John Curtis Die Schergen der Konigin 1. Die Dämmerung senkte sich über die graugrünen Wogen des Kanals, und die Nacht st...
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John Curtis Die Schergen der Konigin 1. Die Dämmerung senkte sich über die graugrünen Wogen des Kanals, und die Nacht stieg am westlichen Horizont empor. Die ›Isabella VIII.‹ lief vor dem Wind mit schäumender Bugwelle nach Süden. Sie war ein prächtiges Schiff mit hervorragenden Segeleigenschaften, das spürten die Seewölfe schon auf diesen ersten Meilen, die sie mit ihrem neuen Schiff zurücklegten. Aber sie registrierten es nur am Rande. Denn noch immer stand die wüste, unheimliche Szene vor ihrer Erinnerung, die makabren Umstände, unter denen sie Plymouth verlassen hatten. Dan O’Flynn, der sich zu dieser Zeit auf dem Achterkastell aufhielt, fuhr plötzlich herum. »Warum hast du diesen Bastard, diesen Keymis, nicht einfach abgeknallt wie einen räudigen Hund, Hasard?« fragte er. »Immer wieder läßt du dieses Gelichter entkommen und gibst solchen Kreaturen wie diesem Friedensrichter und diesem Burton Gelegenheit, neue Schandtaten zu begehen und neue Intrigen gegen uns auszuhecken. Himmel und Hölle, warum haben wir diese lackierten Affen nicht einfach mit unseren Geschützen vom Kai geblasen? Müssen wir es uns denn eigentlich gefallen lassen, daß man uns immer wieder verleumdet, daß man uns verfolgt, daß man uns nach dem Leben trachtet? Haben wir nicht jahrelang für England und für unsere Königin unser Leben riskiert? Wie viele von uns sind nicht nach England zurückgekehrt? Haben nicht alle Mann der ›Marygold‹ ihren Einsatz für England mit dem Leben bezahlt?
Sind wir es unseren Toten nicht schuldig, endlich einmal unter diesen Mördern, Betrügern, Spitzbuben und Verleumdern aufzuräumen? Haben wir es denn nötig, immer wieder alles hinzunehmen, mit unserem Schiff vor diesen Bastarden zu fliehen? Sie haben angefangen. Sie wollen uns vernichten. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut - so steht es in der Bibel, Hasard. Ich jedenfalls habe es satt, diese Kerle noch länger zu schonen. Der nächste, der mir unter die Finger gerät, dem schlage ich den Schädel ein!« Dan hatte sich richtig in Wut geredet. Seine Augen blitzten den Seewolf an. Auf der Kuhl hatte sich ein Teil der Crew versammelt. Zustimmendes Gemurmel erhob sich bei den Worten Dans. Die Geduld der Seewölfe war erschöpft. Keiner von ihnen vertrug es, daß man sie in dem Land für das sie gekämpft, gehungert, gefroren und geblutet hatten, wie Dreck behandelte. Und Hasard verstand sie nur zu gut, denn auch in ihm gewannen allmählich derartige Gefühle die Oberhand. Ben Brighton, Ferris Tucker, Ed Carberry und Big Old Shane, die sich ebenfalls auf dem Achterdeck befanden, weil Hasard sie zu einer Besprechung heraufgebeten hatte, blickten den Seewolf an. Pete Ballie, der am Ruder stand, schob sich aus seinem Ruderhaus heraus, ohne dabei das mächtige Ruderrad auch nur einen Augenblick loszulassen. »Dan hat völlig recht, Hasard. Bis jetzt haben wir uns immer wieder zurückgehalten. Du hast diesen Keymis geschont, als er sein Leben längst verwirkt hatte. Du hast Burton laufenlassen, als wir das Recht hatten, ihn wie einen räudigen Hund zu erschlagen. Ich habe deinen Schwur gehört, den du auf dem Kai in Plymouth geleistet hast, und ich werde dich daran erinnern, sobald uns einer dieser beiden Bastarde wieder in die Finger gerät. Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich bereits in Plymouth mit diesem ganzen Spuk Schluß gemacht, damit du’s nur weißt!«
Pete verschwand voller Groll in seinem Ruderhaus. Der Seewolf blickte seine Männer an - auf allen Gesichtern stand das gleiche. Die Männer fühlten sich gedemütigt, verletzt, verraten. Und ihm, ihrem Anführer und Kapitän, erging es nicht anders. Denn jetzt waren sie Rebellen, Piraten, vogelfrei für jedermann, trotz des Kaperbriefs der Königin, der noch immer in der Schatulle in seiner Kajüte lag. Denn dieses Dokument war von der Königin widerrufen worden. Statt dessen hatte sie Haftbefehl gegen ihn und seine ganze Besatzung erlassen. Nein, der Seewolf verstand die Welt in diesem Augenblick auch nicht mehr. Trotzdem - er durfte jetzt die Zügel auf keinen Fall schleifen lassen. Er gab sich innerlich einen Ruck. »Ich habe euch zugehört und jetzt werdet ihr mir zuhören«, sagte er. »Hätten wir ein Blutbad unter den Soldaten und Berittenen anrichten sollen, die wahrscheinlich nur einen Befehl auszuführen hatten und von den Zusammenhängen nicht das geringste ahnten? Das wäre in meinen Augen glatter Mord gewesen, Mord an unseren eigenen Landsleuten. Ich war bei der Königin, ich habe mit ihr gesprochen. Und wenn sie hundertmal gegen uns einen Haftbefehl erlassen hat - ich kann nicht glauben, daß sie es getan hat, weil sie an unsere Schuld glaubt, sondern weil das geltende Recht sie aufgrund all der verlogenen Anklagen dazu zwang. Es wird der Tag kommen, an dem wir mit diesen Verleumdern abrechnen, nur dürfen wir uns jetzt nicht dazu hinreißen lassen, irgend etwas zu tun, was unseren Widersachern hilft, uns auch in den Augen der Königin als Verbrecher und Rebellen hinzustellen. Denn noch sind wir Rebellen um Ehre, Männer, die sich nicht in den Kerker werfen oder hängen lassen, weil sie sich keiner Schuld bewußt sind!« Die Crew hatte ihm aufmerksam zugehört. Hasard ließ ihnen keine Zeit, wieder anderen Sinnes zu werden. »Meinen Schwur halte ich. Sollte uns Keymis oder Burton
wiederum in die Hände fallen, weil sie wieder neue Intrigen gegen uns angezettelt haben, dann ist ihnen der Tod sicher. Diese beiden Schurken haben keinerlei Gnade mehr zu erwarten!« Zustimmung drang von der Kuhl herauf. Der Seewolf bat durch eine energische Handbewegung um Ruhe. »Da wäre noch etwas. Wir haben Ray Bow noch als Gefangenen an Bord. Ich habe nicht die Absicht, ihn an Bord zu behalten, ich kann und will ihn auch nicht aufknüpfen. Auch das wäre Mord. Denn für die Vergehen, die er begangen hat, gehört er vor ein englisches Gericht.« Ferris Tucker meldete sich zu Wort. »Und wie willst du das anstellen?« fragte er. In seiner Stimme war ein unheilvolles Grollen. »Er hat sich an Bord unseres Schiffes geschlichen und versucht, uns zu bestehlen. Er hat Blacky angefallen und ihn verwundet. Er hat Ed Carberry um ein Haar erschossen. Nur die Gürtelschnalle hat das verhindert. Dieser Kerl hat den Tod verdient, du kannst ihn nicht einfach laufenlassen. Das ist meine Meinung, und ich denke, das ist die Meinung vieler Männer hier an Bord.« »Ferris hat recht!« brüllte der alte O’Flynn und stampfte mit seinem Holzbein auf. »Dieser Kerl gehört an die Rah! Schluß mit dieser ganzen ...« Hasard richtete sich hoch auf. »Er wird auf diesem Schiff nicht gehängt!« sagte er scharf. »Die Planken dieses Schiffes werden nicht mit einem Mord beschmutzt.« Er wehrte den aufbrandenden Unwillen mit einer energischen Handbewegung ab. »Allerdings denke auch ich nicht daran, diesen Verbrecher laufenzulassen.« Die Männer waren plötzlich mucksmäuschenstill und sahen den Seewolf an. »Ferris, du wirst diesem Kerl jetzt ein Floß bauen. Gerade so groß, daß es ihn und ein kleines Faß Wasser trägt. Dann wird er ausgesetzt, und Gott soll sein Richter sein.«
In der Kuhl herrschte schweigen. Jeder der Männer wußte, was das für den Gefangenen bedeutete. Die Chance, daß ihn irgendein Schiff fand oder er lebend das Land erreichen würde, war jedenfalls äußerst dünn. Niemand erhob Widerspruch. Sollte dieser Mörder und Leuteschinder ruhig eine Weile über seine Untaten nachdenken, ehe er zur Hölle fuhr! Hasard verschaffte sich durch Handzeichen erneut Aufmerksamkeit. »Zweitens habe ich beschlossen, heute nacht mit der ›Isabella‹ zur Küste zurückzusegeln. Ich muß dafür sorgen, daß Gwen und die Kinder in Sicherheit sind, während wir uns in der Karibik befinden. Wir segeln zur Wembury Bay. Dort gibt es eine versteckte Bucht, in der wir unser Schiff verbergen können. Außerdem wird uns dort niemand suchen. Ben kennt diese Bucht.« Ben Brighton nickte, aber die anderen, die sich bei dem Seewolf auf dem Achterkastell befanden, blickten überrascht hoch. Dan trat näher an den Seewolf heran. »Befürchtest du etwa, daß Keymis oder Burton sich an Gwen heranmachen werden?« fragte er, und seine Brauen zogen sich drohend zusammen. »Nein, Dan, ich glaube nicht, daß sie das wagen werden. Doktor Freemont hat zu mächtige Freunde bei Hof. Aber ich muß mit Freemont reden, ich muß Gwen genügend Mittel dalassen, damit sie in materieller Hinsicht völlig unabhängig ist. Ich weiß ja gar nicht, wann wir England wieder anlaufen werden. Außerdem muß Gwen erfahren, was geschehen ist von mir erfahren, nicht durch andere. Und zum letzten: Ich weiß, das Jean Ribault und Karl von Hutten sich wieder in England befinden, ich kenne ihre Adressen. Doktor Freemont wird sich in meinem Auftrag an sie wenden. Bei ihnen und unter ihrem Schutz ist Gwen mit den Kindern sicher. Das kann
und das muß ich für meine Familie tun!« Der alte O’Flynn, der mitgehört hatte, stelzte mit seinem Holzbein die Stufen zum Achterkastell hoch. »Recht so, Hasard! Wenn Doktor Freemont, Ribault und von Hutten sich um Gwen und die Kinder kümmern, dann sind sie so sicher wie in Abrahams Schoß! Aber nimm dir ein paar Leute mit, wenn du zu Gwen fährst - man kann nie wissen!« Der Seewolf nickte. »Dan und ich werden fahren. Dan wird Doktor Freemont verständigen, während ich schon zu Gwen und den Kindern reite. Mehr als zwei Mann sind zu auffällig.« »Recht so.« Der alte O’Flynn nickte wieder, anschließend humpelte er auf die Kuhl zurück. »Ferris, nimm dir ein paar Mann, beginne damit, das Floß für den Kerl in der Vorpiek zu zimmern. Wir werden ihn aussetzen, sobald es dunkel ist!« Der rothaarige Hühne verschwand. Auf der Kuhl angelte er sich noch zwei Mann und verschwand mit ihnen unter Deck. »So wahr ich Ferris Tucker heiße und Schiffszimmermann der ›Isabella‹ bin«, brummte er. »ich werde dafür sorgen, daß dieser Dreckskerl bis zu seiner Höllenfahrt einen nassen Hintern hat. Der soll sich wundern!« Ferris Tucker war sonst weder grausam noch rachsüchtig, aber auch bei ihm war das Maß endgültig voll. Schon ein paar Minuten später schleppte er mit Batuti und Big Old Shane ein paar Bohlen aus dem Schiffsinneren an Deck. Gleich darauf klangen die Schläge schwerer Zimmermannsäxte über Deck. * An diesem Nachmittag und Abend war in Plymouth die Hölle los. Der Friedensrichter Keymis, der an diesem Tag dem Tod nur ganz knapp entronnen war und das auch genau wußte,
stürzte in der »Bloody Mary« des dicken Plymson einen Whisky nach dem anderen herunter. Sein Spießgeselle Burton tat das gleiche. Der Kai, an dem noch vor wenigen Stunden die ›Isabella VIII.‹ gelegen hatte und auf dem der Seewolf samt seiner Crew hatte verhaftet und das nagelneue Schiff beschlagnahmt werden sollen, glich einem Heerlager. Die Soldaten hatten ihre Musketen zusammengestellt, die Berittenen ihre Pferde an den Pollern angebunden. Irgendein Schlaukopf hatte Holz aufgetrieben, und so flackerten auf dem Kai Feuer auf, an denen die Soldaten sich wärmten. Der königliche Hofbeamte war längst wieder in der Kutsche in Richtung London unterwegs, um dem Lordkanzler, Sir Battersby, Bericht zu erstatten. Keymis und Burton wußten das, und sie zitterten davor, obwohl sie ihre Schmach und Furcht hinter wüsten Beschimpfungen verbargen. Ihre Anweisung, ebenfalls in Plymouth zu verbleiben, bis man sich über die nächsten Schritte im klaren sei, hatte der königliche Hofbeamte einfach ignoriert und den beiden Verbrechern, die er längst durchschaute, auf diese Weise seine grenzenlose Verachtung ausgedrückt. Keymis und Burton saßen in einem Hinterzimmer der »Bloody Mary«. Ihre Sinne waren bereits umnebelt. Aber mit jedem Glas, das sie tranken, wuchs ihre Wut über die erneute Niederlage, die der Seewolf ihnen zugefügt hatte. Mehr noch: Sie waren beide vor ihm über das Kopfsteinpflaster der Pier gekrochen wie Hunde, die man gerade fürchterlich verprügelt hat. Keymis hatte sich vor Aufregung, Wut und Angst sogar in der Kutsche übergeben, in die er sich schließlich geflüchtet hatte. Der Friedensrichter fuhr aus seinem dumpfen Brüten hoch. »Wir müssen jetzt etwas unternehmen, Burton. Wir brauchen Erfolge, und zwar schnell, oder wir sind erledigt. Wir ...« Burton rülpste und sah Keymis aus seinen blutunterlaufenen
Augen an. »Noch ist gar nichts verloren, Keymis. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn wir den Seewolf und seine Kerle jetzt dort vorn in Ketten auf der Pier liegen hätten. Aber so, wie die Dinge jetzt stehen, ist er der Rebellion schuldig. Ob die Krone will oder nicht, sie muß ihn jagen. Nur um ihn zu jagen, müssen wir wissen, wohin er segeln wird. Das heißt, wir müssen herauskriegen, wo seine Frau steckt. Ich gehe jede Wette ein, daß die seine Pläne kennt.« Als ob seine Worte bestätigt werden sollten, erhob sich am Kai plötzlich allgemeiner Lärm. Die Soldaten waren aufgesprungen und blickten den beiden Schiffen entgegen, die soeben in den Hafen einliefen und sich anschickten, an der Pier festzumachen. Keymis war aufgesprungen, als der erste Böllerschuß über den Hafen dröhnte. Dann rannte er durch das Hinterzimmer, stieß die Tür zur Schankstube auf und stürzte ins Freie. Burton folgte ihm. Sie erkannten die beiden Schiffe sofort. »Die Kriegsgaleone - und da, etwas seitlich hinter ihr, die Kriegskaravelle! Der Lordadmiral hat sie also doch entsandt! Los, Burton«, stieß Keymis voller Erregung hervor. »Wir müssen sofort an Bord, sobald die Schiffe vertäut sind. Ich muß mit dem Kommandanten dieses Geschwaders reden, ihm meine Instruktionen geben!« Seine Rechte glitt in eine der Taschen seiner Jacke. Die Legitimation, aus der er seine Vollmachten bezog, war noch da. Er überlegte einen Moment. »Plymson!« schrie er dann. »Plymson, du verfluchter Fettwanst, sofort her mit dir!« Der Wirt hörte das Geschrei, und ihm schwante nichts Gutes. Er sollte recht behalten. Plymson hastete heran. Er fürchtete Keymis, trotz der Demütigung, die der Friedensrichter in den vergangenen Stunden durch den Seewolf erlitten hatte. Aber den Seewolf
und seine Männer fürchtete der Schankwirt noch weit mehr Er hatte da so seine persönlichen Erfahrungen mit den Seewölfen hinter sich und nie auch nur eine Sekunde lang daran geglaubt, daß aus der Verhaftungsaktion etwas werden könnte. »Sir, Sie wünschen?« fragte er und vollführte dabei einen Bückling, der ihm trotz seiner Körperfülle hervorragend gelang. Gleichzeitig angelte er nach seiner speckigen Perücke, die ihm schon wieder vom Schädel zu rutschen drohte. »Schaff mir Pete Bow herbei!« blaffte der Friedensrichter ihn an. »Sofort! Ich will den Kerl noch einmal befragen. Er muß etwas über den Aufenthalt dieses Rebellenweibsbilds herausgefunden haben. Durch meinen überraschenden Aufbruch nach London hatte ich noch nicht genügend Zeit, mich mit diesem Bow zu befassen. Wenn er nicht innerhalb der nächsten Stunde hier auftaucht, dann ergeht es dir schlecht. Verstanden?« Plymson dienerte abermals. Dabei rasten seine Gedanken. Natürlich hatte Pete Bow ihm Bericht erstattet. Und natürlich war klar, daß der Seewolf damals nach Bere Ferrers gefahren war und dort auch die Nacht verbracht hatte. Nur wußte auch Bow nicht, wo. Ebensowenig hatte er herauskriegen können, ob der Seewolf überhaupt bei seiner Frau oder bei jemand ganz anderem gewesen war. Und jetzt war Pete Bow nicht erreichbar, weil er nach seinem verschwundenen Bruder suchte, den die Seewölfe entweder umgebracht hatten oder noch gefangenhielten. »Sir - in einer Stunde, ich fürchte, das - das wird leider nicht möglich sein. Mister Bow stellt zur Zeit Nachforschungen nach seinem verschollenen Bruder an, ich weiß nicht, wo er sich im Moment aufhält, ich ...« »Es ist mir völlig gleichgültig, wo du ihn findest und wie du ihn herbeischaffst!« schnarrte der Friedensrichter. »Sobald ich mit dem Geschwaderkommandanten der beiden Schiffe dort gesprochen habe, will ich ihn sehen, oder ...«
»Sir, ich hätte da noch einen anderen Vorschlag, ich meine, wir sollten ganz unabhängig von Mister Bow in ...« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, das kaum noch der unmittelbar neben Keymis stehende Burton verstand. Keymis hörte ihm aufmerksam zu. Hin und wieder zuckte sein Ziegenbart. Dann sah er den dicken Plymson nachdenklich an. »Du bist gar nicht so dumm«, sagte er. »Also los, besorge ein paar Männer, aber solche, die ihr Handwerk verstehen, klar? Und diesen Pete Bow will ich trotzdem sprechen!« Plymson zog sich dienernd zurück. Weder Keymis noch Burton ahnten, daß er über alles, was gerade besprochen worden war, längst seine eigenen Vorstellungen hatte. Das, was unlängst da vorn auf dem Kai passiert war und die erbärmliche Rolle, die Keymis und Burton dabei gespielt hatten, hatten ihn auf ein paar Ideen gebracht. Burton und Keymis verließen die »Bloody Mary«. Sie stolzierten zum Hafen hinüber, wo sich die beiden Schiffe eben anschickten, am Kai festzumachen. 2. Die ›Isabella VIII.‹ hatte beigedreht. Carberry und Blacky hatten die dicke Bohlentür zur Vorpiek geöffnet. Ray Bow zuckte zurück, als er die beiden sah, deren Gesichter nichts Gutes verhießen. Seine Ketten klirrten, seine tiefliegenden Augen schienen im Schein der blakenden Öllaterne zu glühen. Der Profos hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. »Los, her mit dir!« fuhr er den Hageren an. Dabei hatte er schon den Schlüssel für die Hand und Fußfesseln aus einer der Taschen seiner Jacke geangelt. Ray Bow war bis zur Wand zurückgewichen.
»Was wollt ihr, ich verlange ...« Blacky sprang vor und wischte den viel schwereren Profos mit einer einzigen Bewegung seines rechten Armes zur Seite. »Du verlangst?« brüllte er. »Was verlangst du? Daß ich dir jetzt gleich den Strick um den Hals lege und dich hochziehe? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gern ich dir diesen Wunsch erfüllen würde!« Er packte den Hageren und zog ihn zu sich heran. »Damit du es weißt, unsere Geduld mit Mördern und Taugenichtsen, wie du einer bist, ist zu Ende. Gelichter von deiner Sorte wird zertreten wie eine Kakerlake, die sich zu weit vorgewagt hat. Wir hatten bisher nur leider noch keine Zeit, uns um dich zu kümmern.« Er zerrte den Mann zu Carberry hinüber, und weidete sich dabei an der Todesangst, die den Hageren befiel, denn er hatte Blackys Worte durchaus für bare Münze genommen. Der Profos schloß die Fesseln auf. Als auch die Beine frei waren, zog er eine Pistole aus dem Gürtel und spannte den Hahn. »Vorwärts. Bei der ersten Bewegung, die mir nicht gefällt, schieße ich!« Carberry und Blacky trieben den Hageren von der Back zum Hauptdeck und von dort zur Kuhl. Dort hatte sich die Mannschaft bereits versammelt. Finstere, verschlossene Gesichter blickten Ray Bow entgegen. Der Hagere taumelte unter einem Stoß Blackys. Dann befand er sich auch schon in dem Kreis der Männer, der sich vor ihm, Blacky und Carberry geöffnet hatte, sich aber sofort wieder schloß. Der Seewolf trat auf den Hageren zu. Seine eisblauen Augen blickten erbarmungslos. »Du bist des versuchten Mordes und des vollendeten Diebstahls in zwei Fällen am Eigentum dieser Männer hier überführt. Wir könnten dich hängen, denn das wäre die Strafe,
die auf diese Verbrechen steht.« Hasard legte eine kleine Pause ein. Ihm war nicht entgangen, daß der Hagere bei seinen letzten Worten aufgeatmet hatte, und der Seewolf verpaßte ihm sofort einen gehörigen Dämpfer. »Du freust dich zu früh. Ungesühnt bleiben diese Verbrechen nicht. Darum haben wir beschlossen, dich auszubooten. Jetzt und hier. Du erhältst ein Floß, etwas Wasser, etwas Proviant. Gott sei dir gnädig!« Der Hagere war bei den letzten Worten des Seewolfs zurückgefahren. Sein Gesicht wurde kreidebleich. »Nein - das könnt ihr nicht tun das ...« Hasard reagierte auf sein Gestammel nicht. »Du und dein Bruder, ihr habt auch nie danach gefragt, was eure Opfer empfanden. Wir lassen dich nur frei, weil wir uns an dir nicht die Finger beschmutzen wollen. Profos, walte deines Amtes.« Carberry trat auf den Verurteilten zu. »Vorwärts!« befahl er. »Keine Faxen, du Bastard, oder ich werfe dich über Bord!« Der Kreis der Seeleute öffnete sich. Carberry trieb den Hageren zum Hauptdeck hinunter und dann zum Steuerbordschanzkleid hinüber. Er deutete auf ein Tau, das am Schanzkleid befestigt worden war. »Da runter mit dir, und ein bißchen plötzlich! Und sag deinem sauberen Bruder, falls du ihn je Wiedersehen solltest: Wen wir von euch das nächstemal an Bord unseres Schiffes erwischen, den knüpfen wir auf. Sofort und ohne jede Verhandlung!« Er verpaßte dem Hageren einen derben Tritt in den Hintern, der ihn ans Schanzkleid katapultierte. Ray Bow begriff, daß er von dieser Crew keinen Pardon zu erwarten hatte. Er enterte über das Schanzkleid, hielt sich dort aber noch einen Augenblick fest. »Ihr denkt, ihr bringt mich um!« schrie er in die Dunkelheit
hinein, die sich inzwischen über das Schiff gelegt hatte. »Aber ihr hättet mich aufhängen sollen. Ich werde leben, und ich werde euch wieder begegnen, und dann rechne ich mit euch ab, wenn euch bis dahin nicht die beiden Kriegsschiffe erwischt haben, die Keymis und Burton euch auf den Hals gehetzt haben! Ich werde euch hängen sehen, euch alle, einen nach dem anderen, denn ihr seid Rebellen, dreckige Piraten, vogelfrei für jedermann!« Carberry stieß einen Wutschrei aus, aber noch schneller war Blacky. Er hechtete auf das Schanzkleid zu und wollte den Hageren packen, aber der war bereits weg. In seiner Wut zerrte Blacky wie ein Wahnsinniger an dem Tau und versuchte, den daranhängenden Ray Bow wieder hochzuziehen, aber Hasard gebot ihm Einhalt. »Ferris, kapp das Tau!« wies er den Schiffszimmermann an. Der rothaarige Hüne holte aus. Die scharfe Schneide seiner Axt durchtrennte das Tau beim ersten Hieb. Ein lauter Fluch ertönte, dem das Geräusch eines ins Wasser klatschendes Körpers folgte. Blacky beugte sich über das Schanzkleid. Er sah das abtreibende Floß und den Hageren, der sich daran festklammerte und versuchte, sich hinaufzuziehen. »Gut so!« brüllte Blacky, immer noch tobend vor Wut, »mit einem nassen Arsch wirst du an der Floßfahrt auch viel mehr Freude haben, du Dreckskerl! Grüß den Teufel von mir, wenn dich die Fische gefressen haben. Hoffentlich weißt du, daß es vor Cornwalls Küsten Haie gibt ...« Abermals tönten wüste Beschimpfungen herauf, aber Hasard bereitete dem Ganzen ein Ende. »An die Brassen! Ruder hart Backbord!« übertönte seine Stimme das Durcheinander. Die Männer lösten sich vom Schanzkleid und eilten auf ihre Stationen. Die ›Isabella‹ schwang herum. Haßerfüllt starrte Ray Bow ihr nach, wie sie in der Dunkelheit verschwand. Schon in diesem
Augenblick spürte er die erbarmungslose Kälte, die nach ihm griff, an seinem Körper emporkroch und ihn zu lähmen drohte. * Ben Brighton kannte sich an der Küste Cornwalls bestens aus. Er hatte die Führung der ›Isabella‹ übernommen, während Hasard sich in seine Kammer zurückgezogen hatte. Ihn beschäftigte die Bemerkung des Hageren, daß man zwei englische Kriegsschiffe auf sie gehetzt hätte. Der Seewolf befand sich in diesem Moment in einem schweren Konflikt. Einerseits konnte er sich nicht erklären, wieso Keymis oder Burton oder beide schon vor Tagen Schiffe auf sie gehetzt haben sollten. Wer gab ihnen dazu denn die Vollmachten? Besonders Burton, der sich doch auch in höfischen Kreisen bestimmt keines guten Rufes erfreute. Anderseits mußte Hasard aber auch an die Schlappe denken, die sie dem Lordkanzler, dem Lordadmiral und dem Schatzkanzler an der Themse zugefügt hatten. Vielleicht wehte von daher der Wind. Der Seewolf ging in seiner Kammer hin und her. Wenn die Drohung dieses Verbrechers stimmte, konnte er es dann überhaupt noch riskieren, zur Wembury Bay zu segeln und von dort aus zu Gwen und den Kindern zu fahren? Anderseits aber mußte er es tun, denn Gwen war in Gefahr. Er wollte und konnte die englischen Gewässer nicht verlassen, ohne für Gwen alles getan zu haben, was in seinen Kräften stand. Der Seewolf warf einen Blick auf die Karte, die vor ihm auf dem schweren Mahagonitisch ausgebreitet lag. Es war nicht weit. Die Wembury Bay bot hervorragende Verstecke für das Schiff. Außerdem - wer würde schon damit rechnen, daß die ›Isabella‹ dorthin segelte? Hasard entschloß sich rasch. Er verließ seine Kammer und
stieg an Deck. »Ben«, sagte er zu seinem ersten Offizier, »es bleibt dabei. Wir segeln zur Wembury Bay in das Versteck, das du kennst. Aber für heute nacht erhöhte Wachsamkeit für alle. Ich durchschaue den schlimmen Plan, den sich Keymis und Burton wieder ausgeheckt haben. Sie wollen, daß ich englischen Schiffen in englischen Gewässern ein Gefecht liefere und die ›Isabella‹ schließlich zusammengeschossen oder aufgebracht wird. Geschieht das, kann uns keine Macht der Erde mehr vor dem Galgen bewahren.« Ben Brighton nickte düster. Auch er hatte schon über diese Möglichkeit nachgedacht. »Du solltest Gwen und die Kinder an Bord holen und mitnehmen«, sagte er nach einer Weile. »Hier, bei uns, sind sie am sichersten. Du kannst ihnen dann irgendwo eine Bleibe verschaffen, wo du sie regelmäßig besuchst.« »Ich habe mit Gwen auch über diese Möglichkeit gesprochen. Aber sie lehnt das ab. Und ich verstehe auch, warum. Sie will, daß aus den Kindern etwas wird, daß sie unter normalen Verhältnissen aufwachsen. Außerdem, Ben«, er sah seinen ersten Offizier an, »dir brauche ich doch wohl über das monatelange Leben an Bord eines Schiffes wie der ›Isabella‹ nichts zu sagen. Sie ist ein herrliches Schiff. Aber Hasard und Philip, meine beiden Söhne, sind noch Säuglinge. Denk an die Stürme, in die wir geraten werden, denk an die Kämpfe, an die Breitseiten, denen auch wir bestimmt nicht immer entgehen werden. Und denk daran, daß, wenn wir von der Krone zu Gesetzlosen, zu Piraten erklärt werden sollten, daß dann auch Gwen und die beiden Kinder darunter fallen würden, sofern sie sich bei uns an Bord befinden, weil sie sich damit ebenfalls gegen die Krone stellen!« Der Seewolf atmete schwer. Plötzlich legte er Ben Brighton die Rechte auf die Schulter. »Du zermarterst dir den Kopf nach einem Ausweg, Ben.
Genau wie ich. Du hast genauso scharf erkannt, in welch eine üble Situation uns diese beiden Schurken hineinmanövriert haben. Der Plan war teuflisch, er hat nur bis jetzt noch nicht ganz so geklappt, wie diese beiden sauberen Herren sich das vorgestellt haben. Ich werde mit Gwen nochmals sprechen, ich werde ihr noch einmal vorschlagen, mit uns zu segeln. Aber zwingen werde ich sie nicht. Das könnte und das wollte ich nicht, weil ich sie und die Kinder liebe.« Ben Brighton nickte. Ihm war völlig klar, in was für einem Dilemma der Seewolf steckte. Die nächsten Stunden schwiegen die beiden Männer auf dem Achterkastell. Auf dem ganzen Schiff herrschte äußere Wachsamkeit. Zwei Stunden vor Mitternacht warf die ›Isabella‹ ihren Anker in einer kleinen Bucht unweit von Newton Ferrers. Die Männer bargen die Segel, alle Lichter auf dem Schiff wurden gelöscht. Felsen schirmten die Galeone gegen Sicht von See her ab. Eine Stunde später hatten sich Hasard und Dan Pferde besorgt. An einer Weggabelung zügelte der Seewolf sein Pferd. »Dan, sieh zu, daß du Doktor Freemont erwischst. Dann reitest du mit ihm sofort nach Bere Ferrers. Ich warte dort bei Gwen auf euch. Aber, Dan«, er sah das zum Mann herangewachsene einstige Bürschchen an, »keine Eigenmächtigkeiten, keine Händel, gleich welcher Art, solange du nicht direkt bedroht bist. Es hängt diesmal alles davon ab, daß wir nicht entdeckt werden!« »Ich weiß«, erwiderte Dan. Die Züge des Jüngsten der ›Isabella‹-Crew wirkten ungewöhnlich ernst. »Ich werde aufpassen, du kannst dich auf mich verlassen.« Damit wendete er sein Pferd und galoppierte davon. Niemand hätte diese beiden Reiter als Seeleute erkannt, denn der Seewolf hatte dafür gesorgt, daß sie unauffällige Kleidung trugen. *
Trotzdem nahmen die Dinge eine dramatische Wendung. In der zweiten Nachthälfte entdeckte der Ausguck einer von der französischen Küste nach England segelnden Schaluppe den halberfrorenen Ray Bow durch puren Zufall auf seinem Floß. Die Männer stürzten an Deck und die Schaluppe drehte bei. Erst nach mehreren Anläufen gelang es der Besatzung, den nahezu Bewußtlosen an Bord zu ziehen. Sie versorgten ihn, so gut es ging. Vor allem mit einer tüchtigen Portion Rum und trockenen Kleidern. Anschließend setzte die Schaluppe ihren Weg fort. Das war genau zu der Zeit, in der sich die ›Isabella‹ unter ständigem Loten und bei Dunkelheit in die Wembury Bay und später auch in den engen Wasserarm der Bucht hineinmogelte, hinter dessen zweiter Biegung jene Stelle lag, die Ben Brighton als Versteck außerkoren hatte. Ray Bow besaß eine äußerst kräftige Konstitution. Um jedoch unbequemen Fragen zu entgehen, deren Beantwortung ihm verdammt schwergefallen wäre, stellte er sich während der ganzen Fahrt auch weiterhin halbtot, obwohl er sich ziemlich rasch erholte. Die Schaluppe machte eine Stunde vor Mitternacht in der Wembury Bay unweit des kleinen Ortes Wembury fest. Und dort verschwand Ray Bow von Bord, ohne daß einer der Seeleute etwas davon bemerkte. Erst viel später, am nächsten Morgen, entdeckten die Männer, daß mit dem Geretteten auch ihre Geldschatulle verschwunden war. Ray Bow, der sich in dieser Gegend hervorragend auskannte, lief, so schnell ihn seine Beine trugen, nach Knighton, einem Ort, der nur aus ein paar Häusern bestand, in dem aber jemand wohnte, dem er vertrauen konnte. Nur nahm er nicht den kürzesten Weg, sondern er schlug einen Bogen an der Bay entlang, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. In Knighton würde er ein Pferd kriegen können, denn er wollte so rasch wie
möglich nach Plymouth, wo er seinen Bruder wußte. Als er hinter einem Felsenvorsprung hervortrat, blieb er verblüfft stehen. Im schwachen Licht der Sterne erkannte er unten in der Bucht die Umrisse eines Seglers. Er sah genauer hin, denn es war äußerst ungewöhnlich, daß Schiffe dieser Größe sich soweit in den Wasserarm hineinwagten. Dazu mußte man sich schon verflixt gut auskennen. Und dann hielt er plötzlich vor Schreck die Luft an. Er erkannte das Schiff, dessen Formen so ungewöhnlich waren, daß es kein zweites von dieser Art geben konnte. »Die ›Isabella‹!« stieß er verblüfft hervor. »Diese verfluchten Bastarde haben uns alle getäuscht. Sie verstecken sich hier, während man sie irgendwo draußen auf See sucht!« Ray Bow knirschte vor Wut mit den Zähnen. Er überlegte fieberhaft. Nein, ein Täuschungsmanöver allein war das nicht, es mußte etwas anderes dahinterstecken, wenn diese Kerle es wagten, noch einmal nach England zurückzusegeln. Ray Bow beobachtete das Schiff noch eine Weile. Aber an Deck blieb alles ruhig, alle Lampen waren gelöscht. »Die Kerle sitzen in der Falle«, murmelte er. »Wenn ich schnell genug bin, wenn ich Keymis und Burton schnell genug erreiche, dann haben wir sie, und dann werden sie hängen, alle!« Ray Bow hastete weiter. Er erreichte Knighton in Rekordzeit, und es gelang ihm ebenfalls, sich ein Pferd zu besorgen. Wenig später galoppierte er durch die Nacht, direkt auf Plymouth zu. Er grinste bei dem Gedanken, daß er für diese Nachricht bei Keymis eine dicke Prämie kassieren würde. Außerdem war das eine Gelegenheit, diesen verfluchten Seewölfen alles heimzuzahlen, mit Zins und Zinseszins. 3.
Der Seewolf und Dan jagten ebenfalls durch die Nacht. Hasard an Plymouth vorbei in Richtung Bere Ferrers, Dan direkt in die Stadt. Er kannte die Adresse, unter der Doktor Freemont zu erreichen war. Als er das Haus erreichte, in dem der Seewolf einst auf dem Krankenlager gelegen hatte, band er sein Pferd an das schmiedeeiserne Tor. Anschließend huschte er zur Eingangstür hinauf und betätigte den Klopfer in einem ganz bestimmten Rhythmus. Es dauerte eine Weile, bis sich im Hause etwas rührte, aber dann wurden Schritte hinter der Tür laut. »Wer ist dort?« fragte eine Stimme, die einer Frau gehören mußte. Dan überlegte. Er hatte nicht die Absicht, seinen Namen zu sagen, denn man konnte schließlich nicht wissen, wer dort hinter der Tür wirklich stand. »Gut Freund«, erwiderte er daher nach einigem Zögern. »Ich habe eine dringende Botschaft für Doktor Freemont!« Wieder Schweigen, dann wurde ein Riegel zurückgeschoben, die Tür öffnete sich einen Spalt breit. »Lassen Sie mich rein, rasch!« drängte Dan. Das junge Mädchen, das hinter der Tür stand, zögerte immer noch. »Gut!« entschied sie schließlich. »Sie haben das Klopfzeichen gebraucht. Ich weiß nicht, woher Sie es kennen, denn diejenigen, die es einmal benutzt haben, können zur Zeit nicht in Plymouth sein.« Sie öffnete, und Dan schob sich ins Haus. »Wer sind Sie?« fragte Dan und sah das Mädchen genauer an. »Woher ist Ihnen unser Klopfzeichen bekannt?« Das Mädchen warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Der Doktor selber hat es mir erklärt«, erwiderte sie. »Er sagte mir, daß jemand, der dieses Zeichen benutzen würde, nur ein guter Freund sein und ich einem solchen Besucher
unbesorgt Öffnen könne, ganz gleich, um welche Zeit er Einlaß begehre.« Dan atmete rascher. »Es stimmt, Ihnen droht von uns nicht die geringste Gefahr. Ich habe Doktor Freemont etwas auszurichten, befindet er sich nicht im Hause?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Mein Name ist Jane«, sagte sie leise. »Ich bin eine Verwandte Doktor Freemonts und führe ihm seit ein paar Wochen das Haus. Er ist viel unterwegs, er braucht jemanden, der sich um alles ein wenig kümmert. Heute nacht ist er zu einem schwerkranken Patienten gefahren, aber er wollte gegen Mitternacht zurück sein.« Sie lächelte Dan schüchtern an. »Soweit sich das in seinem Beruf voraussagen läßt.« Dan hielt ihr, einer plötzlichen Regung folgend, die Hand hin. »Mein Name ist Flynn, Dan O’Flynn. Kann ich hier auf Doktor Freemont warten?« Jane nickte. »Natürlich. Geben Sie mir Ihren Umhang und Ihren Hut. Ich werde Ihnen einen heißen Tee bereiten, der muntert etwas auf.« »Nein, nein - lassen Sie nur, ich ...« In diesem Moment näherte sich Pferdegetrappel. Eine Kutsche hielt vor dem großen Haus. Jane war zu einem der Fenster geeilt. Sie sah, wie der Doktor die Kutsche verließ, aber stehenblieb, als er das angebundene Pferd erblickte. »Es ist der Doktor«, sagte Jane. Warten Sie, Mister O’Flynn, ich werde ihm sofort öffnen.« Wenige Augenblick später betrat Freemont die geräumige Diele seines Hauses und stutzte einen Moment. Aber dann eilte er auf Dan zu. »Dan«, sagte er leise, und seine Brauen zogen sich zusammen. »Du hier? Was hat das zu bedeuten, ich hörte, die ›Isabella‹ wäre ...«
Dan war aufgesprungen. Er sah das bestürzte Gesicht des Arztes, die scharfen Falten, die sich über seiner Nasenwurzel gebildet hatten. »Sie wissen, Doktor?« fragte Dan. Freemont schüttelte den Kopf. »Nein, in Plymouth munkelt man so allerlei. Genaues weiß ich nicht. Aber ich war eben bei einem Patienten, einem einflußreichen Mann. Von ihm erfuhr ich, daß zwei Kriegsschiffe der Krone den Hafen angelaufen haben sollen und die Aufgabe haben, den Seewolf und seine Besatzung zu jagen ...« Doktor Freemont packte Dan bei den Schultern. »Was ist geschehen? Die Königin hat Hasard doch einen Kaperbrief ausgestellt, er erfreut sich ihres außerordentlichen Wohlwollens, er ...« Dan trat einen Schritt zurück. »Ja, Doktor, das kann man wohl sagen. Wohlwollen, außerordentliches Wohlwollen ...« Er lachte bitter auf. Und dann berichtete er Freemont, was sich zugetragen hatte, seit sie in den Hafen von Plymouth eingelaufen waren. Doktor Freemont sagte kein Wort. »Keymis, Burton, immer dieselben Halunken. Und dieser fette Plymson - dieses ganze Gelichter sollte man doch ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn schlagartig wurde ihm klar, welche gefährliche Falle diese beiden Schurken Hasard gestellt hatten und der Seewolf drauf und dran war, diesen beiden Intriganten endgültig ins Netz zu gehen. Freemont kannte sich bei Hof gut genug aus, um sich ausmalen zu können, welch ein erbärmliches Spiel dort jetzt ablief. »Hasard schickt mich zu Ihnen, Doktor. Er möchte Sie sprechen, heute noch. Es geht um Gwen und die Kinder!« Der Arzt nickte. Er wandte sich Jane zu. »Ich werde heute noch einmal fort müssen. Ich weiß noch nicht, wie lange es dauern wird, bis ich zurück sein kann. Sollte
ich wider Erwarten bis morgen abend nicht hier sein, Jane, dann verschließt du das Haus und reist zu jener Adresse, die wir für solche Fälle vereinbart haben. Wirst du diese Anweisungen strikt befolgen, mein Kind?« fragte Freemont eindringlich und trat auf sie zu. Jane barg für einen Moment ihren Kopf an seiner Brust. »Onkel«, fragte sie schließlich mit erstickter Stimme, »glaubst du, daß dir Gefahr droht? Was könnte man dir denn vorwerfen? Ausgerechnet dir, du hast doch immer nur allen Menschen geholfen.« »Jane, beruhige dich. Ich glaube vorläufig gar nichts. Ein paar Freunde von mir sind aufgrund widerlicher Intrigen in Gefahr. Es könnte sein, daß ich ihnen ein paar Tage zur Seite stehen muß. Ich möchte aber auf keinen Fall, daß du diese Zeit über hier allein im Haus bist. Mach dir keine unnötigen Sorgen und jetzt versprich mir, daß du alles so tun wirst, wie ich es von dir erbeten habe. Um mich brauchst du keine Sorge zu haben, ich habe einflußreiche Freunde, aber die Zeiten sind unsicher. Viel zu viel Gelichter treibt sich bei Hof herum und versucht, Einfluß zu gewinnen. Sonst wäre das, was meinen Freunden von der ›Isabella‹ nun seit Monaten widerfahren ist, wirklich nicht zu verstehen.« Doktor Freemont strich dem Mädchen übers Haar. »Also, Jane, ich verlasse mich auf dich. Du verhältst dich genauso, wie wir es von Anfang an für diesen Fall, der eines Tages eintreten konnte, besprochen haben.« Dan hatte mit großen Augen zugesehen und auch zugehört. »Sie haben mit einer solchen ...«, er suchte nach einem passenden Wort, »Schweinerei gerechnet, Doktor?« Freemont nickte. »Ich mußte damit rechnen, oder glaubst du, mir wäre entgangen, was man alles unternommen hat, um an die Schätze der ›Isabella‹ zu gelangen? Diesen Geiern ist es nie um das Wohl unseres Landes gegangen, wohl aber darum, sich ihre
eigenen Taschen zu füllen. Aber sie werden sich noch alle wundern, das verspreche ich dir. Die Königin soll von den Hintergründen erfahren, schneller, als es allen diesen Kanaillen lieb ist. Mögen sie vielleicht heute, morgen und auch noch eine Zeitlang triumphieren, aber die Krone wird sie eines Tages zur Rechenschaft ziehen, so wahr ich Doc Freemont bin!« Der Arzt hatte sich in Zorn geredet - gewaltsam nahm er sich zusammen. »Ich werde jetzt rasch die Kutsche anspannen lassen, aber kutschieren werde ich selber. Reite du schon vor, Dan. Sag Hasard, daß ich unterwegs bin! Und grüß Gwen ...« Er überlegte einen Moment. »Wir sollten unbedingt wissen, ob die beiden Schiffe noch im Hafen liegen! Sie sind gefährlich, sie können eurer ›Isabella‹ jederzeit den Weg ins offene Meer abschneiden und euch zum Kampf stellen. Gerade das darf aber um keinen Preis geschehen. Die Folgen wären unabsehbar.« Damit hatte Doc Freemont genau das ausgesprochen, was vorher schon der Seewolf an Bord der ›Isabella‹ gesagt hatte. Dan reckte sich. »Keine Sorge, Doktor. Ich reite zum Hafen hinunter und sehe mich ein wenig um. Mit meinem Pferd bin ich dann immer noch eher bei Gwen und Hasard als Sie mit Ihrer Kutsche. Nein - warten Sie, Doktor. Ein Pferd und eine Kutsche, das ist für Bere Ferrers um diese Zeit viel zu auffällig. Schließlich ist es weit nach Mitternacht. Wir dürfen aber kein Aufsehen erregen, auf - keinen Fall. Warten Sie hier auf mich, wir fahren zusammen und schirren mein Pferd einfach mit ein.« Freemont überlegte. Was Dan sagte, stimmte. Doch, es war schon besser so, Dans Plan war gut. »Sei vorsichtig, Dan«, sagte er nur. »Der Hafen soll scharf bewacht sein, der Kai voller Soldaten ...« Dan lachte. »Nur keine Sorge, da sind wir auf der ›Isabella‹ ganz andere
Sachen gewöhnt!« Er ging, wenige Augenblicke später verriet das Klappern der Hufe auf dem Pflaster, daß Dan losgeritten war. * Dan näherte sich dem Stonehouse-District in Plymouth. Längst hatte er, sein Pferd in eine gemächlichere Gangart fallen lassen, obwohl es ihm in den Fingern juckte, einfach zum Hafen zu preschen. Aber er wußte, daß er nicht auffallen durfte, er hatte die Warnung des Doktors nicht vergessen. Als er sich schließlich dem Hafenbecken näherte, zügelte er sein Pferd. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, schlug sein Herz unwillkürlich schneller. Zwei Schiffe lagen am Kai, an Bord brannten mehr Deckslaternen als üblich. Die Schiffe klassifizierte Dan trotz der Entfernung sofort als eine sehr große und stark armierte Galeone und eine schnelle Karavelle ein. Dan kniff die Augen zusammen, es war mehr eine Reflexbewegung denn Notwendigkeit - Dan hatte die schärfsten Augen der ›Isabella‹-Crew. Die Karavelle stufte er sofort als äußerst gefährlich ein, er hatte Erfahrung mit diesen kleinen, schnellen und äußerst wendigen Schiffen. Nicht umsonst hatten die Seewölfe in der Karibik eine solche Karavelle gesegelt. Aber noch mehr Kummer bereitete ihm die Galeone. Dan hatte von diesen Schiffen gehört, die im Auftrag der Krone gebaut worden waren. Sie verfügten über außergewöhnlich schwere und weitreichende Geschütze, liefen trotz ihrer Schwere besonders vor dem Wind hohe Fahrt und waren sehr robust gebaut, so daß ihnen mit schwachen Kalibern kaum beizukommen war. Dan ließ sein Pferd langsam weitertrotten. Er mußte unter allen Umständen ergründen, ob diese beiden englischen Kriegsschiffe diejenigen waren, von denen der Hagere gefaselt
hatte, bevor er mit seinem Floß in der Nacht verschwunden war. Dan verhielt sich äußerst vorsichtig. Er zügelte sein draufgängerisches Temperament mit aller Gewalt. Doch gerade das verriet ihn, denn seit einiger Zeit beobachtete ihn Ray Bow, der Plymouth ebenfalls erreicht und bisher erfolglos versucht hatte, Keymis oder Burton aufzutreiben. Desgleichen war seine Suche nach seinem Bruder erfolglos geblieben. Die flackernden Feuer auf der Pier erhellten die Nacht, aber sie warfen auch lange, unruhige Schatten, in denen sich Ray Bow ausgezeichnet zu verbergen wußte. Seltsamerweise war auch der dicke Plymson nicht auf zutreiben - und das alles verbesserte die Laune des Hageren nicht. »Ich werde mir diesen Kerl doch mal ein wenig näher ansehen«, murmelte Ray Bow und verließ seine Deckung. Als er sich von dem Kistenstapel löste, spürte er sofort den eiskalten, scharfen Wind, der über die Pier fuhr. Dan hatte unterdessen sein Pferd abermals gezügelt. Ihm war klar, daß er nicht einfach auf die Pier reiten konnte. Er hätte damit weit mehr Aufmerksamkeit erregt, als ihm lieb war. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sein Pferd irgendwo in der schützenden Dunkelheit zurückzulassen und sich dann näher an die beiden Schiffe heranzuschleichen. Dan fand rasch eine geeignete Stelle. Er schlang den Zügel um das eiserne Geländer einer Treppe, die zu einem Lagerschuppen hochführte. Er klopfte dem Tier noch einmal beruhigend auf den Hals, dann huschte er über den Kai. Seine dunkle Kleidung ließ ihn mit der Dunkelheit verschwimmen, und für einen Moment hatte sogar Ray Bow ihn aus den Augen verloren. Der Hagere stieß eine Verwünschung aus. Der Kerl in dem dunklen Umhang wurde ihm immer unheimlicher. War das am Ende ein Geheimer? Dann hatte er allen Grund, sich dem Burschen nicht zu zeigen. Oder handelte es sich um einen
dieser verfluchten Seewölfe? Der Teufel mochte wissen, warum sie noch einmal zurückgesegelt waren. Plötzlich blieb Ray Bow ruckartig stehen. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Natürlich, er selbst war ja das Rindvieh gewesen, das den Seewölfen etwas von den beiden englischen Kriegsschiffen verraten hatte! Rindvieh? O nein, keineswegs, korrigierte er sich augenblicklich. Es war gut, daß er den Mund nicht gehalten hatte. Die Kerle saßen in der Falle! Es waren nur ein paar Meilen bis zur Wembury Bay. Schon die Karavelle genügte, um die ankernde ›Isabella‹ in Grund und Boden zu schießen. Die Galeone, das weitaus größere der beiden Schiffe, konnte die Ausfahrt sperren. Ray Bow hastete weiter. Er bewegte sich genau wie Dan auf den Kai zu - und Sekunden später hatte er Dan wieder entdeckt. Für einen Moment fiel das Licht einer der Lampen, die auf dem Kai standen, auf Dans Züge. Ray Bow erkannte ihn sofort. Er beherrschte sich nur mühsam. Seine Rechte zuckte zum Gürtel, in dem ein langes Messer steckte. »So, du Hundesohn, jetzt geht es dir an den Kragen!« zischte er und schnellte sich hinter dem Stapel leerer Fässer hervor, der ihm Deckung geboten hatte. Mit Riesensätzen flog der Hagere heran. Dan hörte ihn viel zu spät. Er schaffte es nicht einmal mehr, auszuweichen, Ray Bow überrannte ihn einfach und riß ihn zu Boden. Seine Rechte fuhr hoch, noch in der Bewegung drehte er das Messer und knallte Dan den schweren Griff auf den Schädel. Dan war ein zäher Bursche, aber diesen Hieb verkraftete er nicht. Er bäumte sich auf, gleich darauf wurde ihm schwarz vor Augen, sein Körper streckte sich. Ein paar Soldaten, die den Überfall beobachtet hatten, sprangen auf. Drohend näherten sie sich dem Hageren, der Dan eben vom Kopfsteinpflaster des Kais hochzerrte. Ein stämmiger Corporal trat auf den Hageren zu. »He, Freundchen!« sagte er. »Das ist doch wohl der Gipfel
der Frechheit! Der ganze Kai ist voller Soldaten, und dieser Bastard fällt hier, vor aller Augen, einen Bürger dieser Stadt an! Du brauchst eine verdammt gute Erklärung, wenn du nicht innerhalb der nächsten Minuten in Ketten gelegt werden willst!« Die Soldaten hatten um den Hageren einen Ring gebildet. Ray Bow erkannte ihre drohenden Gesichter, und doch grinste er ihnen frech ins Gesicht. »Einen Bürger dieser Stadt?« fragte er, und seine Stimme troff vor Hohn, während er Dan wie ein geschlachtetes Kaninchen am Kragen hielt. »Ich will dir sagen, du Dummkopf, wer dieser Kerl hier ist: Er ist einer der Seewölfe, und das Schiff dieser dreimal verfluchten Teufelsbrut liegt in der Wembury Bay, unweit von Newton Ferrers in einer versteckten Bucht!« Der Corporal trat einen Schritt zurück. »Kerl, was sagst du da? Die Seewölfe ...« »Halt jetzt keine langen Reden. Ich will mit diesem Gefangenen sofort zum Kommandanten des Geschwaders gebracht werden. Sofort, verstanden? Wenn du dich weigerst, wenn diese Rebellen durch deine Schuld entwischen, dann gnade dir Gott! Hast du das begriffen ?« Der Corporal, dessen Miene sich verfinstert hatte und dessen Soldaten bei den ersten Worten Ray Bows den Ring bedrohlich enger geschlossen hatten, stoppte seine Männer mit einer Handbewegung. Er hatte die Tragweite dessen, was der Fremde da soeben berichtet hatte, erkannt. »Schafft den Kerl zur »Albion«, ruft die Wache!« Die Soldaten packten zu. Ray Bow und der bewußtlose Dan wurden zur Galeone hinübergebracht. »Wenn du mich angelogen hast, Freundchen, und dieser Kerl da nicht zu den Seewölfen gehört, dann lernst du mich kennen!« Ray Bow antwortete nicht. Er ließ Dan, der von zwei
Soldaten getragen wurde, nicht aus den Augen. Dans Blondschopf färbte sich rot, aus einer Platzwunde am Hinterkopf sickerte Blut in seine Haare. Der Hieb hatte ihn voll erwischt, aber so bewußtlos, wie Dan tat, war er nicht. Nach und nach begannen seine fünf Sinne wieder zu arbeiten. Ganz gegen seine Gewohnheit verhielt Dan sich still. Er wollte erst einmal klarsehen, was eigentlich passiert war und wer ihn so feige von hinten angefallen und niedergeschlagen hatte. Außerdem hatte er das Gefühl, als ob Ferris Tucker seinen Schädel mit dem schweren Zimmermannshammer bearbeitete. * »He, was gibt’s?« Die Wache von der ›Albion‹ peilte über das Schanzkleid der Galeone. »Ruf den Kommandanten, und zwar ein bißchen dalli, klar?« brüllte der Corporal zurück. Die Wache warf ihm einen schiefen Blick zu. »Vielleicht möchtest du auch gleich die Queen sprechen? Ich glaube, die Lissy hat gerade Audienz. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, he? Der Kommandant hat eine Besprechung mit zwei Typen vom Land. Wenn ich den jetzt wegen irgendeines Blödsinns störe, dann macht der mir Feuer unterm Hintern. Und jetzt verzieh dich, Freund, ich gebe dir später Bescheid.« Dem Corporal schwoll der Kamm. »Hör zu, du Penner: Ich habe hier einen Gefangenen. Der Kerl gehört angeblich zu den Seewölfen. Und dieser Mister da, der weiß angeblich, wo die ›Isabella‹, mit der diese Rebellenbande getürmt ist, sich versteckt hat. Also mir ist’s egal, du kannst dem Kommandanten Bescheid sagen oder auch nicht. Aber wenn durch deine Schuld diese Kerle entwischen, na, in deiner Haut möchte ich dann nicht stecken!« Über dem Schanzkleid der ›Albion‹ waren ein paar mehr
Gesichter aufgetaucht. Plötzlich entstand Bewegung an der Planke, die zum Kai führte. Das fahlgelbe Gesicht des Friedensrichters tauchte neben dem Wachsoldaten auf. Keymis, der die letzten Worte des Corporals ebenfalls gehört hatte, stürzte zur Planke vor. »Was sagst du da?« schrie er. »Du willst einen der Seewölfe gefangen haben, und die ›Isabella‹ soll sich irgendwo versteckt haben?« Er blieb ruckartig stehen und starrte Dan an. Gleich darauf stürmte er auch schon über die Planke. »Zum Teufel, diesen Bastard da kenne ich doch. Das ist tatsächlich einer dieser Seewölfe. Warte, Bürschchen, mit dir werde ich mich jetzt ...« Keymis hatte den Kai erreicht, und oben an Deck tauchte Burton mit dem Kommandanten der Galeone auf. Dan hatte das alles gehört. Wenn er immer noch wie bewußtlos im Griff der beiden Männer hing, die ihn über den Kai zur ›Albion‹ geschleift hatten, dann nur deshalb, weil er mehr hören wollte. Dan warf einen vorsichtigen Blick zur Galeone hinüber, dabei öffnete er seine Lider nur für einen Spalt. Die verhaßte Stimme des Friedensrichters hatte er erkannt, und ihm war klar, daß er jetzt sofort handeln mußte. Sein Schädel schmerzte zwar immer noch höllisch, aber sonst gehorchten ihm seine Glieder wieder völlig. In der herrschenden Dunkelheit fiel es nicht auf, daß er die Augen einen winzigen Spalt breit geöffnet hatte. Die flackernden Feuer auf dem Kai befanden sich in seinem Rücken, die Deckslaternen der Galeone reichten mit ihrem Schein nicht bis auf die Pier. Keymis schoß auf ihn zu. Sein Ziegenbart zuckte, und schon streckte er die Krallenhände nach Dan aus. In diesem Moment handelte Dan. Er mußte den Seewolf warnen. Die beiden englischen Kriegsschiffe stellten eine
tödliche Gefahr für die ›Isabella‹ dar. Sie konnten ihr den Weg abschneiden. Keymis war heran - und Dan riß sich von den beiden völlig überraschten Soldaten los. Gleichzeitig entriß er dem Corporal die Pistole, deren Hähne bereits gespannt waren. Dan hob die Waffe, drückte blitzschnell ab und traf Burton, der eben die Planke hinunterlief, in die Schulter. Burton schrie auf, kippte zur Seite und verschwand brüllend gleich darauf in dem Spalt zwischen Kai und Galeone. Dan hörte nicht hin, er rammte dem verhaßten Friedensrichter den Schädel in den Leib und katapultierte ihn damit ebenfalls ins Wasser. Dann packte er die Pistole und wirbelte herum. Aus der Drehung heraus traf er den Corporal und Ray Bow, der sich mit einem Wutschrei auf ihn stürzen wollte. Der Schlag hatte so viel Wucht, daß er die zwei Männer augenblicklich von den Füßen holte. An Bord der Galeone schrien die Seesoldaten, die Wache riß die Muskete hoch und feuerte. Die Kugel verfehlte Dan nur um Haaresbreite. Unter den Soldaten auf dem Kai herrschte ein höllischer Tumult. Dan nutzte das Durcheinander. Mit ein paar Sätzen verschwand er in der schützenden Dunkelheit, nutzte geschickt jede sich bietende Deckung und erreichte innerhalb wenigen Minuten sein Pferd, das noch immer an jenem Lagerschuppen stand, wo er es angebunden hatte. Er nahm sich nicht mehr die Zeit, den Zügel loszubinden, er durchtrennte ihn mit einem einzigen Hieb seines Entermessers, das man ihm noch nicht abgenommen hatte, weil es unter dem dunklen Umhang, den er auch noch immer trug, verborgen gewesen war. Mit einem Sprung war Dan im Sattel und jagte durch die nächtlichen Straßen des Stonehouse Districts davon. Er mußte zunächst zu Doc Freemont, und mit ihm zum Landhaus in Bere Ferrers, und zwar so rasch wie möglich. Jede Stunde zählte von
jetzt an, denn Dan zweifelte nicht daran, daß die beiden Kriegsschiffe sofort auslaufen würden, sobald der englische Geschwaderkommandant erfuhr, wo sich die ›Isabella‹ verbarg. Hinter ihm verklang das Gebrüll der Soldaten, die plan und sinnlos durch die Nacht rannten, um ihn zu erwischen. Und Dan ahnte auch nicht, daß sein Hieb mit der Pistole sowohl den Corporal als auch Ray Bow weit schwerer getroffen hatte, als vorauszusehen. Dadurch erhielt die ›Isabella‹ abermals eine kurze Galgenfrist. Denn die beiden Männer, die als einzige wußten, wo sich das Schiff der Seewölfe verbarg, waren nicht vernehmungsfähig. Keymis und Burton fischte man aus dem Hafenbecken. Während der Friedensrichter vor Wut geradezu schäumte, wimmerte Burton nur noch vor sich hin. Eine der beiden Kugeln hatte ihn in die Schulter getroffen, und der Schiffsarzt der ›Albion‹ hatte alle Mühe, die Kugel aufzuspüren und wieder zu entfernen. 4. Um dieselbe Zeit herrschte im Landhaus Doktor Freemonts eine gedrückte Stimmung. Die beiden kleinen Söhne Hasards schliefen fest. Aber Gwen und ihr Mann saßen in der Wohnstube. »Gwen«, sagte der Seewolf eben, »ich verstehe einfach nicht, warum man meine Männer und mich dauernd verleumdet, verfolgt und möglicherweise an den Galgen bringen will. Was, zum Donnerwetter, haben wir denn anderes getan als unsere Pflicht? Haben wir uns nicht jahrelang in der neuen Welt für dieses Land geschlagen? Haben wir der Krone denn nicht ein Schiff voller Schätze gebracht? Neidet man uns etwa unseren Anteil, neidet man uns unseren Erfolg?«
Um Hasards Mundwinkel hatten sich bittere Linien gegraben. Er sah Gwen fragend an, aber dennoch schien sein Blick irgendwie durch seine Frau hindurchzugehen. Gwen beobachtete das, und zum erstenmal drückte ihr feines Gesicht Sorge aus. »Es gibt immer und überall Neider. Nach allem, was du erzählt hast, kann ich mir nicht denken, daß die Königin wirklich an deine oder eure Schuld glaubt. Man hat sie gezwungen, den Haftbefehl zu unterschreiben, denn auch die Königin darf das Recht dieses Landes nicht brechen. Und vielleicht, Hasard, war es nicht klug, auf und davon zu segeln!« Gwen hatte leise gesprochen, aber Hasard entging nicht, daß ihre Stimme zitterte. Er zog sie in seine Arme. »Ich habe das alles nicht gewollt. Aber sollte ich ein solches Risiko eingehen? Bin ich meinen Männern, die all die Jahre mit mir gekämpft haben, die nie gezögert hätten, ihr Leben für England hinzugeben, bin ich diesen Männern denn nicht ein wenig mehr schuldig? Ich konnte sie der Ungewißheit eines Prozesses nicht überantworten. Sie sind freie Menschen, sie hätten für eine solche Haltung nicht das geringste Verständnis gezeigt. Nein, Gwen, dieser Weg war für mich und sie unmöglich. Und wenn du Keymis und Burton gesehen hättest, diese beiden Kanaillen, wie sie vor Angst auf dem Pier herumgekrochen sind, der letzte Soldat muß begriffen haben, aus welchem Holz, von welchem Schlag diese beiden Kerle in Wirklichkeit sind.« Er zog Gwen noch fester an sich, aber dann ließ er sie plötzlich los. »Was wird nun aus dir, aus den Kindern? Du willst nicht mit an Bord, und ich verstehe deine Gründe. Aber glaubst du wirklich, daß man dich hier in Ruhe leben lassen wird, wenn dein Mann England als Rebell, als Pirat verläßt?« Gwen strich dem Seewolf übers Haar. »Du brauchst um mich und die Kinder keine Sorge zu haben,
Hasard«, sagte sie. »Doktor Freemont hat mächtige und einflußreiche Freunde bei Hof. Er wird seinen ganzen Einfluß einsetzen, um dir zu helfen, um all jene Intriganten und Neider zum Schweigen zu bringen, die heute noch glauben, dich mit dieser letzten Intrige erledigt zu haben.« Sie lehnte ihren Kopf an Hasards Brust. »Außerdem haben zu viele Menschen gehört, was du in Plymouth zu dem königlichen Hofbeamten gesagt hast. Man wird es der Königin hinterbringen, und verlaß dich darauf, sie wird darüber nachdenken.« Hasard nickte. »Vielleicht hast du recht, Gwen«, murmelte er. Vielleicht sehe ich das alles viel zu schwarz. Es war noch nie meine Art, aufzugeben.« Er richtete sich plötzlich auf. »Komm, wir wollen die wenigen Minuten, die uns noch verbleiben, nicht so verstreichen lassen. In längstens einer Stunde werden Doc Freemont und Dan eintreffen. Eigentlich könnten sie schon Hiersein, aber wer weiß, vielleicht hat Dan auch auf den Doktor warten müssen. Es bleibt wenigstens dabei, daß der Doktor Jean Ribault und Karl von Hutten verständigen wird. Ich werde ruhiger sein, wenn ich weiß, daß du unter ihrem Schutz stehst. Vielleicht werden sie dir raten, England zu verlassen. Wenn sie es tun, Gwen, dann versprich mir, daß du ihrem Rat folgen wirst, ja?« Gwen nickte. »Das verspreche ich, Hasard.« Sie küßte ihn, und sie preßte sich an ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. * Eine Stunde später schreckte Hufgeklapper Gwen und den Seewolf hoch. So rasch es ging, fuhren der Seewolf und Gwen in ihre Kleider. Dann wurde auch schon ungeduldig gegen die
schwere, eichene Tür des Landhauses geklopft. Allein schon an der Art des Klopfens erkannten Hasard und Gwen, daß Unheil im Anzug war. Während der Seewolf zur Tür eilte, fuhr er sich durch seine langen schwarzen Haare. Nicht jeder mußte wissen, daß er gerade noch in Gwens Armen gelegen hatte. Dan drückte die Tür förmlich auf, und der Doc folgte ihm auf dem Fuße. Dan nahm sich nicht erst die Zeit, seine Schwester zu begrüßen. Er eilte auf Hasard zu. Unmittelbar vor ihm blieb er stehen. »Hasard«, stieß er aufgeregt hervor, »wir müssen hier weg. Sofort. Oder sie haben uns!« Der Seewolf spürte, wie ihn da plötzlich die Gefahr aus dem Hinterhalt geradezu ansprang. Er packte Dan bei den Schultern. »Was soll das heißen?« fragte er, und seine Stimme hatte plötzlich einen heiseren Klang. »Wieso müssen wir hier weg, was, zum Teufel, ist passiert?« Gwen war zu den beiden getreten, ebenfalls der Doktor. Der Seewolf wandte sich zu Freemont um. »Entschuldigen Sie Doktor, daß ich Sie noch nicht begrüßt habe und Ihnen noch gar nicht für all das, was Sie für Gwen getan haben, danken konnte. Aber ich ...« Freemont winkte ab. »Vergessen Sie es, Mister Killigrew. Was ich getan habe, war mir ein Herzensbedürfnis. Aber Dan hat recht, Sie müssen weg, Sie und Ihre Männer und Ihr Schiff, und zwar so schnell wie möglich!« Dan schnitt dem Doktor das Wort ab. »Ja, im Hafen von Plymouth liegen zwei englische Kriegsschiffe. Eine Galeone, ein gefährliches, stark armiertes und ungewöhnlich großes Schiff, und eine Karavelle, die auch nicht ohne ist. Schnell und rank. Dazu ein ganzer Haufen Seesoldaten!« »Und was hat das alles mit uns zu tun? Was können die denn gegen uns unternehmen, sie wissen doch gar nicht, daß wir in
der Wembury Bay ankern.« »Doch, das ist ja eben. Sie wissen es. Dieser Strolch, den wir auf See ausgesetzt haben,, hat die ›Isabella‹ entdeckt. Ich weiß nicht wieso, aber er kennt unser Versteck, und ich gehe jede Wette ein, daß die beiden Kriegschiffe schon jetzt den Hafen verlassen haben, um uns den Weg in die offene See abzusperren!« Der Seewolf zog die Brauen zusammen. Und dann hörte er zu, wie Dan alles das hervorsprudelte, was ihm seit ihrer Trennung in Plymouth widerfahren war. Gwen war bleich geworden. Sie atmete schwer, denn sie erkannte sofort, was diese Nachricht zu bedeuten hatte. Doch so gefaßt sie sich auch gab, sie brauchte dennoch eine ganze Weile, um den Schock, den diese Nachricht in ihr auslöste, zu überwinden. Eines allerdings stand auch für sie fest: Hasard und seine Männer mußten fort, unverzüglich! Dan war fertig. »Mit diesen Bastarden muß der Teufel im Bunde sein. Immer wieder entwischen die Kerle, und dann haben wir sie wieder auf dem Hals!« tobte Dan. »Und jetzt, was soll jetzt werden? Verdammt, Hasard, wir sollten längst zur Wembury Bay unterwegs sein, denn wenn die Galeone und die Karavelle vor der Bucht aufkreuzen, bevor wir mit der ›Isabella‹ da wieder raus sind, dann ist es aus mit uns!« Gwen schaltete sich ein. »Du mußt weg, Hasard. Jede Minute ist jetzt kostbar für euch alle. Du darfst auf mich nicht mehr die geringste Rücksicht nehmen. Ich komme mit den Kindern schon durch, ich werde ...« Hasard war mit einem Schritt bei Gwen. »Warte, Gwen. Einen Augenblick. Dan, schirr du schon die Pferde aus, wir reiten, ich habe noch eine Minute mit Gwen und Doktor Freemont etwas zu besprechen. Tränke die Pferde noch einmal, damit sie nachher durchhalten, ihr habt sie jetzt die ganze Strecke vor der Kutsche schon gejagt.«
Dan flitzte los. »Und nun zu uns, Gwen. Diese Entwicklung konnte niemand von uns voraussehen. Aber du hast recht, ich darf jetzt keine Zeit mehr vergeuden, oder die Engländer haben die ›Isabella‹ in der Falle. Hört zu, Sie bitte auch, Doktor.« Er wandte sich Freemont zu. »Verständigen Sie Jean Ribault und Karl von Hutten. Die beiden werden sich um Ihre, Gwens und der Kinder Sicherheit kümmern. Sie halten sich in Torbay auf, in der Barton Street 8. Sie waren in Frankreich, sind aber zurückgekehrt, um sich hier ebenfalls nach einem Schiff umzusehen. Es hält die beiden nicht an Land. Ich erfuhr das alles von dem Hafenkommandanten in Plymouth, der ein aufrechter und ehrlicher Mann ist und bei dem Ribault bereits war und nach der ›Isabella‹ gefragt hat. Vergeblich, denn wir befanden uns zu dieser Zeit noch auf See.« Er sah Gwen an, einige Sekunden lang, dann zog er sie in seine Arme. »Gwen, es ist das beste für dich und die Kinder, wenn Ribault und von Hutten euch an die französische Küste schaffen. Ribault hat dort ausgezeichnete Verbindungen und sehr gute Freunde, die für ihn und seine Freunde alles tun. Dort seid ihr ini Sicherheit - hier nicht mehr. Ich kenne dieses Geschmeiß jetzt zur Genüge, ich weiß, daß diese Kerle auch davor nicht zurückschrecken werden, sich an dich und die Kinder heranzumachen, wenn sie mir und meinen Männern damit schaden können. Nein, du mußt hier weg und die Kinder auch.« Doktor Freemont hatte genickt. »Ihr Mann hat völlig recht, Mistress Killigrew«, sagte er nur. »Ich habe einen zuverlässigen, sehr guten Mann, den ich nach Torbay schicken werde. Er bringt die beiden schneller hierher, als ich es kann. Außerdem, ich mag und will Sie jetzt mit den Kindern nicht allein lassen. Leben Sie wohl, Mister Killigrew,
ich werde mich jetzt sofort um alles kümmern.« Dem Seewolf entging nicht, daß Doc Freemont die Tränen in den Augen standen, als er sich abrupt abwendete und den Raum verließ. Hasard zog Gwen ein letztes Mal in die Arme. »Paß auf dich auf, Liebes. Auf dich und die Kinder. Ich kann dir nicht sagen, wie schwer es mir wird, dich und die beiden Kleinen jetzt, in dieser Lage, allein lassen zu müssen. Aber ich habe keine Wahl.« Er preßte Gwen an sich und küßte sie. »Ich komme wieder, verlaß dich darauf. Ganz gleich, was man dir alles sagen wird. Ich komme wieder und hole euch, aber vorher rechne ich mit diesem Gesindel ab. Meine Söhne sollen keinen Piraten zum Vater haben und meine Frau keinen Rebellen zum Mann.« Gwen erwiderte seinen Kuß. »Leb wohl, Hasard. Ich liebe dich, und ich werde dich immer lieben, solange ich lebe. Und jetzt reite, ich werde beten, daß Dan und du noch rechtzeitig an Bord seid, um den Engländern zu entkommen!« Sie drängte ihn zur Tür, und es kostete sie fast übermenschliche Kraft, sich ihren ganzen Kummer, ihre Verzweiflung und ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Sie blickte den beiden noch nach, als sie mit ihren Pferden in die Nacht hinausstürmten. Und einmal war es ihr, als habe Hasard ihr aus der Dunkelheit noch einmal zugewinkt. Hasard und Dan ritten wie die Teufel durch die Nacht. Es war ihnen klar, daß von nun an jede Minute zählte. Der Seewolf befand sich in einem inneren Aufruhr, wie er es selber nie für möglich gehalten hätte. Immer wieder stellte er sich die Frage, ob er es überhaupt verantworten könne, Gwen in dieser Situation alleingelassen zu haben. Aber er hatte keine Wahl. Es ging um das Leben seiner Männer. Doch nicht nur das, es ging jetzt darum, ob die beiden Schurken Keymis und Burton es wirklich schafften, den Seewolf und seine Besatzung
zu erledigen. Hasard knirschte vor Wut mit den Zähnen. Unwillkürlich feuerte er sein Pferd noch mehr an, und Dan hatte Mühe, ihm zu folgen. * Um etwa dieselbe Zeit saß Sir Daniel Nottingham, der Chef des englischen Geschwaders, in seiner Kapitänskammer. Seine grauen Augen blickten den tobenden Keymis an, und um seine Mundwinkel spielte ein verächtlicher Zug. Nottingham war ein schlanker großer Mann. Seine Haare waren bereits ergraut, seine Gesichtshaut zeigte die typischen Falten und Runen, wie sie Wind und Wetter in die Züge von Menschen graben, die den größten Teil ihres Lebens auf der offenen See verbringen. »Ich begreife Sie nicht, Nottingham«, geiferte der Friedensrichter. »Sie wissen genau, wo sich die Rebellen mit ihrem Schiff verborgen haben, und sie liegen hier im Hafen herum und tun nichts, absolut nichts. Laufen sie gefälligst aus, bringen Sie diese Kerle endlich dorthin, wohin sie gehören, an den Galgen!« Sir Nottingham hatte sich erhoben, seine grauen Augen blitzten den Friedensrichter an. »Überlassen Sie es mir, Mister Keymis, was ich unternehmen werde oder was nicht. Und im übrigen wünsche ich nicht, daß Sie sich an Bord meines Schiffes aufführen wie ein Verrückter. Für Sie bin ich Sir Nottingham, verstanden?« Der Friedensrichter kroch in sich zusammen. Der scharfe Ton, den dieser sonst so ruhige und bedächtige Mann plötzlich anschlug, brachte ihn völlig aus dem Konzept. »Aber diese Kerle entwischen Ihnen, Nott ..., ich meine Sir Nottingham«, stieß Keymis hervor. »Es ist Ihre Pflicht ...« Sir Nottingham bedachte den Friedensrichter mit einem
eiskalten Blick. »Ich kenne meine Pflichten genau. Ich werde den Befehl zum Auslaufen jetzt geben. Und Sie, Mister Keymis, verlassen jetzt mein Schiff.« Er wandte sich einem hochgewachsenen Offizier zu. »Mister Scinders, auch Sie verfügen sich jetzt an Bord Ihres Schiffes. Wir laufen innerhalb der nächsten halben Stunde aus. Nur noch.eins: Jedwede Aktion gegen die Seewölfe findet nur auf meinen ausdrücklichen Befehl hin statt. Die entsprechenden Signale sind Ihnen bekannt. Ich verbiete ausdrücklich jedes eigenmächtige Vorgehen, Mister Scinders, haben wir uns in diesem Punkt verstanden?« Leutnant Scinders blickte seinen Vorgesetzten an. In seinem bleichen Gesicht zuckte es. Sein schmallippiger Mund wirkte verkniffen, und sein hochgewachsener Körper schien sich zu straffen. »Ehrlich gesagt, Sir, ich verstehe nicht ganz«, schnarrte er abweisend. »Unsere Aufgabe und unsere Pflicht sind es, diese verdammten Rebellen festzunehmen, weil sie sich gegen die Befehle der Krone gestellt haben. Und nicht nur das, diese verdammten Piraten haben sogar ...« »Mister Scinders, ich pflege meine Befehle nicht zu diskutieren. Aber ich will Sie und Mister Keymis dennoch auf etwas hinweisen, was Sie beide offenbar vergessen haben. Nach englischem Recht ist jeder unschuldig und auch als Unbescholtener zu behandeln, solange ihm seine Schuld nicht bewiesen wurde. Eine Verurteilung Mister Killigrews und seiner Männer ist aber meines Wissens noch nicht erfolgt. Unser Auftrag lautete bisher lediglich, ihn und seine Männer daran zu hindern, mit ihrem Schiff in See zu gehen. Sie vergessen offenbar völlig, daß diese Männer, die man in ganz Cornwall als Seewölfe bezeichnet, unserem Land hervorragende Dienste geleistet haben. Und ich gestehe es Ihnen ganz offen: Noch nie habe ich einen Befehl so ungern
ausgeführt wie diesen. Ich bin von der Schuld dieser Männer keineswegs überzeugt. Mein Eid, den ich der Königin geleistet habe, zwingt mich jedoch, gegen den Seewolf und seine Männer vorzugehen. Wenn es sein muß, sogar gegen diese Männer zu kämpfen. Aber den Befehl, ob gekämpft wird oder nicht, den gebe ich ganz allein, wie ich alles, was in den nächsten Stunden geschehen wird, auch allein verantworten werde.« Leutnant Scinders starrte seinen Kommodore an. Er fuhr sich durch sein rötliches Haar, und die gebogene Nase schien noch stärker aus seinem Gesicht hervorzuspringen, als dies ohnehin schon der Fall war. »Ich bin Offizier Ihrer Majestät, der Königin von England, Sir. Ich bin Kommandant Ihrer Majestät Kriegskaravelle ›Hermes‹, ich erachte es als meine Pflicht, Subjekten gegenüber, die der Rebellion gegen die Krone schuldig sind, keinerlei Nachsicht zu üben. Ich werde keinen Befehl entgegennehmen, der mich an der Ausübung meiner Pflichten hindert.« Er salutierte. »Und auch ich werde zu verantworten wissen, was ich meinen Männern befehle.« Scinders verließ hochaufgerichtet die Kapitänskammer Sir Nottinghams. Keymis folgte ihm augenblicklich. Er witterte in diesem Mann einen neuen Bundesgenossen zur Durchführung seiner Pläne. Keymis eilte Scinders nach, und noch an Deck der ›Albion‹ holte er ihn ein. »Einen Moment noch, Mister Scinders!« rief er. »Sie wünschen?« Der Leutnant war stehengeblieben. Um seine Mundwinkel spielte ein arroganter Zug. »Mister Scinders, ich bin Bevollmächtigter der Krone, ich ...« »Es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, mit Zivilisten zu diskutieren. Ich weiß, was ich zu tun und zu lassen habe. Guten Tag!«
Der Leutnant drehte sich um und verließ die ›Albion‹. Keymis starrte ihm voller Verblüffung hinterher. Er begriff in diesem Moment gar nichts mehr. Der eine sympathisierte offenbar mit diesem verfluchten Seewolf, der andere schien indessen noch verrückter und unberechenbarer zu sein. Der Friedensrichter lief vor Wut rot an. Im Eiltempo verließ auch er das Schiff. Auf der Planke, die zum Kai führte, rutschte er aus und stürzte auf das Kopfsteinpflaster der Pier. Fluchend rappelte er sich wieder auf. Ein paar Augenblicke später verschwand er im Hinterzimmer der »Bloody Mary«, wo er den dicken Plymson und den immer noch mit schmerzverzerrtem Gesicht herumhockenden Burton vorfand, der einen dicken Verband um die eine Schulter trug. Aber.es waren noch zwei andere Männer da. Keymis blieb wie angewurzelt stehen, aber schon watschelte der dicke Plymson heran und deutete auf einen stämmigen, untersetzten Burschen, der schon auf den ersten Blick hin äußerst gefährlich wirkte. »Dies hier, Mister Keymis, ist Pete Bow, der Bruder von dem Hageren da. Und ich glaube, er hat einige interessante Neuigkeiten für Sie.« Keymis trat näher, seine Züge nahmen einen lauernden Ausdruck an. »Was für Neuigkeiten?« fragte er. »Betrifft es diese verfluchte Rebellenhure?« Er meinte damit Gwen. Pete Bow nickte. »Ich kenne den Ort, in dem sie sich versteckt hielt. Bis gestern hatte ich noch Zweifel, aber jetzt weiß ich es.« »Wo ist sie?« Der Friedensrichter fuhr wie ein Geier auf Pete Bow los. Aber der wehrte ihn lässig mit einer Hand ab. »So, wie Sie sich das denken, Mister Keymis, geht es nicht. Ich habe mir jetzt ein paar Tage und Nächte um die Ohren geschlagen, beinahe hätte mich dieser Seewolf umgebracht. Ehe ich überhaupt aussage, möchte ich etwas sehen, klar?«
Ray Bow hatte sich den beiden aus dem Hintergrund genähert. »Richtig, Pete«, sagte er. »Ich habe diesem Gent vorhin einen der Seewölfe ans Messer geliefert, aber der Kerl ist auch wieder entwischt. Nicht durch meine Schuld, sondern durch die Unfähigkeit dieser verblödeten Soldaten. Auch ich will jetzt endlich etwas sehen. Andernfalls können diese Gentlemen Ihren Dreck allein machen.« Keymis wollte auffahren, aber Pete Bow stoppte ihn sofort. »Hat gar keinen Zweck, Mister, wenn Sie Krach schlagen. Oder glauben Sie, ich hätte Ihr dreckiges Spiel nicht längst durchschaut? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich? Mir ist es egal, in was für einem Spiel ich mitmische, solange sich die Sache für mich lohnt! Also, was ist?« Keymis zog wutbebend ein paar Goldstücke aus der Tasche und reichte sie Pete Bow und seinem Bruder. »Vergessen Sie nicht, daß Sie mit einem Bevollmächtigten der Krone reden!« fuhr er Pete Bow an. Aber der lachte nur. »Ihr Verhältnis zur Krone interessiert mich einen Dreck, Mister. Aber wenn Sie mit meinem Bruder oder mir die linke Tour versuchen, dann werden Sie das nicht überleben. In meinen Kreisen wird da nicht lange gefackelt.« Er hatte sein langes Messer gezogen und fuhr wie unabsichtlich mit dem Daumen über die scharfe Klinge. Keymis wurde totenbleich, diese Kerle wurden ihm immer unheimlicher. Aber er riß sich zusammen, denn jetzt galt es, Gwen zu erwischen. Aus ihr mußte so allerhand herauszuholen sein. Um diese beiden Kerle konnte man sich später auch noch kümmern. Er ging zu Burton hinüber und tuschelte eine Weile mit ihm. Der dicke Plymson sperrte zwar seine Ohren auf, aber er hörte nichts weiter, als daß Burton einmal sagte: »Sie muß etwas wissen, Keymis. Ich sage dir, sie wird auspacken, wenn wir sie erst ...« Der Rest ging wieder unter
Keymis richtete sich auf. »Plymson, besorgen Sie noch ein paar zuverlässige Männer. Wir brechen so rasch wie möglich auf. Wir werden dieses Rebellenweibsbild ...« »Keine weiteren Männer, Mister Keymis. Mein Bruder, Sie, Mister Burton und ich. Sonst niemand, oder Sie müssen auf unsere Mitwirkung verzichten!« Keymis fuhr hoch, aber wieder beherrschte er sich. Vielleicht hatte dieser Kerl sogar recht: Aufsehen mußte er vermeiden. »Also gut, wo ist sie ?« Pete Bow flüsterte Keymis etwas ins Ohr, und Keymis wurde blaß. Burton ebenfalls, als er diese Neuigkeit von seinem Spießgesellen erfuhr. »Mein Gott, ausgerechnet im Landhaus von diesem Arzt!« stöhnte er. »Wissen Sie, Keymis, über welche Verbindungen dieser Mann verfügt?« Der Friedensrichter nickte. »Er hat Rebellen Unterschlupf gewährt. Er hat einen Rebellen bei sich versteckt, er hat mit diesem Seewolf konspiriert, das genügt, Burton. Außerdem ...« Wieder senkte sich seine Stimme zu einem unhörbaren Flüstern. Plymson sah, wie Burton ein paarmal eifrig nickte, und dann sogar seine Schmerzen vergessen zu haben schien, denn er sprang plötzlich auf. »Plymson, besorgen Sie eine Kutsche, sofort!« herrschte er den dicken Wirt an. »Groß genug für vier Personen, beeilen Sie sich, es ist mir völlig gleichgültig, wie Sie das anstellen, verstanden?« Plymson nickte. Ihn packte plötzlich die Angst. Er spürte, daß er sich da auf eine Sache eingelassen hatte, die ihn leicht den Kopf kosten konnte. Aber er saß in der Klemme, er konnte jetzt nicht mehr aussteigen. Als er den Raum verlassen hatte, rann ihm der Schweiß über den fetten Körper, und in diesem Moment wünschte er, daß er
Keymis und Burton nie im Leben gesehen hätte, genauso die beiden Bow-Brüder. 5. Hasard und Dan erreichten die versteckte Bucht in der Wembury Bay noch vor dem Morgengrauen. Sie sahen sofort, daß die ›Isabella‹ dort noch friedlich vor Anker lag, aber das wollte nichts heißen. Niemand von ihnen wußte, wann und ob die beiden englischen Kriegsschiffe den Hafen von Plymouth verlassen hatten. Aber wenn sie ausgelaufen waren, dann begünstigte der aus Westen wehende Wind ihr Vorhaben in dem gleichen Maße, wie er der ›Isabella‹ das Auslaufen aus der Wembury Bay erschweren würde. Der Seewolf parierte sein Pferd. »Dan, sattle die Tiere ab und laß sie dann laufen. Die Leute werden sie finden, oder sie finden von selbst in ihren Stall zurück. Wir haben keine Zeit, uns weiter um die Tiere zu kümmern. Anschließend kommst du sofort an Bord.« Dan nickte nur. Er begann sofort mit der Arbeit, dann versetzte er den beiden Tieren einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil, daß sie wiehernd davonstoben. Inzwischen hatte sich der Seewolf durch laute Rufe bemerkbar gemacht. An Bord der ›Isabella‹ wurden ein paar Deckslaternen entzündet, dann erklang die Stimme Ben Brightons. »Hasard, ho! Warte, wir holen dich, ich lasse ...« »Ben, sofort alle verfügbaren Boote bemannen. Purr die Kerls aus ihren Kojen. Sofort Anker lichten, und dann die ›Isabella‹ in Schlepp. Beeilt euch, oder die beiden Kriegsschiffe schneiden uns den Weg ins offene Wasser ab.« Ben verstand zwar nicht alles, aber er begriff, daß größte Eile
geboten war. Er wechselte ein paar Worte mit dem Profos, der eben zu ihm getreten war. Gleich darauf dröhnte die gewaltige Stimme Carberrys über Deck, und auf der ›Isabella‹ wurde es lebendig. Das Boot, das noch längsseits lag, mit dem Dan und Hasard zuvor an Land gerudert worden waren, stieß ab. Die beiden anderen, weitaus größeren Boote wurden zu Wasser gefiert. Das Fluchen der Männer, die genau wußten, welche Knochenarbeit ihnen bevorstand, drang bis zu Hasard und Dan hinüber. Dan O’Flynn grinste. »Ich glaube, der alte Carberry hat die Burschen ganz hübsch aufgeschwänzt. Na, dann wollen wir mal!« Er spuckte in die Hände und sprang in das Boot, das eben ans Ufer stieß. Der Seewolf und Dan gingen erst gar nicht an Bord, sondern übernahmen gleich eine Schleppleine und gesellten sich zu den anderen beiden Booten, die eben damit begannen, das Schleppgeschirr zu klarieren, während Ferris Tucker und ein paar Männer den Anker im Rekordtempo hochhievten. Jeder befahrene Mann hätte seine helle Freude daran gehabt, zu sehen, wie rasch die einzelnen Manöver von den Seewölfen ausgeführt wurden. »Ferris!« brüllte Hasard zum hoch aus dem Wasser ragenden Bug empor. »Laß die Culverinen und die Drehbassen laden. Geschossen wird aber nur auf meinen ausdrücklichen Befehl, klar?« »Aye, Sir!« Der rothaarige Hüne verschwand mit seinen Männern, als der Anker oben war. Hasard und die Männer in den Booten legten sich in die Riemen. Langsam nahm die Galeone Fahrt auf. Die Männer fluchten, aber irgendwie mußten sie sich Luft machen, während der Schweiß ihnen trotz der Novemberkälte nur so über die Körper rann. »Zu-gleich! Zu-gleich ...« ertönte die Donnerstimme
Carberrys immer wieder, und ganz automatisch fielen alle Ruderer in diesen Takt. Der Wind frischte zusehends auf, der vorher sternklare Himmel hatte sich bezogen. Aber der Wind stand noch ungünstig für die ›Isabella‹. Dennoch glitt das große Schiff langsam durch das enge Fahrwasser, das sich zusehends verbreiterte. Die Männer in den Booten schufteten fast zwei Stunden, bis die ›Isabella‹ die letzte Biegung des fjordähnlichen Fahrwassers passiert hatte und in die eigentliche Bay hinausglitt. Einen Moment hockten sie einschließlich des Seewolfs völlig groggy auf ihren Duchten, und nur ihr Keuchen war zu vernehmen. Hasard ließ sie einen Augenblick lang gewähren, aber dann trieb seine Stimme sie wieder unbarmherzig an. »Boote an Deck, Ben, laß jeden Fetzen Segel setzen, den unser Schiff tragen kann! Männer beeilt euch, ich habe das ganz verdammte Gefühl, daß es für uns jetzt um Minuten geht!« Die Männer warfen die Schleppleinen los, pullten zum Schiff zurück. Andere holten die Schleppleinen ein, Ferris Tucker begann sofort, die Boote mit an der Großrah verankerten Taljen an Deck zu fieren. Ein anderer Teil der Besatzung enterte in die Wanten, ihnen folgten keuchend sofort diejenigen, die gerade aus den Booten an Bord geentert waren. Die ersten Segel blähten sich im Wind, und je mehr Tuch sich knatternd und knallend entfaltete, desto stärker krängte die ›Isabella‹ nach Backbord. Vor dem Bug baute sich eine gischtende und rauschende Bugwelle auf. Einer begann, und die anderen fielen ein. Keuchend, noch völlig außer Atem von der überstandenen Schwerstarbeit, schrien die Männer ihren alten Schlachtruf in die Nacht hinaus: »Arwenack!« *
Die ›Isabella‹ befand sich bereits im Kanal. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Jagende, graue Wolken bedeckten den Himmel. Auf den graugrünen Wogen leuchteten weiße Schaumköpfe, Gischt sprühte über das Vorschiff, wenn am Bug der Galeone eine Woge zerschellte. Ein kalter Wind pfiff durch die Takelage, und die Männer zogen fröstelnd ihre Jacken fester um die Körper. Carberry, der neben Ben Brighton auf dem Achterschiff stand, warf einen scharfen Blick über die See. »Mensch, Ben, bin ich froh, daß wir wieder in die Karibik segeln. Ist doch ‘n ganz anderes Leben. Keine verdammten Intriganten, nicht dieses verfluchte Gelichter, das sich bei Hof die Ärsche platt sitzt und sonst nichts tut, als anderen Leuten das Leben schwerzumachen. Wenn du mich fragst, ich bin froh, diesem ganzen Dreck den Rücken kehren zu können.« Ben sah den Profos prüfend an, und er wußte im selben Augenblick, wie schwer es Carberry wurde, England auf diese Weise zu verlassen. Als Rebell, als Pirat. Bittere Linien hatten sich in seine zernarbten Züge gegraben. Ehe er Carberry antworten konnte, vernahmen die beiden Männer Dans Stimme aus dem Großmars. »Wahrschau, Deck! Mastspitzen Steuerbord voraus! Schneiden unseren Kurs!« Der Profos stieß einen Fluch aus. »Da haben wir den Mist«, sagte er zu dem Seewolf, der eben zu ihnen trat. »Und jede Wette, das sind die Burschen!« Hasard starrte nach Steuerbord. Seine Lippen wirkten in diesem Augenblick verkniffen. »Klarschiff zum Gefecht!« brüllte Carberry. Der Seewolf hörte, wie die Männer, die unten an den Geschützen standen, vor Begeisterung johlten. »He, Jungs«, hörte er Ferris Tucker röhren, »jetzt werden diese Kerle mal zu spüren kriegen, was es heißt, sich mit uns
anzulegen. Diese lackierten Affen blasen wir vom großen Teich, daß sie nicht mehr wissen wo Backbord und Steuerbord ist!« Lautes Gejohle antwortete dem rothaarigen Hünen. Der Seewolf spürte, wie sich die aufgestaute Wut der Männer zu entladen begann. Hasards Lippen preßten sich zusammen. Langsam wandte .er sich um und sah Carberry an. »Profos, alle Mann auf die Kuhl!« befahl er, und seine Stimme klang eisig. Carberry, der ebenfalls vor Kampfeslust brannte, fuhr herum. »Waaas?« fragte er, und rfasard hatte bei ihm noch nie ein derart ungläubiges Gesicht gesehen. »Ich habe gesagt: alle Mann auf die Kuhl. Willst du die Männer jetzt rufen, Ed, oder soll ich es selber tun?« Carberry sah nur die eisblauen Augen, in denen ein gefährlicher Funke glomm, und er wußte, daß er sich nicht verhört hatte. Seine Stimme übertönte mühelos den Lärm an Deck. Es war, als habe eine Riesenfaust die Männer mitten in ihrer Bewegung gestoppt. Sie blieben ruckartig stehen, wo sie sich gerade befanden und starrten zum Achterschiff hinüber, wo sich der Seewolf, Ben Brighton, Carberry und im Ruderhaus Pete Ballie befanden. Der Profos mußte den Befehl ein zweites Mal und mit weitaus größerem Nachdruck wiederholen. Sogar seine Lieblingsredensart von den Affenärschen ließ er aus, und das irritierte die Männer nur noch mehr. Sie trotteten zur Kuhl hinüber, einer nach dem anderen. Der Seewolf ließ ihnen keinerlei Zeit zum Nachdenken, er kam sofort zur Sache. »Wenn es die beiden Schiffe sind, die.ich erwarte, dann werden wir einem Kampf solange aus dem Wege gehen, wie es irgend möglich ist.« Auf der Kuhl begannen die Männer zu murren, verständnislose Blicke trafen den Seewolf.
Der hitzige Luke Morgan sprang vor. »Warum? Zum Teufel, warum sollen wir diesen Kerlen aus dem Weg segeln? Haben sie nicht angefangen? Wollen sie uns nicht an den Galgen bringen? Wie lange willst du eigentlich noch ...« Der Seewolf unterbrach Luke Morgan. »Die Männer auf den Schiffen dort sind Engländer. Ihr seid größtenteils Engländer, wir haben bisher in Englands Namen gekämpft. Deswegen werde ich nicht ohne Not gegen unsere eigenen Landsleute kämpfen. Man versucht, uns in der Öffentlichkeit zu Rebellen, zu Piraten, zu Vogelfreien zu erklären. Aber wir sind keine Piraten. In meiner Schatulle in meiner Kammer liegt der Kaperbrief der Königin. Ich habe ihn behalten. Ich schwöre euch, daß die Königin ihn eines Tages wieder anerkennen wird. Dann, aber erst dann wird die Stunde der Abrechnung anbrechen.« Die Männer starrten den Seewolf an. Nach und nach entspannten sich ihre Gesichter und wurden nachdenklich. »Wenn man uns allerdings den Kampf aufzwingen sollte«, fuhr Hasard fort, »dann wird man ihn kriegen. Mit aller Härte. Schlachten lassen wir uns nicht. Das ist mein letztes Wort. Geht jetzt an die Geschütze, haltet euch bereit, aber keiner feuert, ehe ich den ausdrücklichen Befehl dazu gebe. Ich will, daß wir eines Tages in Ehren in dieses Land zurückkehren. Ich denke gar nicht daran, vor ein paar lausigen Intriganten zu kapitulieren!« Er wandte sich zu Ben Brighton um. »Ben, hoch mit der englischen Flagge! Ich will doch mal sehen, ob englische Seeleute so wahnsinnig sind, auf uns zu feuern!« Die Erstarrung der Männer auf der Kuhl löste sich. Erst einer, dann noch einer und dann plötzlich alle brachen sie in Hochrufe aus. Die Flagge stieg am Mast hoch und entfaltete sich knatternd
im Wind. »Pete, abfallen nach Backbord, neuer Kurs Südsüdwest.« Die ›Isabella‹ schwang herum, und wieder einmal spürten die Männer, welch ein hervorragendes Schiff sie unter den Füßen hatten. * Sir Nottingham stand auf dem Achterkastell seiner ›Albion‹. Er hatte sein Perspektiv, ein vorzüg liches Instrument, vorm Auge. Er sah nicht nur, wie die ›Isabella‹ den Kurs änderte, sondern er sah auch den Union Jack, der am Mast hochstieg. Einen Moment war er völlig perplex. Dann rief er einen seiner Offiziere zu sich heran. »Mister Garner, sehen Sie das?« Er reichte ihm das Spektiv. »Dieser Seewolf weicht uns nicht nur aus, sondern er hat auch noch die englische Flagge gesetzt! Verstehen Sie das, Mister Garner?« Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Ich werde aus diesen Kerlen nicht schlau, Sir« erwiderte er. »Nach allem, was ich gehört habe, sind die bestimmt nicht zu feige, auch gegen zwei Schiffe gleichzeitig zu kämpfen. Und offen gesagt, ich weiß noch nicht einmal, ob wir diesen Kampf auch tatsächlich für uns entscheiden würden, trotz unserer Übermacht.« Sir Nottingham warf seinem Leutnant einen merkwürdigen Blick zu. Garner hatte genau das ausgesprochen, was er soeben selber gedacht und empfunden hatte. Er hatte indes nicht die Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Die ›Hermes‹ unter dem Kommando von Scinders glitt an ihnen mit schäumender Bugwelle vorbei. Sie hatte den günstigsten Wind, den sich ein Schiff ihrer Bauart nur wünschen konnte. Entsprechend schnell bewegte sie sich durch die graugrüne See, direkt auf die
›Isabella‹ zu, die bei dem Kurs, den sie lief, nicht die geringste Chance hatte, ihr zu entwischen. Sir Nottingham wurde bleich vor Zorn. »Mister Garner, sofort Signal an die ›Hermes‹, sie soll Kurs ändern und in Kiellinie gehen! Beeilen Sie sich, Garner, dieser Scinders ist wahnsinnig! Weiß er denn nicht, daß dieses Schiff dort Siebzehnpfünder mit überlangen Rohren an Bord hat? Sie schießen weiter als wir und treffen viel genauer! Scinders wird zusammengeschossen, ehe er auch nur mit seinen eigenen Kanonen in Reichweite ist.« Garner flitzte los. Aber die Bemühungen Sir Nottinghams waren völlig vergeblich. Leutnant Scinders, der Kommandant der Karavelle ›Hermes‹, ignorierte die Signale der ›Albion‹. »Verdammt, dieser Wahnsinnige segelt in sein Verderben. Ich bringe den Kerl vors Kriegsgericht, sobald wir wieder in England sind, wenn er auf diese Weise auch nur einen einzigen Toten an Bord seines Schiffes zu beklagen hat!« Sir Nottingham ließ alle Segel setzen, um der Karavelle zu Hilfe zu eilen. Die ›Albion‹ war ein großes und ein außerordentlich starkes Schiff, das bei achterlichem Wind auch hervorragende Fahrt lief. Doch unter diesen Umständen war sie nicht imstande, der ›Hermes‹ schnell genug zu folgen. * Ben Brighton beobachtete die heranlaufende Karavelle aus schmalen Augen. »Die Kerle greifen an, Hasard«, sagte er schließlich. »Wir haben keine Chance, ihnen davonzusegeln!« Der Seewolf nickte. Auch er hatte erkannt, daß kein Ausweichen mehr möglich war. Er stieß eine Verwünschung aus, und gleichzeitig beobachtete er, wie seine Männer einmal die Karavelle und dann wieder ihn anstarrten. Hasard faßte seinen Entschluß blitzschnell: »Ferris, Shane,
Al!« dröhnte seine Stimme über das Schiff. Der Schiffszimmermann, Big Old Shane und Al Conroy, der Stückmeister der ›Isabella‹, fuhren herum. »Traut ihr euch zu, dem Burschen den Fockmast wegzuschießen, ohne daß es bei ihm an Bord ein Blutbad gibt?« fragte der Seewolf. Al Conroy antwortete für die beiden anderen mit. »Jederzeit. Unsere Culverinen sind von ausgezeichneter Qualität, die langen Rohre erlauben ein genaues Schießen. Wir werden den Mast in der Mitte zersplittern, mit einer Culverine. Eine zweite wird eine Ladung Stangenkugeln in das Segel schicken. Dann hat der Kerl da drüben erstmal Pause. Und der andere wird ihn kaum seinem Schicksal überlassen können!« Der Stückmeister grinste, als er einen weiteren Blick auf die heranbrausende ›Hermes‹ geworfen hatte. »Scheint ein Heißsporn zu sein, der Mister Kommandant da drüben. Sonst würde er nicht riskieren, direkt von Steuerbord auf uns zuzulaufen. Also los, Geschütze drei und vier fertig, Geschütze richten. Ferris und Shane, ihr übernehmt die Nummer drei, ich kümmere mich mit Batuti um die vier. Wir feuern zugleich, sobald der Kerl auf Schußposition herangelaufen ist!« Der Seewolf konnte nicht anders, auch er mußte lächeln. Dieser Al Conroy war als Stückmeister ein Juwel. Er würde nicht vorbeischießen, das wußte Hasard genau. Die Karavelle lief mit hoher Fahrt heran. Die weitaus größere Galeone, die ›Albion‹, war weit hinter ihr zurückgeblieben. »Pete, fall etwas nach Backbord ab, sobald ich es dir sage. Dann haben Al und die anderen eine bessere Schußposition. Aber nicht zu früh, Pete, sonst riecht der Kerl da drüben am Ende noch Lunte!« Pete Ballie, der Rudergänger mit den Fäusten wie Ankerklüsen, nickte nur. Er hatte von seinem Ruderhaus auf dem Achterdeck einen viel besseren Überblick als auf den
früheren Schiffen, wo er fast unter Deck am Kolderstock gestanden hatte. Der Seewolf beobachtete die Karavelle scharf. Der Kommandant da drüben mußte wirklich ein Narr sein, oder aber er unterschätzte die Reichweite der Geschütze seines Gegners gründlich. »Achtung, Pete, jetzt!« kommandierte der Seewolf auf ein Zeichen von Al Conroy hin. Die ›Isabella‹ schwang herum, die Stückpforten der beiden Geschütze flogen hoch. Die vier Männer richteten die Culverinen ein, visierten die heranlaufende Karavelle an, viel schneller, als die Engländer das wahrscheinlich jemals erlebt hatten. Leutnant Scinders, dem Kommandanten des Schiffes, blieb keine Zeit mehr zu einem wirkungsvollen Manöver. »Feuer!« Al Conroys Stimme zerschnitt die atemlose Stille, die an Bord der ›Isabella‹ in diesem Moment herrschte. Die beiden Culverinen brüllten auf, yardlange Stichflammen fuhren aus ihren Rohren, dicker, schwarzer Qualm wölkte hoch. Fast gleichzeitig schlugen die siebzehnpfündige Kugel und die Stangenkugel auf dem Gegner ein. Al Conroy hatte sein Versprechen erfüllt: Der Fockmast zersplitterte unter dem schweren Geschoß, das Focksegel wurde von den durch Ketten miteinander verbundenen Eisenteilen zerfetzt. Der Mast neigte sich zur Seite und stürzte nach achtern auf die Karavelle. Einen Augenblick hing er im Rigg, dann neigte er sich und rutschte an Steuerbord über das Schanzkleid. Die ›Hermes‹ lief aus dem Ruder, und über die Decks der ›Isabella‹ brandete ein Schrei. »Arwenack!« »Pete, anluven!« befahl der Seewolf. Er mußte seine Chance nutzen und vor der heransegelnden Galeone das offene Wasser erreichen. Die ›Isabella‹ war dazu schnell genug. Er sah, wie auf der Karavelle die Männer hin und her liefen und sich verzweifelt bemühten, die Taue, die den Mast noch hielten, zu
kappen. Leutnant Scinders kriegte einen Tobsuchtsanfall, und Sir Nottingham auf der ›Albion‹ konnte sich eine schadenfrohe Bemerkung nicht verkneifen. »Dieser Narr«, sagte er, »geschieht ihm recht. Mister Garner«, er wandte sich an den neben ihm stehenden Offizier, »ist Ihnen etwas aufgefallen?« Dabei blitzten seine grauen Augen. »Jawohl, Sir«, erwiderte der Leutnant. »Der Seewolf hätte die ›Hermes‹ in Stücke schießen können. Er hatte nur eine ganze Breitseite seiner schweren Geschütze auf sie abzufeuern brauchen. Er hat es aber erstaunlicherweise nicht getan!« Leutnant Garner blickte seinen Vorgesetzten fragend an. »Ich glaube, ich kenne den Grund, warum der Seewolf es nicht getan hat«, sagte Sir Nottingham. »Nach allem, was ich von ihm gehört habe, ist er nicht nur ein äußerst verwegener Mann, sondern auch fair. Er will nicht gegen seine eigenen Landsleute kämpfen. Aber ich bin mir im klaren darüber, daß dies wahrscheinlich seine letzte Warnung war!« Leutnant Garner blickte Sir Nottingham aus großen Augen an. »Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, diese Männer da drüben sind Rebellen. Es ist unser Auftrag, sie zu jagen und zu stellen, wir müssen ...« »Wir werden unsere Pflicht tun, Mister Garner, daran besteht kein Zweifel. Dennoch bin ich der Ansicht, daß man diesen Männern dort bitteres Unrecht zugefügt hat, daß man sie sogar gezwungen hat, Rebellen zu werden.« Sir Nottingham fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Wir können Sie jetzt nicht mehr daran hindern, den Atlantik zu erreichen, Mister Garner. Ihr Schiff ist schneller als unsere ›Albion‹. Aber ich habe Anhaltspunkte, welchen Kurs sie segeln werden. Und wir werden ihnen folgen, bis wir sie gefunden haben. Jetzt müssen wir uns erst einmal um Scinders und seine ›Hermes‹ kümmern!« Sir Nottingham erteilte die notwendigen Befehle, und die
›Albion‹ änderte ihren Kurs. Sie lief direkt auf die schwer havarierte Karavelle zu - und genau damit hatte der Seewolf gerechnet. 6. Unterdessen spitzten sich die Ereignisse an Land immer weiter zu. Doktor Freemonts berittener Bote hatte die Stadt Torbay erreicht und nach einigem Suchen auch das Haus Nr. 8 in der Barton Street gefunden. Jean Ribault, der schlanke Franzose, dessen Bewegungen und dessen Körper immer ein wenig an den biegsamen Stahl einer Degenklinge erinnerten, öffnete selbst. Seine Brauen zogen sich zusammen, als er den Fremden gewahrte, denn er erwartete keinen Besucher. »Mister Ribault?« fragte der Bote, und ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel, trotz des mörderischen Rittes, den er gerade hinter sich hatte. »Ganz recht, und was verschafft mir die Ehre?« fragte Ribault zurück. Der Berittene nestelte an seiner Kleidung, dann brachte er eine Pergamentrolle zum Vorschein. »Eine Nachricht für Sie, Monsieur, von Doktor Freemont.« Er betonte dabei das Wort Monsieur. Abermals zogen sich die Brauen des Franzosen zusammen. Aber der Berittene ließ Ribault keine Zeit, irgendwelchen Argwohn zu entwickeln. »Ich bin ein guter Bekannter des Arztes, Sie können mir vertrauen, Monsieur. Doc Freemont hat meiner Frau einmal das Leben gerettet, ich bin tief in seiner Schuld, ich würde alles für ihn tun!« »Kommen Sie herein!« Ribault öffnete die Tür. In diesem Moment betrat ein
hochgewachsener, gertenschlanker Mann den Flur. Seine dunkle Haut hatte etwas Exotisches, seine kohlschwarzen Augen verstärkten diesen Eindruck ebenso wie sein schulterlanges, blondes Haar. »Was gibt es, Jean?« fragte er und musterte den Fremden. Jean Ribault erklärte es ihm mit ein paar Worten. Die Männer nahmen Platz, dann las der Franzose die Botschaft des Doktors. Er hatte sie noch nicht ganz zu Ende gelesen, da sprang er auf. »Karl, das ist nun wirklich der Gipfel! Diese verfluchten Bastarde, diese Hofschranzen haben Hasard ...« Karl von Hutten hatte nach dem Schreiben gegriffen. Er las es ebenfalls, sorgfältig, Wort für Wort. Im Gegensatz zu dem temperamentvollen Franzosen blieb er ganz ruhig, nur seine dunklen Augen glommen auf. »Gwen und die beiden Kinder und derDoktor sind in Gefahr«, sagte er dann. »Diese verfluchten Ratten werden sich an Gwen heranmachen, um aus ihr etwas herauszupressen. Wir müssen sofort nach Bere Ferrers!« Jean Ribault nickte. Zwar war das für ihn und von Hutten eine üble Überraschung und warf ihre weiteren Pläne völlig um, aber das hatte nichts zu sagen. Sie hatten die vergangenen Wochen damit verbracht, nach einem Schiff und nach einer Mannschaft zu suchen. Sie wollten wieder ihr altes, unstetes und abenteuerliches Leben aufnehmen. Ihnen schwebte sogar vor, zusammen mit dem Seewolf zu operieren - nur eben mit einem eigenen Schiff, das Ribault und von Hutten gemeinsam gehörte. Die Mannschaft hatten sie, sie befand sich ebenfalls mit nur wenigen Ausnahmen in Rorbay. Insgesamt fünfzehn Männer. Franzosen, Engländer - und vor allem etliche der einstigen Seewölfe, die wie sie nach der Rückkehr nach England abgemustert hatten. Die Männer hatten sie, aber das richtige Schiff fehlte noch. Da hatten sie nicht soviel Glück entwickelt wie der Seewolf.
Doch das alles schoß Karl von Hutten nur blitzartig durch den Kopf. »Jean, gib dem Boten des Doktors die Adresse, wo unsere Männer sich aufhalten. Sie sollen nach Plymouth aufbrechen, wir werden sie dort brauchen! Und uns laß sofort losreiten, nachdem der Bote uns den Weg genau beschrieben hat. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, ich sorge mich um Gwen und die beiden kleinen Seewölfe. Wir sind es Hasard schuldig, daß wir uns um seine Familie und den Doktor kümmern!« Ribault nickte, und er war schon dabei, eine Adresse auf ein Papier zu schreiben, dazu fertigte er eine genaue Skizze an, außerdem eine Legitimation, die den Boten als seinen Bevollmächtigten auswies. »Hier, nehmen Sie, dorthin reiten sie weiter, verständigen unsere Männer und händigen ihnen ein Schreiben aus, das ich sogleich aufsetzen werde. Später führen Sie diese Männer nach Plymouth. Sie sollen sich dort irgendwo einmieten, aber unauffällig. Besser ist besser. Vielleicht wissen Sie sogar, wo unsere Leute bleiben können.« Der Berittene nickte. »Wenn’s weiter nichts ist. Ich kenne da einen alten Fischer in Turnshape. Der hat Platz genug und ist absolut zuverlässig.« Er beschrieb dem Franzosen genau das Haus und seine Lage. »Er heißt Murdock, Sir - Ben Murdock!« Jean Ribault hatte aufgemerkt. »Hm - was für ein Boot hat der Mann?« fragte er. Der Berittene sah den Franzosen an, und plötzlich blitzte Verstehen in seinen Augen auf. »Eine Schaluppe, Sir, wollen Sie etwa ...« »Später. Ich werde mir den Mann ansehen. Hier haben Sie ein paar Goldstücke.« Der Bote Freemonts starrte ungläubig auf die Goldstücke. »Sir, Monsieur, das ist doch viel zu viel, außerdem hat der Doktor mich schon bezahlt, ich werde ...«
Jean Ribault drückte ihm einfach die Hand, auf der die Goldstücke lagen, zu. »Schon gut, jetzt reiten Sie bitte, die Sache ist eilig. Versorgen sie rasch Ihr Pferd, Wasser finden sie draußen, unterdessen habe ich mein Schreiben aufgesetzt!« Der Bote verließ den Raum, aber er blickte sich an der Tür noch einmal nach den beiden Männern um. Die Goldstücke stellten für ihn ein Vermögen dar, er konnte soviel Großzügigkeit gar nicht fassen. Ein paar Minuten später händigte der Franzose ihm ein versiegeltes Schreiben aus samt allen anderen Unterlagen. Dann ritt der Bote davon. Eine halbe Stunde später brachen Karl von Hutten und Jean Ribault ebenfalls auf. Sie ritten in Richtung Bere Ferrers. * Keymis und Burton hatten ebenfalls keine Zeit verloren. Als die beiden Kriegsschiffe den Hafen verlassen hatten, waren sie nach Bere Ferrers aufgebrochen. Eine große, schwarze Kutsche erreichte den Ort im Morgengrauen. Am Ortsanfang ließ Keymis halten. »Also hört zu, wir gehen folgendermaßen vor. Einer von euch beiden - denn diese Rebellenhure kennt keinen von euch klopft an der Tür. Wenn sie nicht öffnen will, sagt ihr, daß ihr Boten des Seewolfs seid. Wir müssen auf jeden Fall ohne Lärm in das Haus gelangen, jedes Aufsehen schadet unserer Sache. Ist das klar?« Pete Bows Züge überzog ein Grinsen. »Klar, Mister«, sagte er. »Aber diesen ganzen Quatsch hätten Sie sich sparen können. Wenn die Bow-Brüder in ein Haus hineinwollen, dann schaffen sie das auch, und zwar ohne jeden Lärm, so oder so.« »Gut, das erwarte ich auch von euch. Weiter: Wir haben nicht viel Zeit. Freemont verfügt über beachtliche Verbindungen bei
Hof. Sobald wir drinnen sind, schleppt ihr das Weibsbild in den Keller. Und dort bringt ihr sie zum Singen - die Fragen stellen mein Freund Burton und ich.« Ray Bow, der Hagere, lachte böse. »Ist sie eigentlich hübsch, diese Gwen? Aber ich denke schon, denn so wie ich diesen verfluchten Seewolf kenne, hat der bestimmt einen verteufelt guten Geschmack. Doch, wir bringen sie schon zum Singen, darauf können Sie sich verlassen. Und ein bißchen Spaß werden wir auch dabei haben, stimmt’s?« Keymis wurde plötzlich kreidebleich. Er dachte an die Szene an Bord der ›Isabella V.‹, wo er versucht hatte, Gwen zu vergewaltigen. Und er dachte daran, was dann mit ihm geschehen war. Der Schweiß brach ihm aus. Er hatte plötzlich ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Diese Gwen war wie eine Katze. Und jetzt hatte sie auch noch ihre Kinder, die sie mit Zähnen und Klauen verteidigen würde! »Verdammt, ihr stellt euch die Sache zu einfach vor!« fuhr er den Hageren an. »Ich kenne dieses Weibsbild besser. Sie ist gefährlich, die ist nicht von der Sorte, die sich einfach aufs Kreuz legen läßt! Unterwerft sie der Folter, dann wird sie reden, aber versucht nicht, euern Spaß mit ihr zuhaben!« Pete Bow sah seinen Bruder an, und der gab den Blick zurück. »Also jetzt sind wir wirklich neugierig geworden, Mister Friedensrichter. So eine Wildkatze, das ist für uns genau das Richtige. Überlassen Sie die nur meinem Bruder und mir. Sie tut dann schon, was sie soll!« Wieder lachte er böse. Keymis fror plötzlich trotz seiner dicken, warmen Kleidung. Er verdammte den Tag, an dem er sich mit diesen beiden Galgenvögeln eingelassen hatte. In der Kutsche war es dunkel. Ohne daß jemand es merkte, tastete er nach seiner zweischüssigen Pistole. Seine Züge verzerrten sich für einen winzigen Moment.
Sollten diese beiden unverschämten Burschen ruhig ihre dreisten Reden führen. Sobald sie Gwen zum Sprechen gebracht hatten, würden sie ihren Lohn kriegen. Aber nicht so, wie sie sich das dachten. Keymis zog seine Hand vorsichtig wieder zurück. »Weiterfahren!« rief er dem Kutscher zu, und die Kalesche ruckte an. Dann versank der Friedensrichter in dumpfes Brüten. Für ihn war klar, daß Gwen Killigrew etwas wissen mußte. Burton hatte in Spanien etwas von einem Schatz der MalteserRitter erfahren, der irgendwo vergraben sein sollte. Godefroy von Manteuffel, der Vater Killigrews, sollte damit etwas zu tun haben. Bestimmt hatte er kurz vor seinem Tod dem Seewolf noch irgend etwas darüber mitgeteilt, und demzufolge mußte auch Gwen Kenntnis davon haben. Wenn ihnen der Seewolf auch wieder einmal entwischt war - an seine Frau würden sie sich halten. Keymis dachte noch weiter. Auch Burton war schließlich nur ein Werkzeug. Er dachte gar nicht daran, mit Burton zu teilen. Der Kerl sollte ihm nur helfen, den Schatz der Malteser oder was immer sich in jenem Versteck befinden mochte, aufzuspüren. Dann würde eine Kugel die Besitzverhältnisse klären. Außerdem war es besser, nicht einen einzigen Zeugen zu haben, das war eine böse Erfahrung des Friedensrichters. Kurz vor dem Landhaus Doktor Freemonts - Pete Bow hatte die Kutsche dirigiert - stoppte Keymis das Gefährt abermals. Und zwar so, daß es von Gwen oder dem Doktor nicht bemerkt werden konnte. »Also los jetzt!« pfiff er die beiden an. Pete Bow warf ihm einen so abschätzigen Blick zu, daß dem Friedensrichter das Blut in den Kopf schoß. Dann stieg er mit seinem Bruder aus. Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, gingen sie geradewegs auf das Landhaus zu, ohne jede Heimlichtuerei. Es war Gwens Pech, daß sie auf diese simple Taktik hereinfiel.
* Gwen, die gerade die beiden Kleinen versorgt hatte, sah die Bow-Brüder zuerst. »Doktor, kommen Sie rasch!« rief sie zum Nebenzimmer hinüber, wo Freemont sich ein Lager bereitet hatte. Der Doktor fuhr hoch. Mit ein paar Schritten war er bei Gwen. »Was gibt’s?« fragte er und eilte zum Fenster, an dem Gwen stand. »Wir kriegen Besuch. Zwei Männer. Sie gehen geradewegs auf das Haus zu, ich bin sicher, sie wollen zu uns!« Sir Freemont runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, Gwen«, sagte er leise. »Ein Patient kann es nicht sein, denn niemand im Dorf weiß, daß ich hier bin. Und zu Ihnen können die beiden auch kaum wollen - oder doch?« Die Bow-Brüder waren heran. Pete nahm den schweren Türklopfer und pochte gegen das massive Holz. Gwen zögerte. Der Kleidung nach waren die beiden keine Strolche. Die Gesichter vermochte sie nicht eindeutig zu erkennen. Doktor Freemont straffte sich. »Ich werde fragen, was sie wollen«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Aber Gwen hielt ihn zurück. »Nein, warten Sie, Doktor. Ich werde gehen. Ich halte es für möglich, daß Hasard mir vielleicht noch eine Botschaft schickt. Er sorgt sich um mich und die Kleinen. Vielleicht will er mich nur wissen lassen, daß er gut aus der Wembury Bucht entkommen ist.« Gwen eilte davon, bevor der Doktor sie zurückhalten konnte. Noch ehe sie die Tür erreicht hatte, klopfte es wieder. Gwen blieb stehen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Aber dann faßte sie Mut und trat entschlossen auf die Tür zu. Bevor es zum dritten Male klopfte, schob sie den Riegel zurück und öffnete die Tür einen Spalt breit. »Sie wünschen, Gents?« fragte sie kühl. »Eine etwas
merkwürdige Zeit für einen Besuch, oder finden Sie nicht?« Pete Bow drückte die Tür ein Stück weiter auf. »Ihr Mann schickt uns, Mister Killigrew. Wir sollen Ihnen ausrichten, daß alles in Ordnung ist. Außerdem trug er uns auf ...« Er senkte die Stimme zu einem undeutlichen Flüstern. »Mistreß Killigrew, sie wissen, was geschehen ist. Ich glaube, es wäre besser, Sie ließen uns ein. Hier draußen ...« Gwen öffnete die Tür. Noch immer vermochte sie im herrschenden Halbdunkel die Gesichter der beiden Männer nicht richtig zu erkennen. Gwen wollte gerade einen Schritt zurücktreten, als Pete Bow die Tür mit einem brutalen Ruck ganz aufstieß. Sie traf Gwen, und der Stoß war so heftig, daß er sie zu Boden schleuderte. Pete Bow ließ ihr keine Zeit. Mit einem Sprung befand er sich im Flur, warf sich auf die völlig Überraschte und drückte sie zu Boden. »So, mein Täubchen, dich haben wir ja schon mal, und das ging viel besser, als ich dachte. Na, zeig mal, was du Nettes zu bieten hast!« Er packte zu und riß Gwen empor. Im nächsten Moment fetzte er ihr das leichte Gewand, das sie trug, vom Körper. »Gar nicht so übel! Ich muß sagen, dieser verdammte Bastard hat Geschmack!« Gwen war wie gelähmt. Aus den Augenwinkeln sah sie die huschende Bewegung hinten im Flur und den zweiten Kerl, der eben zur Tür hereindrängte. Und dann hörte sie die Stimme des Doktors. »Lassen Sie Mistreß Killigrew los, lassen Sie augenblicklich los, oder ...« Doktor Freemont, außer sich vor Wut, hatte einen dicken Knüppel in der Hand uns schlug zu. Pete Bow reagierte schnell genug und drehte sich zur Seite. Aber sein Bruder, der sich auf den Doktor werfen wollte, erhielt den Schlag voll auf den Schädel.
Der Hagere krachte zu Boden. Pete Bow, der das ebenfalls nur aus den Augenwinkeln registriert hatte und den abermals zum Schlag erhobenen Knüppel sah, ließ Gwen fahren und warf sich mit einem Wutschrei auf den Doktor. Der Anprall war so gewaltig, daß Doc Freemont die Balance verlor und zu Boden stürzte. Sofort war Pete Bow über ihm. »Dir werde ich es zeigen, du dreckiger Hurensohn, du hast meinen Bruder erschlagen! Warte!« Er holte aus und schlug zu. Doc Freemont war nicht imstande, sich gegen die furchtbaren Schläge, die auf ihn niederprasselten, zur Wehr zu setzen. Er war viel zu unerfahren und zu ungeübt in solchen Dingen. »Gwen!« stöhnte er, und dann traf ihn ein brutaler Schlag auf den Kopf, der sein Bewußtsein augenblicklich auslöschte. Gwen hatte sich aus ihrer Erstarrung gelöst. Sie hatte viele Jahre auf Arwenack verbracht. Brutalitäten des alten John Killigrew waren dort an der Tagesordnung gewesen und waren daher für sie nichts Neues. Sie sah, wie sich Doc Freemont streckte und wußte, daß sie ihm jetzt nicht helfen konnte. Aber sie mußte zu ihren Kindern, zu den schutzlosen Kleinen, die im Schlafzimmer in ihrem Bettchen lagen. Schon wollte sie losrennen, und nicht einmal Pete Bow hätte sie in diesem Augenblick daran hindern können, da tauchte in der immer noch offenen Tür ein Mann auf, dessen Anblick sie lahmte. Gwen sah das gelbliche Geiergesicht mit dem Ziegenbart, seinen gierigen Blick, der sich sofort auf ihren fast nackten Körper heftete, und sie spürte den ganzen Ekel und die ganze Wut jener Nacht in sich hochsteigen, in der dieser Kerl sie an Bord der ›Isabella V.‹ zu vergewaltigen versucht hatte. Sie war ihrer Sinne fast nicht mehr mächtig, als sie auf Keymis zusprang. »Keymis - Sie miese, dreckige Ratte!« schrie sie mit sich
überschlagender Stimme. »Kaum ist mein Mann aus dem Haus, da glauben Sie, daß Sie ihre Drecksfinger schon wieder nach mir ausstrecken können! Aber sie sollen sich verrechnet haben!« Gwen packte den Friedensrichter, der auf einen solchen. Angriff einer fast nackten Frau nicht gefaßt war. Mit ihren Fingernägeln fuhr sie ihm durchs Gesicht. Sie drängte ihn gegen die Wand und schlug seinen Schädel mit aller Gewalt gegen eine eichene Bohle, immer wieder. Gwen raste vor Wut, es war das wilde Blut des O’Flynns, das in diesem Moment in ihr durchbrach. Der Friedensrichter verdrehte die Augen, und als Gwen ihn abermals packte und von sich wegschleuderte, stolperte er über den bewußtlos am Boden liegenden Ray Bow und stürzte ebenfalls. Pete Bow hatte das alles gesehen. Es war für ihn wie ein Schock - eine Frau, die barbusig wie eine Walküre kämpfte, in deren Augen der Zorn loderte, und die sich selbst nicht mehr zu kennen schien. Wilde Begierde erfaßte ihn. Er hechtete auf Gwen zu, aber instinktiv reagierte sie richtig und hieb dem Angreifer den Ellenbogen ins Gesicht. Pete Bow spürte einen wahnsinnigen Schmerz, der sich rasendschnell über seinen Schädel ausbreitete und sein Bewußtsein für einen Augenblick lähmte. Blut schoß aus seiner Nase, und dann sah Pete Bow nur noch rot. Er warf sich herum und schlug zu, mit aller Kraft, die in seinem kampfgewohnten und trainierten Körper steckte. Und dieser Schlag fällte Gwen auf der Stelle. Sie spürte nichts mehr - es war, als habe man sie plötzlich, von einer Sekunde zur anderen ausgelöscht. Burton, der das alles von der Tür aus gesehen, aber keinen Finger für seine Spießgesellen gerührt hatte, stürzte mit einem Wutschrei in die Diele. Er packte die bewußtlose Gwen bei den
Haaren und wollte sie durch den Flur schleifen, aber Pete Bow fegte ihn mit einem einzigen Hieb zur Seite. Aus blutunterlaufenen Augen stierte er Burton an, sein ganzes Gesicht und auch ein Teil seiner Kleidung waren blutverschmiert. »Rühr sie nicht an! Diese Hure gehört mir. Sie soll schreien, sie soll um Gnade winseln! Dieses Miststück hat mir die Nase zertrümmert!« Pete Bow wankte. Der Schmerz, der durch seinen Schädel tobte, war so übermächtig, daß er sich einen Moment gegen die Wand lehnen mußte. Vor seinen Augen drehte sich alles. Erst ganz allmählich sah er wieder klarer. Sein Bruder begann eben, sich wieder zu regen. Der Friedensrichter lag wie tot am Boden, auch aus seinem Gesicht lief das Blut. Und Gwen rührte sich ebenfalls nicht mehr. »Los, faß mit an!« herrschte er Burton an. »In den Keller mit ihr! Wenn sie erwacht, dann soll sie die Hölle kennenlernen!« * Jean Ribault und Karl von Hutten waren wie die Teufel geritten. Beide verspürten eine starke innere Unruhe. Sie wußten, daß der Friedensrichter und Burton nicht unterschätzt werden durften. Dennoch brauchten sie ihre Zeit, denn von Torbay bis Plymouth waren es immerhin mehr als fünfundzwanzig Meilen. An einer Weggabelung parierte der Franzose sein Pferd. Karl von Hutten sah ihn fragend an. »Es ist nicht mehr weit«, sagte Jean Ribault. »Aber wir können nicht einfach in den Ort hineinstürmen wie die Berserker. Ich rechne schon fast damit, daß sich ein paar dieser Schurken bereits in Bere Ferrers befinden. Keymis und Burton haben nach den letzten Ereignissen keine Zeit mehr zu verlieren.« »Was schlägst du vor?«
»Wir reiten nur bis zum Ortsanfang. Doc Freemonts Bote hat uns eine exakte Beschreibung von der Lage des Landhauses und dem gesamten Anwesen gegeben. Wir verbergen unsere Pferde, und dann sehen wir erst einmal nach, in welcher Lage sich Gwen, die beiden Kleinen und der Doc befinden.« Er blickte von Hutten, an. »Wenn ich eins vom Seewolf gelernt habe, dann das: Immer mit dem rechnen, was man für unwahrscheinlich hält. Er hat das immer getan, und dabei sind wir alle immer gut gefahren.« Der dunkelhäutige von Hutten, in dem das indianische Blut seiner Mutter einen deutlichen Niederschlag gefunden hatte, nickte. »Du hast recht, Jean. Aber eins sage ich dir: Gnade Gott diesen Hunden, wenn sie es gewagt haben sollten, ihre Drecksfinger nach Gwen und den beiden Kleinen auszustrecken. Und der Doc zählt auch dazu, denn ohne ihn lebte der Seewolf nicht mehr.« Die beiden ritten weiter. Jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach. Sie dachten an die Zeit, als der Seewolf, durch eine herabstürzende Rah lebensgefährlich verletzt, im Hause Doc Freemonts gelegen hatte. Ohne die aufopfernde Pflege durch den Arzt und Gwen hätte er damals keine Chance gehabt, zu überleben. Die letzten Meilen bis Bere Ferrers schafften sie in Rekordzeit. Am Ortseingang zügelten sie ihre Pferde abermals. Jean Ribault deutete auf einen Hang, der mit Büschen bestanden war und sich bis zum nahen River Tavy hinabzog. Von Hutten nickte nur, dann war er mit seinem Pferd auch schon zwischen den Büschen verschwunden. Der Franzose folgte ihm. Sie banden ihre Pferde mit den Zügeln an einen der noch jungen Bäume fest. Von Hutten klopfte den beiden Tieren noch einmal beruhigend auf die Kruppe, dann pirschten sie sich an den nahen Ort heran, dessen ersten Häuser schon nach wenigen Minuten in ihrem Blickfeld auftauchten. Das Wetter hatte sich verschlechtert. Ein kalter Wind pfiff
über die Flußniederung, dunkle Regenwolken jagten am düsteren Himmel dahin. Die Sonne war längst aufgegangen, aber ihr Licht wurde von den Wolken verschluckt. Einen Moment dachte von Hutten voller Sorge an die durch den schnellen Ritt erhitzten Tiere, die jetzt im Freien standen. Aber er konnte es nicht ändern, die Zeit drängte. Außerdem waren diese Tiere zäh. Je mehr sie sich dem Ort näherten, desto vorsichtiger wurden sie. Und dann prallte der Franzose plötzlich zurück, denn zwei Dinge geschahen fast gleichzeitig. Er erblickte die große schwarze Kutsche, die in der an das Landhaus von Doc Freemont angrenzenden Fahrstraße stand. Und er hörte einen langgezogenen, schrecklichen Schrei, der ihm fast das Blut in den Adern gerinnen ließ. Jean Ribault wurde totenbleich, während seine Rechte zum Degen fuhr. »Karl - das war die Stimme einer Frau!« stieß er hervor. »Also haben diese Bastarde doch ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn wieder war ein Schrei zu hören. Zwar nur sehr gedämpft, aber für die feinen Ohren der beiden Männer dennoch überdeutlich. Jean Ribault wollte - besinnungslos vor Wut - losstürmen, aber Karl von Hutten packte ihn und hielt ihn fest. »Nimm dich zusammen, Jean!« fuhr er den Franzosen an. »Wenn du jetzt losstürmst und wie ein Stier in das Haus einbrichst, dann werden sie Gwen entweder als Geisel benutzen oder sie sogar im ersten Schreck umbringen. Glaubst du wirklich, daß Keymis und dieser elende Feigling Burton allein nach Bere Ferrers gekommen sind? Die haben Kerle bei sich, Folterknechte, gemietetes Mordgesindel! Nein, so sehr Gwen auch vielleicht leiden muß, wir dürfen uns zu nichts hinreißen lassen, was wir später bereuen könnten.« Der Franzose wand sich ungeduldig im eisenharten Griff seines Gefährten. Sein hitziges Temperament ließ Warten in
einer solchen Situation kaum zu, aber schließlich sah er ein, daß von Hutten recht hatte. »Also gut!« stieß er hervor. »Aber wir werden keine Sekunde mehr verlieren als unbedingt nötig.« Von Hutten nickte nur und zog seine schwere Pistole aus dem Gürtel. Er spannte den Hahn im Davonhuschen. Auch er war entschlossen, diesmal mit diesem Gelichter endgültig aufzuräumen. * In der Diele des Landhauses sah es noch genauso wüst aus wie nach dem Kampf. Nur hatte Pete Bow einen tödlichen Fehler begangen - er hatte die schwere Eichentür nicht wieder verriegelt. Und so war es dem Franzosen und von Hutten mühelos gelungen, in das Landhaus einzudringen. Die beiden standen einen Moment lang wie erstarrt. Auf dem Boden lag das Gewand, das Gwen im Moment des Überfalls getragen hatte. Es war völlig zerfetzt und über und über mit Blut besudelt. Weiter hinten lag die Hausjacke des Doktors, ebenfalls ramponiert und voller Blut. Eine weitere Blutspur verlief vom Flur zu einem der Räume, und von dort zur Kellertreppe. Jean Ribault knirschte mit den Zähnen, die Klinge seines Degens zuckte ein paarmal auf und nieder. Aber er sagte nichts. Die beiden Männer wechselten einen raschen Blick miteinander, dann schlichen sie weiter. Sie warfen einen kurzen Blick in den Wohn und in den Schlafraum. Sie sahen das Kinderbettchen, aber es war leer. Anschließend huschten sie zur Kellertür hinübereiner schweren Bohlentür. Behutsam drückte von Hutten die Klinke herab - und ein eisiger Schreck durchfuhr ihn. Die Tür war verschlossen oder verriegelt - er wußte es nicht. Sofort preßte er seinen Kopf
gegen die Tür, lauschte. Er hörte jedoch nur ein paar dumpfe Geräusche, sonst nichts. »Wir müssen hinten herum, Karl«, zischte der Franzose. »Der Bote hat mir gesagt, daß es noch einen zweiten Eingang in den Keller gibt - vielleicht haben wir dort mehr Glück!« Ribault wartete gar nicht erst die Antwort seines Gefährten ab, sondern huschte davon. Es war nicht die Stunde, lange Reden zu halten. Was sie da in der Diele vorgefunden hatten, war deutlich genug gewesen. Keiner der beiden Männer ahnte in diesem Moment, daß die verschlossene Kellertür für den Seewolf und seine Männer noch verheerende Folgen haben sollte. * Pete Bow und sein Bruder Ray starrten die nackte Frau an, die gefesselt auf dem schweren Bohlentisch lag. Ihr Körper wies einige Brandmale auf. Gwen hatte die Augen geschlossen, eine Ohnmacht hatte sie von den unerträglichen Schmerzen vorübergehend erlöst. Keymis und Burton starrten sie ebenfalls an. »Diese Hure will nicht reden!« flüsterte Burton, und seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. »Warum tut ihr nicht endlich etwas?« fuhr er gleich darauf die beiden BowBrüder an. »Ihr habt das Maul doch so voll genommen, daß ihr sie zum Singen bringen würdet! Laßt euch jetzt was einfallen, und zwar schnell!« Pete Bow starrte die Bewußtlose immer noch an. Seine Lippen umspielte ein sadistisches Lächeln. »Dieses Luder ist zäh, verdammt zäh sogar. Ich hätte nie gedacht, daß eine Frau soviel auszuhalten vermag. Aber ich bringe sie zum Reden!« Er fuhr herum. »Wo sind die beiden Bälger?« fragte er den Friedensrichter.
Keymis schreckte hoch. »Nebenan aber was soll das denn ...« Er unterbrach sich plötzlich und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Natürlich, die Kinder! Weck dieses Weibsbild auf. Wenn sie sieht, daß es ihren Bälgern an den Kragen geht, dann wird sie bestimmt reden. Warum sind wir nicht eher darauf gekommen?« Pete Bow nickte, er stellte sich in diesem Moment die gleiche Frage. Aber er hatte die Kinder völlig vergessen. »He, Friedensrichter, während mein Bruder die Bälger holt, marschierst du nach oben und holst was zu trinken. Und dein Kumpel da, der geht mit und besorgt ein paar Eimer Wasser, anders kriegen wir die nicht mehr wach!« Die Brauen des Friedensrichters zogen sich bei dem rüden Ton zusammen. Pete Bow sah es und lachte schallend. »Ah, mein Ton paßt dem feinen Herrn nicht? Stimmt’s? Na, daran wirst du dich gewöhnen müssen. Denn so groß, wie du tust, bist du auch nicht. Du bist ein Gauner, Freundchen, einer, den der Seewolf tatsächlich besser aufgeknüpft hätte. Na, gut, über diesen Punkt reden wir später. Und jetzt ab mit euch, oder ich werde euch Beine machen, klar?« Keymis Hand zuckte zur Pistole, die er geladen unter dem Gewand trug. Aber er beherrschte sich. Sein Entschluß stand jedoch fest: Sobald Gwen geredet hatte, würde er diese beiden Kerle über den Haufen schießen. »Los, kommen Sie, Burton! Wir wollen sehen, daß wir diese Sache hier zu einem Ende bringen!« Die beiden Halunken verließen den Keller und stiegen die Treppe hinauf. Keymis drehte den schweren Schlüssel, und knirschend gaben die Zuhaltungen des schmiedeeisernen Schlosses nach. »Ray, hol jetzt die Bälger, aber sorg dafür, daß sie plärren. Ihre Mutter soll kapieren, daß wir nicht spaßen.« Ray Bow nickte und erhob sich. In diesem Moment passierte es. Etwas krachte mit furchtbarer
Gewalt gegen die Kellertür, die zu den Wirtschaftsräumen des Landhauses führte. Pete Bow fuhr herum. Er begriff nicht, und auch sein Bruder starrte erschrocken zur Tür. Die Schrecksekunde der beiden Verbrecher dauerte nicht lange, aber sie war dennoch tödlich. Unter dem zweiten Anprall zersplitterte die Tür. Ein dicker Pfahl, den der Franzose und von Hutten als Rammbock benutzt hatten, schoß in den Raum und krachte zu Boden. Hinter ihm her warf sich Ribault durch die Trümmer der Tür. Mit einem einzigen Blick, im Bruchteil einer Sekunde, erfaßte er die Lage. Er stieß einen Schrei aus, seine Degenklinge zuckte hoch und durchbohrte Pete Bows Brust. Der Verbrecher taumelte zurück, Blut schoß aus der Wunde. Ungläubig richteten sich seine brechenden Augen auf den Franzosen. Dann dröhnte ein Schuß durch den Keller, Ray Bow, der im ersten Schreck zurückgesprungen war, sah das Mündungsfeuer wie eine Lanze auf sich zustechen und spürte den Einschlag der Kugel. Er hatte nicht einmal, mehr die Zeit, einen Laut auszustoßen, denn die Kugel zerriß ihm das Herz. Er stürzte zu Boden wie vom Blitz gefällt und blieb neben seinem Bruder liegen, dessen Augen eben brachen. Karl von Hutten hielt die rauchende Pistole noch in der Hand. Aber dann war er mit einem Satz bei Gwen. Er sah die Brandmale auf ihrem makellosen Körper und ihr schmerzverzerrtes Gesicht. »Mein Gott!« stieß er hervor. »Diese verdammten Schweine!« Er sah sich um, suchte Doktor Freemont und fand ihn in einer Ecke des Kellers, bewußtlos, neben sich einen Kasten mit Verbandszeug, denn der Doc hatte Keymis, Burton und die eingeschlagene Nase Pete Bows verarzten müssen, bevor die
Verbrecher ihn zusammenschlugen. »Kümmere dich um Gwen und den Doc!« zischte Jean Ribault. »Ich will sehen, ob da oben nicht noch mehr von diesen Ratten stecken. Und ich schwöre es dir: jeden, den ich erwische, den bringe ich um!« Jean Ribault schlich zur Treppe hinüber, die nach oben in das Landhaus führte. Er meinte, Stimmen und Geräusche gehört zu haben. Jean Ribault hatte sich nicht getäuscht. * Keymis und Burton hatten das Zersplittern der schweren Tür und dann den Schuß gehört. Burton spürte, wie sich für einen Moment alles um ihn herum drehte. Auch der Friedensrichter starrte die Treppe hinunter. Aber diesmal erfaßte Burton die Situation schneller als er. Er wußte nicht, wer die Eindringlinge waren, aber er begriff, daß von ihnen tödliche Gefahr drohte. Denn für ihn bestand kein Zweifel daran, daß Pete Bow und sein Bruder bereits tot waren. »Weg!« flüsterte er, und fast gehorchte ihm seine Stimme nicht mehr. Er packte den Friedensrichter und riß ihn mit sich zur Tür. Dann stürzten die beiden ins Freie und rannten, so schnell sie konnten. Erst hinter einem Gebüsch, das ihnen sichere Deckung gab, hielt Burton. Er zog den Friedensrichter, der wie paralysiert wirkte und dessen Gehirn noch nicht zu begreifen schien, daß wieder einmal alles schiefgegangen war, zu Boden. Burton schob ein paar Zweige zur Seite und spähte zum Landhaus hinüber. Er ahnte, daß seine beste Lebensversicherung jetzt war, sich nicht von der Stelle zu rühren. Entdeckte man ihn, dann war er schon so gut wie tot. Der Angstschweiß rann in Strömen über seinen Körper - und
er war einem Schlaganfall nahe, als er den Mann sah, der in der Tür des Landhauses erschien, den blutigen Degen noch in der Hand. »Ribault!« stöhnte Keymis, der in diesem Moment wieder zu denken begann. »Wo kommt dieser dreimal verfluchte Bastard her? Was will er hier, nein, ich ...« Keynis spürte, wie ihm plötzlich übel wurde. Denn das Gesicht Jean Ribaults drückte Wut, Rache und Tod aus. Er kroch förmlich in sich zusammen, und Burton wagte ebenfalls nicht, sich zu rühren. Keymis erbrach sich, aber er würgte jedes Geräusch mit der vor den Mund gepreßten Hand ab, und fast wäre er an seinem Erbrochenen auf diese Weise erstickt. Jean Ribault verschwand vom Eingang. Keymis ahnte nicht, daß er gar nicht wußte, ob sich außer den Bow-Brüdern wirklich noch jemand im Landhaus befunden hatte, oder ob die beiden Kerle Gwen und den Doktor nur im Auftrag gefoltert und verhört hatten. Als Ribault verschwand, sprang Burton auf. Sein Herz jagte, alles um ihn herum schien sich zu drehen, aber er hetzte los und hatte dabei noch so viel Besinnung, daß er sich sorgfältig immer wieder Deckung verschaffte. Der Friedensrichter folgte ihm mit angst und wutverzerrten Zügen. Es ging fast über seine Kraft, auch diese Niederlage wieder hinzunehmen. Sie erreichten die Kutsche auf Umwegen, warfen sich hinein und herrschten den erschrocken hochfahrenden Kutscher an, die verdammten Gäule auf Trab zu bringen. So verließen Burton und Keymis Bere Ferrers - und noch einmal waren sie, wenn auch nur um Haaresbreite, dem sicheren Tod entronnen. *
Den beiden Freunden gelang es, den Doktor wieder zu Bewußtsein zu bringen, nachdem sie im Nebenraum auch die beiden Kinder entdeckt hatten, die in einem Körbchen lagen, und sich fast die Lunge aus dem Hals brüllten. Doc Freemont sah nach Gwen, nachdem Ribault und von Hutten sie losgebunden hatten. »Mein Gott, müssen diese Kerle Bestien gewesen sein«, flüsterte er, während er die immer noch Bewußtlose untersuchte. »Helfen Sie mir bitte, sie hinauf zubringen«, bat Freemont schließlich. »Sie darf nicht hier in diesem Kellerraum erwachen. Ich werde ihr ohnehin einen starken Beruhigungstrank verabreichen müssen. Mein Gott, wenn ihr Mann das wüßte!« Ribault sah den Arzt an. »Er wird es erfahren, Doktor, darauf können Sie sich verlassen. Aber Sie, Gwen und die Kinder müssen sofort aus England weg. Ich werde Sie jetzt fortbringen ...« Er unterrichtete den Doktor kurz von dem, was er mit dem Boten besprochen hatte. »Der Fischer wird uns helfen. Ich kenne an der französischen Küste eine Familie Fucãr, Freunde von mir, die werden Sie aufnehmen, dort werden Sie in Sicherheit sein.« Der Doktor schüttelte den Kopf. »Schaffen Sie Gwen und die Kinder dorthin. Ich werde erst später folgen. Ich werde noch hierbleiben und meinen ganzen Einfluß bei Hof einsetzen, damit diese Untat ihre Sühne findet. Ich habe gute Beziehungen dorthin. Das hier nehme ich nicht mehr hin. In welchem Lande leben wir den eigentlich?« Den letzten Satz hatte Doktor Freemont voller Bitterkeit hervorgestoßen. Anschließend schafften Jean Ribault und von Hutten Gwen nach oben, während der Doktor das Körbchen mit den Kindern nahm. Während er Gwens Wunden säuberte und Verbände anlegte, berichtete er den beiden Freunden, was sich ereignet hatte.
Jean Ribault und von Hutten hörten mit versteinerten Mienen zu. Schließlich sprang der Franzose auf. »Es bleibt dabei, wir werden Gwen und die Kinder in Sicherheit bringen. Aber dann werden wir diese beiden Verbrecher jagen und nicht eher ruhen, bis sie tot sind und ihre Untaten gebüßt haben!« Von Hutten trat auf den Doktor zu. »Wir haben eine hervorragende Mannschaft, Seewölfe, ein paar neue Leute, aber alles gute Männer, Doktor. Sagen Sie, habe ich Sie richtig verstanden vorhin: Hat Hasard die ›Isabella VII.‹ an den alten Ramsgate verkauft?« Doc Freemont nickte. »Ja, natürlich, aber ...« Plötzlich begriff er. »Sie wollen das Schiff kaufen?« Ribault grinste. »Wir kennen es zwar nicht, weil wir auf der ›Isabella VII.‹ nicht mehr mitgesegelt sind, aber wenn Hasard sie sich an Land gezogen hat, dann muß sie ein hervorragendes Schiff sein. Zumindest werde ich mir das Schiff anschauen und mit dem alten Ramsgate in Rame Head verhandeln. Danach sehen wir weiter. Was meinst du, Karl?« Von Hutten nickte nur kurz. »Tu das, Jean, aber erst werden wir die Sache mit Gwen erledigen.« »Selbstverständlich. Doktor, werden Sie eine Kutsche besorgen können, in der Platz für uns alle ist?« Der Doktor sah von seiner Arbeit auf. »Ich denke schon. Ich werde mich sofort darum kümmern, wenn ich hier fertig bin!« * Erst als sie sich in Sicherheit wußten, gewann die Wut in den beiden Verbrechern Keymis und Burton wieder die Oberhand. »Wir müssen jetzt alles daransetzen, daß diese verdammte Rebellenhure uns nicht entwischt!« geiferte der Friedensrichter. »Natürlich darf sie nicht entwischen«, sagte Burton.
»Was glauben Sie, was passiert, wenn Freemont seine Verbindungen ausnutzt und gegen uns Anzeige erstattet? Er hat Beziehungen, dieser Kerl ist äußerst gefährlich. Sie werden die Stadtsoldaten und die Geheimen in Plymouth mit Ihrer Vollmacht auf Trab bringen. Wir werden jede Straße überwachen und die ganze Gegend durchkämmen lassen. Und wir werden sie erwischen. Dann wird der Doktor erschossen, ebenso diese beiden verfluchten Seewölfe. Mein Gott, wieso sind die bloß so plötzlich im Landhaus Freemonts aufgetaucht? Diese verfluchte Bande muß mit dem Teufel im Bunde sein!« Es kam Burton nicht in den Sinn, daß der Teufel zu ihm als Bundesgenosse viel besser paßte. Der starke Wind war zum Sturm geworden, der über das flache Land heulte. Regen trommelte auf die Kutsche und klatschte gegen die Scheiben. Keymis zog seinen Umhang fester um den Körper. Er befand sich in einer Verfassung, wie er sie noch nie zuvor kennengelernt hatte. Wut, Angst, das Gefühl der völligen Ohnmacht gegen den Seewolf und seine Männer erfüllten ihn. Und der Haß brannte in ihm wie eine alles verzehrende Flamme. So schaukelte und holperte die Kutsche nach Plymouth - und damit begann für Gwen der letzte Akt des Dramas. 7. Die Kutsche, in der sich Gwen, die beiden Kinder und der Doktor befanden, erreichte Plymouth erst gegen Abend dieses Tages. Gwen hatte nach ihrem Erwachen noch einen Zusammenbruch gehabt - als Folge des Schocks, den sie erlitten hatte. Das alles hatte die Abreise verzögert. Der Franzose hatte mit von Hutten ständig draußen vor dem Haus Wache gehalten und die Gegend um das Landhaus kontrolliert. Sie rechneten zwar nicht damit, daß Burton und Keymis noch
an diesem Tage etwas versuchen würden, aber für unmöglich hielten sie es auch nicht, zumal ihnen bekannt war, daß der Friedensrichter offenbar als ein Bevollmächtigter der Krone auftrat. Keiner von ihnen verstand, wieso das sein konnte, die Fakten sprachen jedoch für sich. Auch die Rolle, die Burton bei der ganzen Sache spielte, war den beiden Freunden ein Rätsel. Denn beide, Burton wie Keymis, waren eine Zeitlang sogar auf Anordnung des Lordkanzlers gesucht worden, gegen sie hatte sogar Haftbefehl bestanden. Aber wie war es unter diesen Umständen zur Rehabilitierung der beiden gekommen? Ribault, von Hutten und der Doktor wußten es nicht, aber Freemont hatte geschworen, sich um diesen Punkt ganz besonders zu kümmern. Denn mit rechten Dingen konnte das alles nicht zugegangen sein. Ribault und von Hutten saßen auf dem Kutschbock der Kalesche. Sie hatten sich einem gewöhnlichen Kutscher nicht anvertrauen wollen eine Maßnahme, die sich als völlig gerechtfertigt erweisen sollte. Die Soldaten, die die Straße nach Plymouth sperrten, erblickten sie schon von weitem. Und zwar deshalb, weil die Soldaten der Kälte wegen Feuer angebrannt hatten. Der Franzose zügelte die Pferde. »Verdammt, das dürfte uns gelten«, flüsterte er. Der Sturm fegte über das Land und zerrte an ihren Umhängen. »Was wollen wir tun?« fragte von Hutten zurück. »Durch können wir da nicht, die schießen uns in Stücke. Diese verfluchten Hunde Keymis und Burton!« »Wir lassen die Kutsche stehen, nehmen nur die Pferde und schlagen uns seitlich in die Büsche. Weit ist es von hier bis zu dem Fischer nicht mehr, in diesem Punkt haben wir Glück.« Von Hutten warf einen Blick in die Dunkelheit. »Und Gwen willst du sie mit den Kindern bei diesem Wetter etwa segeln lassen?«
Der Franzose sagte: »Wenn die Schaluppe des Fischers in Ordnung ist, müßte es gehen, Karl. Gwen darf nicht hierbleiben. Wenn sie diesen Verbrechern noch einmal in die Hände fällt, dann können wir ihr auch nicht mehr helfen.« Es war eine ganz verdammte Situation. Aber es half alles nichts, sie mußten handeln, und zwar, bevor die Soldaten auf sie aufmerksam wurden. Längst hatte Ribault die blakende Laterne gelöscht, und jetzt begann er damit, die Pferde auszuschirren. Von Hutten und er hatten alle Mühe, die Tiere zu beruhigen. Ribault und von Hutten zogen ihre Umhänge aus. Gwen, die sich äußerst schweigsam verhielt, wickelte die beiden Kleinen hinein. Der Doktor sah dem ganzen zu, er war nicht in der Lage, irgendwie zu helfen. »Mein Gott«, flüsterte er. »wie sollen wir ohne jegliches Sattelzeug reiten? Das können Sie vielleicht, aber Gwen und ich und die Kleinen?« Der Franzose sah ihn nur an. »Von Hutten und ich nehmen jeder einen der Kleinen. Sie, Doktor, sitzen hinter meinem Freund auf, Gwen hinter mir. Halten Sie sich fest, dann wird es schon klappen! Los jetzt!« Ribault half erst Gwen in den Sattel, dann schwang er sich selber aufs Pferd. Von Hutten reichte ihm die beiden Kinder und nahm dann die gleiche Prozedur mit dem Doktor und sich vor. Anschließend gab ihm Ribault eins der Kinder zurück. In diesem Moment passierte es dann doch - eins der Pferde begann zu wiehern und stieg vorn hoch. »Festhalten!« brüllte von Hutten. »Los jetzt!« »Halt, wer da?« drang die Stimme des Wachhabenden von der Sperre durch die Nacht. »Halt, oder es wird geschossen!« Der Franzose und von Hutten schlugen den Tieren die Absätze ihrer Stiefel in die Weichen, die Pferde wieherten auf und preschten los. Schüsse donnerten hinter ihnen auf, Mündungsfeuer stachen
durch die Dunkelheit, Kommandos erschallten. »Gwen, festhalten, um Himmels willen festhalten, diese Kerle werden uns folgen! Bestimmt sind Berittene dabei!« »Ich paß schon auf mich auf, Jean«, erwiderte Gwen und umschlang den Franzosen. »Halte du den Kleinen, bitte, Jean, paß auf ihn auf!« Jean Ribault knirschte mit den Zähnen. Ihm war die Angst und die aufsteigende Panik in der Stimme Gwens nicht entgangen. Was diese Frau hatte durchmachen müssen, das war einfach zuviel gewesen. »Keine Sorge, Gwen, ich kenne mich mit Pferden aus. Wir schaffen es, ganz bestimmt, das sind wir Hasard schuldig.« Die Tiere preschten weiter. Erst nach einer Weile verringerten Ribault und von Hutten das Tempo. Sie näherten sich dem Vorort Oreston, und sie mußten nach Turnshape, einem winzigen Ort an der Cawsand Bay, die direkt in den Kanal führte. Dort wohnte der Fischer, von dem der Bote gesprochen hatte, dorthin würden ihm seine Leute folgen. Einmal zügelte Ribault sein Pferd, und von Hutten folgte seinem Beispiel. Sie hatten Oreston umritten und hielten auf Turnshape zu. Ribualt wollte sich vergewissern, ob noch Verfolger hinter ihnen herhetzten. Er hörte nichts, und auch dem überaus scharfen Gehör von Huttens fiel nichts auf. Sie konnten nicht wissen, daß ein Berittener von der Straßensperre aus nach Plymouth geprescht war und Keymis inzwischen Meldung erstattet hatte. Der Friedensrichter hatte den Berittenen nur angesehen, während sein Ziegenbart zuckte. »Hat man festgestellt, nach welcher Seite die Kerle ausgebrochen sind?« Der Berittene hatte ihm sodann berichtet. Keymis brauchte nicht lange zu überlegen. Die Kerle wollten zu Cawsand Bay, warum auch immer. Er mußte also das gesamte Gebiet dort absuchen lassen.
Keymis setzte sich sofort hin und fertigte aufgrund seiner Vollmacht, von der niemand ahnte, daß sie eine raffinierte Fälschung war, verbunden mit dem Mißbrauch des königlichen Siegels, die entsprechenden Befehle aus. Der Berittene nahm sie an sich und preschte sogleich wieder los. Das ahnten Jean Ribault und seine Freunde nicht, und deshalb setzten sie ihren Weg nach Turnshape fort in dem Gefühl, die Verfolger abgeschüttelt zu haben. * Ben Murdock öffnete mißtrauisch. Aber dann sah er Doktor Freemont und die Frau, die hinter Ribault auf dem Pferd saß. Er trat näher, und Jean Ribault richtete ihm aus, was der Bote des Doktors ihm aufgetragen hatte. Der Fischer, ein Mann mit weißen Haaren und einem dichten Seemannsbart, trat an Freemont heran. »Sie sind der Doktor, nicht wahr? Ich erkenne Sie, ich habe schon sehr viel Gutes über Sie gehört - treten Sie ein!« Er eilte voran. »Die Pferde können wir in meinem Schuppen unterstellen, ich werde sie nachher sogleich versorgen, soweit mir das möglich ist!« Ribault nickte und hob die ziemlich erschöpft wirkende Gwen vom Pferd, nachdem er dem Doktor den kleinen Hasard in die Arme gelegt hatte. Jean Ribault hörte, wie der Sturm über das Haus heulte. Es herrschte stockfinstere Nacht. Der Mond würde zwar aufgehen, aber erst später, und durch die Wolken würde sein Schein auch nicht viel helfen. Ribault wollte gerade das Haus betreten, als er Hufgeklapper vernahm. Neben dem Franzosen tauchte von Hutten auf. Auch er hatte es gehört. Er stand wie zur Salzsäule erstarrt im Regen und lauschte. »Soldaten, verflucht, Jean, das sind Soldaten! Keymis ist
noch viel schlauer, als wir dachten. Er läßt die ganze Gegend absuchen, vor allem jeden Hafen. Aber, verdammt, wieso gerade dieses Kaff?« Jean Ribault überlegte fieberhaft. »Ich weiß auch nicht, Karl, aber vielleicht ist diesen Kerlen der Bote des Doktors in die Hände gefallen. Ich kann es mir allerdings nicht vorstellen. Und vor allem nicht, daß er dann gleich geredet haben sollte. So sah der Mann nicht aus!« »Also Zufall?« »Wahrscheinlich, aber das ändert nichts, die Kerle sind da. Ich möchte nur wissen, ob die jetzt wirklich jedes Haus absuchen werden. Gwen muß fort, augenblicklich. Ich kann mir denken, daß Keymis und Burton hinter ihr her sind, wie der Teufel hinter der armen Seele. Erstens wollen diese Dreckskerle von ihr etwas erfahren, was sie gar nicht weiß, zweitens müssen sie Gwen und den Doktor so rasch wie möglich beseitigen, oder es geht ihnen an den Kragen!« Ribault hatte nur geflüstert und sich unterdessen in Richtung Haus zurückgezogen. »Los, wir müssen mit dem Fischer reden, er muß uns die Schaluppe überlassen, wir bringen Gwen über den Kanal ...« Ein Schatten tauchte neben den beiden auf. »Nein, das werdet ihr nicht tun!« vernahmen sie Gwens Stimme aus dem Dunkel. »Ich habe bereits mit dem Fischer gesprochen, und Doc Freemont hat mir dabei geholfen. Er hält es zwar für nicht ungefährlich, bei diesem Wetter zu segeln, aber er meint, sein Boot sei stark genug. Nur - er will die Kinder bei diesem Wetter nicht mitnehmen, auf gar keinen Fall.« Verzweiflung klang in Gwens Stimme auf, sie wußte nicht ein noch aus. Plötzlich lehnte sie ihren Kopf gegen Jean Ribaults Brust und schluchzte herzzerbrechend. Der Franzose streichelte sie. »Beruhige dich doch, Gwen. Ich werde mit dem Fischer
reden, er ...« sagte von Hutten. »Nein, Jean, der Fischer hat recht. Gwen muß fort« »Ich werde dem Fischer beschreiben, wo er die Familie Fucãr findet. Wir, du und ich, können hier jetzt auf gar keinen Fall fort, das ist es doch, was du meinst, Gwen, nicht wahr?« Gwen nickte, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Natürlich meine ich das, ich hätte ja keine ruhige Minute mehr. Der Doktor ist ein lieber Freund, aber er kann sich gegen dieses Gesindel, gegen Burton und Keymis nicht behaupten. Die Kerle wollten schon in seinem Landhaus die beiden Kleinen foltern lassen, damit ich reden sollte. Sie dachten, ich wäre bewußtlos, ich hätte das nicht gehört, aber ich war gerade wieder wach geworden. Das war, kurz bevor ihr mich befreit habt!« Sie warf sich plötzlich wieder an Jean Ribaults Brust und krallte sich dort fest. »Jean, sag mir um Christi willen, was ich tun soll? Ich kann doch die beiden Kleinen nicht allein lassen! Ich kann es doch nicht tun, mein Gott!« Wieder schluchzte sie. »Komm ins Haus, Gwen. Wir wollen vernünftig über alles miteinander reden. Du mußt fort, und wenn du es nicht anders willst, dann werden wir zusammen mit Doktor Freemont die Kleinen übernehmen. Ich schwöre dir, wir selbst, Karl, der Doktor und ich, bringen sie zu Fucãr, sobald der Sturm aufgehört hat!« Gwen sah den Franzosen an. Dann hauchte sie plötzlich einen Kuß auf seine Wange und umarmte anschließend Karl von Hutten. »Ich glaube, ihr habt recht. Ich weiß nicht, woher Keymis die Macht hat, die Stadtsoldaten herumzukommandieren, aber ich muß mich mit der Tatsache abfinden!« Ribault nickte und führte Gwen ins Haus. »Unsere Männer werden morgen Hiersein, Gwen. Wir haben eine komplette Besatzung angeheuert. Wenn die hier ist, kann
Keymis anstellen, was er will, deine Kinder werden so sicher sein wie in Abrahams Schoß. Außerdem erstattet der Doktor noch morgen Anzeige gegen diese Halunken. Was sie mit euch im Landhaus getrieben haben, das wird den Kerlen den Hals brechen. Und wenn nicht, Gwen, dann verspreche ich dir, daß ich nicht ruhen und rasten werde, bis diese beiden Kerle tot sind!« Sie befanden sich im Haus Ben Murdocks. Das Hufgeklapper war verklungen, die Patrouille vorbeigeritten, aber sie konnte jeden Moment wieder auftauchen. Ben Murdock war kein Mann, der lange Reden liebte. Als Jean Ribault ihm Goldstücke in die Hand drückte, wollte er erst ablehnen, aber Jean überredete ihn, sie zu behalten. Er sah Gwen an. »Ich werde Ihnen jetzt von meinen Kleidern etwas heraussuchen. So können Sie nicht aufs Wasser, nicht bei diesem Wetter. Und sie, Doktor, sollten mit den Kleinen zu meiner Schwägerin gehen. Sie wohnt etwa vier Meilen von hier entfernt in Goosewell, das ist weiter im Land. Sie hat Kinder, ihr wird es nicht schwerfallen, die Kleinen zu versorgen, außerdem fallen sie dort nicht so auf wie bei einem alten Mann. Sagen sie ihr einen Gruß von mir, und ich würde ihr später alles erklären. Das genügt.« Er sah Gwen abermals an. »Ich weiß, wie schwer es Ihnen fällt, Ihre Kinder zurückzulassen, aber sie sind bei meiner Schwägerin in guten Händen, glauben Sie mir. Das hier ist kein Wetter, um Kinder an Bord zu nehmen, wir werden selbst zu kämpfen haben! Zumal wir allein segeln werden, Sie und ich. Sind sie stark genug, um mit zuzupacken?« Gwen nickte. »Gut, das Boot ist nicht groß, aber sehr seetüchtig und sehr stark. Es hat schlimmere Stürme überstanden als diesen. So, und jetzt werden wir uns für die Fahrt anziehen!« Der Fischer ging in einen Nebenraum und suchte Kleidung zusammen, dann gab er sie Gwen.
Wenig später war Gwen angezogen. Sie trug jetzt Männerkleider und war praktisch von einem Fischer nicht zu unterscheiden. »Wir werden euch begleiten«, sagte Jean Ribault. »Nein, ich halte das nicht für gut. Reitet sofort zu meiner Schwägerin, oder besser noch, lauft dorthin. Die Kinder müssen hier weg, hier fallen sie sofort auf, wenn die Soldaten mein Haus durchsuchen sollten. Mistreß Killigrew und ich kommen schon allein zurecht. Und im übrigen - was ich für Mistreß Killigrew tu, das tu ich wirklich von Herzen gern. Ich habe von ihrem Mann gehört, von seiner Sorte könnte England noch ein paar mehr gebrauchen!« Gwen nahm die beiden Kleinen in die Arme. Sie küßte beide zärtlich, und Hasard räkelte sich verschlafen ein wenig in ihren Armen. Philip hingegen schlief fest, der Doktor hatte den beiden Kindern einen Schlaftrunk verabreicht. »Doktor, leben Sie wohl! Und haben Sie Dank für alles, was Sie für meinen Mann, für die Kinder und für mich getan haben und noch tun werden.« Doktor Freemont brummte etwas Unverständliches, aber hatte Mühe, seine Züge, in denen es verdächtig zuckte, unter Kontrolle zu halten. Jean und Karl von Hutten begleiteten die beiden vors Haus. Noch einmal umarmte Gwen die beiden alten Freunde. Dann löste sie sich von ihnen und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden. 8. Gwen und der Fischer erreichten ungehindert die Schaluppe, die in der Nähe eines Schuppens am Ufer vertäut war, Ben Murdock hatte recht gehabt, es war ein zwar kleines, aber dafür ungeheuer seetüchtiges und starkes Schiff.
Der Fischer ging an Bord. Er warf einen besorgten Blick zum Himmel empor. Aber es war immer noch stockfinster. Nur der Sturm hatte in der letzten halben Stunde an Stärke zugenommen. Ben Murdock wußte, was das bedeutete, sobald sie den Schutz der Cawsand Bay verließen. Er nahm sich im stillen vor, falls nötig, an der anderen Seite der Bay eine versteckte Bucht anzulaufen und dort mit Gwen das Nachlassen des Sturmes abzuwarten. Aber von hier mußten sie zunächst einmal fort. In jener Bucht auf der anderen Seite waren sie in Sicherheit, falls der Sturm und der Seegang im offenen Wasser zu stark sein sollten. Er kannte die Bucht seit Jahren, kein Weg führte vom Land aus dorthin, und sogar von der Seeseite her hatte man guten Schutz gegen Sicht. Absichtlich hatte er von diesem Plan nichts erwähnt, denn wenn es niemand wußte, konnte es auch niemand verraten, auch nicht unter der Folter. Ben Murdock löste die Zurrings des Hauptsegels, und Gwen half ihm schweigend. Gemeinsam hievten sie das schwere Segel hoch, und sofort packte der Wind zu. »Na, dann wollen wir mal«, sagte Ben Murdock und löste die letzten Leinen, die seine Schaluppe mit dem Steg noch verbanden. Er nahm sich vor, die junge Frau später in seinen Plan einzuweihen. Denn als die ersten heulenden Böen das Boot packten, schwante ihm, daß bei diesem Wetter keine Möglichkeit bestand, lebend über den Kanal zu gelangen. Ben Murdock löste die letzten Leinen, das Boot trieb vom Steg ab. In diesem Augenblick stürzten zwei dunkel gekleidete Gestalten hinter dem Schuppen hervor. Er konnte sie nicht genau erkennen, aber als für einen Moment der bleiche Mond in einer Lücke der jagenden Wolken erschien, erkannte er die hohen Zylinder, die die Männer trugen. Mein Gott, das sind Geheime! schoß es ihm durch den Kopf. Und schon vernahm er die scharfe Stimme des einen.
»Halt! Legen Sie sofort wieder an, oder wir eröffnen das Feuer! Legen Sie an, oder ...« Eine heulende Bö packte das Boot, fuhr ins Segel, riß es vom Steg fort, und der hinzuspringende Geheimpolizist entging nur mit knapper Not einem unfreiwilligen Bad. Mündungsfeuer blitzten auf. Ben Murdock verspürte einen Schlag gegen seinen Leib, dem gleich darauf ein wahnsinniger Schmerz folgte, unter dem er sich zusammenkrümmte. Gwen schrie auf. Wieder stach ein Mündungsfeuer aus der Dunkelheit. Die donnernde Detonation des Schusses wurde von einer Bö weggefegt. Gwen sprang zu Ben Murdock hinüber. In diesem Augenblick traf sie die Kugel, die der zweite Geheime soeben auf das Boot abgefeuert hatte. Der Schlag gegen ihren Oberkörper war so stark, daß er sie augenblicklich,von den Beinen riß. Gwen schlug zu Boden, der heulende Wind packte das Boot und riß es in die Cawsand Bay hinaus. Weit legte sich die Schaluppe über. Ben Murdock erkannte die Gefahr trotz des wahnsinnigen Schmerzes, der ihn in diesem Augenblick wieder wie flüssiges Blei durchfuhr. Die Bucht! schoß es ihm durch den Kopf. Wir müssen die Bucht erreichen! Er preßte die Rechte in die Seite, wo ihn die Kugel getroffen hatte, und richtete sich auf. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er das Ruder und holte die Schot des Großsegels an. Auch Gwen richtete sich auf. Sie spürte, wie Blut in ihre Kleidung rann. Vor ihren Augen drehte sich alles, aber sie kämpfte die aufsteigende Ohnmacht nieder. Noch einmal blitzten Mündungsfeuer am Ufer auf, schwach wehte der Knall der Schüsse zu den beiden Menschen in der Schaluppe herüber, aber die Kugeln klatschten wirkungslos weit hinter dem Boot ins Wasser. »Mister Murdock, sind Sie verletzt?« Gwens Stimme war
schwach, aber der Fischer hörte sie trotzdem. Er winkte Gwen zu sich heran. »Ja, die Kerle haben mich erwischt. Ich weiß nicht wie schlimm, aber helfen Sie mir, die Ruderpinne zu halten. Ich schaffe es allein nicht mehr.« Der Sturm trieb das Boot mit hoher Fahrt in die Bucht hinaus. Gwen versuchte, dem Fischer zu helfen, aber gleichzeitig spürte sie, wie ihre Kräfte mit dem ausströmenden Blut ebenfalls von Minute zu Minute dahinschwanden. »Wir müssen umkehren, Mister Murdock«, sagte sie nach einer Weile. »Mich haben die Kerle auch getroffen, ich kann das Boot alleine nicht ...« Der Fischer rutschte plötzlich zur Seite und Gwen schrie erschrocken auf. Aus seinem Mund quoll ein Blutstrom hervor. »Mistreß Killigrew!« hörte Gwen ihn ein paar Sekunden später sagen. Sie beugte sich sofort zu ihm hinab und nahm seinen Kopf in die Arme. Dabei ließ sie die Ruderpinne fahren. »Die Bucht, am - anderen Ufer der Bay - dort sind Sie in Sicherheit dort ...« Der Kopf Ben Murdocks fiel zurück. Dann lag er ganz stille. Eine Woge schlug ins Boot, gleich darauf eine zweite. Die Schaluppe krängte nach Backbord, aber sie richtete sich wieder auf. »Ben, Ben - Mister Murdock!« Gwens Schrei verhallte ungehört. Ben konnte sie nicht mehr hören, er war tot. Und der Sturm, der seine Böen wie rasend über die Bucht trieb und sich innerhalb der letzten Minuten zu einem rasenden Inferno gesteigert hatte, riß ihre Worte mit sich fort. »O Gott!« Gwen starrte aus blicklosen Augen auf den Toten, auf die gischtende See, die an den Bordwänden der kleinen Schaluppe emporsprang, die sich vom Bug her unablässig ins Schiff ergoß. Sie starrte auf die riesige von leuchtenden, tobenden Wogen durchzogene Wasserfläche - und plötzlich
wußte sie, daß dies das Ende war. Für einen winzigen Moment verlor sie das Bewußtsein, aber dann erwachte sie wieder und spürte gerade noch, wie eine gewaltige Böe die aus dem Ruder gelaufene Schaluppe zur Seite drückte. Wasser schoß ins Schiffsinnere, dann kenterte das Boot. Vor Gwens geistigem Augen tauchte der Seewolf auf, seine eisblauen Augen blickten sie an, und sie war nicht mehr imstande, diesen Blick zu deuten. Sie spürte das eiskalte Wasser, dann traf sie irgend etwas am Kopf und löschte ihr Bewußtsein schlagartig aus. Gwen spürte nichts mehr davon, daß die gekenterte Schaluppe sie mit in die Tiefe zog, denn ihr Körper hatte sich zwischen den Leinen des laufenden und stehenden Guts verfangen. * Jean Ribault und von Hutten hatten die Schüsse gehört. Sie waren zum Schuppen gestürzt, aber sie kamen zu spät. Die Schaluppe war bereits im Dunkel der Nacht verschwunden und die beiden Geheimpolizisten ebenfalls. Sie waren zu ihren Pferden gelaufen, um nach Plymouth zu reiten und Meldung zu erstatten. Die Leiche des Fischers fand man am nächsten Tag. Angespült. Jean Ribault und von Hutten erfuhren davon. Der Franzose sah sich trotz der damit verbundenen Gefahr den Toten an, während von Hutten die Kinder bewachte. Als er den Toten gesehen hatte, wußte er alles, besonders, da der Sturm der vergangenen Nacht auch noch Trümmer der gesunkenen Schaluppe an den Strand gespült hatte. Ribault suchte lange. Den ganzen Tag über streifte er an der Crawsand Bay herum. Danach hatte er Gewißheit. Gwen war tot.
Diese Erkenntnis wirkte auf ihn wie ein Schock. Erst spät kehrte er in das Haus zurück, in dem sich die Kinder und der Doktor versteckt hielten, zusammen mit seinem Freund, Karl von Hutten. Fassungslos vernahmen sie die entsetzliche Nachricht. »Karl, die Kinder bleiben hier. Der Doktor hat ein gutes Versteck, auch er wird nicht gefunden werden, zumal ich bezweifle, daß die ganze Suche überhaupt noch fortgesetzt wird. Sie ist auch für Keymis und Burton sinnlos geworden. Wir beide aber, du und ich, fahren nach Rame Head sobald unsere Crew da ist. Dann sehen wir uns die ›Isabella VII.‹ an. Wenn sie das ist, was ich hoffe, werden wir sie dem alten Ramsgate abkaufen und sofort dieses Land verlassen. Den Doktor und die beiden Kinder bringen wir zu den Fucãrs. Anschließend segeln wir in die Karibik, denn wir müssen Hasard und seine Männer finden. Er hat ein Recht, zu erfahren, was hier geschehen ist, mehr noch, es ist unsere Pflicht, ihm diese Schreckensbotschaft zu bringen!« Riebault schwieg eine Weile, in seinen Zügen arbeitete es. »Wenn das alles geschehen ist, dann, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist, dann werde ich diese beiden Kerle jagen. Und sie werden sich wünschen, nie geboren worden zu sein!« Es geschah alles, wie Ribault gesagt hatte. Der alte Ramsgate verkaufte ihm und von Hutten die ›Isabella VII.‹, die Ribault und von Hutten auf den Namen ›Le Vengeur.‹ umtauften. »Der Rächer« - so stand es in großen blutroten Lettern am Bug der zweimastigen Karavelle, als sie England verließ und Kurs auf die französische Küste nahm. Und wieder stand der alte Hesekiel Ramsgate am Kai und blickte dem Schiff hinterher. Er hatte die Gesichter dieser beiden Männer und ihrer Besatzung gesehen, er hatte von dem Ende der beiden Bow-Brüder gehört, und er wußte, daß man in England von diesem Schiff und seiner Besatzung eines Tages
noch sprechen würde. Der Alte blieb noch eine ganze Weile auf dem Ausrüstungskai seiner Werft stehen. Erst als die letzte Mastspitze der ›Le Vengeur.‹ hinter der Kimm verschwunden war, drehte er sich um und ging langsam zu seinem Wohnhaus zurück, das auf dem Werftgelände lag. 9. Wochen waren vergangen. Bei wechselndem Wetter stand die ›Isabella VIII.‹ mittlerweile in der Nähe der Azoren. Das Schiff lief unter vollen Segeln vor einer leichten Dünung her, genau auf die Azoren zu. Der Seewolf gedachte dort seine Wasservorräte zu ergänzen, eventuell auch Nahrungsmittel in Form von frischen Früchten an Bord zu nehmen. Aber das mußte der Augenblick ergeben. Je öfter Hasard jedoch an Gwen und die Kinder dachte, je quälender wurde seine Sorge um sie. Er hatte einfach ein ungutes Gefühl, das ihn auch nicht mehr verließ, seit sie England endgültig das Heck zugekehrt hatten. Aber nicht diese Sorge allein quälte ihn. Die beiden Engländer hatten sich trotz des verhältnismäßig großen Vorsprungs, den die ›Isabella‹ herausgesegelt hatte, nicht abschütteln lassen. Besonders die Karavelle, der sie den Mast abgeschossen hatten, gab Hasard Rätsel auf. Denn erstens mußten die Engländer den Schaden geradezu im Eiltempo behoben haben, außerdem schien der Kommandant dieses Schiffes einen sechsten Sinn dafür zu haben, wohin und auf welchem Kurs sich die ›Isabella‹ bewegte. Denn immer wieder tauchte der Engländer hinter ihnen auf, segelte auch schon einmal dichter an sie heran, aber er wagte sich nach der Lehre, die der Seewolf ihm vor Cornwalls Küste erteilt hatte, nie mehr in die Reichweite der Siebzehnpfünder mit den überlangen Rohren.
Allen Versuchen, ihn zu stellen, wich er geschickt aus - unter Ausnutzung der hohen Geschwindigkeit seines verhältnismäßig kleinen und leichten Schiffes. Dem Seewolf war klar, was der Engländer mit seinen Manövern bezweckte. Offenbar kannte er sich in diesem Gebiet des Atlantik gut aus. Er verschwand immer wieder, aber nur, um der ihm nachfolgenden großen und stark bewaffneten Galeone neue Hinweise über den Kurs und die Position der Seewölfe zu geben. Manchmal kriegten die Seewölfe ihn tagelang nicht zu Gesicht, aber dann war er plötzlich wieder da. Keiner der Männer an Bord konnte es leugnen: Dieser Engländer nervte sie gehörig! Die Katastrophe brach über die ›Isabella‹ an einem strahlenden Morgen herein. Über dem Atlantik spannte sich ein azurblauer Himmel. Eine leichte Brise wehte aus Nordost, für die ›Isabella‹ der ideale Wind. Sie hatte jeden Fetzen Tuch gesetzt, den ihre Masten und Rahen tragen konnten. Mit schäumender Bugwelle pflügte sie durch die See. Von dem lästigen Engländer war weit und breit keine Mastspitze zu sehen. Hasard stand auf dem Achterdeck und beobachtete die prall gefüllten Segel. Hin und wieder warf er einen Blick zur Sonne hoch. »Pete«, sagte er nach einem solchen Blick zum Rudergänger, »fall ein bißchen nach Backbord ab, so segeln wir direkt auf die Azoren zu.« Pete Ballie nickte. Er griff in die Speichen des Ruderrades und wollte es herumwirbeln, da ertönte aus dem Schiffsinnern plötzlich ein Rasseln und Scheppern. Das Ruderrad drehte leer durch, die ›Isabella‹ lief aus dem Ruder, die Segel schlugen back und begannen zu knattern. Mit einem Sprung war der Seewolf bei dem Rudergänger. »He, Pete, bist du verrückt? Was soll das, Mann ...«
Er griff in die Speichen des Ruderrades und spürte sofort, was los war. Mit einem Satz war er an der Schmuckbalustrade. »Runter mit den Segeln!« brüllte er. »Alle Mann in die Wanten! Ferris, Shane, zu mir. Die Ruderkette ist gebrochen. O verdammt, beeilt euch!« Der rothaarige Hüne Ferris Tucker und Big Old Shane, der einstige Schmied und Waffenmeister von Arwenack, stürmten heran. »Was sagst du?« brüllte der Schiffszimmermann. »Die Ruderkette ist gebrochen? Bei diesem Wetterchen? Niemals!« Auch er griff in die Speichen des Ruderrades, während der Profos die Männer in die Takelage scheuchte und dabei mindestens zehn Affenärschen die Haut in Streifen abzog. Aber auch der Schiffszimmermann spürte sofort, daß das Ruderrad sich leer drehte, ohne jeden Widerstand. Tucker stieß einen Fluch aus, der sogar Pete Ballie für einen Moment erbleichen ließ. »Shane, mein Werkzeug!« wandte er sich an den Waffenmeister. »Ich geh mit Pete runter und seh nach, was los ist. Du kennst die Ruderanlage so gut wie ich, du weißt, was wir brauchen.« Big Old Shane nickte nur, dann sauste er los. Und genau in diesem Moment ertönte die Stimme Dans aus dem Großmars. »Mastspitzen an der Kimm. Der Engländer segelt mit Braßfahrt heran. Was ist los bei euch da unten, wollt ihr etwa auf diesen Scheißkerl warten?« Hasard schwang sich über die Schmuckbalustrade. Mit ein paar Sätzen fegte er zum Großmast hinüber und enterte auf. Dan kriegte große Augen, so schnell war der Seewolf bei ihm im Mastkorb, und dabei war Dan O’Flynn ganz bestimmt nicht einer der Langsamsten. Ohne ein Wort starrte der Seewolf zu den Mastspitzen hinüber, die sich über die Kimm schoben. Dann erkannte er
auch das Schiff. Lateinertakelung, ein flacher, schnittiger Rumpf, weithin leuchtende Bugsee. Dan hatte recht - es war der Engländer. Hasard biß sich auf die Lippen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt Wenn dieser Kerl merkte, daß er manövrierunfähig in der langen Dünung lag, würde er sofort angreifen. Und daß er es bemerkte, daran bestand für den Seewolf keine Zweifel. Seine Gedanken überschlugen sich. Dan sah ihn aus großen Augen an, denn so hatte er den Seewolf noch nie erlebt. Dan sah förmlich, wie sich die Gedanken hinter Hasards Stirn jagten. Plötzlich, noch ehe Dan eine Frage stellen konnte, sauste der Seewolf wieder zum Deck hinunter. Er stürmte zum Achterdeck und verschwand im Innern des flachen Achterkastells. Minuten später befand er sich bei Ferris Tucker, Big Old Shane und Pete Ballie. Der Schiffszimmermann wandte sich dem Seewolf zu. »Der Schloßbolzen der Ruderkette ist gebrochen. Er muß einen Fehler gehabt haben, denn sonst ...« »Wie lange?« fragte Hasard scharf. Ferris Tucker biß sich auf die Lippen. Dann sah er den Waffenmeister von Arwenack an. »Was meinst du, Shane?« »Drei Stunden, mindestens!« Hasard starrte die beiden an, dann Pete Ballie. »Zu lange. Bis dahin ist dieser verfluchte Engländer längst da, und wir kriegen Saures! Big, sofort an die Arbeit, habt ihr noch einen Reservebolzen?« Diesmal grinste Ferris Tucker. »Bolzen, Kette und Schloß - alles. So dumm ist Ferris Tucker auch nicht, sich so etwas nicht mitzunehmen!« Er grinste, und auch der Seewolf mußte trotz der höchst bedrohlichen Situation lächeln. »Hör zu, Ferris, nimm dir an Männern, wen du willst. Aber Old Shane und Batuti - die beiden brauche ich, und zwar
sofort. Das ist unser einziger Ausweg! Der Engländer soll seine helle Freude an uns haben!« »Du meinst, wir sollen ...« Hasard bedeutete Old Shane zu schweigen. Dann erläuterte er rasch seinen Plan. »Und du hältst dich ran, Ferris. Jede Minute zählt. Wenn du nicht fertig bist, bevor auch die Galeone heran ist, dann schicke ich dir Carberry, und der wird dir deinen Affenarsch in Streifen abziehen, darauf kannst du Gift nehmen!« Die Männer unter Deck brachen in dröhnendes Gelächter aus. Die laute Stimme Carberrys stoppte sie. Der Profos stand breitbeinig hinter ihnen. »Verdammt, Hasard, ich sehe absolut keinen Grund zur Lustigkeit. Der Kerl läuft mit seinem Schlappen eine Affenfahrt, und ihr grölt hier herum. Ich sag dir, dieser Bursche hat längst spitz, daß mit uns was nicht stimmt. Der greift an, diese Typen kenne ich! Man sollte euch allen doch gleich ...« Was Carberry sonst noch sagte, ging in einem abermaligen dröhnenden Gelächter unter. Aber dann erklärte der Seewolf dem Profos ebenfalls seinen Plan. »He, alle Achtung, Hasard, das sieht dir mal wieder ähnlich, na, die werden sich freuen! Und jetzt werde ich dir ein paar kräftige Burschen besorgen, Ferris, damit du hier nicht länger Maulaffen feilhältst, sondern endlich mit der Arbeit anfängst!« Der Profos verschwand blitzartig, ebenfalls Big Old Shane und der Seewolf. Und dann begannen auf der ›Isabella‹ schlagartig turbulente Vorbereitungen. Batuti, der riesige Gambia-Neger, grinste von einem Ohr zum ändern, als er hörte, um was es ging. * Leutnant Scinders stand auf dem Achterkastell der ›Hermes‹. Schon eine ganze Weile starrte er zu der dahintertreibenden
›Isabella‹ hinüber. »Mit dem Schiff stimmt etwas nicht«, sagte er bereits zum drittenmal. Wieder hob er sein Spektiv ans Auge. Deutlich sah er, daß die Segelenden an den Rahen festgezurrt waren. Zwar so, daß man sie jederzeit wieder setzen konnte, aber immerhin. An Deck liefen Männer der Besatzung aufgeregt, hin und her. Er setzte das Spektiv ab. Seine Züge verzerrten sich. Ganz gleich, was mit diesen verfluchten Seewölfen los war - ihr Schiff trieb jedenfalls manövrierunfähig in der Dünung. »Nein«, entschied Scinders, »so schwachsinnig ist keiner! Das kann kein Trick sein. Denn bevor die Kerle ihre schwere Galeone wieder in Fahrt setzen können, bin ich heran. Irgend etwas ist los da drüben, und ich werde meine Chance nutzen.« Er richtete sich hoch auf, sein Entschluß war gefaßt. »Bootsmann, wir greifen an. Backbord und Steuerbordbatterien klar zum Gefecht! Alle Mann auf Stationen!« Der Bootsmann salutierte. Er warf einen raschen Blick zu der treibenden Galeone hinüber. Er traute der ganzen Sache nicht, weil er zuviel über den Seewolf und seine Männer wußte. Aus Kneipen, aus Gesprächen. Legenden teils, teils auch echte Informationen. Aber das war nicht Seine Entscheidung. Wenn dieser Scinders den Angriff befahl, dann wurde eben angegriffen. Er gab dem Trommler ein Zeichen, gleichzeitig wiederholte er mit gewaltiger Stimme die Befehle des Leutnants. Die ›Hermes‹ gehorchte dem leisesten Ruderdruck, sie war ein ausgezeichnetes Schiff. Sogar der Fockmast war wieder in Ordnung, allerdings nur Dank der tatkräftigen Unterstützung der Zimmerleute von der ›Albion‹. Und das Donnerwetter, das Scinders über sich hatte ergehen lassen müssen, das bereitete dem Bootsmann der ›Hermes‹ immer heimlich noch Vergnügen. Er konnte diesen Scinders nicht leiden, denn der Leutnant gehörte zu den typischen Leuteschindern, die nichts
kannten als ihren eigenen Ehrgeiz. Die ›Hermes‹ näherte sich rasch der dahintreibenden ›Isabella‹. Scinders ließ wohlweislich einen Kurs steuern, der den gefährlichen und weittragenden Geschützen dieses Rebellenschiffes keinerlei Möglichkeit zu einer Breitseite ließ. Nervös hob der Leutnant immer wieder sein Spektiv ans Auge, denn da drüben bei der Piratenbrut rührte sich noch immer nichts. Er wußte nicht, daß Ferris Tucker und seine Leute wie die Verrückten im Achterschiff schufteten und eben dabei waren, die Kette der Ruderanlage mit einem neuen Schloßbolzen zu versehen und die einzelnen Glieder wieder auf die Übertragungsräder zu legen. Er ahnte ebenfalls nichts davon, daß sich die Marse der ›Isabella‹ in Gefechtsstände verwandelt hatten und von dort oben scharfe Augen jede Bewegung seines Schiffes verfolgten und er ahnte nicht, daß sich Batutis Gesicht zu einem schadenfrohen Grinsen verzog, als er jetzt genau von vorn auf die ›Isabella‹ zusegelte. »Gut, gut!« radebrechte Batuti jetzt in seinem fürchterlichen Englisch. »Kommen näher, englisches Hornochs, Batuti schon warten. Ho, ein Fest für ganz ›Isabella‹ werden, und alle Seewölfe über dich lachen, du kariertes Affenarsch, verdammtes!« Big Old Shane, der die Selbstgespräche Batutis hörte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Auch er harrte der Dinge, die da geschehen sollten, mit allergrößter Spannung. Wichtig blieb allerdings, daß die Galeone nicht zu früh an der Kimm erschien, denn sonst wurde die Sache bedenklich. Scinders kniff die Augen zusammen. »Wollen diese Hunde sich einfach zusammenkartätschen lassen?« brüllte er. »Ist dem allmächtigen Seewolf vielleicht das Herz in die Hose gerutscht oder auch etwas anderes, he?« Er lachte unbändig über seinen eigenen dämlichen Witz und reagierte damit doch nur seine Furcht und Unsicherheit ab.
Die ›Isabella‹ wuchs vor seinen Augen. Und dann, ganz plötzlich, geschah es. In den Marsen des Gegners erschienen Männer, die sich bisher verborgen gehalten hatten. Gleich darauf zischten Brandpfeile zur ›Hermes‹ hinüber. Sie zogen feine Rauchfahnen hinter sich her. Scinders brach in lautes Gelächter aus. »Brandwachen ins Rigg!« schrie er, und ein Trupp von Männern enterte auf, geschulte, hervorragend ausgebildete Experten. Und auch sie grinsten. Aber das Lachen verging ihnen schnell. Der erste Brandpfeil verhakte sich im Großsegel. Flammen züngelten empor, schon wollte einer der Männer noch ihm greifen, da schien der Pfeil vor seinen Augen zu explodieren. Das Feuer hatte die von Big Old Shane im Schaft verborgene Pulverladung erreicht. Eine Stichflamme schoß hoch, im Nu brannte das Segel. Und dann zischten die Pfeile nur so herüber. Sie trafen die Segel, das Deck, ein Pulverfaß bei den Geschützen. Ein donnernder Krach, eine grelle Stichflamme, die himmelhoch emporschoß - und fliehende, schreiende Menschen, die um ihr Leben rannten und nichts mehr begriffen. Denn diese Waffe war eine Erfindung des Waffenmeisters von Arwenack und von den Seewölfen schon verschiedentlich höchst wirkungsvoll angewendet worden. Scinders sah die brennenden Segel und tobte wie ein Verrückter. Die ›Hermes‹ lief aus dem Ruder, und damit geriet sie automatisch vor die Geschütze der ›Isabella‹. Wenn die Entfernung auch noch groß war - Al Conroy war ein Meister seines Fachs. Die Stückpforten flogen hoch, die Breitseite verließ donnernd die überlangen Rohre. Krachend und berstend fuhren die schweren Kugeln ins Heck der ›Hermes‹, zerfetzten das Ruder, zersplitterten einen Teil des Achterkastells, und überall an Bord wuchsen die Flammen zu brausender Lohe. Die ›Hermes‹ verschwand hinter einem Vorhang von Rauch
und pechschwarzem Qualm, und über die Decks der ›Isabella‹ dröhnte der alte Kampfruf der Crew: »Arwenack!« Nur wenige Minuten später erschien Ferris Tucker an Deck. Pechschwarz im Gesicht, die Arme voller Schmiere. »Setzt Segel, ihr verdammten Affen, oder wollt ihr hier anwachsen, verdammt noch mal?« Wieder brandete ein Schrei über die ›Isabella‹, und die Männer flitzten in die Wanten. Es war der Moment, in dem die schweren Segel der ›Albion‹ über der Kimm erschienen und rasch zu ragenden Türmen emporwuschen. Big Old Shane warf nur einen Blick hinüber, dann einen auf den Schiffszimmermann, der gerade in die Speichen des Ruderrades griff. »Junge, Junge - Glück muß der Mensch haben!« sagte er nur und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann gab er Batuti ein Zeichen. »Los, Kerlchen, sorg mal ganz schnell dafür, daß wir beide genügend neue Pfeile bereit haben. Ich glaube, der Bursche, der uns da in den Kurs segelt, wird ein härterer Brocken für uns!« Batuti grinste nur und spannte spielerisch den riesigen Spezialbogen, mit dem Old Shane und er die schweren Spezialpfeile verschossen. Unter seiner dunklen Haut spielten dabei die mächtigen Muskelstränge. »Wir machen hin, alles Affenärsche kaputt, wenn angreifen!« Damit enterte er ab, um Nachschub zu holen. Big Old Shane behielt mit seiner Prognose recht, und die Seewölfe sollten es noch spüren. * Die ›Albion‹ lief ebenfalls gute Fahrt. Sie war wesentlich größer als die ›Isabella‹ und auch entsprechend schwerer armiert. Ihre Zwanzigpfünder heischten Respekt.
Hasard musterte sie kühl. Er hatte von diesem neuen Schiffstyp der englischen Flotte gehört. Noch immer konnte sich der Seewolf nicht dazu entschließen, mit seinen Landsleuten einen Kampf auf Leben und Tod auszufechten. Hasard dachte weiter, aber er wußte zugleich auch, daß es schwierig sein würde, seine Männer im Zaum zu halten. »Achtung, Deck!« rief er, und jeder Mann an Bord wandte ihm sein Gesicht zu. »Herhören! Wir werden kämpfen müssen, daran ist nichts mehr zu ändern. Aber es gilt noch immer, was ich euch gesagt habe. Gefeuert wird nur auf meinen ausdrücklichen Befehl. Jeder von euch soll versuchen, so wenige unserer Landsleute zu töten, wie nur irgend möglich. Ich weiß, euch paßt das nicht, aber ihr habt schon oft auf mich gehört, auch wenn ihr mich anfangs nicht immer verstehen konntet. Aber denkt nach: War es je schlecht für euch?« Mehr sagte Hasard nicht. Aber er registrierte, daß die Gesichter seiner Männer, die eben noch Zorn und Empörung widerspiegelt hatten, nachdenklich geworden waren. Es blieb auch gar keine Zeit mehr für lange Diskussionen, denn die ›Albion‹ brauste mit vollen Segeln auf die ›Isabella‹ zu. Plötzlich änderte sie ihren Kurs leicht nach Steuerbord und drehte auf die ›Isabella‹ zu, um sie von vorn zu packen. Von dort, wo der Feind am wehrlosesten war. Und damit beging sie den gleichen verhängnisvollen Fehler wie vor ihr schon die ›Hermes‹. Denn gerade in dieser Position boten ihre mächtigen Rahsegel ein prächtiges Ziel. Big Old Shane und Batuti zögerten nicht, sie schossen, was ihre Bogen hergaben, und im Nu stand die Takelage der ›Albion‹ in Flammen. Genau wie die ›Hermes‹ lief auch die große Galeone aus dem Kurs, und Hasard ließ anluven, um hinter ihrem Heck vorbeizulaufen und ihr mit einer Breitseite den Fangschuß zu verpassen. Er hatte nur nicht mit der Härte und Umsicht Sir Nottinghams
gerechnet, der zwar auch nicht begreifen konnte, wie der Gegner es angestellt hatte, seine Galeone so rasch in ein brennendes Wrack zu verwandeln, der diese teuflischen, mit Pulver gefüllten Brandpfeile auch nicht kannte und noch nie von einer derartigen Waffe gehört hatte, aber Sir Nottingham kämpfte trotzdem. In dem Augenblick, als die ›Isabella‹ auf sein Heck zusegelte und die sieggewohnten Seewölfe ihre Breitseite abfeuern wollten, ließ er seine ›Albion‹ mit der letzten Fahrt, die sie lief, ebenfalls eine Schwenkung vollführen. Sogar Hasard erkannte die tödliche Gefahr zu spät. Er sah nur die dunklen Mündungen der schweren Zwanzigpfünder, die plötzlich genau auf sein Schiff gerichtet waren. Beide Breitseiten entluden sich mit ohrenbetäubendem Krach fast gleichzeitig. Und beide zeigten eine verheerende Wirkung beim Gegner. Die Breitseite der ›Isabella‹ fegte das Schanzkleid und den Großmast der ›Albion‹ weg. Geschütze wurden aus ihren Bettungen gerissen und überrollten die Kanoniere, die sie eben noch bedient hatten. Andere Kugeln rissen gewaltige Löcher in den Rumpf der ›Albion‹, etliche davon unter der Wasserlinie, denn dorthin hatte Al Conroy einen Teil der Geschütze einrichten lassen. Aber auch auf der ›Isabella‹ sah es schlimm aus. Das Schanzkleid an Steuerbord zersplitterte. Mehrere der zwanzigpfündigen Kugeln durchschlugen den Rumpf, drei davon unterhalb der Wasserlinie. Eine der Nagelbänke wurde von einer Kugel herausgerissen und über das Schiff katapultiert. Das Rigg geriet in Unordnung, eine der Rahen kippte zur Seite weg, das Segel riß kreischend. Seewölfe schrien. Herumfliegende Splitter hatten sie getroffen, und es grenzte fast an ein Wunder, daß es an Bord der ›Isabella‹ keine Toten gab. Dann waren die beiden Schiffe aneinander vorbei. An einen
nächsten Waffengang war für die ›Albion‹ nicht mehr zu denken. Sie brannte lichterloh und trieb langsam ab. In eine dichte Rauchwolke gehüllt entzog sie sich den Blicken der Seewölfe. * Sir Nottingham erkannte seine Lage glasklar. Weder die Brände waren zu löschen, noch vermochten seine Lecksicherungskommandos den Wassereinbruch zu stoppen. Die Seewölfe hatten zu gründliche Arbeit geleistet. Langsam sackte die ›Albion‹ mit dem Vorschiff tiefer und tiefer. Sir Nottingham gab nachmittags den Befehl, die ›Albion‹ zu verlassen. Das angeschlagene Schiff rollte schwerfällig in der Dünung, die Brände hatten sich inzwischen auch aufs Schiffsinnere ausgedehnt. Es mußte befürchtet werden, daß sie auch die Pulverkammer erreichten, zu welcher der Zugang durch die Flammen bereits jetzt abgeschnitten war. Die Seesoldaten verließen die ›Albion‹. Sie setzten an Booten aus, was sie hatten. Die Schiffszimmerleute waren seit Stunden damit beschäftigt gewesen, Flöße zu zimmern, denn Sir Nottingham wußte sehr wohl, daß es in dieser Gegend Haie gab. Noch während die Besatzung mit dem Verlassen der ›Albion‹ beschäftigt war, näherte sich dem sinkenden Schiff die ›Isabella‹. Auch sie lag tiefer im Wasser als sonst, aber immerhin war es Ferris Tucker und den Männern gelungen, den größten Teil der Lecks abzudichten. Sir Nottingham blickte dem Gegner entgegen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann wie der Seewolf jetzt noch auf ihn feuern lassen würde. Er behielt recht, denn als die ›Isabella‹ auf Rufweite heran war, vernahm er die Stimme des Seewolfs. »Ich biete Ihnen und Ihren Männern Hilfe an. Wir sind
Engländer, genau wie Sie. Die Dreckskerle, durch die Sie auf uns gehetzt wurden, tragen die Schuld an all dem Unrecht, das in letzter Zeit beiden Seiten widerfahren ist. Sind Sie zu ehrlichen Verhandlungen bereit? Dann setze ich ein Boot und lasse Sie an Bord rudern! Antworten Sie, viel Zeit ist nicht mehr zu verlieren!« Sir Nottingham starrte das fremde Schiff an. Er hatte also doch recht behalten, der Seewolf war ein Ehrenmann durch und durch. Trotzdem fiel es ihm noch einen Augenblick lang schwer, sich mit dem Gedanken zu befreunden, mit Rebellen zu verhandeln. Aber dann sah er sein brennendes Schiff und die Augen seiner Männer, die hoffnungsvoll auf ihn gerichtet waren. »Mister Garner«, wandte er sich an seinen ersten Offizier. »Was würden Sie an meiner Stelle tun? Antworten Sie, das ist ein Befehl!« Leutnant Garner überlegte. »Sie hatten wohl recht mit dem, was Sie in England einmal sagten. Ich bin der Meinung, Sie sollten ehrenvollen Verhandlungen zustimmen.« Sir Nottingham nickte. Und eine halbe Stunde später befand er sich an Bord der ›Isabella‹. Der Seewolf redete nicht lange drumherum. Außer ihm befanden sich Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, Ed Carberry und Smoky, der Decksälteste, in der Kapitänskammer. »Ihr Schiff ist nicht mehr zu retten, Sir Nottingham«, sagte der Seewolf. »Sie wissen das selber. Ich hatte lediglich vor, sie lahmzuschießen, es ist dann leider anders gekommen. Aber das zweite Schiff Ihres Geschwaders werde ich zu der Azoreninsel Graciosa schleppen. Es ist nicht weit bis dorthin. Ich werde das Schiff benötigen, um die Schäden an meiner ›Isabella‹ zu reparieren, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich werde mich bemühen, Ihnen und Ihren Männern eine gute Überlebenschance zu sichern, bis ein anderes Schiff Sie
aufnimmt. Aber ich verlange Ihr Ehrenwort als Kommandant dieses Geschwaders, daß sie alle Feindseligkeiten gegen mich und meine Männer einstellen und Ihre Leute oder wenigstens diejenigen, die dafür geeignet sind, bei der Reparatur meines Schiffes helfen.« Einen Moment herrschte atemlose Stille in der Kapitänskammer des Seewolfs. Sir Nottingham starrte Hasard an. »Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen, Mister Killigrew?« fragte er schließlich und stützte sich schwer auf den Mahagonitisch. »Wir sind keine Rebellen, wenn Sie das meinen sollten. Hier, lesen Sie das, es wurde nur aufgrund von Intrigen widerrufen. Ich werde nach England zurückkehren und mich stellen. Eines Tages. Und dann, das schwöre ich Ihnen, wird die Königin diesen Kaperbrief mit Freuden anerkennen. Ich habe Sie und Ihre Männer geschont, so gut ich konnte. Der Karavelle hätte ich bereits im Kanal den Rest geben können, aber das wissen Sie vermutlich selbst.« Hasards Augen blitzten, und er hielt Sir Nottingham den Kaperbrief hin. Der las ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück. »Gut, Sie haben mein Wort, Mister Killigrew. Ich habe Sie von Anfang an für einen Ehrenmann gehalten, und ich glaube auch nicht, daß ich mich da getäuscht habe. Ich werde alles, was ich tue, später zu verantworten wissen. Ich glaube, wir sollten jetzt damit beginnen, meine Männer zu bergen, die ›Albion‹ hält sich nicht mehr lange.« »Entwaffnen Sie Ihre Männer, Sir Nottingham. Ich schaffe sie mit der ›Isabella‹, soweit sie nicht Platz auf Flößen oder in Booten finden, zu der Karavelle Ihres Geschwaders. Dort gehen sie an Bord, wir werden das Schiff dann in Schlepp nehmen.« »Augenblick noch, Mister Killigrew !« Sir Nottingham hatte sich erhoben.
»Mit dem Kommandanten der ›Hermes‹ wird es Schwierigkeiten geben. Ich kann nur für meine eigenen Leute einstehen, Mister Killigrew. Wenn Leutnant Scinders erfährt,. daß ich mit Ihnen, in seinen Augen einem Rebellen, Verhandlungen aufgenommen und Ihre Bedingungen akzeptiert habe, dann wird er mich für abgesetzt erklären. Und das wäre nach den geltenden Kriegsartikeln auch durchaus rechtens. Über diesen Punkt sollten Sie sich im klaren sein, Mister Killigrew!« Sir Nottingham kehrte auf sein Schiff zurück, das bereits starke Schlagseite hatte und fast bis zur Back im Wasser lag. Noch immer quollen dichte Wolken schwarzen Qualmes aus den mächtigen Rumpf, noch immer loderten Brände an Deck. Boote waren ausgesetzt, auf Flößen kauerten Seesoldaten und blickten angstvoll zu den Seewölfen hinüber. Carberry starrte dem englischen Kommandanten nach, als er an Bord der ›Albion‹ gerudert wurde. »Scinders - Leutnant Scinders!« knurrte er aufgebracht. »Diesen Kerl werde ich mir merken. Und wenn er querschießt, dann werde ich ihm persönlich die Haut in Streifen von seinem Affenarsch abziehen.« Und diesmal meinte es der Profos todernst. Die Stunden vergingen, die Seewölfe und die Seesoldaten schufteten wie die Wilden. Gegen Abend erschütterte eine heftige Explosion die ›Albion‹. Teile ihres Achterkastells flogen davon und klatschten ins Wasser. Gleich darauf kenterte die große Kriegsgaleone Ihrer Majestät und sank innerhalb weniger Minuten. * Sir Nottingham behielt recht. Es gab erhebliche Schwierigkeiten mit dem Kommandanten der ›Hermes‹. Er weigerte sich, auch nur einen Schritt auf die ›Isabella‹ zu tun, geschweige denn mit den Rebellen zu
verhandeln. Vor versammelter Mannschaft erklärte er Sir Nottingham wegen verräterischer Konspiration mit dem Feind für abgesetzt und drohte jedem seiner Männer mit dem Kriegsgericht, falls sie von Sir Nottingham noch irgendwelche Befehle entgegennehmen würden. Carberry beobachtete das alles voller Zorn. Noch einmal nahm er sich vor, auf diesen Scinders ein wachsames Auge zu haben. Er ahnte nicht, wie notwendig das noch werden würde und welche dramatischen Entwicklungen sich um diesen Mann anbahnen sollten. Er griff in eine seiner unergründlichen Taschen und zog eine Flasche Rum heraus. Dann nahm er einen gehörigen Schluck und reichte die Flasche gleich weiter, denn er wußte, was für eine lausige Arbeit auf ihn und die Männer jetzt wartete. Erstens mußten sie diesen Scinders mit seinem Wrack zu den Azoren schleppen, und zweitens hieß es dann, die ›Isabella‹ wieder auf Vordermann zu bringen. Und die sah, weiß der Himmel, schlimm aus! Ende Feuer an Bord von Fed McMason Auf der Azoreninsel Graciosa trafen die Seewölfe auf kein Paradies, dafür sorgten die Eingeborenen, die aber erst so richtig wild wurden, als der verdammte Lieutenant Scinders so irrsinnig war, eine ihrer Kultstätten zu zerstören. Und wer die Sabotage an Bord der ›Isabella VIII.‹ durchführte, blieb auch kein Geheimnis. Aber dann baumelte der Lieutenant eines Morgens an der
Rahnock, und da explodierte der Seewolf ...