Dämonen-Land Band 41
Hugh Walker Die Robot-Mörder
Scan: Waldschrat Korrektur: Vlad
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Dämonen-Land Band 41
Hugh Walker Die Robot-Mörder
Scan: Waldschrat Korrektur: Vlad
Dieses ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt
Die Robot-Mörder von Hugh Walker
Stellen Sie sich vor, jemand erzählt Ihnen, er habe eine Frau überfahren. Aber er nennt einen Ort, der auf keiner Landkarte zu finden ist, und sagt, die Leiche wäre spurlos verschwunden. Wahrscheinlich von den Kindern verschleppt, die die Frau auf die Straße gestoßen hätten. Mal ehrlich – würden Sie ihm glauben? Eben dies ist das Problem von Fritz Kühlberg. Dabei ist es genau so geschehen. Doch es soll noch verrückter kommen. Plötzlich taucht die Frau wieder auf, die er auf der Kühlerhaube seines Wagens sterben sah. Und sie ist offensichtlich unverletzt. Merkwürdig ist nur: Ihre Augen sind ohne Leben, und ihre Haut ist eiskalt... Schauriges Gruseln wünscht Ihr DÄMONEN-LAND-Redakteur
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Ich bin Fotograf. Ich fotografiere Sensationen. Ich erlebe viel Ungewöhnliches. Angst ist mir fremd. Angst war mir fremd. Furcht ist mein ständiger Begleiter, seit ich weiß, daß es Türen gibt in der Realität – nicht solche, durch die wir ihr entfliehen können, sondern andere, grauenvolle, durch die Dinge zu uns hereinstarren, in unsere Hirne und unsere Seelen. Und manchmal auch hereinkommen... Freitag abend: Das Pop-Konzert in der Stadthalle, die Interviews, die Abfahrt um drei Uhr früh am Samstag... Wie lange ist das her? Die Erinnerung ist ganz deutlich, obwohl das Ereignis mir Jahre und nicht Tage zurückzuliegen scheint. Ich war müde, und die stumme Dunkelheit schläferte mich mit jedem Kilometer mehr ein. Der Alfa Spider lag wie ein Brett auf der Straße. Die Tachometernadel stand ruhig auf hundertsechzig, aber die Geschwindigkeit war nicht zu spüren. Es gab kaum Verkehr, und die Scheinwerferkegel erfaßten nichts als vereinzeltes Buschwerk und den heranrasenden Asphalt. Ich versuchte verzweifelt das Gähnen zu unterdrücken und warf einen raschen Blick auf die Uhr: kurz nach vier. Diese verdammte Müdigkeit! Ich schüttelte mich. Ich durfte nicht länger auf der Autobahn bleiben. Ich mußte schlafen, wenigstens ein oder zwei Stunden. Ein Parkplatz tauchte auf, aber ich fuhr weiter. Ich wollte die nächste Ausfahrt nehmen. Der Gedanke an einen starken, heißen Kaffee war plötzlich übermächtig und ermunterte mich ein wenig. Es war unwahrscheinlich, daß in einem der kleinen Orte um diese Zeit noch Betrieb sein sollte, aber ich wollte es dennoch versuchen. Der Gedanke, auf einem Autobahnparkplatz zu schlafen, war ohnehin nicht verlockend, auch wenn es nicht das
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erstemal gewesen wäre. Und in jedem Fall war Kaffee zeitsparender als Schlafen. Im nächsten Augenblick tauchte das Schild auf, und ich stieg vom Gas. Das veränderte Motorengeräusch weckte mich vollends aus meiner schläfrigen Starre. Der Ort war mir nicht bekannt, sicher irgend so ein kleines Nest, wie es viele da draußen in der Dunkelheit gab – ein paar Bauernhöfe und ein oder zwei Wirtshäuser, vielleicht auch eine Postbushaltestelle. Aber bestimmt nichts, wo man um diese Nachtzeit einen Kaffee bekam. Ich war jedoch bereits in der engen Kurve der Ausfahrt. Schlimmstenfalls würde ich unverrichteter Dinge wieder auf die Autobahn zurückkommen. Im Augenblick war mir jede Unterbrechung der nächtlichen Monotonie recht. Der Ort begann fünfhundert Meter nach der Ausfahrt und war stockdunkel. An der Tankstelle brannte ein Nachtlicht, doch das war nur die Beleuchtung des Münzautomaten. Dann war ich auch schon am Ende des Ortes angelangt. Die Scheinwerfer erfaßten eine Reihe von Schildern, die ich unschlüssig musterte. Der nächste Ort lag zwölf Kilometer entfernt. Der Name sagte mir nichts, aber die Nummer der Bundesstraße gab mir eine vage Orientierung. Zwölf Kilometer, ungefähr zehn Minuten. Die Strecke war geradlinig und leer und das Fahren so einschläfernd wie auf der Autobahn. Nach einigen Kilometern bereute ich meinen Entschluß heftig und jagte den Wagen auf hundertdreißig. Nur Idioten versuchen nachts in einer wildfremden Gegend ein geöffnetes Lokal zu finden. Die Straße führte durch ein ausgedehntes Waldstück in einer langen sanften Kurve, die für hundertdreißig gebaut war, wenigstens soweit es den Alfa betraf. Warnschilder huschten vorüber, die Schleudergefahr bei Nässe anzeigten, gleich darauf Geschwindigkeitsbeschränkung auf achtzig. 4
Mißmutig ging ich vom Gas. Die Kurve wurde enger und die Straße holprig, so daß ich einen Augenblick lang Mühe hatte, den Wagen zu halten. Im nächsten Moment trat ich verzweifelt auf das Bremspedal. Mehrere Gestalten taumelten vom nachtschwarzen Waldrand her direkt auf die Fahrbahn. Ich hatte das Gefühl, daß mein Herz stillstand. Trotz der Bremsung stieß der Wagen wie ein Habicht auf seine Beute zu. In das Heulen der Hupe mischte sich das Kreischen der Reifen, als der Alfa ins Schleudern kam. Die Gestalten tanzten wie Nachtfalter im Licht der Scheinwerfer. Ich klammerte mich ans Steuerrad, aber der schleudernde Wagen glich einem Geschoß, das nicht von seiner Bahn abzubringen war. Dann waren die Gestalten heran und zuckten wie Funken aus dem Weg des heulenden Todes. Glück, dachte ich. Da taumelte eine zurück, ein Mädchen. Sie stürzte auf die Mitte der Straße zu, als wäre sie gestoßen worden. Den Bruchteil einer Sekunde schaute sie mit weit offenen Augen in die Lichter, die Arme ausgebreitet, den Mund zum Schrei geöffnet. Dann riß die niedrige Stoßstange die Beine unter ihr weg. Ich saß erstarrt und hilflos, als der Aufprall den Wagen erschütterte. Es war ein Film, der da draußen vor der Windschutzscheibe abrollte, nicht die Realität. Mehr noch, er rollte im Zeitlupentempo ab und ersparte mir keines der grausigen Details. Das Mädchen kippte auf die Motorhaube wie auf eine gigantische Schaufel und hing dort einen Augenblick, während der rasende Fahrtwind einen Strom von Blut über die Scheibe patschte, der von ihrem Gesicht wegsprühte. In diesem Moment fing eine Bodenwelle den schleudernden Wagen. Die Erschütterung hob das Mädchen vollkommen hoch. Sie glitt nach rechts, fing sich am Seitenspiegel. Kurz sah 5
ich ihr Gesicht im Seitenfenster, ein unkenntliches, rotes Oval. Dann gab der Spiegel sie frei. Ihre Beine zogen blutige Spuren über die Frontscheibe, während sie ganz vom Wagen glitt. Irgendwie löste sich die Starre in diesem Augenblick. Es war mir, als erwachte ich. Bäume zuckten nah vorüber. Panik kam über mich. Ich hatte gesehen, wie es war zu sterben. Und nun war die Reihe an mir. Erneut stemmte ich mich mit aller Gewalt gegen das Bremspedal. Kreischen erfüllte die Umwelt, und ich krümmte mich zusammen. Als ich nach vorn knallte, dachte ich, daß es aus wäre, und es war ein befreiender Gedanke. Aber ich war nicht tot. Der Wagen stand. Der Motor schwieg. Die Geräusche des Sterbens hatten aufgehört. Es währte eine Weile, bevor ich erkannte, daß die Stille, die mich umgab, nicht die des Todes war, nur die Nacht. Ich lebte! Es brachte keine Erleichterung, nur Schlaffheit. Mir war übel, aber ich hatte keine Kraft zu erbrechen. Mein Blick fiel auf die dunklen Blutflecken auf den Scheiben. Ich konnte ihn nicht mehr abwenden davon. Tanzende Lichter im Rückspiegel brachten mich schließlich in die Wirklichkeit zurück. Ich vernahm entfernte Stimmen. Die Lichter waren verschwommen, und ich merkte, daß meine Augen feucht waren. Ich mußte geweint haben, unbewußt. Ich schüttelte den Kopf. Dann wollte ich aufstehen, aber ich vermochte es nicht. Ich mußte warten, bis sie kamen. *** Sie kamen nicht. Sie verschwanden wie ein Spuk. Ich merkte es erst, als die Angst mich packte, als ich dachte: Wer sind sie? Was trieben sie nachts auf der Straße, kilometerweit von den nächsten
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Orten entfernt? Was würden sie tun, nun, da ich eine von ihnen getötet hatte? War sie tot? Mein Herz schlug plötzlich heftig. Wenn sie noch lebte, dann brauchte sie Hilfe. Ich stieß die Tür auf. Alle Kraftlosigkeit war vergessen. Schwankend stand ich im Freien, ernüchtert von der kühlen Nachtluft, und blickte verwundert in die Dunkelheit. Die zuckenden Lichter waren verschwunden. Die Straße lag im vagen Grau der ersten Vorahnung des kommenden Morgens. Nichts regte sich. Der schwache Wind brachte keinen Laut. Ich verstand es nicht. Konnte es sein, daß sie sich aus dem Staub gemacht hatten? Ich sah mich um. Der Wagen stand schräg, aber noch immer ganz auf der Fahrbahn. Demnach hatte ich nichts gerammt, und was mich nach vorn geschleudert hatte, war der letzte Bremsstoß gewesen, der Moment, als der Wage n endlich hielt. Der Anblick des Blutes auf der silbernen Karosserie brachte meine Gedanken sofort wieder auf das Mädchen zurück. Ich stieg ein und warf den Motor an. Dann wendete ich und ließ die Scheinwerfer langsam über die Straße gleiten. Soweit sie mir den Blick in die Dunkelheit gestatteten – nichts! Kein regloser, lebloser Körper. Niemand. Vielleicht war sie von der Straße geschleudert worden? Aber wo waren die anderen? Ich wollte aussteigen, hielt aber inne. Sie mochten am Rand zwischen den Bäumen lauern. Ich fühlte Unbehagen. Sie mochten etwas vorhaben, sonst wären sie nicht einfach in der Dunkelheit verschwunden. Es sei denn, sie hatten in panischem Entsetzen die Flucht ergriffen. Ich verriegelte die Türen und fuhr langsam zurück. Nach sechzig, siebzig Metern vermeinte ich einen feuchten Fleck auf dem Asphalt zu sehen, der wie eine Blutlache aussah. Ich 7
wollte anhalten, doch da tauchten die Lichter eines Wagens weit vor mir auf. Polizei? Nein, das war unmöglich. Aber jeder Zeuge und jede Hilfe konnten mir recht sein. Ich blinkte den rasch Näherkommenden ein paarmal an. Als er, vermutlich irritiert, zurückblinkte, stieg ich aus, rannte auf die Fahrbahnmitte und winkte verzweifelt. Er verlangsamte seine Fahrt zwar, bis er heran war, blieb aber nicht stehen. Ich sprang fluchend zur Seite, als er mit aufheulendem Motor an mir vorüberjagte. Ein einzelner Mann befand sich im Wagen, mit bleichen, angespannten Zügen im Schein der Armaturenbeleuchtung. Vermutlich hatte er Angst, dachte ich erbittert, oder er war einer der Übervorsichtigen, die kein Risiko eingingen. Und es war ein Risiko, auf nächtlicher, einsamer Überlandstraße anzuhalten, das wußte ich wohl. Die Rücklichter verschwanden, und ich war mit meinem Problem wieder allein. Nichts regte sich. Die Waldränder blieben stumm. Ich trat zu dem schwach glänzenden Fleck von Nässe auf der jenseitigen Fahrbahn und erkannte im Licht meiner Taschenlampe, daß es tatsächlich Blut war. Tropfen bildeten eine deutliche Spur zum Straßenrand. Dann verlor sich die makabre Spur im Gras und Gestrüpp des beginnenden Waldes. Sie hatten das Mädchen mitgenommen! So unwahrscheinlich und verrückt das auch klang. Aber sie waren verschwunden, und das zumindest schwerverletzte Mädchen mit ihnen. Die Bilder des Unfalles waren plötzlich wieder deutlich vor mir und brachten Schwindel und Schwäche als Reaktion. Ich torkelte zum Wagen zurück und lehnte mich mit zitternden Beinen dagegen. Es war verrückt! Wer konnte Interesse daran haben, die Spuren eines schweren Unfalles zu beseitigen, wenn ein Schuldiger zur Hand war?
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Gewiß, es traf mich nicht die ganze Schuld. Ich war zu schnell gewesen. Aber so wie das Mädchen auf die Straße gesprungen war, im letzten Augenblick und mit vollem Schwung, wäre auch bei achtzig kein Ausweichen mehr möglich gewesen. Mit vollem Schwung! Sie war gestolpert – ich sah es nun wieder ganz deutlich vor mir. Sie hatte um Gleichgewicht gerungen. Verzweifelt hatte sie versucht stehenzubleiben. In den Zügen des Mädchens war keine Trunkenheit gewesen, keine Überraschung, nur Verzweiflung und Todesangst. Sie war nicht blind und unachtsam in den heranrasenden Wagen gelaufen. – Ich sah ihr Gesicht in unglaublicher Klarheit vor mir. Jemand hatte sie gestoßen! Mein Herz schlug plötzlich wie rasend. Mord! Es schien auf einmal alles ins Bild zu passen. Das Verschwinden... Aber warum hatten sie die Leiche mitgenommen? Und warum versuchten sie nicht, meiner habhaft zu werden, wenn sie einen Mörder brauchten? Ich war ein guter, brauchbarer Mörder: es gab keine Zeugen, die für mich sprachen, und überall an meinem Wagen klebte das Blut meines Opfers. Daß man sie in den Tod gestoßen hatte, würde mir kaum jemand glauben. Ich war ja selbst nicht sicher. Vielleicht aber hatten sie erwartet, daß auch ich umkommen würde, und hatten nun Angs t, da es nicht geschehen war. Dann fiel mir zum erstenmal noch etwas auf. Das Mädchen war die größte der Gestalten gewesen. Konnte es sein, daß die übrigen Kinder waren? Aber sie hätten verdammt kaltblütig sein müssen, um die Verletzte mitzunehmen. Ich schüttelte den Kopf. Wäre das Blut nicht gewesen, hätte ich vielleicht begonnen, alles für einen Traum zu halten. Aber es war der grausige Beweis für die Realität. Was sollte ich tun? 9
Die Polizei verständigen? Auch wenn ich außer dem Blut nichts vorweisen konnte? Und vor allen Dingen, wo? In dem Ort, aus dem ich gekommen war? Ohlhausen, oder wie er hieß. Oder Ohlham? Jedenfalls erschien es mir sinnlos. Weder ein Arzt noch die Polizei wurden dringend gebraucht. Und ich war erschöpft und hundemüde. Bis sich in diesem Nest um diese Zeit ein Verantwortlicher finden ließ, der eine Suchmannschaft auf die Beine brachte, mochte es heller Vormittag sein. Meine Gedanken kehrten zu dem Mädchen zurück. Konnte sie am Leben geblieben sein? Es erschien mir unwahrscheinlich. Ich schaute auf den Waldrand, lauschte in die Stille. Ich konnte nichts für sie tun. Sollte ich meinen Weg fortsetzen, zu Hause ein paar Stunden schlafen und am Morgen meine Versicherung anrufen? Dort würde man mir sagen, wie ich mich verhalten sollte. Aber heute war Samstag. Balzarek, mein Anwalt, war vielleicht gar nicht erreichbar. Wenn ich die Polizei nicht bald von dem Unfall in Kenntnis setzte, konnte man mir auch noch Fahrerflucht anhängen. Die Kerle, die mit dem Mädchen verschwunden waren, mochten sich meine Nummer gemerkt haben. Unwahrscheinlich, aber möglich. Das leise Klicken der Wagentür ließ mich herumfahren. Das Innenlicht verlöschte. Jemand war eingestiegen! Der Gedanke, ohne Wagen in dieser gottverlassenen Gegend zurückzubleiben, ließ mich meine Vorsicht vergessen. Ich sprang zum Auto und riß die Tür auf. Ein Mädchen saß auf dem Beifahrersitz. Ihr Gesicht war blaß, nicht unhübsch, aber nun gezeichnet von Tränenspuren. Ihr Haar war zerrauft. Die blutleeren Lippen zitterten. Die Augen waren weit offen, der Blick noch voll von einem schrecklichen Erlebnis. Ich betrachtete sie mit stummem Entsetzen. Sie war das Mädchen, das ich getötet hatte. Ich hätte ihr Gesicht unter
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Tausenden wiedererkannt. Im gleichen Augenblick aber kamen mir Zweifel. Ihr Gesicht, das ich blutverschmiert im Seitenfenster gesehen hatte, bevor der Körper vom schleudernden Wagen fiel, trug nicht die geringsten Spuren einer Verletzung. Ihre Hände waren schmutzig und lagen kraftlos im Schoß. Die weiße Bluse, die sie trug, und der kurze blaue Rock sahen aus, als wäre die Trägerin mehrmals gestürzt, und das auf lehmigem Boden. Sie hatte keine Schuhe an. Die nur noch in Fetzen vorhandenen Strümpfe waren schmutzverkrustet und getränkt vom Blut einer wundgestoßenen Zehe. Aber das war das einzige sichtbare Blut an ihr. »Bitte«, sagte sie tonlos, und ihre schmutzigen Finger faßten nach meinem Arm und zogen mich mit aller Gewalt ins Wageninnere. »Bitte, nehmen Sie mich mit... bitte!« »Haben Sie es auch gesehen?« brachte ich endlich mit spröder Stimme hervor. Sie nickte kaum merklich. Die angstvolle Starre wich ein wenig aus ihren Zügen. Ihr Kopf sank gegen das Fenster der Wagentür. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich merkte, daß sie lautlos weinte. Als ich nach dem Startschlüssel griff, kam mir zu Bewußtsein, daß ich noch immer zitterte. Es ist die Nachwirkung des Schocks, dachte ich. »Wohin?« fragte ich das Mädchen, das mir wie ein Gespenst erschien. Aber dann erinnerte ich mich, daß jene ein Kleid getragen hatte, ein helles Kleid. Der Gedanke ernüchterte mich. Nein, es war kein Alptraum. »Wohin wollen Sie?« wiederholte ich meine Frage und berührte das Mädchen leicht am Arm. »Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme klang erstickt. »Nehmen Sie mich... einfach mit.« Ihre Schultern zuckten, als sie das Schluchzen unterdrückte. Danach sprach sie freier. »Wenn sie 11
mich hier finden, werden sie mich ebenso gnadenlos töten wie meine Schwester...« »Ihre Schwester?« entfuhr es mir. »Sie meinen, man hat sie...?« Sie nickte stumm. »Was wissen Sie alles davon?« »Zuviel«, sagte sie tonlos. Sie wandte mir bittend ihr Gesicht zu. Sie hatte Angst. Das sah ich nur zu deutlich. Ich startete den Wagen. Zum Reden blieb immer noch Zeit genug. Dann fuhr ich aufatmend die Straße zurück, die bereits in der Morgendämmerung lag. Ich war bedrückt und erleichtert zugleich; bedrückt, weil noch immer das Gesicht des sterbenden Mädchens vor meinen Augen war, und das Gefühl der Schuld auf mir lastete; und erleichtert, weil neben mir jemand saß, der den Alptraum auch gesehen hatte und alles erklären konnte, was mich in den letzten Minuten mit Zweifel und Unruhe erfüllt hatte. Bald darauf tauchten die Ortsschilder vor uns auf. Ich fuhr langsam und las sie aufmerksam. Ohlheim hieß der Ort. Die Bundesstraße hatte die Nummer 230. Was ich vorher nicht bemerkt hatte, war ein weiteres Schild mit der Entfernungsangabe nach St. Pölten am anderen Ende des Ortes, sowie ein Hinweisschild auf die Autobahn. Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wie hatte ich das nur übersehen können! In St. Pölten hätte ich am ehesten bekommen, was ich suchte. Der Ort war noch immer dunkel. Ich hielt unentschlossen an. »Was tun Sie?« fragte das Mädchen ängstlich. »Ich suche nach einer Möglichkeit, die Polizei zu verständigen«, erklärte ich. »Nein«, rief sie hastig. Sie umklammerte meinen Arm. »Nein!« Sie ließ mich los und war drauf und dran, die Tür aufzustoßen und hinauszuspringen. 12
»Warten Sie doch!« Ich bekam ihren Arm zu fassen und hielt sie eisern fest. Sie zitterte am ganzen Körper. »Nein«, schrie sie. »Sie sagten selbst, daß ein Mord geschehen ist«, stellte ich fest. »Und es werden noch zwei geschehen, wenn Sie hier die Polizei verständigen!« stieß sie hervor. »Was meinen Sie damit?« »Sie... sie stecken alle unter einer Decke...« Sie sah mich flehentlich an. »Fahren Sie weiter... bitte!« Ich ließ sie los. »Machen Sie zu.« Sie schloß zögernd die Wagentür. »Ich kann es nicht einfach auf sich beruhen lassen«, erklärte ich. »Dann melden Sie es in Wien oder in Linz... in der nächsten Stadt. Nur nicht hier. Lieber Gott, wie kann ich Ihnen nur begreiflich machen, daß wir verloren sind...« »Schon gut«, unterbrach ich sie, angesteckt von ihrer Hysterie. »Fahren wir erst mal nach Hause.« Aber mir war nicht wohl bei dieser Entscheidung. Als wir auf der Autobahn waren, wurde das Mädchen ruhiger. Die Angst wich aus ihrem Gesicht und ließ nur den Schmerz übrig und Erschöpfung. Sie begann wieder zu weinen, gelöst und in sich versunken. An einem Parkplatz hielt ich an, um die Scheiben zu reinigen, denn die Waschanlage war dem Blut nicht Herr geworden. Nun, im Dämmerlicht, konnte ich erkennen, daß der Wagen fürchterlich aussah. Die Kühlerhaube war voll Blut, und der Seitenspiegel war mit Stoffresten verklebt. Mit einem Würgen im Hals machte ich mich daran, alles notdürftig zu säubern. Mit diesen verräterischen Spuren wären wir keine halbe Stunde weit gekommen, wenn es erst hell wurde. Und es sah bereits verdammt danach aus. Das Mädchen schaute mir mit weißem Gesicht zu, und nach einer Weile vermo chte ich sie dazu zu bewegen, daß sie die 13
Scheibenwaschanlage bediente. Aber das bißchen Seifenlauge reichte nicht mal ganz für die Scheiben. Fluchend und mit noch immer unsteten Händen übergoß ich das ganze Vorderteil mit Benzin aus dem Reservekanister und wischte es notdürftig ab. Danach vermochte man wenigstens aus einiger Entfernung nichts mehr zu bemerken, aber der Gestank war betäubend. Wir erreichten Salzburg gegen sieben, ohne daß wir viel sprachen. Sie saß zusammengekauert im Sitz, und der Himmel mochte wissen, was in ihrem Kopf vorging. Ich drängte sie nicht zum Reden, noch nicht. Für mich war die Fahrt voll unruhiger Gedanken. Ich hatte Fahrerflucht begangen, auch wenn sich die Umstände mehr oder weniger ohne mein Zutun ergeben hatten. Wer immer hinter allem steckte – und wenn das Mädchen mit dem Mord recht hatte, dann waren es ziemlich skrupellose Typen – mochte mich vielleicht später damit unter Druck setzen. Aber auch abgesehen von dieser Möglichkeit war Fahrerflucht etwas, das ich immer tief verabscheut hatte. Dauernd sah ich das blutige Gesicht vor mir, die entsetzten Augen, den zum Schrei geöffneten Mund... Selbst wenn ich die Augen schloß, kam keine erlösende Dunkelheit. *** Als der Wagen endlich in der Garage stand und wir in die Wohnung stolperten, war ich erschöpft wie schon lange nicht mehr. Ich war allerhand gewöhnt, das brachte mein Beruf mit sich. Aber nun waren meine Nerven drauf und dran, mich im Stich zu lassen. Kurz vor Salzburg hatte uns ein Polizeiwagen überholt, aber er wollte nichts von uns. Daß er eine niederösterreichische Nummer hatte, ließ das Mädchen neben mir erschrecken.
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Als wir zu Hause angekommen waren, dirigierte ich das Mädchen sofort ins Badezimmer und machte die Couch für sie frei. Dann versuchte ich Balzarek zu erreichen, hatte aber kein Glück. Entweder war er nicht zu Hause, oder er hatte keine Lust, sich am Samstag so früh stören zu lassen, was ich ihm nicht verdenken konnte. Außerdem war ich zu müde, es ihm übelzunehmen. Trotz der Müdigkeit schlief ich nur ein paar Stunden. Dann trieb mich die Unruhe zum Telefon. Ich wählte Balzareks Nummer, legte jedoch wieder auf. Es war bereits soviel Zeit vergangen, daß es auf ein wenig mehr nicht ankam. Es hatte wenig Sinn, mit ihm zu sprechen, solange ich nicht wußte, was ich erzählen sollte. Ich weckte das Mädchen. Sie war sofort hellwach. Eine Spur der nächtlichen Angst kroch in ihre Augen, schwand aber zum größten Teil wieder, als sie mich bewußt wahrnahm. Sie versuchte zu lächeln, aber es war ein sinnloser Versuch. Sie erkannte es und wandte sich ab. Ich empfand eine tiefe Sympathie für sie, wenn ich auch nichts oder kaum etwas von ihr wußte. Aber daß sie sehr gelitten hatte, stand in ihren Zügen zu lesen. Nun, befreit vom Schmutz und den Qualen der letzten Nacht, waren es attraktive Züge. Die Augen saßen tief und dunkel unter langen Wimpern. Das hellbraune schulterlange Haar umrahmte in großen Locken Stirn und Wangen. Das Telefon läutete. Das Mädchen sah mich mit angstgeweiteten Augen an. »Das sind sie«, flüsterte sie. »Sie wissen, daß ich hier bin.« Sie sprang von der Couch und begann sich in fliegender Hast anzukleiden, während der Apparat erneut läutete. Das schien sie zur Besinnung zu bringen. Sie wich mit blassem Gesicht an die Wand zurück und lehnte sich heftig atmend an die kühle Mauer. »Wenn sie mich finden, werde ich ihr nächstes Opfer sein«, sagte sie tonlos. 15
Ich schüttelte den Kopf und ging zum Telefon. Ich nickte ihr beruhigend zu und bedeutete ihr zu schweigen, bevor ich abhob. »Ja?« »Fritz«, sagte eine Stimme. »Hallo, Fritz!« Ich hielt den Atem an. »Wer spricht?« »Nicht so wichtig, Fritz«, antwortete der Unbekannte. Er lachte. »Hier ist Ohlheim, Fritz. Ohlheim!« Ich versuchte meine Stimme gleichgültig klingen zu lassen. »Wer sind Sie?« »Hör zu, Fritz Kühlberg. Wenn du klug bist, hast du heute nacht die Autobahn gar nicht verlassen. Du ersparst dir Ärger...« Bevor ich antworten konnte, klickte es, und die Leitung war unterbrochen. Ich ließ nachdenklich den Hörer sinken. Das Mädchen blickte mich wissend an. Verdammt! In welches Dreckloch war ich da getreten! Wütend legte ich auf. Als Sensationsfotograf wühlt man nicht selten in den Miseren anderer Menschen. Nun hatte ich selbst etwas am Hals. Warum nicht drin wühlen? Eine fesselnde Story schaute vielleicht auch dabei heraus. Und ich hatte einen guten Ausgangspunkt: das Mädchen. »Kommen Sie.« Ich führte sie ins Wohnzimmer, holte den Recorder und schaltete ein. »Ich möchte eines klarstellen«, sagte ich fest. »Angst bringt uns nicht weiter.« Sie preßte die Lippen zusammen und nickte. »Wir stecken beide in der Sache drin«, fuhr ich fort. »Und wir werden ihr auf den Grund gehen.« »Nein!« entfuhr es ihr.
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»Doch«, widersprach ich. »Ich will wieder ruhig schlafen können. Dazu können Sie mir verhelfen, wenn Sie erzählen, was Sie wissen.« Als sie schwieg, sagte ich hart: »Ich habe Ihre Schwester getötet, und wenn ich nicht jetzt etwas unternehme, solange noch alles frisch ist, wird früher oder später eine Spur zu mir führen. Sie reden von Mord und Opfern, und daß Sie zuviel wissen. Und Sie sitzen plötzlich in meinem Wagen. Wer sagt, daß Sie sie nicht umgebracht haben...« »Nein!« rief sie und schlug die Hände vors Gesicht. Natürlich war mir klar, daß sie es nicht getan hatte. Zumindest war die Möglichkeit gering. Dazu paßte der Anrufer aus Ohlheim nicht ins Bild. Auch hatte ich wenigstens sieben Gestalten auf der Straße bemerkt, bevor das Mädchen vor den Wagen stürzte. Ich stand auf und nahm sie am Arm. So führte ich sie zu einem Stuhl und zwang sie, sich zu setzen. »Ist Ihnen denn nicht bewußt«, sagte ich beschwörend, »daß Sie in Gefahr sind, ganz gleich, ob Sie mir nun etwas erzählen oder nicht? Aber Ihre Chancen stehen ungleich besser, wenn Sie Ihr Geheimnis an den Mann bringen, solange Sie noch Zeit dazu haben. Es hat nämlich dann weniger Sinn, Sie noch umzubringen, wenn Sie bereits geplaudert haben...« »Hören Sie auf!« schrie sie. »Der Anrufer vorhin«, fuhr ich ungerührt fort, »forderte mich auf, die Sache zu vergessen.« »Warum tun Sie es nicht?« rief sie. »Sie machen mir Spaß. Ich fahre ein Mädchen zusammen. Der ganze Wagen ist voller Blut. Und ich soll die Sache vergessen, als wäre nichts gewesen...« »O Gott!« Sie preßte die Fäuste an ihre Ohren. Ich zog ihre Hände zur Seite und zwang sie, zuzuhören. »Man will die Angelegenheit vertuschen. Das gefällt mir gar nicht, denn ich mache mich nicht nur mitschuldig, sondern habe am Ende vielleicht den ganzen Mord in den Schuhen. 17
Nein, mein Fräulein, das ist mir zu riskant! Ich werde meinen Anwalt unterrichten, aber es wäre besser, wenn ich ihm mehr als nur meine magere Story bieten könnte.« Als sie noch immer schwieg, fuhr ich verärgert fort: »Sie werde ich keinesfalls in meinem Bericht unterschlagen. Wenn es Ihnen lieber ist, auf dem Polizeipräsidium zu reden...« Ihr starres Gesicht wurde lebendig. »Nein, Herr Kühlberg, ich werde reden.« Tränen kamen wieder in ihre Augen. Sie trocknete sie aber rasch. Ich atmete auf. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich direkt vor sie. »Gut. Ich habe einen teuflischen Hunger.« Ich mußte grinsen über ihren Blick. »Und Sie auch, wenn mich nicht alles täuscht. Wir werden essen, sobald Sie alles gesagt haben, was Sie wissen. Einverstanden?« Sie nickte. Ein Anflug von Lächeln huschte über ihre Lippen. »Wie heißen Sie?« »Christina Penzing.« »Und Ihre Schwester?« »Traude... Waltraud...« »Auch Penzing?« Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Großman. Sie ist seit vier Monaten verheiratet und lebt... lebte in Wien...« »Mit Kurt Großman, dem Philosophen?« Sie nickte lebhaft. »Sie kennen ihn?« Das war eigentlich nur ein Schuß ins Blaue gewesen, aber ich hatte über die Hochzeit gelesen. »Er hat eine Artikelserie in einer Tageszeitung veröffentlicht über philosophische und magische Aspekte unserer Technokratie. Einige seiner Thesen und Spekulationen haben allerhand Aufsehen erregt, wenn ich mich recht entsinne.« »Ja, das stimmt, vor allem die gewagteren...« Sie brach ab. »Und Sie?« fragte ich. »Wo leben Sie?« »In St. Pölten«, erklärte sie. »Allein?« 18
»Ja.« »Haben Sie Papiere bei sich?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte sie in der Handtasche. Sie liegt irgendwo im Wald. Ich bin den ganzen Tag herumgelaufen. Plötzlich...« Sie senkte den Kopf. »... hatte ich sie nicht mehr.« Sie sah mich bittend an. »Sie glauben es mir doch?« »Natürlich, Christina«, sagte ich beruhigend. »Es war kein Mißtrauen. Es hätte mir nur ein paar Fragen erspart.« Ich warf einen raschen Blick auf die Aufnahmeanzeige des Recorders. »Wo sind Ihre Eltern?« »Nicht mehr in Österreich. Sie leben seit etwa zwei Jahren in München. Damals starb meine Tante und hinterließ ein Haus.« »Und Sie, was hat Sie allein in St. Pölten gehalten?« »Ich besitze eine Boutique, die recht gut geht. Ich wollte sie nicht aufgeben.« Sie lächelte traurig. »Bis kurz vor ihrer Hochzeit hat auch Traude in der Boutique gearbeitet.« Ich nickte mitfühlend. Befriedigt sah ich, daß das Gespräch ihre innere Verkrampfung löste. »Wie alt sind Sie, Christina?« »Sechsundzwanzig.« »Und Ihre Schwester?« »Vierundzwanzig.« Ich lehnte mich vor. »Erzählen Sie.«‹ Sie holte tief Luft, als wollte sie ihre letzte Unsicherheit abschütteln. »Ich weiß nicht viel...«, begann sie zögernd. »Mehr als ich jedenfalls«, erwiderte ich. Sie strich eine Locke aus ihrer Stirn und lächelte unsicher. Dann gab sie sich einen Stoß. »Also gut. Es klingt alles verrückt, und Sie werden mir kein Wort glauben. Niemand wird mir diesen Alptraum glauben. Ich bin ja selbst nicht mehr sicher, daß ich... aber Traude ist tot.« Sie senkte den Kopf. »Ich verstehe es nicht...« Nach einem Augenblick lehnte sie sich
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zurück. »Sie hat für etwas bezahlt, das Kurt getan hat. Aber ich konnte nicht herausbringen, was es war.« »Wie kamen Sie in die Sache hinein?« fragte ich, um sie wieder auf den Ausgangspunkt zurückzubringen. »Sie haben recht. Wie sollen Sie alles begreifen, wenn ich wirres Zeug rede. Gestern früh rief mich meine Schwester an, aus Wien. Sie schien ziemlich nervös zu sein, und mir war nicht ganz klar, wovon sie eigentlich die ganze Zeit sprach – von irgendwelchen Schwierigkeiten. Jedenfalls aber wollte sie das Wochenende über zu mir kommen und gegen Mittag eintreffen. Natürlich freute ich mich darüber. Wir hatten uns seit der Hochzeit nur ein einziges Mal gesehen. Sie fehlte mir, im Geschäft und zu Hause...« Einen Augenblick schien es, als würde sie sich der schmerzlichen Erinnerung hingeben. Aber sie faßte sich. »Ich schließe meine Boutique am Freitag nachmittags meist gegen vier Uhr. Traude hatte sich noch immer nicht gemeldet. Ich war wohl verwundert, aber nicht besorgt. Sie war nie besonders pünktlich gewesen. Ich machte ein paar Besorgungen und wies meine Verkäuferin an, auf das Telefon zu achten. Als ich zurückkam, war es fast halb fünf. Ich schickte das Mädchen heim und schloß ab. Ich blieb aber im Laden, weil ich in der Wohnung kein Telefon habe. Eine Weile versuchte ich in Wien anzurufen. Aber entweder es war besetzt, oder es meldete sich niemand. Ich hatte jedenfalls kein Glück. Kurz nach sieben kam ihr Anruf...« Sie stockte und fuhr nach einem Moment fort. »Sie flüsterte und sprach hastig, und ich wußte sofort, daß etwas geschehe n war. Sie mußte gelaufen sein, denn sie rang keuchend nach Atem. Und sie war verzweifelt. ›Christl‹, stieß sie hervor. ›Christl, hilf mir. Um Gottes willen hilf mir!‹ ›Wo bist du? Wie kann ich dir denn helfen?‹ rief ich nicht minder verzweifelt, so sehr hatten mich ihre ersten Worte aufgeregt. ›Ich bin in Ohlheim‹, fuhr sie rasch fort. ›Wo ist Ohlheim?‹ 20
fragte ich, denn ich kannte kein Ohlheim. ›Oh, Christl!‹ schrie sie verzweifelt und weinend. ›Ich weiß es nicht genau. Wir haben die Autobahn nach Süden verlassen. An die Bundesstraße 20 kann ich mich noch erinnern. Nach einer Weile ging es rechts ab. Dann war es der erste Ort an der Straße.‹ Sie glaubte auch ein Schild gesehen zu haben mit der Aufschrift St. Pölten, 16 Kilometer. Das war wirklich sehr seltsam, denn ich hatte noch nie von einem Ort namens Ohlheim in der Nähe von St. Pölten gehört.« Sie hielt inne. Schließlich fuhr sie fort. »Meine Schwester erklärte mir, wo sie sich befand. Nicht weit außerhalb von Ohlheim zweigte ein Karrenweg nach rechts ab und führte durch den Wald. Etwa ein oder zwei Kilometer mochten es sein, ihrer Beschreibung nach. Dort stand eine alte Villa, zum Teil verfallen. Dorthin hatte man sie gebracht. Vier Burschen, erklärte sie. Sie sprach auch noch von einer Frau, die dort lebte. Und sie war ganz sicher...« Christina stockte. »Sie war ganz sicher, daß man sie umbringen wollte. Irgendwie war es ihr gelungen, sich zu befreien und an ein Telefon zu kommen. Sie wollte aus dem Haus zu fliehen versuchen, und ich sollte mit dem Wagen an der Straße warten. Sie bat mich flehentlich, mich zu beeilen. Ihre Stimme klang halb erstickt vor Angst. Dann brach die Verbindung ab.« Christina hielt schluchzend inne. Sie faßte sich mühsam. »Ich bin wie eine Wahnsinnige gefahren...« »Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt?« unterbrach ich sie. Sie nickte. »Das habe ich. Ich beschrieb ihnen auch den Weg genau, den sie außerhalb von Ohlheim nehmen mußten, den Weg zu dem alten Haus. Ich nahm an, daß sie Ohlheim und die Strecke dorthin kannten...« Sie zuckte die Schultern. »Es geschah alles mit fliegender Hast. Aber ich bin sicher...« Tränen kamen wieder in ihre Augen. »Ich bin sicher, daß alles gutgegangen wäre, wenn ich 21
nur noch eine Minute gewartet hätte. Eine einzige Minute. Es ist alles meine Schuld... oh, mein Gott!« Ich griff nach ihrem Arm und rüttelte sie aus dieser plötzlichen Verzweiflung. »Warum ist es Ihre Schuld, Christine? Erklären Sie es mir«, sagte ich unfreundlicher als beabsichtigt. »Weil ich der Polizei nicht sagte, wo Ohlheim zu finden war«, brach es schluchzend aus ihr hervor. »Die Polizei mußte das ohnehin wissen«, bemerkte ich beruhigend. »Kam sie zu spät?« Christina schüttelte den Kopf. »Sie kam nicht. Sie konnte gar nicht kommen. Ich war die einzige, die den Weg nach Ohlheim wußte, wenigstens nach Traudes Angaben. Dem Wachtmeister am Apparat fiel es wohl erst gar nicht auf. Aber sicherlich haben sie sofort versucht, zurückzurufen.« Das Mädchen zitterte. »Ich war schon unterwegs. Mein Gott, hätte ich nur gewartet!« Sie preßte ihre Hände an die Augen und schüttelte den Kopf. Ich verstand es nicht, und ich sagte es ihr. Sie antwortete: »Natürlich. Wie sollen Sie auch? Es gibt kein Ohlheim im Raum von St. Pölten. Weder südlich noch nördlich der Autobahn...« »Nein«, unterbrach ich sie, »das kann nicht stimmen. Ich habe mir die Schilder selbst genau angesehen. Ohlheim ist schon richtig. Und ich habe mir auch die Bundesstraße gemerkt. Es war die Zweihundertdreißiger...« »Die Schilder habe ich auch gesehen. Aber sie sind nicht echt. Jemand hat sie zur Irreführung aufgestellt. Die Burschen haben den Mord gut vorbereitet. Nur mit mir haben sie nicht gerechnet. Aber ich konnte nichts mehr tun – nur zusehen, wie sie sie fertigmachten.« Nachdenklich schaute ich sie an.
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Natürlich! Falsche Schilder, ein Wagen mit einer Salzburger Nummer, dessen Fahrer aller Wahrscheinlichkeit nach in Niederösterreich nicht so genau Bescheid wußte. Solch ein Unfall bedeutete nicht viel Risiko und konnte leicht vertuscht werden. Was konnte ich schließlich der Polizei melden? Daß ich Freitag nachts in der Nähe von Ohlheim ein Mädchen vermutlich tödlich zusammengefahren hatte. Aber es gab gar kein Ohlheim und – wenigstens vorerst – auch keine Leiche. Dennoch blieb mir der Sinn der Sache unklar. Wenn sie das Mädchen nur ermorden wollten und die Leiche verschwinden ließen, warum mußte es dann ein Unfall sein? Warum nicht ein Messer oder eine Kugel? Das wäre einfacher und mit weniger Spuren zu arrangieren gewesen als ein Unfall. Ja, wenn sie die Leiche liegengelassen und die Schuld mir in die Schuhe geschoben hätten... Ich schüttelte unbewußt den Kopf. »Sie haben sich nichts vorzuwerfen«, sagte ich. Sie sah mich unsicher an. »Grübeln Sie nicht darüber nach. Es bringt nichts ein.« Sie nickte. »Vielleicht haben Sie recht. Es schmerzt nur und macht nichts ungeschehen.« Sie sah mich plötzlich an. »Ich bin sehr froh, daß ich mit Ihnen gefahren bin.« »Ich auch«, stellte ich fest und lächelte ihr aufmunternd zu. »Erzählen Sie weiter.« »Ich folgte Traudes Anweisungen, obwohl ich auf der Karte kein Ohlheim fand. Ich dachte, möglicherweise ist es zu klein. Nach ihren Angaben mußte es irgendwo in der Nähe von Obergrafendorf sein. Das ist der erste Ort, in den man kommt, wenn man von der Zwanziger abzweigt, wenigstens der Karte nach. Aber irgendwie kam ich direkt nach Ohlheim.« »Es ist vielleicht Obergrafendorf«, wandte ich ein.
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»Schon möglich, Herr Kühlberg. Als ich durchgefahren war, sah ich auch gleich den Karrenweg, der zu dem alten Haus führen mußte. Ich hatte selber Angst, nicht nur um Traude...« Sie stockte ein wenig beschämt. »Sie waren ganz schön mutig, da allein hinzufahren«, erklärte ich. Sie sah mich dankbar an. »Ich ließ den Wagen etwa hundert Meter vor der Abzweigung des Weges stehen und lief das Stück vor. Und da...« Sie stockte erneut, als die Erinnerung lebendig wurde, und ihre kleinen Fäuste ballten sich. »Da hörte ich Stimmen aus dem Wald zu meiner Rechten, männliche Stimmen. Sie... klangen aufgeregt. Gleich darauf folgte ein Aufschrei. Das war Traudes Stimme. Ich weiß nicht, was sie schrie. Sie verstummte im nächsten Augenblick. Es brach so plötzlich ab, als hinderte sie jemand am Schreien. Dann war nur noch das Rascheln von Ästen und Laub zu hören. Und das entfernte sich sehr schnell. Ich wartete ein paar Minuten, und als alles ruhig blieb, schlich ich so leise wie möglich den Karrenweg entlang und erreichte schließlich unangefochten das Haus. Es war eine alte Villa, wie sie überall in der Gegend um Wien zu finden sind – zweistöckig, mit Erker und ausgebauten Mansarden, verschmutzt und häßlich, aber doch irgendwie herrschaftlich. Im Erdgeschoß brannte Licht, ebenso in ein paar Fenstern des ersten Stockwerkes. Zu hören war nichts.« Christina hielt einen Moment inne. Sie lächelte traurig. »Ich habe Traude noch einmal gesehen in diesem Haus, und dann auf der Straße, als... als Ihr Wagen kam und sie...« Sie brach ab. Nach ein paar Sekunden fuhr sie fort: »Ich hatte furchtbare Angst, und wäre es nicht meine Schwester gewesen, die man in das Haus verschleppt hatte, so wäre ich keine Minute länger dort geblieben. Aber da drinnen war Traude, und ich war halb verrückt vor Sorge um sie. Dennoch zögerte ich. Ich dachte, 24
vielleicht findet die Polizei es doch noch. Aber es kam niemand, und ich wußte, daß ich allein versuchen mußte, meiner Schwester zu helfen. Ich machte einen weiten Bogen um das Haus und schlich mich vorsichtig von der rückwärtigen Seite heran. Da waren ein paar Stallungen, leer und halb verfallen. Dort verbarg ich mich eine Weile, bis ich sicher war, daß niemand mein Kommen bemerkt hatte. Schließlich nahm ich allen meinen Mut zusammen und suchte nach einem Hintereingang, den ich auch bald fand. Er führte in den Keller. Da ich kein Licht hatte, konnte ich mich nur vorwärtstasten. Aber ich hätte ohnehin nicht gewagt, ein Licht zu machen. Schließlich stand ich vor einer verschlossenen Tür und wußte keinen Rat mehr. Zu hören war gar nichts. Eine Weile überlegte ich, ob ich einfach warten sollte, bis sie alle schliefen. Ich konnte doch nichts gegen sie ausrichten. Ich war verzweifelt. Ich versuchte mir nicht auszumalen, was sie Traude alles antun mochten, während ich hier hilflos wartete. Aber es war unheimlich still, und das gab mir Hoffnung. Was immer diese Leute mit ihr vorhatten, sie schienen es nicht eilig zu haben. Vielleicht blieb mir Zeit genug, doch noch Hilfe zu holen. Ich tastete mich also wieder aus dem Keller. Als ich draußen zwischen den Büschen stand, fiel mir auf, daß es auch hier vollkommen still war. Ich meine, es gab keine nächtlichen Geräusche. Es war unheimlich.« Sie stockte, fuhr aber fort, als ich nur nickte: »Dann hörte ich, wie sich die Tür öffnete, und sah Traude herauskommen. Sie schrie nicht und wehrte sich nicht, und im Lichtschein, der aus dem Korridor fiel, bemerkte ich, daß ihr Gesicht irgendwie entrückt aussah, so, als wäre sie nicht ganz da. Die haben sie hypnotisiert, dachte ich sofort. So jedenfalls sah sie aus. Sie ging wie eine Schlafwandlerin, und hinter ihr kamen sechs oder sieben von... ihnen.« 25
Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie sich noch immer nicht klar über das Geschehene. »Erst dachte ich, sie wären Kinder. Sie reichten Traude kaum bis zur Brust. Aber ich sah von einigen kurz die Gesichter, und die waren gar nicht kindlich; jung, aber nicht kindlich.« »Liliputaner?« warf ich ein. Sie zuckte die Schultern. »Sie sahen auch nicht wie Liliputaner aus.« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Aber...«, begann ich ungeduldig. »Ich weiß nicht, was an ihnen so seltsam war, aber ich hatte furchtbare Angst vor ihnen.« Sie sah mich an. »Etwas Böses ging von ihnen aus. Ich weiß, das klingt phantastisch«, fügte sie rasch hinzu. »Ich weiß auch, daß ich es mir in diesem ganzen Alptraum und der Furcht nur eingebildet haben könnte. Ich versuche mir ja selbst darüber klarzuwerden. Glauben Sie mir, es ist nic ht leicht.« »Das weiß ich, Christina«, sagte ich beruhigend und versuchte, nichts von meiner Skepsis durchblicken zu lassen. »Danke«, flüsterte sie. »Sie nahmen Traude in ihre Mitte und gingen mit ihr den Weg entlang zur Straße zurück. Ich folgte ihnen. Das letzte Stück führten sie meine Schwester durch den Wald, und sie hatten offenbar bessere Augen als ich. Ich stolperte mich halb zu Tode. Es erscheint mir jetzt noch seltsam, daß sie mich nicht hörten. Sie drehten sich nicht ein einziges Mal um. Ich hatte zuviel Angst, um vorsichtig zu sein. Ich dachte nur an eines, daß ich sie nicht aus den Augen verlieren durfte. Dann war plötzlich die Straße vor uns. Sie liefen aus dem Wald und schoben Traude vor sich her. Als ich den Waldrand erreichte, sah ich sie undeutlich auf der Straße herumhüpfen, als ob sie tanzten – irgendein Ritual. Und Traude war in ihrer Mitte.« Sie brach ab. Die Erinnerung mußte sehr deutlich sein, denn neues Grauen zeigte sich in ihren Zügen. »Dann sah ich den Wagen – Ihren Wagen – herankommen. Die Lichter kamen so schnell, und die Gestalten verschwanden 26
nicht von der Straße. Ich weiß nicht mehr, ob ich ahnte, was sie vorhatten. Ich schrie Traudes Namen, und sie hörte mich. Ich konnte sehen, wie sie plötzlich innehielt, und die anderen auch. Sie wollte laufen, aber sie ließen sie nicht. Einer stieß sie zurück auf die Straße...« Sie hielt schluchzend inne. »Sie sind ganz sicher?« fragte ich. Mir war es auch aufgefallen, aber in der Dunkelheit mochte man sich leicht irren. »Ja, ich bin sicher. Ich sah es ganz deutlich. Einer stieß sie direkt in Ihren Wagen. Die anderen huschten von der Straße wie Ratten. Ich sah noch nie etwas so Flinkes wie diese verdammten...« »Sie wissen also, daß jemand da war, der alles gesehen hat«, unterbrach ich sie besorgt. »Nachdem die Verbrecher meine Adresse schon kennen, ist ihnen sicher auch nicht unbekannt, daß Sie bei mir sind. Da die Kerle vor nichts zurückschrecken, ist es ratsam, diese Wohnung zu verlassen und irgendwo unterzutauchen, wenn es nicht bereits zu spät ist.« Ich fühlte das Unbehagen in mir wachsen. Das Mädchen sah mich angstvoll an. »Was meinen Sie, was geschehen wird?« Ich zuckte die Schultern. »Wenn ich Zeugen für einen Mord hätte, würde ich denen nicht trauen. Und wenn ich einen Mord begangen hätte, käme es mir vermutlich auf einen zweiten nicht an. Wir sind in keiner beneidenswerten Lage, selbst wenn wir uns an die Polizei wenden. Unsere Geschichte klingt reichlich phantastisch.« »Ich glaube nicht, daß diese Teufel mich gesehen haben«, wandte sie ein. »Sie waren zu emsig damit beschäftigt, meine tote Schwester wegzuschaffen. Ihren Namen hat man sicher durch die Zulassungsnummer erfahren.« »Wir wollen nicht den Fehler begehen und sie unterschätzen«, entgegnete ich warnend. »Ein wenig Kombinieren bringt sie auf die richtige Spur: Die weibliche 27
Stimme zum Beispiel. Möglicherweise haben sie auch gemerkt, daß Ihre Schwester telefoniert hat. Wenn sie über ihr Opfer nur ein wenig Bescheid wußten, war ihnen bekannt, daß sie eine Schwester hatte, die in St. Pölten wohnt. Nein, wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Aber was können wir tun?« fragte sie ein wenig mutlos. »Balzarek«, sagte ich. »Das ist der erste Schritt.« Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer des Anwalts. Aber ich hatte wieder kein Glück. Ich sah das Mädchen nachdenklich an. »So ganz ohne rechtlichen Rückhalt fühle ich mich nicht sehr wohl«, stellte ich fest. Schließlich nahm ich das Mikrofon und sprach ein paar Erklärungen auf das Band. Ich schilderte kurz, was geschehen war, und bat Balzarek, vorerst nichts zu unternehmen, sondern auf meinen Anruf zu warten. Dann steckte ich das Band in ein Kuvert, beschriftete und frankierte es. »Wir werden es einwerfen, sobald wir fahren«, erklärte ich. »Wohin fahren wir?« »Nach Ohlheim. – Sie müssen nicht mitkommen«, sagte ich rasch. »Aber ich will mir dieses Haus ansehen.« »Allein?« entfuhr es ihr. »Sie sind verrückt!« »Nicht allein«, widersprach ich, »sondern mit voller Ausrüstung.« Sie sah mich verständnislos an. Ich grinste ihr ermutigend zu. Dann griff ich erneut zum Telefon und rief unser Studio an. Ralf war da, und ich atmete auf. Ich verschwendete keine Zeit mit langen Erklärungen. »Ist Paul erreichbar?« »Sicher, Fritz.« »Dann holt mich ab, so rasch es geht.« »Eine halbe Stunde wird es schon dauern.«
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»Schon gut. Nehmt Kameras und Blitzgeräte mit, aber nur das nötigste. Die Sache ist nicht geheuer. Es könnte Ärger geben. Und tankt auf. Wir fahren nach St. Pölten.« »St. Pölten?« wiederholte er irritiert. »Ist dort was los?« »Das wird sich herausstellen«, antwortete ich kurz. »Was ist mit dem Konzertfilm?« »Der muß warten. Bis gleich.« Ich legte auf und nickte dem Mädchen auffordernd zu. »Jetzt sind Sie dran. Versuchen Sie Ihren Schwager zu erreichen.« »Kurt?« »Ja, Kurt Großman. Haben Sie die Nummer?« »Er weiß vielleicht noch gar nicht...«, begann sie unsicher. »Das will ich ja herausfinden«, unterbrach ich sie. »Beeilen Sie sich.« »Wenn... wenn er noch nichts weiß...?« »Dann sagen Sie ihm, daß sie nicht bei Ihnen angekommen ist, wie verabredet, und daß Sie besorgt sind.« »Mehr nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir kommen in Teufels Küche, wenn Sie mehr sagen. Wir brauchen noch etwas Zeit«, fügte ich fast bittend hinzu. Mein eindringlicher Ton überzeugte sie. Sie wählte mit zittrigen Fingern, während ich nach Ralfs Wagen Ausschau hielt. Man konnte vom Fenster aus die Straße gut überblicken. Auf der gegenüberliegenden Seite sah ich einen Jungen stehen. Er betrachtete die Straße intensiv. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er war bestimmt nicht älter als vierzehn oder fünfzehn. Er trug Jeans und ein hellblaues Hemd. Ich fragte mich unwillkürlich, was es so Interessantes auf der Straße zu sehen gab. Ich vermochte nichts zu entdecken. Da wandte ich mich ab, um Christina zuzuhören, die offenbar Großman an der Strippe hatte. »Kurt, wo ist...«
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Ich schaltete den Telefonlautsprecher ein und hörte gleich darauf Großmans Stimme. Sie klang aufgeregt, obwohl er sich bemühte, das zu unterdrücken. Er wußte etwas. »Ich dachte mir schon, daß du anrufen würdest, Christl«, unterbrach er sie. »Ich hab schon versucht, dich zu erreichen, aber...« »Ich bin nicht zu Hause«, erklärte sie. »Ja, ja, das dachte ich mir schon. Waltraud ist nicht gefahren«, sagte er, und ich konnte sein Unbehagen fast spüren. »Widrige Umstände, verstehst du, es klappte nicht.« »Wo ist sie?« fragte Christina. »Das kann ich dir nicht sagen, tut mir leid, Christl.« »Ist ihr etwas geschehen?« »Nein, nein«, erwiderte er rasch. »Sie ist wohlauf. Ruf doch in den nächsten Tagen noch einmal an. Dann kann sie dir selbst alles erklären. Sei so lieb. Bis bald.« Es klickte. Er hatte aufgelegt. Christina sah mich blaß an. »Er weiß nicht, daß sie tot ist«, sagte sie tonlos. »Vielleicht«, meinte ich vorsichtig. »Wenn alles klappt, wissen wir am Nachmittag mehr. Zuvor sollten wir noch etwas zum Anziehen für Sie besorgen.« »Sie setzen mich am besten zu Hause kurz ab, dann kann ich mich umziehen.« »Das könnte gefährlich sein«, wandte ich ein. Es läutete. »Das werden Ralf und Paul sein. Machen Sie sich fertig.« Die waren aber schnell hier, ging mir durch den Kopf, während ich öffnete. Dann sah ich verblüfft den Jungen von der Straße in dem hellblauen Hemd und den Jeans vor mir stehen. Er blickte mich nicht an, sondern ging an mir vorbei auf Christina zu. Während ich mich herumdrehte, vernahm ich ein leises Knacken und Scharren wie von einem Mechanismus, der abläuft. Ich griff nach dem Arm des Jungen. Er hatte die Hände in den Taschen, und ich fühlte instinktiv eine Gefahr. 30
Der Junge schüttelte meine Hand heftig ab, und als ich erneut nach ihm griff, versetzte er mir einen Stoß in die Seite, der mich mit einem Aufstöhnen nach hinten taumeln ließ. Ich hörte einen Aufschrei. Er kam von Christina. Sie schaute dem Jungen mit einem Ausdruck des Entsetzens entgegen. Sie wich vor ihm zurück, und ich stürzte wütend dazwischen. »Was fällt dir ein, du...« Ich brach ab, als er herumfuhr. Er sah mich an. Etwas wie eine eisige Faust griff nach mir. Seine Augen glühten wie von einem inneren Feuer, von einer teuflischen Wut. Sein Gesicht war dagegen ausdruckslos. Der kleine Mund schien fast abwesend zu lächeln. Und irgendwie strahlte dieser Kinderkopf etwas Tödliches aus. Undeutlich vernahm ich Christinas ängstliches Wimmern. Ich kämpfte gegen die instinktive Furcht an, die mich einen Moment fast lähmte. Ich ahnte plötzlich, was ich vor mir hatte. Ich glaubte Triumph in seinen lodernden Augen zu sehen, Triumph über meine Hilflosigkeit. Er wandte sich ab und Christina zu. Seine kleinen Fäuste öffneten sich. Die gekrümmten Finger kamen hoch mit einer fast mechanischen Bewegung, während er einen Schritt auf das Mädchen zu machte. Da überwand ich die lähmende Kälte und Furcht und schlug blind zu. Ich traf den kleinen Kopf voll, und der Schmerz an der Faust machte mich völlig frei. Der Junge schnellte mit einem schrillen Laut zur Seite. Er fing sich an der Wand und blickte mich mit brennenden Augen an. Seine Wange war aufgerissen, ein häßliches klaffendes Loch, durch das die Kieferknochen schimmerten, und noch etwas, das silbern glänzte wie Metall. Aber was mich mit Grauen erfüllte, war diese weiße, makellose Wunde, aus der kein Tropfen Blut floß. Gleichzeitig sickerte in mein Bewußtsein, daß ich hier nicht einem Jungen gegenüberstand, sondern einem jener Teufel, die 31
das Mädchen vor meinen Wagen gestoßen hatten. Ich sah ihren Körper über die Stoßstange kippen und ihr blutendes Gesicht über die Windschutzscheibe gleiten, sah die kleinen Gestalten am Straßenrand in Sicherheit huschen. Diese Bilder trieben mich vorwärts, und ich schlug erneut auf ihn ein, bis ich spürte und hörte, wie etwas brach und dieses Feuer in seinen unmenschlichen Augen zu lodern aufhörte. Dann kam ich zur Besinnung und spürte Christinas Arme, die mich von dem kleinen Teufel wegzerrten. »Bitte, hören Sie auf! Sie bringen ihn um!« Ihre schluchzende Stimme riß mich in die Gegenwart zurück. Keuchend schaute ich auf den Jungen, dessen Hände zuckten, als wäre er ihrer nicht mehr ganz mächtig. Er kauerte auf dem Boden. Noch immer war ein rötlicher Schimmer in seinen Augen, aber die Wut war erloschen. Er weinte nicht. Dieses verdammte Lächeln war noch immer auf seinen Lippen. Etwas klickte und scharrte. Die Wunde an der Wange klaffte mir häßlich entgegen. Ich schüttelte mich und spürte eine Welle von Mitleid, als er sich hochzurappeln versuchte und wieder zurücksank. Ich wollte mich hinabbeugen, um ihm hochzuhelfen, da kroch er wie ein Wiesel über den Boden. Während wir ihm verblüfft nachblickten, erreichte er die Tür und richtete sich auf, begleitet von einem Knirschen, das mir durch und durch ging. Nach vorn gekrümmt und mit eckigen Bewegungen, die an die einer Puppe erinnerten, verschwand er im Korridor. »Das war einer von ihnen«, flüsterte Christina. Ich spürte, wie sie zitterte. Ich gab ihr keine Antwort. Ich hastete hinterher. Als ich die Tür erreichte, fiel sie vor mir ins Schloß. »Lassen Sie ihn laufen«, sagte Christina. »Nein«, erwiderte ich heftig. »Er kann uns eine Menge Fragen beantworten.«
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Ich lief auf den Korridor und hinunter auf die Straße, aber ich sah ihn nicht mehr. Er mußte an der Kreuzung abgebogen sein. Aber als ich sie erreichte, erblickte ich niemanden. Mißmutig machte ich mich auf den Rückweg. Ich fragte mich, was dieser seltsame Besuch zu bedeuten hatte. Der Kleine hatte es auf das Mädchen abgesehen, daran zweifelte ich nicht. Aber was wollte er von ihr? Nichts Gutes, der grimmigen Entschlossenheit nach. Die Wunde kam mir wieder in den Sinn. Sie hatte nicht geblutet! Eine Wunde von dieser Größe mußte bluten. Und diese eckigen Bewegungen, das Knarren wie in einer alten Uhr... Konnte es sein, daß er gar nichts Lebendiges gewesen war, sondern etwas Mechanisches, eine Puppe, die irgendwie gelenkt werden konnte? Ein kleiner Roboter? Wenn das zutraf, dann war er von ziemlicher Perfektion. Aber das schien mir dann doch zu phantastisch. Gleichzeitig brachte die Erinnerung an das maskenhafte Lächeln neue Zweifel. Und dann war da noch diese Wut in den Augen, wie sie nur etwas Lebendes empfinden konnte. Als ich meine Haustür erreichte, fuhr Ralf mit dem Wagen vor. Er war der ältere meiner beiden Mitarbeiter, Mitte Dreißig, agil und erfinderisch, Eigenschaften, die ich besonders im Labor an ihm schätzen gelernt hatte. Er winkte mir zu und stieg aus. »Wo ist Paul?« fragte ich. »Den holen wir anschließend. Ich habe ihn angerufen. Was ist mit dir los?« »Ich bin nicht sicher«, erwiderte ich. »Warte hier.« Ich lief nach oben, um Christina zu holen. Sie hatte die Tür verriegelt und fragte ängstlich: »Herr Kühlberg?« »Ja, ich bin’s«, erklärte ich ungeduldig, und sie ließ mich hinein.
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Sie war noch immer blaß. »Sie haben ihn nicht gefunden.« Es klang enttäuscht und erleichtert zugleich. Ich empfand ähnlich. Ich nickte nur. »Was er von mir wollte?« fragte sie. »Glauben Sie, daß er...« »Sie umbringen wollte?« ergänzte ich. »Wäre schon möglich, aber nicht sehr logisch. Doch was ist hier schon logisch? Das einzige, das mir im Augenblick logisch erscheint ist, daß wir hier verschwinden, bevor noch mehr von seiner Sorte auftauchen. Kommen Sie, Ralf wartet bereits unten.« Sie hatte weder Strümpfe noch Schuhe, aber es war warm genug. Im übrigen hatten ihre Kleider weniger gelitten, als es nachts den Anschein hatte. Nun, da das Versteck des Mädchens bereits bekannt war, bedeutete es auch kein besonderes Risiko mehr, wenn wir kurz bei ihrer Wohnung hielten, damit sie sich umziehen und ein paar Dinge zusammenpacken konnte. »Das war kein normaler Junge, nicht wahr?« sagte sie unvermittelt. »Nein, sicher nicht.« »Er hat kein einziges Wort gesprochen.« Es war mir nicht aufgefallen, so sehr war ich mit ihm beschäftigt gewesen. »Ich mag Kinder«, erklärte ich. »Ich hätte ihn nicht geschlagen. Nicht so, jedenfalls. Er war...« Ich brach hilflos ab und war dankbar, daß wir die Straße erreichten. Ich machte sie mit Ralf Welscher bekannt und sah mich um, während die beiden einstiegen. Es waren mehr Leute auf der Straße als vorhin. Ich glaubte einen Jungen zu sehen, der vor einem Schaufenster stand. Und einen zweiten auf der anderen Straßenseite. Beide schauten nicht in meine Richtung. Dann entdeckte ich einen dritten an der Kreuzung. Es mochten ganz gewöhnliche Kinder sein, aber in mir machte sich plötzlich ein Gedanke der Panik breit. Hastig stieg ich in den Wagen und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. »Fahr los«, sagte ich gepreßt und vermied es, Christina anzusehen. 34
Ralf schien zu spüren, daß irgend etwas nicht stimmte. Er stellte keine Fragen. Er startete und fuhr los. Ich blickte auf die drei kleinen Gestalten, in die plötzlich Bewegung kam. Zwei liefen auf die Straße zu und hielten am Rand. Der dritte sprang auf die Fahrbahn. Ralf versuchte den Wagen herumzureißen. Hinter uns kreischten Bremsen. »Halt nicht an«, rief ich. Dann sah ich in eines der lächelnden Kindergesichter, das an der Scheibe vorüberhuschte. Die Gestalt wurde vom Kotflügel erfaßt und herumgerissen. Keine Regung war in dem Gesicht. Ich klammerte mich verzweifelt fest, als der Wagen schwankte und ins Schleudern kam. Undeutlich hörte ich Ralf fluchen und Christina erschreckt aufschreien. Dann waren wir vorbei, und der Wagen fing sich, als wir die Kreuzung hinter uns hatten. Ralf bremste und fuhr an den Rand. »Halt nicht an«, sagte ich eindringlich. »Du bist verrückt«, erwiderte er und machte sich daran, auszusteigen. Einen Augenblick war ich versucht, ihn zurückzuhalten, aber dann begnügte ich mich, ihn im Rückspiegel zu beobachten. Ich rutschte halb auf den Fahrersitz und sah, wie Ralf zurück zur Unfallstelle lief. Christina schaute mit angehaltenem Atem aus dem Rückfenster. Eine Menge Leute blickten Ralf entgegen, und ihre Mienen verrieten nichts gutes, das war selbst auf diese Entfernung zu erkennen. Mehrere Wagen hatten an der Kreuzung angehalten, so daß der gesamte Verkehr stockte. Seltsamerweise kümmerte sich keiner um die Gestalt am Boden. Sie hatten alle nur Augen für Ralf. Er schien es auch zu merken, denn er hielt zögernd an. »Das gibt Ärger«, bemerkte ich und glitt auf den Fahrersitz. Ich wendete und gab Gas. Dann jagte ich auf die Kreuzung zu und sah mit Genugtuung, wie die Leute auseinanderliefen. Ich drückte auf die Hupe und bremste kreischend neben Ralf, was 35
die Verwirrung noch erhöhte. Ralf reagierte rasch. Während er die Tür aufriß und einstieg, sah ich aus den Augenwinkeln ein halbes Dutzend kleiner Gestalten auf uns zu laufen. Wenn jetzt der Motor abstarb! dachte ich. Aber er heulte beruhigend, und die Reifen quietschten, als ich in die Seitenstraße einbog, noch bevor Ralf die Tür geschlossen hatte. Ich atmete auf, als die Kreuzung hinter uns verschwand. *** »Ich verstehe es nicht«, sagte Ralf. »Wir auch nicht, noch nicht«, erwiderte ich grimmig. »Es sieht so aus, als hätte ich die Gefahr unterschätzt. Tut mir leid, daß ich dich da mit hineingezogen habe.« »Mach dir darüber keine Gedanken, Fritz.« Er grinste, wenn auch ein wenig unsicher. »Du bist der Boß. Und das sieht nach einem interessanten Auftrag aus.« Er tätschelte eine Kamera unter seiner Jacke. »Du hast geschossen?« rief ich. Er grinste breit. »Ich hätte meinen Job verfehlt, wenn ich das nicht getan hätte.« »Wie viele?« »Vier. Dann warst du heran.« »Nah?« »Nah genug. Aber aus der Hüfte.« »Dann holen wir jetzt Paul und lassen den Wagen dort. Es könnte sich jemand die Nummer gemerkt haben. Wir nehmen seinen und fahren ins Labor. Ich muß die Bilder sehen. Ist jemand hinter uns?« »Nein«, erwiderte Christina. »Es ist niemand zu sehen.« »Was ist nun eigentlich los?« meinte Ralf. »Der kleine Kerl, den ich zusammengefahren habe – er hat mich angefeixt, als wäre das alles ein großer Spaß gewesen. Aber die Leute...« »War er verletzt?« 36
Ralf antwortete nicht sofort. Er griff sich an die Stirn, als wäre etwas seltsam an seinen Erinnerungen. »Ich glaube schon, an den Füßen.« »Hat er geblutet?« Die Frage verblüffte ihn, und seine eigene Antwort noch mehr. »Nein. Aber wie ist das möglich?« »Das wissen wir auch noch nicht. Sie scheinen hinter Christina her zu sein, vielleicht auch hinter mir. Gedulde dich, bis wir bei Paul sind. Ich hab wenig Lust, es zweimal zu erzählen.« Ich hielt unvermittelt an, als ich einen Briefkasten entdeckte. Ich bat Ralf, den Brief an Balzarek einzuwerfen. Als wir weiterfuhren, vermeinte ich hinter uns eine Polizeisirene zu hören. Aber es war wohl nur Einbildung, denn wir erreichten unangefochten das Viertel, in dem Paul wohnte. Paul Davenport, ein stämmiger Dreißiger mit Brille, war unser Mädchen für alles, unser Assistent, unser Büro und unser Finanzminister. Er verhandelte mit den Agenturen, die unsere Fotos kauften. Er managte uns sozusagen, und er verstand absolut nichts von Fotoapparaten. Die Verwaltung lag ihm hingegen im Blut. Er stammte aus einer alten englischen Adelsfamilie, den Burcettes, die einst große Teile der Insel beherrschten. Er wartete bereits leicht gelangweilt auf uns. Christina vermochte jedoch rasch sein Interesse zu wecken, was mich zu meinem Erstaunen ein wenig eifersüchtig machte, obwohl mir klar war, daß ich keinen Augenblick daran gedacht hatte, mich könnte mehr mit ihr verbinden als dieses teuflische Erlebnis. Wir ließen Ralfs Wagen in Pauls Garage und fuhren mit Pauls Kombi zum Labor. Auf der Fahrt berichtete ich den beiden, was geschehen war. Sie nahmen es sehr nachdenklich auf. Sie zweifelten nicht an meinem Bericht, vielleicht an Details, aber sie bemühten sich jedenfalls, den Brocken zu verdauen. Bei der Beschreibung des Jungen, der in meine 37
Wohnung gekommen war, wurde Ralf sehr still. Die maskenhaften Züge waren auch ihm aufgefallen, aber ich hütete mich, ihn auf die Schlüsse hinzuweisen, die ich selbst versucht war zu ziehen. Die Puppen-Idee ließ mich nicht los, obwohl meine Vorstellungen über das Wie keinen realen Boden hatten. Ich dachte zwar nicht mehr an etwas Mechanisches wie im ersten Augenblick, sondern an Hypnose oder dergleichen Mittel, die eine Willenlosigkeit und vielleicht auch Schmerzunempfindlichkeit herbeiführen mochten, doch es war alles sehr vage. Das Geheimnis lag in Ohlheim, aber es sah nicht so aus, als wären wir dort sehr willkommen. Außerdem schien eine kleine Armee gegen uns im Einsatz zu sein. Wir hatten dem nicht viel entgegenzusetzen. In erster Linie fühlte ich, daß es eine persönliche Sache war, die mich und Christina betraf. Ich war froh, daß Ralf und Paul mir geholfen hatten, aber nun erschien es mir unverantwortlich, sie weiter in Gefahr zu bringen. Paul stimmte im Prinzip zu, meinte aber, daß die Sache, auch wenn nur die Hälfte an unseren Worten wahr sei, ein echter Knüller wäre, den die Firmenkasse gut vertragen könne. Und Ralf hatte das Jagdfieber bereits gepackt. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß Gefahr ihn nicht abschreckte, höchstens Langeweile. Ich war nicht traurig darüber. Wir konnten jede Hilfe gebrauchen. In den Mittagsnachrichten kam nichts über den Unfall. Ich fragte mich, warum die Menschen so blind gewesen waren. Sie hatten nur Augen für Ralf gehabt und keinen Blick für die Gestalt zu ihren Füßen. Sie hatten sich gar nicht darum gekümmert. War auch da Hypnose im Spiel? Im Labor versuchte ich erneut meinen Anwalt anzurufen, mußte mich aber damit abfinden, daß dieser vermutlich übers Wochenende weggefahren war. 38
Während Ralf den Film entwickelte, nahmen Christina und ich die Gelegenheit wahr, in einem nahen Restaurant zu Mittag zu essen. In einem Laden kauften wir Sandalen für sie, da ich hier mitten in der Stadt mit meiner barfüßigen Begleiterin zuviel Aufmerksamkeit erregte. Paul begleitete uns. Einige Male glaubte ich, unsere kleinen Verfolger wären uns wieder auf der Spur, aber jedesmal entpuppten sie sich als ganz normale Kinder. Auch Christina war nervös. Paul versuchte ein Gespräch mit ihr, doch sie blieb einsilbig und hakte sich schließlich bei mir ein, und ich drückte beruhigend ihren Arm. Wir waren erleichtert, als wir schließlich unangefochten das Restaurant erreichten und Paul sich auf den Rückweg zum Labor machte. Er wollte uns später mit Ralf und den Bildern hier abholen. Das Essen tat ausgesprochen gut. Wir merkten jetzt erst, wie hungrig wir eigentlich gewesen waren. Mit der Sattheit kam auch die Müdigkeit, die wir mit Kaffee niederkämpften. Die Nacht war kurz gewesen, was den Schlaf anbetraf, und es sah nicht so aus, als ob die kommende viel besser würde. »Ob es nicht doch falsch ist, was wir tun?« fragte Christina zweifelnd. Ich stimmte zu. »Es ist falsch, und man wird uns dafür zur Rechenschaft ziehen. Aber uns bleibt gar keine andere Wahl. Wenn wir beim augenblicklichen Stand der Dinge zur Polizei gehen, hält man uns für Mörder oder für Verrückte, oder für beides zusammen. Nein, Christina, lassen Sie sich von keinen Zweifeln quälen. Wir müssen unsere Lage verbessern, indem wir einiges herausfinden. Und das werden wir heute nachmittag.« Sie nickte bedrückt. »Ralf und Paul – wie stehen die beiden zu Ihnen?« fragte sie. »Meine Mitarbeiter«, erklärte ich. »Aber eigentlich mehr als das. Sie sind gute Freunde.« 39
Wenig später sah ich nervös auf die Uhr. »Ich denke, sie werden bald kommen«, stellte ich fest. »Entschuldigen Sie mich eine Weile, Christina.« Ich erhob mich und lächelte ihr zu. Ich war plötzlich von zwiespältigen Gefühlen erfüllt. Rasch beugte ich mich hinab und küßte sie. Sie wehrte mich nicht ab, aber ihre Augen musterten mich forschend, als unsere Lippen sich trennten. »Sie hatten etwas vor«, sagte sie nach einem Augenblick, »bevor Ihnen das in den Sinn kam.« Sie lächelte nun. »Laufen Sie nicht weg«, sagte ich überflüssigerweise. Sie schüttelte den Kopf und errötete ein wenig, als sie bemerkte, daß die Umsitzenden uns beobachteten. Dann suchte ich nach dem Weg zur Toilette. Die Verwirrung in mir wuchs. Etwas stimmte nicht mit mir. Etwas drängte mich, zog mich... Auf halbem Weg vergaß ich die Toilette. *** Vage Gedanken waren in mir, aber sie bedeuteten nichts. Sie waren nicht wichtig. Ich trat auf die Straße und winkte ein Taxi heran. Ich sagte dem Fahrer meine Adresse und lehnte mich in den Sitz zurück. Wie sinnlos war es gewesen, sich zu wehren. Jetzt würde alles einfach sein. Dann verschwamm das Gefühl des Behagens ein wenig, und ich sah ein Mädchengesicht vor mir, und der Name Christina geisterte durch meine Gedanken. Es war, als drängte sich das Bild durch einen Schleier, der sich nur unwillig öffnete. Nach einem Augenblick verschwand es, und mit ihm das Unbehagen. Ich dachte an nichts Besonderes, es war wohltuend. Ich hatte zuviel gedacht – ein halbes Leben vergrübelt um Vergangenes
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und Zukünftiges, statt die Gegenwart, den Augenblick zu genießen. Das ist nun anders. Es gibt keine Entscheidungen mehr zu treffen. Wir erreichen meine Wohnung. Ich entlasse das Taxi und gehe nach oben. Die Tür steht einen Spalt offen. Drei Freunde warten auf mich. Sie begrüßen mich lächelnd. Ihre Gesichter sind vertraut. Ich lese an ihren Augen ab, was geschehen soll. Ein Gefühl ekstatischer Erwartung überkommt mich. Ich nehme einen Koffer aus dem Schrank und packe ein paar Sachen ein – Kleider, Ausweise, Geld. Ich werde vermutlich nichts davon brauchen, aber wir können nicht vorsichtig genug sein. Wir gehen in die Garage und steigen in meinen Wagen. Ich weiß nicht, warum ich Unsicherheit verspüre, als ich den starken Benzingeruch wahrnehme. Wir erreichen die Autobahn unangefochten. Der Wagen fühlt sich phantastisch an. Er lebt auf seine Weise. Ein totes Geschöpf, das durchpulst wird von einem stählernen Herzen. Ein Wesen, das soviel Kraft hat, ein sklavisches Wesen ohne Seele. Ich genieße diese Kraft. Sie durchflutet mich und gibt mir Vertrauen wie es nichts Natürliches könnte. Vor Linz werden wir angehalten. Polizei winkt uns an den Fahrbahnrand. Die drei Freunde im Wagen sind nervös. Ich spüre, daß es an mir liegt, mit der Situation fertig zu werden. Ich wappne mich. Es mag sein, daß ich töten muß. Ich habe keine Furcht. Es ist nicht schwer, natürliches Leben zu beenden. Dennoch ist etwas in mir, das bei dem Gedanken erschrickt – aber fern, zu fern, um von Bedeutung zu sein. Nicht aufzufallen ist das oberste Prinzip. Der Kampf ist einfacher, wenn er aus dem Dunkel geführt werden kann.
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Deshalb fahre ich heran und blicke dem Polizisten freundlich entgegen. Es ist schwer, denke ich; er weiß nicht, daß er stirbt, wenn er mich behindert. Er verlangt meine Autopapiere und wirft einen Blick in den Wagen. Er mustert die drei Freunde. Eine Spur von Verwunderung ist in seinen Zügen. Die Freunde lächeln, wie sie es immer tun. Seine Verwunderung verschwindet. Er studiert die Papiere, beflissen, geschäftig. Er nickt und gibt sie mir zurück. »Nur eine Routinekontrolle«, erklärt er, sieht sich die Nummernschilder hinten und vorne an, rümpft die Nase über den Benzingeruch, der in der Mittagshitze besonders penetrant ist. »Ist Ihr Tank leck?« fragt er und schaut unter den Wagen. Etwas in mir ist ungeduldig. Etwas anderes wehrt sich gegen die Ungeduld. »Oder ist er abgesoffen?« Ich starte versuchsweise. Der Motor kommt sofort. »Sieht nicht so aus«, stelle ich fest. »Wenn Sie den Benzingeruch meinen, ich habe in der Garage welches verschüttet.« Er nickt und gibt den Weg frei. Ich bin erleichtert. Er lebt, und wir haben keinen Ärger. Wir fahren los. Jeder Augenblick bringt mich näher. Kurz vor St. Pölten ist die halbe Fahrbahn gesperrt. Wir sehen zwei Fahrzeuge ineinander verkeilt. Ich spüre die Aufregung der Freunde, so als berührte mich etwas mitten im Kopf. Ein junger Mann liegt im Gras der Böschung. Er ist blutüberströmt. Aber er ist nicht tot. Das spüre ich auch. Er stirbt nicht. Um so mehr spüre ich etwas anderes, während wir im Schrittempo vorbeifahren – das Stöhnen von Blech, das geistlose Verlöschen der beiden Wagen. Ein Polizist winkt uns hastig vorbei. Ein Stück weiter verlassen wir die Autobahn, nehmen den Zubringer von St. Pölten, dann die Bundesstraße.
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Wir sind in Ohlheim. Das Haus, das auf dem Weg vor uns auftaucht, ist das Ziel meiner Sehnsucht. Ich komme heim aus der Wildnis des Lebens, in der so viele Dinge tot sind. Hier ist es anders. Die Sinne sind nichts. Sie manipulieren den Geist. Denn Wahrnehmung ist nicht Realität. Ich sitze hier mit geschlossenen Augen, höre nicht, fühle nicht und bin mir dennoch meiner Umwelt voll bewußt. Wissenschaft ist nichts. Sie bietet dem Verstand das Trugbild der Logik. Sie macht ihn blind den Dingen gegenüber, die nicht in ihr Schema passen. Es ist nicht logisch, daß ich hier sitze und mir dieser Umwelt bewußt bin. Es ist nicht logisch, daß diese Umwelt existiert. Ich nehme sie nicht mit meinen natürlichen Sinnen wahr. Sie ist zeitlos, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Alles geschieht jetzt! Das Haus ist groß. Manchmal denke ich, es hat unendlich viele Räume. Aber auch das ist ein Trugschluß, ein Streich, den mir mein menschlicher Verstand spielt. Jedes dieser Zimmer existiert nur für den Augenblick. Daher gibt es nichts, das einer Erinnerung entsprechen würde. Auch auf mich wartet diese Zeitlosigkeit. Sie mutet wie der Traum vom ewigen Leben an. Aber ich darf mich nicht von den Phantastereien meines menschlichen Gehirns leiten lassen, das alle Magie nicht vollkommen zu beherrschen vermag. Von Zeit zu Zeit quälen mich Erinnerungen. Sie sind schmerzlich, verloren, Gesichter, Dinge, Augenblicke – wie seltsame Fenster, die sich öffnen und wieder schließen, bevor ich sie erreichen kann. Und immer sind diese Augenblicke mit Angst verbunden, mit einer instinktiven Angst. Ich fürchte mich davor. Wovor? 43
Das Haus ist nicht leer. Es ist erfüllt von Wesenheiten, die mir zuflüstern mit körperlosen Stimmen. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Ich lausche mit aller Konzentration. Ich fühle, sie flüstern von großen Geheimnissen, und wenn ich erst ihresgleichen bin, verstehe ich alles. Ich bin so nahe daran, so nahe an ihren unwiderstehlichen Lockungen. Eines der Fenster öffnete sich weit, Bilder stürmten auf mich ein und Panik. Ich wachte inmitten von Erinnerungen auf. Irgendwo schrie jemand. Es war eine weibliche Stimme. Ich schüttelte mich. Mein Kopf fühlte sich wie betäubt an. Lähmende Düsternis umgab mich, durch die flüsternde Echos klangen. Es hörte sich an wie boshaftes Lachen. Es war, als erwachte ich aus einem Alptraum. Ich fühlte, daß ich wach war, aber die unwirklichen Eindrücke verschwanden nicht. Ich preßte die Fäuste gegen die Augen, bis sie schmerzten. Mein Herz schlug, als säße es in meinem Hals. Kein Zweifel, ich war wach. Dennoch flüsterten und raunten die Stimmen um mich. Dann kam der Schrei erneut, nah und schrill – ein Schrei purer Angst. Ich erkannte die Stimme wieder, Christinas Stimme. Wenn noch immer Schleier vor meinem Bewußtsein gewesen waren, so zerriß sie der Schrei. Ich erkannte, daß ich am Boden kniete. Es war eiskalt, trotz der sommerlichen Temperatur, die draußen herrschen mußte. Fröstelnd stand ich auf. Dann lauschte ich. Von irgendwoher vernahm ich Geräusche, Schritte und Rufe. Aber es war schwer, etwas zu unterscheiden, denn das Flüstern um mich schien kräftiger zu werden, je mehr ich mich zu konzentrieren versuchte. Ich preßte die Hände an die Ohren, aber das lockende, spottende Geflüster erstarb nicht. Es war in meinem Kopf.
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Ich tastete blind um mich. Meine Finger fanden etwas Kaltes, Lebendiges, vor dem ich instinktiv zurückzuckte. Ich stand zitternd in der Dunkelheit. Hatte ich mich getäuscht? Oder waren einen Moment lang die Stimmen verstummt? Vorsichtig streckte ich die Hände erneut aus. Ein stöhnender Laut erstickte das Flüstern und brach ab, als meine Finger Widerstand fanden. In der Stille, die folgte, flüsterte niemand mehr. Aber etwas anderes war hörbar, ein Klicken und Surren und Ticken, als wäre ich von Hunderten von Uhren oder anderen kleinen Mechanismen umgeben, und unter meinen Fingern vibrierte Metall. Es war, als hätte ich mit dieser Berührung einen Bann gebrochen. Die Dunkelheit löste sich auf in erkennbare Muster. Ich war blind gewesen. Nun sah ich schmale Spalten, durch die Tageslicht fiel. Es blendete mich. Aber es gab nichts, das mich mit größerer Erleichterung erfüllt hätte, als diese grellen Streifen von Licht. Ich tastete mich darauf zu und spürte ein Fenster und dahinter geschlossene Läden. Hastig rüttelte ich am Riegel, der eingerostet zu sein schien. Mit aller Kraft drückte ich die Läden nach außen. Knirschend sprangen sie auf. Herein strömte die Realität eines Spätnachmittags mit einer rötlichen Sonne über den Bäumen, mit Geräuschen von freier Natur, die nach der Hitze eines Sommertages in der Dämmerung Atem schöpft. Das tat auch ich, bis das Zittern in meinen Gliedern schwand. Dann versuchte ich mich zu erinnern, aber es war wie mit Träumen. Da waren Bilder, aber sie entschlüpften, ehe ich sie klar vor mir hatte. Ein Geräusch ließ mich herumfahren. Ich erschrak zutiefst. Im Licht, das durch das offene Fenster fiel, konnte ich erkennen, daß der Raum leer war. Die Wände schimmerten silbern, wie Metall. Es war ein Muster, das in den Augen schmerzte. Mitten im Raum aber stand ein Mädchen. 45
Ich hätte sie unter Tausenden wiedererkannt, auch ohne die häßlichen, klaffenden Wunden im Gesicht und am Körper. Das Gesicht hatte sich meinem Gedächtnis tief eingegraben, als es blutig über die Windschutzscheibe glitt. Sie sah mich an, stumm und bewegungslos. Keine Empfindung spiegelte sich in ihren verstümmelten Zügen, kein Gefühl war hinter den Augen zu erkennen, weder Haß noch Anklage, noch Qual. Seltsam leblos blickte sie mich an, und das flößte mir mehr Grauen ein als die Tatsache, daß sie in dieser Verfassung vor mir stand. Sie war Traude Großman, daran zweifelte ich nicht, auch wenn es unmöglich war. Die Hälfte ihres Gesichtes war offen bis auf die Knoche n. Alles – Haut, Fleisch, Knochen – war bleich, weißlich. Als wäre alles Blut längst geflossen, mehr noch, sie war gesäubert vom Blut. Aber ihre Wunden hatte niemand versorgt. Das Kleid war zerrissen. Ich konnte eine lange Schnittwunde quer über den Oberkörper erkennen. Ihre Beine waren gebrochen, wo die Stoßstange sie erfaßt hatte. Nun, da das Gewicht auf ihnen lastete, knickten sie an den Bruchstellen ein. Ich mußte den Blick abwenden. Mit einem Würgen im Hals schaute ich auf ihre weißen Züge. Ich hätte es für ein Trugbild gehalten, wenn sie nicht in diesem Augenblick eine Bewegung gemacht hätte. Sie hob ihre Arme und streckte sie mir entgegen, als wollte sie um Hilfe flehen. »Frau Großman«, flüsterte ich erstickt. Mit zwei Schritten war ich bei ihr und nahm sie sorgsam in die Arme. Es mußte ihr Schmerzen bereiten, wo immer ich sie berührte. Aber sie umarmte mich mit einer sinnlichen Bewegung und einem Laut, der nicht menschlich klang. Eine plötzliche Panik erfaßte mich und erstarb in ihren kalten Armen. Flüstern. Unterdrücktes Lachen.
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Ich glaube zu verstehen, was sie sagen, aber es gelingt mir doch nicht. Ich lausche angestrengt. Ich bewundere die Emsigkeit, mit der sie sich bemühen, sich mir verständlich zu machen. Ich bin sicher, daß es das ist, was sie wollen. Und ich bin sicher, daß es sehr wichtig für mich ist, was sie sagen. Ich höre Schreien. Ich habe plötzlich eine vage Erinnerung. Ungreifbar. Sie ist fort. Ich gehe ans Fenster, das offensteht. Die Schreie kommen von der Auffahrt herauf. Ein Dutzend Freunde sind dort versammelt. Sie haben eine Lebende in ihrer Mitte, die verzweifelt auszubrechen versucht. Aber unter den Berührungen der Freunde ermattet sie und taumelt keuchend zwischen ihnen. Sie richtet sich auf. Ihre Züge sind abwesend. Verschwunden ist die Angst. Die Freunde setzen sich in Bewegung. Sie geht ruhig mit. Sie gehen den Weg hinab zur Straße, die in einiger Entfernung sichtbar ist. Ich weiß, was geschieht. Ich kenne auch die Lebende. Ihr Name ist Christina. Am Waldrand sehe ich zwei Gestalten. Sie sind keine Freunde. Ich vermag ihre Gesichter nicht zu erkennen. Sie sind Lebende. Sie lassen die Freunde und das Mädchen nicht aus den Augen und folgen ihnen vorsichtig. Da sieht einer zu mir hoch. Er muß mich sehen. Er macht seinen Begleiter auf mich aufmerksam. Sie blicken hoch, ihre Gesichter sind weiße Ovale in der Düsternis des Waldes. Der erste winkt. Ich rege mich nicht. Sie winken beide erneut und rufen. Dann verschwinden sie hastig, als sich unter mir eine Tür öffnet. Ich trete vom Fenster zurück und setze mich auf den Boden. Ich lausche dem Geflüster der Stimmen. Ich bin in sie eingebettet wie in einen schützenden Kokon. ***
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Christina. Der Name weckt ein wenig, was die flüsternden Stimmen einschläfern: Bewußtsein, Erinnerung. Woher kam der plötzliche Gedanke an Christina? Ich hatte sie schreien gehört – vor wie langer Zeit? Ich quälte mein Gehirn. Sie befand sich in Gefahr. Einen Augenblick sah ich sie inmitten der kleinen Gestalten den Weg hinab zur Straße gehen. Und ich erinnerte mich an noch etwas, an Ralf und Paul am Waldrand. Oder war das nur ein Traum? Wo war ich? Ich saß im Halbdunkel. Durch ein offenes Fenster war der Dämmerhimmel zu sehen mit den ersten funkelnden Sternen. Ich kannte das Fenster. Ich erinnerte mich daran. Ich erhob mich und schaute hinaus. Ich erinnerte mich noch an andere Dinge, Dinge aus einem Alptraum. Stimmen, die flüsterten. Ich lauschte unwillkürlich. Aber alles um mich war still, totenstill. Dann erinnerte ich mich an die Frau, an Traude Großman, der ich begegnet war. War sie nicht tot? Ihre kalten Arme... Ich schauderte und fuhr herum. Aber niemand stand in der Düsternis des Raumes. Ich zitterte vor Erleichterung. Ein verstümmeltes Gesicht schwebte sekundenlang vor mir, aber nur ein Traumbild oder eine Erinnerung. Ich war allein. Viel ließ das spärliche Dämmerlicht nicht erkennen. Die Wände des kleinen Raumes schimmerten metallisch, aber nicht glatt, sondern wie ein kostbares Schmiedewerk. Ich berührte es zögernd. Es vibrierte leicht wie das Ticken zahlreicher Mechanismen. Dann hatte ich eine Vision. Das Metall wurde durchsichtig. Ich sah Myriaden von Rädern und Ankern und Hebeln, von Kolben, Achsen, Ketten, die sich 48
mit mechanischer Emsigkeit bewegten. Und ich sah schwache, glühende Punkte, die herumschwebten. Aber nirgends vermochte ich eine Art Antrieb zu erkennen, keine Federn wie bei Uhrwerken, keine elektrischen Leitungen, keine Gewichte. Auch erfüllten die Bewegungen keinen Zweck. Sie schienen allein um ihrer selbst willen zu geschehen. Zahnräder drehten sich, ohne in andere zu greifen, Ketten bewegten leere Achsen, Räder rasten in sinnloser Vergeudung von Kraft. Es strömte eine wahnsinnige Freude davon aus, die wie ein Funken auf mich übersprang. In diesem Augenblick barst die Stille, und ich hörte das Flüstern wieder, das hämische Lachen, die boshaften, unverständlichen Worte. Ich wich schreiend zurück. Einen Moment lang glaubte ich zu erkennen, was sie zischelten und nuschelten, worüber sie kicherten und glucksten. Ich glaubte zu erkennen, was diese irrsinnige Mechanik bewegte. Doch nichts außer Angst erfüllte meine chaotischen Gedanken. Dann war ich frei. Ich öffnete die Augen weit, um mich an der spärlichen Realität festzuklammern, um nicht wieder in den Alptraum zurückzusinken. Ich war sicher, noch einmal hätte ich es nicht ertragen, obwohl ich mich vergeblich daran zu erinnern versuchte, was mich so entsetzt hatte. Die seltsame, sinnlose Mechanik? Nein, sie war eher lächerlich als erschreckend. Überrascht erkannte ich, daß selbst der metallische Glanz der Wände verschwunden war. Ich blickte auf uralte Mauern und verblaßte Malerei. Als ich sie berührte, war Staub an meinen Fingern. Es roch nach Moder und Feuchtigkeit, nach langer Unbewohntheit. In der Stille vernahm ich nur ein leises Rascheln von Mäusen oder Ratten am Boden. Die morschen Bodenbretter knarrten unter meinen Schritten.
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Ich verspürte plötzlich Hunger. Meine Kehle war ausgetrocknet. Christina kam mir erneut in den Sinn. Ich war mit ihr in einem Restaurant in Salzburg gewesen und auf dem Weg zur Toilette. Dies war nicht das Restaurant, soviel war sicher, es sei denn, daß ich mich in irgendeine Dachstube verirrt hatte. Nein. Ich wußte es plötzlich wieder ganz deutlich: Christina war in Gefahr. Und Ralf und Paul waren in meiner Erinnerung. Aber es paßte alles nicht zusammen. Ich schaute aus dem Fenster. Die Gegend war einsam und dunkel. Erst in einiger Entfernung sah ich Lichter. Aber dunkle Hügel lagen dazwischen. Etwa einen halben Kilometer entfernt sah ich eine Straße zwischen den Bäumen. Unter mir begann ein schmaler Weg. Eine kleine Lichtung endete in etwa fünfzig Metern Entfernung. Ich mußte mich tatsächlich in einem Dachgeschoß befinden. Unter mir sah ich die verschlossenen Fensterläden von zwei Stockwerken. Nirgends brannte Licht. Wenigstens vermochte ich es von hier aus nicht zu erkennen. Das Haus sah aus wie eine der alten Villen, die man im Niederösterreichischen, besonders im Wiener Vorland, überall fand. Und plötzlich klickte es, als hätte ich von der Alptraummechanik meinen Teil gelernt. Ich war in Ohlheim, in der Villa, die Christina beschrieben hatte. Dann war das da unten die Bundesstraße, auf der das Furchtbare geschehen war. Dies schien mir durchaus möglich, wenn ich auch nicht verstand, wie ich hierherkam. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer – oh, doch, da waren vage Bilder, aber wie die Stimmen entschlüpften sie dem suchenden Verstand. Diese Alpträume, warum quälten sie mich? Wo waren Christina und Ralf und Paul? Hier würde ich keine Antwort finden.
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Und von selbst kamen meine Freunde nicht. Ich mußte etwas unternehmen. Ich schwankte ein wenig, als ich vom Fenster zurücktrat. Ich fühlte mich schwach und ausgelaugt. Es kostete mich große Willenskraft, auf die Tür zuzugehen, die sich am jenseitigen Ende des Zimmers befand. Ich ballte die Fäuste. Was mich auch in den Krallen hielt, ich war noch nicht frei. Es besaß noch immer Macht über mich. Es hielt mich wie mit klebrigen Fäden. Es war absurd. Da war eine Tür, und ich konnte sie nicht erreichen. Zum erstenmal kam es mir voll zu Bewußtsein: Ich war gefangen. Die Kraft war erstaunlich. Ich vermochte nichts Greifbares oder Sichtbares zu erkennen. Dennoch hielt mich etwas fest, wenn ich die Richtung auf die Tür zu nahm. Ich versuchte es ein paarmal mit äußerster Kraftanstrengung, hatte aber keinen Erfolg. Verwundert schüttelte ich den Kopf. Dann vernahm ich Schritte, die sich der Tür näherten. Ich zog mich mit angehaltenem Atem zum Fenster zurück. Die Tür wurde aufgestoßen und prallte knarrend gegen die Wand. Ein halbes Dutzend Gestalten quollen herein und kamen geschäftig auf mich zu. Sie waren nicht größer als Kinder, und ihr festgefrorenes Lächeln hatte sich mir bei der ersten Begegnung in meiner Wohnung deutlich genug eingeprägt. Sie waren meinetwegen hier, aber ich hatte eigene Pläne. Ich wandte mich um, bevor sie noch alle im Zimmer waren, rüttelte an einem der Fensterflügel und riß ihn aus den Angeln. Keinen Augenblick zu früh! Sie hatten mich fast erreicht. Ich schwang das Fenster gegen die ersten drei, die ihre Arme nach mir ausstreckten. Glas splitterte, aber die Scherben vermochten ihren Köpfen nichts anzuhaben. Der Rahmen brach. Die Wucht des Schlages raubte ihnen den Halt. Sie gingen zu Boden, als ich mit dem zerbrochenen Rahmen erneut 51
ausholte. Das Holz splitterte ebenfalls. Zwei kurze, spitze Stücke blieben in meinen Fäusten zurück. Ich schwang sie wild und sprang über die sich wieder hochrappelnden Gestalten hinweg. Diesmal hielt mich keine Barriere auf. Ich erreichte die Tür, aber zwei der kleinen Teufel hätten mich fast erwischt. Es war ihre Berührung, vor der mir am meisten graute. Mit dem längeren der beiden Holzstücke schlug ich zu, und es befriedigte mich tief, daß das kleine Monster mit einem knirschenden Laut zusammenzuckte. Dem zweiten stieß ich das Holz wie einen Dolch in den Leib, wo es auf etwas Hartes traf. Wiederum war ein Knirschen zu vernehmen, wie von Plastik und Metall, und der Kleine erstarrte mitten in der Bewegung und regte sich nicht mehr. Ich nahm mir nicht die Zeit, darüber verwundert zu sein. Ich sah, wie die anderen auf die Beine kamen. Hastig schlug ich die Tür zu und sah mich um. Ich befand mich in einem schmalen Korridor, der nicht weit vor mir in Treppen mündete. Da war eine Reihe von Türen links und rechts. Einen Moment quälte mich Neugier. Ich unterdrückte sie aber rasch, als ich Geräusche hinter mir hörte. Ich lief den Gang entlang und hielt bei der Treppe an. Es war düster hier. Eine kalte Helligkeit drang von unten herauf. Sie stieß mich ab. Ich schüttelte mich unwillkürlich. Aber mir blieb keine andere Wahl. Hinter mir barst die Tür. Ich eilte die Treppe hinab bis ins nächste Stockwerk. Dort hielt ich an. Hinter mir erscholl das Getrappel vieler Füße. Vor mir wurde die Helligkeit stärker, die Kälte intensiver. Sie mußte aus dem unteren Korridor kommen. Neben mir öffnete sich eine Tür. Mehrere Kindergestalten stürmten heraus. Mit zusammengebissenen Zähnen sprang ich, während ich mehrere Stufen auf einmal nahm, die Treppe hinab in die grelle Kälte. Der Schwung riß mich vorwärts, sonst wäre ich nach den ersten Schritten schreiend stehengeblieben. So aber fiel ich mehr als ich lief in den Gang hinein. 52
Überrascht hielt ich inne. Ich hatte die furchtbare Kälte und Helligkeit überwunden und stand im Dämmerlicht von Kerzen. Es war warm und still. Von irgendwoher kam eine monotone, beschwörende Stimme, doch ich verstand nicht, was sie sagte. Es klang wie ein Gebet. Es war die Stimme einer Frau. Dazwischen war ein leises Schluchzen zu vernehmen, aber ich konnte nicht erkennen, woher es kam. Meine geblendeten Augen begannen langsam wieder Eindrücke wahrzunehmen. Ich befand mich in einem großen Raum. Der Kerzenschimmer enthüllte nur die unmittelbare Umgebung. In der Düsternis dahinter schluckten schwere, dunkle Vorhänge an den Wänden fast alles Licht. Etwas befand sich vor mir, etwas, das ich nicht gleich erkannte. Zu sehr waren meine Gedanken in diesem Augenblick mit meinen Verfolgern beschäftigt. Ich wandte mich um und sah sie kaum zwei Meter hinter mir. Sie hatten angehalten und standen wie vor einer uns ichtbaren Wand. Ihre ewig lächelnden Gesichter blickten teilnahmslos. Sie warteten. Unwillkürlich wich ich einige Schritte vor ihnen zurück. Aber sie regten sich nicht. Irgend etwas hielt sie zurück. Ich wandte mich erneut den Kerzen zu und der Stimme, die irgendwo dahinter mit ihrer Litanei zu Ende kam. »Es ist soweit. Er ist hier. Sehen Sie gut zu. So wird es auch mit Ihnen geschehen, wenn meine emsigen Freunde nicht Erfolg haben.« Ein Schluchzen antwortete. Als ich erkannte, daß die Worte auch mich betrafen, war es bereits zu spät zur Abwehr. Alles geschah so überraschend, daß ich wie gelähmt stand. Weitere Kerzen leuchteten auf wie durch Zauberei – ich sah keine Hand und keine Flamme, die sie anzündete. Ihr Schein 53
fiel auf ein seltsames Gebilde, das ich bereits in der Dunkelheit undeutlich wahrgenommen hatte. Es war ein Mechanismus, roh und ohne Gehäuse. Das Metall schimmerte rötlich im Kerzenlicht, rötlich und drohend. Die Maschine regte sich nicht. Mit einiger Phantasie sah sie fast menschlich aus. Ich schüttelte verwirrt den Kopf und schob mich neugierig einen Schritt näher. Dann riß ich mich von dem merkwürdig beunruhigenden Anblick los, um zu erkennen, wer gesprochen hatte. Aber niemand zeigte sich, und der blendende Schein der Kerzen verbarg, was sich dahinter befinden mochte. Mich aber mußte man längst entdeckt haben. Die stille Maschine lenkte meine Aufmerksamkeit seltsam ab. Unbewußt spürte ich die Gefahr, aber meine Neugier war fast unerträglich. Ich mußte wissen, was es mit der Maschine auf sich hatte. Fast ohne daß es mir bewußt wurde, näherte ich mich ihr. Zu meinen Füßen sah ich zwei große konzentrische Kreise, die in weitem Bogen um die Maschine verliefen. Dazwischen waren seltsame Symbole eingezeichnet, beides mit einer hellen Farbe, die leic ht schimmerte. Erst schien es mir eine Ansammlung von mathematischen Symbolen, Winkelzeichen, Kreisen, Formelteilen zu sein, aber dann fühlte ich etwas Magisches davon ausströmen. Sie verschoben sich, je näher ich kam, und ich beobachtete diese Verwandlung fasziniert. Als ich über die Kreise stieg, wurden die hellen Symbole dunkel wie ein Filmnegativ, und die schwarzen Zwischenräume gewannen ein eigentümliches Leben. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Hand erscheinen und die Schwärze mit neuen Symbolen füllen, die fremd waren, die nichts mit Mechanik oder Mathematik zu tun hatten, die nichts mit irgend etwas Vorstellbarem zu tun hatten. Ich wich unwillkürlich davor zurück.
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Ein Lachen erklang, triumphierend. Undeutlich sah ich außerhalb der Kreise eine Gestalt stehen, die die Arme beschwörend erhoben hatte. Surren und Klicken ließen mich herumfahren. Die Maschine bewegte sich. Sie rollte auf mich zu, nicht sehr schnell. Rädchen bewegten sich an der Seite, die mir zugewandt war. Ich sah mit wachsendem Entsetzen, daß sie messerscharf waren. Sie surrten aggressiv, während mit leisem Klicken nadelspitze Stifte wie Krallen aus und ein glitten. Ungläubig wich ich dem mechanischen Ungeheuer aus. Ich hatte manches erwartet, aber nicht einen Roboter, eine Mordmaschine, die auf mich programmiert zu sein schien, denn sie folgte mir beharrlich und ohne Eile, als wäre sie ihres Opfers ganz sicher. Dann waren die Knirpse, die uns in meiner Wohnung aufgestöbert hatten, vermutlich auch irgendeine Art Roboter. Ihr stetes Lächeln und die starren Züge paßten nun ins Bild, auch daß sie keinen Schmerz empfanden und nicht bluteten. Sie waren Puppen, Roboter, kleine mechanische oder elektronische Mörder. Aber es ergab dennoch keinen Sinn. Es blieb auch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn ich machte eine teuflische Entdeckung. Ich war von unsichtbaren Wänden umgeben. Die Kreise waren wie eine Mauer, ein Gefängnis, aus dem ich nicht entwischen konnte. Auch schien es, als wäre die Maschine schneller geworden. Ich entkam ihr nur mit Mühe. Gehetzt sah ich mich um. Ich stemmte mich gegen die unsichtbaren Wände. Sie hätten ebensogut aus sichtbarem meterdicken Stahl sein können. Ich schlug mir nur die Fäuste blutig. Und diese Maschine verstand ihr Geschäft. Eine Weile folgte sie mir, während ich am Kreis entlang ging und verzweifelt 55
nach einem Ausweg suchte. Dabei glitt sie mir unmerklich näher. Nur eine rasche Kehrtbewegung brachte mich aus ihrer Reichweite, aber auch nur für einen Augenblick. Als ich den Trick wiederholen wollte, schnappten Arme aus und versperrten mir mit funkelnden Nadeln den Weg. Dabei glitt sie stetig näher. Es gab kein Entkommen mehr. Ich setzte alles auf eine Karte. Ich riß mein Hemd vom Körper, um meine Hände damit vor den Schneidrädern zu schützen, und warf mich mit aller Kraft gegen das kopfartige Ende der Maschine. Einen Augenblick sah es so aus, als könnte ich sie kippen, doch während ich mich gegen sie stemmte, surrten ihre Räder geschäftig durch die Fetzen meines Hemdes. Dann ließ ich schreiend los, als sich überall Nadeln in meinen Leib bohrten. Ich erstarrte. Der Schmerz währte nur einen Moment, dann kroch eine Taubheit in meine Haut, als wäre sie nicht meine. Ich sah, wie die Nadeln rot von Blut wurden, sah, wie sich die Messerräder hungrig meinem Körper näherten. Dumpf, weil ein Rauschen wie von einer Brandung in meinen Ohren tobte, hörte ich einen Aufschrei. Der Roboter hielt an. Die Nadeln glitten aus meinem Fleisch, während ich zurücksank. Die Wand, die mich einschloß, war plötzlich nicht mehr da. Ich fiel zu Boden und rollte aus dem Kreis. Undeutlich sah ich eine Frau, die halb auf den beiden Kreisen lag und verzweifelt damit beschäftigt war, die Zeichen auszulöschen. Eine zweite Gestalt beugte sich über sie und versuchte sie wegzureißen. Es dauerte eine Weile, bis ich auf die Beine kam. Meine Glieder waren gefühllos und wie Gummi. Ich warf mich auf die beiden Gestalten und mühte mich ab, die oberste von der unteren zu zerren, was sich als ungeheuer schwierig erwies. Aber schließlich hatte ich Erfolg.
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Mit einem zischenden Laut wich sie zurück. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn die Gestalt trug ein langes dunkles Gewand. Mit einem Wutschrei wich sie zurück. Das Gesicht war im tiefen Schatten eines Tuches oder einer Kapuze. Ich sah gar nichts davon. Ich war in diesem Moment auch nicht neugierig. Ich zog die Frau auf die Beine und riß sie mit mir in den hinteren Teil des großen Raumes. Sie schluchzte und keuchte, dabei klammerte sie sich wie eine Ertrinkende an mir fest. Das war ihr Glück, denn mit meinen gefühllosen Händen hätte ich sie nicht zu halten vermocht. Der Raum war plötzlich erfüllt von klickenden, scharrenden Lauten. Er wimmelte von kleinen Gestalten. Auf unsicheren Beinen erreichte ich die schweren Vorhänge am jenseitigen Ende des Raumes. Mit aller Gewalt riß ich daran. Die Frau ließ mich los und half mir, während sie ein panisches Schluchzen tapfer unterdrückte. Erst kam nur Wand zum Vorschein, schließlich auch ein Fenster, während uns die Verfolger fast erreicht hatten. Ich zerrte erneut, bis der Vorhang mitsamt den schweren Stangen herabkam. »Rasch, öffnen Sie das Fenster!« rief ich. Dann schleuderte ich den herankommenden Gestalten Vorhänge und Stangen entgegen, was sie kostbare Sekunden aufhielt. Sie hatten sogar außerordentliche Mühe, sich aus dem schweren Stoff zu befreien. Glas klirrte hinter mir. »Schnell, lieber Gott, nur schnell«, betete eine Stimme hinter mir. Wir fielen mehr als wir kletterten. Ich fluchte, als meine gefühllosen Beine unter mir nachgaben. Aber ich spürte auch keinen Schmerz. Die Frau half mir mit der Kraft der Verzweiflung auf die Beine. Dann humpelte ich hinter ihr her 57
auf den Waldrand zu. Wir hörten Türen, die aufflogen, und es klang, als ob ganze Scharen von Verfolgern sich auf den Weg machten. Wir nahmen uns nicht die Zeit, uns umzuschauen. *** Sie hieß Elsa Friedberg, war verheiratet und wohnte in St. Pölten. Soviel erfuhr ich während einer kurzen Verschnaufpause. Sie war mit Jürgen, ihrem Mann, auf der Heimfahrt gewesen, als etwas Schreckliches geschah. Die Rast war vorerst zu kurz für weitere Erklärungen. Die Verfolger blieben uns hartnäckig auf der Spur. Zudem kannten sie wohl das Gelände besser als wir – und wenn schon nicht sie selbst, so doch der, der ihre Robotergehirne lenkte. Als wir die Straße erreichten, kehrte das Gefühl in meine Glieder zurück. Die Betäubung ließ nach. An ihre Stelle trat der Schmerz. Brust und Schultern brannten wie Feuer von den Nadelstichen. Die Wunden hatten auch frisch zu bluten begonnen. »Schaffen Sie es noch?« fragte die Frau besorgt. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich es nicht schaffe«, erwiderte ich. »Das wird er«, stellte sie fest. Wir beschleunigten unser Tempo. Nach einer Weile dachten wir, wir hätten sie abgeschüttelt. Aber schon nach einem Augenblick hörten wir sie wieder hinter uns. Sie blieben unbeirrt auf unserer Spur. Erschöpft erreichten wir die ersten Häuser eines Ortes. »Das ist vermutlich Obergrafendorf«, erklärte sie. »Aber ich kenne diese Gegend zu wenig, um sicher zu sein. Haben Sie Geld?« Ich griff in die Taschen. Meine Brieftasche war da, und in ihr die gesamte Barschaft aus meiner Reservekasse. Verwundert schüttelte ich den Kopf. Ich konnte mich nicht erinnern, es 58
eingesteckt zu haben. Zudem nahm ich nie Barbeträge in solcher Höhe auf meine Fahrten mit. Im Augenblick war ich einigermaßen froh darüber. »Genug«, antwortete ich. Wir liefen zur Tankstelle und sahen einen Wagen. Der Fahrer stand draußen und verlangte gerade eine Reifendruckkontrolle. Meine Begleiterin hielt sich nicht erst mit Fragen auf. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein und öffnete die Hintertür. »Ein andermal«, rief ich und nahm dem Tankwart den Kompressor aus der Hand. Dann schob ich den protestierenden Wagenbesitzer in das Auto. »Wir sind auf der Flucht«, erklärte ich kurz. »Es geht um unser Leben.« Ich hielt ihm einen Fünfhunderter vor die Nase. »Wir müssen nach St. Pölten.« Ich schaute mich hastig um. Es war mir, als sähe ich die Kerle bereits an den dunklen Gassenmündungen. »Ganz schnell.« Ich sah auf den Zähler und drückte dem Tankwart zwei Hunderter in die Hand. »Wenn das so ist«, bemerkte der Fahrer, ein knöcherner Vierziger, und legte den Gang ein. Als die Tankstelle verschwand, sah ich, wie der Tankwart rasch in sein Büro lief. Gleich darauf huschten mehr als ein Dutzend Gestalten über die Straße. Mit einem Seufzer der Erleichterung sank ich in die Polsterung. Meine Begleiterin saß erschöpft auf dem Beifahrersitz. Der Fahrer blickte konzentriert auf die nachtdunkle Straße. Er stellte keine Fragen. Eine Viertelstunde später kamen die Lichter St. Pöltens in Sicht. »Wohin?« fragte er. Sie gab ihm ihre Adresse. Schweigend brachte er uns hin. Ich wollte ihm noch einen weiteren Schein in die Hand drücken, aber er winkte ab. »Sie ahnen nicht, wie sehr Sie uns geholfen haben«, sagte ich.
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»Vielleicht doch«, entgegnete er. »Ich bin aus der Gegend, und seit einem halben Jahr hört man Dinge...« Er brach ab. »Viel Glück«, fügte er hinzu und schloß die Türen. »Was wissen Sie?« drängte ich. »Was geht da draußen vor?« Er schüttelte den Kopf und erwiderte verschlossen: »Sie wissen mehr als ich.« Ich schaute ihm nach, als er die Straße hinabbrauste. Er hatte Angst. Meine Begleiterin zupfte mich am Arm. »Kommen Sie, Herr Kühlberg. Ich glaube, wir sind nicht allein. In meiner Wohnung ist Licht.« »Wer kann es sein?« fragte ich. »Jürgen vermutlich. Obwohl es mich wundert, daß er...« Sie brach ab und öffnete entschlossen die Haustür des Apartmenthauses. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er nach Hause gefahren ist.« Ich zuckte die Schultern. »Es ist wahrscheinlich Irrsinn, aber ich würde vorschlagen, daß wir vorsichtig sind.« Sie nickte. Wir lauschten an der Wohnungstür, und ich hätte vor Begeisterung beinahe gejubelt. Ich glaubte Christinas Stimme zu hören, und ich kannte auch die männliche, die ihr antwortete – Paul. Langsam bekam ich die ganze Geschichte zusammen. So wie Christina es schilderte, war ich von der Toilette nicht zurückgekommen. Sie hatte besorgt nach mir Ausschau gehalten und vom Kellner erfahren, daß ich das Restaurant bereits verlassen hatte. Sie verstand das nicht. Gleich darauf war Paul, wie verabredet, aufgetaucht. Sie waren sofort zu meiner Wohnung gefahren und hatten mich dort mit drei der kindlichen Gestalten abfahren gesehen. Als sie bemerkten, daß es Richtung Autobahn ging, riefen sie Ralf an. Christina beschrieb ihm den Weg nach Ohlheim. Sie zweifelten nicht, daß ich dahin fahren würde. 60
Sie holten mich wieder ein, als eine Polizeistreife meinen Wagen angehalten hatte. Danach blieben sie dicht hinter uns bis zur Abzweigung zur Villa. Dort schlich Paul zum Haus, während Christina auf Ralf warten sollte. Paul konnte an der alten Villa nicht viel entdecken. Als er jedoch zum Wagen zurückkam, war Christina verschwunden. Als er mehrere der ›Kinder‹, wie er sie nannte, in der Nähe des Wagens zwischen den Bäumen entdeckte, wurde ihm klar, was geschehen war. Er hielt sich verborgen und hoffte, daß er Ralf rechtzeitig warnen konnte. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn Ralf hatte sich verfahren. Als er schließlich kam, gelang es Paul, in den Wagen zu springen, bevor die kleinen Teufel ihn aufhalten konnten. Sie machten einen Umweg und schlichen schließlich von Westen her an die Villa heran. Ralf schoß einige Bilder, aber es war schon recht schwierig in der Dämmerung. Dann glaubten sie mich entdeckt zu haben, und zwar am Giebelfenster. Da ich ihr Winken nicht erwiderte, konnten sie nicht sicher sein, ob auch ich sie bemerkt hatte. Während sie noch unentschlossen überlegten, was sie unternehmen sollten, wurde Christina ins Freie gebracht. Sie wehrte sich anfänglich, wurde dann aber ruhig und ging wie in Trance mit sechs ›Kindern‹ zur Straße hinab. Als weitere der seltsamen ›Kinder‹ auftauchten, zogen Ralf und Paul sich in den Wald zurück und folgten Christina in einiger Entfernung. Sie erkannten bald darauf, was geschehen würde: Christina sollte auf die gleiche Art umgebracht werden wie ihre Schwester. Da ließen sie alle Vorsicht außer acht und stürmten dazwischen. Das Mordfahrzeug sollte der Wagen der Friedbergs sein. Es gelang Ralf, Christina von der Fahrbahn zu stoßen. Dafür erfaßte der Wagen zwei der kleinen Ungeheuer.
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Eines wurde völlig verstümmelt, da es sich an der Karosserie verfangen hatte und mitgeschleift wurde. Die übrigen stürzen sich auf Ralf und Paul, die sich mit Stöcken und Ästen zur Wehr setzten. Einen Augenblick später kam Friedberg hinzu, der noch halb im Schock aus dem Wagen gesprungen war, um nach dem vermeintlichen Jungen zu sehen, den er überfahren hatte. Was er jedoch erblickte, ließ ihn augenblicklich Partei für Ralf und Paul ergreifen. Gemeinsam gelang es ihnen, Christina in den Wagen zu schaffen. Dort aber mußten sie erkennen, daß Elsa, die Frau Friedbergs, verschwunden war. Und sie sahen eilige Gestalten zwischen den Bäumen verschwinden. Nur mühsam vermochten sie Friedberg davon abzuhalten, hinterherzustürmen. Sie hatten ja inzwischen erkannt, daß sie allein wenig auszurichten vermochten. So wurde in aller Eile beschlossen, daß Paul Christina in Sicherheit bringen sollte, am besten in die Wohnung der Friedbergs, während Ralf und Friedberg polizeiliche Unterstützung holen wollten. So standen die Dinge. Und sie ergaben immer noch keinen Sinn. Auch wir berichteten, was wir in der Zwischenzeit erlebt hatten. Doch das Bild wurde nicht klarer. Es lag auch daran, daß zu viele Dinge einfach zu vage in meinen Erinnerungen waren. Ich wußte, daß ich Traude Großman gesehen hatte. Aber wie es dazu gekommen war, oder was dann geschehen war, das fehlte in meinem Gedächtnis. Ich wußte nicht einmal, wie ich nach Ohlheim gekommen war. Ich mußte Pauls Bericht glauben, so schwer es mir auch fiel. Auch Elsa Friedberg wußte wenig. Das einzige, woran sie sich erinnerte, war diese seltsame Frau, die ihr immer wieder drohte.
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Als ich mich dann in dem Kreis befand und die mörderische Maschine mich in die Mangel nahm, da hatte sie gesehen, wie diese unheimliche Frau mich mit zwei bestimmten Zeichen, die sie im Kreis auf den Boden malte, eingeschlossen hatte. Sie war nicht abergläubisch, aber sie dachte in diesem Augenblick an Hexen und Beschwörungen und Bannkreise und geheimnisvolle Formeln, von denen sie manchmal als kleines Mädchen gelesen hatte. Und sie handelte instinktiv, bevor der Verstand es als Aberglauben abtun konnte. Sie stürzte sich auf den Kreis, um die magischen Zeichen auszulöschen. Und ich war frei. »Diese Hexe, von der ihr redet«, meinte Paul, »weshalb...?« »Wir sollten sie nicht als Hexe bezeichnen«, wandte ich ein. »Zum Schluß glauben wir auch noch daran. Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt eine Frau ist.« »Der Stimme nach ja«, warf Elsa Friedberg ein. Ich nickte zustimmend. »Aber ich konnte nicht einmal ein Gesicht erkennen.« »Ich auch nicht«, stimmte Elsa zu. »Es lag immer im Schatten dieser Kapuze.« In das Schweigen meinte Paul sarkastisch: »Vielleicht wollte euch nur jemand glauben machen, daß ihr es mit einer Hexe zu tun habt. Vielleicht dient der ganze Hokuspokus nur dazu, etwas zu verschleiern.« Am Schluß klang es gar nicht mehr sarkastisch, aber wir ließen uns von dem Gedanken nicht anstecken. Christina konnte sich an ihren Aufenthalt im Haus nur wenig erinnern. Diese ›Hexe‹ hatte sie nicht gesehen. Ich verschwieg ihr die seltsame Erscheinung ihrer Schwester, um ihr das Herz nicht wieder schwerzumachen. Ich drückte zuversichtlich ihre Hand. Zuversicht hatte ich auch dringend nötig. Ich redete sie mir ein, so gut es ging.
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Die Frage war: Was sollten wir unternehmen? Das Warten auf Ralf und Jürgen Friedberg war quälend. Christina wollte wenigstens für kurze Zeit nach Hause, um sich endlich umzukle iden. Ich konnte sie jedoch überreden, zu bleiben, bis wir Nachricht von Ralf und Jürgen hatten. Erst gegen elf läutete das Telefon. Es war Jürgen. Seine Stimme klang müde und verzweifelt. Das verflog aber augenblicklich, als Paul ihm berichtete, daß seine Frau wohlbehalten nach Hause gekommen war. Er würde in einer halben Stunde hier sein. Die Polizei hatte auch Christinas Wagen sichergestellt. Das waren Neuigkeiten, die unsere Stimmung gewaltig hoben. *** Was Ralf und Herr Friedberg zu berichten hatten, war verblüffend. Es war nicht leicht gewesen, polizeiliche Unterstützung aufzutreiben. Samstagabend und die etwas unglaubwürdige Geschichte waren in der Hauptsache daran schuld. Aber schließlich kam ein St. Pöltener Streifenwagen nach Obergrafendorf. Gemeinsam fuhren sie zurück zur Villa. Dort war es seltsam still. Die vier Polizisten waren recht skeptisch, vor allem als sie sahen, daß es sich um die Villa handelte, über die sich die Anwohner allerlei dunkle Geschichten erzählten. Sie stand seit Jahren leer und blieb auch unbewohnt, als vor nicht ganz zwei Jahren ein Wiener Schriftsteller namens Großman sie kaufte. Allgemein glaubte man, daß sich der exzentrische Künstler mit dem Kauf übernommen habe. Man munkelte allerlei über nicht ganz geheure Vorgänge, nahm das aber nicht allzu ernst, vor allem, weil oft Kinder dort gesehen worden waren.
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Die romantische alte Villa war zwar verschlossen, aber auch die Umgegend bot genügend Anreiz für Kinder, sich dort herumzutreiben. Und wo sich Kinder aufhielten, konnten nicht gut schauerliche Dinge vor sich gehen. Die Beamten weigerten sich erst, in das Haus einzudringen, da es über ihre Befugnis hinausging. Aber da in der unmittelbaren Umgebung zwei Menschen verschwunden waren, nämlich Frau Friedberg und ich, und da eine Menge Spuren selbst im spärlichen Licht der Taschenlampen darauf hindeuteten, daß sich hier noch vor kurzem jemand aufgehalten hatte, ließen sie sich zu einer näheren Untersuchung überreden. Sie entdeckten auch bald ein zerbrochenes Fenster, durch das sie einstiegen. Aber außer gewaltsam herabgerissenen Vorhängen im Erdgeschoß und einem weiteren zerbrochenen Fenster im Dachgeschoß fanden sie nichts. Die Beschädigungen mochten von Einbrechern herrühren. Diese Einbruchschäden wurden gemeldet. Aber sonst war nichts Verdächtiges zu bemerken, obwohl sie alle Räume einschließlich des Kellers durchsuchten. Es gab keinen Hinweis, daß die verschwundenen Personen oder ihre möglichen Entführer hiergewesen waren. So verschlossen sie die Fensterläden und legten Ralf und Jürgen nahe, eine offizielle Anzeige zu erstatten, was sich dann erübrigte, nachdem sie erfuhren, daß wir lebten und wohlbehalten waren. Ralf unterließ es klugerweise, die noch phantastischeren Umstände der Entführung zu erwähnen. Wir wußten also nicht mehr als vorher, und wir waren wieder auf uns allein gestellt. Es galt zu überlegen, was wir als nächstes tun konnten. Einmal mußten wir klären, was Großman mit der Sache zu tun hatte. Daß er von nichts wußte, schien mir immer unwahrscheinlicher. Dann mußten wir herausfinden, wohin unsere ›Hexe‹ mit ihrem Gefolge verschwunden war. Wenn sie 65
mich in Salzburg nicht in Ruhe gelassen hatten, würden sie es jetzt um so weniger tun, da ich eine ganze Menge mehr wußte oder zumindest gesehen hatte. Auch blieb immer noch eine Tatsache ungeklärt, vor der wir nicht weglaufen konnten: Traude Großmans Tod. Ralf hatte zwar Pauls Wagen mitgebracht, aber meiner befand sich mit größter Wahrscheinlichkeit noch irgendwo in der Nähe der Villa. Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als mich noch einmal dort hinauszuwagen, so wenig es mir auch gefiel. Wir verließen die Friedbergs, beschlossen aber während des kommenden Tages in Verbindung zu bleiben. Dann fuhren wir zu Christinas Wohnung, wo wir die Nacht über bleiben wollten. Sie behauptete, Platz genug für uns zu haben, und wie sich herausstellte, übertrieb sie nicht. Wir hatten bei Friedbergs noch versucht, Großman in Wien anzurufen, aber niemanden erreicht. Seine Verwicklung in die Angelegenheit verursachte mir mehr Unbehagen, als ich mir eingestehen wollte. Der Grund dafür waren Großmans Schriften, speziell die ›Philosophie der schlafenden Kräfte‹, ein dünner Band, der sich mit möglichen Energieformen auseinandersetzt und mit der menschlichen Anpassung in moralischen, seelischen, biologischen und physikalischen Aspekten. Selbst die utopischsten seiner Spekulationen entbehrten nicht der Faszination. Am wenigsten verdaulich, um nicht zu sagen am erschreckendsten, war sein Ausflug in den okkulten Bereich, ein Kapitel, das er ›Mechanische Magie‹ betitelte. Mir waren keine Details mehr erinnerlich, aber der Kernpunkt der Sache war wohl das Prinzip der Beherrschung der Materie durch den Geist, das seine Realisierung im Zusammenwirken von Geist und Maschine fände. Es gäbe, so Großman, Wege, den Geist an die Materie zu binden im
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Augenblick des Sterbens, was einer begrenzten Unsterblichkeit gleichkäme. Unsterblichkeit, dachte ich besitzt eine ungeheure Attraktivität. Wenn es wahrhaft jemandem gelang, den Geist an weniger vergängliche Dinge zu ketten, als es der menschliche Körper war... Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er war zu phantastisch. Der kritischere Geist mußte ihm entgegenhalten, daß Denken und Erinnerung Vorgänge auf biologischer Basis waren – hervorgerufen durch Zellen, Speicherstoffe, bioelektrische Felder und Impulse. Und daß okkulte Aspekte eine Sache des Glaubens waren. Es klang alles sehr wissenschaftlich, wie Großman es darbrachte. Aber was mich nicht mehr losließ, war diese Kapitelüberschrift: Mechanische Magie. Mir war nicht ganz klar, was ich mir eigentlich darunter vorstellte. Aber sie faßte seltsam konkret zusammen, was wir seit heute nacht erlebt hatten. Maschinen, Mechanismen, Roboter, Puppen, die sich auf magisch perfekte Weise bewegt hatten. Dazu dieser Bannkreis mit den Symbolen, etwas, das wie eine aufgeputzte mittelalterliche Teufelsbeschwörung anmutete. Dann diese Traumbilder von Uhrwerken und Mechanismen, die ohne Funktion zu sein schienen und sich doch bewegten, sinnlos, geistlos... Geistlos? Ich schüttelte den Kopf. Meine Überlegungen drohten ins Absurde abzugleiten. Aber Großman war in die Sache verwickelt. Wenn nicht Magie, dann vielleicht doch Wissenschaft? Hatte er experimentiert in diesem verlassenen Haus? War es möglich, daß er in einem Augenblick wahnsinniger Genialität einen Weg gefunden hatte, den menschlichen Geist auf Materie zu
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übertragen? Waren diese ›Kinder‹, diese Puppen, seine ersten gelungenen Versuche? Ich schauderte unwillkürlich. War Großman diese geheimnisvolle Gestalt mit der weiblich klingenden Stimme, deren Gesicht wir nicht zu erkennen vermochten? Aber weshalb hätte er seine Frau töten sollen? Er hatte sie gerade erst geheiratet. Oder hatten sich seine Geschöpfe so wie Frankensteins Monster selbständig gemacht? Ich zwang mich, an andere Dinge zu denken. Grübeln hatte wenig Sinn. Dazu gab es nicht genügend Fakten. Während Ralf im Badezimmer die Filme entwickelte – er hatte Geräte und Chemikalien wie fast immer im Wagen dabei – gelang es mir, Christina ein wenig aufzuheitern. Geräusche weckten mich, leises Klicken. In der Dunkelheit sah ich undeutlich eine Silhouette vor der vagen Helligkeit des Fensters – Ralf, der ebenfalls aufgewacht war und sich aufgesetzt hatte. Die Leuchtzeiger des Weckers neben meinem Lager zeigten kurz vor drei Uhr an. Das Klicken kam von der Tür her. Jemand machte sich daran zu schaffen. »Weck Paul und das Mädchen«, flüsterte Ralf und erhob sich leise. Ich tastete hinüber zum Sofa und rüttelte Paul leicht. Er fuhr hoch. »Schschsch«, zischte ich warnend. »Jemand ist an der Tür. Es könnte Ärger geben. Zieh dich an.« Ich schlüpfte selbst hastig in Hemd und Hose und öffnete vorsichtig Christinas Schlafzimmer. Sie schlief so fest, daß ich sie mehrmals schütteln mußte, bevor sie begriff. Sie wollte das Licht einschalten, aber ich nahm ihre Hand. »Rasch, zieh dich an, wir kriegen Besuch. Leise.«
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Sie stellte keine Fragen. Vermutlich hatte sie den gleichen Verdacht wie ich. Die Mordpuppen statteten uns einen Besuch ab. Draußen flammte Licht auf, und ich hörte Ralfs erstaunten Ausruf. Vor uns stand niemand anderer als Traude Großman. Ihr hübsches Gesicht war ohne Makel, es gab keine Wunden oder Narben. Ihr Kleid und eine leichte Jacke waren ohne Schaden. Ich schaute sie sprachlos an und bemühte mich, den Umstand zu verdauen, daß sie völlig unverletzt vor uns stand. Sie nickte uns grüßend zu. Christina war plötzlich neben mir und lief mit einem halb geschluchzten Freudenlaut auf sie zu und nahm sie in die Arme. Traude ließ das über sich ergehen. Dann schob sie ihre Schwester von sich, als wäre es ihr peinlich vor so vielen Beobachtern, die sie noch dazu wie ein Wunder anstaunten. Sie sagte: »Hallo, Christl. Wer sind die Herren?« »Freunde«, flüsterte Christina. »Mein Gott, ich bin so froh, daß du lebst, Traude.« »Lebst?« fragte Traude Großman verwundert. Christina gab ihre Schwester frei und sah sie erstaunt an. »Woher kommst du?« Sie blickte auf die Uhr an der Wand. »Um diese Zeit?« Sie erschien mir plötzlich merklich abgekühlt. »Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Freust du dich nicht, daß ich hier bin?« »Doch«, sagte Christina hastig. Sie kam auf mich zu und ergriff mich am Arm. Dann stellte sie uns vor. Frau Großman begrüßte uns kühl. Möglicherweise war sie nicht sehr erfreut, ihre Schwester mit drei halbnackten Männern vorzufinden. Sie erklärte auch gleich, daß sie sehr müde sei, und Christina beeilte sich, ihr Bett zu räumen und es ihrer Schwester anzubieten, die sich gleich zurückzog. Wir sahen ihr ein wenig verblüfft nach. 69
»Und du?« fragte ich Christina, »wo willst du jetzt schlafen?« Sie hielt noch immer meinen Arm umklammert. »Mir ist nicht mehr nach Schlafen«, erwiderte sie. »Ich habe Angst.« »Angst?« entfuhr es mir. Sie legte warnend den Finger an die Lippen. Ich spürte, daß sie zitterte. »Wovor noch?« fragte ich flüsternd. »Jetzt, wo wir wissen, daß ihr nichts geschehen ist.« Sie schüttelte den Kopf. Dann gab sie meinen Arm frei und holte aus einem Schrank Papier und Kugelschreiber. Sie schrieb: »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, diese Frau ist nicht meine Schwester.« Wir sahen sie groß an. Sie schrieb: »Sie sieht so aus wie Traude. Aber ich habe sie berührt. Sie ist eiskalt. Ich weiß, daß meine Schwester tot ist. Ich habe selbst gesehen, wie sie starb. Selbst wenn das wirklich meine Schwester wäre, ginge es nicht mit rechten Dingen zu.« Sie hielt uns das Blatt entgegen. Paul schrieb: »Gehen wir davon aus, daß sie recht hat. Wer könnte dann die Frau sein?« Ich strich das Wer durch und schrieb: »Was.« Ralf nickte nachdenklich. »Du meinst, eine Puppe wie die Kleinen?« »Es sieht so aus.« »Sie wirkt aber wesentlich lebendiger. Sie spricht, und sie hat nicht dieses dämliche Lächeln.« »Besseres Modell.« »Was tun wir nur?« schrieb Christina bleich. »Uns zwanglos unterhalten, damit sie keinen Verdacht schöpft«, schlug ich schriftlich vor. Gleichzeitig brachte ich ein Gespräch in Gang, das sich um Traude Großman drehte. Das war am wenigsten verdächtig. Es gelang recht gut, und Christina übernahm in der Hauptsache das Reden, indem sie uns manches über ihre Schwester erzählte, von Gewohnheiten, 70
gemeinsamen Erlebnissen und dergleichen. So blieb uns Zeit zu überlegen. Gelegentlich warf einer eine Frage ein. Im Nebenzimmer rührte sich nichts. Was immer dort lag, mußte deutlich hören, was wir sagten. Wenn unsere Vermutung stimmte, dann schlief dieses Etwas nicht, sondern lauschte und wartete. Worauf? Daß wir einschliefen? Oder waren unsere mysteriösen Gegner nicht mehr auf unser Leben aus? Wollten sie uns täuschen, um die ganze Sache zu vertuschen? Kein unlogischer Gedanke. Von allen Dingen mußte der Mord der Motor für unser Handeln sein. Wenn wir aber das Mordopfer lebendig vor uns sahen, gab es keinen Grund, warum wir die Sache nicht auf sich beruhen lassen sollten – um so mehr, als sie ohnehin alles andere als glaubwürdig war. Wir fuhren herum, als sich die Tür öffnete und Traude in einem gelben Neglige vor uns stand. Ich beobachtete ihre Augen, ihre Miene. Mir fiel nichts auf, außer ihrer Distanziertheit. Sie sagte: »Christl, wäre es möglich, da du ohnehin nicht müde zu sein scheinst, daß du Kurt anrufst und ihm sagst, daß ich bei dir bin.« »Jetzt?« fragte Christina erstaunt. »Es ist halb vier.« »Eben. Da ist er am sichersten zu Hause.« Sie nickte uns flüchtig zu und schloß die Tür wieder. Ich schaute Christina an. »Ich werde dich begleiten«, erklärte ich und warf Ralf und Paul einen warnenden Blick zu, der ihnen sagte, daß sie die Augen offenhalten sollten. Als wir aus dem Haus kamen, fühlte ich mich erst sehr unsicher. Ich konnte mich nicht von dem Gedanken losreißen, daß das alles ein Trick war, um Christina in die Gewalt zu bekommen. Vielleicht lauerten ein paar von den Mordpuppen
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in der Nähe, um auf uns loszuspringen. Es hätte kaum jemand bemerkt, selbst wenn es nicht ohne Lärm abgegangen wäre. Auch Christina schien sich dieser Tatsache bewußt zu sein, denn sie hielt meinen Arm fest umklammert. Aber nichts löste sich aus dem dunklen Schatten der Häuser. Ich wollte zum Wagen, aber sie zog mich die nachtdunkle Straße entlang. »Wir gehen in meine Boutique. Es ist nicht weit.« Ich nickte. Der Gedanke, in einer beleuchteten Telefonzelle zu stehen, hatte mir gar nicht gefallen. Die Straßen waren menschenleer. Zehn Minuten später sperrte Christina hastig die Gittertür ihres Ladens auf. Er war nicht groß, aber er besaß zwei kleine Hinterräume, die durch Vorhänge abgetrennt waren. In einem befand sich auch das Telefon. Christina schloß die Vorhänge sorgfältig und machte Licht. Dann wählte sie mit zitternden Fingern Großmans Nummer. Ich erwartete nicht, daß sie ihn erreichte. Es meldete sich niemand. Nach einer Weile legte sie auf, fast erleichtert. »Glaubst du, daß er etwas damit zu tun hat?« fragte sie. Ich zuckte die Schultern. »Es sieht so aus, da ihm die Villa gehört.« »Er ist ziemlich exzentrisch, weißt du.« »Reich?« »Könnte man sagen. Aber er macht sich nicht viel aus Geld. Das war es wenigstens, was Traude mir erzählte.« »Wußtest du nicht von der Villa in Ohlheim oder Obergrafendorf?« »Nein. Und ich glaube, Traude auch nicht. Sie hat es nie erwähnt. Das wundert mich etwas, denn sie wollte nie in Wien leben. Sie hatte immer vor, in dieser Gegend zu bleiben.« Sie lächelte. »Im Gegensatz zu mir. Ich finde es hier trostlos. Und wenn nicht der Laden wäre...« Sie brach ab. 72
»Bist du ganz sicher, ich meine, was unsere Besucherin betrifft?« Sie nickte heftig. »Du hast sie doch auch sterben sehen«, sagte sie fast aufgebracht. »Das habe ich«, stimmte ich beschwichtigend zu. »Aber ich habe in den letzten vierundzwanzig Stunden eine ganze Menge gesehen, das mir nicht geheuer war.« Sie senkte den Kopf. »Du hast recht, Fritz«, erwiderte sie seufzend und kam in meine Arme. Ich küßte sie. Nach einem Augenblick sagte sie: »Nein, ich bin nicht ganz sicher. Ich bin zu verwirrt. Nur eines weiß ich sicher: Ich bin froh, daß du hier bist.« »Das ist immerhin etwas«, stellte ich mit einem aufmunternden Grinsen fest. Sie nickte, aber ihre Gedanken waren woanders. Sie ließ mich los und flüsterte: »Ihre Haut, sie war so kalt, wie bei einer Toten.« Sie faßte sich und sah mich mit einem halben Lächeln an. »Ich wünschte so sehr, sie würde leben. Ich wäre die erste, die es glauben wollte. Aber die Erinnerung an die Berührung läßt mich schaudern.« Ich nahm beruhigend ihre Hand. »Wir werden sie uns genauer ansehen. Komm, wir gehen zurück.« »Es ist gefährlich.« »Wir sind zu viert. Wenn wir jetzt nicht mit ihr fertig werden, dann haben wir auch später keine Chance.« »Aber was können wir tun, wenn sie wirklich...« »Wenn du recht hast?« Sie nickte. »Das hängt davon ab, was wir herausfinden«, sagte ich hart. Meine Entschlossenheit schien ihr Zuversicht zu geben. Auf dem Rückweg raste ein Feuerwehrwagen mit eingeschaltetem Warnlicht, doch ohne Sirene, an uns vorüber. Wir sahen uns verwundert um. Nirgends war Feuerschein am Horizont zu sehen. 73
Als wir zurückkamen, hatte sich nichts verändert. Ralf und Paul waren wach. »Wir werden sie uns ansehen«, erklärte ich leise. »Es mag nicht ungefährlich sein. Vielleicht müssen wir sie außer Gefecht setzen. Sie könnte kräftiger sein, als sie aussieht. Zögert nicht.« Sie nickten. Ich öffnete vorsichtig die Tür und winkte den anderen zu warten. Dann knipste ich das Licht an und schaute verblüfft auf das leere Bett. Ich fuhr herum und sah Traude auf einem Hocker vor dem Spiegel sitzen. Sie hörte mich nicht. Sie war offenbar im Sitzen eingeschlafen. Ich ging vorsichtig zu ihr. Sie saß aufrecht und hatte die Augen geschlossen. Ihre nackten Arme hoben sich schneeweiß vom Gelb des Nachtgewandes ab. Ihr Nacken war ebenso weiß. Ihr Gesicht war geschminkt. Dann hielt ich unwillkürlich den Atem an, denn ich sah, daß sie tot war. Sie atmete nicht. Ich berührte vorsichtig ihren Arm, spürte die Kälte des Todes, als wäre sie vor Stunden schon gestorben. Da ließ mich etwas aufblicken und instinktiv zurückweichen. Ihre Augen hatten sich geöffnet. Sie starrten mich mit einer Kälte an, die mein Rückgrat in Eis verwandelte. Sie waren tot und doch lebendig. Sie waren gebrochen, und dennoch blickte etwas durch sie hindurch. Ein leises Geräusch erfüllte die Stille, ein Surren, kaum vernehmlich. Mit einemmal begann ihre Brust sich zu heben und zu senken unter regelmäßigen Atemzügen. Ihr Kopf drehte sich zur Tür, bedächtig. Christina und die beiden Männer standen dort und beobachteten sie stumm. Es war nicht klar, ob sie die gespenstischen Umstände mitbekommen hatten. Aber ich wußte eines mit Gewißheit. Wir hatten keinen lebenden Menschen vor uns. 74
»Hast du Kurt erreicht, Schwester?« fragte dieses Geschöpf. In meinen Ohren klang es teilnahmslos. »Nein, Traude«, antwortete Christina zögernd. Ich griff nach dem weißen Arm, der sic h mir rasch entzog. »Rühren Sie mich nicht an.« Noch immer klang die Stimme ohne wirkliche Regung. »Wer bist du?« fragte ich fest. Die kalten Augen bohrten sich in meine. »Traude Großman.« »Nein«, sagte ich. »Ich bin Traude Großman. Es ist die Wahrheit.« »Nein, Frau Großman ist tot.« »Es ist nicht die ganze Wahrheit. Aber sie muß genügen. Ich bin Traude Großman. Wer es in Frage stellt, wird sterben. Du, Christl, wirst die erste sein.« Christina kam herein. Ralf versuchte sie zurückzuhalten, aber sie löste sich fast unwillig aus seinem Griff. »Wenn es nur wahr wäre, Traude«, sagte sie. »Ich wünschte mir nichts mehr, als daß du lebst.« »Ich lebe«, erwiderte die Gestalt, und einen Augenblick war es, als schmelze das Eis in ihren Augen. »Sagt es Kurt. Sagt es allen, die danach fragen. Bezeugt es, bei eurem Leben.« Sie erhob sich. »Geht.« Meine Gefühle waren ein Gemisch von instinktiver Angst und Mitleid. »Wenn Sie Frau Großman sind«, sagte ich, »so ist etwas mit Ihnen geschehen. Was?« »Nichts ist geschehen.« »Sie hatten einen Unfall.« »Ich erinnere mich nicht.« »Sie sind tot.« Ich hielt den Atem an, gespannt, wie sie reagieren würde. »Sehe ich so aus?« »Ja«, sagte ich impulsiv. 75
Die kalten Augen musterten mich durchdringend. »Sie sind überzeugt.« »Ja.« »So will ich Ihnen zeigen, wie ich aussähe, wenn ich tot wäre.« Fasziniert blickte ich auf ihre Haut, die sich grau färbte. Wunden klafften auf in ihrem Gesicht und deutlich sichtbar unter dem Neglige. Ein Geruch von Verwesung war plötzlich im Zimmer, und ich hielt vo ll Ekel die Luft an. Christina schrie unterdrückt auf. Traude sagte ungerührt: »Wenn ich also tot wäre, hätten Sie mich umgebracht, Fritz Kühlberg. Da wir aber beide wissen, daß ich lebe, ist es um der Wahrheit willen wichtig, diesen Traum zu vergessen.« Ihre Wunden verschwanden wie durch Zauberei. Ich fragte mich, ob alles nur Illusion war. Ihre Haut wurde weiß und makellos. Nur der Leichengeruch war noch im Raum und erinnerte an den grauenvollen Anblick. »Ich glaube nicht gern etwas gegen meinen Willen«, erklärte ich langsam und nachdrücklich. »Wenn ich mich dazu breitschlagen lasse, so will ich die ganze Wahrheit wissen.« »Es gibt Geheimnisse, die nur der Tod enthüllt«, erwiderte sie. »Geheimnisse, die nur für den sind, der an meiner Seite wandelt.« Ich schauderte. Ich verstand, was sie sagen wollte. Wenn ich es auf mich nahm, ihresgleichen zu werden, würde mir dieses Geheimnis offen sein. Aber das war nicht nach meinem Geschmack. Trotzdem mußten wir die Wahrheit erfahren. Ich warf mich auf sie. So rasch und so unvermutet es auch geschah, sie reagierte wie ein Automat. Ihre Hände kamen hoch und wehrten mich mit einem schmerzhaften Stoß gegen die Brust ab. Mit einem Aufschrei taumelte ich zur Seite. Ich hatte das Gefühl, zwei 76
Schmiedehämmer hätten mich erwischt. Ich stürzte, aber meine Hände hielten sich an ihrem Gewand fest und rissen es von ihrem Körper. Undeutlich bekam ich mit, daß auch die anderen eingegriffen hatten. Ich hörte Paul aufschreien, dann war ich wieder auf den Beinen und umklammerte die nackte Gestalt von hinten und preßte das kalte Fleisch zusammen, während Ralf die Beine unter ihr wegzureißen versuchte. Sie schien Muskeln aus Eisen zu haben. Ihre Arme öffneten sich und sprengten meinen Griff trotz aller Kraft, mit der ich sie hielt. Gleichzeitig traten ihre Beine zu, und Ralf flog durch das halbe Zimmer. Dann stand sie wie eine Amazone unter uns, nackt und makellos und unüberwindbar. Ich rollte mich unter sie. Sie verlor den Halt und stürzte. Während des Sturzes schlug sie mit einem Arm nach mir. Ich rutschte zur Seite. Ihr Arm erwischte ein Stück des Bettgestelles. Holz splitterte wie unter einem Karateschlag. Ein scharrendes Geräusch kam aus ihrem Mund, ein klangloses mechanisches Rasseln, das mir die Gänsehaut über den Rücken trieb. Ich glitt aus ihrer Reichweite. Mit ruckartigen Bewegungen kam sie auf die Beine. Mehr denn je wirkte sie wie eine Roboterpuppe. »Wir werden nicht mit ihr fertig«, rief Ralf hinter mir. Paul rappelte sich benommen auf, während Christina angstvoll zurückwich. Traude kam hoch und blickte um sich. Ihr Kopf drehte sich hin und her wie eine Radarantenne, und fast vermeinte ich das Surren des Mechanismus zu hören. Ich sah, wie sich die Haut am Hals unelastisch wölbte, als der Kopf sich ganz mir zudrehte. Die Augen waren nicht länger kalt. Sie blinkten und 77
funkelten gläsern. Es sah aus wie Mordlust, und ich begann ebenfalls zurückzuweichen. Sie kam auf uns zu. »Zurück!« rief ich. »Raus hier! Wir brauchen Hilfe!« Ich drängte Ralf und den noch immer benommenen Paul, dem Blut aus einer Stirnwunde floß, durch die Tür und schloß sie hinter mir, bevor Traude heran war. Es steckte kein Schlüssel. So hielt ich die Klinke mit aller Kraft zu und winkte den anderen, zu verschwinden. Christina blieb zögernd in der Wohnungstür stehen. Ich winkte ihr erneut, aber sie schüttelte den Kopf. Erst nach einem Augenblick wurde mir bewußt, daß mein Kraftaufwand völlig überflüssig war. Traude machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Ich gab den Griff frei und zog mich vorsichtig zu Christina zurück. Paul wartete ebenfalls vor der Wohnungstür. Ein Luftzug ließ mich frösteln. Gleich darauf kam Ralf die Stiegen hoch. »Sie ist fort«, schrie er. »Sie ist aus dem Fenster gesprungen.« »Gesprungen?« fragte ich ungläubig. »Aus dem ersten Stock?« Er nickte hastig. Wir liefen ins Zimmer und fanden es leer, das Fenster offen. »Sie wird nicht weit kommen, nackt wie sie ist«, meinte Paul. »Sie war nicht nackt«, widersprach Ralf. »Ich könnte mir denken, wohin sie geht«, bemerkte ich. »Zur Villa?« Ich nickte. »Es ist der einzige Ort, wohin sie gehen kann. Wenn wir losfahren, sind wir sicher noch vor ihr da.« »Es sei denn, sie hat auch einen Wagen irgendwo in der Nähe geparkt«, wandte Ralf ein. »Das müssen wir riskieren. Und es wird Zeit, daß die Polizei ein wenig mehr darüber erfährt. Wir wollen keine Zeit verlieren.« 78
Ich war bereits an der Tür, als mir Christina nachrief: »Fritz! Warte! Und ihr auch. Bitte!« Ich sah sie überrascht an. »Ich möchte nicht, daß die Polizei sie jagt wie einen Hund«, sagte sie bittend. »Aber sie ist gefährlich, Christina. Sie hat phantastische Kräfte.« Christina schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß sie jemanden verletzen oder töten wird. Sie hat sich nur gewehrt, Fritz. Wir sind über sie hergefallen, hast du das vergessen? Sie hätte uns alle töten können. Aber sie ist weggelaufen.« »Würdest du es auch so sehen, wenn sie nicht Traude wäre, wenn sie nicht deine Schwester wäre?« »Ich glaube schon, Fritz.« »Aber sie ist nicht mehr deine Schwester, du hast es selbst festgestellt. Sie ist...« Ich hob hilflos die Hände, »eine Puppe, ein Roboter, der nach jemandes Pfeife tanzt.« »Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich habe mich geirrt. Vielleicht ist sie ein Roboter oder eine Puppe, wie ihr sagt. Aber sie ist auch Traude. Ich hab es gespürt.« »Aber wir können sie nicht laufen lassen«, wandte ich ein wenig unsicher ein. »Warum nicht? Deshalb ist sie doch zu uns gekommen: um uns zu sagen, daß sie Traude ist, und daß wir ihr Geheimnis lüften sollen. Auf ihre Art wollte sie uns darum bitten.« Wir blickten sie stumm an. Sie mochte nicht so unrecht haben. Traudes Tod war das einzige Beweisbare der Geschehnisse. Alles andere war zu verrückt, als daß es jemand glauben würde. Aber dieser tödliche Unfall war geschehen, und er betraf nicht nur uns, sondern auch die Behörden. Es mußte Nachforschungen geben. Das alles erledigte sich, wenn es keine Tote gab, wenn Traude Großman lebte.
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Wir brauchten nur zu akzeptieren, daß sie lebte, auf ihre Art lebte. Vielleicht würde es außer Großman selbst, der vermutlich am besten wußte, was geschehen war, niemand erkennen. Konnten wir es dabei bewenden lassen? *** Vorerst war es leichter, nichts zu unternehmen. Wir hatten in dieser Nacht kaum geschlafen, und jeder war froh, nun doch noch ein paar Stunden Ruhe zu haben. Trotz meiner Müdigkeit vermochte ich kein Auge zuzutun. Ich ging zu Christina ins Zimmer und sah, daß auch sie wach lag. »Du denkst an deine Schwester?« »Ja, Fritz.« Sie schwieg eine Weile, und ich setzte mich zu ihr. Wir schauten in die wachsende Dämmerung. »Muß sie wirklich jemandem gehorchen?« fragte sie schließlich. »Ich weiß es nicht. Bei den ›Kindern‹ hatte ich den Eindruck. Wer immer sie zu dem gemacht hat, was sie ist, muß auch Einfluß auf sie haben.« »Können wir ihr nicht eine Chance geben?« »Sicher«, antwortete ich und war plötzlich angetan von der überzeugenden Einfachheit des Gedankens. »Wir könnten einfach nach Hause fahren, als ob nichts geschehen wäre. Aber ich weiß nicht, ob ich eine ruhige Minute hätte. Und du ebensowenig: Deine Theorie mag ja richtig sein, soweit sie deine Schwester betrifft. Aber wir haben es auch noch mit den anderen zu tun, den ›Kindern‹, die offenbar über hypnotische Kräfte verfügen und die mich jederzeit wieder aus Salzburg holen kommen können.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß es gut wäre, die Sache einfach laufen zu lassen, ohne mehr darüber zu wissen. Außerdem ist mein 80
Wagen verschwunden. Das müßte ich melden, und dann kämen eine Menge Fragen, die ich nur mit viel Mühe und Phantasie so beantworten könnte, daß sich die Herren von der Polizei zufriedengeben. Du siehst, so einfach ist es nicht. Es ist zuviel geschehen. Aber«, ich küßte sie auf die Wange, »wir sollten wirklich versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Wir werden am Morgen noch einmal zur Villa hinausfahren. Vielleicht bekommen wir am Tag durch systematisches Suchen über ein paar Dinge Klarheit. Keine Angst, es geht mir nicht darum, deine Schwester aufzustöbern. Ich möchte wissen, warum Ralf und die Polizei nichts entdeckt haben. Und ich möchte meinen Wagen finden.« Ich erhob mich. »Ich komme mit dir, bitte.« »Nichts dagegen«, stimmte ich zu, »ganz im Gegenteil. Gute Nacht.« »Fritz?« »Ja?« »Ich möchte nicht hierbleiben, in den nächsten Tagen.« »Ich habe es mir schon überlegt«, sagte ich erfreut. »Wir werden ausspannen, irgendwo, wo uns niemand findet. Kannst du deinen Laden für ein paar Tage schließen?« »Ja. Ich muß nur meiner Verkäuferin Bescheid sagen.« »Und ich Balzarek«, erklärte ich. »Wenn er am Montag das Band erhält, und ich bin während der folgenden Tage unauffindbar, wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen.« Gegen neun, nach einem kurzen Frühstück, fuhren wir hinaus zur Villa. Ich achtete diesmal auf den Weg und die Schilder. Wir kamen nach Obergrafendorf, entdeckten aber keine weiteren Ortsschilder. Hinweise auf den geheimnisvollen Ort Ohlheim fanden wir nicht. Aber die Gegend ließ keinen Zweifel darüber offen, daß wir uns an Ort und Stelle befanden. Die Ohlheim-Schilder mußten in der Tat nur Tarnung gewesen sein. 81
Der Tankwart erkannte mich wieder. Er musterte mich seltsam. Als ich ihn nach Ohlheim fragte, schüttelte er den Kopf. Aber ich war sicher, daß er mehr wußte, als er zugeben wollte. Ich fragte ihn, ob er seit gestern einen Alfa Spider gesehen hätte und nannte ihm meine Autonummer. Das hatte er. Die Salzburger Nummer, an die konnte er sich erinnern. Es war erst ein paar Stunden her, gegen vier Uhr früh. Er war aufgewesen, weil es in der Nähe einen Brand gegeben hatte. Da hatte er den Wagen gesehen. Eine junge Frau war gefahren. Mehr wußte er auch nicht. Eine junge Frau? Traude Großman! Daran dachte ich augenblicklich. Ich drang in ihn, sie zu beschreiben, aber das konnte er nicht. Er hatte sie nur ganz flüchtig gesehen. Sie hatte also meinen Wagen. Das war wenigstens eine Spur. Eine schlimme Überraschung erwartete uns, als wir in die Zufahrt zur Villa einbogen. Bereits hier konnte man es riechen, und ein Stück weiter standen wir vor den rauchenden Trümmern. Polizei hatte den Weg abgesperrt. Die Beamten ließen uns aber durch, als Christina sich als Schwägerin des Besitzers vorstellte. Die Villa war total niedergebrannt. Wie durch ein Wunder war der nahe Wald nicht vom Feuer erfaßt worden. Selbst im Keller war nichts heil geblieben. Resigniert machten wir einige Fotos. Ich unterhielt mich kurz mit den Polizisten und erfuhr, daß das Feuer kurz vor vier ausgebrochen war. Da waren wir in der Boutique gewesen, um Großman anzurufen. Ich erinnerte mich nun an den Feuerwehrwagen, der an uns vorübergefahren war. War Traude deshalb verschwunden? Hatte sie es irgendwie gespürt oder gewußt? Jedenfalls würden wir hier nichts mehr finden. Wir beschlossen, uns ein wenig in der Umgebung umzusehen.
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Der ganze Alptraum schien sich aufzulösen. Traude und Kurt Großman waren nun die einzigen Spuren, die uns noch blieben. Ich war in diesem Augenblick so resigniert, daß ich aufgegeben hätte, wäre nicht die Sache mit meinem Wagen gewesen. Nach und nach wich die ganze Anspannung von uns, und wir genossen die Spritztour. Das Wetter war herrlich, die Gegend erbaulich und das Mittagessen in einem rustikalen Gasthof ausgezeichnet. Ralf war es, der mich in dem Wunsch bestärkte, alles abzubrechen, den Wagen einfach als gestohlen zu melden und der Sache ihren Lauf zu lassen. Christina stimmte nur allzugern zu. Auch Paul hielt es für das beste. Und so schien es, als wäre dieses völlig irre Wochenende zu einem wenig aufregenden Abschluß gekommen. Ralf drängte es nach Salzburg. Er war erpicht, die Filme auszuwerten. Schließlich fuhren wir also zurück nach St. Pölten, wo Christina packen sollte. In Salzburg würden wir weitersehen. Wir setzten auch München auf den Fahrplan, wo sie ihre Eltern besuchen konnte. Plötzlich trieb uns eine Hast voran, als hätten wir Angst, es könne im letzten Augenblick noch etwas unsere Pläne vereiteln. Nachdem Christina die Koffer in ihrem Fiat verstaut hatte, fuhren wir noch zu ihrem Laden. Sie rief ihre Verkäuferin an und hatte Glück. Dann versuchten wir Friedbergs zu erreichen, um sie über den letzten Stand der Dinge zu informieren. Doch da hatten wir weniger Glück. Niemand meldete sich. Als Christina auflegte, läutete das Telefon. Wir blickten alle darauf. Es war völlig unglaublich, daß hier heute jemand anrufen sollte. Das war die Nummer einer Boutique. Und heute war Sonntag, also geschlossen. »Vielleicht ruft deine Verkäuferin zurück«, sagte ich. »Es könnte auch eine falsche Verbindung sein.« 83
Christina hob ab und lauschte. Wir hörten deutlich eine weibliche Stimme und sahen Christinas Gesicht weiß werden. Mit einem Sprung war ich bei ihr und drückte mein Ohr an den Hörer. Es war Traudes leidenschaftslose Stimme. »... Gefahr, Schwester. Du mußt ihn warnen.« »Aber wo ist er?« fragte Christina. »Wenn ihr zu spät kommt, in Ohlheim. Dann sind wir alle in Ohlheim.« »In Ohlheim?« wiederholte Christina ratlos. Es klickte, und die Leitung war unterbrochen. Christina sah uns verwirrt an. »Versteht ihr das?« »Ich habe den Anfang verpaßt. Was sagte sie?« »Kurt ist in Gefahr. Ich soll ihn warnen. Er ist in Ohlheim, wenn ich zu spät komme. Wir sind dann alle in Ohlheim.« Sie schüttelte den Kopf. »Das klingt nicht gerade verheißungsvoll«, stellte ich fest. »Ich verstehe gar nichts mehr«, meinte Ralf. Paul rieb die Beule an seiner Stirn. »Mir gefällt das nicht«, erklärte er. »Auf welcher Seite steht Ihre Schwester nun? Doch nicht auf unserer, oder...?« »Nicht sehr wahrscheinlich«, stimmte ich zu. »Aber wir können ihre Bitte doch nicht einfach ignorieren«, wandte Christina ein. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worum sie dich bittet«, widersprach ich ein wenig verärgert, daß nun doch wieder alles anders gekommen war. »Sie bittet uns, Kurt zu warnen.« »Und wo ist Großman? Wir haben seit dem Anruf in Salzburg keine Verbindung mehr mit ihm bekommen. Wie sollen wir ihn warnen?« »Wenn wir zu spät kommen, finden wir ihn in Ohlheim«, bemerkte Ralf sarkastisch. »Wir brauchen nur zu spät zu kommen.« 84
»Dann stimmt auch der Rest von dem, was sie sagt«, ergänzte Paul. »Dann sind wir nämlich alle in Ohlheim.« Er unterdrückte ein Grinsen. »Also gut«, sagte ich. »Fahren wir noch einmal hinaus. Die Strecke werde ich nicht so schnell vergessen.« Die beiden nickten, und Christina lächelte erleichtert. Wir nahmen Pauls Kombi, weil er am geräumigsten war. Eine Viertelstunde später waren wir in Obergrafendorf, fanden aber keine Hinweise auf Ohlheim. Es hätte mich auch gewundert. Auf der Fahrt zur Villa kam uns plötzlich ein Wagen entgegen, der gar nicht zu übersehen war. »Mein Alfa!« entfuhr es mir, und Paul bremste, daß wir alle nach vorn kippten. Im Vorbeihuschen sah ich ein blasses Gesicht hinter der Scheibe. Auch Christina hatte es erkannt. »Es ist Traude!« rief sie aufgeregt. »Sie hat uns nicht gesehen!« »Sie wird meinen Wagen nicht kennen«, sagte Paul und kurvte waghalsig, daß die Reifen kreischten. Dann waren wir hinterher. »Es wird verdammt schwer sein, sie einzuholen. Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren.« Das erwies sich wirklich als schwierig. Sie war eine rasante Fahrerin und hielt nicht allzuviel von Geschwindigkeitsbeschränkungen. Aber Paul blieb verbissen dran. Sie fuhr Richtung Autobahn und nahm die Wiener Auffahrt. »Sie fährt nach Wien«, rief Christina. »Vielleicht finden wir Großman dort«, meinte Ralf. »Wir müssen vor allen Dingen hinter ihr bleiben. Sobald wir in der Stadt sind, nimmst du ein Taxi und fährst zu Großmans Wohnung. Hast du die Adresse?« Sie nickte. »Dort wartest du auf uns, ganz gleich, was geschieht.« »Ja, Fritz.« 85
»Schaffen wir es?« fragte ich Paul, der sich verbissen gegen das Gaspedal stemmte. Die Tachonadel pendelte um hundertfünfundsechzig. Der Alfa machte hundertachtzig und entfernte sich immer mehr. »Nein«, entgegnete Paul. »Laß dir keine grauen Haare wachsen.« Ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Am Sonntag sind eine Menge Streifen unterwegs. Denen wird das Tempo der Dame gar nicht gefallen.« »Unseres auch nicht«, stellte Ralf fest. »Reine Glücksache«, meinte Paul. Wir hatten Glück. Kurz vor Wien kam der Verkehr vorübergehend zum Stillstand, und wir entdeckten Traude in der Schlange nicht weit vor uns. Ein Lastwagen hatte seine Ladung verloren, aber offenbar war niemand zu Schaden gekommen. Drei Arbeiter waren mit Schaufeln am Werk, und zehn Minuten später war eine Fahrspur wieder frei. Während der letzten Kilometer vor Wien gelang es Paul, dicht hinter dem Alfa zu bleiben – trotz zweier Kreuzungen, die auf rot schalteten, als wir herankamen. Der Verkehr war mäßig. »Sie fährt nicht zu Kurt«, sagte Christina plötzlich. »Wo sind wir?« fragte Ralf. »Im dritten Bezirk. Und es sieht so aus, als ob sie es auf den Prater abgesehen hätte. Aber was will sie dort?« Tatsächlich hatten wir gleich darauf das weithin sichtbare Riesenrad vor uns und wenig später die bunten Stände und Buden von Wiens großem Jahrmarkt. Traude bog in das Pratergelände ein und parkte. Aufatmend fuhr Paul den Kombi an den Gehsteig heran und hielt. »Wir treffen uns um sechs wieder hier, falls wir uns verlieren sollten«, sagte ich hastig. Die anderen nickten. »Christina, du
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nimmst dir ein Taxi und fährst zu Großmans Wohnung, Gib Paul die Adresse und warte dort auf uns.« Ich sah, daß Traude ausgestiegen war. Sie blickte in unsere Richtung, aber es war nicht zu erkennen, ob sie uns gesehen hatte. »Rasch«, drängte ich, »bevor wir sie aus den Augen verlieren. Das ist in der Menschenmenge leicht möglich.« Ralf war bereits draußen. Er hatte seine Kamera bei sich und verschwand schnell im Gewühl. Ich hastete hinterher. Weiter vor mir sah ich Traude. Sie ging nicht sehr schnell. Es lag an der Art ihres Ganges. Sie schritt steif zwischen den Menschen hindurch, wurde angerempelt und wic h kaum aus. Wer sie anrempelte, zog den kürzeren. Aber weder das noch die bösen Blicke schienen sie zu kümmern. Der Lärm war gewaltig. Pfeifen und Sirenengetön drang aus einer Geisterbahn. Ich sah mich einen Augenblick um und hatte gleich darauf Mühe, Traude und Ralf wiederzufinden. Steppenwolfs Magic Carpet Ride heulte von einer Achterbahn und sägte einen Augenblick in weinselige Schrammelmusik, daß es mir fast die Schuhe auszog. Ein paar Kinder drohten mich über den Haufen zu rennen, und ehe ich mich versah, hatte ich Zuckerwatte an Hals, Ohr und Hemdkragen. Bis ich mich von der klebrigen Schaummasse gesäubert hatte, war Traude verschwunden. Fluchend sah ich mich um und entdeckte Ralf, der offenbar nach mir Ausschau hielt. Ich winkte und arbeitete mich auf ihn zu. Er wirkte verloren. »Was ist geschehen?« »Sie ist weg«, erklärte er und zuckte die Schultern. »Ich sah sie noch vor ein paar Sekunden vor mir. In dem hellen Kleid war es ganz leicht, sie im Auge zu behalten. Aber plötzlich war sie weg.«
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»Es ist zum Auswachsen«, sagte ich. »Wenn diese Kinder nicht... Aber es hat wenig Sinn, sich zu ärgern. Ich hätte Lust, eine Kleinigkeit zu essen. Da ist eine Imbißbude.« Ich schob ihn darauf zu. »Da können wir ebensogut überlegen, was wir tun. Ich bin ziemlich ratlos. Was will sie ausgerechnet im Prater?« Während ich eine Bratwurst verzehrte, beobachtete ich die festgefrorenen Gesichter in den Wagen der Achterbahn, wenn sie zum Steilflug ansetzten. Sie erinnerten mich an etwas. »Das Gelände hier wäre mal eine Reportage wert, meinst du nicht auch«, sagte Ralf gedankenvoll. »Wenn wir jetzt ohnehin nichts tun können...« Er brach ab, als ich ihn am Arm nahm. Die ›Kinder‹, dachte ich plötzlich. »Wo würden unsere Mörderpuppen mit den Kindergesichtern am wenigsten auffallen?« Ich sah ihn herausfordernd an. Einen Moment erwiderte er den Blick verständnislos. Dann antwortete er überrascht: »Hier, auf einem Jahrmarkt.« Ich nickte mit einem leichten Triumphgefühl. »Und wenn wir den ganzen Prater auf den Kopf stellen, wir müssen sie finden. Wir sehen uns jeden Stand an, jede Bahn, jede Attraktion!« »Da haben wir allerhand vor«, bemerkte Ralf wenig erfreut. »Vielleicht gehen wir erst zum Wagen zurück und sagen auch Paul Bescheid. Zwar glaube ich nicht, daß die Sache damit wesentlich kürzer wird, aber drei Paar Augen sehen mehr als zwei.« Ich stimmte zu. »Ich hätte nichts dagegen, wenn ein wenig Zeit bliebe. Das war immer eine Leidenschaft von mir...« Er deutete auf eine Autodromanlage vor uns. »Ich glaube, ich bin seit fünfzehn Jahren nicht mehr in so etwas gesessen.« Er grinste auffordernd. Ich hatte im Prinzip nichts dagegen, obwohl mich die Achterbahn wesentlich mehr lockte, von der fast 88
ununterbrochen das Kreischen weiblicher Stimmen zu hören war. Eine Gruppe kam an uns vorbei, die offenbar eben aus einem der Wagen gestiegen war, denn während die beiden Mädchen ein wenig bleich und unsicher auf den Beinen standen, meinte einer ihrer Begleiter: »Dieses erste steile Stück, das rüttelt an der Existenz.« Aber ich hatte das Gefühl, daß die Zeit zu sehr drängte für Vergnügungen. Bevor ich Ralf noch darauf hinweisen konnte, eilte er bereits hinüber zur Scooterbahn. Verwundert sah ich, daß er intensiv auf die Dekorationen am Dach der Anlage schaute, die seltsame Figuren und Dinge zeigten, wie sie in der wundersamen Romantik eines Jahrmarktes nun einmal nicht wegzudenken waren. Dazwischen zog sich eine vollkommen verschnörkelte Zierschrift quer über die gesamte Vorderseite. Irgend etwas faszinierte mich daran. »Kannst du das entziffern?« fragte Ralf mit merkwürdiger Betonung, als ich ihn erreichte. Ich versuchte es. Es war nicht leicht, die Buchstaben von dem Zierrat zu isolieren. »Das erste ist ein O«, erklärte ich. »Stimmt. Dann ein H und ein L wieder ein H...« »Ohlheim!« rief ich. Ich blickte erneut hoch: kein Zweifel. Beinahe klar und deutlich stand es da oben. Ralf gab keine Antwort. Sekundenlang hingen unsere Augen wie gebannt daran. »Sieht aus, als hättest du recht«, sagte ich fast tonlos, »mit deiner Interpretation von Ohlheim. Jetzt wissen wir auch, warum Traude Großman hier ist. Wenigstens haben wir einen Anhaltspunkt«, fügte ich hinzu. »Es scheint eine Firma oder eine Fabrik oder dergleichen zu sein«, meinte Ralf. »Dann ist alles weniger phantastisch, als wir in den letzten Stunden dachten. Ich war schon soweit, an 89
den Teufel selbst zu glauben. Aber wenn es eine Firma ist, die vielleicht diese Puppen herstellt und anderes Tingeltangelgerät, dann sind wir wieder auf festem Boden, und das gefällt mir viel besser. Würde mich nicht wundern, wenn Großman seine Hand im Geschäft hätte, auf irgendeine Art.« »Das liegt nahe«, stimmte ich zu. »Aber ich würde trotzdem keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Ich schob ihn vorwärts. »Du wolltest doch fahren, oder? Sehen wir uns das einmal an.« Lichter flammten rundum auf und hüllten die Fahrfläche in bunten Glanz. Unmerklich hatte die Dämmerung eingesetzt. Der Lärm war betäubend. Menschen drängten sich am Rand der Bahn und warteten auf das Hornsignal, das das Ende der kurzen Fahrt anzeigte. Dann stürzten sie sich auf die freiwerdenden Wagen. Es erklang auch in dem Augenblick, als wir uns an den Fahrbahnrand herangekämpft hatten. In dem allgemeinen Gewirr erwischten wir zwei leere Wagen. Ich winkte Ralf am anderen Ende zu. Er grinste. Gleich darauf kam das Signal, und es ging los. Ein schwarzhaariger Typ schwang sich während der Fahrt auf meinen Wagen, um zu kassieren. Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf. Allerdings war ich auch voll damit beschäftigt, den herankommenden Wagen auszuweichen und bei den heftigen Zusammenstößen nicht von dem engen Sitz zu fallen. Nach einem Augenblick gab ich es auf, mich umzusehen, und konzentrierte mich auf das Fahren. Solange ich nicht auf die unmittelbare Umgebung achtete, war ich ein dankbares Ziel für die Meute. Einige, sah ich, waren in einer Gruppe hier und kümmerten sich kaum um Außenstehende. Sie spielten ihr eigenes kleines Spiel und hatten es besonders auf zwei Mädchen abgesehen, die kräftig hin und her geschüttelt wurden und das Ganze gutmütig ertrugen. Es gelang ihnen sogar ein paarmal, sich 90
kräftig zu revanchieren. Aber da waren drei oder vier Typen, die sich Einzelgänger aufs Korn nahmen. Ich sah, daß Ralf sich weitgehend aus dem Getümmel hielt. Ich versuchte es auch eine Weile mit Erfolg, dann aber wurde ich so nach und nach wieder mit den Fahreigenschaften des Scooters vertraut und begann Jagdfieber und Rachegelüste zu entwickeln. Ich vergaß vorübergehend Ohlheim und Traude Großman. Ralf war plötzlich neben mir. Ich versuchte ihm den Weg abzuschneiden, aber er deutete aufgeregt zum Bedienungsraum am jenseitigen Ende der Bahn. Zwei rumpelten mich knapp hintereinander von hinten an, daß ich fast über das kleine Lenkrad flog. Als ich mich erholt hatte, war Ralf bereits weit vor mir. Ein Ausweichmanöver brachte mich um Haaresbreite an einem jungen Burschen vorbei, der mit einem Lächeln erneut auf mich zukurvte. Kurz gelang es mir, einen Blick auf die Bedienungszentrale zu werfen. Ich sah aber nichts Auffälliges außer einer Frau in einem hellen Kleid, die nicht die fahrenden Personen, sondern die Zuschauer musterte. Erst als ich meinem Verfolger entwischte und näher an sie herankam, glaubte ich sie zu erkennen – Traude. Aber da kreischte plötzlich ein Horn, und die Wagen blieben alle stehen. Als ich wieder hinsah, war die Gestalt verschwunden. So sehr ich mich auch umblickte, ich vermochte sie nicht zu entdecken. Ich blieb im Wagen und bezahlte eine weitere Fahrt. Auch Ralf war sitzen geblieben. Als das Hornsignal ertönte und die überzähligen Leute die Fahrbahn verließen, sah ich, wie Ralf auf etwas in meiner Nähe deutete. Verwundert wandte ich mich um. Ich erstarrte.
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Im Wagen direkt hinter mir saß der lächelnde Kerl, der es auf mich abgesehen gehabt hatte. Aber er war nicht irgendein junger Bursche. Er war einer von ihnen, eine Mörderpuppe. Sie beobachtete mich mit gläsernen Augen und dem spöttischen, kalten Lächeln, das mir an diesem Wochenende so vertraut geworden war. Ich hatte diesmal keine Furcht, nicht einmal ein Unbehagen, eher ein beruhigendes Gefühl. Wir waren auf der richtigen Spur. Die Frau, die ich gesehen hatte, war sicher Traude gewesen. Daran zweifelte ich nun nicht mehr. Ich fragte mich, ob die Puppe mich erkannt hatte. Gleichzeitig sah ich mich um, ob noch andere in der Nähe waren. Während des Anfahrens erkannte ich zwei weitere in Ralfs Nähe. Durch Winken versuchte ich ihn darauf aufmerksam zu machen, was nach der ersten Runde auch gelang. Daraufhin entdeckte ich einen zweiten hinter mir. Ich bemühte mich, in Ralfs Nähe zu bleiben und gleichzeitig möglichst am Rand der Bahn zu fahren, um notfalls hinausspringen zu können. Mir war nun klar, daß die Puppen uns sehr wohl erkannt hatten. Sie unternahmen nichts, aber sie blieben wie Wachhunde hinter uns. Als die Fahrt zu Ende war, hatte ich große Lust auszusteigen, aber Ralf winkte mir sitzen zu bleiben und deutete auf Traude, die in einen der Wagen stieg. Etwa zwanzig Wagen befanden sich verstreut auf der Bahn. Drei weitere standen unbenutzt und außer Funktion am Rand. Zu meinem Erschrecken saßen plötzlich ein Dut zend der Puppen in den Wagen. Aber es war zu spät zum Aussteigen. Die Fahrt begann. Diesmal kam auch nicht der schwarzhaarige Typ zum Kassieren, sondern eine weitere der Puppen. Sie kassierte 92
nicht. Sie schwang sich nur auf das Trittbrett meines Wagens und war nicht abzuschütteln. Ich sah gleich darauf, daß auch Ralf solch einen Mitfahrer hatte. Nur vier oder fünf reguläre Jahrmarktbesucher entdeckte ich, und auch sie schienen zu merken, daß irgend etwas bevorstand. Ich arbeitete mich auf den Rand zu, aber damit waren unsere Verfolger nicht einverstanden. Auch an Traude kam ich nicht heran. Sie war ständig von einem Ring von Puppen umgeben. Als man mich sogar von Ralf abdrängte, spielte ich mit dem Gedanken, aus dem Wagen zu springen, um die rettende Menge zu erreichen. Mir war klar, daß es nun ernst wurde. Selbst die Zuschauer waren aus der unmittelbaren Nähe der Bahn zurückgewichen. Undeutlich sah ich einen Mann in hellem Sommeranzug, der sich durch die Menge drängte und die Fahrbahn mit den Augen überflog. Er mochte Mitte Vierzig sein und hatte ein schmales Habichtgesicht, das mir irgendwie bekannt vorkam. Er entdeckte Traude und lief zwischen die fahrenden Wagen. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, kletterte er zu ihr in den Wagen. Sie blickte ihn an, machte aber keine abwehrende Bewegung. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war Großman, Kurt Großman, den wir so verzweifelt suchten. Bevor ich Ralf noch auf ihn aufmerksam machen konnte, brach die Musik ab. Die Lichter erloschen. In die Stille drangen die Dämmerung und der Lärm des Jahrmarktes wie etwas, das sehr fern war. Die Wagen bekamen keinen Strom mehr. Sie rollten aus und standen. Ich wollte aufspringen, doch eine kräftige Hand hielt mich an der Schulter fest.
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Mit einem schleifenden, rasselnden Laut fiel einer der breiten Rolläden und schloß sich. Die Menschen wichen schreiend zurück. Mit einem dumpfen Laut schnappte der zweite zu. Dann glitten mit ohrenbetäubendem Lärm die übrigen, ein Dutzend wenigstens, herab und schlossen die Fahrfläche in undurchdringliche Finsternis. Mit einer hastigen Bewegung entwand ich mich der Hand, die mich hielt, und ließ mich aus dem Wagen gleiten. Da waren noch mehr Geräusche in der Dunkelheit. Der Jahrmarktslärm von draußen war nur undeutlich zu vernehmen. Eine Kinderstimme seitlich von mir schrie auf. Ich vernahm hastige Schritte, dann endete der Schrei. Nach einem Moment der Totenstille weinte eine Frau. Auch sie verstummte plötzlich. Mit zitternden Beinen kroch ich in die Richtung, wo ich Ralf zuletzt gesehen hatte. »Verhalten Sie sich ruhig!« rief eine männliche Stimme in die Dunkelheit. »Die wollen nur mich. Bleiben Sie ruhig sitzen!« Das mußte Großman sein. Aber noch während er sprach, erklang ein neuer Schrei und brach dann ab. Eine Männerstimme begann plötzlich um Hilfe zu rufen. Ich hörte Schritte ganz in meiner Nähe, gefolgt von emsigen kleineren Beinen. Sie wollen keine Zeugen! Sie töten alle, bis sie unter sich sind! Ich versuchte meine jagenden Gedanken zur Ruhe zu bringen. Mein Herz hämmerte, daß ich dachte, sie würden es alle hören. Von Ralf vernahm ich nichts. Vermutlich hatte er die Gefahr rechtzeitig erkannt und sich ebenfalls in Bewegung gesetzt. Oder sie hatten ihn erledigt, bevor er schreien konnte. In der Stille hörte ich ein leises, vielfaches Surren. Dann Schritte, die sich auf mich zu bewegten – suchend und mit mechanischer Zielstrebigkeit.
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»Großman!« rief ich und wechselte gleichzeitig meinen Standort. »Wer Sie auch sind, halten Sie sich ruhig und vollkommen still. Sie können nur wahrnehmen, was sich bewegt!« Die Schritte hatten innegehalten, als ich mich bewegte. Jetzt kamen sie wieder in meine Richtung, unbeirrbar. Ich wandte mich erneut in die Richtung, in der ich Großman wußte. »Was sind sie?« fragte ich und tastete mich weiter. Ich stieß gegen einen Wagen. Etwas zischte über mich hinweg. So flach wie es mir möglich war, kroch ich vorwärts. »Schwer zu sagen«, erwiderte Großman. »Lebensgeister könnte man sie nennen.« »Was haben Sie mit ihnen zu schaffen? Warum tun sie Ihnen nichts?« »Das ist leicht erklärt.« Seine Stimme klang ganz nah. »Sie sind mein Werk. Und sie brauchen mich noch.« Ich stemmte mich hoch, stieß gegen eine Gestalt und gab ihr einen Stoß. Die Puppe stürzte knirschend. »Großman, wo sind Sie?« schrie ich keuchend. »Hier«, antwortete seine Stimme direkt vor mir. »Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« »Ich glaube doch. Geben Sie mir Ihre Hand.« Ich fand sie in der Dunkelheit und spürte gleichzeitig, wie etwas nach meiner Schulter griff. Ich stürzte mich auf Großman und bekam ihn voll an der Kehle zu fassen, bevor er eine abwehrende Bewegung machen konnte. Ich drückte zu. Er schrie erstickt auf. »Wenn die mich anrühren, erwürge ich Sie!« brüllte ich. »Um Himmels willen«, flüsterte er. Er wollte sich wehren, gab es aber auf, als ich den Druck verstärkte. »Ich habe keinen Einfluß mehr auf sie.« »Das wird sich herausstellen«, sagte ich gepreßt.
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Da war ein leises Getrappel zu hören. Es schien sich zu entfernen. »Ralf!« rief ich. »Ich bin in Sicherheit«, kam die Antwort aus der Dunkelheit. Plötzlich vibrierte der Boden. Der Wagen, auf dem ich halb lag und Großman festhielt, machte einen Ruck vorwärts. Gleichzeitig flammten die Lichter auf. Großman saß allein im Wagen. Ich ließ ihn überrascht los. Außer uns schien sich niemand mehr hier zu befinden. Die Wagen waren alle leer. In der Stille vernahm ich das Klicken einer Kamera und entdeckte Ralf auf einem der Pfeiler ganz oben an der Decke. Er fotografierte. »Traudl?« rief Großman. Er sah sich verwirrt um. »Sie ist auch fort«, meinte er ungläubig. »Wo sind sie hin?« fragte ich ihn heftiger als beabsichtigt. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde sie wiedersehen. Ich ahne, was sie von mir wollen.« Dann entdeckte ich eine reglose Gestalt zwischen den Wagen. Mit einem flauen Gefühl im Magen lief ich hin. Es war ein Junge. Er war tot. Nicht weit von ihm lag eine Frau in einem gelben Kleid. Auch sie war tot. Ich sah mich um und entdeckte noch einige Leichen. Ralf kletterte herab. »Wir hatten verdammtes Glück.« Ich nickte stumm. »Wir verschwinden besser«, sagte er. »Bevor sie vielleicht wiederkommen.« »Nein«, erwiderte Großman. »Hierher kommen sie bestimmt nicht wieder. Haben Sie keine Angst.« »Es genügt, wenn man uns hier mit den Leichen findet«, entgegnete Ralf. »Wir werden unsere Unschuld niemals beweisen können.«
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»Ich brauche Zeit zum Nachdenken«, meinte Großman verwirrt. Dann blickte er uns an. »Was wissen Sie?« »Nicht genug. Wir haben Sie gesucht. Und wir lassen Sie nicht mehr aus den Fingern, bevor nicht einige Fragen zufriedenstellend beantwortet sind.« »Welche Fragen?« »Solche, die Sie betreffen. Und solche, die Ihre Frau betreffen.« »Was ist mit Traudl?« »Nicht hier.« Ich schob ihn auf den Bedienungsraum zu. Hinter uns dröhnten die ersten Fäuste gegen die Rolläden. Wir vernahmen undeutliche Stimmen. Der Ungeduld und Aufregung nach zu schließen mußten es Angehörige der Toten sein. Die Polizei mochte jeden Augenblick eintreffen. Der Bedienungsraum hatte einen Hinterausgang, durch den wir unbemerkt entschlüpften und uns unter die lärmende Menge mischten, die von dem Unheil noch keine Kenntnis hatte. Zurückblickend sahen wir, wie die ersten durch den Hintereingang ins Innere stürmten. Mit flauem Magen stapfte ich hinter Großman her, der es plötzlich sehr eilig hatte. *** Wir saßen in Großmans geräumiger Bibliothek. Paul hatten wir auf dem Rückweg am Wagen getroffen, wo er seit sechs auf uns wartete. Es war fast sieben, als wir in Großmans Appartement eintrafen, wo uns Christina schon ungeduldig entgegenblickte. Großman entpuppte sich als agiler, beredter und durchaus sympathischer Typ. Doch er wirkte übernächtigt, nervös und unsicher. Irgend etwas arbeitete in ihm, was mich nicht verwunderte. 97
Er kam auch gleich zur Sache. »Daß Christina mit Ihnen hier ist, und daß meine Frau verschwand, läßt mich das Schlimmste erwarten.« »Sie ist tot, Kurt«, sagte Christina sanft und mit Tränen in den Augen. »Tot?« rief er. Er schaute uns entsetzt an. »Sagen Sie das auch? Sie haben sie im Prater gesehen, nicht wahr?« Ich nickte, Ralf ebenfalls, sogar Paul. »Und trotzdem sagen Sie, daß sie tot ist?« schrie er fast. »Ich selbst habe sie getötet«, erklärte ich ruhig. Ich berichtete ihm, wie es geschehen war. Schmerz verdüsterte seine Züge. Aber nach einem Augenblick gewann etwas anderes die Oberhand: Furcht. Sein Gesicht war aschfahl. Seine Hände zitterten. Er erhob sich und brachte eine Flasche Whisky aus der Bar und Gläser aus einem Schrank. Klirrend stellte er sie auf den Tisch und goß sich und uns ein. Dann schritt er unruhig auf und ab. »Waren Sie in der Villa?« fragte er unvermittelt. Ich nickte. »Erzählen Sie«, bat er hastig. »Erzählen Sie und vergessen Sie um Himmels willen nichts, keine Einzelheit. Alles ist wichtig.« Ich schüttelte den Kopf. »Erst beantworten Sie uns einige Fragen«, widersprach ich. »Wir haben keine Zeit für lange Erörterungen«, unterbrach er mich heftig. »Jederzeit können sie wieder hier sein. Und diesmal mag es nicht so glimpflich abgehen.« »Möglich«, stellte ich ungerührt fest. »Aber wir haben ein verdammt merkwürdiges Wochenende hinter uns, und ich verdanke es wohl in der Hauptsache dem Umstand, daß ich in meinem Job eine Menge Ungewöhnliches vor Augen kriege, daß ich nicht in der Klapsmühle gelandet bin.«
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»Ich bin mit Ihrer Arbeit wohl vertraut, Herr Kühlberg«, unterbrach er mich. »Und ich schätze sie auch. Gerade Sie sollten aber jetzt sehen, daß wir keine Zeit mehr...« Ich ließ ihn nicht ausreden. »Ich will wissen, womit wir es zu tun haben. Wir alle wollen es wissen. Information für Information. Es ist Ihr Hals ebenso wie unserer.« Er setzte zu einer heftigen Erwiderung an, sah aber wohl an meiner Miene, daß ich nicht nachgeben würde. Deshalb nahm er seufzend Platz und brütete einen Augenblick mit geballten Fäusten. Schließlich nickte er. »Sie haben wahrscheinlich recht. Es ist meine Schuld, daß Sie in dieser Lage sind. Ich weiß nicht, ob Sie mit meinen Schriften vertraut sind.« Ich nickte. »Oberflächlich. Ihr Opus über mechanische Magie war es, das mir im Zusammenhang mit dieser Sache immer wieder im Kopf herumspukte.« »Das ist der Kernpunkt«, sagte er rasch. »Mechanische Magie. Die Bindung von Geistern an Mechanik. Ein utopisches Problem für die Wissenschaft, ein durchaus lösbares für die Magie. Ich war schon immer der Magie mehr zugetan als der Wissenschaft. Mein Fehler war, daß ich lange Zeit Systeme suchte, beide zu verbinden, daß ich ihrer Gegensätzlichkeit nicht genug Beachtung schenkte. Aber ich will Sie nicht damit langweilen. Zwei Bücher aus dem fünfzehnten Jahrhundert, Handschriften, die vermutlich nie kopiert wurden, fielen mir vor etwa drei Jahren in die Hände. Sie waren nicht vollständig, aber die Bruchstücke gaben Aufschluß genug über einen Bereich der Magie, der mir wie eine Brücke zur Wissenschaft erschien – die Mechanische Magie. Beide Bücher waren von einem Mann namens Ohlheim.« Meine Reaktion auf den Namen entging ihm nicht. Er hielt inne und sah mich fragend an. »Sagt Ihnen der Name etwas?« »Allerdings. Er stand an den Ortsschildern in der Nähe Ihrer Villa. Und er stand auf dem Autodrom.« 99
Er biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Das bedeutet, daß ich auf dem richtigen Weg bin. Ich fand nirgends Hinweise auf einen Philosophen, Alchimisten oder Magier dieses Namens. Nicht einmal auf einen ketzerischen Scharlatan. Auch wenn es sich um ein Pseudonym gehandelt hätte, wäre ich früher oder später in meinen Nachforschungen auf Hinweise gestoßen. Ich nehme an, daß es sich um ein Schlüsselwort handelt, das die Türen in unsere Welt öffnet...« »Sie meinen«, entfuhr es mir, »so etwas wie ›Sesam öffne dich‹?« »Es scheint so. Aber ich kann Ihnen darüber keine erschöpfende Auskunft geben. Ich weiß noch zu wenig über die Gesetze der Mechanischen Magie, auch wenn meine ersten Experimente recht erfolgreich waren.« Er hielt inne, fuhr jedoch gleich darauf fort: »Diese ›Puppen‹, wie Sie sie bezeichnen, Herr Kühlberg, die kindlichen Gestalten in den Scootern, sie sind die Ergebnisse meiner Beschwörungen.« »Du hast sie gemacht?« fragte Christina erschrocken. »Ja, sie sind mein Werk, meine Schöpfung.« »Wie?« fragte sie tonlos. »Sie sind Puppen, mechanische, recht perfekte Puppen, die ich mit Wesenheiten belebte.« »Wesenheiten?« wiederholte ich erstaunt. »Verzeihen Sie, ein okkulter Ausdruck. Aber ich habe noch keine exakten Definitionen. Es handelt sich um die nichtphysikalische Essenz Verstorbener.« »Die Seele?« fragte Ralf interessiert. »Ja und nein. Auch nicht der Geist, sondern ein Gemisch aus beidem. Ich nenne sie die Lebensgeister. Im Grunde ist es ein erinnerungsloses Bewußtsein. Etwas, das nur für den Augenb lick, die Gegenwart, existent oder bewußt ist. Erinnerungen sind physikalische Ablagerungsstoffe. Das endet mit der physischen Existenz. Im Tod wird der gebundene Geist
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frei und existiert für eine unendliche Folge von Augenblicken – ohne Erinnerung, ohne Erwartung – nur jetzt.« »Und dieses Bewußtsein verpflanzen Sie in die Puppen?« fragte Ralf beeindruckt. Kurt Großman nickte. »Durch Beschwörungen mit Formeln, die ich in diesen Buchfragmenten entdeckte. Es ist ein Vorgang, der aus unserem Kosmos hinausgreift. Der wie Sesam öffne dich eine magische Tür öffnet, durch die man sich mit einigem Wissen und Geschick Kräfte und Wesenheiten zunutze machen kann, die wider die Gesetze unseres Kosmos sind. Meine Experimente, die immer vollkommener wurden, haben das deut lich gezeigt.« »Aber wenn Sie solche Türen öffnen«, sagte Paul überraschend, »wie können Sie sicher sein, daß Sie sie auch wieder gut genug verschließen, daß nicht jene Mächte sie von selbst öffnen, um sich unserer Kräfte und Energien zu bedienen?« Ich fröstelte unwillkürlich bei dem Gedanken an solche offenen Türen. »Eine amüsante Idee«, meinte Großman. »Ein Kosmos, in dem Magie das existierende Konzept ist, in dem wissenschaftliche Formeln und Kräfte unmöglich sind, in dem die Gesetze des Pythagoras vielleicht mystische Formeln sind...« Ich unterbrach ihn schroff: »Und die Toten, die Sie in die Puppen verpflanzten, welche Leute waren das?« »Unfalltote«, antwortete er. »Meist Opfer von Autounfällen. Einer der Leitsätze im Bereich der mechanischen Magie laut et: ›Wenn der Mensch die Gewalt über mechanische Dinge verliert, sind es andere Mächte, die davon Besitz ergreifen können‹. Im übertragenen Sinn bedeutet es: Maschinen, die töten, sind geeignet, auch selbst belebt zu werden. Und es bedeutet: Menschen, die gewaltsam durch Maschinen sterben, können auch solche beleben.« 101
»Darum«, flüsterte Christina, »mußte Traude durch ein Auto sterben. Dann hast du sie...« Sie schaute Großman mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. »Nein«, sagte er abwehrend. »Nein, Christina, ich habe das nicht gemacht, niemals. Warum sollte ich? Es gibt genug, die täglich auf den Straßen sterben. Die ganze Villa war voll von ihnen.« Er brach ab. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte ich langsam. »Die Villa war eine Art Speicher. Ein Teil der Wände, der Innenmauern, bestand aus mechanischen beweglichen Teilen, alten Uhrwerken, Motoren und dergleichen.« »Und sie waren belebt mit...«, entfuhr es mir. Er nickte. »So speicherte ich die Geister.« Ich erinnerte mich plötzlich der flüsternden Stimmen und der Visionen, die ich in dem Haus hatte, und schauderte bis ins Innerste. »Sie Teufel!« rief ich. »Sie Ungeheuer!« Er winkte ab. »Wir wollen nicht den klaren Kopf verlieren, Herr Kühlberg. Sie sehen die Dinge falsch. Die Geister wären sonst verlöscht. Und sie haben nicht gelitten. Sie kannten nur das JETZT, nur den Augenblick. Sie erinnerten sich an keine Vergangenheit, und sie erwarteten keine Zukunft. Sie waren glücklich.« »Wie können Sie so sicher sein?« »Ich bin es nicht. Aber die Magie wie die Wissenschaft lernt nur durch Experimente. Außerdem ist es nicht mehr wichtig. Die Villa ist verbrannt, und ihre Geister mit ihr.« »Woher weißt du...«, begann Christina. »Ich selbst habe sie angezündet«, erklärte er. »Warum?« »Die Menschen wurden mißtrauisch. Außerdem hatte Traudl herausgefunden, daß die Villa zu meinem Besitz gehörte. Dessen war ich mir bewußt. Aber ich erfuhr erst zu spät, daß sie an diesem Wochenende bereits diesem alten Gemäuer einen Besuch abstatten wollte. Es war gefährlich, das Haus zu 102
betreten. Ich wußte das. Ich traf Schutzmaßnahmen für mich. Aber die Zahl der Geister wuchs stetig und ihre Ausstrahlung nicht minder. Traudl wußte natürlich nichts von meinen Experimenten. Sie begannen mir über den Kopf zu wachsen. Deshalb fuhr ich heute noch nach Obergrafendorf und übergab das Gebäude den reinigenden Flammen. Feuer, das müssen Sie wissen, schließt alle magischen Türen. Aber da wußte ich noch nicht, daß meine Frau...« Er brach ab, einen Moment von Schmerz überwältigt, und ich empfand Mitleid mit ihm. Dann sah er mich ernst an. »Wenn ich Traudl nicht in diesen mechanischen Körper verpflanzt habe, wenn ich nicht diese Puppen befehligt habe, und bei allen Geistern und Göttern, das habe ich nicht, wer hat es dann getan? Kühlberg, Sie müssen mir in allen Einzelheiten berichten, was Sie in dem Haus gesehen haben.« Das tat ich, weil ich spürte, wie er Angst vor etwas hatte und wie die Angst auf mich übersprang. Ich berichtete ihm von der seltsamen Gestalt, die Elsa Friedberg und ich gesehen hatten, von der Beschwörung, die sie offenbar durchführte und von diesem Maschinenungeheuer, das mich bedrohte. Er sah mich mit grauem Gesicht an. Er zweifelte keinen Augenblick an meinen Worten. »Es war etwas, das nicht von dieser Welt ist, Kühlberg«, sagte er zitternd. »Etwas, das durch die Tür gekommen ist, die ich aufgestoßen habe. Etwas, das hinter mir her ist und das mich mit dem, was meine Frau jetzt ist, lockt. In eine Falle vielleicht. Ich bin zu schwach, um mich zu wehren. Ich weiß so wenig... so wenig...« Er brach ab. Wir blickten ihn stumm an. Wir verstanden seinen Schrecken, und verstanden ihn doch nicht. Was fürchtete er? Daß die Geister, die er losgelassen hatte, sich gegen ihn wendeten?
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Etwas war stärker als er. Er hatte versucht, mit dem Feuer die Tür zu schließen – und hatte es nicht vermocht. Welches Grauen mochte jenseits warten? Als es läutete, zuckten wir alle zusammen. Ralf ging öffnen und kam gleich darauf mit bleichem Gesicht zurück, dicht gefolgt von Traude. Ohne sich um uns zu kümmern, ging sie auf Großman zu. Er wollte vor ihr zurückweichen. »Hab keine Furcht«, sagte sie mit der gefühllosen Stimme, die ihr Puppenkörper zuwege brachte. »Mein Liebster, hab keine Furcht. Für eine Weile sind sie alle zurück nach Ohlheim. Alle, außer mir. Aber die Tür ist noch offen, und sie werden kommen, dich zu holen – die Geschöpfe vom Jenseits, die du beschworen hast, deren Kräfte du benützt und vergeudet hast. Sie werden sich rächen. Sie werden Unvorstellbares mit dir tun. Kannst du die Tür schließen?« »Nein«, sagte er bleich und hilflos. »Wenn Feuer es nicht vermochte, weiß ich keinen Weg.« »Du mußt dich töten«, sagte sie. »Es ist der einzige Weg, dieser ewigen Verdammnis zu entgehen.« »Töten?« Er wich vor ihr zurück. Sie schüttelte mit mechanischem Surren den Kopf. »Ich kann es nicht tun. Ich bin nur eine Maschine.« Es war etwas Herzzerbrechendes in der gefühllosen Art, wie sie es sagte. »Wenn ich dich töte, wird dein Geist gefangen sein wie meiner. Du kennst die Gesetze, mein Liebster. Du mußt es selbst tun... oder deine Freunde. Vielleicht helfen sie dir, zu sterben. Aber es muß rasch sein. Ich spüre...« Sie brach ab. Etwas verzerrte ihre puppenhaften Züge. »Tötet... uns!« Dann erstarrte sie wie ein Automat, der abgelaufen war. Während wir mit bleichen Gesichtern dasaßen, erschien ein weißer Kreis auf dem Boden, dann ein zweiter. Seltsame Zeichen wurden sichtbar, Zahlen, Buchstaben. Eine Hand schrieb deutlich lesbar OHLHEIM. 104
Während wir aufsprangen und an die Wände zurückwichen, blickte Großman fasziniert auf etwas, das innerhalb des Kreises erschien und von Sekunde zu Sekunde deutlicher wurde. Eine verhüllte Gestalt stand vor uns, deren Gesicht im Schatten einer dunklen Kapuze lag. Ich vermochte nichts zu erkennen außer Schwärze, keine Augen, keine Züge. Und dennoch spürte ich einen kalten, alles verlöschenden Blick. Großman ging darauf zu wie in Trance. Er trat in den Kreis. Die wartende Gestalt schlang ihr Gewand um ihn. Da war es, als erwachte Großman. Er schrie mit weit aufgerissenen Augen. Es war ein unmenschliches Kreischen, das erst nicht enden wollte, dann aber langsam verhallte. Nun wandte sich die Gestalt uns zu. Ich stolperte blind vor Entsetzen vorwärts. Eiseskälte griff nach mir, als ich den Rand des Kreises erreichte. Ich fiel, und im Fallen wischte ich über die Zeichen und Buchstaben. Sie verblaßten und verschwanden. Ein wütender Laut war in meinen Ohren, der wie ein Fauchen klang, dann verlöschten der Kreis und die Gestalt. Die Kälte floß in den Kosmos zurück, aus dem sie beschworen worden war. Wir warteten nicht ab, was noch geschehen würde. Wir sahen, daß der mechanische Körper Traude Großmans leer war, eine Puppe, mehr nicht. Ihr Geist war erlöst worden, oder er befand sich in ewiger Verdammnis jenseits unserer so fest scheinenden Realität. Es gab nichts, das wir tun konnten. Wir verließen Wien noch in der gleichen Stunde. Wir fuhren wie gehetzt, obwohl wir wußten, daß weder Zeit noch Entfernung Vergessen oder Sicherheit bringen würden. Seit diesem Wochenende ist Furcht unser ständiger Begleiter. Seit wir wissen, daß es Türen gibt in der Realität – grauenvolle Türen, durch die Geister zu uns hereinstarren, in unsere Hirne und unsere Seelen. Und manchmal auch hereinkommen...
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ENDE
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