KLEINE JUGENDREIHE
L. T1SS0W UND J. NAGIBIN
DIE SCHATZKAMMER
IN DEN TEUFELSHÖH LEN
l.Teil
VERLAG KULTUR UND FOR...
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KLEINE JUGENDREIHE
L. T1SS0W UND J. NAGIBIN
DIE SCHATZKAMMER
IN DEN TEUFELSHÖH LEN
l.Teil
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1955
6. Jahrgang, 1. Februarheft Russischer Originaltitel: Искатели Deutsch von Erna Becker. Stark gekürzte Fassung
Copyright 1955 by Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin
Printed in Germany • Alle Rechte vorbehalten
Lizenz-Nr. 3
Einband und Illustrationen: Karl Fischer
Satz und Druck (III/9/1) Sachsische Zeitung,
Verlag und Druckerei,
Dresden N 23, Riesaer Straße 32 4333
285/69/55
Begegnung im Süden Schon lange Zeit herrschte heißes Wetter. Wolkenlos strahlte der Himmel. Die Pappeln, mit denen die Straßen und Plätze bepflanzt waren, hatten dunkle Blätter bekommen und schützten das kleine Städtchen Kysyl-Kurgan vor dem Staub und der brennenden Sonne, Die nahen, rötlich-gelben Hänge waren von tiefen, engen Tälern durchschnitten, von denen sich leuchtend die grünen Weinberge abhoben. Dahinter rag ten steile Hänge mit violettgrauem Geröll empor, und in der Ferne schimmerten die schneebedeckten Gipfel des Tien Schan-Gebirges. Gegen Mittag wurde es auf dem Platz vor der Kysyl-Kurganer Autobushaltestelle lebendig: zwölf Uhr dreißig fuhr der Stalinabader Autobus ein. Neben dem Aryk, der im Schatten der Pappeln dahinfloß, hatte sich eine Schar dunkelbraungebrannter Kinder einge funden. Sie umstanden einen schmalen Jungen, der zwei kleine lebende Schildkröten an seinen Bauch drückte. „Die sind dressiert“, erklärte er voller Stolz. „Ich kann auf ihnen reiten wie auf einem Maultier.“ „Pah, du lügst!“ schrie ein Junge übermütig. „Wetten!… Um zwei Portionen Vanilleeis!“ „Abgemacht!“ Der Junge legte eine Schildkröte auf die Erde und stellte sich mit seinen kleinen, staubigen Füßen darauf. „Hüh, los!“
schrie er und balancierte auf dem gepanzerten Buckel. Doch die Schildkröte rührte sich nicht vom Fleck. Sie zog den Kopf ein und schob den kurzen, spitzen Schwanz hinaus. „Die Wette ist verloren!“ schrien die Jungen durcheinander. „Schade, daß ich nicht um mehr gewettet habe.“ Der Sieger seufzte betrübt. „Risa ist so ein Angeber, daß er auch auf drei Portionen Schokoladeneis eingegangen wäre.“ „Was? Angeber?“ Risa wurde blaß vor Zorn, stieß die Schildkröte mit dem Fuß beiseite und faßte unter seinen Hemdkragen. Schnell zog er die Hand wieder hervor und hielt seinem Beleidiger eine kleine hellbraune Schlange un ter die Nase. „Hier!“ Der Junge sprang erschrocken zurück, die andern lachten, während der Besitzer der kleinen Menagerie aufs neue tri umphierte. Doch in diesem Augenblick wurde die Aufmerksamkeit der Streitenden durch das dumpfe Aufschlagen von Pferdehufen abgelenkt. Ein Reiter jagte über den Platz, sprang vor einer großen Pappel am Aryk aus dem Sattel und band seinen rot braunen Hengst am Baum fest. Als er sich Gesicht und Hän de im Wasser gewaschen hatte, klopfte er den Staub von seiner Kleidung und lief eilig zur Station. „Ich weiß, wer das ist!“ rief Risa aus. „Das ist der Ingenieur Krawzow aus dem Bergwerk. Mein Bruder kennt ihn. Sie haben früher zusam men in den Bergen nach Erzen geschürft. Ein prima Ingeni eur! Wenn ich ihn bitte, nimmt er mich bestimmt mit ins Bergwerk.“ Er schaute die Freunde mit seinen kohlschwar zen Augen scharf an, als warte er, ob es jemand wage, daran zu zweifeln. Aber die Jungen waren es gewöhnt, daß Risa – wenn er nur richtig wollte – seinen Kopf immer durchsetzte. Das Pferd blähte die Nüstern und drängte näher an das leise murmelnde Wasser des Aryks. „Guck mal“, rief ein Junge
laut. „Das Pferd will trinken.“ „Wenn der Ingenieur lange hierbleibt, werde ich es nach einer Stunde tränken“, erklärte Risa bestimmt. „Wagt euch ja nicht, das ohne mich zu tun, hört ihr? Ich geh’ zum Autobus, und du, Kara“ – er wandte sich an einen kleinen schmächti gen Jungen –, „du bist mir dafür verantwortlich!“ Und ohne sich umzuschauen – er war ganz sicher, daß man ihm gehorchte –, ging Risa zu dem Gitterzaun, der den Platz von der Autobus-Station trennte. Inzwischen durcheilte Ser gej Krawzow den gewölbten, mit bunten tadshikischen Or namenten geschmückten Saal der Station und trat hinaus auf die breite flache Treppe, um sich unter die Wartenden zu mischen. Lautes Hupen ließ alle die Köpfe wenden. Ein von oben bis unten verstaubter Autobus fuhr langsam ein und näherte sich den Marmorstufen. Plötzlich sah Sergej einige Schritte vor sich die kräftige Gestalt Nikolai Nowizkis, eines ehemaligen Studiengenos sen, den er vor zwei Monaten in Moskau getroffen hatte. Nikolai war Assistent bei Morosow, dem Leiter der großen Tien-Schaner geologischen Expedition. Das bedeutet also, daß Professor Morosow wirklich ankommt, dachte Sergej erfreut. Er holte Nowizki rasch ein und packte ihn am Arm. „Ach“, sagte dieser erstaunt, „du bist auch hier? Wo warst du denn? Ich bin schon einen ganzen Monat in KysylKurgan.“ „Wo ich war? Im Bergwerk natürlich! Warum bist du denn nicht mal zu mir herausgekommen? Ich konnte ja nicht wis sen, daß du da bist. Sicherlich warst du bloß zu faul!“ „Nein, nein. Ich hatte sehr wenig Zeit“, entgegnete Nikolai, ohne einen Blick von dem Autobus zu lassen. „Da sind sie ja…“ In diesem Augenblick ging Nikolai ein Gedanke durch den
Kopf – er warf Sergej einen prüfenden Blick zu. „Woher weißt du denn, daß Morosow, Soja und Jura gerade heute ankommen?“ „Mein sechster Sinn!“ Sergej lächelte. Dann klopfte er Ni kolai beruhigend auf die Schulter und erklärte, daß er es durch die Bergwerksverwaltung erfahren habe. „Ich habe mich sofort aufs Pferd gesetzt und bin hierher geritten!“ „Hast du denn keinen Wagen?“ „Wir haben genug. Aber die Wege sehen hier ein wenig anders aus als in Moskau. Wenn du eine Weile in den Ber gen bist, wirst du schon merken, was besser ist.“ In der Tür des Autobusses zeigten sich die langerwarteten Gäste: Pro fessor Morosow, seine Assistentin Soja und der Schüler Ju ra. Sergej ließ Nowizki vor und wartete geduldig, bis sie einander begrüßt und die ersten Neuigkeiten ausgetauscht hatten. Erst dann trat er hinzu. „Aha, da ist ja unser geheim nisvoller Unbekannter!“ rief Soja fröhlich aus und reichte Sergej die Hand. Sergej lächelte. Sie spielte auf die kurze Unterredung im Geologischen Institut an, die Sergej nicht zu Ende führen konnte, weil sein Zug abfuhr. Er hatte damals seine Pläne nur angedeutet. Als Sergej Morosow begrüßte, fügte er hinzu: „Entschuldi gen Sie bitte meine Aufdringlichkeit. Wann darf ich Sie einmal sprechen?“ „Heute wird es nicht gehen“, entgegnete der Professor, „aber morgen. Kommen Sie morgen. Ich freue mich auf Ih ren Besuch. Sie wissen doch, wo unsere Expeditionsbasis liegt?“ „Selbstverständlich.“ „Gut… Gegen neun Uhr werde ich Sie erwarten.“ Als Ser gej allein war, kamen ihm Bedenken. Ich hätte Morosow nicht gleich hier überfallen sollen. Sicher machte es einen
schlechten Eindruck auf ihn. Aber was soll ich tun? Wenn ich jetzt mein Ziel nicht erreiche, ist wieder der ganze Som mer hin. Jemand berührte leise seine Hand. Ein hagerer, dunkelhäu tiger Junge in kurzen Hosen und einem weißen Hemd reichte ihm einen Strauß Blumen. „Genosse Ingenieur“, sagte er, „wenn Sie wollen, bring’ ich den Strauß zu dem Mädchen dort.“ Sergej schaute den Jun gen verwundert an. „Wer bist du denn?“ „Risa, Dshumas Bruder“, antwortete dieser stolz. „Das trifft sich gut!“ rief Sergej aus. „Wo steckt er denn jetzt?“ „In der Stadt.“ „Ausgezeichnet. Die Blumen brauch’ ich nicht, vielen Dank, aber bestell bitte deinem Bruder, daß ich ihn heute noch sehen möchte.“ „Ja. Dshuma wird sich freuen. Er hat die ganze Zeit auf Sie gewartet.“ Schon im Weglaufen, schrie der Junge noch: „Auf Ihr Pferd passen meine Freunde auf. Es will trinken!“ Im Hauptlager der Expedition Frühzeitig, in der achten Stunde, brachen Sergej und Dshuma auf. Über Sergejs Schultern hing ein ausgeblichener Rucksack, der mit eckigen Gegenständen vollgepackt war. Als sie den Zentralplatz passiert hatten, um den sich die neu en Gebäude der Verwaltung zogen, führte sie ihr Weg durch schattige, noch morgenkühle Straßen. Sie waren mit Pappeln bepflanzt, die einen schlank und groß wie Zypressen, die anderen mächtig und ausladend wie alte Bruchweiden. Ein warmer Wind bewegte ihre Blätter, sie schimmerten mal silbrig-hell, dann wieder samtengrün. Ein langer Zug Reiter mit gestickten Quersäcken am Sattel
trabte den beiden entgegen. Dahinter liefen einige schwerbe packte Eselchen. An einer Kreuzung kam eine Karawane Kamele vorübergezogen, beladen mit riesigen viereckigen Baumwollballen. Am Hals des Leitkamels schaukelte eine eiserne Glocke. Die Karawane entfernte sich langsam, aber das gleichmäßige scheppernde Läuten klang noch lange in der reinen Morgenluft. Am Stadtrand lag das dreistöckige Gebäude des kürzlich in Betrieb genommenen Textilkombi nats, um das sich mehrere Arbeitersiedlungen scharten. Die se junge Stadt würde sich eines Tages mit dem alten Städt chen vereinigen, oder genauer gesagt: sie würde diese alte Stadt verschlucken. Die Freunde überquerten eine Brücke, die über ein Flüß chen führte, und gelangten auf einen großen, mit Stampf lehmbauten umgebenen Platz. Aus den breiten Toren rollten hin und wieder Autos und Fuhrwerke. Das klägliche Schrei en der Maultiere mischte sich mit dem hellen Klang von Me tall und dem gleichmäßigen Klopfen eines Triebwerks. Hier war die Station der Tien-Schaner geologischen Expedition. Sie war erst kürzlich an Stelle der bisher über die ganze Stadt verstreuten Lager und Unterkünfte errichtet worden. Als Sergej und Dshuma sich den Toren näherten, hörten sie laute Warnrufe. Gleich darauf galoppierten einige Reiter an ihnen vorüber. Mit verhängten Zügeln jagten die Pferde zum Fluß. Zu seiner Verwunderung erkannte Sergej in einem der Rei ter Soja. Ihre blonden Haare wehten im Wind. „Das ist ein Mädchen!“ rief Dshuma begeistert und folgte ihr mit den Augen, „ein richtiger Dshigit.“ Ein lautes Hupen zwang die beiden, beiseite zu treten. Ein Sergej nur zu gut bekannter Wagen fuhr langsam in den Hof ein. Es war der auf den schwierigen Gebirgsstraßen schon
stark strapazierte, verbeulte „Pobeda“ Russanows, des stell vertretenden Leiters der Bergwerksverwaltung. Die Begeg nung mit seinem Vorgesetzten paßte Sergej ganz und gar nicht. Er wollte sich rasch hinter dem Tor verstecken, aber es war bereits zu spät. „Guten Tag, Krawzow“, dröhnte Russanows Stimme. „Warum bist du nicht im Bergwerk? Was machst du hier?“ Sergej sah das grobe, unzufrieden und überrascht blickende Gesicht Russanows und daneben das schmale, ausdrucksvol le Jarmatows, des Chefs der geologischen Verwaltung. Sergej hatte keine Zeit, eine treffende Antwort auszuden ken, er grüßte nur schweigend, und der Wagen fuhr an ihnen vorüber in die Tiefe des Hofes, wo er vor dem Verwaltungs gebäude stehenblieb. „Das fehlte uns noch“, erklärte Dshu ma lachend. „Da kann man nichts machen, nun ist es einmal passiert. Jetzt müssen wir auch bis zum Ende durchhalten“, entgegne te Sergej. Auf dem geräumigen Hof wurde emsig gearbeitet. Die geo logischen Trupps bereiteten sich zum Aufbruch in die Berge vor. Bei einer langen Reihe neuer Lastkraftwagen hatten sich die Chauffeure versammelt, Russen, Tadshiken, Usbeken, die einen in verschmierten öligen Arbeitskitteln, andere wie derum in neuen Anzügen und einige in bunten, gesteppten Chalaten. Sie beurteilten lebhaft die Qualität der verschiede nen Autotypen, musterten sich gegenseitig und bereiteten sich zur gemeinsamen Fahrt auf den schwierigen Gebirgs straßen vor. Nicht weit davon fand durch den dicken, lustigen Wirt schaftsleiter der Expedition und seinen Gehilfen die Aus wahl einer anderen Art Verkehrsmittel statt – der Maultiere
und Kamele. Er ging von einem „Wüstenschiff“ zum ande ren und öffnete mit einer geschickten Bewegung das Maul, um die Zähne zu sehen. Hochmütig und unzufrieden drehten die Kamele ihre Köpfe weg, und die etwas weniger friedli cher Art waren, versuchten sogar auszuschlagen. Am anderen Ende des Hofes, auf dem frischen, noch nicht niedergetretenen Gras, stellten Kollektoren Zelte auf, prüften Schlafsäcke, Frachtkisten und die übrige Feldausrüstung. Dann rollten oder packten sie alles in einzelne Ballen, die bequem auf den Bergpfaden getragen werden konnten. Sergej mußte unwillkürlich lächeln. Wie bekannt ihm das alles war und wie vertraut. Wie sehr wünschte er, an den Vorbereitungen mit teilnehmen zu können. Würde er die Leiter der Expedition so überzeugen können, daß sie seine Pläne unterstützten? Und ausgerechnet heute mußte Rus sanow hierherkommen. Er würde Sergejs Vorschlag wieder kategorisch ablehnen. Er mußte versuchen, mit Morosow unter vier Augen zu sprechen. Nachdem Sergej mit Dshuma vereinbart hatte, daß dieser auf ihn warte, trat er ins Verwal tungsgebäude. Hier kam ihm Soja entgegen. Auf ihrem fri schen Gesicht glänzten Schweißperlen, in der Hand hielt sie noch immer den Zweig, der ihr als Reitgerte gedient hatte. „Was für ein wundervolles Pferd ich bekommen habe!“ rief sie fröhlich. „Ich bin lange nicht mehr so schnell geritten… Ach, war das herrlich!“ „Sind Sie gar eine Kosakin?“ neckte sie Sergej. „Nein, aber wir lebten früher auf dem Lande, und ich hatte Pferde sehr gern.“ „Sie reiten gut. Dennoch wäre es bedauerlich, wenn Sie kurz vor dem Aufbruch noch den Hals brechen würden.“ Sojas Miene verfinsterte sich plötzlich. „Ach, wissen Sie, Sergej Iwanowitsch, ich fürchte, daß ich hier überhaupt nicht
fortkomme. Nikolai Iljitsch und Andrej Andrejewitsch wol len mich mit dem Sortieren vorjähriger Flußsandrückstände beschäftigen, die bisher nicht durchgesehen werden konnten. Aber ich gebe nicht nach. Ich habe meine Diplomarbeit als Geologin zu machen und bin nicht hierhergekommen, um in der Stadt zu wohnen. Wollen Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen, Sergej Iwanowitsch?“ „Wenn Sie mir helfen wollen, Morosow zu finden.“ „Gern, kommen Sie nur.“ „Hören Sie, Soja: Vermutlich ist mein Chef jetzt bei ihm, und ich möchte unbedingt mit Morosow unter vier Augen sprechen.“ „Keine Angst, ich werde es schon einrichten.“ Sie schritten rasch den langen, kühlen Korridor entlang, vorbei an den Räumen, in denen im Winter die Mitarbeiter der Expedition das gesammelte Material verarbeiteten und Berichte schrie ben. Dann kamen sie an dem großen hellen Zeichensaal vor über und gelangten in einen Anbau, wo die chemischen La boratorien lagen. „Hier werden die Analysen gemacht“, er klärte Soja. Nachdem sie rasch einen Blick hineingeworfen hatten, traten sie in einen dunklen Gang, der von Motoren lärm und dem scharfen Sausen der Antriebsriemen erfüllt war. Hinter der Wand lagen eine Reparaturwerkstatt und eine Schleiferei, in denen bereits auf vollen Touren gearbei tet wurde. Nun stieß Soja eine Tür auf – und prallte erschrocken zu rück: Morosow, Jarmatow und Russanow standen um ein Radio und lauschten auf die leise, aber deutliche Durchgabe der letzten Nachrichten aus Moskau. Auch Nikolai Nowizki und Jura waren bei ihnen. Sergej wollte umkehren, da sagte schon Russanow mit sei ner heiseren Stimme:
„Was versteckst du dich denn die ganze Zeit vor uns, Krawzow? Der Professor hat mir ohnehin schon von eurem Moskauer Gespräch erzählt. Nun sag schon, was los ist! Was hast du für Geheimnisse?“ „Geheimnisse?“ wiederholte Sergej ruhig. „Ich wollte dem Expeditionsleiter nur einige sachliche Mitteilungen machen. Wenn Sie sich erinnern: ich hatte Ihnen schon im vergange nen Winter davon erzählt…“ Russanow gab keine Antwort; er verzog spöttisch die dicken Lippen und ging hinter Jarma tow in dessen Arbeitszimmer. Morosow und die anderen folgten. „Sie ärgern sich?“ fragte Soja flüsternd. „Nein! Weshalb? Vielleicht ist es sogar besser, wenn ich vor allen spreche. Schlimmstenfalls erhalte ich sofort eine Ablehnung.“ Als alle Platz genommen hatten, nahm Sergej den Ruck sack ab, legte ihn neben sich auf den Boden und wollte mit Erzählen beginnen. Aber Russanow ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Pack erst mal aus, was du da in dem Rucksack hast“, sagte er grob. „Wir lieben handfeste Beweise.“ „Nein, das tue ich später“, antwortete Sergej unbeirrt. „Ich muß weiter zurückgreifen.“ „Warum denn? Es ist besser, du kommst gleich zur Sache.“ „Es tut mir leid, in diesem Fall ist der nächste Weg nicht der kürzeste.“ „Er soll reden, wie er es für nötig hält“, mischte sich da die ruhige, imponierende Stimme Jarmatows ein. Und Sergej begann mit seiner Erzählung.
Tamerlans Schätze „Meine Kindheit verlebte ich in Tula. Als ich zwölf Jahre alt war, übersiedelte mein Vater, ein Bauingenieur, nach Mittelasien, und seit dieser Zeit rechne ich mich zu den hier Ansässigen. Die Ereignisse, die für Sie von Interesse sind, trugen sich zu, als ich 15 Jahre alt war und in die letzte Klas se ging. Zu dieser Zeit begeisterte sich unsere ganze Schule für Ausgrabungen und Bergbesteigungen. Soweit ich mich erinnern kann, begann es damit, daß ein Forscher gleich in der Nähe unserer Stadt eine alte Siedlung, etwa aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, entdeckte, und die ersten Besucher am Ausgrabungsort waren natürlich wir Kinder. Wir nahmen an diesen Arbeiten lebhaften Anteil und suchten auch in weiter abgelegenen Gebieten nach alten Funden. Unsere Einbildungskraft wurde noch durch Legenden und Gerüchte über alte Wasserleitungen und Bewässerungssy steme gesteigert, über Inschriften, die noch von den Feldzü gen Alexanders von Mazedonien herrühren sollten und an geblich auf einem Felsen tief in den Bergen eingemeißelt waren. Dazu fabulierten wir selbst noch manches hinzu und teilten es aufgeregt einander mit… In den Ferien bildeten wir mit oder ohne Wissen der Eltern und Lehrer kleine ,Forscherbrigaden’ – wie wir es nannten – und führten manchmal ziemlich weite und schwierige Berg besteigungen durch. Dabei untersuchten wir und sammelten alles, was uns nur irgendwie wert schien. Auf einer dieser Wanderungen – ich befand mich mit einigen Freunden an die dreißig Kilometer von zu Hause entfernt – stießen wir unverhofft auf ein staatliches Naturschutzgebiet. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es hieß und welche Art Bäume dort wuchsen, aber die Besichtigung endete damit, daß wir uns verirrten und im Walde übernachten wollten. Es
war schon nahezu finster, als wir zufällig einem Waldhüter begegneten, der uns mit in seine Hütte nahm. Nach dem Abendbrot erzählten wir, warum wir in den Bergen umher streiften, und der Alte berichtete uns eine merkwürdige Ge schichte: Eines Nachts, es mochte ungefähr ein Jahr her sein, wurde an seine Hütte geklopft. Es fing an zu regnen und war recht kalt. Alle Hirten und Jäger hatten schon längst die Ber ge verlassen und waren in die Täler zurückgekehrt, und der Waldhüter konnte sich nicht recht vorstellen, woher um die se Zeit ein Mensch kam. Aber das Klopfen wiederholte sich. So nahm der Alte sein Gewehr von der Wand und öffnete die Tür. Ein Wanderer trat ein, zog die nasse Mütze vom Kopf, und beim trüben Licht eines Lämpchens erkannte der Waldhüter einen ziemlich jungen, schlanken Menschen. Oh ne nach dem Woher und Wohin zu fragen, stellte er dem erschöpften Wanderer Essen auf den Tisch. Dieser aß schweigend, legte sich danach auf eine Filzmatte und schlief sofort ein. Erst am nächsten Morgen begann er zu erzählen. Der junge Mann war Lehrer und besaß eine besondere Vor liebe für Heimatkunde. So stieg er jeden Sommer zu Beginn der Ferien in die Berge. Eines Tages – sein Urlaub näherte sich bereits dem Ende – hörte er von Hirten, daß irgendwo weit oben in den Bergen ,Teufelshöhlen’ lägen, in denen schreckliche Wesen hausen sollten. Das machte ihn neugie rig, und er beschloß, diese Höhlen einmal aufzusuchen, um dem Ursprung dieser Legende nachzuspüren. Lange suchte er nach einem Führer, keiner wollte ihn zu diesem ,verrufe nen’ Ort begleiten. Endlich erklärte sich ein Hirt gegen hohe Bezahlung bereit, ihn bis an die Höhlen zu führen. Drei Tage stiegen sie berg an, bis sie in eine schwer zugängliche, wilde Gegend gerie ten, gleich unterhalb der Gletscher. Dort fanden sie auch in
einer steilen Felswand den Eingang zur Höhle. Er war von außen verräuchert, also mußten dort einmal Menschen ge haust haben. Der Hirt, der ihn bis jetzt begleitet hatte, wei gerte sich jedoch entschieden, weiter mitzugehen. Der Leh rer war ein wißbegieriger Mensch und kein Hasenfuß. So rechnete er mit dem Hirten ab und ließ ihn ziehen. Nachdem er vor dem Hohleneingang übernachtet hatte, drehte er sich einige Fackeln, nahm ein Seil, das Gewehr, ein wenig zu essen und begab sich in die Höhle. Der Eingang war eng und so niedrig, daß er anfangs eine Strecke auf allen vieren krie chen mußte. Endlich konnte er sich aufrichten. Er ging den schmalen Gang weiter, besichtigte verschiedene Sackgassen und Abzweigungen und gelangte schließlich in einen langen, geraden Gang, an dessen Ende er eine Tür entdeckte. Eine richtige, mit Eisen beschlagene Tür! Als er näher kam und sie mit der Fackel beleuchtete, schrie er auf. Zu beiden Sei ten der Tür standen zwei menschliche Gestalten, Ritter in voller Kampfausrüstung, mit erhobenen Schwertern. Instink tiv schreckte er zurück und riß das Gewehr von der Schulter. Dabei entfiel ihm die Fackel, die sogleich erlosch. In tiefster Finsternis gelangte er – und zwar erst nach mehreren Irrwe gen – ins Freie. Völlig erschöpft taumelte er aus der Höhle. An der frischen Luft atmete er auf, aber für weitere Nachfor schungen blieb ihm keine Zeit. Er ließ fast seine ganze Aus rüstung zurück und stieg nur mit leichtem Gepäck ohne Rast durch die Schluchten und über die Berge hinab ins Tal. Erst am vierten Tag erreichte er das Naturschutzgebiet und die Hütte des Waldhüters… Das war alles, was er dem alten Mann berichtete. Er bedankte sich für das Obdach und stieg weiter bergab.“ „Ist das alles, was Sie uns erzählen können“, mischte sich Russanow spöttisch in Sergejs Bericht. „Nein, das ist nur die
Einleitung, die richtige Geschichte kommt noch.“ „Das sieht auch so aus nach einer Geschichte“, brummte Russanow. Doch da er keine Unterstützung durch die ande ren Zuhörer fand, die Sergejs Worten interessiert lauschten, fügte er hinzu: „Nun gut, fahren Sie fort!“ „Als wir in die Stadt zurückkehrten, geriet die ganze Schule durch diese Erzählung in Aufregung, und an zwanzig meiner Mitschüler wollten unverzüglich in einem Trupp aufbrechen, um die geheimnisvollen Höhlen zu suchen. Ich erinnere mich noch genau, daß wir alle – wer weiß aus welchem Grunde – fest davon überzeugt waren, daß dort Tamerlans Schätze oder die Grabstätte eines seiner Feldherren verbor gen war. Doch unsere Lehrer und Eltern kamen schnell hin ter all unsere Pläne und verlangten kategorisch, daß wir uns jeden Gedanken an diese Bergbesteigung aus dem Kopf schlagen sollten. Erst später, nach Beendigung der Schule, brach ich mit ei nem meiner Freunde wieder in die Berge auf. Da geschah es aber schon nicht mehr aus Liebe zu Abenteuern, sondern aus Begeisterung zur Geologie. Wir wollten im Geologischen Institut in Moskau studieren und sammelten deshalb auf un seren Wanderungen die verschiedensten Steine und Minera lien. Dabei trafen wir eines Tages im Hochgebirge einen Jäger, der uns von merkwürdigen Steinen und alten Knochen erzählte, die er oben in den Bergen bei der Jagd auf Wild schafe gefunden habe. Ich besuchte diesen Jäger einige Tage später in seinem Kischlak. Er schenkte mir einige Knochen von seltsamer Form und Farbe sowie einige Steinproben und beschrieb mir den Ort, wo er sie gefunden hatte. Dabei er wähnte er auch flüchtig die ,Teufelshöhlen’. Nach seinen Worten mußten sie dort in der Nähe liegen, unterhalb der Gletscher.
Im Herbst des Jahres wurde ich in das Moskauer Geologi sche Forschungsinstitut aufgenommen und für einige Jahre Bewohner der Hauptstadt. Aber ich hatte die feste Absicht, sobald ich mit dem Studi um fertig sei, wieder in die Berge zurückzukehren und dort zu arbeiten, wo ich Kindheit und Jugendjahre verbracht hat te. Denn hier gab es noch sehr viel zu erforschen. Ich ver schlang damals die Bücher von Karpinski, Semjon-TienSchanski, Muschketow, Obrutschow und anderen russischen Forschern und Reisenden und träumte davon, auch eines Tages einen kleinen Beitrag zum Schatze der großen russi schen Wissenschaft leisten zu können.“ Sergej schwieg ei nen Augenblick, holte tief Luft und fuhr dann fort: „Doch jetzt komme ich zur Hauptsache. Nach dem dritten Semester gelang es mir endlich, zum Praktikum hierher in die alte Heimat zu kommen. Vor Beginn der Sucharbeit fuhr ich nach Hause und beschäftigte mich eines Abends rein zufällig mit der Durchsicht und dem Aussortieren meiner früheren Sammlung. Und als ich die Steine und Knochen betrachtete, sah ich sie plötzlich mit ganz anderen Augen an, nicht wie ein junger Heimatforscher, sondern mit den Augen des Geo logen.“ Hier machte Sergej wieder eine Pause, band den Rucksack auf und begann in Papier gewickelte Steinproben und lange, gebogene Knochen auf den Tisch zu legen. Er hob die große, kräftige Rippe eines unbekannten Tieres hoch, damit sie alle sehen konnten: „Hier ist einer der Knochen, die mir der Jä ger schenkte, Hatte ich mir früher den Kopf darüber zerbro chen, welchem Tier diese fossilen Knochen wohl gehört ha ben mochten, richtete sich jetzt meine ganze Aufmerksam keit auf etwas anderes. Ich entdeckte, daß beide Ränder des Knochens stark abgerieben waren und der Knochen selbst
eine unnatürliche Färbung besaß. Die anderen Knochen sa hen ebenso aus. Darunter befand sich auch ein Schulterblatt. Hier ist es, sehen Sie: es ist völlig zerkratzt, und in den Schrammen sitzt Grünspan.“ Sergej reichte Morosow den Knochen, der sich aufmerksam darüber beugte. „Als ich nun diesen Knochen anschaute, ging mir plötzlich ein Licht auf: Das waren gar keine einfachen Knochen, son dern alte Bergwerksgeräte! Die Rippen hatten dazu gedient, bröckliges Erz von der Wand abzuschaben, und das Schul terblatt, es vom Boden aufzuheben. Als ich zu diesem uner warteten Schluß gekommen war, begann ich sofort, die Stei ne zu untersuchen, die ich ebenfalls von dem Jäger erhalten hatte, und überzeugte mich davon, daß es nicht nur rosafar bener Granit war, wie ich früher geglaubt hatte, sondern Granitproben mit großen Glimmer und Drusen. Sicher hatte sie der Jäger wegen der großen und glänzenden Glimmer aus den anderen Steinen herausgesucht. Hier sind diese Proben – sehen Sie selbst!“ Als Sergej die Anwesenden anschaute, stellte er mit Befrie digung fest, daß sie ihm jetzt mit gespannter Aufmerksam keit folgten, nicht nur Morosow und Soja, sondern auch die beiden Vorsitzenden, ja sogar das nachsichtige Lächeln auf Nowizkis Gesicht war verschwunden. Nachdem Sergej Mo rosow die Proben gereicht hatte, fuhr er fort: „Daraus schloß ich, daß die Knochen und Gesteinsproben an ein und dem selben Ort aufgelesen wurden, nämlich in der Gegend der Teufelshöhlen, von denen ich Ihnen anfangs erzählte. Die Höhlen selbst sind vermutlich nichts anderes als alte Berg werke, in denen man früher nach Kupfer grub. Natürlich kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Erze in diesem Bergwerk gefunden wurden. Die grünliche Farbe der Knochen läßt zwar auf oxydiertes Kupfer oder
andere Kupferminerale schließen, aber die Granite lassen vermuten, daß dort auch Kassiterit ist, Zirmstein, den die früheren Bergleute zum Herausschmelzen des Zinns förder ten, um zusammen mit Kupfer Bronze herzustellen. Als ich zu diesen überraschenden Erkenntnissen gekommen war, machte ich mich sofort über geologische Lehrbücher und Nachschlagewerke her und besuchte die hiesigen Archive, um zu erfahren, ob diese Bergwerke den Wissenschaftlern nicht schon längst bekannt waren. Ich fand aber nirgends einen Hinweis, weder in der geologischen Literatur noch in den Archiven.“ Plötzlich flüsterte es hinter Sojas Rücken: „Und die Männer mit den Schwertern?“ Sergej lächelte zu Juras Frage und fuhr fort: „Als ich auf den geologischen Karten das Hochgebirge suchte, wo ich die Höhlen vermutete, sah ich, daß dieses Gebiet eine hellrosa Farbe trug. Es war also von den Geologen überhaupt noch nicht erforscht. Als ich zu dem Trupp kam, dem ich als Kollektor zugeteilt war, erzählte ich dem Leiter und dem Geologen davon und bat sie, der Expeditionsleitung vorzuschlagen, uns in dieser Hochgebirgsgegend einzusetzen. Ich muß leider ehrlich ge stehen, daß man mich glatt ausgelacht hat und mir auftrug, mich mit dem Gebiet zu beschäftigen, für das man mich ein geteilt hatte. Ich fügte mich zwar, gab mich aber nicht zu frieden. Als ich wieder in Moskau war, konnte ich mich immer und immer wieder davon überzeugen, daß in der geologischen Literatur keinerlei Hinweise auf diese alten Bergwerke vor handen waren. Durch all das wuchs meine Überzeugung, daß diese Ge gend, wenngleich sie auch sehr wild und schwer zugänglich
ist und in großer Höhe liegt, höchste Aufmerksamkeit ver dient. Ich habe darüber viel mit meinen Studiengenossen gespro chen und wollte mir auch Rat und Hilfe in der Akademie der Wissenschaften holen. Ich begann Artikel zu schreiben – aber der Krieg hinderte mich daran, diese Sache zu Ende zu führen. Mein Diplompraktikum führte ich in Sibirien durch – man hatte mich in einer wichtigen Sache dorthin komman diert –, und eine Woche nach der Verteidigung meiner Dis sertation ging ich freiwillig zur Armee. Erst im Jahre 1946, nachdem ich länger als ein Jahr im La zarett gelegen hatte, konnte ich endlich wieder hierher zu rückkehren und mit der geologischen Arbeit beginnen. Das Weitere ist Ihnen, Genosse Russanow, bekannt. Ich bat Sie gleich darum, als Schürfer eingesetzt zu werden. Und einen Sommer lang gab man mir dazu hier in der Nähe Gelegen heit. Doch im nächsten Frühjahr wurde mir aufgetragen, in einem hiesigen Bergwerk zu arbeiten und mich dafür einzu setzen, daß einige Mißstände behoben würden. Ich brachte alles in Ordnung… und man ließ mich dort als Leiter. Aber trotz allem zieht es mich mit ganzem Herzen zu den Schürf arbeiten. Meine Fähigkeiten liegen auf diesem Gebiet, ich habe Lust und Liebe dazu. Das darf man nicht außer acht lassen, Genossen, ich bitte Sie darum!“ Sergej hatte mit Eifer und Begeisterung gesprochen. Einen Augenblick schwieg er, fuhr aber gleich fort: „Als ich nun hörte, daß in diesem Jahr eine Expedition aus Moskau hier herkommt, interessierte mich das natürlich sehr, und als man mich unerwartet nach Moskau ins Ministerium schickte, um ein Projekt für weitere Bergwerksarbeiten bestätigen zu las sen, tat ich alles, um Genossen Morosow zu sehen. Dabei erfuhr ich zu meinem Bedauern, daß dieser Bezirk“ – Sergej
trat zur Karte und zeichnete mit dem Finger einen Kreis – „nicht als Arbeitsgebiet vorgesehen war. Ich weiß, daß er sehr schwer zugänglich ist, daß meine Argumente nicht rest los überzeugen und die Aufgaben der Expedition auch ohne hin für dieses Jahr umfangreich sind, dennoch möchte ich Sie herzlich bitten, Genossen“ – Sergej wandte sich an Jar matow und Russanow –, „mich von meiner Arbeit im Berg werk zu befreien und mit einem Trupp, und sei er noch so klein, dahinauf zu schicken. Ich versichere Ihnen, daß in dem Bergwerk, in dem ich arbeite, Geologen sind, die mit der Arbeit nicht im geringsten schlechter fertig werden als ich…“ „Ist das alles?“ fragte Russanow kühl. „Ich möchte nur noch hinzufügen, daß das Forschen nach Bodenschätzen auf den Spuren alter Abbaue eine ebenso gesetzliche Suchme thode ist wie alle übrigen, wenn auch natürlich weniger ver breitet. Das ist eigentlich alles, was ich noch sagen woll te…“ Sergej fuhr sich mit der Hand über die Stirn und setzte sich auf den einzigen freien Platz – auf den Diwan neben Soja. Darf Sergej in die Berge? Eine lange Minute verging in tiefem Schweigen. Plötzlich schob Nikolai heftig seinen Stuhl zurück und stand auf. Er schritt zur Karte und starrte auf den Bezirk, auf den Sergej gezeigt hatte. Dabei lächelte er herablassend und sagte: „Genossen, hier ist ganz klar zu erkennen, daß dieses Ge biet im Süden fast völlig mit Gletschern bedeckt ist. In den angrenzenden Bezirken sind keinerlei Kupfer- oder Zinnvor kommen eingezeichnet. Die gepanzerten Ritter, die fossilen Knochen von einem unbekannten Tier, die Teufelshöhlen – das alles ist recht lustig anzuhören, aber es ist notwendig,
auch irgendwelche geologische Beweise anzutreten. Wie dem auch sei, es geht um den Einsatz staatlicher Mittel, Zer splitterung der Kräfte und nicht zuletzt um die uns allen wertvolle Zeit. Ich muß gestehen, daß ich bei all meinem Wohlwollen gegenüber Genossen Krawzow“ – Nikolai machte in Richtung Sergejs so etwas wie eine halbe Verbeu gung – „seinen Vorschlag für – nicht ernst zu nehmen halte. Ja, für nicht ernst zu nehmen“, wiederholte er und schaute dabei direkt in Sojas Augen, die sich zornig auf ihn richte ten. „Ich sehe deshalb keinen Grund, diesen Bezirk als erst rangig zu betrachten. Ich bin für eine sorgfältige Erfor schung, aber nicht für unüberlegte Suchaktionen.“ Im ersten aufwallenden Zorn wollte Sergej Nikolai mit ir gendeiner Grobheit antworten, doch er beherrschte sich. Letzten Endes hatte jeder das Recht, seine Meinung zu sa gen. Aber da stachelte ihn Soja auf: „Sprechen Sie schon, sprechen Sie, Sie sind doch im Recht!“, und Sergej erhob sich von seinem Platz. „Und was ist, wenn wir erst nach fünf bis sechs Jahren mit einer systematischen Erforschung dieses Gebiets beginnen können? Haben wir da nicht das gute Recht und die Pflicht, dort wenigstens Suchaktionen vorzunehmen, wenn dafür trotz allem – ich bleibe dabei! – wesentliche Gründe vorlie gen? Soviel mir bekannt ist, stehen der Expedition Flugzeu ge zur Verfügung. Wir könnten dieses Gebiet für den An fang erst einmal überfliegen, es von oben besichtigen.“ Sergej setzte sich wieder auf seinen Platz und schaute un ruhig auf die Anwesenden, als suche er Unterstützung. Aber alle schwiegen, und dieses Schweigen schien ihm unheilvol ler als die heftigsten Einwände. Endlich begann Morosow zu sprechen: „Also, meine Freunde“, sagte er fest und gewich tig, „der Vorschlag unseres Genossen Krawzow erscheint
mir entgegen der Ansicht Nikolai Iljitschs interessant und verdient Aufmerksamkeit. Auf den ersten Blick mag er wirk lich ein wenig unbegründet erscheinen, wenigstens vom geo logischen Standpunkt aus…“ „Vom geologischen Standpunkt!… Aber darum geht es doch!“ rief Russanow aus und lehnte sich zurück, als halte er diese Frage von sich aus für endgültig entschieden. „Nein, mein verehrter Pjotr Andrejewitsch, darum geht es nicht allein. Ich weiß aus meinen persönlichen Erfahrungen und auch aus den Erfahrungen anderer Forscher, daß die Spuren, auf denen wir Geologen neue Bodenschätze finden, sehr voneinander abweichen und keineswegs immer auf ge nauen geologischen Angaben basieren. Ein richtiger Geolo ge muß alle Mitteilungen und Hinweise ausschöpfen – aus der Geschichte, der Folklore und sogar aus der Poesie…“ „Richtig“, flüsterte Soja begeistert, aber ihre Worte waren in der Stille so deutlich zu hören, daß sie verlegen wurde. „Danke, Soja.“ Morosow lächelte ihr zu. „Ich erinnere mich, daß es mir vor acht Jahren nur deshalb gelang, einen neuen Fundort zu entdecken, weil ich die alten geographischen Karten studierte, worauf noch die früheren Namen der Ge genden, Berge und Flüsse standen, die auf die hiesigen Be zeichnungen des Gesteins, seiner Farbe oder anderer charak teristischer Besonderheiten zurückgingen. So ist uns allen zum Beispiel der Name ,Miskend’ bekannt für – Kupferberg oder ,Temirtau’ für – Eisenberg und so weiter. Bei ähnli chen, scheinbar zufälligen Bezeichnungen muß der Geologe besonders hellhörig und aufmerksam sein. Aber das nur ne benbei. Natürlich hat Genosse Krawzow völlig recht mit seiner Behauptung, daß man nach Bodenschätzen auf den Spuren alter Abbaue suchen kann. Gegen seine Methode ist nichts einzuwenden. Wenn Sie dafür Beispiele haben wol
len, bitte! Ein russischer Gelehrter, der im 18. Jahrhundert große Reisen unternahm, bezeugte, daß ,tschudskische’ Stämme, die vor langer Zeit im Ural und im Vorural hau sten, dort mit Eberhauern Erz abbauten. Wie Maulwürfe krochen sie unter der Erde. Diese Erzabbaue aus dem Alter tum veranlaßten russische Fabrikanten, Bergwerke anzule gen.“ „Das ist aus Iwan Lepjochins Schriften“, bemerkte Sergej. „Richtig! Ich sehe, Sie haben sich mit der einschlägigen Li teratur befaßt. Eine nicht geringe Bedeutung hatten die alten Abbaue für die Entwicklung des Bergbaus im Altai und in Sibirien, wo die russischen Bergwerksindustriellen zahlrei che Kupfer- oder Bleierzlager fanden. Um so mehr trifft das auf Mittelasien zu, wo im Laufe der letzten tausend Jahre eine große Anzahl Stämme und Völkerschaften mit hoher Kultur lebten. Die Ausmaße der antiken und besonders der mittelalterlichen Abbaue in Mittelasien waren mitunter rie sengroß. So hatten die Erzbergwerke von Kara-Masar, die von Arabern erschlossen worden waren, eine Ausdehnung von einigen Kilometern. Dort gibt es richtige unterirdische Labyrinthe aus Stollen, Brunnen und Gräben. Aber soviel ich aus Ihrer Erzählung entnehmen kann, beziehen sich die von Ihnen vermuteten alten Abbaue auf eine viel weiter zu rückliegende Epoche. Davon zeugt das Vorhandensein von Knochengeräten, wenn auch neben steinernen und eisernen, welche Sie dort zweifellos ebenfalls auffinden werden.“ „Wenn man nur die Abbaue selbst finden würde“, mischte sich Russanow wieder ein. „Ich denke, daß die Argumente, die Genosse Krawzow für seinen Vorschlag gebracht hat, überzeugend genug sind, um ihn in diesem Bezirk nach Bodenschätzen suchen zu lassen. Wenn Sie mit diesem Standpunkt nicht einverstanden sind“
– er wandte sich an Russanow –, „so erlauben Sie, daß ich Ihnen einen anderen Vorschlag unterbreite. Das Gebiet, von dem Krawzow sprach, ist in geologischer Hinsicht wirklich als ,weißer Fleck’ zu bezeichnen. Uns allen ist bekannt, daß selbst in genau erforschten Gebieten häufig Bodenschätze entdeckt wurden, um so mehr müssen wir uns für diese Sa che hier mit Leidenschaft und wissenschaftlichem Ernst ein setzen. Diese Eigenschaften scheint mir unser Genosse Krawzow zu besitzen, und wir sind verpflichtet, ihn zu un terstützen. Ich habe deshalb die persönliche Bitte, ihm zu gestatten, in dem genannten Gebiet zu schürfen. Ich bin überzeugt, daß er uns dort keinen geringeren, sondern einen größeren Nutzen bringen wird als im Bergwerk. Was halten Sie davon, Genosse Jarmatow?“ „Bin einverstanden“, entgegnete Jarmatow kurz und ent schlossen wie immer. Russanow liebte keine selbständigen Entscheidungen. Er wußte, daß er im Ministerium den Ruf eines verläßlichen Menschen genoß, der allerdings wenig Initiative besaß, und war damit völlig zufrieden. Hatten Jarmatow und Morosow ihr Einverständnis erklärt, so nahmen sie ihm die Verantwor tung für diese Entscheidung ab, und er gab Sergej gern frei. Denn bei all den sonstigen Qualitäten, die dieser zweifellos besaß, war er ein „unruhiger“ Geist. Diese Kategorie Men schen rief bei Russanow immer eine dumpfe Unruhe, auch bezüglich seiner eigenen Stellung, hervor. „Sie nehmen mir einen guten Arbeiter, Genosse Morosow“, sagte er schließlich. „Natürlich werden Sie davon Ihren Nut zen haben.“ „Also gut!“ Jarmatow stand auf. „Ich halte unsere Bespre chung für beendet und gratuliere Ihnen, Genosse Krawzow, zur Ernennung als Leiter des südlichsten und, wie mir
scheint, höchstgelegenen Suchtrupps. Flugzeuge sind noch nicht bei uns eingetroffen – sie werden in 10 bis 14 Tagen kommen. Ich empfehle Ihnen aber, nicht zu warten. Sie müssen sofort aufbrechen, um Ihr Ziel recht bald zu errei chen und die Arbeit aufzunehmen. Wieviel Mann brauchen Sie?“ „Zwei bis drei Arbeiter, Wirtschaftsleiter und Koch in einer Person, einen Wäscher und einen Geologen.“ „Reicht das?“ „Ja.“ „Und der Transport?“ Sergej hob die Schultern. „Pferde. Aber in der Hauptsache müssen wir uns wohl auf unsere eigenen Beine verlassen… Das Gebiet ist schwer zu ersteigen.“ „Nun gut, ich wünsche Ihnen Erfolg!“ Jarmatow drückte Sergej kräftig die Hand. Auf dem Marsch Sergej Krawzows Trupp kam rasch voran. Dennoch ver gingen fast zwei Wochen, bis das von ihm beschriebene Ge biet erreicht wurde. Nachdem die Forscher mehrere Gebirgs rücken überstiegen hatten, gelangten sie in ein Tal, durch das der Bergfluß strömte, an dessen Oberlauf nach Sergejs Ver mutung das alte Bergwerk liegen mußte. Sergej hatte sich ausgerechnet, daß sie das Quellgebiet in einer Woche er reichten, aber da sie zahlreiche Nebenflüsse untersuchen mußten, wurden sie aufgehalten. Sergej wollte so schnell wie möglich ans Ziel kommen und war vom Morgen bis zum Abend unterwegs zum Schürfen. Fast alle zwei bis drei Tage wurde das Lager gewechselt. In den letzten Junitagen schlug die Expedition an einer Krümmung des Hauptflußbet tes ihre Zelte auf, im Schatten gewaltiger Pappeln, die einen
natürlichen Schutz vor den sengenden Strahlen der heißen asiatischen Sonne boten. Eines Abends – der Himmel über den Gipfeln leuchtete noch in hellem Blau, während der Fluß im Tal schon dunkel te und ein erfrischender Wind aufkam – wurde es bei den vier weißen Zelten lebendig. Erst kroch der kleine, immer fröhliche Großvater Gapor, den Dshuma als erfahrenen Pro viantverwalter und guten Koch empfohlen hatte, aus seinem „Wirtschaftszelt“ und machte sich an der aus groben Steinen gebauten Feuerstelle zu schaffen. Nach ihm traten zwei Ar beiter, die sich nach der Rückkehr von den Schürfarbeiten ausgeruht hatten, heraus ins Freie. Sie gingen fort, um nach den Pferden zu sehen, die am Berghang weideten. Bald dar auf kehrte Dshuma von seiner Marschroute zurück und legte die von ihm am Tage ausgewaschenen Rückstände des Fluß sandes in die Sonne zum Trocknen. Etwas später näherten sich von verschiedenen Seiten die anderen Expeditionsmit glieder, Nikolai mit Jura und Sergej mit dem dritten Arbei ter. Gewöhnlich verließen Sergej und Nikolai früh um acht Uhr in verschiedenen Richtungen das Lager. Sie kehrten meist spät zurück, ja manchmal erst kurz vor Anbruch der Nacht. Schnell wurden die gesammelten Gesteinsproben betrachtet, die geologischen Neuigkeiten mitgeteilt, und dann erst setzte man sich gemeinsam zum Abendbrot. Nach dem Essen schaute Sergej die von Dshuma sortierten und gewaschenen Rückstände durch die Lupe an, soweit es die Zeit und die Beleuchtung erlaubten. Währenddessen trug Nikolai auf einer Karte die Resultate ihrer Marschrouten ein und arbeitete mit Sergej die Pläne für den nächsten Tag aus. Kamen sie vom Schürfen zurück, wurde meist erst einmal in dem wildschäumenden Bergfluß gebadet, der zusammen mit dem Staub auch die Müdigkeit wegwusch. So geschah es
auch an diesem Abend. Nach dem fröhlichen Bad liefen Ser gej, Nikolai, Dshuma und Jura in raschem Lauf zu den Zel ten zurück, um gleich darauf die Gesteinsproben zu sortieren und mit Etiketten zu versehen. „Ach!“ rief Sergej plötzlich aus. „Ich habe es ja ganz ver gessen. Heute sind Dshafar und ich auf eine ganze Herde herrlicher Pferde gestoßen, auch den Hirten haben wir gese hen. Er lud uns alle zum Kumys ein, in eine Tierzuchtkol chose. Offen gesagt war mir dabei auch eingefallen, daß es ganz gut wäre, uns für einen Monat ein paar Pferdchen zu borgen. Sie laufen hier sowieso nur herum, und wir kämen dadurch schneller voran. Was meint ihr dazu?“ „Wir galoppieren wirklich schon, als ob der Teufel hinter uns her wäre“, warf Nikolai unwillig ein. Er hatte sich noch immer nicht damit abgefunden, daß Morosow ihn gegen sei nen Wunsch auf diese Expedition geschickt hatte. Er wäre viel lieber in der Stadt geblieben und hätte sich dort auf sei ne Dissertation vorbereitet. „Es wäre gut, diese Gegend bald zu verlassen – den ewigen Schiefer habe ich schon längst satt“, fügte Jura gewichtig wie ein alter Geologe hinzu. „Ja, die Gegend ist wenig interessant“, bestätigte Nikolai bereit willig. „Das war übrigens vorauszusehen… Du hast doch bisher auch nichts Bemerkenswertes gefunden, Sergej?“ „Nur Schiefer, aber anscheinend werden wir ihn bald hinter uns haben… Na, was macht denn deine Nase?“ wandte er sich gleich darauf an Jura. Er wollte das Gespräch mit Niko lai abbrechen. „Es geht, sie bekommt eine neue Haut.“ Der Junge lachte und tippte vorsichtig auf die Nasenspitze, von der sich in dieser Woche bereits die dritte Haut löste. „Aber der Rücken ist ordentlich!“ Er drehte sich um und zeigte voller Stolz den braungebrannten Rücken und die Schultern. Plötzlich schien
er sich an etwas zu erinnern. Er griff in die schon recht abge schabte Kartentasche und zog einige lange, schwarzweißge streifte Stacheln heraus. „Sehen Sie mal, was ich heute ge funden habe! Da werden meine Freunde in Moskau aber staunen!“ „Ein Stachelschwein selbst hast du aber noch nicht gese hen?“ fragte Sergej. „Nein. Warum?“ „Das ist gefährlich! Es schießt mit den Stacheln wie mit Pfeilen.“ „Weit?“ fragte Jura interessiert. Er stellte sich darunter ein riesiges, struppiges Tier vor, das nach allen Seiten spitze und harte Stacheln abschoß. „Laß dir nicht bange machen, Jura“, mischte sich da Dshu ma ein und lachte. „Das ist bloß ein Märchen.“ Es wurde dunkel. Sergej warf einen Blick auf die Uhr und rief laut, um das Rauschen des Flusses zu übertönen: „Gapor, he, Gapor! Was macht das Abendessen? Wir haben Hunger!“ Gapor hantierte eifrig neben dem großen Kochkessel und brummelte ab und zu vor sich hin: „Gleich, gleich, Chef, bin gleich fertig!“ Dshuma beobachtete ihn eine Weile und sagte dann lä chelnd zu Sergej: „Heute geht es nicht so fix mit dem Ko chen. Vom Mittagessen ist nichts übriggeblieben. Wir hatten nämlich Besuch.“ „Besuch?“ fragte Sergej verwundert. „Pferdehirten! Die Kolchose liegt nicht weit von hier. Gapor hat sie ordentlich bewirtet. Er soll uns alle grüßen und einladen,“ „Sie sind sicherlich aus derselben Kolchose wie der Hirt, den wir heute getroffen haben!“ rief Sergej aus. „Warum hat mir denn Gapor noch nichts davon gesagt?“
„Er geniert sich“, erklärte Dshuma lächelnd. „Er hat tüchtig mit ihnen zu Mittag gegessen, eine Menge Tee getrunken und dann fast das Abendbrot verschlafen.“ Obwohl alle Hunger hatten, wurde fröhlich über Gapor ge lacht. „Liegt die Kolchose weit von hier?“ fragte Sergej. „Nein. Zwei, drei Kilometer. Morgen früh holen sie uns ab.“ „Das ist schön, da können wir gleich wegen der Pferde re den. So… und jetzt wird erst mal Abendbrot gegessen.“ Asimchan Am nächsten Morgen, kaum daß die Sonne hinter den Bergketten hochstieg, erschienen im Lager zwei Männer der Tierzuchtkolchose, um die Geologen abzuholen. Der eine davon war der Oberpferdezüchter, und Sergej vereinbarte mit Asimchan gleich beim Teetrinken, ihnen für einen Mo nat drei Pferde zu schicken. Dann brachen Sergej, Nikolai, Dshuma und Jura mit den beiden Hirten auf. Asimchan war auf seinem Lieblingspferd ins Lager geritten. Seinen Erzäh lungen nach gab es kein besseres Pferd in der hiesigen Ge gend. Bei jedem Pferderennen holte es sich den Ersten Preis. Und im vorigen Herbst war es Asimchan sogar gelungen, mit ihm einen Wolf einzuholen, der ihm ein Kälbchen zer rissen hatte, so daß er den Räuber mit einem Stock erschla gen konnte. Die Geologen zweifelten ein wenig daran. Asimchan schaute wirklich nicht sehr imponierend aus. Er war klein und dick und hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht. Bevor sie aufbrachen, bot Asimchan seinen breitbrüstigen Goldfuchs Sergej an. Doch dieser lehnte ab, und so lief auch Asimchan zu Fuß. Der junge Hirt setzte sich auf das Pferd und jagte davon, um die Herde, die an den Hängen graste,
näher zu treiben. Sie brauchten nicht lange zu gehen, da ka men sie in ein sanft ansteigendes Tal, in dem ihnen ungefähr fünfzig Pferde mit langen Mähnen entgegentrabten. Vorn lief das Leitpferd, ein dunkelbrauner Hengst mit einem klei nen schmalen Kopf. Als die Pferde die Menschen gewahr ten, hemmten sie ihren Lauf und begannen im Kreise zu ga loppieren. Sergej und Dshuma suchten mit Asimchans Hilfe drei kräftige junge Pferde aus. „Doch wie soll man sie von der Herde trennen und fan gen?“ fragte Nikolai. „Sie werden alle auseinanderlaufen.“ „Wir jagen sie gleich in den Dshar“, antwortete Asimchan ruhig. „Dort können wir sie fangen.“ Jura blickte fragend auf Sergej. „Das muß ein enges natürliches Gehege sein“, antwortete Sergej. „Ich weiß es selbst nicht genau. Wir wollen uns die Sache mal ansehen.“ Nicht weit von ihnen lag ein schmales, aber ziemlich tiefes, ausgetrocknetes Flußbett. Dorthin hatte jetzt der junge Hirt die Herde gejagt, während er selbst am Hang stand, pfiff und damit die aufgeregt kreisenden und schnaubenden Pferde zu beruhigen versuchte. Asimchan setzte sich auf seinen Gold fuchs und ritt zu den Tieren, er wollte näher an die bezeich neten Opfer herankommen. Plötzlich brach ein Schwärm Dreijähriger aus der Herde aus und jagte dem offenen Teil des Flußbettes zu. Die langen dichten Schweife wehten im Winde. Eine junge scheckige Stute führte die jungen Pferde an. Nur mit großer Mühe gelang es Asimchan, sie zu über holen und zurückzutreiben. „Ein gutes Pferdchen“, sagte er ein wenig außer Atem und schaute auf die Schecke. „Nehmen Sie diese Stute, sie ist kräftig und ausdauernd.“ Asimchan wollte sie anscheinend als erste fangen. Wieder
jagte er zur Herde zurück. Er beugte sich leicht nieder, hielt das Lasso in der Hand und bahnte sich einen Weg durch die kreisenden und davonjagenden Pferde. Die Gefahr witternd, wollte die Stute wieder aus der Herde ausbrechen, aber die Schlinge sauste schon durch die Luft und wand sich augen blicklich um ihren Hals. Die Stute sprang zur Seite. Asim chan beugte sich im Sattel zurück, faßte das Lasso mit bei den Händen, und die zwei Pferde jagten, miteinander ver bunden, das Steilufer entlang. „Jetzt ist sie unser!“ rief Dshuma aus. Doch als Asimchan die Stute langsam heran zog, warf plötzlich sein eigenes Pferd alle viere hoch und machte solche Sprünge, daß den Zuschauern der Atem stockte. Asimchan klammerte sich an die Mähne und verlor dabei das Lasso. Sofort jagte die Stute an den wie versteinert stehenden Zuschauern vorbei, während Asimchan schwankte und vom Pferd fiel, gerade auf einige Steine, die aus dem Gras ragten. Obwohl er geschickt stürzte und sich nichts weiter tat, konnte er sich doch nicht sofort aufrichten. „Die Steine“, stöhnte er leise. Dabei schaute er nach den Bergen und fügte hinzu: „Das ist eine Stute, Teufel noch mal! Mein Lasso muß meinem Pferd unter den Sattel geraten sein.“ Gleich darauf stand er wieder aufrecht und rieb sich den Rücken. Dabei lächelte er breit und sagte: „Nur gut, daß ich eine dicke Jacke und dicke Hosen trage, sonst hätte ich mir etwas brechen können.“ Blitzschnell trat er an sein Pferd heran, schwang sich darauf und jagte wieder hinter der Stute her. „Donnerwetter! Der gibt’s nicht so leicht auf!“ sagte Niko lai voller Anerkennung. „Die sind alle so! Auf keinen Fall darf das Tier seinen Kopf durchsetzen, sonst pariert es nie“, erklärte Dshuma. Nach
ungefähr zehn Minuten kehrte Asimchan mit der Stute am Zügel zurück und übergab sie seinem Gehilfen. Darauf jagte er wieder zur Herde und warf das Lasso. Auch das jetzt ge fangene Pferd sträubte sich mit aller Kraft dagegen. Als aber Asimchan zu ihm hintrat, es an den Ohren packte, ihm den Hals klopfte und das Zaumzeug überwarf, beruhigte es sich unter der gebieterischen Hand dieses kleinen, selbstsicheren Mannes. Eine Minute später war auch das dritte Pferd gefan gen; Asimchan, offensichtlich verärgert durch seinen Sturz, war jetzt besonders schnell und genau in allen seinen Bewe gungen. Bewundernd flüsterte Sergej dem neben ihm ste henden Nikolai zu: „Der kann was!“ „Ja, das muß man wohl sagen“, entgegnete dieser, ohne die Augen von dem Pferdezüchter zu lassen. Nun brachen alle auf. Geführt von Asimchan und seinem Gehilfen, überquer ten die Mitglieder der Expedition einige kleine Bäche und gelangten durch ein Heckenrosendickicht auf eine große, von Weiden und Pappeln umsäumte Wiese, wo ungefähr ein Dutzend Sommerzelte standen. Hier war das jetzige Lager der Tierzuchtkolchose „Sieg“. Jura, für den alle diese Eindrücke neu waren, schaute sich neugierig um und nahm jede Kleinigkeit wahr. Unter einer großen Pappel stand ein altes räudiges Kamel. Es reckte den Hals und zupfte Blätter von den Zweigen. Vor der äußersten Jurte ruhten im Schatten der Bäume einige buntscheckige, ganz junge Kälber, die alle an einen Strick angebunden wa ren und sich anscheinend unter besonderer Aufsicht befan den. Vor einer großen schönen Jurte auf einem festgetretenen Platz arbeiteten Mädchen in bunten Kleidern an Zentrifugen. Scheckige Kühe weideten auf der Wiese, in deren Mitte gro ße, mit Moos bewachsene Steine lagen. Im dichten Gras
zirpten ohne Unterlaß Tausende von Grillen. Und über all dieser blühenden Sommerwelt stand in der blauen Unend lichkeit des Himmels die Sonne – riesengroß, hell und bren nend. Kaum waren die Gäste aus dem Buschdickicht auf die Wie se getreten und hatten sich dem ersten Zelt genähert, als ih nen große zottige Hunde entgegensprangen. Die Mädchen, die an den Zentrifugen arbeiteten, schrien laut durcheinan der. Darauf trat aus der großen Jurte in der Mitte der Kol chose eine ältere, hochgewachsene Frau, der sich einige Kinder anschlossen, Asimchan beruhigte mit kurzen Zurufen die Hunde und stellte die Frau den Geologen vor: „Gjulsara Bakajewa, Vorsitzende unserer Tierzuchtkolchose, eine be rühmte Melkerin.“ Große silberne Ohrringe hingen der Ba kajewa bis auf die Schultern und blitzten bei jeder Bewe gung. Sie drückte mit einem Lächeln jedem ihrer Gäste die Hand und lud sie in die Hauptjurte ein. Eine der oberen Filzmatten war zurückgeschlagen, und durch die große Öff nung drang ein erfrischendes Lüftchen vom Fluß herüber ein. An der runden Wand lagen zusammengelegte bunte Fil ze und Decken, einige Sättel mit reicher Silberverzierung. Auch ein Grammophon stand dort: „Damit sich meine Mäd chen nicht langweilen“, wie die Hausherrin erklärte. Weiter entdeckte Jura einen kleinen Tisch mit Büchern zum Auf schreiben der Milcherträge und einen Radioapparat der neuesten Marke „Der Kolchosbauer“. Kaum hatten die Gäste Platz genommen, als die Bakajewa und Asimchan Kumys in Pialen gossen und sie samt einer Schüssel runder dünner Fladen vor sie hinstellten. Bereits nach der zweiten Piale fühlten sich die Gäste leicht umnebelt, als hätten sie Alkohol getrunken, und nach der dritten entschuldigte sich Dshuma bei seiner Wirtin und trat ins Freie. Bald hörte man draußen
das helle Lachen der Mädchen und die fröhlichen Klänge eines tadshikischen Volksinstruments, auf dem Dshuma spielte. Nicht lange danach ging auch Jura hinaus, während Sergej und Nikolai ihre Unterhaltung mit der Vorsitzenden und Asimchan fortsetzten. Sergej, dem die tadshikische Sprache geläufig war, wechselte ab und zu in diese über, wobei er Nikolai seine Fragen und die Antworten der Kol chosleute übersetzte. Die Tierzuchtkolchose hatte in diesem Jahr mit anderen tadshikischen Kolchosen Genossen Stalin die Verpflichtung abgegeben, das Lebendgewicht des Jungviehs bedeutend zu erhöhen. Der Sommer hatte gut angefangen, das Gras war prächtig gediehen, aber jetzt machte sich schon die starke Hitze ungünstig bemerkbar. Man war gezwungen, öfter die Weiden zu wechseln und in diesem Jahr früher als sonst auf die kühlen Hochgebirgswiesen hinaufzusteigen. „Das paßt ja“, rief Sergej aus, „wir haben den gleichen Weg: Wir klettern bis hinauf zu den Gletschern!“ Er breitete eine Karte vor seinen Gastgebern aus und erkundigte sich nach dem Weg flußaufwärts. Zu Nikolais Verwunderung orientierten sich die Bakajewa und Asimchan sehr rasch nach der Karte und erzählten lebhaft, was sie alles von dieser Gegend wußten. Dann zeigten sie auch die Stelle, wohin sie im nächsten Monat übersiedeln wollten, und Sergej kenn zeichnete sie mit einem Kreuz. „Da werden wir uns also in einem Monat sehen“, sagte er, ohne zu ahnen, wie aufregend der Anlaß sein würde, „und inzwischen mag jeder das su chen, was er braucht: Sie – frisches Gras und Wasser, und wir – unsere Erze. Und sollten Sie dabei auf ungewöhnlich schwere Steine stoßen, nehmen Sie eine kleine Probe davon mit und merken Sie sich den Fundort. Wir versprechen Ih nen dafür, aufzupassen, wo saftiges Gras wächst.“ Dann er
kundigte er sich noch, ob die Kolchosleute nicht von Höhlen oder alten Bergwerken in den umliegenden Bergen wüßten. Nach kurzer Überlegung erinnerte sich die Bakajewa, in ih rer Jugendzeit gehört zu haben, daß sich hoch oben in den Bergen Banditen in Höhlen versteckt hielten und dort lebten. Aber seitdem waren viele Jahre vergangen und die Banden längst aufgerieben. Plötzlich klang von draußen lautes Stimmengewirr und helles Hundewinseln herein. Asimchan lauschte. „Der Fuchsjäger ist aus den Bergen zurück. Wollen Sie ihn sehen? Er jagt mit einem Königsadler.“ Sergej und Nikolai dankten herzlich für die Bewirtung und traten dann rasch ins Freie. Der Herr des Adlers Die jungen Melkerinnen, Dshuma, Jura und eine Schar Kinder umstanden einen großen hageren Alten, der einen Königsadler fütterte. Der mächtige Vogel war mit einer Lei ne an einer Stange festgebunden. Er sah wild und grimmig aus. Es handelte sich offenbar um ein ungewöhnlich starkes Tier. Der Herr des Adlers hatte soeben einem Fuchs das Fell ab gezogen. Er hängte es zum Trocknen auf und warf dem Kö nigsadler ein Stück frisches Fleisch zu. Der Vogel griff es gierig mit den mächtigen eisernen Krallen und zerriß es so heftig mit dem krummen Schnabel, daß die Zuschauer un willkürlich verstummten. „Großartig!“ sagte Nikolai. „Ich glaube, so ein Adler kann einen Hammel aufheben!“ Der Herr des Adlers streifte Nikolai mit einem kurzen Blick und antwortete in ziemlich gutem Russisch: „Er ist auf Füchse dressiert und tötet sie sofort. Ein tüchtiger Jäger! Schade, daß das Sommerfell nicht zu verwenden ist. Er soll
sich aber nicht entwöhnen, deshalb lasse ich ihn jetzt ab und zu jagen.“ „Sind Sie Tadshike?“ fragte Sergej. Dar Alte nickte und fügte hinzu: „Hier bei uns jagt man aber nicht mit Adlern. Das habe ich in meiner Jugend bei den Kirgisen gelernt.“ Nikolai wollte den Königsadler und seinen Herrn fotogra fieren, um seine Sammlung „Mittelasiatische Eindrücke“ zu vervollständigen, doch der Alte drehte sich schroff weg und hob warnend die Hand. „Nein! Das bedeutet nichts Gutes.“ „Warum nicht?“ fragte Nikolai verwundert. „Das gibt Unglück!“ erklärte der Alte kurz. „Und ich brau che das Glück. Ich bin hierhergekommen, um junge Königs adler zu fangen. Ich will sie dressieren und dann verkaufen. Das ist schwer, denn ich muß hinauf bis auf die höchsten Berge. Dorthin, wo sie hausen.“ Er hob den Kopf und wies auf den Himmel, wo zwischen den rosig schimmernden, schon abendlichen Wolken, den Augen kaum sichtbar, lang sam einige große Vögel kreisten. „Ist so ein dressierter Adler teuer?“ fragte Nikolai. „Dieser hier… für den gibt es keinen Preis, er ist unbezahl bar“, antwortete der Alte ausweichend. Dabei verzogen sich seine dünnen Lippen zu einem kaum merklichen, hinterhäl tigen Lächeln. „Die Jungen, die verkaufe ich. Aber diesen geb’ ich nicht weg – der gehört mir!“ Der Alte trat aus dem Kreis, schritt zu einem struppigen Pferd, das an eine der Jur ten angebunden war, und holte aus der Satteltasche einen langen groben Lederhandschuh. Er streifte ihn über die Lin ke und kehrte zu dem Adler zurück. Mit einer unerwartet kräftigen Bewegung hob er ihn hoch und setzte ihn auf seine Hand. Der Adler klammerte sich mit den Krallen an dem Handschuh fest und flatterte wild mit den Flügeln. Doch er
beruhigte sich schnell, wandte sich von den Menschen ab und blickte über ihre Köpfe hinweg in die Berge. „Das sind Krallen!“ flüsterte Jura. Plötzlich schrie der Alte einem der Jungen etwas zu. Dieser holte das Fuchsfell und warf es auf die Erde neben den alten Jäger. Im selben Augenblick löste sich der Adler von der Hand des Alten, stürzte sich auf das Fell und krallte sich so fest hinein, als wollte er einem Fuchs das Rückgrat brechen, „Wenn wir so einen Mann bei uns hätten“, wandte sich Nikolai an Sergej. „Was für interessante Bilder könnte ich da machen. Da würden sie ja staunen in Moskau! – Du hast keine feste Arbeit?“ fragte er gleich darauf den Al ten. „Bist ein selbständiger Jäger?“ „Dort unten steht mein Haus.“ Der Alte zeigte mit der Hand irgendwohin in die Tiefe, den Fluß entlang. „Jetzt gehe ich hinauf in die Berge, um Königsadler und Füchse zu fangen. Ich verkaufe sie dann. Das ist meine Arbeit.“ „Er ist erst vor zwei Tagen zu uns gekommen“, erklärte A simchan. „Aber im vorigen Jahr war er auch da. Bei uns hier gibt es viele Füchse.“ „Hör mal, Sergej“, redete Nikolai eifrig, „wollen wir ihn nicht zu uns nehmen? Er hat sowieso den gleichen Weg wie wir und kennt die Gegend hier. Er kann Gapor helfen. Der wird ohnehin nicht allein fertig. Was meinst du?“ Sergej runzelte die Stirn. „Wir haben keine große Ausrüstung und sind genug Leute. Der Mann ist nicht mehr jung, und vor uns liegen noch schwierige Strecken. Auch kennen wir ihn nicht.“ „Ach was, reden wir mit ihm!… Willst du mit uns kom men?“ wandte sich Nikolai an den Alten. „Kennst du den Weg da hinauf? Kannst du packen und Pferde beladen?“ Nach kurzem Zögern gab der Alte Antwort. „Ich bin schon
68 Jahre alt, und alles, was ein Mensch wissen muß, der in den Bergen lebt, weiß ich.“ „Nun, wie ist es? Wenn du willst, kannst du mit uns gehen. Komm morgen zu uns ins Lager. Aber wir brechen früh auf.“ Der Alte verneigte sich leicht. Es blieb unklar, hatte er sei ne Zustimmung erteilt oder nicht. Nikolai ahnte nicht, wie sehr er diese Aufforderung noch bereuen sollte. Kaum dämmerte der nächste Morgen, als die Abteilung schon auf den Beinen war. Mit geübten Griffen rollten die Arbeiter die Zelte zusammen und beluden die alten und die neu erstandenen Pferde mit den Lasten. Nach Sergejs An weisung säuberten Jura und Gapor den Lagerplatz von Ab fällen und verbrannten die Reste. Da tauchte plötzlich der Herr des Adlers auf. Er kam auf seinem kurzbeinigen, zotti gen Pferdchen angeritten, mit zwei kleinen Bündeln, die an den Sattel gehängt waren. Der Adler saß auf seiner linken Hand. Der Vogel trug eine kleine lederne Haube, die die Augen bedeckte. So war er ruhiger. Der Alte grüßte kurz und griff gleich mit zu. Er half den Arbeitern beim Beladen der Pferde. Sergej zuckte die Achseln. Der Geologe seines Trupps hatte den Alten eingeladen, jetzt abzusagen, wäre peinlich gewesen. Außerdem verlangte die größere Anzahl Pferde wirklich mehr Arbeitskräfte. „Wie heißt du? Wo bist du geboren?“ fragte er den Alten. „Dawlet Scharimbekow, aus dem Kischlak Schach-dar“, antwortete dieser und reichte Sergej einen mit Fettflecken beschmierten, abgegriffenen Ausweis. „Hast du noch mehr Papiere?“ Der Alte zeigte seinen Jagdschein, Rechnungen einer Pelz faktorei und die Auskunft eines Dorfsowjets. „Nun gut. Bis
zum Gipfel haben wir den gleichen Weg. Hilf uns – wir werden uns erkenntlich zeigen. Oben trennen sich dann un sere Wege – du gehst deiner Arbeit nach und wir der unse ren…“ Der Alte nickte stumm. Am Bergfluß entlang Der Marsch den Bergfluß hinauf war nicht leicht. Schon wenige Stunden nach dem Aufbruch der geologischen Abtei lung aus dem Lager verengte sich das Tal, die Hänge wurden steiler und felsiger, und der Weg sprang von einem Ufer auf das andere, als fände er keinen Platz. Diese häufigen Über gänge hielten am stärksten auf. Der auf den Gipfeln tauende Schnee hatte den kleinen Bergfluß, besonders um die Mit tagszeit, in einen fast unüberwindlichen Strom verwandelt. Obwohl seine Breite selten 15 bis 20 Meter überstieg, war die Strömung doch so reißend, daß der ganze Fluß sprudelte und kochte. Darüber hing ständig ein leichter Schleier aus Wasserstaub, auf den die Sonne winzige Regenbogen malte. Miteinander sprechen konnte man kaum, eine Verständigung war meist nur durch Gesten möglich. Das Rauschen des da hinjagenden Wassers wurde ab und zu durch ein dumpfes Poltern unterbrochen, das anscheinend von den schweren Steinen herrührte, die auf dem Flußgrund bergab rollten. Jetzt standen auf der einen Seite des Bergflusses dunkle, kahle Felsen, auf der anderen erhoben sich mehrere hundert Meter hohe, steile Geröllhänge. Der Weg, der sich zuletzt an die Steilhänge angeschmiegt hatte, wechselte auf die andere Seite über und wand sich nun zwischen diesem Geröll dahin, Sergej und Dshuma wußten, daß diese Geröllhalden nicht sicher waren und der Weg darüber mit den Pferden viel ge fährlicher als der längs der Felsen. Aber sie mußten nun einmal dort entlang und freiwillig oder unfreiwillig auf die
andere Seite gehen. Natürlich führte keine Brücke über den Fluß. Die Kraft des Stroms und die häufige Steigung des Wasserspiegels hätten auch jeden beliebigen Bau hinwegge schwemmt. Das ein wenig störrische und einen solchen Übergang nicht gewöhnte Pferd Nikolais glitt in der Mitte des Stroms aus und verlor den Boden unter den Hufen. Das Wasser trug es ein Stück hinab, zusammen mit dem Reiter, der sich im Steigbügel verfangen hatte. Vergeblich versuchte Nikolai seinen Fuß herauszuziehen, das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Endlich konnte er sich befreien und Fuß auf den Steinen fassen, aber die reißende Strömung warf ihn wieder um. Er fand weder Halt an den glitschigen Stei nen noch an dem zappelnden Pferd. Dshuma und Jura schrien laut auf. Das hörte Sergej, der den Fluß vor Nikolai durchquert hatte. Erschrocken blickte er sich um und ritt zurück ins Wasser. Es gelang ihm, an Nikolai heranzukommen und ihn am Arm zu packen. Dieser klammerte sich fest an Sergejs Pferd, richtete sich auf und kletterte so ans Ufer. Weit stromab stieg auch sein Pferd ans Ufer, stark zerschunden von den Steinen. Zitternd vor Kälte und dem durchlebten Schreck, zog sich Nikolai um. Dann drückte er Sergej fest die Hand. Die nächsten Übergänge organisierte Sergej auf andere Art. Zuerst prüfte der alte Scharimbekow, der Herr des Adlers, wie man ihn nannte, auf seinem tüchtigen Pferdchen den Weg durch den Strom. Dann führten Sergej mit Dshuma und den Treibern alle Pferde an den Zügeln hindurch. Die übrigen Leute liefen hinterher und durchquerten auf tadshikische Art den Fluß. Sie faßten einander an den Schultern und gingen geschlossen durch das Wasser. Diese feste Kette war wirklich standhaft und bot auch solcher Strömung Widerstand, die einen ein zelnen Menschen umgeworfen hätte.
Trotzdem waren die Übergänge keine angenehme Sache. Die Kleidung und ein Teil des Gepäcks wurden völlig durchnäßt. Jedesmal mußten sich alle neu anziehen und die Lasten auf den Pferden umladen. Mitunter führte der Weg ein großes Stück vom Fluß weg und stieg zweihundert bis dreihundert Meter an. Wenn Nikolai und Jura, die noch nie im Hochgebirge gewesen waren, von dieser Höhe auf den unten rauschenden Strom blickten, wurde ihnen schwindlig. Sie wandten die Augen von der Tiefe ab und verließen sich gänzlich auf die Geschicklichkeit und den sicheren Gang ihrer Pferde. Einmal machten sie auch Bekanntschaft mit einem der berühmten überhängenden Wege, wie sie in Tads hikistan an steilabfallenden Felsen gebaut wurden. Um so einen Weg anzulegen, brauchte man Stämme und starke Äste. Sie wurden in die Felsspalten eingekeilt, Balken darübergelegt und diese dann mit Steinschutt und Erde be deckt. Als sie ein solches „Balkonchen“, wie es Dshuma liebevoll nannte, in 200 Meter Hohe über dem Fluß entlang ritten, erschienen ihnen alle bisher überwundenen Gefahren gering. Doch langsam wurden sie sicherer. Eine große Rolle spielte dabei die Ruhe, die Sergej, Dshuma und die anderen Gefährten auf dieser schwindelerregenden Strecke zeigten. Als die Forscher endlich das enge, schluchtartige Tal durch zogen hatten, bot sich ihren Augen ein wunderbares Bild. Der Fluß, der hier eine scharfe Biegung machte, wurde brei ter und strömte nach Süden. Die Talsohle war fast durchge hend mit Birkendickicht bewachsen, das höher hinauf von dem hellen Grün der Grasmatten und dicht mit rotem und gelbem Mohn bewachsenen Feldern abgelöst wurde. Der Fluß schlängelte sich wie ein schmales blaues Band durchs Tal, und nur das gedämpfte Rauschen,
das von unten heraufklang, erzählte davon, daß die Strö mung hier ebenso reißend war. Die Geologen hielten sich in dem Tal drei volle Tage auf. Sie wanderten an den nächsten Nebenflüssen und den Hän gen der angrenzenden Bergrücken entlang. Immer, wenn Sergej von diesen langen, anstrengenden Märschen zurück kam, suchte er sich ein stilles Plätzchen, setzte sich auf einen Stein und verlor sich in der Betrachtung der ringsum liegen den herrlichen Landschaft. Wegen all dieser Schönheiten liebte Sergej seine Arbeit und Tadshikistan, einen Teil seiner großen Heimat. Wie wundervoll war es, mitten im Herzen
dieser Berge zu leben und die Geheimnisse der gigantischen, fast noch unerforschten Berge zu ergründen. Kehrte er ins Lager zurück, sah er die gleiche Freude auch auf den Gesichtern von Dshuma, Jura und den jungen tads hikischen Arbeitern, die schnell die Interessen und Aufgaben der Expedition zu ihren eigenen gemacht hatten. Besondere Freude hatte er an Jura. Es war eine große Ausnahme, daß Professor Morosow den ständigen Bitten des begabten Jun gen schließlich nachgegeben hatte und ihn an der Expedition teilnehmen ließ. Aber es bestand kein Grund, das zu bereu en. Bei all seinem fröhlichen Wesen besaß Jura ernsten For schergeist, eine scharfe Beobachtungsgabe und Liebe zur Arbeit. Er sammelte nicht nur Gesteinsproben, sondern lern te sie gut zu unterscheiden und richtig auf der Karte einzu tragen. Weiter hatte er Dshuma gebeten, ihm zu zeigen, wie man Flußsand auswäscht, und der Herr des Adlers lehrte ihn die Kunst, Pferde richtig zu beladen. Ganz anders verhielt es sich jedoch mit Nikolai. Er arbeitete gewissenhaft, man konnte ihm nichts nachsagen, aber die echte Begeisterung, dieser Funke, den Sergej bei all seinen Gefährten leuchten sah, fehlte ihm. Noch mehr: er wurde von Tag zu Tag ver schlossener, ja gleichsam feindseliger gegenüber Sergej. Früher oder später mußte die zwischen ihnen bestehende Spannung zur Entladung kommen – in Worten oder, was sehr gut möglich war, auch in Taten. Einige Male brach Sergej zusammen mit Nikolai und Jura zum Schürfen auf, und Nikolai konnte sich dabei für die Hil fe, die Sergej ihm erwiesen hatte, „revanchieren“, wie er es ausdrückte. Ein hellgelber Fleck an einem Felsen hatte die Forscher so gefesselt, daß sie alle drei hinaufkletterten. Plötzlich schrie Nikolai auf und schlug mit dem Hammer eine große, sich in der Sonne wärmende Schlange von einem
Felsvorsprung herunter, an dem sich Sergej eben festhalten wollte. „Vielen Dank, Nikolai“, sagte Sergej. „Wenn du nicht ge wesen wärst, hätte ich ein oder zwei Wochen bei den Zelten bleiben müssen.“ Am nächsten Morgen brachen sie das Lager ab, um tiefer in die Berge zu ziehen. Der alte Gapor packte zusammen mit den Arbeitern und Scharimbekow Lebensmittel in die Säcke. Plötzlich schrie er auf und hüpfte auf der Stelle. Eine große, ekelhafte Spinne mit behaarten Beinen und starken ge krümmten Kiefern war aus einem Sack gekrochen und hatte ihn gebissen. Sergej riß zwar die Spinne von Gapors Hand und zertrat sie mit den Schuhen, aber es war bereits zu spät. „Wie kam denn diese Spinne in den Sack?“ fragte Sergej verwundert. „Das kann vorkommen, alles mögliche kann vorkommen“, brummte Scharimbekow vor sich hin, „so eine Spinne kriecht überall hinein.“ Obgleich Sergej Gapor um die Bißstelle sofort drei Spritzen gab, wurde die Hand zusehends dicker. Der Koch würde mindestens einen Monat nicht arbeiten können. Es wurde also beschlossen, ein Pferd zu satteln und ihn in Begleitung eines Arbeiters zur Tierzuchtkolchose zurückzuschicken. Sollte der Biß schlimmer werden, mußte Gapor von dort in die Stadt gebracht werden. Nach diesem Vorfall wies Sergej alle Kameraden an, vorsichtiger zu sein und vor dem Schla fen rings um die Zelte Wasser zu gießen oder, noch besser, sie mit einem Wollseil zu umgeben, über das Spinnen oder Skorpione nie kriechen würden. „Und warum kriechen sie nicht über die Wolle?“ wollte Ju ra wissen. „Sehr einfach: sie fürchten instinktiv- die Schafe, denn die se sind ihre Feinde. Die fressen sie, ohne den geringsten
Schaden zu nehmen.“ Mit Gapors Aufbruch hätte sich der kleine Trupp in einer sehr schwierigen Lage befunden, wenn sich Scharimbekow nicht als Koch angeboten hätte, und es zeigte sich, daß er ein recht tüchtiger Koch war. Nach dem ersten Mittagessen, das der Alte gekocht hatte, sagte Nikolai nicht ohne Stolz zu Sergej: „Na, wie ist mein Kandidat? In allen Fächern Meister. Möchtest du ihn noch immer nicht nehmen?“ Sergej mußte bekennen, daß sie ohne Scharimbekow in ei ner äußerst schwierigen Lage wären. Als sie die „Bergoase“ verließen, wie Jura diesen Rastplatz getauft hatte, wanderte der Trupp einen ganzen Tag lang flußaufwärts und erreichte eine bedeutende Höhe. Weiden und Heckenrosen wurden seltener, ebenso die Zwergbirken. Des Nachts – sie hatten diesmal keine Zelte aufgestellt – wurde es ihnen das erste mal seit Beginn des Marsches so kalt, daß alle in ihre Schlafsäcke krochen. Die schneebedeckten Gipfel waren näher gekommen. Nach weiteren zwei Tagesmärschen über Geröllfelder und Hänge ohne Weg und Steg gelangten sie fast bis an die Quelle des Flusses. Das neue Lager der Expe dition mußte in einer finsteren Schlucht aufgeschlagen wer den, die mit riesigen scharfkantigen Felsblöcken angefüllt war. Nicht nur den Pferden war es schwergefallen, hier durchzukommen, auch die Menschen kamen müde und zer schunden an. Rechts und links vom Lager der Geologen rag ten steile Felsen von schwärzlich-violetter Farbe in die Hö he. Vor ihnen, in dem dreieckigen Ausblick aus der Schlucht, schimmerten die zackigen, dicht mit Schnee be deckten nahen Gipfel der Berge.
Nikolai will Sergej verlassen Am Morgen nach ihrer Ankunft an diesem finsteren Ort rief Sergej Nikolai zu sich, um mit ihm zusammen die Marsch routen bis hinauf an die Schneegrenze zu entwerfen und zu verteilen. Nikolai schaute sich die Karte an und sagte ironisch lä chelnd: „Ich hoffe, daß hier endlich unser Marsch zu Ende ist.“ „Warum?“ Sergej schaute ihn verwundert an. „Wenn wir hier auch nichts finden – weder an Werkzeugen noch an ge heimnisvollen Höhlen, dann müssen wir so schnell wie mög lich zur Expeditionsbasis zurückkehren, um den Rest des Sommers noch für unsere Arbeit in anderen Suchtrupps zu nutzen. Ich hoffe, daß du der gleichen Meinung bist.“ „Nein. Ich bin nicht deiner Meinung.“ Nikolai wurde verle gen, sein Gesicht färbte sich dunkel, „Siehst du, Sergej, ich habe es dir bisher noch nicht gesagt; ich wollte, daß du dich selbst davon überzeugst, daß das Gebiet hier um diesen Fluß, zu dem du unbedingt hin wolltest, wertlos ist. Wir haben fast tausend Proben gemacht, ohne Erfolg. Wir haben alle an grenzenden Hänge besichtigt und nicht das geringste Anzei chen von Erz entdeckt. Oder denkst du vielleicht, irgendwel che Vorkommen oder ein altes Bergwerk gerade hier, am Oberlauf, dicht unter den Gletschern, zu finden? Das ist we nig wahrscheinlich. Denn wenn hier Erz wäre, hätte es der Fluß ausgewaschen und wenigstens kleine Teile hinabgetra gen. Hier gibt es nicht einmal Spuren von IntrusivGesteinen, die auf eine Vererzung hinweisen könnten. Das stimmt doch? Ich hoffe, daß du das bei all deiner Begeiste rung für deine falsche Idee und deinen Eigensinn nicht ab leugnen wirst.“ „Nein, das tue ich nicht!“
„Und was für einen Schluß ziehst du daraus?“ rief Nikolai. „Was für einen Schluß? Daß dieses Gebiet für uns wertlos ist, wie du völlig richtig bemerktest.“ „Wenn du das selbst zugibst, bleibt uns nichts übrig, als so rasch wie möglich umzukehren und uns in die Arbeit anderer Forschungstrupps einzuschalten. Ehrlich gesagt, ich habe nichts gegen eine gründlichere systematische Erforschung dieses Gebietes, aber bei einem anderen Tempo als jetzt. Das kann viel Interessantes im Hinblick auf Stratigraphie und Tektonik dieser Gegend bringen…“ Sergej lachte. „Nein, Nikolai! Unser Programm sieht ganz anders aus. Das Gebiet, durch das dieser Fluß strömt, hat sich wirklich als uninteressant erwiesen. Sich weiter an ihn zu halten hat keinen Sinn. Wir verlassen ihn schon morgen und schürfen weiter östlich.“ „Über dem Bergrücken?“ „Ja, über dem Bergrücken dort.“ „Nun langt es mir aber!“ Nikolai sprang auf. „Ich bitte, mich auf jeden Fall damit zu verschonen. Ich hab’ genug von diesem Abenteuer! Sieh dir an, was aus uns geworden ist – die Sachen sind abgerissen, alle sind müde und er schöpft, haben zerschundene Füße. Die Pferde verlieren die Hufeisen, die Lebensmittel gehen zu Ende. Und das alles, um deiner Laune nachzugeben. Und nun schlägst du uns noch vor, 4000 Meter hoch zu klettern, wo man nicht einmal weiß, ob dort überhaupt ein Paß ist, wo man nicht einmal weiß, wie man ohne Pferde da hinaufkommt, geschweige denn mit Pferden. Und vor allem: zu welchem Zweck? Wer bürgt uns dafür, daß wir dort irgend etwas Interessantes fin den werden? Die einzige Begründung dafür sind deine Phan tastereien. Deswegen vertrödeln wir Zeit und verschwenden Mittel, setzen Gesundheit und Leben aufs Spiel. Nein, das
kann dir niemand erlauben!“ „Das heißt also, daß du dich weigerst, länger in meinem Trupp zu arbeiten?“ fragte Sergej. Er betonte jedes Wort. Nikolai schaute auf die Erde und schlug plötzlich einen ganz anderen Ton an: „Versteh mich doch, Sergej. Man kann nicht immer und immer vorwärts hasten. Wir müssen um kehren, unsere Pferde und uns selbst in Ordnung bringen, die Lebensmittel ergänzen und mit einer systematischen geolo gischen Aufnahme dieses Gebiets beginnen, seine Strati grapbie erforschen, uns bemühen, die Tektonik festzustellen. Erst dann können wir sagen: Diese Arbeit haben wir gelei stet, aus diesem und jenem Grunde hatten wir keine Boden schätze finden können. Die gründliche Erforschung eines neuen, bisher unbekannten Gebiets, ist das vielleicht keine große Sache?“… Nikolai verstummte, zufrieden damit, wie gut und stichhaltig er seinen Vorschlag begründet hatte. „Die Erforschung eines offenkundig wertlosen Gebietes, wenn daneben noch völlig unerforschte Berge liegen!“ ent gegnete Sergej ironisch. „Es wird Zeit, zu begreifen, daß unser Land Metalle braucht und keine Aufstellungen, die beweisen, warum es in diesem oder jenem Gebiet keine Me tallvorkommen gibt, kein Eisen, Kupfer, Blei, Zinn, Wolf ram. Und dazu ist es vor allen Dingen notwendig, neue Vor kommen zu entdecken, den Vorrat an Erz zu vermehren. Wenn sie nicht hier sind, muß man sie eben woanders su chen, immer tiefer in die Erde eindringen und mehr in uner forschten Gebieten schürfen, soweit das möglich ist. Suchen, suchen, suchen! Das ist unsere Aufgabe, und nicht die Auf stellung gescheiter Berechnungen mit Erklärungen, warum wir eigentlich keine Vorkommen gefunden haben.“ „Nun gut, machen wir Schluß mit diesem sinnlosen Ge spräch“, sagte Nikolai kurz. „Mit dir kann man nicht reden,
dich kann man nicht überzeugen. Ich sage dir deshalb klar und deutlich: Ich bin mit einer Weiterarbeit in deiner Expe dition nur unter der Bedingung einverstanden, daß wir die Jagd nach den nicht existierenden Bergwerken und Höhlen abbrechen und eine systematische Aufnahme dieses Gebietes beginnen – oder zum Hauptlager zurückkehren.“ „Das muß ich dir allerdings sagen…“, Sergej sprach lang sam und betont. „Mir kommt die Vermutung, daß alle deine Überlegungen nur das eine Ziel verfolgen: unsere Arbeit so zu lenken, daß sie für deine künftige Dissertation ersprieß lich ist. Unsere gemeinsame Aufgabe ist dir dabei völlig gleichgültig.“ „Das ist die Höhe!“ Nikolai sprang auf. „Ich muß dich doch bitten, etwas vorsichtiger zu sein. Nicht ich, sondern du ver schwendest staatliche Mittel um einer Idee willen, deiner Jagd nach irgendwelchen kindischen Geheimnissen.“ „Ich jage nicht Geheimnissen nach, sondern ich suche neue Erzvorkommen“, antwortete Sergej fest. „Und du bist ge kränkt, weil meine Expedition deinen Plan, in der Stadt zu arbeiten, zerstört hat. Dabei stammt der Gedanke, dich mit zunehmen, überhaupt nicht von mir, sondern von Professor Morosow. Du schiebst mir offenbar die Schuld an deiner Verstimmung mit ihm zu…“ „Ich möchte dich bitten, meine persönlichen Angelegenhei ten aus dem Spiel zu lassen. Auf jeden Fall bin ich froh, daß wir uns ausgesprochen haben. Ich sehe keine Möglichkeit mehr, mit dir zu arbeiten, und bitte dich, mir einen Arbeiter und ein Pferd zu geben, damit ich zurückkehren kann. Einen anderen Ausweg sehe ich nicht.“ „Gut, ich habe dagegen keine Einwände“, sagte Sergej. „Das können wir gleich tun, wir brauchen es nicht aufzu schieben. Ich kann keine Mitarbeiter brauchen, die die Ar
beit im schwierigsten Augenblick hinwerfen.“ Mit diesen Worten verließ Sergej das Zelt und gab einem der Arbeiter Befehl, ein Packpferd fertigzumachen und sich selbst auf die Rückkehr zur Expeditionsbasis vorzubereiten. Er war sehr verärgert, sah aber keinen anderen Ausweg, ob gleich der Verlust des Geologen alle seine Pläne zum Schei tern zu bringen drohte. Hilft nichts, sagte er sich kurz ent schlossen. Da muß ich eben allein weitergehen. Ich habe so einen prächtigen und tüchtigen Arbeiter wie Dshuma, dann noch Jura. Ihnen kann man sogar kleine Marschrouten selb ständig anvertrauen. Auf jeden Fall werden wir über diesen Bergrücken klettern. Gibt es auch dort keine alten Abbaue, keine Anzeichen von Erdschätzen, bleibt mir wirklich nichts weiter übrig, als ein zugestehen, daß meine Vermutungen auf einem Irrtum be ruhten, und ich muß ins Bergwerk zurückkehren. Hilfe naht Sergej war so tief in Gedanken versunken, daß er nicht merkte, wie Nikolai sich näherte. „Bitte, hör zu, Sergej. Ich bin gekommen, um mit dir zu re den… dir zu sagen, daß ich meine Worte zurücknehme. Ich kann nicht und will dich nicht in dieser Gegend allein lassen. Wir haben die Sache gemeinsam begonnen – wollen wir sie auch gemeinsam weiterführen.“ Sergej sah von unten in das ernste, etwas verlegene Gesicht Nikolais, dann sprang er auf und packte ihn kräftig an den Schultern. „Vielen Dank, Nikolai!“ sagte er erregt. „Ach, jetzt geht es erst richtig los! Bringen wir Leben in diese Berge!… Ich werde mich mit Morosow durch Funk in Verbindung setzen und Hilfe aus der Luft erbitten. Erstens kann uns das Flugzeug mit dem Fallschirm Lebensmittel abwerfen, und
zweitens – was viel wichtiger ist – können sie einen Geolo gen in das Flugzeug setzen, der die von uns bezeichnete Trasse überfliegt. Von oben kann man manchmal mehr ent decken als von unten.“ „Ein guter Gedanke“, entgegnete Nikolai sofort. „Doch vergiß nicht, daß hier große Höhen sind, die Flugzeuge nicht landen können und vielleicht im Augenblick nur ein einziges Flugzeug der Expedition zur Verfügung steht. Und einen passenden Geologen für so einen Flug wird man auch nicht gleich finden.“ „Wir werden sehen. Wir bitten darum und werden hören, was sie sagen. Ich habe Morosow noch mit keinerlei Bitten belästigt. Mögen sie sehen, wie sie uns helfen können, und aus der Luft ist es immer noch am leichtesten.“ Nach der Auseinandersetzung mit Sergej war es Nikolai leichter zu mute. Datier ihm seine Zweifel und Einwände gesagt hatte, ließ ihm seine eigene Verantwortung geringer erscheinen. Sergej bat Jura, das kleine Feldfunkgerät betriebsfertig zu machen. Nach einer halben Stunde meldete er, daß die Ex peditionsbasis antworte und zum Empfang überginge. Ser gej, Nikolai und Dshuma drängten sich in das kleine Zwei mannzelt, wo das Radio stand. Nach dem vereinbarten Code gab Sergej einen kurzen Bericht über die bisher geleistete Arbeit und die weiteren Pläne durch und bat um Unterstüt zung. Als Jura alles eifrig und mit großer Sorgfalt gefunkt hatte, ging er wieder zum Empfang über. Seine Augen wurden zusehends größer vor Freude. „Morosow antwortet“, sagte er aufgeregt und schrieb schnell den Funkspruch auf. Sergej verfolgte mit Ungeduld, was Jura schrieb. „Billige weitere Schürfung im Südosten. Verliert nicht den
Mut. Sofort Hilfe durch Ausrüstung und Lebensmittel. Gebt den Paßübergang an. Haltet Verbindung mit uns täglich 14 Uhr. Das Flugzeug wird morgen mittag über euch sein. Wünsche Erfolg. M o r o s o w.“ „Morosow ist fabelhaft!“ rief Sergej erfreut aus. Am lieb sten hätte er gleich alle seine Kameraden umarmt. Also glaubte man doch noch an ihn, trotz des bisherigen Mißer folges. „Sergej Iwanowitsch“, bettelte Jura. „Erlauben Sie uns, bei dieser Gelegenheit Moskau zu hören, ja? Wir haben doch eine ganz neue Batterie.“ Sergej blickte aus dem Zelt. Draußen hatten sich alle übri gen Mitglieder seiner Expedition versammelt. Er nickte Jura zu. Der Ansager gab bekannt, daß jetzt die neuesten Nachrich ten durchgesagt würden. Scharimbekow hatte teilnahmslos vor dem Zelt gesessen, jetzt wurde sein Blick plötzlich leb haft. Der Ansager berichtete von den Fortschritten auf dem Lan de und in den Fabriken und auch vom Aufbau bei unseren Freunden in den Volksdemokratien. Doch plötzlich merkten alle auf. Es folgte eine Mitteilung über die Tätigkeit von Agenten eines überseeischen Staates in dem Lande, das hier hinter der Grenze, auf der anderen Seite dieser Berge, lag. Es war vom Bau strategischer Straßen und Flugplätze im Grenzgebiet dieses Landes die Rede, von verdächtigen „Wanderungen“ einiger „Touristen“ und dem ständigen Auf tauchen immer neuer „Experten“ und „Konsultanten“ in Kriegsfragen. Darauf war die Durchsage beendet; in der Stil le klang wieder deutlich das Rauschen des Bergflusses. „Wir sind nicht weit von der Grenze“, sagte Sergej nachdenklich.
Keiner sprach ein Wort. Alle dachten über das eben Ver nommene nach. Hinter dem dunklen Berghang erhob sich ein bleicher Mond und übergoß das Land mit milchig-weißem Licht. Plötzlich mischte sich in diese Stille kräftiges Flügelschla gen. Der Herr des Adlers ließ seinen Vogel zur Jagd frei. Er tat dies nicht das erstemal, aber merkwürdigerweise immer vor Anbruch der Nacht. „Warum läßt du ihn denn nachts aufsteigen?“ fragte Jura den Alten. „Was kann er schon in der Nacht jagen?“ „Er ist hungrig und weiß, wo er etwas zu fressen findet“, entgegnete der Alte ruhig und rollte die Leine zusammen. Der alte Mulla Der Adler schlug die Richtung nach Süden ein und überflog den vom hellen Mondlicht beschienenen schneebedeckten Bergrücken. Ein zweiter Bergrücken folgte, mit den bläuli chen Streifen der Gletscher, die die Abhänge hinabkrochen, dann der schwarze Abgrund einer Schlucht, noch ein Berg, und tief unten öffnete sich ein weites Tal, auf dem sich eine große menschliche Ansiedlung, halb Stadt, halb Dorf, aus breitete. Das Zentrum war durch einige Reihen elektrischer Lampen erhellt, während der Rand in der Finsternis versank. Nur ab und zu blinkten einzelne trübe Lichter. Der Vogel ließ sich fallen. Jetzt waren schon deutlich die flachen Dächer der Häuser zu erkennen, die schmalen ge wundenen Straßen, die schwarzen Silhouetten der Pappeln und die hohen steinernen Kuppeln der Moscheen. Auf dem Turm einer dieser Moscheen stand ein alter Mulla. Er hatte schon längst sein abendliches Gebet gesungen, aber er ver ließ noch immer nicht seinen Platz. Es schien, als warte er geduldig auf etwas. Nachdem der Adler einmal rund um die
Stadt gekreist war, nahm er mit einem kurzen Flügelschlag Ziel auf diese hohe Moschee mit der dicken halbmondge krönten Kuppel. Nahe am Turm legte er die Flügel an und ließ sich auf einem schmalen Fenstersims nieder. In diesem Augenblick ergriffen ihn die harten Hände des alten Mullas und zogen ihn vom Fensterbrett auf den Boden einer kleinen Kammer. Dort tastete der Mulla den Vogel ab und fand unter den Flügeln versteckt ein Papierröllchen. Er rollte es ausein ander und verbarg es in seinem Gewand. Dann band er den Adler an einen Strick, der an der Wand festgemacht war, und warf ihm ein Stück frisches Fleisch zu. Auf dem Boden die ser kleinen Kammer lagen schon mehrere abgenagte Kno chen, die einen starken Fäulnisgeruch ausströmten. Der Ad ler, der mit seinen harten Krallen gierig das Fleisch gepackt hielt, richtete seinen unruhigen Blick auf den Alten, als fürchte er, daß dieser ihm die Beute nähme. Aber der Mulla achtete schon gar nicht mehr auf den Vogel. Rasch eilte er zu der steilen Wendeltreppe, die aus der Moschee heraus führte. Als der Vogel sah, daß der weiße Turban in der schwarzen Öffnung des Fußbodens verschwand, beruhigte er sich und machte sich über das Futter her. Er hatte großen Hunger. Sein Herr, der in den Bergen zurückgeblieben war, jenseits der Grenze, gab ihm fast nichts zu fressen, sondern reizte ihn nur mit kleinen Fleischstücken, die er ihm meist gleich wieder wegnahm. Nur hier, in diesem Turm, konnte er sich ordentlich satt fressen, Er zerriß das Fleisch Stück für Stück und schluckte es gie rig hinunter. Ab und zu warf er einen Blick auf das schmale Fenster, hinter dem sich die längst bekannte nächtliche Stadt ausbreitete… Fortsetzung folgt
Vom Freiheitskampf tschechoslowakischer ‘Patrioten T. CHADKEWITSCH ECHO IN DEN BERGEN 234 Seiten, Ganzleinen 5,20 DM Eine Fülle packender Ereignisse gibt dem Leser ein erregendes Bild von dem harten, hingebungsvollen Kampf tapferer tschechoslowakischer Patrio ten gegen die faschistischen Barbaren, Gleichzeitig erleben wir, wie mitten in dem turbulenten Geschehen dieser Zeit zwei junge Menschen im gemein samen Ringen um die Freiheit des Landes in Liebe zueinander finden. Das Buch zeigt aber auch, welche große Bedeutung das Bewußtsein und eine zielklare Führung für den Sieg der gerechten Sache haben. VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN - Ein Volksbuch N. BOGDANOW ERZÄHLUNGEN ÜBER MAO TSE-TUNG 134 Seiten, mit chinesischen Holzschnitten, Halbleinen 3,40 DM Wie die Schoschudi, die alten chinesischen Markterzähler, die überlieferten Märchen und Legenden meisterhaft wiederzugeben verstehen, teilt uns der sowjetische Verfasser einen kleinen Teil dessen mit, was sich das chinesi sche Volk über seinen Mao erzählt, der den Weg vom Bauernkind zum Befreier seines Volkes gegangen ist. Das Buch, das uns den Glanz und die Poesie einer echten Volksdichtung vermittelt, ist mit vielen chinesischen Zeichnungen und Holzschnitten liebevoll ausgestattet. VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN
Vom Leben der Urzeitmenschen S. W. POKROWSKI AO, DER MAMMUTJÄGER 168 Seiten, mit ganzseitigen Illustrationen und Strichzeichnungen Halbleinen, etwa 5, – DM Die Handlung versetzt uns in die altere Steinzeit, noch sind nicht einmal die ersten Anfange von Ackerbau und Viehzucht vorhanden. Die Steinzeitmen schen leben von den Fruchten, die ihnen die Natur schenkt, und von der Jagd. Eine kleine Gruppe von Mammutjägern hat tagelang eine große Herde verfolgt, dann aber die Jagd abbrechen müssen, weil sie der böse Zauberer Kuoli vertrieb. Die Männer stoßen zu einem befreundeten Stamm und wäh len sich ihre Frauen. Der Autor schildert spannend und in einer Art, daß sich der Leser selbst in diese graue, Millionen von Jahren zurückliegende Vorzeit versetzt fühlt, das Leben und die Abenteuer dieser Urzeitmenschen, Die Erzählung findet ihr Ende mit dem Sieg über den Zauberer und der Heimkehr der Jäger zu ihrem Stamm. Bei der Schilderung des Familienlebens, der abergläubischen Riten und Gebrauche, stutzt sich der Verfasser auf die neuesten Erkenntnisse der sowjetischen Wissenschaft. VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN