kam mir auch wie ein Jahrzehnt vor." Er schaute sich um. „Wo steckt eigentlich Bran?" „Er hat den Kürzeren gezogen", entgegnete sein Vater mit einem Grinsen. „Er muss auf die Zwerge aufpassen. Er wollte, dass wir für ihn beten. Hier, das ist für Sie", sagte er und drückte Naomi einen Becher mit Tee in die Hand. „Oh, vielen Dank." Weil sie sich nicht traute, ihm zu sagen, dass sie gar keinen Tee wollte, nippte sie gehorsam, hörte dem Geschnatter und dem Lachen der anderen zu und merkte erst, dass ihr Magen sich beruhigt hatte, als der Be cher leer war. „Meine sehr verehrten Damen und Herren." Gwen stand wieder in der Tür, und ihr Gesicht strahlte. „Ich habe die große Freude, euch die Ankunft von Fiona Joy Murdoch mitteilen zu dürfen. Angekommen auf dieser Welt um 16:43, genau acht Pfund schwer. Mutter, Vater und Tochter haben ihre Sache wundervoll gemacht." Plötzlich kamen ihr die Tränen, und sie musste schlucken. „Absolut... wundervoll." Dann redeten alle auf einmal, umarmten sich und weinten, ohne sich ihrer Tränen zu schämen. Naomi merkte, dass sie geküsst und gedrückt und im Kreis herumgeschwenkt wurde. Als Ians Vater ihr eine Zigarre anbot, starrte sie wie betäubt darauf. Dann hob auch Ian sie hoch und drehte sie noch einmal im Kreis herum. „Ist das nicht herrlich?"
9. KAPITEL
Es war die unglaublichste Familie, die Naomi jemals kennen gelernt hatte. Und alle erlaubten ihr, einen ihrer wunderbaren Momente mit ihnen zu teilen. Sie hatte vor dem Glasfenster stehen und auf das wundervolle neue Baby in Cullums Armen schauen dürfen. Als Caine verkündete, dass sie jetzt alle ausgehen und feiern würden, hatten sie Naomi wie selbstverständlich mitgenommen. Niemand hatte sie als Außenstehende betrachtet. Sie waren alle so offen und liebevoll. Und vor allem ehrlich. Wohingegen sie nicht ganz ehrlich gewesen war, wie sie sich mit schlechtem Gewissen eingestehen musste. Zumindest Ian gegenüber nicht. Doch als sie sich an diesem Abend einverstanden erklärte, mit zu ihm nach Hause zu gehen, war sie entschlossen, es zu sein. „Morgen wird die nächste Familienwelle hereinschwappen", sagte er, während er seine Haustür aufschloss. „Darauf kannst du wetten. Angeführt von dem großen MacGregor, der sich erst ein bisschen aufplustern und dann über das neue Baby in Entzückensschreie ausbrechen wird. Und wenn D.C. und Layna eintreffen, wird er von ihnen wissen wollen, warum, zum Donnerwetter, sie immer noch kein Baby in der Mache haben." Er hielt es für ratsam, sie auf das, was auf sie zukommen würde, vorzubereiten. „Und dann wird er sich auf dich stürzen." „Auf mich?" Mit einem unbehaglichen Gefühl ging sie ins Wohnzimmer und schüttelte Sofakissen auf, die nicht aufgeschüttelt zu werden brauchten. „Warum ist denn ein so hübsches Mädel wie Sie noch nicht verheiratet? Mögen Sie keine Babys? Worauf warten Sie dann noch?" Er sagte es mit einem starken schottischen Akze nt und hoffte inständig auf ein Lächeln von ihr. Aber ihr Gesicht war ernst, als sie sich zu ihm umdrehte. „Ian, das ist nicht richtig. Ihr seid alle so lieb zu mir." „Was ist falsch daran?" „Ich habe es nicht verdient, denn ich war nicht ehrlich. Du kennst mich nicht. Du fühlst dich in Wirklichkeit gar nicht angezogen von mir." „Da bin ich aber ganz anderer Meinung", entgegnete er, ging zu ihr und wollte sie küssen. „Nein, tu das nicht." Bereit, ein Geständnis abzulegen, schob sie ihn von sich. „Ich hätte dich nicht in dem Glauben lassen dürfen, dass ich das wirklich bin." Sie breitete hilflos die Arme aus, dann ließ sie sie wieder sinken. „Ich gebe mir alle Mühe, es zu werden, aber es ist einfach nicht fair dir ge genüber." „Naomi, ich weiß nicht, wovon du sprichst. Das bist du doch. Ich schaue dich an, und ...", er griff sie bei den Schultern, „... ich berühre dich." „Aber nur, weil ich mein Äußeres verändert habe. Noch vor zwei Jahren hättest du mir keinen zweiten Blick ge schenkt. Warum auch? Keiner hat es je getan. Ich war ein Pummelchen, kurz davor, fett zu werden, weil es einfacher war, ständig zu essen, als sich einzugestehen, dass ich nie wie meine Mutter sein würde, egal, was ich auch täte." „Wie deine Mutter?" Er war verblüfft über die plötzliche Leidenschaft in ihrer Stimme. „Schlank, schön, vollkommen, ganz selbstverständlich weiblich. Ich wusste, dass ich das nie erreichen würde, deshalb habe ich einfach ... gegessen und mich hinter Büchern versteckt." „Naomi, eine Menge Leute waren irgendwann mal pummelig." „Es war kein vorübergehendes Stadium, es war ein Zustand und nur der äußere Ausdruck von dem, was ich innerlich war. Ich war schlecht gekleidet, gehemmt und unattraktiv. Nur weil ich irgendwann anfing, mich für das, was ich mir selbst antat, zu verachten, schaffte ich es, an mir zu arbeiten. Ich wollte herausfinden, wer ich wirklich bin, und versuchen, mich zu mögen."
„Und das ist dir gelungen. Du bist nicht mehr schlecht gekleidet, gehemmt oder unattraktiv. Ganz im Gegenteil." „Aber es ist noch da!" Ärgerlich befreite sie sich aus seinem Griff. „Ich weiß morgens immer noch nicht, was ich anziehen soll, ohne dass ich meinen Computer um Rat frage." „Deinen Computer?" Oh, es war so demütigend. „Ich musste meine gesamte Garderobe in meinen Computer eingeben, mit Querverweisen auf die richtigen Accessoires bis hin zu den Schuhen und der Farbe des Lippenstifts. Und dann habe ich mir eine zweite Datei angelegt, in die ich eingebe, was ich wann und wo angehabt habe, damit ich nicht zu oft dasselbe anziehe." „Wirklich?" Er legte den Kopf schräg. „Das ist brillant." „Brillant? Es ist lächerlich. Jede normale Frau geht einfach an ihren Kleiderschrank und nimmt sich etwas heraus. Letzte Woche hatten wir keinen Strom, so dass mein Computer zu Hause ausfiel. Ich habe mich fast krank gemeldet, so in Panik war ich." Sie atmete laut aus. „Es ist erbärmlich." „Nicht, dass du nicht immer fabelhaft aussehen würdest, aber ich glaube nicht, dass du dir darüber so viele Gedanken machen solltest." „Du kannst das eben nicht verstehen. Du siehst gut aus, bist selbstbewusst und sympathisch. Bei mir ist alles ganz anders. Meine Eltern sind absolut charismatische Menschen. Mein Bruder sieht aus wie ein Filmstar. Und dann ich." „Naomi." Er nahm sie wieder bei den Schultern. „Du bist eine wunderbare Frau." „Okay, ich kann ganz passabel aussehen, das heißt, wenn ich mir Mühe gebe. Es reicht mir, ich bin zufrieden damit. Mehr noch, wenn ich mich mit früher vergleiche, bin ich be geistert. Und wenn ich noch ein bisschen mehr Übung habe, wird bestimmt auch der Aufwand geringer." „Du glaubst das alles wirklich, stimmt's?" Leicht verärgert zog er sie mit sich in die Eingangshalle und stellte sie vor den großen Garderobenspiegel. „Was siehst du?" „Dich." Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. „Nur dich. Niemand außer dir hat mich je gewollt." Zum ersten Mal wurde ihm das Ausmaß dessen, was sie da sagte, bewusst, und er fing an, sich ernsthafte Sorgen zu machen. „Ich habe nie für einen Menschen das empfunden, was ich für dich empfinde", begann sie leise mit dem, was ihm immer mehr "wie ein Geständnis erschien. „Mein ganzes Le ben lang hatte ich das Gefühl, den anderen hinterherlaufen zu müssen und dass sich nie jemand genug aus mir machen würde, um mich aufholen zu lassen." „Naomi, sie h mich an." „Nein. Lass mich erst zu Ende reden." Es war ihr unmöglich, sich jetzt zu ihm umzudrehen und ihm ins Gesicht zu schauen. „Ich will nicht, dass du mich für einen Menschen hältst, der ich gar nicht bin, wenn ein Teil von mir immer noch dieses ge hemmte kleine Mädchen ist, das in ihrem Leben exakt zwei Dates hatte. Und beide Male waren es Freunde meines Bruders, die Mitleid mit mir empfanden." Sie holte tief Luft. „Du warst der erste Mann, der mir Blumen schenkte, der erste, der für mich kochte, der erste, der einfach nur dasaß und mir zuhörte und mich anschaute." Ihre Stimme brach, was es ihr schwer machte, ihren Satz zu beenden. „Du bist der erste Mann, der mich angefasst, der mich geküsst hat." Ihr Erster, dachte er. In jeder Hinsicht. Nicht nur körperlich, sondern auch gefühlsmäßig. Sie war eingesponnen ge wesen wie in einem Kokon, und er hatte diese schützende Hülle zerrissen, bevor sie reifen und ihre Flügel ausbreiten konnte. Oh Gott, dachte er, was habe ich bloß getan? Was sollte er tun? „Ich werde nicht der Einzige bleiben, Naomi. Und du irrst dich, wenn du denkst, dass du dieser Mensch, den ich da vor mir sehe, nicht bist." Er fuhr ihr mit den Händen über die Arme. „Schau genau hin. Du hast gerade erst angefangen, dich zu sehen."
Er zog sie von hinten an sich, legte seine Wange auf ihren Kopf. Und begriff, dass er mehr tun musste, als ihr ein wenig Zeit zu geben. Er würde sie ganz loslassen müssen, in der Hoffnung, dass sie, wenn sie sich wirklich sah, zu ihm zurückkehrte. Er drückte kurz ihre Arme, dann zwang er sich, sie freizugeben und einen Schritt zurückzutreten. „Du bist eine schöne Frau, Naomi. Und eine faszinierende." Langsam drehte sie sich zu ihm um und sah ihn lange an. „Du bist der Einzige, der so denkt." Sie das sagen zu hören, die Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen zerriss ihm fast das Herz. „Ich glaube, du hast einfach nur nicht auf die anderen geachtet. Aber du hattest ja auch gar keine Gelegenheit dazu. Jetzt wird mir erst klar, dass ich seit mehreren Wochen deine gesamte freie Zeit in Anspruch nehme." „Meine freie Zeit?" „Kaum warst du mit deinem eigenen Geschäft fertig, da kam ich auch schon mit meiner Bitte bei dir an, mir bei meiner Bibliothek zu helfen. Ich habe einfach nicht nachgedacht, verstehst du? Du hattest ja kaum Zeit zum Luftholen." Er sagte es leichthin, während er sie an die Hand nahm und wieder ins Wohnzimmer führte. Er war zu dem Schluss gekommen, ihr sechs Monate Zeit zu geben. Sechs Monate, aber dann würde ihn nichts mehr halten können. Bis dahin sollte sie für ihn bereit sein. „Ich habe dir kaum eine Chance gelassen, dich in deinem neuen Leben einzurichten." Um seine Nervosität zu bekämpfen, kniete er sich vor den Kamin und begann Holz aufzuschichten. „Wir haben ein ziemliches Tempo vorgelegt. Vielleicht sollten wir ein bisschen langsamer treten." Sie öffnete den Mund, machte ihn aber wieder zu, weil der heftige Schmerz, der sie durchfuhr, ihr den Atem nahm. „Ich fürchte, du musst dich ein bisschen genauer ausdrücken, Ian. Ich habe nicht genug Erfahrungen mit Beziehungen, um die tiefere Bedeutung deiner Worte zu verstehen." Das ist genau der Punkt, dachte er, während er ein Streichholz anriss und an das Holz hielt. „Es gibt keine tiefe re Bedeutung, Naomi. Ich meine es genau so, wie ich es sage. Wir müssen einfach nur ein bisschen langsamer treten, vielleicht eine Verschnaufpause einlegen." „Du willst mich nicht mehr sehen?" „Doch, ich will dich sehen." Er schaute zu, wie die aufflackernden Flammen sich in die Holzscheite fraßen, aber die erzeugte Hitze erwärmte ihn nicht. „Ich schlage nur vor, dass unsere Beziehung nicht ausschließlich sein muss", sagte er und stand auf, überzeugt davon, das Richtige für sie zu tun. Und vielleicht würde ja das Wissen darum das Brennen in seinem Magen lindern. „W ir sollten uns auch hin und wieder mit anderen treffen." „Mit anderen", wiederholte sie leise. Mit anderen Frauen, dachte sie. Er will sich mit anderen Frauen treffen. Natürlich war das zu erwarten gewesen. „Ich nehme an, das ist sehr vernünftig. Sehr verständlich." Um ihre Lippen spielte ein selbstironisches Lächeln. „Haben wir nicht Glück, dass ich so einsichtig bin? Ich könnte mir vorstellen, dass einige Frauen über einen solchen Vorschlag verärgert, wenn nicht sogar wütend wären. Aber ich bin schließlich nicht wie andere Frauen, nicht wahr?" „Nein, das bist du nicht." Er sagte es ruhig. „Eine Frau wie dich gibt es unter Millionen nur einmal." Sie lachte kurz auf. „Eine unter Millionen", murmelte sie. Und trotzdem nicht gut genug. „Nun, es war ein langer Tag heute. Diese ganze Aufregung hat mich müde gemacht. Ich gehe jetzt nach Hause." „Naomi, ich möchte, dass du bleibst." Sie musterte ihn einen Moment im Schein des Feuers, das hinter ihm flackerte. „Und ich möchte nach Hause." Sie ging an ihm vorbei in die Halle, und obwohl er ihr folgte, schaffte sie es bis zur Tür, ehe sie sich zu ihm umdrehte. „Ich war nicht so aufrichtig zu dir, wie ich es
von Anfang an hätte sein sollen, Ian. Deshalb will ich es jetzt aufrichtig beenden. Ich liebe dich. Und ich habe dich vom ersten Tag an geliebt." Sie ging schnell hinaus und machte die Tür hinter sich zu, bevor er etwas sagen konnte, was den Schmerz, der in ihr brannte, noch schlimmer machen würde. „Ich weiß", sagte er aufseufzend in die Stille des Hauses hinein. „Aber du hattest nie die Chance, jemand anders zu lieben. Jetzt hast du sie." Ian war einen Tag lang unglücklich, zwei weitere Tage fühlte er sich elend, und den Rest der Woche war er ungenießbar. Aber er rief Naomi nicht an. Nein, er gab seinen Bedürfnissen nicht nach, indem er zu ihr fuhr und an ihre Tür klopfte. Sechs Monate, dann ist ihre Zeit abgelaufen, dachte er, während er aus dem Fenster seines Büros starrte, so wie er es in den letzten Tagen viel zu oft tat. Sie würde sechs Monate lang die Freihe it haben heraus zufinden, 'wer sie war und was sie wollte. Sechs Monate, in denen sie sich mit anderen Männern treffen konnte. Und wenn einer von ihnen sie anfasste, dann würde er ... Nein, darum geht es ja gerade, rief er sich ins Gedächtnis. Wie konnte sie wissen, dass sie ihn liebte, dass sie ihn wirklich genug für ein ganzes Leben liebte, wenn sie nie mit einem anderen Mann eine Romanze gehabt hatte, nie von einem anderen berührt und geliebt worden war? Als es an seiner Bürotür klopfte, verzog er ärgerlich den Mund. Er wollte es überhören oder besser noch brüllen: „Hau ab, verdammt noch mal. Siehst du denn nicht, was ich für eine miese Laune habe?" „Was ist?" bellte er. „Na, das ist mir ja eine nette Begrüßung", hörte er Daniel sagen. „Ist das Ihre Art, mit Mandanten umzugehen, Herr Verteidiger? Oder führen Sie sich nur gegenüber Ihrer Familie so auf?" Ians Kopf fuhr herum. „Entschuldigt!" rief er, löste sich vom Fenster und ging zur Tür, um die Bärenumarmung seines Großvaters und den warmen Kuss seiner Großmutter in Empfang zu nehmen. „Ich war ganz in Gedanken." „Wir möchten dich auch nicht lange aufhalten." Anna warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu, als dieser unge niert zu einem der Sessel ging und es sich darin bequem machte. „Wir wollten uns nur verabschieden." „Verabschieden? Ihr seid doch gerade erst gekommen." „Die Frau hat kein Sitzfleisch", brummte Daniel. „Du vermisst dein eigenes Bett genauso wie ich", gab Anna mit einem Lachen zurück. „Wir schauen noch mal bei Julia und dem Baby rein, und dann fahren wir zurück." „Ihr werdet mir fehlen." „Und warum besuchst du uns dann nicht öfter?" Daniel schlug mit der Faust auf die Armlehne. „Du ziehst wohl lieber mit irgendwelchen hübschen jungen Frauen durch die Gegend, als deine armen Großeltern zu besuchen?" „Ich komme in ein paar Wochen, ganz bestimmt. Übrigens, im Moment ziehe ich nicht mehr so viel herum." „Und warum nicht, zum Donnerwetter? Wo ist Naomi?" „In ihrer Buchhandlung, nehme ich an." Ian runzelte argwöhnisch die Stirn. „Wieso fragst du?" „Alle in der Familie reden von ihr." Daniel legte die Fingerspitzen aneinander. „Bis auf dich. Warum habe ich euch beide noch nicht ein einziges Mal zusammen gesehen, seit ich hier bin, wo doch alle dauernd davon reden, dass ihr ein Paar seid?" „Weil wir uns eine kleine Verschnaufpause gönnen." „Verschnaufpause? Verschnaufpause! Warum das denn, zum Teufel? Ihr passt so perfekt zusammen. Dieses Mädel ist wie für dich geschaffen, du Holzkopf. Sie ist klug und reizend.
Kommt aus einer angesehenen Familie, gute Erbanla gen. Und lass dich von dieser ruhigen Art nicht täuschen. Sie ist robuster, als du denkst, und sehr beharrlich." „Du scheinst eine ganze Menge über eine Frau zu wissen, die du nur ein paarmal gesehen hast." Daniel schaute ihn grimmig an. „Ich kenne ihre Familie, das reicht." „Oh, Daniel." Anna schüttelte seufzend den Kopf. „Ich hätte es wissen müssen." „Was?" Seine blauen Augen blickten unschuldig. „Dann hast du mich also doch drangekriegt", sagte Ian und setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs. „,Besorg mir bitte diese Bücher, ja, Bursche, und sieh zu, dass dir die kleine Naomi dabei hilft'." Er lachte laut auf und schaute an die Decke. „Und ich Trottel bm in die Falle getappt." „Und wenn schon? Ich habe dich nur gebeten, mir etwas zu besorgen, mehr war es nicht. Wenn dir das, was du gesehen hast, nicht gefallen hätte — als ob mein eigen Fleisch und Blut so dumm sein könnte -, hättest du mir einfach nur die Bücher geholt, und dann war's das gewesen. Aber mir scheint", fuhr Daniel mit einem listigen Lächeln fort, „dass es dir ausgesprochen gut gefallen hat." „Ja, das hat es." „Und was hast du sonst noch dazu zu sagen?" „Danke." Daniel blinzelte, dann verengte er die Augen auf der Suche nach der Falle. „Danke?" „Danke, dass du so vie l Geschmack hattest, die Frau, die ich hoffentlich heiraten werde, zu erkennen." „Ha!" Mit einer überraschenden Behändigkeit für einen Mann seines Alters und seiner Statur sprang Daniel aus dem Sessel auf und drückte Ian an sich. „Das ist ein feiner Bur sche. Schau her, Anna, dieser Junge hier weiß wenigstens die Weisheit seines Großvaters zu schätzen. Deshalb war er auch schon immer mein erklärter Liebling." „Vor zwei Tagen war Julia noch dem erklärter Liebling", erinnerte Ian ihn. „Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie du es zu ihr gesagt hast." „Nun, sie hat eben erst das Baby bekommen, da muss man sie ein wenig verhätscheln. Aber jetzt bist du es." Übers ganze Gesicht strahlend, ließ er von Ian ab, dann verblasste plötzlich sein Lächeln. „Was meinst du damit, dass du sie hoffentlich heiraten wirst? Da du kein Holzkopf bist, gehe ich fest davon aus, dass du sie heiratest, verstanden?" „Ich habe ihr ein bisschen Zeit gegeben. Ein paar Monate. Danach hoffe ich, dort weitermachen zu können, wo wir aufgehört haben." „Zeit? Ein paar Monate?" donnerte Daniel. „Er ist doch ein Holzkopf! Was, zum Teufel, denkst du dir dabei? Schnapp dir das Mädel, um Gottes willen, ehe es ein anderer tut." „Daniel, lass den Jungen in Frieden." „Einen Dreck werde ich", wetterte er, dann verpasste er seinem derzeitigen erklärten Lieblingsenkel eine Kopfnuss. „Liebst du dieses hübsche junge Mädchen oder liebst du es nicht?" „Ja, verdammt noch mal." Ians Temperament ging nur selten mit ihm durch, aber wenn es geschah, stand er seinem Großvater an Leidenschaft nicht nach. „Genug, um zu wissen, was sie braucht, und um es ihr zu geben. Du hast den Anfang gemacht, und dafür bin ich dir dankbar. Aber von jetzt an nehme ich die Sache in die Hand." „Du nimmst die Sache in die Hand? Mir scheint eher, dass du alles vermasselst." „Entschuldigung", sagte Caine von der Tür her. „Ihr seid hier in einer Anwaltskanzlei. Familienkräche sind vor acht zehn Uhr nicht gestattet." „Ist dir klar, was dieser Junge vorhat?" brüllte Daniel. „Dein eigener Sohn? Den Dickschädel hat er von dir, das ist es eben. Wenn du ihm nicht schleunigst ins Gewissen redest, will ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben."
„Gute Idee", gab Caine zurück. „Warum hältst du dich nicht einfach raus, und ich rede mit meinem Sohn?" „Dann tu es endlich", brummte Daniel und fuhr an seine Frau gewandt fort: „Lass uns zu Julia gehen, die im Gegensatz zu manch anderen meiner Enkel mehr Verstand hat als ein Vogel. Und du ..." Er verpasste Ian noch eine Kopfnuss. „Hör wenigstens so lange auf, dich dämlich anzustellen, bis du dieses Mädchen hast." Caine küsste seine Mutter, anschließend seinen Vater und grinste, als Anna kurzerhand den polternden Daniel aus dem Zimmer schob. Dann schloss er hinter ihnen die Tür, setzte sich und grinste noch immer, während Ian sich den Kopf rieb. „Fühlt sich an, als wäre einem ein Dachziegel auf den Kopf gefallen, stimmt's?" „Das hat er nicht mehr gemacht, seit ich zwölf war." Dann rang Ian sich ein unsicheres Lächeln ab. „Und schon vermisse ich die beiden." „Ich weiß, was du meinst. Komm, setz dich zu mir, Ian." Caines Gesicht wurde ernst. „Der große MacGregor hat Recht. Es wird Zeit, dass wir miteinander reden. Ich möchte gern wissen, was los ist und warum du seit letzter Woche jedem, der in deine Nähe kommt, die Zähne zeigst." „Ich habe den Kopf voll. Ich bin nicht verpflichtet, jede verdammte Stunde eines jeden Tages freundlich zu sein." Caine hob nur eine Augenbraue. „Ich sagte, setz dich. Du wirst dir Kopfschmerzen ersparen, wenn du dich daran erinnerst, dass der große MacGregor nicht der Einzige ist, der Kopfnüsse austeilen kann."
10. KAPITEL
Ian setzte sich nur höchst widerwillig. Schweigend trommelte er dann mit den Fingern auf seinem Oberschenkel und hielt dem Blick seines Vaters stand. Sturer Bock, dachte Caine bewundernd. Diese Dickköpfigkeit war schon immer eine der hervorstechendsten Eigenschaften seines Sohnes gewesen. Es geschah nur selten, dass er einen Streit anfing, aber noch seltener ging er einem aus dem Weg. „Was ist zwischen dir und Naomi?" Das war typisch für seinen Vater, gleich auf den Punkt zu kommen. „Ich bin fast dreißig", gab Ian zurück und ärgerte sich darüber, wie gepresst seine Stimme klang. „Ich denke, dass ich das Recht habe, meine Angelegenheiten allein zu regeln." „Mit Sicherheit", stimmte Caine in freundlicherem Ton zu. „Es sei denn, die Arbeit in der Kanzlei würde in irgendeiner Weise darunter leiden. Du bist in den letzten Tagen nicht gerade in Topform, Ian." „Ich arbeite daran." „Da bin ich mir sicher. Doch in der Zwischenzeit..." Caine legte seine Hand über die seines Sohnes. „Erzähl mir, was dir auf dem Herzen liegt." „Verdammt." Als er merkte, dass seine Gefühle an die Oberfläche trieben, stemmte er sich aus seinem Sessel hoch. „Verdammt. Ich tue nur, was richtig ist, was das Richtige für sie ist." „Und das wäre?" „Mich zurückhalten." „Und ist es auch das Richtige für dich, Ian? Dass du sie liebst, ist offensichtlich. Es steht dir nämlich im Gesicht ge schrieben. Ich kann mich in dich hineinversetzen, denn ich empfinde für deine Mutter genauso." „Ja, ich weiß. Ich habe es mein ganzes Leben lang sehen können. Und mit weniger werde ich mich auch nicht zufrieden geben." Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Ich lasse ihr ein bisschen Zeit, ein bisschen Raum. Sie muss wissen, was sie will." „Und weiß sie es nicht? Hast du sie danach gefragt?" Ian atmete tief durch und setzte sich wieder hin. „Sie war vor mir noch nie mit jemandem zusammen." „Ich verstehe." Caine schaute nachdenklich auf seine Hände. „Hast du sie verführt?" „Nein, ich habe mich zurückgehalten. Ich wollte, dass es allein ihre Entscheidung ist. Sie musste sich bereit fühlen. Sie sollte von selbst zu mir kommen, und sie kam. Was hätte ich anderes tun können?" „Nichts, so bist du eben. Aber jetzt machst du dir Sorgen, weil du der Erste und Einzige bist, der mit ihr intim wurde." „Ich dachte, ich könnte damit umgehen. Aber nicht ge nug damit, dass sie vorher noch nie Sex hatte, sie hat überhaupt keine Erfahrung mit Männern. Absolut nichts. Und dann steht sie plötzlich vor mir und erzählt mir, dass sie eine Betrügerin sei und ich mich nur von ihr angezogen fühle, weil sie sich dieses neue Image zugelegt habe. Und dann sprudelt alles aus ihr heraus. Sie erzählt mir, dass sie pummelig und unscheinbar war, dass sie sich dahinter versteckt hat, weil sie das Gefühl hatte, mit dem Rest der Familie nicht mithalten zu können. Sie hatte so gut wie nie ein Date und nie die Chance, Erfahrungen zu sammeln. Sie hatte gerade erst angefangen, ihre eigenen Vorzüge zu entdecken, und da komme ich daher und will sie heiraten und Kinder mit ihr haben, noch bevor sie sich umschauen konnte, was es da draußen so alles gibt." „Dann ... hast du ihr also gesagt, dass du sie genug liebst, um ihr diese Chance zu geben?" „Wenn ich ihr gesagt hätte, dass ich sie liebe, hätte sie mir nicht mehr zugehört." Er dachte einen Moment über diese Tatsache nach. „Sie meint, dass sie mich liebt." „Sie meint es nur?"
„Woher, zum Teufel, soll sie es denn wissen?" Ian warf die Hände in die Luft und stemmte sich dann wieder aus seinem Sessel hoch. „Interessante Frage. Und woher weißt du, dass du sie liebst?" „Weil ich vorher noch nie mit einer Frau mein ganzes Le ben verbringen wollte. Weil ich mir ausmalen kann, wie es mit uns in einem Jahr, in zehn, in fünfzig Jahren sein wird." Er wanderte im Zimmer umher, dann kam er zu seinem Vater zurück. „Du denkst doch jetzt auch, dass ich Recht habe, stimmt's? Es wäre einfach nicht fair von mir, sie zu fragen, ob sie mich heiraten will, bevor sie nicht die Zeit hatte, noch etwas zu erleben." „Spielt es eine Rolle, was ich denke?" „Natürlich." „Dann will ich es dir sagen." Caine stand auf und legte seinem einzigen Sohn die Hand auf die Schulter. „Du bist ein Holzkopf." „Was?" „So sehr es mich ärgert, mit dem großen MacGregor einer Meinung zu sein, ich kann nicht anders. Du bist ein Holzkopf, Ian. Du traust der Frau, von der du behauptest, sie zu lieben, nicht zu, ihr eigenes Herz zu kennen. Du triffst eine Entscheidung für sie, die dir nicht zusteht. Und ich bin der festen Überzeugung, auch wenn das wieder nach meinem Vater klingt, dass du alles daransetzen solltest, das Mädchen zu bekommen." Obwohl Ian nicht davon überzeugt war, dass die Männer in seiner Familie immer Recht hatten, hockte er sich vor Naomis Wohnungstür und wartete auf ihre Heimkehr. Er hatte erst mit dem Gedanken gespielt, in die Buchhandlung zu gehen, ihn dann aber wieder verworfen. Eine Diskussion über ihre Zukunft sollte in einem privaten Rahmen stattfinden. Doch als es immer später wurde, begann er sich besorgt zu fragen, ob er nicht einen Fehler gemacht habe. In der Buchhandlung hätte er sie zumindest angetroffen. Jetzt hatte er keine Ahnung, wo sie steckte. Als er ihre Schritte auf der Treppe hörte, sprang er auf die Füße. Sobald sie ihn sah, blieb sie ruckartig stehen. Dann verlagerte sie ihren Aktenkoffer von der einen Hand in die andere und kam langsam auf ihn zu. „Hallo, Ian." „Du hast lange gearbeitet." Sie duftete wieder nach diesem wundervollen Parfüm. „Ja." Sie holte ihren Schlüssel heraus und schob ihn ins Schlüsselloch. „Ich würde gern mit dir reden. Darf ich mit reinkommen?“ „Im Augenblick ist es etwas ungünstig." Es würde nie, nie günstig sein, wenn schon allein sein Anblick ihr so wehtat. „Bitte." Er drückte die Tür auf. „Naomi, wir müssen miteinander reden." „Also gut." Sie konnte damit umgehen. Sie hatte sich selbst versprochen, dass sie es konnte. „Aber du wirst es kurz machen müssen. Ich will mich noch umziehen." „Wofür?" „Ich habe eine Verabredung." Es "war eine schreckliche Lüge, über die sie sich später sicher schämen würde. Aber jetzt überwog ihr Stolz ihre Ehrlichkeit. „Mit einem Mann?" Der ungläubige Ausdruck auf seinem Gesicht bewirkte, dass ihr Stolz noch mehr wuchs. „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig." Sie ging an ihm vorbei in die Wohnung, stellte ihren Aktenkoffer ab und hängte ihren Mantel auf. „Was kann ich für dich tun?" Heirate mich, dachte er. „Ich habe mich letztes Mal nicht besonders klar ausgedrückt." „Oh, ich denke schon." „Nein, ich habe dir das Was und das Warum nicht erklärt." „Ich habe dich bestens verstanden." Und sie hasste sich selbst und ihn dazu, weil sie ihn so erbärmlich liebte. „Ich habe dir gesagt, dass du dich von meinem Aussehen hast täuschen
lassen und dass ich in Wirklichkeit eine ganz andere bin. Du hast mir zugestimmt, und das war es dann." „Nein, ich ... Gott, hast du das wirklich gedacht? Naomi, es tut mir Leid." Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie trat zurück. „Das ist doch völliger Unsinn. Ich habe es falsch angefangen. Lass es mich dir erklären." „Ich bin ein bisschen in Zeitdruck, Ian." „Deine Verabredung wird warten müssen", sagte er schroff, schob die Hände in die Hosentaschen und marschierte durchs Zimmer, während sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete. „Nachdem du mir gestanden hattest ... nachdem du mir erzählt hattest, dass du noch nie mit jemand anders ..." „Du wusstest, dass ich noch nie mit einem Mann zusammen war." „Ich meine nicht nur den Sex!" Diesmal brauste er fast auf, was sie veranlasste, die Augen zusammenzukneifen. „Himmel, Sex ist doch nicht alles. Außer Sex gibt es noch Kameradschaft, Freundschaft, Spaß, die halbe Nacht mit jemandem nur herumsitzen und reden, schlechte Filme gucken und sich darüber halb totlachen. All das macht man, wenn man mit jemandem zusammen ist. Dinge, die du außer mit mir noch mit niemandem gemacht hast." Als er sicher war, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte, blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. „Ich wollte dir Zeit geben. Zeit zum Nachdenken. Du solltest dir sicher sein, dass du all das wirklich nur mit mir tun möchtest. Wie solltest du dir darüber sicher sein?" „Mir Zeit geben?" Sie versuchte eins dieser kalten Scher-dich-zum- Teufel- Lachen, aber es "wurde nur ein verächtliches Schnauben daraus. „Du wolltest dich mit anderen Frauen treffen." „Ich hatte nie die Absicht, mich mit anderen Frauen zu treffen!" brüllte er sie an. Dann riss er sich zusammen und fügte etwas ruhiger hinzu: „Du solltest dich mit anderen Männern treffen. Womit du, wie ich sehe, kein sonderliches Problem zu haben scheinst." „Du wolltest, dass ich mich mit anderen Männern treffe?" fragte sie gedehnt und starrte ihn an. „Es ist nicht das, was ich wollte. Bist du verrückt?" Seine Augen glitzerten gefährlich. „Es ist das, was du brauchtest. Wie, zum Teufel, kann ich dich fragen, ob du mich heiraten willst, wenn du keine einzige Erfahrung hast? Du hast doch keinerlei Vergleichsmaßstab für die Gefühle, die du mir entgegenbringst. Ich habe nur versucht, fair zu sein." „Fair? Fair zu mir?" Wut kochte in ihr hoch. „Du wagst es zu entscheiden, was richtig für mich ist, um mir damit das Herz zu brechen?" „Nein, um es zu beschützen. Um dich zu beschützen." „Beschützen? Wovor? Vor dir? Vor mir selbst? Wie kannst du es wagen, meine Entscheidungen für mich zu treffen!" „Ich habe es nicht getan. Nicht wirklich." Er spürte, wie ihm allmählich der Boden unter den Füßen entglitt. „Ich wollte doch nur..." „Oh, ich könnte dich schlagen." Sie musste sich schnell von ihm abwenden, bevor sie es wirklich tat. Gewaltbereitschaft war etwas ganz Neues, Verwirrendes für sie. „Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden geschlagen, aber, oh, jetzt möchte ich es. Ich frage mich nur, was das für ein Gefühl ist. Verdammt, fass mich nicht an", warnte sie ihn, als sie im Rücken spürte, dass er sich ihr näherte. „Oder ich finde heraus, wie das ist." Da er sie nur ganz selten höchst harmlose Verwünschungen hatte ausstoßen hören, wurde ihm klar, wie zornig sie war. „Naomi..." Sie fuhr herum, bevor er weitersprechen konnte. „Du musst mich ja für eine richtig dumme Gans halten." „Natürlich tue ich das nicht. Ich wollte doch bloß ..." „Für ein armes, jämmerliches Abziehbild von einer Frau, die nicht fähig ist, ihrem eigenen Verstand und Herzen zu trauen." Erregt begann sie im Zimmer auf und ab zu marschieren.
„Du dachtest wohl, ich könnte erst wissen, dass ich dich liebe, wenn ich vorher mit einem Dutzend Männern wilden Sex gehabt hätte? Oder zwei Dutzend? Was für eine Zahl schwebt dir da vor?" „Ich will nicht, dass du mit irgendjemandem Sex hast!" „Oh ja, richtig. Es geht ja nicht um Sex. Schön, warte, ich hole mir nur etwas zum Schreiben, und dann sagst du mir, wie viele romantische Dinner, nächtliche Verabredungen, Fahrten über Land oder sonst was ich brauc he, bevor du mich als kompetent genug betrachtest, um zu entscheiden, was ich denke und fühle." Sie ging tatsächlich an ihren Ak tenkoffer und nahm einen Notizblock heraus, dann erledigte seine gereizte Stimmung den Rest. „Okay, das reicht. Es ist genug." Er riss ihr den Notizblock aus der Hand und warf ihn auf den Boden. „Es schert mich einen Dreck, was dir gegenüber fair ist und was nicht. Ich denke überhaupt nicht daran, die nächsten sechs Monate mit Warten zu verbringen, bis du endlich ein kleines Techtelmechtel gehabt hast." „Sechs Monate? Nicht mehr und nicht weniger? Du hast es dir doch bestimmt ganz genau überlegt, oder?" Zusammen mit der Wut stieg jetzt auch noch Triumph in ihr auf. Und diese Mischung bewirkte, dass sie sich plötzlich sehr stark fühlte. „Schön, dann sehen wir uns vielleicht im April wieder." Sie ging an ihm vorbei zur Tür, in der Absicht, sie weit aufzureißen. Doch es endete damit, dass sie sich mit dem Rücken dagegen gepresst wiederfand, Ians wütendes Gesicht dicht vor ihrem. Das warst du, dachte sie verwundert, während sie einander anstarrten. Sie allein hatte es geschafft, ihn so zu reizen, dass er vor Wut fast die Beherrschung verlor. Sie hatte ihn dazu gebracht, sie so zu lieben, dass er völlig wirr im Kopf war. So verklemmt wie sie war. Wie wundervoll. Und sie hatte nichts anderes getan, als nur sie selbst zu sein. „Ich sagte, vergiss es." Er griff nach ihrer Hand. „Du kannst getrost alles vergessen. Ich gehe hier ohne dich nicht raus. Nicht für sechs Monate, nicht einmal für verdammte sechs Stunden. Du wirst mich heiraten. Und wenn dir später einfallen sollte, dass es alles ein bisschen zu überstürzt kam, hast du eben Pech gehabt." „In Ordnung, fein." „Und jetzt möchte ich dich bitten, ein paar Sachen zusammenzupacken, weil..." Er verstummte, als ihm plötzlich aufging, was sie gerade gesagt hatte. Zum ersten Mal sah Naomi einen sprachlosen Ian MacGregor vor sich, und es war ein herrliches, überwältigendes Gefühl. „In Ordnung, fein?" brachte er schließlich mühsam he raus. „Ja." Übermütig geworden, fasste sie in sein Haar und zog seinen Kopf zu sich herunter. „Du Dummkopf." Seine Gedanken wirbelten durcheinander, als er ihren Mund auf seinem fühlte. Im nächsten Moment jedoch riss er sie hoch und drückte sie so fest an sich, dass er ihr Herz stark und regelmäßig gegen seines schlagen spürte. „Es hat sich kürzlich herausgestellt, dass der korrekte liebevolle Familienausdruck Holzkopf ist." „Du Holzkopf", murmelte sie, überglücklich vor Liebe. „Ich bin so wütend auf dich." Sie zog eine Spur heißer Küsse über sein Gesicht, dann kam ihr Mund zu seinem zurück. „Ich weiß. Ich kann es mir vorstellen." Er knabberte an ihrer Oberlippe. „Sei ruhig noch eine Weile wütend. Ich habe es verdient." „Okay." „Ich liebe dich, Naomi." Er stellte sie wieder auf die Füße, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und lehnte sich ein bisschen zurück, um sie anschauen zu können. „Ja, ich liebe dich."
Sie schloss die Augen und badete sich in der warmen Flut der Gefühle, die sie durchströmte. Dann öffnete sie sie wieder, schaute ihn an und lächelte. „Sag es noch einmal. Genauso wie vorhin, ja?" Doch ehe er es sagte, küsste er sie, ihre Stirn, ihre Wangen, ihre Lippen. „Ich liebe dich, Naomi. Und das nicht wegen deines Aussehens, obwohl du weiß Gott fantastisch aus siehst, sondern weil du so bist, wie du bist. Ich liebe einfach alles an dir. Ich hebe dich schon vom ersten Moment an, und das hat bis heute nicht aufgehört." „Ich liebe dich auch. Auf genau dieselbe Art und Weise, aus genau denselben Gründen. Oh, Ian, ich war so unglücklich ohne dich." „Vielleicht hilft es dir zu wissen, dass ich keine Nacht richtig geschlafen habe, seit du weggegangen bist." „Ja, das hilft mir enorm." Ihre Mundwinkel zuckten, als er daraufhin lachte. „Ich habe gehofft, dass du leidest. Und es wird dir sicher eine Lehre sein, falls du irgendwann noch mal auf die Idee kommen solltest zu entscheiden, was das Beste für mich ist." 376 Er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar. „Ich bin das Beste für dich." „Ja." Sie legte den Kopf auf seine Schulter und fragte sich, warum sie je daran gezweifelt hatte, dass dieser genau dorthin gehörte. „Und wie es sich gerade so trifft, bin ich das Beste für dich. Ich möchte, dass wir unser Leben gemeinsam verbringen, Ian." „Dann lass uns zu mir nach Hause gehen und damit anfangen."
AUS DEN TAGEBÜCHERN DES DANIEL DUNCAN MACGREGOR
Man sagt, wenn ein Mensch alt wird, würden seine Erinnerungen an lang zurückliegende Ereignisse immer klarer, während die der letzten Woche im Nebel verschwänden. An die erste Begegnung mit meiner Anna erinnere ich mich so genau, als wäre es erst gestern gewesen. Oh, ich sehe diesen kühlen, desinteressierten Blick, den sie mir zuwarf, noch sehr deutlich vor mir. Ha! Sie blieb nicht lange desinteressiert. Ich war damals ein ehrgeiziger junger Mann mit hochfliegenden Plänen und als großer, strammer Schotte die stattlichste Erscheinung auf diesem vornehmen Ball, zu dem ich gegangen war, um die Frau meines Lebens zu finden. Und da war Anna, in ihrem hübschen schlichten Kleid. Sie war die Meine von der ersten Minute an ... obwohl es eine Zeit lang dauerte, sie davon zu überzeugen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Nacht, an die Lichter, die Musik, die Farben. Ich kann noch den Duft riechen, der in der Luft hing, als ich sie später zu diesen Klippen führte, auf denen ich mir das Haus bauen wollte, in dem wir fast unser gesamtes Leben verbracht haben. Und ich fühle heute noch die Erde in meinen Händen, als ich einen jungen Baum pflanzte, um die Geburt meines ersten Sohnes zu feiern. Dann stimmt es also doch. Die Erinnerung eines alten Menschen reicht weit zurück. Aber ich erinnere mich an letzte Woche genauso klar. Also, was zum Teufel, soll dieses Gerede? Mein Enkel Ian hat letzte Woche geheiratet. Und ich habe noch genau die Düfte im Gedächtnis, die in der Kirche in der Luft lagen, die Farben des Lichts, das durch die Bunt glasfenster fiel, die vollen Klänge der Orgel, die anschwoll, als die kleine Naomi in ihrem weißen Kleid und dem MacGregor-Schleier über ihrem glänzenden schwarzen Haar den Gang zum Altar antrat. Bräute strahlen, sagt man so schön. Und sie strahlte in der Tat. Es ist die Liebe, die diese Schönheit, die wie ein Glühen aussieht, auf das Gesicht einer Frau zaubert. Und obwohl ich so viele Hochzeiten miterleben durfte, habe ich mich noch immer nicht daran satt gesehen. Und Ian, schön wie ein Prinz, hat sie am Altar erwartet. Man spricht nicht davon, dass ein Mann strahlt, aber vielleicht sollte man es doch tun. Ich kann auf jeden Fall kein anderes Wort für den Ausdruck finden, der auf seinem Gesicht lag, während er Naomi entgegensah, wie sie langsam auf ihn zukam. Und was tat er, der am Ende doch kein solcher Holzkopf ist, wie ich schon befürchtet hatte? Er nahm erst ihre eine, dann ihre andere Hand, und als die Orgel verklang und noch ehe der Priester seinen Mund aufmachen konnte, um die Zeremonie zu eröffnen, sagte Ian: „Ich liebe dich, Naomi." Und das mit einer Stimme, die klar und laut war wie die Glocken, die zum Abschluss läuteten. Und wenn es in der Kirche in diesem Augenblick ein trockenes Auge gab, nun, dann war es jedenfalls nicht das von Daniel MacGregor. Es war alles in allem ein gutes Jahr für die Familie. Mit drei Hochzeiten und einem Baby. Ich habe mein Bestes getan, und mein Bestes ist besser als das der meisten anderen. Jetzt ist das Jahr fast vorbei. Ich werde noch eine Weile vom Fenster aus dem Tanz der Schneeflocken zuschauen und mich dann später mit Anna an den Kamin setzen und zuhören, wie der Wind ums Haus heult. Und wenn ich wieder ein paar Pläne schmiede, während ich die Beine hochlege und von meinem Whiskey trinke, was ist so falsch daran? Das nächste Jahr kommt bestimmt, und schließlich habe ich noch mehr Enkelkinder.
- ENDE