Scan by Schlaflos
Buch Der mythische Dornenkönig ist erwacht und hat Chaos und Verderben über das Land Crothenien gebr...
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Scan by Schlaflos
Buch Der mythische Dornenkönig ist erwacht und hat Chaos und Verderben über das Land Crothenien gebracht. Der rechtmäßige König und seine Kinder sind von Verräterhand ermordet worden, das Reich steht am Rand eines Bürgerkriegs. Königin Muriele versucht verzweifelt, die Macht der Krone aufrechtzuerhalten. Allein aus der Hoffnung, dass ihre jüngste Tochter Anne Dare das Attentat überlebt haben könnte, kann sie noch Kraft schöpfen. Murieles treuester und bester Helfer, der Ritter Sir Neil MeqVren, begibt sich auf die Suche nach der Vermissten und findet sie schließlich in Begleitung ihrer Dienerin Austra und des stolzen Schwertkämpfers Cazio. Neil offenbart Anne, dass sie nach Hause zurückkehren muss, um eine Prophezeiung zu erfüllen, die das Land von den Schrecken des Dornenkönigs befreien kann. Und so macht sich der kleine Trupp auf den Weg auf Schritt und Tritt bedroht von Attentätern, aber auch von Mantikoren, Gryffins und anderen Monstren, die man bislang für Geschöpfe der reinen Fantasie gehalten hatte ... Autor Greg Keyes lernte schon als Kind die Kultur und Sprache der Navajo-Indianer kennen und entwickelte hierdurch eine große Faszination für Sprachen, Rituale und Mythen. Nach einem Anthropologie-Studium veröffentlichte er unter dem Namen J. Gregory Keyes seinen ersten Fantasy-Roman »Aus Wasser geboren«, mit dem er sofort in die Riege der jungen Erneuerer des Genres aufstieg. Außerdem ist von Greg Keyes lieferbar: DIE VERLORENEN REICHE: I. Der Dornenkönig. Roman (24260)
Greg Keyes
Die Rückkehr der Königin Die verlorenen Reiche 2 Ins Deutsche übertragen von Marie-Luise Bezzenberger BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Charnel Prince. The Kingdoms of Thorn and Bone« (Book Two) bei Del Rey, Ballantine Publishing Group, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. i. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung August 2005 Copyright © der Originalausgabe 2004 by J. Gregory Keyes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Schlück/Crabb Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24261 Redaktion: Alexander Groß UH • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24261-4 www.blanvalet-verlag.de
Für Elizabeth Bee Vega Had laybyd hw loygwn eyl Nbag Heybeywr, ayg nhoygwr niwoyd. Der Wald spricht mit vielen Zungen, Lausche wohl, doch antworte niemals. - Nhuwd nhy Whad-Sprichwort, als Warnung für kleine Kinder gebräuchlich Prolog Ich höre ein Geräusch«, sagte Martyn leise und zügelte seinen Apfelschimmelhengst. »Es ist ein unnatürliches Geräusch.« Die blauen Raubtieraugen des Mönchs starrten unverwandt, als versuchten sie, sich durch die
gewaltigen Stämme der Eiseneichen und die felsigen Hänge des Königswaldes zu brennen. An der Haltung seiner Schultern unter der blutroten Robe konnte Ehawk erkennen, dass jeder Muskel seines Körpers angespannt war. »Ohne Zweifel«, erwiderte Sir Oneu leutselig. »Dieser Wald plappert wie eine Frau, die vor Liebe halb von Sinnen ist.« Doch trotz seines Tonfalls waren Sir Oneus schwarze Augen ernst, als er sich an Ehawk wandte. Wie immer war Ehawk verblüfft über das Gesicht des Älteren - es war weich und spitz, die Augenwinkel durch das Gelächter von fünfzig Jahren voller Fältchen. Der Ritter schien seinem Ruf als kühner Kämpfer kaum gerecht zu werden. »Was meinst du, mein Junge?«, fragte Oneu. »Nach allem, was ich gesehen habe«, begann Ehawk, »kann Bruder Martyn eine Schlange jenseits des nächsten Hügels atmen hören. Ich habe keine solchen Ohren, und im Augenblick höre ich wenig. Aber allein das ist schon merkwürdig, Herr. Es sollten mehr Vögel singen.« »Bei den Eiern des heiligen Rooster«, knurrte Oneu spöttisch, »was soll das denn heißen? Da trällert doch gerade einer, so laut, dass ich mein eigenes Wort kaum verstehe.« »Ja, Herr, aber das ist ein Etecbakichuk, und die -« »Sprich die Sprache des Königs oder Almanisch, Bursche«, fuhr ihn ein mürrischer Mann mit fahlem Gesicht an. Er trug Gewän9 der in der gleichen Farbe wie Martyns. »Schwafle uns nichts in deiner Heidensprache vor.« Das war Gavrel, ein weiterer der fünf Mönche, die die Reisenden begleiteten. Sein Gesicht sah aus, als sei es in einen Apfel geschnitzt und zum Trocknen liegen gelassen worden. Ehawk mochte Gavrel nicht besonders. »Zügelt Eure eigene Zunge, Bruder Gavrel«, wies Sir Oneu ihn zurecht. »Ich bin derjenige, der mit unserem jungen Führer redet, nicht Ihr.« Gavrel quittierte den Tadel mit einem finsteren Blick, widersprach dem Ritter jedoch nicht. »Was wolltest du sagen, Ehawk, mein Junge?« »Ich glaube, ihr nennt sie Krähenspechte«, erklärte Ehawk. »Die haben vor nichts Angst.« »Ah.« Oneu runzelte die Stirn. »Dann lasst uns still sein, während Bruder Martyn genauer hinhört.« Ehawk tat wie geheißen; er strengte seine eigenen Ohren aufs Äußerste an und verspürte ein ungewohntes Frösteln, als er sich der Stille des Waldes bewusst wurde. Es war seltsam. Doch dies waren seltsame Zeiten. Erst vor zwei Wochen war der Sichelmond purpurfarben aufgegangen, fürwahr ein unheilvolles Vorzeichen, und der Schall eines eigentümlichen Horns war im Winde ertönt; nicht nur in Ehwaks Dorf war es zu hören gewesen, sondern überall. Die alten Orakelweiber murmelten Prophezeiungen von Untergang und Verderben vor sich hin, und Geschichten von grauenvollen Bestien, die im Königswald umgingen und mordeten, wurden mit jedem Tag häufiger. Und dann waren diese Männer von Westen gekommen, ein Ritter der Kirche, prachtvoll anzuschauen in seiner Herrenrüstung, und fünf Mönche vom Orden des heiligen Mamres, alles Krieger. Vor vier Tagen waren sie in Ehawks Dorf eingetroffen und hatten einen einheimischen Führer gesucht. Die Ältesten hatten ihn ausgewählt, denn obgleich Ehwak kaum über seinen siebzehnten Sommer hinaus war, gab es keinen Begabteren, wenn es ums Jagen und Spurenlesen ging. Er hatte sich gefreut, dass er mitgehen durf10 te, denn hier, dicht bei den Hasenbergen, waren Fremde etwas Ungewöhnliches, und er hatte gehofft, etwas über fremde Länder zu erfahren. Er war nicht enttäuscht worden. Sir Oneu de Loingvele berichtete gern von seinen Abenteuern, und er schien schon überall gewesen zu sein. Die Mönche waren weniger gesprächig und ein wenig unheimlich - außer Gavrel, der unheimlich war und kein Blatt vor den Mund nahm, und Martyn, der auf seine eigene, schroffe Art freundlich war. Wenn er gleichmütig von seinem Leben und seiner Ausbildung erzählte, war das, was er zu sagen hatte, im Allgemeinen interessant. Eins jedoch hatte Ehwak nicht in Erfahrung gebracht: wonach diese Männer suchten. Manchmal dachte er, dass sie es selbst nicht wussten. Sir Oneu nahm seinen kegelförmigen Helm ab und klemmte ihn unter den Arm. Ein verirrter Sonnenstrahl glitzerte auf seinem Harnisch, als er seinem Schlachtross den Hals klopfte, um das Tier zu beruhigen. Sein Blick glitt zu Martyn zurück. »Nun, Bruder?«, erkundigte er sich. »Was flüstern die Heiligen Euch zu?« »Keine Heiligen, denke ich«, antwortete Martyn. »Ein Rascheln, viele Männer, die über Laub schreiten, aber sie hecheln wie Hunde. Sie geben noch andere sonderbare Laute von sich.« Er wandte sich an Ehwak. »Was für Menschen leben in dieser Gegend?« Ehwak dachte nach. »Die Dörfer der Duth ag Pae liegen zwischen diesen Hügeln verstreut. Das nächste heißt Aghdon; es liegt gleich ein Stück weiter das Tal hinauf.« »Sind sie Krieger?« »Normalerweise nicht. Bauern und Jäger, genau wie meine Leute.« »Kommen diese Geräusche näher?«, wollte Sir Oneu wissen.
»Nein«, sagte Martyn. »Wohlan. Dann werden wir in dieses Dorf reiten und schauen, was die Einheimischen zu sagen haben.« 11 »Was habt Ihr gemacht?« »Ich bin ins Piratenlager hinübermarschiert und habe ihren Anführer zu einem Ehrenduell gefordert.« »Hat er die Herausforderung angenommen?« »Das musste er. Piratenhäuptlinge müssen nach außen hin stark sein, sonst folgen ihnen ihre Männer nicht. Hätte er abgelehnt, so hätte er am nächsten Tag gegen zehn seiner eigenen Leute kämpfen müssen. Also habe ich ihm diese Sorge erspart, indem ich ihn tötete.« »Und was dann?« »Dann habe ich seinen Stellvertreter herausgefordert. Und dann den Nächsten, und so weiter.« Ehawk grinste. »Habt Ihr sie alle getötet?« »Nein. Während ich gekämpft habe, haben sich meine Männer eines ihrer Schiffe bemächtigt und sind losgesegelt.« »Ohne Euch?« »Ja. Das hatte ich ihnen befohlen.« »Und was ist passiert?« »Als sie gemerkt haben, was geschehen war, haben sie mich natürlich gefangen genommen, und die Duelle haben aufgehört. Aber ich habe sie davon überzeugt, dass die Kirche Lösegeld für mich zahlen würde, deshalb haben sie mich recht gut behandelt.« »Hat die Kirche gezahlt?« »Vielleicht hätte sie das getan - ich habe nicht so lange gewartet. Später bekam ich die Gelegenheit zu fliehen, und ich habe sie genutzt.« »Erzählt mir davon«, bat Ehawk. Der Ritter nickte. »Alles zu seiner Zeit, Junge. Aber jetzt sag du mir - du bist hier aufgewachsen. Die Ältesten in deinem Dorf haben viele merkwürdige Dinge erzählt, von Gryffins, Mantikoren -sagenhafte Ungeheuer, die seit tausend Jahren nicht mehr gesehen wurden, sind plötzlich allüberall. Was hältst du davon, Ehawk, mein Junge? Schenkst du solchem Gerede Glauben?« Ehawk wog seine Worte sorgfältig ab. »Ich habe seltsame Fährten gesehen und sonderbare Witterungen gerochen. Mein Vetter 14 Owel hat gesagt, er hätte ein Tier gesehen, das aussah wie ein Löwe, aber mit Schuppen und dem Kopf eines Adlers. Owel lügt nicht, und es passt nicht zu ihm, dass er es mit der Angst bekommt oder Dinge sieht, die nicht da sind.« »Du glaubst solche Geschichten also?« »Ja.« »Wo kommen diese Ungeheuer her?« »Es heißt, sie hätten geschlafen - wie ein Bär im Winterschlaf, oder wie eine Zikade, die siebzehn Jahre im Erdreich schläft, ehe sie herauskriecht.« »Und was glaubst du, warum sie jetzt aufwachen?« Wieder zögerte Ehawk. »Komm, Junge«, drängte der Ritter leise. »Deine Ältesten wollten nichts sagen, wahrscheinlich, weil sie gefürchtet haben, als Ketzer betrachtet zu werden. Wenn du davor Angst hast, dann hast du von mir nichts zu befürchten. Die Mysterien der Heiligen umgeben uns auf allen Seiten, und ohne die Führung der Kirche denken die Menschen sonderbare Sachen. Aber du lebst hier, Junge - du kennst Dinge, von denen ich nichts weiß. Geschichten. Die alten Gesänge.« »Ja«, sagte Ehawk bedrückt. Er spähte zu Gavrel hinüber und fragte sich, ob dieser wohl auch schärfere Ohren hatte als ein normaler Mensch. Sir Oneu bemerkte den Blick. »Diese Mission steht unter meinem Befehl«, sagte er, immer noch mit leiser Stimme. »Ich gebe dir mein Wort als Ritter, dir wird kein Schaden aus dem entstehen, was du mir erzählst. Also - was sagen die alten Weiber? Warum treiben ruchlose Geschöpfe ihr Unwesen im Wald, wenn sie das niemals zuvor getan haben?« Ehawk biss sich auf die Lippe. »Sie sagen, es ist Etthoroam, der Moosfürst. Sie sagen, er ist aufgewacht, als der Mond purpurn war, wie es in der alten Prophezeiung vorhergesagt wurde. Diese Wesen sind seine Diener.« »Erzähl mir von ihm, von diesem Moosfürsten.« »Äh ... das sind doch bloß alte Märchen, Sir Oneu.« 15 »Erzähl sie mir trotzdem. Bitte.« »Seine Gestalt gleicht der eines Menschen, heißt es, aber er ist ganz aus Dingen des Waldes gemacht. Ein Geweih wächst auf seinem Kopf, wie bei einem Hirsch.« Ehawk sah dem Ritter offen ins Gesicht. »Sie sagen, er war schon vor den Heiligen hier, vor allem anderen, als es nur den Wald gegeben hat und der die ganze Welt bedeckt hat.«
Sir Oneu nickte, als sei ihm dies bereits bekannt. »Und weshalb erwacht er?«, wollte er wissen. »Was sagt die Prophezeiung, was er tun wird?« »Es ist sein Wald«, meinte Ehawk. »Er wird tun, was er will. Aber es heißt, wenn er aufwacht, wird sich der Wald gegen die erheben, die ihm Schaden zugefügt haben.« Er blickte zur Seite. »Deshalb sind die Sefry weggegangen. Sie haben Angst, dass er uns alle töten wird.« »Und fürchtest du das auch?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nur ...« Er verstummte, wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. »Nur weiter.« »Ich hatte mal einen Onkel. Eine Krankheit ist über ihn gekommen. Man hat nicht viel gesehen - keine Geschwüre oder offene Wunden, keine Anzeichen eines Fiebers -, aber er ist immer müder geworden, als die Monate verstrichen sind, und seine Augen wurden ganz trübe. Seine Haut ist bleich geworden. Er ist sehr langsam gestorben, und erst ganz am Ende konnten wir den Tod an ihm riechen.« »Das tut mir Leid.« Ehawk zuckte die Achseln. »Der Wald - ich glaube, er stirbt genauso.« »Woher weißt du das?« »Ich kann es riechen.« »Ah.« Der Ritter schien eine Weile darüber nachzugrübeln, und so ritten sie schweigend weiter. »Dieser Moosfürst«, sagte Sir Oneu endlich. »Hast du schon einmal gehört, dass ihn jemand den Dornenkönig genannt hat?« 16 »So nennen ihn die Oostischen, Sir Oneu.« Sir Oneu seufzte und sah plötzlich älter aus. »Das dachte ich mir.« »Ist es das, was Ihr hier im Wald sucht, Sir Oneu? Den Dornenkönig?« »Ja.« »Dann -« Doch Martyn schnitt ihm jäh das Wort ab. »Sir Oneu?« Das Gesicht des Mönches wirkte hart und starr. »Ja, Bruder?« »Ich höre sie wieder.« »Wo?« »Überall. Aus allen Richtungen jetzt. Sie kommen näher.« »Was ist das, Martyn? Könnt Ihr mir sagen, womit wir es zu tun haben? Mannen des Dornenkönigs?« »Ich weiß es nicht, Sir Oneu. Ich weiß nur, dass wir umzingelt sind.« »Ehawk? Gibt es irgendetwas, das du uns sagen kannst?« »Nein, Sir. Ich kann noch gar nichts hören.« Doch schon bald hörte er es. Überall um sie herum regte sich der Forst, als wären die Bäume selbst zum Leben erwacht. Ehawk war, als zöge der Wald sich zusammen, als stünden die Bäume immer dichter beieinander, eine riesige Falle, die sich um die Reisenden schloss. Die Pferde begannen nervös zu wiehern, sogar Airece, Sir Oneus Schlachtross. »Haltet euch bereit, Männer«, brummte Sir Oneu. Ehawk konnte jetzt flüchtige Blicke auf sie erhaschen, auf die Gestalten zwischen den Bäumen. Sie grunzten und knurrten wie Tiere, sie krächzten und maunzten, doch sie sahen aus wie Männer und Frauen, nackt oder nur in ungegerbte Tierhäute gehüllt. Sir Oneu beschleunigte sein Tempo zum Trab und bedeutete ihnen, das Gleiche zu tun. Er hob seinen schweren Eschenholzspeer. Ehawk sah, dass vor ihnen jemand auf dem Weg auf sie wartete. Sein Herz war eine Grille in seiner Brust, als sie näher herantrabten. Sie waren zu siebt, Männer und Frauen, zerkratzt und 17 voller blauer Flecken, und nackt wie am Tage ihrer Geburt - alle außer einem. Er stand vor den anderen, ein Löwenfell wie einen Mantel über die eine Schulter geworfen. Von seinem Kopf ragte ein breites Geweih empor. »Etthoroam«, keuchte Ehawk. Er konnte seine Knie nicht mehr fühlen, die sich an das Pferd klammerten. »Nein«, sagte Martyn. »Das ist ein Mensch. Das Geweih gehört zum Kopfputz.« Ehawk, der versuchte, sein wachsendes Entsetzen zu beherrschen, sah, dass Martyn Recht hatte. Doch das bedeutete gar nichts. Etthoroam war ein Zauberer. Er konnte jede beliebige Gestalt annehmen. »Seid Ihr sicher?«, fragte Sir Oneu Martyn. Vielleicht teilte er Ehawks Zweifel. »Sein Geruch ist der eines Menschen«, antwortete Martyn. »Sie sind überall«, murmelte Gavrel, der hastig den Kopf von einer Seite zur anderen drehte und in den Wald spähte. Ehawk bemerkte, dass die drei anderen Mönche ihre Bögen gespannt und einen lockeren Ring um die Gruppe gebildet hatten. Martyn schloss mit seinem Pferd zu Ehawk auf. »Bleib dicht bei mir«, sagte er. Seine Stimme war sehr leise. »Ehawk, mein Junge«, fragte Sir Oneu, »könnten das die Leute aus dem Dorf sein?« Ehawk betrachtete die Gesichter derer, die hinter dem Mann mit dem Geweih standen. Ihre Augen waren sehr merkwürdig, blicklos, als wären sie betrunken oder im Banne eines Zaubers. Ihr Haar war wirr und verfilzt.
»Vielleicht«, antwortete er. »Es ist schwer zu sagen, wenn sie so aussehen.« Sir Oneu nickte und hielt zehn Ellen von den Fremden entfernt an. Plötzlich war es so still, dass Ehawk die Brise in den höchsten Ästen flüstern hörte. »Ich bin Sir Oneu de Loingvele«, rief der Ritter mit klarer, tragender Stimme, »ein Mitglied der Kirche mit einem heiligen Auftrag. Mit wem habe ich die Ehre?« 18 Die Gestalt mit dem Hirschgeweih grinste und hob die Fäuste, sodass sie die Schlangen sehen konnten, die sich darin wanden. »Seht Euch ihre Augen an«, stieß Gavrel hervor und zog sein Schwert. »Sie sind wahnsinnig.« »Haltet ein«, befahl Sir Oneu. Er ließ die Hand auf dem Heft seines Schwertes ruhen und beugte sich vor. »Das ist eine kluge Antwort«, sagte der Ritter laut. »Die meisten würden ihren Namen nennen oder irgendeinen belanglosen Gruß aussprechen. Ihr mit Eurem Geweih dagegen, Ihr haltet mir Schlangen hin. Sehr gerissen, muss ich sagen. Eine exzellente Antwort. Ich erwarte Euren nächsten Geistesblitz bereits mit äußerster Ungeduld.« Der Mann mit dem Geweih blinzelte lediglich, als seien Sir Oneus Worte nichts als Regentropfen. »Ihr seid nicht bei Sinnen, nicht wahr?«, fragte Sir Oneu. Diesmal legte der Geweihmann den Kopf in den Nacken, sein zum Himmel gewandter Mund öffnete sich, und er heulte. Drei Bogen surrten gleichzeitig. Ehawk fuhr bei dem Geräusch herum und sah, dass die drei Mönche in den Wald schössen. Denn die nackten und halb nackten Gestalten, die zwischen den Bäumen hindurchgehuscht waren, stürmten plötzlich heran. Ehawk sah, wie eine von ihnen fiel, ein Pfeil hatte ihren Hals durchbohrt. Sie war hübsch, oder war es einst gewesen. Jetzt zuckte sie am Boden wie ein verwundetes Reh. »Bleibt an meiner Seite, Bruder Gavrel«, befahl Sir Oneu. Er legte seine Lanze an und richtete sie auf die Gruppe auf dem Weg. Wie ihre Gefährten im Wald waren auch sie unbewaffnet, und der Anblick eines Ritters in voller Rüstung hätte sie zurückweichen lassen müssen, doch stattdessen sprang eine der Frauen vor und rannte direkt in den Speer hinein. Die Waffe traf sie mit solcher Wucht, dass die Spitze an ihrem Rücken herausdrang, doch sie griff nach dem Schaft, als wolle sie sich daran emporziehen, bis zu dem Ritter, der sie getötet hatte. Sir Oneu fluchte und zog sein Breitschwert. Er hieb auf den ersten Mann ein, der ihn ansprang, und auch auf den nächsten, doch mehr und mehr von den Besessenen kamen aus dem Wald ge19 strömt. Die drei Mönche schössen weiter, mit einer Geschwindigkeit, die Ehawk unmöglich dünkte, doch schon jetzt trafen die meisten ihrer Schäfte aus nächster Nähe, und am Wegesrand häuften sich rasch die Toten. Martyn, Gavrel und Sir Oneu zogen blank und tauschten jetzt die Plätze mit den Bogenschützen, bildeten einen Kreis um sie, damit sie Platz zum Schießen hatten. Ehawk war in die Mitte des Rings gedrängt worden. Reichlich verspätet griff er nach seinem eigenen Bogen und legte einen Pfeil an, doch bei all dem Gedränge war es schwer, ein Ziel zu finden. Es waren mehr Angreifer, als Ehawk zählen konnte, doch sie waren alle unbewaffnet. Dann änderte sich das schlagartig, als irgendjemand sich daran erinnerte, wie man einen Stein wirft. Der erste prallte klirrend von Sir Oneus Helm ab und richtete keinen Schaden an, doch bald folgte ein ganzer Steinhagel. Mittlerweile hatten die Feinde eine Art wortlosen Gesang angestimmt. Der Klang hob und senkte sich wie der Ruf eines Ziegenmelkers. Bruder Alvaer taumelte, als ein Stein ihn an der Stirn traf und Blut aus der Wunde spritzte. Er hob die Hand, um sich die Augen zu wischen, und in dieser kurzen Pause riss ein Riese von einem Mann an seinem Arm und zerrte ihn in das Meer aus tollwütigen Gesichtern. Natürlich hatte Ehawk noch nie das Meer gesehen, doch er konnte es sich anhand von Sir Oneus lebhaften Beschreibungen gut vorstellen - wie ein See, der auf und ab wogte. Alvaer war wie ein Mann, der in einem solchen Gewässer ertrank. Er kämpfte sich an die Oberfläche und wurde wieder hinab gezogen. Noch einmal tauchte er auf, weiter entfernt und voller Blut. Ehawk schien es, als fehle ihm ein Auge. Alvaer kam ein letztes Mal hoch, dann war er verschwunden. Inzwischen setzten die anderen Mönche und Sir Oneu ihr blutiges Werk fort, doch die Leichen türmten sich zu hoch, als dass die Pferde sich noch hätten frei bewegen können. Gavrel starb als Nächster, er wurde in die Menge gezerrt und in Stücke gerissen. 20 »Sie werden uns überwältigen!«, schrie Sir Oneu. »Wir müssen durchbrechen.« Er drängte Airece vorwärts; sein Schwertarm hob und senkte sich, drosch auf Glieder ein, die sich nach ihm und seinem Pferd ausstreckten. Ehawks Pony schrie auf und tänzelte, und plötzlich war ein Mann da und riss mit dreckigen, abgebrochenen Nägeln an Ehawks Bein. Er brüllte, ließ den Bogen fallen und zog seinen Dolch. Wild stach er zu und fühlte mehr die Klinge eindringen, als dass er es sah. Der Mann beachtete es nicht, sondern sprang hoch, bekam seinen Arm zu fassen und begann mit grauenvoller Kraft zu ziehen. Dann war auf einmal Martyn neben ihm, und der Kopf des Angreifers kollerte über den Boden. Ehawk schaute mit einer Art entrückter Faszination zu. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Sir Oneu zu Boden ging; drei Männer hingen an
seinem Schwertarm, und zwei weitere zerrten an ihm. Er heulte verzweifelt auf, als sie ihn vom Pferd rissen. Die Mönche kämpften sich vor, bewegten sich mit aberwitziger Geschwindigkeit, schienen in alle Richtungen gleichzeitig zu schlagen. Sie erreichten Sir Oneu nicht rechtzeitig. Ein Stein prallte gegen Ehawks Schulter; mehrere trafen Martyn, einer davon am Kopf. Er schwankte einen Augenblick, blieb jedoch im Sattel. »Folge mir«, befahl er Ehawk. »Zaudere nicht.« Er warf sein Pferd herum, fort von seinen beiden Brüdern, und ritt vom Weg herunter. Ehawk war wie betäubt; es kam ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn, nicht zu gehorchen. Das Schwert des Mönchs wirbelte zu schnell, als dass man es hätte sehen können, und er hatte die Richtung klug gewählt, hatte sich die Stelle ausgesucht, wo am wenigsten Feinde standen. Dahinter war ein breiter Fluss. Die beiden sprangen ins Wasser, und ihre Pferde tauchten unter und begannen zu schwimmen. Sie schafften es bis zum anderen Ufer, wo die Böschung sanft abfiel und die Tiere Halt fanden. Ein Blick zurück zeigte, dass die Angreifer ihnen bereits auf den Fersen waren. 21 Martyn griff herüber und packte Ehawk an der Schulter. »Der Praifec muss hiervon erfahren. Verstehst du? Praifec Hespero, in Eslen. Es ist mehr, als ich von dir verlangen kann, aber du musst schwören, dass du es tust.« »Eslen? Ich kann nicht nach Eslen reiten. Es ist zu weit, und ich kenne den Weg nicht.« »Du musst. Du musst, Ehawk. Ich erlege es dir auf, als den geos eines Todgeweihten.« Mehrere ihrer Verfolger platschten in den Fluss und begannen unbeholfen zu schwimmen. »Kommt mit«, flehte Ehawk verzweifelt. »Ich kann das nicht ohne Euch tun.« »Ich werde dir folgen, wenn ich kann, aber ich muss sie hier aufhalten, und du musst so schnell reiten, wie dein Pferd dich tragen kann. Hier.« Er löste einen Beutel von seinem Gürtel und drückte ihn Ehawk in die Hand. »Da ist Geld drin, nicht viel. Gib es mit Bedacht aus. Außerdem ist ein Brief dabei, mit einem Siegel. Das wird dafür sorgen, dass du zum Praifec vorgelassen wirst. Sag ihm, was wir hier gesehen haben. Versage nicht. Und jetzt geh.« Dann musste er sich umdrehen, um dem ersten Wahnsinnigen gegenüberzutreten, der aus dem Fluss kam. Er spaltete den Schädel des Mannes wie eine Melone, nahm dann eine andere Kampfstellung ein und schickte sich an, dem nächsten die Stirn zu bieten. »Reite!«, schrie er, ohne sich umzublicken. »Sonst sind wir alle umsonst gestorben.« Da zerbrach irgendetwas in Ehawk, und er trieb sein Pferd an und ritt, bis die Stute vor Erschöpfung stolperte. Selbst dann hielt er nicht an, sondern ließ das arme Tier weiterlaufen, so schnell es ihm eben möglich war. Schluchzen zerriss ihm die Brust, bis sie schmerzte und die Sterne sich zeigten. Er ritt stets nach Westen, denn er wusste, dass Eslen irgendwo in dieser Richtung lag. TeÜI Schattentage Im Jahre 2223 von Everon - Im Monat Novmen Der letzte Tag des Otavmen ist der Tag des heiligen Temnos. Die ersten sechs Tage im Novmen sind jeweils der heiligen Dun, dem heiligen Under, der heiligen Shade, der heiligen Mefitis, dem heiligen Gavriel und dem heiligen Halaquin gewidmet. Alle zusammen sind dies die Schattentage, an denen die Welt der Lebenden der Welt der Toten begegnet. aus dem Almanach von Presson Manteo Und nachdem zwölf Monat gegrämt er sich Stieg aus der See seiner Liebsten Geist Was willst du von mir, Herzliebster mein Das meinen ew'gen Schlaf mir zerreißt? Ich will einen Kuss, o Geliebte mein Einen einzigen Kuss nur von dir Dann störe ich nimmermehr deine Ruh' Dann lasse ich Frieden dir. Meine Lippen sind Eis und Meer, mein Lieb Sind wie der Lehm so kalt Und küsst du sie, so salzig nass Wirst keinen Tag du mehr alt. aus Die ertrunkene Geliebte, virgenyanisches Volkslied Er soll verflucht sein zu leben und soll so Vernichtung bringen über das Leben. Übersetzung aus Tafles Taceis oder Das Buch des Raunens 1. Kapitel - Die Nacht Neil MeqVren ritt mit seiner Königin eine dunkle Straße in der Stadt der Toten hinunter. Das Trommeln der Pferdehufe wurde vom Hagel übertönt, der auf die bleiernen Pflastersteine prasselte. Der Wind war ein Drache, der seine nebligen Leibeswindungen regte und mit dem nassen Schwanz peitschte. Geister begannen sich zu rühren, und unter Neils poliertem Brustpanzer, unter seiner vor Kälte schaudernden Haut und dem Gehege seiner Knochen ballte sich die Sorge. Der Wind und der eisige Regen machten ihm nichts aus. Seine Heimat war Skern, wo Frost, Meer und Wolken ein und dasselbe waren, wo Kälte und Schmerz als die simpelsten Bestandteile des Lebens galten. Auch die Toten störten ihn nicht. Es waren die Lebenden, die er fürchtete, die Dolche und Pfeile, die Wetter und Finsternis vor seinen Augen, die bloß menschlich waren, verbargen. So wenig wäre nötig, um die Königin zu töten - der Stich einer winzigen Nadel, ein Loch von der Größe eines kleinen Fingers in ihrem Herzen, ein aus der Schleuder sirrender Stein
gegen ihre Schläfe. Wie konnte er sie beschützen? Wie konnte er das Einzige bewahren, das ihm geblieben war? Er warf ihr einen raschen Blick zu. Ein wollener Wettermantel verhüllte sie, ihr Gesicht lag tief im Schatten der Kapuze. Ein ähnlicher Mantel bedeckte seine Herrenrüstung und den Helm. Sie mochten aussehen wie jedes andere Pilgerpaar, das gekommen war, um seine Ahnen zu besuchen - oder zumindest hoffte er das. Wären jene, die den Tod der Königin wünschten, Sandkörner gewesen, so hätten sie eine Sandbank gebildet, groß genug, um ein Kriegsschiff darauf stranden zu lassen. 25 Sie überquerten Steinbrücken über Kanälen mit schwarzem Wasser, die Bruchstücke der Flammen in ihren Laternen einfingen und sie zu gelben, schleierartigen Netzen spannten. Die Häuser der Toten kauerten zwischen den Kanälen, hohe Giebeldächer ließen den Sturm abgleiten und hielten ihre schweigenden Bewohner trocken, wenn auch nicht warm. Anderswo huschten ein paar Lichter zwischen den Gassen herum - anscheinend war die Königin nicht die Einzige, die sich von dem schlechten Wetter nicht beirren ließ, entschlossen, heute Nacht die Gesellschaft der Toten zu suchen. Man konnte natürlich in jeder beliebigen Nacht mit den Toten sprechen, doch in der letzten Nacht des Otavmen - am Temnosabend - würden die Toten vielleicht antworten. Oben auf dem Hügel, im Eslen der Lebenden, feierten die Menschen; bis das Unwetter heraufgezogen war, hatten Tänzer in Skelettkostümen die Straßen bevölkert, und ernste Sverrun-Priester hatten die vierzig Hymnen des heiligen Temnos gesungen. Bittsteller in Totenschädelmasken waren von Haus zu Haus gezogen und hatten um Seelenkuchen gebeten, und Feuer hatten auf den öffentlichen Plätzen gebrannt, das größte davon auf dem Versammlungsplatz, der als der Kerzenhain bekannt war. Jetzt waren die Festlichkeiten in die Häuser und Schenken verlegt worden, und die Prozession, die sich normalerweise ihren gewundenen Weg bis nach Eslendes-Schattens gesucht hätte, war vor dem grimmigen Antlitz des hereinbrechenden Winters von einem Strom zu einem Rinnsal geschrumpft. Die kleinen, aus Rüben und Äpfeln geschnitzten Lampen waren alle dunkel, und hier würde sich heute Nacht nur wenig Festliches zutragen. Neil behielt die Hand an Krähes Heft, und seine Augen waren ruhelos. Er beobachtete nicht die dahinschwankenden Lichtpunkte der Laternen, sondern starrte ins Dunkel, das sich dazwischen dehnte. Wenn irgendetwas sie angriff, dann würde es wahrscheinlich von dort kommen. Die Häuser wurden größer und höher, als sie den dritten und den vierten Kanal überquerten, und dann erreichten sie den letzten Kreis, umfriedet mit Granit und Eisenspeeren, wo die Statuen 16 der heiligen Duh und des heiligen Under über Paläste aus Marmor und Alabaster wachten. Eine Laterne bewegte sich auf sie zu. »Behaltet Eure Kapuze auf, Mylady«, wies Neil die Königin an. »Das ist doch nur einer der Scathomen, die die Gräber bewachen«, entgegnete sie. »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte Neil. Er ließ Hurrikan ein paar Schritte traben. »Wer da?«, rief er. Die Laterne hob sich, und in ihrem Licht kam ein eckiges Gesicht aus dem Schatten eines Wettermantels zum Vorschein. Neils Atem ging ein wenig leichter, denn er kannte diesen Mann - Sir Len, in der Tat einer der Scathomen, die ihr Leben den Toten geweiht hatten. Natürlich waren das Äußere eines Mannes und das, was in ihm steckte, zwei verschiedene Dinge, wie Neil aus bitterer Erfahrung wusste. Deshalb blieb er wachsam. »Die gleiche Frage muss ich Euch stellen«, erwiderte der alte Ritter auf Neils Ruf. Neil ritt näher heran. »Es ist die Königin«, sagte er zu dem Ritter. »Ich muss ihr Gesicht sehen«, beharrte Sir Len. »Gerade heute Nacht muss alles seine Ordnung haben.« »Alles wird seine Ordnung haben«, ließ sich die Stimme der Königin vernehmen, während sie ihre Laterne hob und die Kapuze zurückschlug. Ihr Gesicht erschien, schön und hart wie das Eis, das vom Himmel fiel. »Ich kenne Euch, Lady«, sagte Sir Len. »Ihr dürft passieren. Aber ...« Seine Worte schienen mit dem Wind davonzufliegen. »Zweifelt nicht an Ihrer Majestät«, warnte Neil steif. Die Augen des alten Ritters spießten Neil auf wie Speere. »Ich habe Eure Königin schon gekannt, als sie noch Kinderkleidchen getragen hat«, knurrte er. »Als Ihr weder geboren wart noch jemals irgendwer auch nur an Euch dachte.« »Sir Neil ist mein Ritter«, erklärte die Königin. »Er ist mein Beschützer.« 27 »Fürwahr. Dann sollte er Euch von hier fortbringen. Ihr solltet nicht zu diesem Ort kommen, Mylady, wenn die Toten sprechen. Nichts Gutes wird daraus entstehen. Ich habe hier lange genug Wache gestanden, um das zu wissen.« Die Königin betrachtete Sir Len lange. »Euer Rat ist gut gemeint«, sagte sie schließlich. »Aber ich werde ihn nicht beherzigen. Bitte fragt nicht weiter.« Sir Len beugte das Knie. »Ich werde nicht weiterfragen, meine Königin.« »Ich bin nicht mehr Königin«, wehrte sie leise ab. »Mein Gemahl ist tot. Es gibt keine Königin in Eslen.« »So Ihr lebt, Mylady, gibt es eine Königin«, erwiderte der alte Ritter. »Im Namen der Wahrheit, wenn auch nicht
im Namen des Gesetzes.« Sie nickte leicht, und ohne ein weiteres Wort betraten sie den Wohnsitz der königlichen Toten. Sie ritten unter dem schmiedeeisernen Torbogen eines großen Hauses aus rotem Marmor hindurch, wo sie die Pferde zurückließen, und mit der Drehung eines Schlüssels waren sie dem eisigen Regen entkommen. Hinter der Tür fanden sie eine kleine Eingangshalle mit einem Altar und einen Gang, der in die Tiefen des Gebäudes hineinführte. Obgleich irgendjemand bereits die Kienspäne in dem Gang angezündet hatte, hingen noch immer Schatten wie Spinnweben in den Ecken. »Was soll ich tun, Mylady?«, fragte Neil. »Haltet Wache«, antwortete sie. »Das ist alles.« Sie kniete vor dem Altar nieder und zündete die Kerzen an. »Väter und Mütter des Hauses Dare«, sang sie, »Eure an Kindes statt angenommene Tochter ruft, demütig vor ihren Vorfahren. Beehrt mich, ich bitte Euch, in dieser Nacht der Nächte.« Jetzt entzündete sie ein kleines Räucherstäbchen, und ein Geruch wie von Kiefer und Fließharz schien schlagartig Neils Nasenlöcher zu füllen. Irgendwo im Hause raschelte etwas, und eine Glocke schlug. Muriele erhob sich und streifte ihren Mantel ab. Darunter trug sie 28 ein Kleid aus mit Walbein gesteiftem schwarzem Safnit. Ihr rabenschwarzes Haar schien damit zu verschmelzen, ließ ihr Gesicht verwaist zurück, das fast in der Luft zu schweben schien. Neil wurde die Kehle eng. Die Königin war unvergleichlich schön, und das Alter hatte wenig ausrichten können, um diese Schönheit zu schmälern, doch es war nicht das, was Neil das Herz zusammenzog - sondern vielmehr die Tatsache, dass sie einen Moment lang jemand anderem ähnelte. Neil wandte den Blick ab und durchsuchte mit den Augen den Schatten. Die Königin schickte sich an, den Korridor hinauf zuschreiten. »Mit Verlaub, Mylady«, sagte er eilig, »ich würde gern vorangehen.« Sie zögerte. »Ihr seid mein Diener, und die Verwandten meines Gemahls werden Euch als solchen betrachten. Ihr müsst hinter mir gehen.« »Mylady, wenn vor uns ein Hinterhalt -« »Darauf lasse ich es ankommen«, entgegnete sie. Sie gingen den Gang entlang, der mit Reliefdarstellungen der Taten des Hauses Dare getäfelt war. Die Königin bewegte sich mit gemessenen Schritten voran, den Kopf gesenkt, und ihre Tritte hallten deutlich wider, trotz des fernen Getöses des Unwetters, das auf das Schieferdach hämmerte. Sie betraten einen großen Raum mit einer Kuppeldecke, wo eine lange Tafel gedeckt war, dreißig Plätze, jeweils mit einem Kristallkelch. In jeden davon war Wein, so rot wie Blut, eingeschenkt worden. Die Königin schritt suchend an den Stühlen entlang, bis sie den richtigen fand, dann setzte sie sich und starrte den Wein an. Draußen stöhnte der Wind. Lange Minuten verstrichen, und dann ertönte ein Glockenschlag, und dann noch einer. Zwölf insgesamt, und beim Mitternachtsschlag trank die Königin aus dem Kelch. Neil fühlte, wie etwas durch die Luft fuhr, ein Frösteln, ein Summen. Dann begann die Königin zu sprechen, mit tieferer, heisererer 29 Stimme als sonst. Neils Nackenhaare kribbelten beim Klang dieser Stimme. »Muriele«, sagte sie. »Meine Königin.« Und dann, als antworte sie sich selbst, sprach sie mit ihrer gewöhnlichen Stimme. »Erren, meine Freundin.« »Deine Dienerin«, verbesserte die tiefere Stimme. »Wie geht es dir? Habe ich versagt?« »Ich lebe«, erwiderte Muriele. »Dein Opfer war nicht umsonst.« »Aber deine Töchter sind hier, an diesem Ort des Staubes.« Neils Herzschlag wurde schneller, und jäh wurde ihm klar, dass er sich von der Stelle bewegt hatte. Er stand neben einem der Stühle und starrte auf den Wein hinunter. »Alle?« »Nein. Aber Fastia ist hier, und die süße Elseny. Sie tragen Totenhemden, Muriele. Ich habe ihnen gegenüber versagt - und dir gegenüber.« »Wir sind verraten worden«, entgegnete Muriele. »Du hast alles getan, was du tun konntest, alles gegeben, was du geben konntest. Ich kann dir keinen Vorwurf machen. Aber ich muss wissen, was mit Anne ist.« »Anne ...« Mit einem Seufzen verklang die Stimme. »Wir vergessen, Muriele. Die Toten vergessen. Es ist wie eine Wolke, ein Nebel, der jeden Tag mehr von uns verschlingt. Anne ...« »Meine jüngste Tochter. Anne. Ich habe sie in den Konvent der heiligen Cer geschickt, und wir haben keine Nachricht von dort erhalten. Ich muss wissen, ob die Meuchelmörder sie dort gefunden haben.« »Dein Gemahl ist tot«, antwortete die Stimme namens Erren. »Er schläft nicht hier, aber er ruft aus weiter Ferne. Seine Stimme ist schwach und traurig. Einsam. Er hat dich wirklich geliebt.« »William? Kannst du mit ihm sprechen?« »Er ist zu fern. Er kann den Weg hierher nicht finden. Die Pfade sind dunkel, weißt du ? Die Welt ist dunkel,
und der Wind ist stark.« »Aber Anne - du kannst sie nicht flüstern hören?« 3° »Jetzt erinnere ich mich an sie«, schwärmte Erren mit der Stimme der Königin. »Haare wie Erdbeeren. Nichts als Ärger. Dein Liebling.« »Lebt sie, Erren? Ich muss es wissen.« Darauf folgte Schweigen, und Neil stellte zu seiner Überraschung fest, dass er das Weinglas in der Hand hielt. Er hörte die Antwort nur von weit her. »Ich glaube, sie lebt. Es ist kalt hier, Muriele.« Mehr wurde gesprochen, doch Neil hörte es nicht, denn er hob das Glas und trank. Er stellte den Kelch auf den Tisch, während er den bitteren Schluck, den er genommen hatte, hinunterwürgte. Dann starrte er in den darin verbliebenen Wein, der zur Ruhe kam und zu einem roten Spiegel wurde. Er sah sich selbst darin; das kräftige Kinn seines Vaters war da, doch seine blauen Augen waren schwarz und sein weizenblondes Haar rötlich, als betrachte er ein Porträt, das mit Blut gemalt worden war. Dann stand jemand hinter ihm, und eine Hand senkte sich auf seine Schulter. »Dreh dich nicht um«, flüsterte eine weibliche Stimme. »Fastia?« Doch jetzt sah er ihr Gesicht statt des seinen im Spiegel des Weines. Er roch ihren Lavendelduft. »So wurde ich genannt, nicht wahr?«, sagte Fastia. »Und du warst mein Liebster.« Jetzt versuchte er sie anzusehen, doch ihre Finger packten seine Schulter fester. »Tu es nicht«, sagte sie. »Schau mich nicht an.« Seine Hand brachte das Weinglas zum Zittern, doch das Bild von ihr darin blieb unberührt. Sie lächelte schwach, doch ihre Augen waren Lampen, in denen Traurigkeit brannte. »Ich wünschte ...«, begann er, doch er konnte den Satz nicht vollenden. »Ja«, sagte sie. »Ich auch. Aber es hätte nicht sein können, das weißt du. Wir waren töricht.« 3i »Und ich habe dich sterben lassen.« »Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß noch, dass du mich in den Armen gehalten hast. An deiner Brust, wie ein Kind. Ich war glücklich. Das ist alles, woran ich mich erinnere, und bald werde ich auch das nicht mehr wissen. Aber es ist genug. Es ist fast genug.« Finger zogen kalte Spuren über seinen Nacken. »Ich muss wissen, ob du mich geliebt hast«, flüsterte sie. »Ich habe nie jemanden so geliebt, wie ich dich geliebt habe«, antwortete Neil. »Ich werde niemals eine andere lieben.« »Doch, das wirst du«, sagte sie leise. »Das musst du. Aber vergiss mich nicht, denn mit der Zeit werde ich mich selbst vergessen.« »Niemals«, stieß er hervor. Undeutlich war ihm bewusst, dass ihm Tränen übers Gesicht rannen. Ein Tropfen fiel in den Wein, und das Schattengesicht, das Fastia war, keuchte auf. »Das ist kalt«, sagte sie. »Eure Tränen sind kalt, Sir Neil.« »Es tut mir Leid«, erwiderte er. »Alles tut mir Leid, Mylady. Ich kann nicht schlafen -« »Still, Liebster. Sei still und lass mich dir etwas sagen, solange ich es noch weiß. Es geht um Anne.« »Die Königin ist hier, sie fragt nach Anne.« »Ich weiß. Sie spricht mit Erren. Aber da ist Folgendes, Sir Neil, etwas, das man mir erzählt hat. Anne ist wichtig. Wichtiger als meine Mutter oder mein Bruder oder sonst jemand. Sie darf nicht sterben, sonst ist alles verloren.« »Alles?« »Das Zeitalter von Everon geht zu Ende«, erklärte sie. »Uralte Flüche und neue Übel beschleunigen seinen Untergang. Meine Mutter hat das Gesetz des Todes gebrochen, hast du das gewusst?« »Das Gesetz des Todes?« »Es wurde gebrochen.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht, aber es wird in den Hallen der Gebeine geflüstert. Die Welt ist jetzt in Bewegung, stürzt auf ihr Ende zu. Alle, die leben, stehen am Rande der Nacht, und wenn sie dahingehen, wird niemand ihnen mehr folgen. Keine Kinder, keine nachfolgen32 den Generationen. Jemand steht dort, sieht sie vergehen und lacht. Ob Mann oder Frau, weiß ich nicht, doch es gibt nur wenig Hoffnung, dass er oder sie aufgehalten werden kann. Es gibt nur eine winzige Möglichkeit, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Aber ohne Anne besteht selbst diese Möglichkeit nicht.« »Ohne dich ist mir das gleich. Es ist mir gleich, ob die Welt der Vernichtung anheim fällt.« Die Hand löste sich von seiner Schulter und strich über seinen Nacken. »Es darf dir nicht gleich sein«, sagte sie. »Denk an die ungeborenen Generationen, und stell sie dir als unsere Kinder vor, die Kinder, die wir nie haben konnten. Betrachte sie als Frucht unserer Liebe. Lebe für sie, wie du es für mich getan hättest.« »Fastia -« Nun drehte er sich doch um, unfähig, es noch länger zu ertragen, aber dort war nichts, und die
Berührung an seiner Schulter war fort, hatte nur ein schwindendes Kribbeln zurückgelassen. Die Königin starrte noch immer in ihren Wein und flüsterte. »Du fehlst mir, Erren«, sagte sie. »Du warst meine starke rechte Hand, meine Schwester, meine Freundin. Feinde umgeben mich. Ich habe nicht die Kraft dafür.« »Deine Kraft ist unendlich«, erwiderte Erren. »Du wirst tun, was getan werden muss.« »Aber was du mir da gezeigt hast. Das Blut. Wie kann ich das tun?« »Am Ende wirst du Meere aus Blut erschaffen«, sagte Erren. »Aber es ist nötig. Du musst.« »Ich kann nicht. Sie würden es niemals zulassen.« »Wenn die Zeit kommt, können sie dich nicht aufhalten. Still jetzt, Muriele, und wünsch mir Frieden, denn ich muss fort.« »Geh nicht. Ich brauche dich, besonders jetzt.« »Dann habe ich dich zweimal im Stich gelassen. Ich muss fort.« Und die Königin, die während dieser letzten Monate aus Stahl hätte geschmiedet sein können, senkte den Kopf und weinte. Neil stand neben ihr, sein Herz war zerrissen von Fastias Berührung, sein Verstand brannte von ihren Worten. 33 Er sehnte sich nach der Einfachheit der Schlacht, wo Versagen Tod bedeutete anstatt Qual. Draußen wurde das Lärmen des Sturms lauter, während die Toten sich wieder zur Ruhe begaben. Der Schlaf kam nicht, der Morgen dagegen schon. Beim ersten Sonnenlicht hatte sich das Unwetter verzogen, und sie begannen mit dem Aufstieg von Eslen-der-Schatten nach Eslen der Lebenden. Ein reiner, kalter Seewind blies, und die kahlen Äste der Eichen, die den Weg säumten, glitzerten in Hüllen aus Eis. Die Königin hatte die ganze Nacht über geschwiegen, doch als sie noch ein gutes Stück von der Stadt entfernt waren, wandte sie | sich ihm zu. »Sir Neil, ich habe eine Aufgabe für Euch.« »Majestät, ich stehe Euch zur Verfügung.« Sie nickte. »Ihr müsst Anne finden. Ihr müsst die einzige Tochter finden, die mir geblieben ist.« Neil fasste die Zügel fester. »Das ist das Einzige, was ich nicht tun kann, Majestät.« »Ich befehle es Euch.« »Meine Pflicht liegt bei Euer Majestät. Als der König mich zum Ritter gemacht hat, habe ich geschworen, an Eurer Seite zu bleiben, Euch vor jeglicher Gefahr zu beschützen. Das kann ich nicht tun, wenn ich in die Ferne ziehe.« »Der König ist tot«, sagte Muriele. Ihre Stimme wurde ein wenig schroffer. »Jetzt gebe ich Euch Befehle. Ihr werdet dies für mich tun, Sir Neil.« »Majestät, bitte verlangt das nicht von mir. Wenn Euch etwas zustoßen sollte -« »Ihr seid der Einzige, dem ich vertrauen kann«, unterbrach ihn Muriele. »Glaubt Ihr, ich möchte Euch von meiner Seite fortschicken? Den einzigen Menschen fortschicken, von dem ich weiß, dass er mich niemals verraten wird? Aber genau deshalb müsst Ihr gehen. Diejenigen, die meine anderen Kinder umgebracht haben, suchen jetzt nach Anne, dessen bin ich mir sicher. Sie ist am Leben, 34 weil ich sie weggeschickt habe und weil niemand bei Hofe weiß, wo sie ist. Wenn ich irgendjemand anderem als Euch ihren Aufenthaltsort anvertraue, gefährde ich dieses Geheimnis und setze meine Tochter noch größerer Gefahr aus. Wenn ich es nur Euch verrate, weiß ich, dass es gewahrt bleibt.« »Wenn Ihr glaubt, dass sie dort, wo sie sich befindet, in Sicherheit ist, solltet Ihr sie dann nicht dort lassen?« »Ich kann mir nicht vollkommen sicher sein. Erren hat angedeutet, dass die Gefahr noch immer sehr groß ist.« »Die Gefahr für Euer Majestät ist sehr groß. Wer auch immer die Meuchelmörder gedungen hat, die Euren Gemahl und Eure Töchter umgebracht haben, wollte auch Euch töten. Gewiss will derjenige das immer noch.« »Gewiss. Ich widerspreche Euch nicht, Sir Neil. Aber ich habe Euch einen Befehl gegeben. Ihr werdet Euch für eine lange Reise bereitmachen. Morgen brecht Ihr auf. Wählt Männer aus, die mich während Eurer Abwesenheit beschützen sollen - ich traue Eurem Urteil in solchen Dingen mehr als meinem eigenen. Aber ich fürchte, Ihr müsst Euren Auftrag allein durchführen.« Neil senkte den Kopf. »Ja, Majestät.« Die Stimme der Königin wurde weicher. »Es tut mir Leid, Sir Neil. Wirklich. Ich weiß, wie schwer Euer Herz verwundet wurde. Ich weiß, wie groß Euer Pflichtbewusstsein ist und wie sehr es in Cal Azroth gelitten hat. Aber Ihr müsst dies für mich tun.« »Majestät, ich würde Euch den ganzen Tag lang anflehen, wenn ich dächte, dass Ihr es Euch vielleicht noch einmal überlegen könntet, aber ich sehe, dass Ihr das nicht tun werdet.« »Ihr habt einen scharfen Blick.« Neil nickte. »Ich werde tun, was Ihr befehlt, Majestät. Morgen früh werde ich zum Aufbruch bereit sein.« 35 2. Kapitel z'Espino Anne Dare, die jüngste Tochter des Königs von Crothenien, Herzogin von Rovy, kniete vor einer Zisterne und schrubbte mit wunden, von Blasen bedeckten Händen Wäsche. Ihre Schultern schmerzten, ihre Knie brannten,
und die Sonne drosch auf sie ein wie ein goldener Hammer. Ein paar Ellen entfernt spielten Kinder im Schatten einer Weinlaube, und zwei Damen in Kleidern aus Seidenbrokat nippten an Weinkelchen. Annes Baumwollkittel, der früher jemand anderem gehört hatte, war seit Tagen nicht gewaschen worden. Sie seufzte, wischte sich die Stirn und vergewisserte sich, dass ihr rotes Haar unter ihrem Kopftuch steckte. Verstohlen warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf die beiden Frauen und arbeitete weiter. Sie löste ihre Gedanken von ihren Händen, etwas, worin sie allmählich recht geschickt wurde, und stellte sich vor, sie sei wieder daheim und würde ihr Pferd Windschnell auf der Schleppe reiten oder gebratenes Rebhuhn mit grüner Soße essen, mit Bratäpfeln und dicker Sahne als Nachtisch. Ihre Hände schrubbten und schrubbten. Gerade malte sie sich ein kühles Bad aus, als sie plötzlich ein scharfes Zwicken an ihrem Hinterteil verspürte. Sie schaute sich um und erblickte einen Jungen, etwa drei oder vier Jahre jünger als sie - ungefähr dreizehn -, der sie angrinste, als habe er gerade den besten Witz der Welt erzählt. Anne klatschte die Wäsche auf das Waschbrett und fuhr zu ihm herum. »Du widerliches kleines Ungeheuer!«, schrie sie ihn an. »Du hast genauso schlechte Manieren wie -« Sie bemerkte, dass die Frauen sie ansahen; ihre Mienen waren hart. »Er hat mich gekniffen«, erklärte sie. Und um auch sicherzugehen, dass sie verstanden, zeigte sie auf die Stelle. »Da.« 36 Eine der Frauen - eine blauäugige, schwarzhaarige Casnara namens da Filialofia - musterte sie lediglich mit schmalen Augen. »Für wen genau hältst du dich eigentlich?«, fragte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Für wen, bei allen Lords und Ladys, hältst du dich, dass du so mit meinem Sohn redest?« »Wo suchst du dir nur immer dein Gesinde?«, erkundigte sich ihre Begleiterin, Casnara dat Ospellina, säuerlich. »A-aber er -«, stotterte Anne. »Schweig augenblicklich still, du kleines Stück ausländischer Abschaum, sonst lasse ich dich von Corhio, dem Gärtner, verprügeln. Und der wird dir da sehr viel mehr antun, als dich nur zu kneifen, wage ich zu behaupten. Vergiss nicht, wem du dienst, in wessen Hause du bist.« »Eine richtige Lady würde ihrem Balg bessere Manieren beibringen«, fuhr Anne auf. »Und was verstehst du davon?«, fragte Casnara da Filialofia und verschränkte die Arme. »Was für Manieren sind dir denn deiner Meinung nach beigebracht worden, in dem Bordell oder Schweinestall, wo immer deine Mutter dich auch ausgesetzt hat? Auf jeden Fall hast du nicht gelernt, wo dein Platz ist.« Sie reckte das Kinn. »Hinaus. Auf der Stelle.« Anne erhob sich aus ihrer knienden Stellung. »Na schön«, sagte sie und drehte sich zu den beiden Frauen um. Sie streckte die Hand aus. Da lachte Filialofia. »Du erwartest doch gewiss nicht, dass ich dafür bezahle, dass du mein Haus beleidigt hast, oder? Verschwinde, Dirne. Ich habe keine Ahnung, wieso mein Gemahl dich überhaupt angestellt hat.« Dann rang sie sich ein kleines Lächeln ab, in dem jedoch keine Spur von Humor lag. »Nun, vielleicht doch. Möglicherweise fand er dich amüsant, auf eine barbarische Art und Weise. Warst du amüsant?« Mehrere Augenblicke verschlug es Anne schlicht die Sprache, und einen weiteren Moment lang schwankte sie hin und her, ob sie "ie Frau ohrfeigen - was ihr ganz bestimmt eine Tracht Prügel eintragen würde - oder einfach weggehen sollte. 37 Sie tat keins von beidem. Stattdessen erinnerte sie sich an etwas, das sie während der letzten Woche beim Arbeiten auf der Triva gelernt hatte. »O nein, für mich hat er keine Zeit«, beteuerte sie liebenswürdig. »Er war viel zu sehr mit Casnara dat Ospellina beschäftigt.« Und dann ging sie und lächelte über das wütende Geflüster, das sich hinter ihr erhob. Die großen Landgüter lagen auf der Nordseite von z'Espino; von den meisten konnte man über das blaue Wasser der Lierischen See schauen. Als sie durch das Tor schritt, blieb Anne einen Augenblick lang im Schatten eines Kastanienbaumes stehen und blickte auf die schaumgekrönten Fluten hinaus. Auf der anderen Seite, im Norden, lag Liery, wo die Familie ihrer Mutter herrschte. Nordöstlich lag Crothenien, wo ihr Vater als König und Herrscher regierte und wo ihr Liebster Roderick mittlerweile bestimmt alle Hoffnung hatte fahren lassen. Nur ein wenig Wasser trennte sie von ihrem rechtmäßigen Platz und von allem, was sie liebte, und doch war es eine kostspielige Angelegenheit, dieses bisschen Wasser zu überqueren. Obgleich sie eine Prinzessin war, besaß sie keinen roten Heller. Ebenso wenig konnte sie irgendjemandem verraten, wer sie war, denn schreckliche Gefahren waren ihr auf dem Fuße gefolgt, als sie nach z'Espino gekommen war. Als Wäscherin war sie sicherer denn als Prinzessin. »Du da.« Ein Mann kam auf einem Pferd die Allee heraufgeritten und blickte auf sie herab. An seiner viereckigen Kappe und dem gelben Wams erkannte sie, dass er ein Aidilo war, der dafür zuständig war, dass Ordnung auf den Straßen herrschte. »Ja, Casnar?« »Troll dich. Lungere hier nicht herum«, sagte er schroff. »Ich komme gerade von der Arbeit bei der Casnara da Filialofia.« »Ja, und jetzt bist du fertig, also musst du verschwinden.« »Ich wollte mir nur einen Moment das Meer ansehen.« »Dann sieh's dir vom Fischmarkt aus an«, blaffte er. »Muss ich dich dorthin begleiten?«
38 »Nein«, antwortete Anne. »Ich gehe schon.« Während sie eine Allee hinuntertrottete, die von Steinmauern gesäumt war - mit Glasscherben gekrönt, damit man nicht hinüberklettern konnte -, überlegte sie, ob die Dienstboten, die auf den Gütern ihres Vaters arbeiteten, wohl auch so schlecht behandelt wurden. Bestimmt nicht. Die Allee mündete auf den Piato dachi Meddissos, einen prächtigen Platz aus roten Ziegeln, der auf einer Seite von dem dreistöckigen Palast des Meddisso und seiner Familie begrenzt wurde. Der Palast war nicht so prachtvoll wie der ihres Vaters in Eslen, doch er war recht eindrucksvoll mit seinen langen Säulengängen und den terrassenförmig angelegten Gärten. Auf der anderen Seite des Piato stand der Tempel der Stadt, ein elegantes Bauwerk aus poliertem braunem Stein, das sehr alt aussah. Auf dem Piato selbst herrschte ein Tumult aus Farben und Lebendigkeit. Straßenhändler mit hölzernen Karren und roten Kappen boten gegrilltes Lammfleisch, gebratenen Fisch, gedämpfte Muscheln, kandierte Feigen und geröstete Kastanien feil. Blassäugige Sefry, zum Schutz vor der Sonne verhüllt und verschleiert, verkauften unter bunten Markisen Bänder und Putzwerk, Strümpfe, heilige Reliquien und Liebestränke. Eine Mimentruppe hatte sich ein Stück des Platzes freigeräumt und führte ein Stück auf, bei dem es um Schwertkämpfe, einen König mit einem Drachenschwanz, den heiligen Mamres, den heiligen Bright und den heiligen Loy ging. Zwei Flötenspieler und eine Frau mit einer kleinen Trommel spielten eine rasche Melodie. In der Mitte des Piato rang eine gestrenge Statue des heiligen Netuno mit zwei Seeschlangen, die sich um seinen Körper wanden und Wasserstrahlen in ein Marmorbecken spien. Eine Gruppe reich gekleideter junger Männer lehnte am Rand des Brunnens; sie tätschelten die Griffe ihrer Rapiere und pfiffen Mädchen in grellbunten Kleidern hinterher. Sie fand Austra am Rande des Platzes, fast schon auf den Tempelstufen. Sie saß neben ihrem Eimer und ihrer Waschbürste. Austra sah sie näher kommen und lächelte. »Schon fertig?« Sie 3.9 war fünfzehn, ein Jahr jünger als Anne, und genau wie diese trug ] sie ein ausgeblichenes Kleid und ein Kopftuch, um ihre Haare zu verbergen. Die meisten Vitellianer hatten dunkle Haut und schwarzes Haar, und die beiden Mädchen fielen schon genug auf ohne ihre roten und blonden Flechten zur Schau zu stellen. Glücklicherweise pflegten die meisten Frauen ihren Kopf in der Öffentlichkeit zu bedecken. »Sozusagen«, erwiderte Anne. »Oh, ich verstehe. Schon wieder?« Anne seufzte und setzte sich. »Ich gebe mir Mühe, wirklich, das tue ich. Aber es ist so schwer. Ich hatte gedacht, nach dem Konvent wäre ich auf alles gefasst, aber -« »Du solltest so etwas nicht tun müssen«, sagte Austra. »Lass mich arbeiten. Du kannst in der Kammer bleiben.« »Aber wenn ich nicht arbeite, dauert es noch länger, bis wir genug für die Überfahrt zusammenhaben. Das gibt den Männern, die uns suchen, noch mehr Zeit, um uns zu finden.« »Vielleicht sollten wir unser Glück doch auf der Straße versuchen.« »Cazio und z'Acatto sagen, die Straßen werden viel zu genau beobachtet. Sogar die Straßenwächter haben jetzt eine Belohnung auf mich ausgesetzt.« »Das ist doch unsinnig. Die Männer, die im Konvent versucht haben, dich umzubringen, waren hansische Ritter. Was haben die mit vitellianischen Straßenwächtern zu schaffen?« »Ich weiß es nicht, und Cazio auch nicht.« »Wenn das so ist, werden sie dann nicht auch die Schiffe beobachten?« »Ja, aber Cazio sagt, er kann einen Kapitän finden, der keine Fragen stellt und nichts herum erzählt - wenn wir genug Silber haben, um ihn zu bezahlen.« Sie seufzte. »Aber noch ist es nicht so weit, und essen müssen wir auch. Und was noch schlimmer ist, ich habe heute überhaupt nichts bekommen. Was soll ich bloß morgen machen?« Austra klopfte ihr auf die Schulter. »Ich bin bezahlt worden. 40 wir machen auf dem Fischmarkt und beim Carenso Halt und kaufen uns was zum Abendessen.« Der Fischmarkt lag am Rande des Perto Nevo, wo Schiffe mit hoch aufragenden Masten ihre Ladungen aus Holz und Eisen löschten und dafür Weinfässer, Olivenöl, Getreide und Seide an Bord nahmen. Kleinere Boote drängten sich an den südlichen Molen, denn in den vitellianischen Gewässern wimmelte es von Krabben, Muscheln, Austern, Sardinen und hundert anderen Fischarten, von denen Anne noch nie gehört hatte. Der Markt war ein Labyrinth aus Kisten und Fässern, randvoll mit den glänzenden Schätzen der See. Sehnsüchtig betrachtete Anne die riesigen Hummer und die schwarzen Taschenkrebse, die in Tonnen voller Salzwasser noch immer strampelten und zappelten, die Berge aus glatten Makrelen und silbrigen Tunfischen. Nichts davon konnten sie sich leisten, und so mussten sie sich tiefer und weiter vordrängen, dorthin, wo mit Salz bestreute Sardinen ausgelegt und Weißfische zu Haufen aufgeschichtet waren, die allmählich zu riechen begannen. Weißfisch kostete nur zwei Minser pro Coinix, und dort blieben die Mädchen stehen, um sich mit gerümpften Nasen ihr Abendessen auszusuchen. »Z'Acatto hat gesagt, man muss sich die Augen anschauen«, meinte Austra. »Wenn sie trübe sind oder schielen,
ist der Fisch nicht gut.« »Dann sind die hier alle schlecht«, erwiderte Anne. »Das ist das Einzige, was wir uns leisten können«, entgegnete Austra. »Es sind bestimmt ein oder zwei in diesem Haufen, die noch gut sind. Wir müssen nur suchen.« »Wie war's mit gepökeltem Barsch?« »Den muss man einen Tag lang einweichen. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe jetzt Hunger.« Eine tiefe Frauenstimme lachte leise hinter ihren Schultern. »Nein, ihr Süßen, kauft nichts davon. Euch ist sonst eine ganze Woche lang schlecht.« Die Frau, die sie angesprochen hatte, war ihnen vertraut - Anne 41 hatte sie oft auf der Straße gesehen, hatte jedoch nie mit ihr gesprochen. Sie kleidete sich geradezu skandalös und trug eine Menge Schminke und Wangenrot. Einmal hatte sie z'Acatto sagen hören, »die da« könne er sich »nicht leisten«, daher glaubte Anne zu wissen, welchem Gewerbe die Frau nachging. »Danke«, sagte Anne. »Aber wir finden schon noch einen, der gut ist.« Die Frau blickte zweifelnd drein. Sie hatte ein straffes, schmales Gesicht und kohlschwarze Augen. Ihr Haar war unter einem Netz mit Schmucksteinen aus Glas hochgesteckt, und sie trug ein grünes Kleid, das, obwohl es schon bessere Zeiten erlebt hatte, hübscher war als alles, was Anne im Augenblick besaß. »Ihr beide wohnt in der Straße der sechs Nymphen. Ich habe euch gesehen - mit diesem alten Säufer und diesem stattlichen Burschen, der mit dem Degen.« »Ja«, erwiderte Anne. »Ich bin eure Nachbarin. Mein Name ist Rediana.« »Ich heiße Fiene, und das ist Lessa«, log Anne. »Nun denn, Mädchen, kommt mit«, sagte Rediana. Ihre Stimme war leise. »Hier findet ihr bestimmt nichts Essbares.« Anne zögerte. »Ich beiße euch nicht«, versicherte Rediana. »Kommt.« Sie winkte ihnen, ihr zu folgen, und führte die beiden zu einem Tisch voller Flundern. Ein paar davon zappelten noch. »Die können wir uns nicht leisten«, wandte Anne ein. »Wie viel habt ihr?« Austra hielt eine Zehnminsermünze hoch. Rediana nickte. »Parvio!« Der Mann hinter dem Flundertisch war damit beschäftigt, ein paar Fische für einige gut gekleidete Frauen auszunehmen. Ihm fehlte ein Auge, doch er machte sich nicht die Mühe, die weiße Narbe an dieser Stelle zu verbergen. Er mochte an die sechzig Jahre alt sein, doch seine entblößten Arme waren so muskulös wie die eines Ringkämpfers. »Rediana, mi cara«, sagte er. »Was kann ich für dich tun?« »Verkauf meinen Freundinnen einen Fisch.« Sie nahm Austra 42 JaS Geldstück aus der Hand und gab es ihm. Er sah es an, runzeldie Stirn, dann lächelte er Anne und Austra an. »Sucht euch einen aus, der euch gefällt, meine Süßen.« »Melto brazie, Casnar«, erwiderte Austra. Sie wählte eine der Flundern und legte sie in ihren Korb. Augenzwinkernd reichte ihr parvio eine Fünfminsermünze. Der Fisch hätte eigentlich fünfzehn kosten müssen. »Melto brazie, Casnara«, sagte Anne zu Rediana, als sie sich auf den Weg zum Carenso machten. »Nicht der Rede wert, Liebes«, wehrte Rediana ab. »Ehrlich gesagt habe ich gehofft, dass ich Gelegenheit bekommen würde, mit euch zu reden.« »Ach? Und worüber?«, fragte Anne, ein wenig misstrauisch ob der Freundlichkeit der anderen. »Über eine Möglichkeit, wie ihr jeden Tag Fisch wie diesen auf dem Tisch haben könntet. Ihr seid beide recht hübsch und ziemlich exotisch. Ich kann etwas aus euch machen. Und zwar nicht für diese Tölpel aus unserer Straße, sondern für eine bessere Sorte Kunden.« »Ihr ... Ihr wollt, dass wir -« »Schwer ist es nur beim ersten Mal«, versicherte Rediana. »Und so schwer nun auch wieder nicht. Das Geld ist leicht verdient, und ihr habt euren hübschen jungen Degenkämpfer, der auf euch aufpasst, wenn ihr es mit einem ungehobelten Kunden zu tun bekommt. Er arbeitet bereits für mich, wisst ihr.« »Cazio?« »Ja. Er passt auf ein paar von den Mädchen auf.« »Und er hat Euch hierzu angestiftet?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er hat gesagt, ihr würdet mich abweisen. Aber Männer wissen oft nicht, wovon sie reden.« »Diesmal weiß er es«, gab Anne mit frostiger Stimme zurück. »Vielen Dank für Eure Hilfe und den Fisch, aber ich fürchte, wir müssen Euer Angebot ausschlagen.« Redianas Augen wurden schmal. »Ihr glaubt, ihr seid zu gut dafür?«
43 »Natürlich«, antwortete Anne, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte. »Ich verstehe.« »Nein«, sagte Anne. »Nein, Ihr versteht nicht. Ich finde, Ihr seid auch zu gut dafür. Keine Frau sollte das tun müssen.« Das zauberte ein sonderbares kleines Lächeln auf Redianas Gesicht. Doch sie zuckte die Achseln. »Trotzdem wisst ihr nicht, was gut für euch ist. Ihr könntet an einem Tag mehr verdienen, als ihr jetzt in einem ganzen Monat bekommt, und brauchtet euch eure Schönheit nicht durch Scheuerarbeiten zu ruinieren. Denkt darüber nach. Wenn ihr es euch anders überlegt - ich bin leicht zu finden.« Damit schlenderte sie davon. Die beiden Mädchen gingen eine Weile schweigend weiter, nachdem Rediana sie verlassen hatte. Dann räusperte sich Austra. »Anne, ich könnte doch -« »Nein«, sagte Anne zornig. »Dreimal nein. Es wäre mir lieber, wenn wir niemals nach Hause kommen, als unter solchen Bedingungen.« Anne kochte immer noch vor Wut, als sie den Carenso an der Ecke der Pari-Straße und des Vio Furo erreichten, doch der Geruch von frisch gebackenem Brot verdrängte alles außer dem Hunger aus ihrem Kopf. Der Bäcker ein hoch gewachsener, hagerer Mann, der stets von oben bis unten mit Mehl bedeckt war - bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln, als sie eintraten. Er machte gerade mit einem Rasiermesser Einschnitte in noch nicht gebackene Landbrote, während sein Geselle hinter ihm mit einem langen Schieber weitere Laibe in den Ofen beförderte. Ein großer schwarzer Hund, der auf dem Boden lag, blickte schläfrig zu den Mädchen auf und ließ dann vollkommen gleichgültig den Kopf wieder herabsinken. Brot türmte sich in Körben und Tonnen, in allen Größen und Formen - goldbraune, runde Laibe, so groß wie Wagenräder und verziert mit olivenblattähnlichen Mustern, grobe Brotscheite von. Armeslänge, kleine perechi, die man mit einer Hand umfassen 44 konnte, knusprige, eiförmige Wecken, mit Haferflocken besprenkelt. Und all das war nur der erste Eindruck. Sie gaben zwei Minser für einen warmen Brotlaib aus und lenkten ihre Schritte zum Perto Veto, wo sich ihre Unterkunft befand. Port schritten sie durch Straßen, die von ehemals prachtvollen Häusern flankiert wurden, Gebäuden mit Höfen zwischen Marmorsäulen und mit Baikonen vor den oberen Fenstern. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Trümmer von Dachschindeln, die nie ersetzt worden waren, und durch Scherben von Weinflaschen; dabei atmeten sie Luft, die schwer vom Geruch nach Brackwasser und Unrat war. Es war die Stunde des vierten Glockenschlags, und Frauen mit tief ausgeschnittenen Blusen und korallenroten Lippen - Angehörige von Redianas Zunft - hatten sich bereits auf den Baikonen versammelt, riefen Männern, die den Anschein erweckten, als hätten sie Geld, aufreizende Worte zu und verspotteten jene, die nicht so aussahen. Ein Trupp Männer ließ auf einer gesprungenen Marmorstufe einen Weinkrug herumgehen und pfiff, als Anne und Austra vorbeikamen. »Die Herzogin von Herilanz«, rief einer der Kerle. »He, Herzogin, gib mir einen Kuss.« Anne beachtete ihn nicht. Während des Monats, den sie jetzt im Perto Veto wohnte, hatte sie festgestellt, dass die meisten solcher Männer zwar lästig, aber harmlos waren. An der nächsten Straßenkreuzung bogen sie ab, betraten ein Gebäude durch dessen offene Tür und stiegen die Treppe zu ihrem Quartier im ersten Stock hinauf. Als sie näher kamen, hörte Anne Stimmen von oben z'Acattos und die von jemand anderem. Die Tür stand offen, und z'Acatto blickte auf, als sie eintraten. Er war ein älterer Mann, vielleicht fünfzig Jahre alt, mit einem leichten Bauchansatz. Sein Haar war mehr grau als schwarz. Er saß auf einem Hocker und unterhielt sich mit ihrem Hauswirt Ospe-ro- Die beiden Männer waren annähernd gleich alt, doch Ospero war fast kahl und noch gedrungener. Beide sahen aus, als wären sie Ziemlich betrunken, und die drei leeren Weinflaschen, die auf dem 45 Boden lagen, bestätigten diesen Eindruck. Das war nichts Ungewöhnliches - z'Acatto war meistens betrunken. »Dena dicolla, Casnaras«, grüßte z'Acatto. »Guten Abend, z'Acatto«, erwiderte Anne. »Casnar Ospero.« »Ihr seid früh zurück«, bemerkte z'Acatto. »Ja.« Sie führte diese Tatsache nicht weiter aus. »Wir haben Fisch und Brot mitgebracht«, verkündete Austra fröhlich. »Das ist gut, das ist gut«, sagte der Alte. »Dazu brauchen wir einen Weißen, vielleicht einen Vino Verio.« »Es tut mir Leid«, entgegnete Austra. »Wir hatten kein Geld für Wein.« Ospero grunzte und zog eine silberne Menza hervor. Blinzelnd betrachtete er die Münze, dann warf er sie Austra zu. »Das ist für den Wein, meine hübsche Della.« Er machte eine kurze Pause, um die Mädchen anzüglich zu mustern, dann schüttelte er den Kopf. »Ihr kennt doch den Laden an der Straße des Klammen Mondes? Escerros Geschäft? Sagt ihm, ich habe Euch geschickt. Sagt ihm, dafür kriegt Ihr zwei Flaschen Vino Verio, sonst komme ich und schlage ihm den Schädel ein.« »Aber ich wollte -«, setzte Austra an.
»Geh nur, Austra, ich koche den Fisch«, sagte Anne. Sie mochte Ospero nicht. Er und seine Freunde schienen etwas Unredliches an sich zu haben. Andererseits war es z'Acatto irgendwie gelungen, ihn dazu zu überreden, ihnen die beiden Zimmer eine Woche lang auf Kredit zu vermieten, und er hatte nie mehr getan, als sie lüstern anzustarren. Sie waren auf seine Gunst angewiesen, deshalb hielt sie ihre Zunge im Zaum. Sie ging in die winzige Speisekammer und holte einen Krug mit Olivenöl und einen Beutel Salz. Dann goss sie ein wenig von dem Öl in einen kleinen irdenen Crematro, bestreute den Fisch auf beiden Seiten mit Salz und legte ihn in das Öl. Trübsinnig betrachtete sie ihre Vorbereitungen und wünschte sich zum hundertsten Mal, sie könnten sich zur Abwechslung Butter leisten - oder] überhaupt welche finden. Sie seufzte, legte den Deckel auf den 46 Crematro und trug ihn die Treppe hinunter und dann durch die Innentür im Erdgeschoss in den kleinen Hof, den sich die Bewohner des Hauses teilten. Ein paar Frauen hatten sich um eine Grube mit glühenden Kohlen versammelt. Für ihr Gericht war noch kein Platz, also setzte sie ich auf eine Bank und wartete, musterte abwesend die trostlosen Mauern mit dem bröckelnden Stuckwerk und versuchte sich vorzustellen, dies wäre der Obstgarten im Schloss ihres Vaters. Eine Männerstimme machte diesen Versuch zunichte. »Guten Abend, della.« »Hallo, Cazio«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. »Wie fühlt Ihr Euch heute Abend?« »Müde.« Sie bemerkte, dass jetzt Platz am Feuer war, und erhob sich, um den Crematro hinüberzutragen, doch Cazio trat ihr in den Weg. »Lasst mich das tun«, bat er. Cazio war groß und schlank und nur wenig älter als Anne. Er trug ein dunkelbraunes Wams und scharlachrote Beinkleider. Ein Degen hing in einer zerschrammten Scheide an seiner Seite. Seine dunklen Augen blickten aus einem schmalen, gut geschnittenen Gesicht auf sie herab. »Euer Tag ist nicht gut verlaufen?« »Bestimmt nicht so gut wie Eurer«, gab sie zurück und reichte ihm den Crematro. »Wie meint Ihr das?« »Ich meine, dass Ihr bei der Arbeit, die Ihr Euch ausgesucht habt, gewiss reichlich Gelegenheit bekommt, Euch zu erfrischen.« Er sah sie verwirrt an. »Und versucht bloß nicht, den Schüchternen zu spielen«, herrschte sie ihn an. »Ich habe heute mit Rediana gesprochen. Sie hat mir erzählt, was Ihr getrieben habt.« »Ah .« Er ging zu der Kohlengrube hinüber, stellte den Tontopf m die Asche und scharrte die Kohlen mit einem versengten Stock gegen dessen Seiten. Dann kam er zurück und setzte sich neben sie. »Ihr seid nicht einverstanden damit?« »Es ist mir gleich.« 47 »Es sollte Euch aber nicht gleich sein. Ich tue das für Euch, wisst Ihr noch? Ich versuche, eine Überfahrt für uns zu verdienen, um Euch heimzugeleiten.« »Und doch scheinen wir nicht näher daran, aufzubrechen, als wir es vor einem Monat waren.« »Seereisen sind nicht billig, schon gar nicht, wenn die Fracht geheim bleiben muss. Wo wir gerade davon reden, nehmt Euch ganz besonders in Acht. Es suchen mehr Männer auf den Straßen nach Euch als je zuvor. Ich frage mich nur, ob Ihr wisst, warum.« »Ich habe Euch doch gesagt, ich weiß es nicht.« Das war nicht wirklich gelogen. Sie hatte keine Ahnung, wieso ein Preis auf ihren Kopf ausgesetzt worden war, doch sie dachte bei sich, dass es etwas mit ihrem Stand und mit den Träumen zu tun haben musste, die sie selbst im Wachen heimsuchten. Träume, die von ... anderswoher kamen. »Ich habe Euer Wort für bare Münze genommen«, sagte Cazio, »und das tue ich immer noch. Aber wenn Ihr irgendeinen Verdacht habt...« »Mein Vater ist ein reicher, mächtiger Mann. Das ist der einzige Grund, der mir einfällt.« »Habt Ihr irgendeinen Rivalen, der um seine Gunst buhlt? Vielleicht eine Stiefmutter? Jemand, der es vorziehen würde, Euch nicht zurückkehren zu sehen?« »Ach ja, meine Stiefmutter«, sagte Anne. »Wie konnte ich sie nur vergessen? Einmal hat sie mich mit einem Jäger losgeschickt und ihm befohlen, ihr mein Herz zurückzubringen. Ich wäre des Todes gewesen, hätte der alte Bursche nicht eine Schwäche für mich gehabt. Stattdessen hat er ihr das Herz eines Keilers gebracht. Und dann das eine Mal, wo sie mich zum Wasserholen geschickt und kein Wort über den Nicwer verloren hat, der im Fluss gehaust hat, weil sie gehofft hat, er würde mich verzaubern und mich fressen. Ja, all das hätte mir in meiner derzeitigen Lage als Hinweis dienen sollen, aber ich habe sie wohl nicht verdächtigt, weil mir mein liebes Väterchen versichert hat, sie hätte sich geändert.« 48 »Jetzt seid Ihr sarkastisch, nicht wahr?«, fragte Cazio.
»Das hier ist kein Phay-Märchen, Cazio. Ich habe keine Stiefmutter. Es gibt niemanden in meiner Familie, der mir Böses wünschen würde. Die Feinde meines Vaters mögen es vielleicht tun, aber ich kann nicht genau sagen, wer sie sind. Ich verstehe nicht viel von solchen Ränken.« Cazio zuckte die Schultern. »Nun gut.« Dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht. »Ihr seid eifersüchtig«, sagte er. »Was?« »Das habe ich gerade erst begriffen. Ihr denkt, ich schlafe mit Redianas Ladys, und Ihr seid eifersüchtig.« »Ich bin nicht eifersüchtig«, verwahrte sich Anne. »Ich habe bereits einen treuen Liebsten, und das seid nicht Ihr.« »Ach ja, der sagenumwobene Roderick. Ein wunderbarer Mann, habe ich gehört. Ein wahrer Prinz. Ganz sicher hätte er auf Euren Brief geantwortet, wenn er nur noch ein paar Monate länger Zeit gehabt hätte.« »Das hatten wir doch alles schon«, seufzte Anne. »Begleitet, wen immer Ihr wollt, tut mit ihnen, was immer Ihr wollt. Ich bin Euch dankbar für all Eure Hilfe, Cazio, aber -« »Einen Moment.« Cazios Tonfall war jetzt scharf, seine Miene plötzlich sehr ernst. »Was ist denn?« »Euer Vater hat Euch zum Konvent der heiligen Cer geschickt, nicht wahr?« »Eigentlich war es meine Mutter«, verbesserte sie ihn. »Und hat Euer treuer Liebster Roderick gewusst, wo Ihr hinfahrt?« »Es ist alles zu schnell gegangen. Ich habe gedacht, ich fahre nach Cal Azroth, und das habe ich ihm gesagt, und dann hat meine Mutter es sich in derselben Nacht anders überlegt. Es war mir nicht möglich, ihn zu benachrichtigen.« »Er hätte es nicht durch Klatsch und Tratsch erfahren können?« »Nein. Man hat mich heimlich fortgeschickt. Niemand sollte davon wissen.« 49 »Aber dann habt Ihr einen Brief an Euren Geliebten geschickt -einen Brief, den ich selbst dem Cuveitur der Kirche übergeben habe -, und innerhalb von neun Tagen sind die Ritter im Konvent aufgetaucht. Wirkt das für Euch nicht verdächtig?« Wirken tat es - wie ein Zündfunke in Annes Brust. »Ihr geht zu weit, Cazio. Ihr habt Roderick schon öfter schlecht gemacht, aber zu unterstellen ... anzudeuten ...« Stammelnd verstummte sie, zu wütend, um weiterzureden, umso mehr, weil das irgendwie einleuchtend klang, doch das konnte nicht sein, weil Roderick sie liebte. »Die Ritter waren aus Hansa«, sagte sie. »Ich habe ihre Sprache erkannt. Roderick ist aus Hornladh.« Doch im Stillen dachte sie an etwas, das ihre Tante Lesbeth einmal gesagt hatte. Es schien lange her zu sein, doch es war irgendetwas über Rodericks Haus gewesen, dass seine Familie bei Hofe in Ungnade gefallen war, weil sie einst den Anspruch eines Reiksbaurg auf den Thron unterstützt hatte. Nein. Das ist lächerlich. Genau das wollte sie Cazio gerade sagen, als Austra plötzlich in den Hof gestürzt kam. Sie war außer Atem, und ihr Gesicht war hochrot und tränenüberströmt. »Was ist denn los?«, wollte Anne wissen und ergriff Austras Hände. »Es ist schrecklich, Anne.« »Was?« »Ich h-h-habe einen Cuveitur gesehen. Er hat es auf dem Platz verkündet, vor dem Weinladen. Er kam aus - o Anne, was sollen wir nur tun?« »Austra, was ist losl« Ihre Freundin biss sich auf die Lippen und sah ihr in die Augen. »Ich habe furchtbare Neuigkeiten«, flüsterte sie. »Die schlimmsten Neuigkeiten der Welt.« 50 3. Kapitel Der Komponist Leovigild Ackenzal starrte den Speer mit einer Mischung aus Angst und Verdruss an. Die Angst war durchaus berechtigt; die scharfe Spitze der Waffe war nur wenige Zoll von seiner Kehle entfernt, und der Mann, der den Schaft hielt, war groß, trug eine Rüstung und saß auf einem feurigen Ross. Seine eisengrauen Augen erinnerten Leoff an die erbarmungslosen Fluten des Eismeeres, und er hatte den Eindruck, dass dieser Mann, wenn er ihn jetzt tötete, sich am nächsten Morgen nicht einmal mehr an ihn erinnern würde. Auf jeden Fall gab es nichts, was er tun konnte, um den Kerl davon abzuhalten, wenn diesem der Sinn nach Mord stand. Dass er gleichzeitig Verdruss empfand, war wohl ziemlich unsinnig, hatte jedoch in Wahrheit wenig mit dem Gepanzerten zu tun. Tage zuvor - in den Hügeln - hatte er in der Ferne eine schwache Melodie gehört. Ohne Zweifel war es irgendein Schäfer gewesen, der auf einer Rohrflöte gespielt hatte, doch die Tonfolge war ihm seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen, umso mehr, da er das Ende nicht mitbekommen hatte. Sein Verstand hatte hundert verschiedene Schlussakkorde ersonnen, doch keiner davon gefiel ihm wirklich. Das war ungewöhnlich. Normalerweise konnte Leoff eine Melodie ohne die geringste Mühe vollenden. Die Tatsache, dass diese sich ihm entzog, machte sie verlockender als eine schöne, geheimnisvolle - aber
widerstrebende - Geliebte. Dann war er heute Morgen mit einer Ahnung erwacht, wie das Ende klingen sollte, doch nach noch nicht einmal einem Glockenschlag auf der Straße war er derart rüde gestört worden. »Ich habe nicht viel Geld«, erklärte Leoff dem Mann wahrheitsgemäß. Seine Stimme zitterte dabei ein wenig. 5i Die harten Augen wurden schmal. »Nein? Und was ist dann das alles da auf Eurem Maultier?« Leoff warf einen Blick auf sein Packtier. »Papier, Tinte, meine Kleider. In dem großen Kasten ist eine Laute, in dem kleineren eine Fiedel. In den ganz kleinen sind verschiedene Holzblasinstrumente.« »Auy? Dann macht sie auf.« »Sie haben keinen Wert für Euch.« »Aufmachen.« Leoff gehorchte, wobei er versuchte, den Blick nicht von dem Mann abzuwenden. Zuerst öffnete er den mit Leder bezogenen Lautenkasten; das Instrument dröhnte leise, als sein gerundeter Klangkörper auf den Boden stieß. Dann packte er die restlichen Instrumente aus: die achtsaitige Fiedel aus Rosenholz mit Perlmuttintarsien, die Mestro DaPeica ihm vor Jahren geschenkt hatte. Eine hölzerne Flöte mit silbernen Klappen, eine Oboe, sechs Flageoletts von verschiedener Größe und ein dunkelrotes Krummhorn. Der Mann sah ihm zu und verzog so gut wie keine Miene. »Ihr seid also ein Barde«, sagte er schließlich. »Nein«, erwiderte Leoff. »Nein, das bin ich nicht.« Er versuchte sich aufzurichten, das Beste aus seiner eher durchschnittlichen Körpergröße zu machen. Ihm war klar, dass seine haselnussbraunen Augen, sein lockiges Haar und das jungenhafte Gesicht nicht sehr bedrohlich wirkten, doch er konnte wenigstens würdevoll auftreten. Der andere zog eine Augenbraue hoch. »Und was genau seid Ihr dann?« »Ich bin Komponist.« »Und was tut ein Komponist?« »Er komponiert Musik.« »Ich verstehe. Und wie unterscheidet sich das von dem, was ein Barde tut?« »Nun ja, zum einen -« »Spielt etwas«, unterbrach ihn der Mann. 52 »Was?« »Ihr habt mich gehört.« Leoff runzelte die Stirn, sein Ärger wuchs. In der Hoffnung, irgendjemanden zu erblicken, schaute er sich um, doch so weit das Auge reichte, zog sich die Straße leer dahin. Und hier in Neuland, wo das Gelände so flach war wie ein Klangbrett, war das wirklich sehr weit. Warum hatte er den Mann auf dem Pferd dann nicht kommen sehen? Doch die Antwort lag in eben jener Melodie, über die er nachgegrübelt hatte. Wenn er Musik in seinem Kopf vernahm, spielte der Rest der Welt einfach keine Rolle. Er hob die Laute auf. Natürlich war sie verstimmt, aber nicht allzu sehr, und es war das Werk eines Augenblicks, dies in Ordnung zu bringen. Er zupfte die Melodie, mit der er sich abgemüht hatte. »Das stimmt nicht«, murmelte er. »Ihr könnt doch spielen, oder?«, wollte der Berittene wissen. »Stört mich nicht«, erwiderte Leoff geistesabwesend und schloss die Augen. Ja, da war es, obwohl ihm der Schluss entgangen war. Er fing wieder an, eine einzelne Tonfolge auf der obersten Saite, die in Dreierschritten höher und dann in Zweierschritten wieder tiefer wurde und dann die Tonleiter hinaufhüpfte. Er fügte eine Bassbegleitung hinzu, doch irgendetwas daran passte nicht. Er hielt inne und begann von neuem. »Das ist aber nicht sehr gut«, bemerkte der Mann. Das war zu viel, Speer hin oder her. Leovigild sah den Fremden an. »Es wäre ziemlich gut, wenn Ihr mich nicht unterbrochen hättet«, erwiderte er. »Ich hatte das hier schon fast im Kopf, versteht Ihr, und dann kommt Ihr mit Eurem langen Riesenspeer und ... Was wollt Ihr überhaupt von mir? Wer seid Ihr?« Vage wurde ihm bewusst, dass seine Stimme nicht mehr zitterte. »Wer seid denn Ihr}«, erkundigte sich der Mann friedfertig. Leoff streckte sich. »Ich bin Leovigild Ackenzal«, verkündete er. 53 »Und warum wollt Ihr nach Eslen?« »Ich habe eine Anstellung am Hofe Seiner Hoheit Williams des Zweiten, als Komponist. Der König hat anscheinend eine höhere Meinung von meiner Musik als Ihr.« Bizarrerweise lächelte der Mann. »Jetzt nicht mehr.« »Was meint Ihr damit?« »Er ist tot, das meine ich damit.« Leoff blinzelte. »Das ... das wusste ich nicht.« »Nun, es stimmt aber. Genau wie die halbe königliche Familie.« Er verlagerte sein Gewicht im Sattel.
»Ackenzal. Der Name klingt hansisch.« »Tut er nicht«, verwahrte sich Leoff. »Mein Vater war aus Herilanz. Ich wurde in Tremar geboren.« Er spitzte die Lippen. »Ihr seid gar kein Wegelagerer, nicht wahr?« »Ich habe nie gesagt, dass ich einer wäre. / haet Artwair.« »Ihr seid ein Ritter, Sir Artwair?« Wieder jene Andeutung eines Lächelns. »Artwair genügt. Habt Ihr ein Schreiben, das Eure Behauptung bestätigt?« »O ja. Ja, das habe ich.« »Ich würde es sehr gern sehen.« Leoff fragte sich zwar, warum Artwair sich um so etwas scheren sollte, wühlte aber trotzdem in seiner Satteltasche, bis er ein Pergament mit dem königlichen Siegel fand. Er reichte es dem Krieger, der es kurz überflog. »Das sieht aus, als wäre es in Ordnung«, sagte er. »Ich bin gerade auf dem Rückweg nach Eslen. Ich werde Euch dorthin geleiten.« Leoff spürte, wie sich seine Halsmuskeln entspannten. »Sehr freundlich von Euch«, erwiderte er. »Tut mir Leid, wenn ich Euch Angst eingejagt habe. Eigentlich hättet Ihr nicht allein reisen sollen - nicht in diesen Zeiten.« Bis zum Mittag hatte sich der Kinderaugen-Himmel des Morgens zu einem bedrückenden Blindgrau getrübt. Dies trug nicht dazu bei, Leoffs Laune zu verbessern. Die Landschaft hatte sich verändert; sie war nicht mehr vollkommen flach, sondern die Straße 54 verlief jetzt neben einer Art Böschung oder Erdwall. Dessen Form war so gleichmäßig, dass es ihm schien, als müsse er von Menschenhand geschaffen worden sein. In der Ferne konnte er ähnliche Wälle sehen. Das Seltsamste waren die Türme, die auf einigen davon standen. Es sah aus, als wären gewaltige Räder an ihnen befestigt worden, jedoch ohne Radkranz, nur vier Speichen, die mit etwas bespannt waren, das wie Segeltuch aussah. Sie drehten sich langsam in der Brise. »Was ist das?«, fragte Leoff und zeigte auf den am nächsten stehenden Turm. »Zum ersten Mal in Neuland, wie? Das ist eine Malend. Der Wind dreht sie.« »Ja, das sehe ich. Zu welchem Zweck?« »Die da pumpt Wasser. Manche sind zum Kornmahlen da.« »Sie pumpt Wasser?« »Auy. Wenn sie das nicht täte, würden wir uns jetzt in der Fischsprache unterhalten.« Sir Artwair deutete mit weit ausholender Geste auf die Landschaft. »Was glaubt Ihr denn, warum man das hier Neuland nennt? Früher lag es unter Wasser. Das wäre jetzt immer noch so, aber die Malenden pumpen das Wasser ständig hinaus.« Er deutete zur Böschung empor. »Das Wasser ist dort oben. Das da ist der große Nordkanal.« »Ich hätte es wissen müssen«, sagte Leoff. »Natürlich habe ich von den Kanälen gehört. Ich wusste, dass Neuland unterhalb des Meeresspiegels liegt. Ich habe nur ... ich habe wohl gedacht, ich wäre noch nicht so weit gekommen. Ich dachte, man würde es irgendwie mehr bemerken.« Er warf seinem Begleiter einen Blick zu. »Macht Euch das manchmal nervös?« Sir Artwair nickte. »Ja, ein bisschen. Trotzdem, es ist ein Wunder, und ein guter Schutz gegen Eindringlinge.« »Wie das?« »Wir können jederzeit das Wasser durch die Deiche lassen, sodass jede Armee, die gegen Eslen marschiert, schwimmen müsste. Eslen selbst liegt hoch und trocken.« »Was ist mit den Leuten, die hier draußen leben?« 55 »Wir würden es ihnen rechtzeitig mitteilen. Jeder hier kennt den Weg zum nächsten sicheren Ort, glaubt mir.« »Wurde das schon einmal gemacht?« »Ja. Viermal.« »Und die Armeen wurden aufgehalten?« »Drei von ihnen. Die vierte wurde von einem Dare angeführt, und dessen Nachfahren sitzen heute in Eslen.« »Was das ... was den König angeht-«, begann Leoff. »Ihr fragt Euch, ob noch jemand da ist, dem Ihr etwas vorsingen könnt, um Euch Euer Brot zu verdienen.« »Darüber mache ich mir auch Gedanken«, gab Leoff zu, »aber ganz offensichtlich habe ich auf meiner Reise eine Menge Neuigkeiten verpasst. Ich bin mir nicht einmal sicher, welches Datum wir haben.« »Wir haben den Temnosenal. Morgen ist der erste Tag des Novmen.« »Dann bin ich schon länger unterwegs, als ich gedacht habe. Ich bin im Seftmen aufgebrochen.« »Genau der Monat, in dem der König getötet wurde.« »Es wäre freundlich ...«, setzte Leoff an. Dann sagte er: »Könntet Ihr mir bitte erzählen, was König William zugestoßen ist?« »Gewiss. Er wurde auf einem Jagdausflug von Meuchelmördern überfallen. Sein gesamtes Gefolge wurde niedergemacht.« »Meuchelmörder? Von woher?«
»Seepiraten, heißt es. Es war in der Nähe der Landzunge von Aenah.« »Und andere Mitglieder des königlichen Hauses sind mit ihm umgekommen?« »Prinz Robert, sein Bruder, wurde ebenfalls getötet. Die Prinzessinnen Fastia und Elseny sind in Cal Azroth ermordet worden.« »Das kenne ich nicht«, sagte Leoff. »Ist das in der Nähe des Ortes, wo der König getötet wurde?« »Ganz und gar nicht. Es ist mehr als fünf harte Tagesritte entfernt.« »Das scheint mir aber ein seltsamer Zufall zu sein.« 56 »Ja, nicht wahr? Trotzdem ist es so, und denen, die etwas anderes andeuten, ergeht es übel.« »Ich verstehe«, erwiderte Leoff. »Könnt Ihr mir dann sagen - wer regiert jetzt in Eslen?« Artwair lachte leise in sich hinein. »Das kommt ganz darauf an, wen man fragt. Es gibt einen König - Charles, Williams Sohn. Aber der ist, wie es heißt, von den Heiligen berührt. Man muss ihn beraten, und Rat steht ihm reichlich zur Verfügung. Die Edlen des Comven geizen nicht damit, und zwar bei jeder Gelegenheit. Auch der Praifec der Kirche hat eine Menge zu sagen. Und dann ist da noch Williams Witwe, Charles' Mutter.« »Muriele Dare.« »Ah, etwas zumindest wisst Ihr also«, stellte Artwair fest. »Ja, wenn man einen Menschen benennen sollte, von dem man sagen kann, dass er in Crothenien regiert, dann wäre sie die beste Wahl.« »Ich verstehe«, erwiderte Leoff. »Ihr sagt, Ihr macht Euch Sorgen wegen Eurer Stellung?«, wollte der Ritter wissen. »Sind Posten für Euresgleichen rar?« »Es gibt noch andere Dienstherren, die mich nehmen würden«, gab Leoff zu. »Ich bin nicht ganz unbekannt. Zuletzt habe ich dem Grefft von Glastir gedient. Trotzdem, eine Stellung am Königshof ...« Er blickte zu Boden. »Aber das ist nur eine Kleinigkeit, nicht wahr, bei all diesem Durcheinander?« »Wenigstens habt Ihr ein wenig Verstand, Komponist. Aber verzagt nicht, vielleicht bekommt Ihr Euren Posten ja noch - die Königin könnte die Abmachung einhalten. Dann seid Ihr mittendrin, wenn der Krieg losgeht.« »Krieg? Krieg gegen wen?« »Gegen Hansa - oder Liery. Oder vielleicht auch ein Bürgerkrieg.« »Treibt Ihr Scherze mit mir?« Artwair zuckte die Achseln. »Ich habe ein Gefühl für solche Dinge. Alles ist Chaos, und normalerweise bedarf es eines Krieges, um alles wieder ins Lot zu bringen.« »Beim heiligen Bright, hoffentlich nicht.« 57 »Ihr mögt keine Marschgesänge?« »Ich kenne keine. Könnt Ihr mir welche vorsingen?« »Singen, ich? Wenn Euer Maultier zum Schlachtross wird.« »Nun ja.« Leoff seufzte. »Es war auch nur so eine Idee.« Eine Weile ritten sie schweigend dahin, und als der Abend heranrückte, erhob sich Nebel, von der sinkenden Sonne rosig gefärbt. Das Muhen von Vieh ertönte in der Ferne. Die Luft roch nach trockenem Heu und Rosmarin, und die Brise war kalt. »Erreichen wir Eslen noch heute Abend?«, wollte Leoff wissen. »Nur wenn wir die ganze Nacht reiten, wozu ich keine große Lust habe«, antwortete Sir Artwair. Er schien nicht bei der Sache zu sein, als suche er nach etwas. »Dort, wo die Straße hier oben den Kanal kreuzt, liegt eine Stadt. Da kenne ich ein Gasthaus. Wir nehmen uns ein Zimmer, und wenn wir früh aufbrechen, sind wir morgen Mittag in Eslen.« »Stimmt irgendetwas nicht?« Artwair zuckte die Schultern. »Ich habe ein mulmiges Gefühl. Wahrscheinlich ist es nichts weiter, wie in Eurem Falle.« »Habt Ihr nach etwas Bestimmtem Ausschau gehalten, als wir uns begegnet sind?« »Nach nichts Bestimmtem und nach allem, was fehl am Platze ist. Ihr wart fehl am Platze.« »Und was ist jetzt fehl am Platze?« »Habe ich gesagt, irgendetwas wäre fehl am Platze?« »Nein, aber irgendetwas ist nicht in Ordnung - man sieht es Eurem Gesicht an.« »Und was versteht ein Barde von meinem Gesicht?« Leoff kratzte sich am Kinn. »Ich habe Euch doch gesagt, ich bin kein Barde. Ich bin Komponist. Ihr habt gefragt, wo da der Unterschied ist. Ein Barde zieht von Ort zu Ort, verkauft Lieder, spielt bei Tanzfesten auf dem Lande, solche Sachen.« »Und Ihr tut es für Könige.« »Das ist nicht alles. Seid Ihr von hier? Wart Ihr bei Tanzfesten?« »Auy.« 58 »Barden reisen manchmal in Gruppen bis zu vier Mann. Zwei spielen die Fiedel, einer die Rohrflöte, und ein anderer schlägt die Handtrommel und singt.« »Bis jetzt kann ich Euch folgen.« »Es gibt da ein Lied - Die schöne Maid von Dalwis. Kennt Ihr es?«
Artwair sah ein wenig verblüfft aus. »Gewiss. Das ist beim Fiussanal immer sehr beliebt.« »Stellt es Euch vor. Eine Fiedel spielt die Melodie, die zweite kommt dazu und spielt dasselbe Lied, fängt aber ein bisschen später an, sodass es einen Kanon gibt. Dann kommt der Dritte dazu, und schließlich der Sänger. Vier Stimmen insgesamt, und jede kontrapunktisch zu den anderen.« »Kontrapunkte kenne ich nicht, aber ich kenne das Lied.« »Gut. Und jetzt stellt Euch zehn Fiedeln vor, zwei Rohrflöten, eine Oboe, eine Flöte und ein Hörn, und jedes Instrument spielt etwas anderes.« »Das dürfte sich anhören wie ein ganzer Hof voller Viehzeug, würde ich denken.« »Nicht, wenn es richtig geschrieben ist und die Musikanten ihre Sache gut machen. Nicht, wenn alles an seinem Platz ist. Ich kann ein solches Stück hören, in meinem Kopf. Ich kann es mir vorstellen, noch ehe es jemals gespielt worden ist. Ich habe einen sehr feinen Sinn für solche Sachen, Sir Artwair, und ich kann sehen, wenn es jemand anderem ebenso geht, ob es nun mit Musik zu tun hat oder nicht. Irgendetwas macht Euch zu schaffen. Die Frage ist nur, wisst Ihr, was es ist?« Der Ritter schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein seltsamer Mann, Leovigild Ackenzal. Aber, ja - diese Stadt, von der ich eben gesprochen habe, Broogh - sie liegt genau vor uns. Aber was hört Ihr, mit Euren Musikantenohren?« Leoff konzentrierte sich einen Moment lang. »Schafsgeblök, weit weg. Kühe. Amseln.« »Richtig. Inzwischen sollten wir Kinder schreien und Frauen nach ihren Männern keifen hören, dass die vom Bier lassen und 59 nach Hause kommen sollen. Wir sollten Glocken und Hörner in den Feldern hören, sollten die Arbeiter hören. Aber nichts dergleichen.« Er schnüffelte. »Es riecht auch nicht nach Gekochtem, und der Wind weht uns entgegen.« »Was kann das bedeuten?« »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, wir werden nicht auf der Hauptstraße in die Stadt reiten.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wie nützlich seid Ihr, wenn es Ärger gibt? Könnt Ihr mit einem Schwert umgehen oder mit dem Speer?« »Ihr Heiligen, nein.« »Dann wartet Ihr hier, in der Malend. Sagt dem Windschmied, Artwair bittet darum, dass er einen Glockenschlag lang auf Euch aufpasst.« »Glaubt Ihr denn, es ist so ernst?« »Wieso sollte eine ganze Stadt verstummen?« Leoff fielen mehrere Gründe ein, alle unheilvoll. »Wie Ihr meint«, seufzte er. »Ich wäre nur im Weg, wenn es Schwierigkeiten gibt.« Nachdem er die Deichkrone erklommen hatte, blieb Leoff einen Augenblick lang stehen und staunte, wie ein paar Fuß Höhe Neuland verwandelten. Nebel sammelte sich wie Wolken in den tief liegenden Gefilden, doch von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus konnte er ferne Kanäle erkennen, die die Landschaft durchkreuzten, korallenartige Bänder, die aussahen, als hätten die Heiligen selbst sie aus dem dämmrigen Himmel geschnitten und auf jenen bernsteinfarbenen Feldern ausgebreitet. Hier und dort konnte er sogar sich bewegende Punkte ausmachen - das mussten Boote sein. Auch Lichter begannen jetzt aufzublinken, blasse Schwärme aus Helligkeit, so bleich, dass es sich eher um die flüchtigen Behausungen des Wunderlichen Volkes handeln mochte als um das, was sie zweifellos waren: die von Kerzen erhellten Fenster ferner Städte und Dörfer. Zu seinen Füßen lag der gewaltige Kanal, breiter als so mancher 60 Fluss - doch es musste in der Tat ein Fluss sein, vielleicht der Taufluss, der hier zwischen von Menschenhand errichteten Mauern gefangen war und durch Findigkeit dort festgehalten wurde. Es war fürwahr ein Wunder. Schließlich betrachtete er die Malend und überlegte, wie sie wohl funktionierte. Das Rad drehte sich in der Brise, doch er konnte nicht erkennen, wie dies das Wasser davon abhielt, das Land unter ihm zu ertränken. Es quietschte leise, während es sich drehte, ein anheimelndes Geräusch. Ein freundliches gelbes Licht fiel durch die offene Tür der Malend, und der Geruch von brennendem Holz und bratendem Fisch drang heraus. Leoff stieg von seinem Maultier und klopfte an die Tür. »Auy? Wer ist da?«, fragte eine helle Tenorstimme. Einen Augenblick später erschien ein Gesicht, ein kleiner Mann mit weißem Haar, das in alle Richtungen abstand. Durch das Alter schien sein Gesicht in sich zusammengesunken zu sein, so runzlig war es. Seine Augen jedoch leuchteten, ein helles Blau, wie in Leder gefasste Lapissteine. »Mein Name ist Leovigild Ackenzal«, antwortete Leoff. »Artwair hat gesagt, ich soll fragen, ob ich freundlicherweise einen Glockenschlag lang hier warten darf.« »Artwair, wie?« Der alte Mann kratzte sich am Kinn. »Auy, wilquamen. I haet Gilmer Oercsun. Fühlt Euch bei mir wie zu Hause.« Er vollführte eine etwas ungeduldige Geste. »Das ist sehr freundlich«, antwortete Leoff. Drinnen war das unterste Geschoss der Malend ein einziger gemütlicher Raum. Ein Herd, in dem ein Kochfeuer prasselte, war an der einen Wand errichtet worden. Ein eiserner Topf hing darüber, neben einem Spieß, an dem
zwei große Flussbarsche steckten. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein kleines Bett, und zwei dreibeinige Hocker standen näher am Feuer. Von den Dachbalken hingen Netze voller Zwiebeln, ein paar Kräuterbündel, ein Weidenkorb, ein paar Grasmesser, Hacken und Beile herab. Eine Leiter führte zum nächsten Stock hinauf. 61 In der Mitte des Raumes hob und senkte sich ein hölzerner Schaft in einem mit Steinen ummauerten Loch im Boden. Wahrscheinlich wurde er irgendwie von dem Windrad hoch über ihnen angetrieben. »Ladet doch Eu'r arm's Maultier ab«, sagte der Windschmied. »Haveth-yus huher?« »Verzeihung?« Artwairs Dialekt hatte sonderbar geklungen. Der des Windschmieds war nahezu unverständlich. »'r seid ein Fr'md'r, wie?« Der Mann sprach ein wenig langsamer. »Seltsamen Akzent habt 'r. Ich werde versuchen, mich an die Sprache des Königs zu halten. Also. Habt Ihr schon gegessen? Habt 'r hungrig?« »Ich will Euch keine Umstände machen«, beteuerte Leoff. »Mein Freund kommt bestimmt bald zurück.« »Das heißt, 'r habt hungrig«, entschied der Alte. Leoff ging hinaus und lud seine Habseligkeiten von seiner Maultierstute ab, dann ließ er sie auf der Deichkrone laufen. Er wusste aus Erfahrung, dass sie sich nicht weit entfernen würde. Als er wieder in die Malend trat, stellte er fest, dass einer der Fische ihn auf einem Holzteller erwartete, zusammen mit einem Stück Schwarzbrot und gekochter Gerste. Der Windschmied saß bereits auf einem der Hocker, seinen Teller auf den Knien. »Ich habe gerade keinen Tisch«, entschuldigte er sich. »Musste ihn verbr'nnen. In den letzten Wochen war's Holz knapp.« »Habt noch einmal vielen Dank für Eure Freundlichkeit«, sagte Leoff und stocherte an der knusprigen Haut des Fisches herum. »Ach wo, keine Ursache. Aber wo ist Artwair hingang', wo 'r nicht hinkönnt?« »Er fürchtet, dass in Broogh irgendetwas nicht stimmt.« »Hm. War heut Abend still dort, das stimmt. Hab mich schon gewund'rt.« Er runzelte die Stirn. »Kommt mir vor, als hätt ich auch die Vesp'rglocke nicht gehört.« Wenn dies Gilmer zu weiteren Gedanken verleitete, so teilte er sie Leoff nicht mit, sondern machte sich über sein Essen her. Der Komponist folgte seinem Beispiel. 62 Als das Mahl beendet war, warf Gilmer die Gräten ins Feuer. »Woher kommt 'r denn?«, fragte er. »Aus Glastir, an der Küste«, antwortete Leoff. »Das ist weit von hier, auy? Und woher kennt 'r Artwair?« »Ich bin ihm unterwegs begegnet. Er begleitet mich nach Eslen.« »Oh, 'r geht zu Hofe? Dunkle Zeiten dort, seit der Nacht des Purpurmondes. Dunkle Zeiten allüberall.« »Ich habe den Mond damals gesehen«, sagte Leoff. »Sehr merkwürdig. Das hat mich an ein Lied erinnert.« »Bestimmt ein ungut's Lied, da wette ich.« »Ein altes, und sehr rätselhaft.« »Singt 'r ein wenig davon?« »Ah, na schön ...« Leoff räusperte sich. Riciar ritt über die Wiesen grün An der westlichen Berge Fuße Dort sah er eine bleiche Königin Die in den Lilien pflegte der Muße Ihre Arme glänzten wie Vollmondschein Ihre Augen wie Tau so klar An ihrem Kleid klangen Glöcklein klein Sie trug Diamanten im Haar Gegrüßt, 0 mein' hehre Königin Seid mir gegrüßt, rief er laut Denn Ihr müsst der Heiligen Größte sein Die jemals ein Mensch hat geschaut Wahrlich, sprach sie, keine Heil'ge ich bin Keine Göttin leuchtend und hell 'S der Albenlande Königin Die heut Abend Ihr seht hier zur Stell' 63 O Riciar, willkommen in meinem Gefild Am Fuße der Berge im Westen Kommt her und ruhet gemeinsam mit mir Seid Ihr doch der Sterblichen Bester Und der Wunder drei will ich zeigen Euch Und was die Zukunft wird bringen Und meinen Wein teil ich mit Euch Meine Arme Euch werden umschlingen Und unterm westlichen Himmelsdach Offenbarte drei Wunder sie ihm Und ganz allmählich schenkte danach Zu schau'n sie der Alben Aug' ihm O Riciar, verweilt eine Weile bei mir Bleibt ein Zeitalter oder zweie Lasst die Lande des Schicksals, weit von hier Schlaft bei Eibe, Esche und Weiher Hier ist mein Tor aus Nebel und Grund Dahinter mein herrliches Reich Von allen Rittern im Erdenrund Seid Ihr stets willkommen dort gleich
Ich gehe nicht mit Euch, Königin hehr Ich werde das Tor nicht durchschreiten Sondern heimkehren zu meinem Lehnsherrn Ins Schicksalsland werde ich reiten Wenn Ihr nicht bei mir bleiben wollt Wenn Abschied ich nehmen muss So bitt ich, auf dass ich nicht vergessen sollt Euch um einen einzigen Kuss 64 So beugte er sich, sie zu küssen, herab An der westlichen Berge Fuß Ein Messer sie zog wohl aus ihrem Haar Und stach's ihm durch Herz und Brust Zu seiner Mutter Haus ritt er zurück Hell entströmte das Blut seinem Herzen Mein Sohn, mein Sohn, du bist so bleich Was fügte dir zu solche Schmerzen* O Mutter, ich bin verwundet schwer Und sterben werd ich noch heut Doch künden muss ich dir, was ich geseh'n Ehe ich fortging so weit Eine Purpursichel die Sterne wird mäh'n Laut schmettern ein fremdes Hörn Wo Königsblut den Boden tränkt Dort rankt der schwarze Dorn. Leoff beendete das Lied. Gilmer lauschte mit offenkundigem Entzücken. »'r habt eine schöne Stimme«, meinte der Alte. »Ich weiß nichts von diesem Riciar, aber alles, was 'r sagt, ist eingetroffen.« »Wie das?« »Die Purpursichel - das war der Sichelmond, der letzten Monat aufgegangen ist, wie 'r gesagt habt. Und ein Hörn ist geblasen worden - 's wurd' allüberall gehört. In Eslen, an der Bucht, draußen auf den Inseln. Und Königsblut ist vergossen worden, und dann die Schwarzdornen.« » Schwarzdornen ?« »Auy. 'r habt's nicht gehört? Sie sind zuerst in Cal Azroth gewachsen, wo die beiden Prinzessinnen erschlagen wurden. Sind direkt aus ihrem Blut gesprossen, sagt man, genau wie in Eurem Lied. Sind so schnell gewachsen, dass sie die Burg dort niederge65 rissen haben, und sie wuchern immer noch, 's heißt, der Königswald ist auch voll davon.« »Davon habe ich überhaupt nichts gehört«, sagte Leoff. »Ich war unterwegs, von Glastir.« »Gewiss sind die Neuigkeiten doch auf der Straße gereist«, wandte Gilmer ein. »Wie haben sie Euch verfehlt?« Leoff zuckte die Achseln. »Ich bin mit einer Sefry-Gruppe gereist, und die haben nur sehr wenig mit mir geredet. Die letzte Woche war ich allein unterwegs, aber ich war wohl in Gedanken.« »In Gedanken? Wo das Ende der Welt kommt und all das?« »Ende der Welt?« Gilmer senkte die Stimme. »Bei allen Heiligen, Mann, habt 'r denn gar keine Ahnung? Der Dornenkönig ist erwacht. Das sind seine Dornenranken, die's Land verschlingen. Das war sein Hörn, das Ihr habt schmettern hören.« Leoff strich sich übers Kinn. »Dornenkönig?« »Ein alter Dämon aus dem Wald. Der letzte der bösen Alten Götter, heißt's.« »Ich habe noch nie ... nein, wartet, da gibt es doch ein Lied über ihn.« »'r steckt bis obenhin voller Lieder.« Leoff zuckte die Achseln. »Man könnte sagen, Lieder sind mein Gewerbe.« »'r seid ein Barde?« Leoff seufzte und lächelte. »So etwas Ähnliches. Ich nehme alte Lieder und mache neue daraus.« »Also ein Liederschmied. Ein Schmied wie ich.« »Ja, das kommt schon eher hin.« »Nun, wenn's ein Lied über den Dornenkönig ist, so will ich's nicht hören. Er wird uns noch früh genug alle töten. Kein Grund, sich Gedanken um ihn zu machen, bevor's so weit ist.« Leoff war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte, doch er war überzeugt, dass Artwair es wahrscheinlich erwähnt hätte, wenn das Ende der Welt bevorstünde. »Schön«, antwortete er und zeigte nach oben. »Darf ich fragen, wie das funktioniert?« 66 Gilmers Miene hellte sich auf. »'r habt doch das Saglwic draußen gesehen, auy? Der Wind dreht's, sodass sich da oben eine Achse dreht.« Er zeigte zum Dach hinauf. »Dann übertragen hölzerne Zapfen und Zahnräder dieses Drehen und heben und senken diesen Schaft. Der treibt die Pumpe da unten an. Ich kann's Euch morgen zeigen.« »Das ist sehr nett von Euch, aber morgen werde ich nicht mehr hier sein.« »Vielleicht doch. Artwair hatte genug Zeit, um zweimal nach Broogh zu reiten und zurückzukommen, also muss irgendetwas ihn dort aufgehalten haben. Und ich brauche meinen Schlaf. Und so, wie die Kuvolde an Euren Lidern zupfen, würde ich sagen, Euch geht's genauso.« »Ich bin ziemlich müde«, stellte Leoff fest. »'r könnt gern bleiben, bis Artwair zurückkommt, wie ich gesagt habe, 's gibt noch ein zweites Bett für solche Zwecke, oben im nächsten Stock. Nehmt's, wenn 'r mögt.« »Ich glaube, das tue ich wirklich, und wenn nur für ein kleines Nickerchen.« Er stieg die Leiter zum ersten Stock empor und fand das Bett, direkt unter einem Fenster. Es war jetzt völlig
dunkel, doch der Mond war hervorgekommen, und ungefähr eine halbe Meile kanalaufwärts erblickte er eine Ansammlung hausförmiger Schatten, eine Mauer und vier Türme von unterschiedlicher Höhe. Das musste Broogh sein. Allerdings war keinerlei Licht zu sehen, nicht einmal so viel wie das, was er in den weit entfernten - und wahrscheinlich deutlich kleineren - Dörfern hatte erkennen können. Mit einem Seufzer streckte er sich auf der derben Matratze aus und lauschte dem Gesang der Wolfsschwingen und Nachtfalken, müde, aber nicht schläfrig. Über sich konnte er die Zahnräder klappern und klacken hören, von denen Gilmer gesprochen hatte, und ganz in der Nähe das Tröpfeln von Wasser. Das Ende der Welt, wie? Das traf sich ja mal wieder famos. Im Alter von zweiunddreißig hatte er eine Stellung am Königshof ergattert, und das Ende der Welt stand kurz bevor. 67 Wenn er überhaupt noch eine Stellung am Königshof hatte. Seine Überlegungen zu diesem Problem wurden durch die plötzlichen gehauchten Töne einer Flöte unterbrochen. Sie klangen so klar und schön, dass sie durchaus hätten echt sein können, doch er hatte lange genug mit seiner Begabung gelebt, um zu wissen, dass sie in seinem Kopf ertönten. Eine Melodie begann, und er lächelte, während sich sein Körper entspannte und sein Verstand zu arbeiten begann. Die Malend lehrte ihn ihr Lied. Es kam leicht zu ihm, zuerst die Altflöte, der Wind, der von Osten kam, über die grünen Ebenen. Und jetzt die Trommel, als das Rad - das Saglwic? - sich zu drehen begann, und Fiedeln - hier gezupft anstatt gestrichen fingen an, die Melodie gemeinsam mit der Flöte zu spielen. Dann fielen die tiefen Töne der Bassgeigen ein, die gewaltigen Fluten unter der Erde antworteten, aber natürlich war es immer noch eine Melodie - und nun strömte Wasser in den Kanal, ein fröhliches Rieseln auf einem Flageolett, als die Malend zu einer Einheit aus Luft, Erde, Wasser und Handwerkskunst wurde. Jetzt begannen die Variationen; jedes Element bekam sein eigenes Thema - die Erde ein behäbiger Tanz der tiefen Instrumente, die Flöten jedoch ein verrücktes, fröhliches Springen, und die Saiteninstrumente strichen gebrochene Akkorde, fast schon ineinander verschliffen ... Er blinzelte. Seine Kerze war ausgegangen, und es war stockfinster. Wann war das denn passiert? Doch das Concerto war fertig, konnte zu Papier gebracht werden. Anders als die Melodie in den Hügeln war der Tanz der Malend als Ganzes zu ihm gekommen. Vielleicht lag es daran, dass ihm erst jetzt klar wurde, dass jemand in dem Raum unter ihm war und redete. Zwei Stimmen, und keine von beiden gehörte Gilmer Oercsun. »... verstehe nicht, warum ausgerechnet wir das erledigen sollen«, sagte die eine Stimme. Es war ein Tenor, ziemlich kratzig. »Beklag dich nicht«, antwortete eine andere, diese ein dröhnen68 der Bariton. »Beklag dich vor allem nicht, wenn er in der Nähe ist.« »Es ist nur, ich wollte es sehen«, erwiderte die erste Stimme. »Willst du denn nicht dabei sein, wenn sie den Deich durchstechen und das ganze Wasser daraus hervorbricht?« »Du wirst es sehen«, beschwichtigte der Bariton. »Du wirst es genau genug zu sehen kriegen. Kannst von Glück sagen, wenn du nicht darin schwimmen musst.« »Ja, du hast wohl Recht. Trotzdem.« Ein fröhlicher Unter ton kroch in die Stimme des Tenors. »Aber wird das nicht lustig, im Boot über all das da unten drüberzurudern? Über die Hausdächer? Ich werde direkt über ... wie heißt die Stadt noch mal?« »Wo das Mädchen gesagt hat, du hättest eine Nase wie ein Schildkrötenstängel ?« »Genau.« »Reckhaem.« »Stimmt. He, ein Schildkrötenstängel ist das Beste, was die von heute Nacht an noch kriegen wird.« »Immer noch besser als deiner, nach allem, was ich gehört habe«, bemerkte der Bariton. »Jetzt lass uns zusehen, dass wir hier fertig werden. Vor dem Morgengrauen müssen wir auf einer Strecke von vier Meilen jede Malend niederbrennen.« »Ja, aber warum?« »Damit sie das Wasser nicht wieder zurückpumpen können, du blöder Sceat. Jetzt komm schon.« Niederbrennen? Leoffs Herz vollführte rasche Tanzschritte. Der Kopf der Treppe wurde plötzlich sichtbar, ein orangerotes Rechteck, und er roch brennendes Öl. 69 4. Kapitel Der Praifec Aspar White rang nach Atem, doch ihm war, als habe sich eine riesige Hand um seine Kehle geschlossen. »Sceat, das kann nicht richtig sein«, brachte er mühsam hervor. »Winna -« Winna verdrehte die blauen Augen und schüttelte ihre honigblonden Locken. »Sei still, Aspar«, mahnte sie. »Stell dich nicht so an. Hast du denn noch nie einen Farling-Kragen getragen?« »Ich habe überhaupt noch nie irgendwelche Kragen getragen«, knurrte Aspar. »Wozu auch?«
»Weil du hier in Eslen bist, im königlichen Palast, und nicht auf irgendeiner Heide in den Hochlanden herumstrolchst, und weil du noch vor dem nächsten Glockenschlag Seiner Exzellenz, dem Praifec von ganz Crothenien, gegenübertreten wirst. Dafür musst du richtig angezogen sein.« »Aber ich bin doch bloß ein Waldhüter«, beschwerte er sich. »Lass mich doch wie einer angezogen sein.« »Du hast den Schwarzen Warg und seine Banditenbande getötet, ganz allein, mit nichts als deinem Bogen, deiner Axt und deinem Dolch. Du hast gegen einen Gryffin gekämpft und überlebt. Willst du mir erzählen, du fürchtest dich davor, ganz simple Hofkleidung zu tragen?« »Das Zeug ist nicht simpel. Ich sehe blöd aus, und ich kriege keine Luft.« »Du hast dich noch gar nicht gesehen, und wenn du genug Luft bekommst, um so zu quengeln, dann würde ich sagen, dir fehlt nichts. Und jetzt komm zum Spiegel.« Er zog die Augenbrauen hoch. Auf Winnas jungem Gesicht lag ein breites Lächeln. Ihr Haar wurde von einer Art schwarzem Netz gehalten, und sie trug ein blaues Kleid, dessen Mieder seiner Meinung nach viel zu tief ausgeschnitten war. Nicht dass der An70 blick nicht erfreulich gewesen wäre, aber er würde auch jeden anderen Mann erfreuen. »Nun, du siehst zumindest - äh - hübsch aus«, stellte er fest. »Gewiss. Und du auch. Siehst du?« Sie drehte ihn zum Spiegel herum. Nun ja, sein Gesicht erkannte er wieder, auch wenn es glatt rasiert war. Dunkel von der Sonne, vernarbt und verwittert von einundvierzig hart gelebten Jahren, war es vielleicht nicht hübsch, doch es war die Sorte Gesicht, wie ein Waldhüter des Königs es haben sollte. Vom Hals abwärts war er ein Fremder. Der enge, steife Kragen war lediglich das Unbequemste an einem Wams aus einem bunt gemusterten Stoff, der eher als Teppich oder Vorhang hätte dienen sollen. Darunter fühlten sich seine Beine irgendwie nackt an, wie sie so in engen grünen Beinkleidern steckten. Er kam sich vor wie ein kandierter Apfel auf einem Stiel. »Wer ist bloß auf die Idee gekommen, jemanden so anzuziehen?« Er schnaubte. »Es ist, als hätte irgendeine Verrückte sich bemüht, sich den lächerlichsten Aufzug auszudenken, den man sich nur vorstellen kann, und bei Grims Auge, das ist ihr auch gelungen.« »Verrückte?«, fragte Winna. »Ja, also, kein Mann würde jemals auf so ein Gauklergewand verfallen. Das muss irgendein gemeiner Trick gewesen sein. Oder eine Wette.« »Du gehörst lange genug zum Hof, um es besser zu wissen«, sagte Winna. »Die Männer hier lieben ihr Prachtgefieder.« »Stimmt«, gab er zu. »Und ich bin auch verdammt noch mal bereit, von hier zu verschwinden.« Ihre Augen wurden ein wenig schmaler, und sie hob anklagend den Zeigefinger. »Du bist nervös, weil du dem Praifec vorgestellt wirst.« »Bin ich nicht«, fuhr er auf. »Bist du doch! Ein nervöses kleines Quengelkind!« »Ich habe eben nie besonders viel mit der Kirche zu tun gehabt, 7i das ist alles«, brummte er. »Außer dass ich ein paar von ihren Mönchen getötet habe.« »Geächtete Mönche«, erinnerte sie ihn. »Du wirst das wunderbar machen, gib dir bloß Mühe, nicht zu fluchen mit anderen Worten, versuch, überhaupt nichts zu sagen. Überlass das Reden Stephen.« »O ja, das wird eine große Hilfe sein«, murmelte Aspar sarkastisch. »Der ist der Inbegriff des Takts.« »Er ist ein Mann der Kirche«, entgegnete Winna. »Bestimmt versteht er mehr davon, mit einem Praifec zu sprechen, als du.« Ein scharfes kleines Lachen von der Tür her folgte auf ihre Worte. Aspar schaute hinüber und sah, dass Stephen eingetreten war und im Türrahmen lehnte; er war fast genauso gekleidet wie Aspar selbst, schien sich jedoch bedeutend wohler zu fühlen. Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen, und sein braunes Haar war auf eine Weise nach hinten gekämmt, die der höfischen Mode recht nahe kam. »Ich war ein Mann der Kirche«, bemerkte Stephen. »Ehe ich mich der Ketzerei schuldig gemacht habe, meinem Fratrex gegenüber ungehorsam war, seinen Tod verschuldet habe und aus meinem Kloster geflohen bin. Ich bezweifle sehr, dass Seine Exzellenz der Praifec viel Gutes zu mir sagen wird.« »Höchstwahrscheinlich«, pflichtete Aspar ihm bei, »endet diese Begegnung für uns in einem Kerker.« »Nun«, stellte Winna gesittet fest, »wenigstens sind wir dann gut angezogen.« Praifec Marche Hespero war ein hoch gewachsener Mann in mittleren Jahren. Er hatte ein schmales Gesicht, das durch einen kleinen Kinn- und einen Schnurrbart noch schärfer wirkte. Seine schwarze Robe umhüllte den dazu passenden Körper - dünn, fast vogelartig. Auch seine Augen waren wie die eines Vogels, dachte Aspar - wie Falken- oder Adleraugen. Er empfing sie in einem düsteren, kargen Gemach mit grauen Steinwänden und niedriger Balkendecke. In der üppigen Pracht des Palastes von Eslen wirkte dieser Raum völlig fehl am Platz. 72 Der Praifec thronte in einem Lehnstuhl hinter einem großen Tisch. Zu seiner Linken saß ein dunkelhäutiger
Knabe von vielleicht sechzehn Wintern, der in seinen bäuerlichen Kleidern mindestens ebenso unbehaglich aussah, wie Aspar sich fühlte. Abgesehen davon waren Aspar, Winna und Stephen die Einzigen im Raum. »Bitte, setzt Euch doch«, sagte der Praifec freundlich. Aspar wartete, bis Stephen und Winna auf ihren Stühlen Platz genommen hatten, und ließ sich dann auf dem nieder, der noch übrig war. Grim mochte wissen, ob es der richtige war. Wenn es überhaupt einen richtigen gab. Die Sache mit den Löffeln bei dem Bankett vor einer Woche war ihm immer noch unangenehm. Wer brauchte denn mehr als eine Sorte Löffel? Als sie sich gesetzt hatten, erhob sich der Praifec und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Er sah Aspar an. »Aspar White«, sagte er mit leiser Stimme, so weich wie der Stoff, aus dem Winnas Kleid war. »Ihr seid seit vielen Jahren der Waldhüter des Königs.« »Mehr Jahre, als ich mich erinnern kann, Euer Exzellenz.« Der Praifec lächelte flüchtig. »Ja, die Jahre sind uns dicht auf den Fersen, nicht wahr? Ich schätze, Ihr seid ein Mann von ungefähr vierzig Wintern. Es ist schon eine Weile her, dass ich in diesem Alter war.« Er zuckte die Schultern. »Was wir an Ansehnlichkeit verlieren, gewinnen wir hoffentlich an Weisheit.« »Ja, Euer Exzellenz.« »Alles in allem war Eure Laufbahn bis jetzt wahrlich bemerkenswert. Seid Ihr wirklich ganz allein mit diesem Schwarzen Warg fertig geworden?« Aspar rutschte unbehaglich hin und her. »Das ist ein bisschen aufgebauscht worden.« »Ah«, sagte der Praifec. »Und diese Sache mit dem Relister?« »Der hatte noch nie gegen einen Mann mit Axt und Dolch gekämpft, Exzellenz. Seine Rüstung hat ihn behindert.« »Ja, gewiss.« Er warf einen Blick auf ein Blatt Papier auf dem Tisch. »Ich sehe hier auch ein paar Klagen. Wie war das mit dem Grefft von Ashwis?« 73 »Das war ein Missverständnis«, erwiderte Aspar. »Seine Lordschaft war betrunken und hat sich mit einer Fackel am Wald zu schaffen gemacht.« »Habt Ihr ihn wirklich gefesselt und geknebelt?« »Der König hat sich meinem Standpunkt angeschlossen, Mylord.« »Ja, letzten Endes schon. Aber da war doch diese Angelegenheit mit Lady Esteiren?« Aspar versteifte sich. »Die Lady wollte mich als Führer für eine Lustreise, Euer Exzellenz, was keinesfalls zu meinen Pflichten gehört. Ich habe mich bemüht, höflich zu sein.« »Das ist Euch anscheinend nicht gelungen«, entgegnete der Praifec. Ein Hauch von Belustigung schwang in seiner Stimme mit. Aspar setzte zu einer Erwiderung an, doch der Praifec hob die Hand, schüttelte den Kopf und wandte sich an Stephen. »Stephen Darige, ehemals ein Fratir im Kloster von d'Ef.« Er blickte auf Stephen herab. »Ihr habt während Eurer kurzen Amtszeit einen recht nachhaltigen Eindruck auf die Kirche gemacht, nicht wahr, Bruder Stephen?« Stephen runzelte die Stirn. »Euer Exzellenz, wie Ihr wisst, waren die Umstände -« Der Praifec schnitt ihm das Wort ab. »Ihr stammt aus einer angesehenen Familie, sehe ich. Wart auf der Schule in Ralegh. Seid gelehrt in antiken Sprachen, was Ihr in d'Ef dazu genutzt habt, verbotene Dokumente zu übersetzen, deren Übersetzung - so wie ich es verstehe, korrigiert mich, falls ich mich irre - sowohl den Tod Eures Fratrex als auch unaussprechliche Akte finsterer Hexerei zur Folge hatte.« »All dies ist wahr, Euer Exzellenz«, antwortete Stephen, »aber ich habe mein Werk auf den Befehl des Fratrex hin verrichtet. Die finstere Hexerei wurde von abtrünnigen Mönchen ausgeübt, angeführt von Desmond Spendlove.« »Nun, seht Ihr, dafür gibt es keinerlei Beweise«, wandte der Praifec ein. »Bruder Spendlove und seine Mitstreiter sind alle tot, 74 ebenso wie Fratrex Pell. Günstig für Euch, da auf diese Weise niemand Eure Geschichte widerlegen kann.« »Euer Exzellenz -« »Und doch gebt Ihr zu, den Dornenkönig gerufen zu haben, dessen Erscheinen das Ende der Welt ankündigt.« »Das war ein Versehen, Euer Exzellenz.« »Ja. Das wird ein geringer Trost sein, wenn die Welt tatsächlich im Begriff ist unterzugehen, nicht wahr?« »Ja, Euer Exzellenz«, antwortete Stephen unglücklich. »Nichtsdestotrotz lässt Euer Schuldeingeständnis in dieser Angelegenheit stark darauf schließen, dass Ihr die Wahrheit sagt. Insgeheim habe ich, wie ich zugebe, schon lange geargwöhnt, dass in d'Ef irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Immerhin besteht die Kirche aus Männern und Frauen, die alle fehlbar sind und ebenso anfällig für Verderbtheit wie jeder andere. Jetzt sind wir doppelt auf der Hut, dessen dürft Ihr gewiss sein.« Schließlich wandte er sich an Winna. »Winna Rufoote. Wirtstochter aus Colbaely Keine Waldhüterin, keine Würdenträgerin der Kirche. Wie im Namen des Himmels seid Ihr in all dies hineingeraten?« »Ich liebe diesen Klotz von einem Waldhüter, Euer Exzellenz«, antwortete sie.
Aspar spürte, wie sein Gesicht rot anlief. »Nun«, sagte der Praifec, »derlei Dinge lassen sich wohl nicht begründen, nicht wahr?« »Wahrscheinlich nicht, Euer Exzellenz.« »Doch Ihr wart bei ihm, als er dem Gryffin auf der Spur war, und auch in Cal Azroth, als der Dornenkönig erschienen ist. Des Weiteren wart Ihr die Gefangene des Sefry Fend, der angeblich für vieles von dem, was geschehen ist, verantwortlich ist.« »Ja, Euer Exzellenz.« »Wohlan.« Hesperos Lippen bildeten eine dünne Linie. »Ich lasse Euch die Wahl, Winna Rufoote. Wir werden von Dingen sprechen, die außerhalb der Mauern dieses Raumes nicht vernommen werden dürfen. Ihr mögt bleiben und ein Teil von etwas wer75 den, das sich auf verschiedene Weise als sehr gefährlich erweisen könnte - oder Ihr könnt gehen, und ich lasse Euch sicher zum Gasthaus Eures Vaters nach Colbaely heimgeleiten.« »Euer Exzellenz, ich bin ein Teil von alldem hier. Ich bleibe.« Aspar bemerkte plötzlich, dass er aufgestanden war. »Winna, ich verbiete -« »Sei still, du großer Bär«, sagte Winna. »Wann hast du mir je etwas verbieten können?« »Diesmal tue ich es!«, beharrte Aspar. »Ruhe, bitte«, sagte der Praifec. Er richtete seine Raubvogelaugen auf Aspar. »Es ist ihre Entscheidung.« »Und sie hat sie getroffen«, fügte Winna hinzu. »Überlegt es Euch gut, meine Liebe«, riet der Praifec. »Es ist getan, Euer Exzellenz«, entgegnete Winna. Der Praifec nickte. »Nun wohl.« Er legte die Hand auf die Schulter des Jungen, der die ganze Zeit über stumm dagesessen hatte. Er hatte schwarzes Haar und ebensolche Augen, und seine Haut war dunkel, dunkler als Aspars. »Gestattet mir, Ehawk von den Wattau vorzustellen, einem Stamm aus den Hasenbergen. Sie sind Euch vielleicht bekannt, Waldhüter White.« »Ja«, antwortete Aspar knapp. Seine Mutter war eine Wattau gewesen, sein Vater ein Ingorn. Das Kind, das sie gezeugt hatten, war bei keinem der beiden Stämme je willkommen gewesen. Wieder nickte der Praifec. »Die Ereignisse, an denen ihr drei beteiligt wart, sind für die Kirche von großer Bedeutung, ganz besonders das Erscheinen des so genannten Dornenkönigs. Bisher waren wir der Ansicht, er sei nichts weiter als ein Volksmärchen, ein alter Aberglaube, vielleicht inspiriert durch irgendeine ungebildete Erinnerung an die Magierkriege, oder sogar an die Knechtschaft, bevor unsere Vorfahren die Ketten jener gesprengt haben, die sie versklavt hatten. Jetzt, wo er erschienen ist, müssen wir unseren Wissensstand natürlich ganz neu bewerten.« »Wenn ich so frei sein darf, Euer Exzellenz, mein Bericht -«, begann Stephen. 76 »Ich habe Euren Bericht selbstverständlich gelesen«, unterbrach ihn Hespero. »Eure Arbeit zu diesem Thema ist lobenswert, doch Euch fehlt das gesammelte Wissen der Kirche. Im heiligen z'Irbina gibt es eine Reihe gewisser Werke, die ausschließlich von Seiner Heiligkeit, dem Fratrex Prismo, gelesen werden dürfen. Nachdem ich von den Geschehnissen in Cal Azroth gehört hatte, habe ich sogleich eine Nachricht nach z'Irbina gesandt. Und jetzt habe ich meinerseits Nachrichten erhalten.« Er hielt inne. »Nachrichten und mehr«, fuhr er fort. »Das werde ich später erklären. Wie dem auch sei, damals meinte ich, nicht auf Botschaft aus z'Irbina warten zu können. Ich habe einen Suchtrupp unter dem Schutz der Kirche ausgesandt, um dieses ... Geschöpf aufzuspüren und mehr über es in Erfahrung zu bringen. Der Suchtrupp war stark, ein Ritter der Kirche und fünf Mönche des heiligen Mamres. Sie haben Ehwak in seinem Dorf als Führer angeworben. Er wird jetzt berichten, was er gesehen hat.« »Ah«, sagte Ehawk. Sein Akzent war ausgeprägt, und es war der Akzent eines Menschen, der es nicht gewohnt war, die Sprache des Königs zu sprechen. »Seid gegrüßt.« Er heftete den Blick auf Aspar. »Ich habe von Euch gehört, Sir Waldhüter. Ich dachte, Ihr wärt größer. Es heißt, Eure Pfeile sind so lang wie Speere.« »Ich bin für Seine Exzellenz geschrumpft«, knurrte Aspar. »Was hast du gesehen, Bursche, und wo hast du es gesehen?« »Im Gebiet der Duth ag Pae, in der Nähe von Aghdon. Einer von den Mönchen - Martyn - hat etwas gehört. Und da waren sie.« »Sie?« »Männer und Frauen, aber wie wilde Tiere. Sie hatten nichts an, sie haben keine Waffen getragen. Sie haben den armen Sir Oneu mit Händen und Zähnen in Stücke gerissen. Ein Wahnsinn war über sie gekommen.« »Wo kamen sie her?« »Es waren die Duth ag Pae, da bin ich mir sicher. Vielleicht alle, obwohl ich keine Kinder gesehen habe. Aber es waren Greise dabei.« Er schauderte. »Sie haben das Fleisch der Mönche verschlungen, noch während sie sie getötet haben.« 77 »Weißt du, was sie in den Wahnsinn getrieben haben könnte?« »Es waren nicht nur sie, Sir Waldhüter. Auf der Flucht bin ich auf ein Dorf nach dem anderen gestoßen, alle
verlassen. Ich habe mich in Löchern und unter dem Laub versteckt, aber sie haben mein Pferd gefunden und es zerrissen. Nachts habe ich sie gehört, wie sie Lieder gesungen haben, in keiner Sprache der Berge.« »Aber du bist ihnen entkommen.« »Ja. Als ich den Wald verlassen habe, habe ich sie hinter mir zurückgelassen. Ich bin hergekommen, weil Martyn es so gewollt hat.« »Martyn war einer meiner vertrauenswürdigsten Diener«, erläuterte der Praifec. »Und sehr mächtig in Mamres.« »Was für ein Wahnsinn befällt ganze Dörfer?«, überlegte Stephen laut. »Die alten Weiber ...«, begann Ehawk, dann erstarb seine Stimme. »Nur zu, Ehawk«, ermutigte ihn der Praifec. »Sag, was du willst.« »Es ist eine von den Prophezeiungen. Sie haben gesagt, wenn Etthoroam erwacht, wird er den ganzen Wald als sein Eigen beanspruchen.« »Etthoroam«, wiederholte Stephen. »Den Namen habe ich schon einmal gehört. So nennt dein Volk den Dornenkönig.« Ehawk nickte. »Aspar«, sagte Winna leise. »Colbaely liegt im Königswald. Mein Vater. Meine Familie.« »Colbaely ist weit weg vom Land der Duth ag Pae«, erwiderte Aspar. »Was bedeutet das schon, wenn es stimmt, was der Junge sagt?« »Da hat sie nicht Unrecht«, bemerkte Stephen. »Sie sind nicht nur in den Tiefen des Königswaldes«, sagte der Praifec. »Wir haben Berichte über Kämpfe überall entlang des Waldrands erhalten, zumindest im Osten.« »Euer Exzellenz, um Vergebung«, bat Aspar. »Für welches Vergehen?« 78 »Erlaubt mir, Euch zu verlassen. Ich bin der Waldhüter des Königs. Der Wald steht unter meinem Schutz. Ich muss das mit eigenen Augen sehen.« »Ja zu Eurem zweiten Satz. Aber Ihr seid nicht länger der Waldhüter des Königs.« »Was?« »Ich habe Seine Majestät ersucht, Euch meinem Befehl zu unterstellen. Ich brauche Euch, Aspar White. Niemand kennt den Wald so gut wie Ihr. Ihr habt dem Dornenkönig gegenübergestanden und überlebt - nicht nur einmal, sondern zweimal.« »Aber er war sein ganzes Leben lang der Waldhüter des Königs!«, brach es aus Stephen hervor. »Euer Exzellenz, Ihr könnt doch nicht einfach -!« Die Stimme des Praifec war plötzlich nicht mehr sanft. »Fürwahr, Bruder Darige, ich kann. Ich kann, und ich habe. Und tatsächlich ist Euer Freund nach wie vor ein Waldhüter - der Waldhüter der Kirche. Auf welch größere Ehre kann er hoffen?« »Aber -«, setzte Stephen erneut an. »Wenn es Euch nichts ausmacht, Stephen«, sagte Aspar leise, »ich kann für mich selbst sprechen.« »Bitte tut das«, drängte der Praifec. Aspar blickte dem Praifec direkt in die Augen. »Ich verstehe nicht viel von Höfen oder Königen oder Praifecs«, gab er zu. »Man hat mir gesagt, ich hätte nur wenige Manieren und die, die ich hätte, wären schlechte. Aber mir scheint, Euer Exzellenz, dass Ihr mich hättet fragen können, ehe Ihr mich davon in Kenntnis setzt.« Hespero starrte ihn einen Augenblick lang an, dann zuckte er die Achseln. »Nun gut. Da habt Ihr Recht. Ich nehme an, ich habe zugelassen, dass meine Sorge um die Menschen Crotheniens und der ganzen Welt meinen Blick für die persönlichen Vorlieben eines einzelnen Mannes getrübt hat. Ich kann den König jederzeit bitten, sein Dekret zu ändern - also frage ich Euch jetzt.« »Was genau wünschen Euer Exzellenz?« »Ich will, dass Ihr in den Königswald zieht und herausfindet, 79 was dort wirklich vor sich geht. Ich will, dass Ihr den Dornenkönig findet, und ich will, dass Ihr ihn tötet.« Ein Moment des Schweigens folgte auf die Worte des Praifec. Er saß da und sah sie an, als hätte er sie aufgefordert, jagen zu gehen und mit frischem Wildbret zurückzukehren. »Ihn töten«, sagte Aspar nach einer Weile behutsam. »Fürwahr. Ihr habt den Gryffin zur Strecke gebracht, oder etwa nicht?« »Und der hätte um ein Haar Aspar getötet«, warf Winna ein. »Er hätte ihn auch getötet, nur hat der Dornenkönig ihn irgendwie geheilt.« »Seid Ihr Euch da sicher?«, fragte der Praifec. »Tut Ihr die Heiligen und ihre Werke so leichtfertig ab? Immerhin halten sie sehr wohl ein Auge auf das Treiben der Menschen.« »Worauf wir hinauswollen, Euer Exzellenz«, sagte Stephen, »ist, dass wir nicht wissen, was genau sich an jenem Tag zugetragen hat, was der Dornenkönig ist oder was für ein Omen er wirklich darstellt. Wir wissen nicht, ob der Dornenkönig getötet werden sollte, und wir wissen nicht, ob er überhaupt getötet werden kann.« »Er kann getötet werden, und er muss getötet werden«, entgegnete Hespero. »Dies hier kann ihn töten.« Er holte eine lange, schmale Lederhülle hinter seinem Schreibpult hervor. Die Hülle sah alt aus, und Aspar konnte eine
Art verblasster Schrift darauf erkennen. »Dies ist eine der ältesten Reliquien der Kirche«, sagte der Praifec. »Sie hat auf diesen Tag gewartet - und auf jemanden, der sie einsetzt. Der Fratrex Prismo hat die Vorzeichen gelesen, und die Heiligen haben ihren Willen offenbart.« Er öffnete ein Ende der Hülle und zog vorsichtig einen Pfeil heraus. Die Spitze funkelte, fast zu hell, um sie anzusehen. »Als die Heiligen die Alten Götter vernichteten«, erklärte Hespero, »haben sie dies hier gefertigt und es dem ersten der Kirchenväter gegeben. Es tötet alles, was aus Fleisch ist - Tiere von hehrem oder verderbtem Wesen sowie uralte heidnische Geister. Man 80 kann ihn siebenmal verwenden. Fünfmal ist er bereits benutzt worden.« Er schob den Pfeil wieder in die Hülle und faltete die Hände vor sich. »Der Wahnsinn, dessen Zeuge Ehawk geworden ist, ist das Werk des Dornenkönigs. Die Vorzeichen besagen, dass er sich ausbreiten wird, wie Wellen in einem Teich, bis alle Länder der Menschen davon verschlungen worden sind. Deshalb bin ich auf Befehl des allerheiligsten Senaz der Kirche und des Fratrex Prismo höchstselbst dazu angehalten, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Pfeil das Herz des Dornenkönigs findet. Dies, Aspar White, ist der Auftrag und die Pflicht, die ich Euch zu übernehmen bitte.« 5. Kapitel Die Sarnwaldhexe Wir können sie nicht alle erwischen«, stellte Anshar grimmig fest, während er die Sehne seines Bogens zurückzog. Es war nichts da, was man hätte treffen können - die Wölfe waren nichts weiter als Schatten zwischen den Bäumen, und er war überzeugt, dass jeder Pfeil, den er bisher abgeschossen hatte, sein Ziel verfehlt hatte. Der Sarnwald war zu dicht, zu sehr von Ranken und Unterholz durchsetzt, als dass ein Bogen von großem Nutzen gewesen wäre. »Nun ja, nein«, sagte der einäugige Sefry zu seiner Linken ungerührt. »Ich denke, das können wir nicht. Aber wir sind nicht hergekommen, um gegen Wölfe zu kämpfen.« »Vielleicht ist es Euch ja noch nicht aufgefallen, Fend«, erwiderte Bruder Pavel und schob sich die nassen braunen Haarfransen aus der Stirn. »Aber uns bleibt nichts anderes übrig.« Fend seufzte. »Sie greifen uns doch nicht an, oder?« 81 »Sie haben Refan in Stücke gerissen«, gab Bruder Pavel zu bedenken. »Refan ist vom Pfad abgewichen. Wir werden nicht so dumm sein, nicht wahr?« »Glaubt Ihr wirklich, dass wir sicher sind, wenn wir auf dem Weg bleiben?«, fragte Anshar und betrachtete zweifelnd den schmalen Pfad, auf dem sie alle drei standen. Zwischen ihm und der heulenden Wildnis des Waldes schien keine klare Grenze zu bestehen, nur ein schlammiges Gemisch aus Blättern und Erde. »Ich habe nicht gesagt, dass wir sicher sind«, gab Fend mit einer Art finsterem Humor zu. »Nur dass die Wölfe uns nicht kriegen werden.« »Ihr habt Euch auch schon geirrt«, wandte Bruder Pavel ein. »Ich?«, fragte Fend. »Geirrt?« »In Cal Azroth zum Beispiel«, beharrte Bruder Pavel. Fend blieb abrupt stehen und richtete den Blick seines einen Auges auf den Mönch. »Inwiefern habe ich mich geirrt?«, fragte der Sefry leise. »Ihr habt falsch gelegen, was den Waldhüter betrifft«, warf Pavel ihm vor. »Ihr habt gesagt, er wäre nicht gefährlich.« »Ich soll gesagt haben, Aspar White wäre nicht gefährlich? Der einzige Mann, der mich im Zweikampf je wirklich verwundet hat? Der Mann, der mir das Auge genommen hat? Ich glaube nicht, dass ich jemals in irgendjemandes Träumen behauptet habe, Aspar White sei nicht gefährlich. Ich glaube, es war vielleicht Euer Freund Desmond Spendlove, der geschworen hat, er würde den Waldhüter aufhalten, ehe er Cal Azroth erreicht.« »Er hat unsere Pläne zunichte gemacht«, knurrte Pavel. »Nun«, entgegnete Fend, »Eure Wortwahl verwirrt mich: zunichte gemacht. Wir haben doch die beiden Prinzessinnen getötet, oder etwa nicht?« »Ja, aber die Königin -« »Ist entkommen, das gebe ich zu. Aber das lag nicht daran, dass ich mich in Bezug auf irgendetwas geirrt hätte es lag daran, dass man uns besiegt hat.« 82 »Wenn wir geblieben wären -« »Wenn wir geblieben wären, wären wir jetzt beide tot, und unsere Sache hätte zwei Streiter weniger«, sagte Fend. »Glaubt Ihr, Ihr kennt die Wünsche unseres Herrn besser als ich, Bruder?« Pavels Stirn blieb gefurcht, doch schließlich nickte er. »Nein«, gab er nach. »Nein. Und seht Ihr? Während wir streiten, was machen die Wölfe?« »Sie sind immer noch da draußen«, antwortete Anshar. »Aber sie kommen nicht näher.«
»Nein. Weil sie wissen will, weshalb wir hier sind. Solange sie neugierig auf uns ist - solange wir uns an ihre Regeln halten und auf dem Pfad bleiben, passiert uns nichts.« Er schlug Pavel auf den Rücken. »Werdet Ihr jetzt aufhören, Euch Sorgen zu machen?« Bruder Pavel brachte ein nervöses Lächeln zustande. Anshar hatte von der Geschichte in Cal Azroth gehört, war jedoch nicht dabei gewesen. Die meisten Mönche, die in diese Auseinandersetzung verstrickt gewesen waren, waren aus d'Ef gewesen. Er war im Kloster von Anstaizha ausgebildet worden, weit im Norden seines Heimatlandes Hansa. Erst vor wenigen Wochen war er nach Süden geschickt worden; sein Fratrex hatte ihm befohlen, dem seltsamen Sefry und Bruder Pavel zu helfen, wo er nur konnte. Besonders hatte man ihm eingeschärft, dass er dem Sefry stets zu gehorchen habe, auch wenn dieser kein Mann der Kirche war. Also war er Fend hierher gefolgt, zu jenem Ort, an dem sich angeblich all die schaurigen Geschichten seiner Kindheit zugetragen hatten - in den Sarnwald -, auf der Suche nach niemand anderem als der Sarnwaldhexe persönlich. Der Pfad führte sie tiefer in den Wald, in eine Schlucht zwischen zwei Hügeln, die bald zu einer schroffen Klamm wurde, deren Wände zu beiden Seiten lotrecht aufragten. Er war auf dem Land aufgewachsen, Bäume waren ihm vertraut, und am Rande des Sarnwaldes hatte er die meisten benennen können. Jetzt kannte er rast gar keine mehr. Manche waren schuppig und sahen aus, als be83 stünden sie aus kleinen Schlangen, die an größere angefügt worden waren. Andere reckten sich zu unglaublicher Höhe empor, ehe sie spinnenfeines Laubwerk ausbreiteten. Wieder andere waren von weniger sonderbarem Aussehen, jedoch ebenso unbekannt. Schließlich erreichten sie einen Quelltümpel voll klarem Wasser, dessen Ränder dicht mit Moos und blassem, fast weißem Farn bewachsen waren. Die Bäume hier waren schwarz und geschuppt, mit herabhängenden Blättern, die an gezackte Messerklingen erinnerten. Leere Augen starrten aus den menschlichen Schädeln auf ihn herunter, die in den Astgabeln der Bäume ruhten. Anshar merkte, dass er drauf und dran war, zurückzuweichen, und unterdrückte diesen Instinkt mit schierer Willenskraft. Er roch etwas Moschusartiges, Bitteres. »Das ist es«, verkündete Fend leise. »Das ist der Ort.« »Was machen wir jetzt?«, wollte Anshar wissen. Fend zog ein Messer von gefährlichem Aussehen. »Kommt her, beide«, befahl er. »Sie will Blut.« Gehorsam trat Anshar an Fends Seite. Pavel tat es ihm nach, doch Anshar glaubte, ein Zögern bemerkt zu haben. Inzwischen zog Fend die Klinge über seine Handfläche. Blut quoll aus dem Schnitt, und Anshar war halb verblüfft, zu sehen, dass es ebenso rot war wie das eines jeden Menschen. Fend sah die beiden an. »Nun?«, sagte er. »Sie wird mehr wollen als das.« Anshar nickte und zog sein eigenes Messer, und Bruder Pavel tat das Gleiche. Anshar schnitt sich gerade in die Handfläche, als er aus dem Augenwinkel eine eigenartige Bewegung sah. Bruder Pavel stand immer noch dort, das Messer quer über seiner Hand, doch er zuckte seltsam. Fend stand ihm gegenüber und hatte die Hand an Pavels Kopf, wie um ihn aufrecht zu halten. Nein. Fend hatte gerade ein Messer durch Bruder Pavels linkes Auge gerammt. Jetzt zog er es heraus und wischte es an Pavels Kutte ab. Der Mönch stand weiter zuckend da, das verbliebene Auge auf seine halb zerschnittene Handfläche gerichtet. »Sehr viel mehr Blut«, erläuterte Fend. Er versetzte Pavel einen 84 Stoß, und der Mönch kippte vornüber in den Tümpel. Dann blickte der Sefry auf und sah Anshar an. Dieser verspürte ein Frösteln, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Habt Ihr keine Angst, dass Ihr der Nächste seid?«, fragte Fend. »Nein«, antwortete Anshar. »Wenn mein Fratrex mich als Opfer hergeschickt hat, dann werde ich ein Opfer sein.« Fends Lippen verzogen sich zu einem widerwilligen Lächeln. »Ihr Kirchenleute«, sagte er. »Ihr habt so viel Glauben, so viel Treue.« »Ihr dient nicht der Kirche?«, fragte Anshar überrascht. Fend schnaubte lediglich und schüttelte den Kopf. Dann sang er etwas in einer eigentümlichen Sprache, die Anshar noch nie gehört hatte. Etwas regte sich zwischen den Bäumen. Er sah die Bewegung nicht, doch er fühlte und hörte sie. Der Mönch dachte an riesige, schuppige Leibeswindungen, die sich durch den Wald schleppten und sich um den Tümpel zusammenzogen wie ein mächtiger Wurm aus den Legenden. Bald würde das Ungetüm den Kopf zwischen den Baumstämmen hervorstrecken und seinen gewaltigen, zahnbewehrten Schlund öffnen. Was jedoch unter den Bäumen hervortrat, war ganz anders als das, was seine Vorstellung ihn glauben gemacht hatte. Ihre Haut war weißer als Milch oder Mondlicht, und ihr Haar schwebte wie schwarzer Rauch um sie herum. Er versuchte die Augen abzuwenden, denn sie war nackt, und er wusste, dass er sie nicht ansehen sollte, doch er
konnte nicht anders. Sie war so schlank, so erlesen und zart, dass er zuerst dachte, sie wäre ein Kind. Dann jedoch wurde sein Blick von den kleinen Hügeln ihrer Brüste angezogen und von den blassblauen Brustwarzen, die diese krönten. Zu seiner Überraschung sah er, dass sich vier weitere, kleinere Brustwarzen an ihrem Bauch hinabzogen, wie die Zitzen einer Katze, und plötzlich wurde ihm klar, dass sie eine Sefry war. Sie lächelte, und zu seiner Schande verspürte er ein Aufwallen 85 der Lust, das nur von seinem Entsetzen übertroffen wurde. Die Sefry hob ihnen die Hand entgegen, die Handfläche nach oben gerichtet, winkte, und er trat einen Schritt vor. Fend legte ihm die Hand auf die Brust und hielt ihn zurück. »Sie ruft nicht Euch«, sagte er und zeigte auf den Tümpel. Pavel zog plötzlich Arme und Beine unter sich und stemmte sich unbeholfen hoch. Er drehte sich zu ihnen um. »Warum bist du gekommen, Fend?«, krächzte Pavel. »Ich bin gekommen, um mit der Sarnwaldhexe zu sprechen«, antwortete der Angesprochene. »Du hast sie gefunden«, verkündete Pavel. »Wirklich? Ich habe immer gehört, die Hexe sei von schrecklicher Gestalt, eine Riesin, eine durch und durch abstoßende Kreatur.« »Ich habe vielerlei Gestalt«, sagte Pavels Leichnam. »Und außerdem werden viele törichte Geschichten über mich erzählt.« Die Frau neigte den Kopf zur Seite. »Du hast die Dare-Prinzessinnen erschlagen«, sagte sie. »Ich rieche es an dir. Aber es waren drei Töchter. Warum hast du die dritte nicht getötet?« Fend lachte leise. »Ich dachte, mein Opfer hätte erwirkt, dass meine Fragen beantwortet werden?« »Dein Opfer bewirkt lediglich, dass ich dich nicht niederstrecke, ohne mir anzuhören, was du zu sagen hast. Von hier an musst du dir meine Gunst erhalten, wenn du noch mehr willst.« »Ah«, sagte Fend. »Wohlan. Die dritte Tochter - ich glaube, ihr Name war Anne - war nicht in Cal Azroth. Man hatte sie fortgeschickt; wir wussten nichts davon.« »Ja«, sagte der Leichnam. »Ich sehe es. Andere haben sie in Vitellio gefunden, doch es ist ihnen nicht gelungen, sie zu töten.« »Dann ist sie also noch am Leben?«, erkundigte sich Fend. »War das eine von deinen Fragen?« »Ja, aber es hört sich an, als wäre sie jetzt das Problem von jemand anderem.« »Erde und Himmel werden aus den Fugen gehoben, um sie zu finden«, entgegnete Pavel. »Sie muss sterben.« 86 »Ja, das weiß ich«, erwiderte Fend. »Aber wenn sie, wie Ihr sagt, gefunden -« »Und wieder verloren worden ist.« »Könnt Ihr mir sagen, wo sie ist?« »Nein.« »Nun gut«, sagte Fend. »Die anderen haben sie verloren - sie können sie auch wieder finden.« »Du hattest die Königin in deiner Gewalt und hast sie nicht erschlagen«, sagte Pavel. »Ja, ja«, erwiderte Fend. »Es scheint, als ob mich ständig irgendwer daran erinnert. Ein alter Freund von mir ist aufgetaucht und hat das Ganze ziemlich gestört. Doch so, wie ich es verstehe, ist die Königin nicht so wichtig wie Anne.« »Sie ist wichtig - und keine Angst, sie wird sterben. Dein Versagen dort wird dich wenig kosten. Und in einem hast du Recht - die Tochter ist alles, soweit es deinen Meister angeht.« Zum ersten Mal schien Fend überrascht. »Ich würde ihn nicht als Meister bezeichnen - Ihr wisst, wem ich diene?« »Er kam einst zu mir, vor langer Zeit, und jetzt rieche ich ihn an dir.« Die Frau hob das Kinn, genau wie auch Pavel es in einer grotesken Parodie tat. »Hat der Krieg begonnen?«, fragte der Leichnam. »Wie kommt es, dass Ihr so viel über manche Dinge wisst und über andere überhaupt nichts?« »Ich weiß viel vom Großen, aber nur wenig vom Kleinen«, sagte Pavel und schmunzelte über das Wortspiel. Hinter ihm stand die Frau einfach nur da, doch jetzt konnte Anshar ihre Augen sehen; sie hatten eine verblüffend violette Farbe. »Ich kann den Lauf des Flusses sehen, aber keine Wirbel und Strömungen, nicht die Schiffe darauf oder die Blätter, die ihm meerwärts folgen. Deine Worte versorgen mich damit. Du sagst etwas, und ich sehe diese Dinge damit verbunden - und so erfahre ich die kleinen Dinge. Also. Hat der Krieg schon begonnen?« »Noch nicht«, antwortete er. »Aber bald, heißt es. Ein paar Figuren gehen in Stellung. Das ist nicht wirklich mein Hauptanliegen.« 87 »Was ist dein Anliegen, Fend? Was suchst du wirklich hier?« »Man sagt, Ihr seid die Mutter der Ungeheuer, o Sarnwaldhexe. Ist das wahr?« »Die Erde selbst trägt Ungeheuer in ihrem Schoß. Was suchst du?« Fends Lächeln wurde breiter, und Anshar fröstelte unwillkürlich. Als Fend ihr antwortete, fröstelte er noch einmal, heftiger diesmal.
6. Kapitel Die Augen aus Asche Es dauerte nur Augenblicke, bis Rauch aus dem Treppenschacht zu quellen begann und das Knistern der Flammen alle anderen Geräusche übertönte. Der Boden wurde heiß, und Leoff wurde klar, dass er sich genau dort befand, wo, wäre die Malend ein Ofen, das Brot hingehörte. Er ging zum Fenster und überlegte, ob er sich beim Sprung das Bein brechen würde, riss jedoch den Kopf zurück, als er zwei Gestalten erblickte, die zusahen, wie die Malend brannte; im Feuerschein, der aus der Tür drang, sahen ihre Gesichter rötlich aus. Der kurze Blick, den er auf sie erhaschte, war nicht gerade beruhigend. Einer der beiden war fast ein Riese, und Leoff sah das Glänzen von Stahl in den Händen beider Männer. Sie hatten die Malend nicht durchsucht - das überließen sie dem Feuer. »Armer Gilmer«, murmelte er. Wahrscheinlich hatten sie den kleinen Mann im Schlaf ermordet. Was unter Umständen ein gnädigeres Schicksal war als das, was Leoff bevorstand. Schon wurde das Atmen schwer. Die Flammen kletterten zu ihm empor, doch der Rauch würde ihn gewiss zuerst finden. 88 Er konnte nicht hinunter, er konnte nicht zum Fenster hinaus. Also blieb nur der Weg nach oben, wenn er noch ein paar Augenblicke länger leben wollte. Er fand die Leiter und kletterte zum nächsten Stockwerk hinauf. Dort war es auch schon verraucht, doch nicht annähernd so stark wie auf dem Stockwerk, das er gerade verlassen hatte. Und es war dunkel, sehr dunkel. Wieder hörte er die Zahnräder arbeiten, und ganz in der Nähe quietschte etwas. Jetzt musste er sich im Laufwerk der Malend befinden. Er fand die letzte Leiter und stieg mit zitternder Behutsamkeit hinauf. In seinem Kopf war ein Bild, wie seine Hand - oder schlimmer noch, sein Kopf - von einem unsichtbaren Zahnrad erfasst wurde. Im letzten Stockwerk war es kaum rauchig. Schwach konnte er ein Fenster ausmachen und tappte hoffnungsvoll hinüber. Doch sie standen immer noch dort unten, und jetzt ging es geradezu lächerlich tief hinunter. Leoff versuchte sich zur Ruhe zu zwingen und tastete in der Finsternis umher. Fast hätte er aufgeschrien, als er etwas berührte. Er fing sich gerade noch, als er begriff, dass es ein senkrechter Balken war, der sich drehte wahrscheinlich der Mittelschaft, der die Pumpe antrieb. Nur dass der Schaft, den er im Erdgeschoss gesehen hatte, sich nicht drehte, sondern sich hob und senkte. Irgendwie musste die Bewegung im Stockwerk unter ihm übertragen werden. Das kam ihm immer noch nicht richtig vor. Die Achse des - wie hatte Gilmer es genannt? Die großen, gemaserten Speichen? Saglwic. Dessen Achse musste waagrecht sein, also musste jene Bewegung irgendwo weiter oben auf diesen Balken hier übertragen werden. Was bedeutete, dass über ihm noch irgendetwas sein musste. Vorsichtig tastete er über sich herum und fand oben auf dem Balken ein hölzernes Rad mit großen Zähnen. Es drehte sich. Ein bisschen mehr Umhertasten, und er fand das zweite Rad, das im rechten Winkel über dem ersten angebracht war, sodass die Zähne 89 am unteren Rand des zweiten Rades in die des ersten griffen, um es zu drehen. Leoff dachte bei sich, dass der Schaft, der das zweite Rad drehte, mit dem Windrad selbst in Verbindung stehen musste. Er fand diesen Schaft und folgte ihm, wobei er selbst nicht genau wusste, wonach er suchte. Der Rauch hatte ihn erneut aufgespürt, ebenso die Hitze. Die geglättete Achse führte durch ein eingefettetes Loch in der Mauer, das nur um ein Winziges größer war, als sie dick war. Langsam wurde ihm klar, wonach er suchte. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, das Saglwic zu reparieren ... ja!« Unter der Achse fand er einen Riegel, und als er ihn hob, konnte er eine kleine viereckige Luke öffnen. Er schob sie einen Spaltbreit auf und spähte hinaus. Ein bleicher Mond hockte auf dem Horizont, und in seinem Licht sah er, wie die Speichen des Malend-Rades sich im Wind drehten, und dahinter das Wasser des Kanals, das wie Silber glänzte. Unter sich sah er niemanden, doch dort gab es genug Schatten, um alles Mögliche zu verbergen. Ein Beben durchlief das Gebäude, dann ein zweites. Unten brachen Balken weg. Der Turm jedoch sollte eigentlich standhalten, da er aus Stein gemauert war. Ein Schwall heißer Luft und eine Flammenfaust folgten diesem Gedanken auf dem Fuße und brachen aus der Bodenluke für die Leiter hervor. Ihr Heiligen, ich will das nicht tun!, dachte er. Aber entweder das oder verbrennen. Er hielt den Atem an und folgte der rhythmischen Bewegung der Speichen, bis er sie mit allem fühlte, was er hatte. Das Lied der Malend kam zurück, erfüllte ihn, und jetzt atmete er im Takt dazu. Beim ersten Taktschlag sprang er. Seine Beine zuckten beim Abspringen, und beinahe hätte er es nicht geschafft, doch eine Hand bekam das hölzerne Gitterwerk des Windflügels zu fassen. Ohne Vorwarnung fühlte er sich plötzlich auf den Kopf gestellt, doch es gelang ihm, die andere Hand in den Stoff zu krallen. Sein Magen re9o
bellierte vor Angst und Orientierungslosigkeit, als die Landschaft unvorstellbar weit unter ihm zurückblieb. Dann stürzte sie ihm wieder entgegen, und er begann an dem Flügel hinunterzuklettern. Als dessen Ende sich dem Boden entgegensenkte, kletterte er schneller; er fürchtete, noch eine Umdrehung mitmachen zu müssen, doch es war immer noch zu weit entfernt. Als der Flügel sich wieder emporschwang, klammerte er sich fest, und seltsamerweise verwandelte sich seine Furcht in eine Art wilde Freude. Sein Kopf zeigte jetzt zur Achse des Rades, und irgendetwas schien an seinen Füßen zu ziehen, selbst als diese himmelwärts zeigten, als wollten die Heiligen nicht, dass er fiele. Er folgte dem Zug, kletterte weiter, sogar als er kopfüber hing, und als der Flügel sich das nächste Mal zum Erdboden senkte, war er tief genug herabgeklettert, um abzuspringen. Er landete hart, jedoch nicht mit knochenbrechender Wucht, und lag einen Augenblick lang im Gras. Aber nicht lange. Tief geduckt schlich er sich von der brennenden Malend weg und hielt auf den Kanal zu. Fast hatte er ihn erreicht, als eine kräftige Hand seinen Arm packte. »Psst!«, zischte eine leise Stimme. »Ich bin's bloß, Gilmer.« Leoff schloss die Augen und nickte. Er hoffte, sein Herz würde nicht durch seinen Brustkorb ins Freie hervorbrechen. »Folgt mir«, sagte Gilmer. »Wir müssen weg von hier. Die Männer, die das getan haben -« »Ich habe sie gesehen, auf der anderen Seite der Malend.« »Auy. Dumm sind die.« »Nun, auf dieser Seite sind keine Fenster, die man beobachten müsste.« Sie erreichten den Kanal. Leoff sah, dass dort ein kleines Ruderboot festgemacht war. »Rasch«, befahl Gilmer, während er das Tau löste. »Steigt ein.« Nur wenige Augenblicke später waren sie in der Mitte des Kanals, und Leoff legte sich mit aller Kraft in die Riemen. Gilmer hatte das Steuer übernommen. »Ich hatte gefürchtet, Ihr wärt tot«, sagte Leoff. 9i »Nay. Ich bin hinausgegangen, um ihr beim Drehen zuzusehen. Hab sie reinkommen hören und verstanden, worüber sie geredet haben. Ich dachte, ich würde sie wohl nicht daran hindern können.« Er schaute zu der Malend zurück. Flammen schlugen aus der Spitze, und die Windflügel brannten wie Fackeln. Sie drehten sich noch immer. »'s tut mir Leid, Liebling«, sagte Gilmer leise. »Verfaulen sollen sie dafür, dass sie dir das angetan haben. Verfaulen!« Dann wandte er sich ab. »Was jetzt?«, fragte Leoff. »Jetzt fahren wir nach Broogh und sehen nach, was dort vorgeht.« »Aber Artwair ist nicht zurückgekommen.« »Dann braucht er vielleicht unsere Hilfe.« Leoff war der Meinung, dass jegliche Schwierigkeiten, mit denen Artwair nicht allein fertig werden konnte, höchstwahrscheinlich viel zu groß für einen Windschmied und einen Komponisten wären. Er setzte dazu an, genau das zu sagen, dann jedoch kam ihm ein anderer Gedanke. Gilmer musste es seinem Gesicht angesehen haben. »Was ist?«, fragte der Alte. »Meine Instrumente! Meine Sachen!« Der alte Mann nickte betrübt. »Auy. Wir haben heute beide verloren. Jetzt denkt daran, was die Menschen dort unten in den Dörfern verlieren werden, wenn diese Schufte den Deich durchbrechen.« »Ich frage mich bloß, was wir tun können. Ich kann nicht kämpfen. Ich verstehe nichts von Waffen.« »Nun, ich auch nicht«, erwiderte Gilmer, »aber das heißt nicht, dass ich's einfach geschehen lassen werde.« Als trauere er um die Malend, erstarb der Wind, und Stille senkte sich über den Kanal, nur unterbrochen vom Plätschern der Ruder im Wasser. Leoff suchte ängstlich die Ufer ab; er fürchtete, dass die Männer ihnen vielleicht am Rand des Kanals entlang folgen wür92 den, doch nichts rührte sich zwischen den stattlichen Silhouetten der Ulmen, die die Wasserstraße säumten. Bald gesellten sich größere Schatten zu den Bäumen - zuerst Hütten, dann hohe Häuser. Der Kanal wurde schmaler. »Da vorn ist das Tor«, flüsterte Gilmer. »Haltet Euch bereit.« »Wofür?«, fragte Leoff. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete der Alte. Das schmiedeeiserne Wassertor war von einfacher Bauart, und es stand offen. Fast lautlos glitten sie hindurch und hinein in die Stadt Broogh. Die seltsame Stille der Nacht war hier dichter, als sie es weiter unten auf dem Kanal gewesen war, als wäre Broogh das Herz der Stille selbst. Und auch nicht der schwächste Kerzenschein erleuchtete die Fenster. Sie waren von einem Film aus Mondlicht überzogen, wie die Augen der Blinden. Leise steuerte Gilmer das kleine Boot zu einem Steg hinüber. »'r zuerst«, wies er Leoff an. »Gebt Acht, dass 'r mich nicht ins Schaukeln bringt.«
Vorsichtig stieg Leoff aus dem Boot auf den gemauerten Kai, und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als sein Fuß festen Boden berührte. »Haltet das Boot fest«, sagte Gilmer. »Macht Euch nützlich, auy?« »Entschuldigung«, flüsterte Leoff. Sogar seine leise Antwort schien in der schweigenden Stadt widerzuhallen. Er hielt den Rand des Bootes fest, während der Windschmied es vertäute, und spürte seinen Puls im Hals. In Mondlicht gehüllt war Broogh wunderschön. Die hohen, schmalen Gebäude waren mit Silber überzogen, und die Pflastersteine der Straßen wirkten flüssig, während das Wasser des Kanals zu einer Glimmerfläche geworden war. Die Brücke, die der Stadt ihren Namen gegeben haben musste, wölbte sich stark und anmutig ein paar Schritte entfernt, an jedem Pfeiler schlummerte ein Heiliger im Stein. Dahinter, ein Stück den Kanal hinunter, ragte am anderen Ufer der Glockenturm der Kirche auf. 93 Gleich neben ihm, in der Straße, die sich am Kanal entlangzog, war ein hölzernes Schild im schwachen Licht gerade noch zu erkennen. Es verkündete, dass die Tür unter ihm der Eingang zum Paiter's Fatem war. Unter den Worten zeigte ein kleines Flachrelief einen beleibten Sacritor, der sich einen Becher aus einem Weinfass füllte. Als Gilmer mit dem Boot fertig war, zeigte er auf das Wirtshaus. »Da«, sagte er. »Das ist die beliebteste Schenke der Stadt, und um diese Zeit sollte dort eigentlich eine Menge los sein.« Wie jedes andere Gebäude in Broogh lag das Gasthaus still und dunkel da. »Wir schauen uns mal drinnen um«, brummte Gilmer. »Wenn alle sich versteckt haben, dann könnt 'r drauf wetten, dass sich die halbe Stadt da drinnen verkrochen hat. Vielleicht im Keller.« »Wovor denn verstecken? Vor ein paar Schurken wie denen, die Eure Malend niedergebrannt haben?« »Nein«, sagte Gilmer. »Broogh hat einen Ruf.« »Wie meint Ihr das?« »Übeltäter haben diese Stadt schon früher heimgesucht. Ihre Lage ist unübertrefflich - wenn man hier den Deich durchsticht, kommt das Wasser sechzig Meilen weit nicht zum Stehen, 's ist schon einmal versucht worden. Vor dreißig Jahren ist ein abtrünniger hansischer Ritter - Sir Remismund fram Wulthaurp - mit zwanzig Berittenen und hundert Mann Fußvolk hier eingefallen. Er hat sich in eben diesem Wirtshaus eingenistet und Briefe nach Eslen geschickt, in denen er damit gedroht hat, den Deich zu öffnen, wenn man ihm kein Lösegeld geben würde.« »Aber er hat es nicht getan?« »Nay. Ein Mädchen, die Tochter des Bootsbauers, die Schönste der Stadt, sollte am nächsten Tag heiraten. Sie hat ihr Hochzeitskleid angezogen und ist zu Wulthaurp gegangen, dort oben, im obersten Gemach. Sie hat ihn geküsst, und während sie sich geküsst haben, hat sie ihm die Schleppe ihres Kleides um den Hals gewickelt und sich dann aus dem Fenster gestürzt. Die beiden haben eine mächtig blutige Schweinerei gemacht, beinahe genau da, 94 wo Ihr jetzt steht. Auf dieses Zeichen hin haben sich die übrigen Bewohner der Stadt auf seine Männer gestürzt. Das Heer musste sich den Weg zum Tor hinaus freikämpfen, und fast hundert Broogher sind tot in den Straßen zurückgeblieben.« Er schüttelte den Kopf. »Und das war auch nicht 's erste Mal, dass so etwas passiert ist. Nein, jeder Bursche und jedes Mädchen, das in Broogh aufwächst, versteht den Deich und die Brücke als heiliges Gut. Sie brennen alle darauf, der Held der nächsten Geschichte zu werden.« »Und trotzdem glaubt Ihr, irgendetwas hat ihnen solche Angst eingejagt, dass sie sich versteckt haben?« Gilmer schüttelte den Kopf. »Nay«, sagte er traurig. »Ich fürchte, sie verstecken sich ganz und gar nicht.« Die Tür gab beim Öffnen lediglich ein leises, protestierendes Quietschen von sich, doch nichts regte sich auf ihr Eintreten hin. Vor sich hin brummelnd zog Gilmer seine Zunderbüchse hervor und zündete eine Kerze an. »Grundgütige Heilige!«, keuchte Leoff, als das Licht um sie herumfiel. Es waren in der Tat viele Menschen im Paiter's Fatem - oder das, was früher einmal Menschen gewesen waren. Sie lagen oder hockten vornübergesunken in Gruppen da, ohne sich zu rühren. Leoff hegte keinerlei Zweifel daran, dass sie tot waren. Sogar im warmen Licht der Flamme war ihre Haut weißer als alte Gebeine. »Ihre Augen!«, stieß Gilmer mit vor Kummer belegter Stimme hervor. Da bemerkte Leoff es, und er krümmte sich würgend bis zum Boden hinab. Die Erde selbst schien unter ihm zu taumeln und der Himmel sich auf ihn herabzusenken. Keiner der Toten in der Schenke hatte Augen, nur Aschehöhlen. Gilmer legte Leoff fest die Hand auf die Schulter. »Ruhig«, sagte er. »Wir wollen doch nicht, dass die, die das getan haben, uns hören, oder?« Die Stimme des alten Mannes bebte. »Ich kann nicht ...« Eine weitere Woge der Übelkeit überkam Leoff, und er presste die Stirn auf den Holzboden. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder hochschauen konnte. 95 Als er es tat, sah er, dass Gilmer die Leichen betrachtete. »Wieso haben sie ihnen die Augen ausgebrannt?«, stieß Leoff mühsam hervor. »Die Heiligen mögen's wissen. Aber sie haben's nicht mit Kienspänen oder glühenden Eisen getan. Die Augen sind noch da, sie sind nur zu Kohle verbrannt.« »Hexerei«, flüsterte Leoff.
»Auy. Finsterste Hexerei.« »Aber warum?« Mit grimmiger Miene richtete Gilmer sich auf. »Damit sie den Deich einreißen können und sich weder mit Gegenwehr noch mit Zeugen abgeben müssen.« Er hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Aber noch haben sie ihn nicht durchstochen, nicht wahr? Noch ist Zeit.« »Zeit wofür?«, fragte Leoff ungläubig. Gilmers Gesicht wurde ausdruckslos. »Diese Leute waren meine Freunde«, sagte er. »Bleibt hier, wenn 'r wollt.« Er durchsuchte die Leichen und fand schließlich ein Messer. »Wer immer das hier getan hat, rechnet jetzt nicht damit, dass noch jemand am Leben ist. Sie wissen nichts von uns.« »Und wenn sie von uns wissen, enden wir genauso wie die da«, entgegnete Leoff verzweifelt. »Auy, könnt gut sein«, erwiderte Gilmer und strebte auf die Tür zu. Leoff schaute abermals die Toten an und seufzte. »Ich komme mit«, sagte er. Als sie wieder auf der Straße waren, blickte er erneut auf die Pflastersteine hinunter. »Wie hieß sie?«, fragte er. »Hm?« »Die Braut.« »Ah. Litha. Litha Rungsdautar.« »Und ihr Verlobter? Was ist aus dem geworden?« Gilmers Mund zuckte. »Er hat nie geheiratet. Er ist Windschmied geworden, wie sein Vater. Still jetzt - die Flutschleuse ist nicht mehr weit.« 96 Auf der Straße kamen sie an weiteren Toten vorbei, alle mit dem gleichen leeren Blick. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere -Hunde, Pferde, sogar Ratten. Manchen stand Entsetzen ins Gesicht geschrieben, während andere lediglich verwirrt aussahen. Einige - irgendwie war das am schlimmsten - schienen in einem Zustand der Verzückung gestorben zu sein. Leoff bemerkte noch etwas anderes: einen Geruch, ein schwaches Aroma der Verwesung. Doch es war nicht der Geruch des Grabes oder des Metzgerladens. Keine Spur von Maden oder Fäulnisgasen. Der Geruch erinnerte ihn an Trockenfäule - unauffällig, nicht eigentlich unangenehm, mit einem leichten Duft nach verbranntem Zucker. Als er weiterging, wurde er außerdem eines Geräusches gewahr - ein rhythmisches Hämmern, nicht ein einzelner Hammer, sondern viele, die alle die Bassbegleitung zu derselben Totenklage schlugen. »Das sind sie, sie arbeiten an der Mauer!«, sagte Gilmer. »Beeilt Euch!« Er führte ihn zur Stadtmauer und zu den Steinstufen, die hinaufführten. Sie stiegen über einen toten Wächter hinweg, um die Mauerkrone zu erreichen. Von dort aus blickten sie hinunter. Neuland wurde bis zum Horizont vom Mond beschienen, direkt unter ihnen jedoch warf die Mauer ihren Schatten auf den Deich, auf dem sie stand. Fackeln brannten dort, die Flammen senkrecht in der windstillen Finsternis. Fünf Männer, nackt bis zur Taille, arbeiteten an einem gemauerten Abschnitt des Damms, schlugen mit ihren Spitzhacken darauf ein. Weitere fünf oder sechs schauten zu - es war schwer, zu sagen, wie viele es genau waren. »Warum ist dieser Teil aus Stein?« »Das ist eine Abdeckung. Der größte Teil des Deichs besteht aus gestampfter Erde. Sich da hindurchzugraben würde zu lange dauern, wenn der König Neuland fluten müsste, wie es hin und wieder schon vorgekommen ist. Aber auf königlichen Befehl ist das noch nie geschehen, ohne die Bewohner der Tief lande zu warnen.« »Aber werden sie nicht ertrinken, wenn sie durchbrechen?« 97 »Nay. Sie schlagen eine kleine Öffnung in die Mauer, seht 'r? Das Wasser wird in einem Strahl hervorschießen und das Loch immer mehr vergrößern, aber das wird ihnen Zeit geben, sich davonzumachen.« »Was glaubt Ihr, wer das ist?« »Die Heiligen mögen's wissen.« »Nun denn, was können wir tun?« »Ich überlege gerade.« Leoff strengte seine Augen an, um mehr von dieser Szene zu verstehen. Dort unten gab es ein Muster. Was war es? Er ließ seinen Verstand zur Ruhe kommen. Da waren die Landschaft und der Deich. Sie waren wie das Notenpapier, auf dem Musik niedergeschrieben wurde. Dann waren da die grabenden Männer, wie die Melodie, und diejenigen, die schweigend Wache standen, wie die dumpf dröhnenden Basstöne eines Volkstanzes. Und das war alles ... »Nein«, flüsterte er. »Was?« Leoff zeigte mit dem Finger. »Schaut, da unten liegen auch Tote.« »Kein Wunder. Jeder, der am Leben ist, würde versuchen, sie aufzuhalten.« Der Windschmied kniff die Augen zusammen. »Genau, seht 'r? Sie sind um das Tor herumgekommen und haben sie von hinten angegriffen.« »Aber seht Ihr, wie sie daliegen, in einer Art Bogen? Als hätte irgendetwas sie einfach niedergestreckt, als sie zu
nahe herangekommen sind.« Gilmer schüttelte den Kopf. »Habt 'r denn noch nie einen Kampf gesehen? Wenn sie dort ihre Schlachtenlinie gebildet haben, dann sind sie eben dort gefallen.« »Aber ich sehe keinerlei Spuren eines Kampfes. Wir haben nirgends in der Stadt Anzeichen eines Kampfes gesehen, aber trotzdem sind alle tot.« »Auy. Das ist mir auch aufgefallen«, erwiderte Gilmer trocken. »Sie bilden also einen Bogen. Schaut in die Mitte von dem Bogen.« 98 »Wie meint 'r das?« »Eine Laterne wirft Licht in einem Kreis, ja? Tut so, als wäre dort, wo die Leichen liegen, der Rand des Lichtkreises. Und jetzt sucht die Laterne.« Mit einem skeptischen Knurren tat Gilmer es. Einen Moment später flüsterte er: »Da ist wirklich etwas. Eine Art Kasten oder Kiste, mit einem Mantel darüber.« »Ich wäre bereit, darauf zu wetten, dass es genau das ist, was die Leute von Broogh niedergestreckt hat. Wenn wir da hinuntergehen - wenn sie uns sehen -, dann werden sie es auf uns richten.« »Was werden sie auf uns richten?« »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber es ist zugedeckt, und dafür muss es einen Grund geben. Irgendetwas sagt mir, dass wir überhaupt nichts tun können, solange sie das da haben.« Gilmer blieb eine Weile stumm, »'r mögt vielleicht Recht haben«, meinte er dann. »Aber wenn 'r Euch irrt...« »Ich glaube nicht, dass ich mich irre.« Gilmer nickte ernst und spähte wieder hinunter, »'s ist nicht weit von der Mauer entfernt, nicht wahr?« »Nicht allzu sehr. Was habt Ihr vor?« »Folgt mir.« Der kleine Mann durchsuchte die Wächter behutsam nach Waffen, fand ihre Schwertscheiden jedoch leer - kein Wunder, wenn man bedachte, wie viel ein gutes Schwert kostete. Dann führte er Leoff die Mauerkrone entlang zu einem kleinen Vorratshäuschen. Auf dem Weg dorthin mussten sie über sechs Leichen hinwegsteigen. Gilmer öffnete die Tür, trat in den Schatten und kam ächzend wieder heraus. Er hielt einen Stein in den Händen, so groß wie Leoffs Kopf. »Helft mir mal damit.« Die beiden schleppten den Stein zur Brüstung. »Glaubt 'r, wir können das Ding weit genug werfen?«, fragte Gilmer. »Der Mauerfuß ist abschüssig«, sagte Leoff. »Selbst wenn wir danebentreffen, wird der Stein rollen.« 99 »Vielleicht zerstört er dann aber die Hexenkiste nicht. Wir müssen zusammen werfen.« Leoff nickte und legte beide Hände um den Stein. Als sie ihn ausgerichtet hatten, sagte Gilmer sehr leise: »Auf drei. Eins, zwei -« »He! He, ihr da oben!« Ein Schrei ertönte, ein Stück weiter die Mauer hinunter, gar nicht weit weg von ihnen. »Los!«, brüllte Gilmer. Sie wuchteten den Stein in die Luft. Leoff wollte zusehen, aber jemand kam den Wehrgang entlang auf sie zugerannt, und er glaubte nicht, dass derjenige auf eine freundliche Plauderei aus war. 7. Kapitel Entdeckt Der Fluss Za löste Annes Tränen auf und trug sie sanft zum Meer davon. Kanarienvögel sangen in den Oliven- und Orangenbäumen, die sich durch die alten, gesprungenen Pflastersteine der Terrasse drängten, und der Wind roch süß nach frisch gebackenem Brot und herbstlichen Honigblumen. Libellen schwirrten träge in dem goldenen Sonnenlicht umher, und irgendwo in der Nähe spielte ein Mann auf einer Laute und sang leise von Liebe. In z'Espino nahte der Winter sachte, und dieser erste Tag des Novamenza war ganz besonders gütig. Doch Annes Spiegelbild im Fluss sah so kalt aus wie die langen, trostlosen Nächte des nördlichsten Nahzgave. Sogar die rote Flamme ihres Haares schien ein dunkler Schatten zu sein, und ihr Gesicht wirkte so bleich wie der Geist eines ertrunkenen Mädchens. 100 Der Fluss sah ihr Herz und gab ihr zurück, was darin war. »Anne«, sagte jemand hinter ihr leise. »Anne, du solltest nicht hier im Freien sein.« Anne blickte nicht auf. Sie konnte auch Austra im Fluss sehen; ihre Freundin sah genauso geisterhaft aus wie sie selbst. »Das ist mir gleich«, erwiderte Anne. »Ich kann nicht in dieses grauenvolle kleine Zimmer zurück, nicht jetzt, nicht so.« »Aber dort ist es sicherer, besonders jetzt ...« Austras Stimme versagte, als sie zu weinen begann. Sie setzte sich neben Anne, und sie umschlangen einander. »Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte Austra nach einer Weile. »Es kommt mir unmöglich vor. Vielleicht ist es ein unwahres Gerücht. Schließlich sind wir sehr weit weg von zu Hause.« »Ich wollte, ich könnte das glauben«, erwiderte Anne. »Aber die Neuigkeiten sind von den Cuveituren der
Kirche gebracht worden. Und ich weiß, dass es wahr ist. Ich kann es fühlen.« Sie wischte sich mit der Hand die Augen. »Es ist in derselben Nacht passiert, als sie versucht haben, uns zu töten. Die Nacht mit diesem purpurnen Mond, als die Ritter den Konvent niedergebrannt haben. Ich hätte mit ihnen sterben sollen.« »Deine Mutter lebt noch, und dein Bruder Charles auch.« »Aber mein Vater ist tot. Und Fastia, Elseny, Onkel Robert, alle tot, und Lesbeth ist verschwunden. Es ist zu viel, Austra. Und all die Schwestern aus dem Konvent der heiligen Cer, getötet, weil sie sich zwischen mich und ...« Sie schauderte und brach erneut in Schluchzen aus. »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Austra nach einer Weile. Anne schloss die Augen und versuchte die Phantome zu ordnen, die hinter ihren Lidern herumwirbelten. »Wir müssen natürlich nach Hause«, erwiderte sie schließlich. Es klang, als spräche eine Fremde. »Alles, was sie gesagt hat...« Sie hielt inne. »Wer?«, fragte Austra. »Was wer gesagt hat? Was bedeutet das, Anne?« »Nichts. Ein Traum, den ich hatte, das ist alles.« 101 »Ein Traum?« »Das ist etwas, worüber ich nicht reden will.« Sie versuchte ihr Baumwollkleid glatt zu streichen. »Ich will eine Weile über gar nichts reden.« »Lass uns wenigstens irgendwohin gehen, wo wir mehr unter uns sind. Eine Kapelle vielleicht. Es ist schon fast Zeit für den dritten Glockenschlag.« Die Stadt erwachte um sie herum bereits aus ihrer täglichen Mittagsruhe. Das Treiben am Flussufer nahm zu, als die Leute von einem Schläfchen oder einem geruhsamen Mittagessen zu ihren Geschäften zurückkehrten, und die Illusion des Alleinseins wurde ausgelöscht. Die Pontro dachi Pelmotori wölbte sich ein paar Dutzend Perechi zu ihrer Rechten über den Za. Vor ein paar Augenblicken noch still, wimmelte es dort jetzt schon von Geschäftigkeit. Wie mehrere der Brücken von z'Espino war sie eher ein Gebäude mit Läden, die zu zwei oder drei Stockwerken übereinander ihre Seiten säumten, sodass sie die Menschen, die auf ihr dahingingen, nicht sehen konnten. Alles, was zu sehen war, war die mit rotem Stuck verzierte Fassade mit den dunklen Fenstermäulern. Die Brücke gehörte der Gilde der Metzger, und Anne konnte ihre Sägen arbeiten, konnte die Metzgerburschen mit den Kunden feilschen hören. Ein Eimer voll von irgendetwas Blutigem flog aus einem der Fenster und klatschte in den Fluss, wobei der Unrat nur knapp einen Mann in einem Boot verfehlte. Er begann zur Brücke hinaufzubrüllen und schüttelte die Faust. Als ein zweiter Eimer voll des gleichen Zeugs noch dichter neben ihm landete, schien er sich eines Besseren zu besinnen und machte sich wieder ans Rudern. Anne wollte Austra gerade beipflichten, als ein Schatten über sie fiel. Sie schaute auf und erblickte einen Mann, mit dunkler Haut - wie die meisten Vitellianer - und ziemlich hoch gewachsen. Sein grünes Wams war ausgeblichen und ein wenig abgenutzt. Er trug ein rotes und ein schwarzes Beinkleid. Seine Hand ruhte auf dem Knauf seines Degens. 102 »Dena dicolla, Casnaras«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. »Was macht so liebreizende Gesichter so lang und kummervoll?« »Ich kenne Euch nicht, Casnar«, erwiderte Anne. »Aber ich wünsche Euch einen guten Tag, mögen die Heiligen Euch segnen.« Sie blickte weg, doch er verstand den Wink nicht. Stattdessen stand er lächelnd da. Anne seufzte. »Komm«, sagte sie und zupfte an Austras Kleid. Die beiden erhoben sich. »Ich will Euch nichts zuleide tun, Casnaras«, versicherte der Mann hastig. »Es ist nur so, dass man im Süden nicht oft Haare aus Kupfer und Gold sieht und so reizende Nordlandakzente hört. Wenn sich dem Auge solche Schätze darbieten, ziemt es sich für einen Mann, jegliche Dienste anzubieten, die er leisten kann.« Ein kleines Frösteln kroch Annes Rückgrat hinauf. In ihrer Trauer hatte sie vergessen, ihren Kopf zu bedecken, und Austra auch. »Das ist sehr freundlich von Euch«, erwiderte sie rasch. »Aber meine Schwester und ich wollten gerade nach Hause gehen.« »Dann lasst mich Euch begleiten.« Anne ließ ihren Blick umherschweifen. Obgleich die Straßen über ihnen nun zu geschäftigem Leben erwachten, war dieser Teil der Terrasse so etwas wie ein Park, und hier war es noch recht ruhig. Um die Straße zu erreichen, mussten sie und Austra ungefähr zehn Ellen weit gehen und dann ein Dutzend Steinstufen hinaufsteigen. Der Mann stand zwischen ihnen und der nächsten Treppe. Und schlimmer noch, ein anderer Mann saß auf der Treppe und war mehr als nur beiläufig an ihrer Unterhaltung interessiert. Wahrscheinlich waren noch andere da, die sie bloß nicht sehen konnte. Sie richtete sich auf. »Werdet Ihr uns vorbeilassen, Casnar?« Er sah verblüfft aus. »Warum sollte ich Euch nicht vorbeilassen? Ich habe Euch doch gesagt, ich will Euch nichts zuleide tun.« »Nun gut.« Sie setzte sich in Bewegung; der Mann wich langsam zurück. 103
»Irgendwie haben wir auf dem falschen Fuß angefangen«, sagte er. »Mein Name ist Erieso dachi Sallatotti. Wollt Ihr mir nicht den Euren verraten?« Anne antwortete nicht, sondern ging weiter. »Oder vielleicht sollte ich raten?«, fuhr Erieso fort. »Vielleicht verrät mir ja eines der Vögelchen Eure Namen.« Anne war sich jetzt sicher, dass sie auch hinter ihnen jemanden hörte. Anstatt in Panik zu geraten, fühlte sie, wie rascher Zorn sich ihres Kummers als Flügel bediente, um sich hoch emporzuschwingen. Wer war dieser Mann, dass er sie an diesem Tag belästigte, ihre Trauer störte? »Ihr seid ein Lügner, Erieso dachi Sallatotti«, sagte sie. »Ihr wollt mir ganz gewiss etwas zuleide tun.« Der Schalk verschwand aus Eriesos Miene. »Ich habe nur vor, meine Belohnung einzustreichen«, erwiderte er. »Ich kann nicht verstehen, was jemand mit so einer blassen und unliebenswürdigen catella vorhat, aber es gibt Silber zu holen. Also kommt, werdet Ihr laufen, oder muß man Euch mitschleifen?« »Ich schreie«, warnte Anne. »Hier sind überall Leute.« »Das mag mich meine Belohnung kosten«, sagte Erieso, »aber es wird Euch nicht retten. Viele aus der Straßenwache suchen nach Euch, und die könnten Euch durchaus schänden, ehe sie ihr Silber einfordern. Das werde ich nicht tun, ich schwöre es beim Lord Mamres.« Er streckte ihr die Hand hin. »Kommt. Nehmt sie. So ist es am einfachsten für Euch und für mich.« »Wirklich?« Anne fühlte, wie ihr Zorn finsterer wurde. Doch sie griff nach seiner Hand. Als sich ihre Finger berührten, spürte sie seinen Puls, das nasse Fließen seines Inneren. »Cer verfluche Euch«, sagte sie. »Die Würmer kommen über Euch.« Eriesos Augen wurden riesengroß. »Ah!«, krächzte er. »Ah, nein!« Er krallte beide Hände in seine Brust und sank auf ein Knie, als wolle er sich verneigen. Dann übergab er sich. »Seid froh, dass Ihr mir nicht im Lichte des Mondes begegnet seid, Erieso«, sagte sie. »Und schätzt Euch noch glücklicher, dass 104 Ihr mich nicht in seiner Finsternis angetroffen habt.« Damit schritt sie an ihm vorbei. Der Mann auf der Treppe starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er sagte nichts und verstellte ihnen nicht den Weg, als sie zur Straße hinaufstiegen. »Was hast du gemacht?«, fragte Austra atemlos, als sie in die Menge auf dem Vio Caistur eintauchten. »Ich weiß es nicht«, antwortete Anne. Als sie die Straße erreichten, waren fast aller Zorn und aller Mut aus ihr herausgebrannt und ließen nur Furcht und Verwirrung zurück. »Es war wie in jener Nacht beim Konvent, als die Männer gekommen sind«, sagte sie. »Als du den Ritter geblendet hast.« »Irgend etwas in mir ... es macht mir Angst, Austra. Wie kann ich solche Dinge tun?« »Es macht mir auch Angst«, stimmte Austra ihr zu. »Glaubst du, du hast ihn getötet?« »Nein, ich denke, er wird sich erholen. Wir müssen uns beeilen.« Sie bogen vom Vio Caistur in eine schmale Straße ein, eilten an Strumpfläden und einer Schenke vorbei, die nach gegrillten Sardinen roch, durch die Piata da Fufiono mit dem Alabasterspringbrunnen mit dem ziegenbeinigen Heiligen und immer weiter, bis die Straßen schmaler und verschlungener wurden und sie endlich den Perto Veto erreichten. Die Frauen waren bereits draußen auf ihren Baikonen, und mehrere Gruppen von Männern saßen auf den Stufen und tranken, genau wie am Tag zuvor. »Ich glaube, sie folgen uns immer noch«, sagte Austra und schaute sich um. Anne blickte ebenfalls zurück und sah eine Männerschar - fünf oder sechs - um die Ecke biegen. »Lauf«, sagte Anne. »Es ist nicht weit.« »Ich hoffe, Cazio ist da«, stieß Austra hervor. »Pfeif auf Cazio«, murmelte Anne. Die Mädchen rannten los. Sie waren erst ein paar Ellen weit ge105 kommen, als Erieso aus einer Seitenstraße trat, blass, aber wütend, einen anderen Mann an seiner Seite. Erieso zog seinen Degen, eine schmale, gefährliche Metallklinge. »Verzaubere das hier, Hexe«, fauchte er. »Ich habe gehört, dass sie tot genauso viel für dich bezahlen wie lebendig, und mein guter Wille ist mir gänzlich abhanden gekommen.« »Was für ein großer Stachel für so kleine Mädchen«, spottete eine Frau von ihrem Balkon. »Schön zu sehen, dass mal richtige Männer in unsere Straße kommen.« »Rediana!«, rief Anne, die die Frau erkannte. »Die wollen uns umbringen!« »Ach, jetzt mag die Gräfin mich, wie?«, rief Rediana herunter. »Nicht so wie gestern auf dem Fischmarkt, oder?« Erieso schnaubte. »Hier wirst du keine Hilfe finden, cara«, höhnte er. Kaum hatte er das gesagt, traf ein irdener Topf mit irgendetwas Übelriechendem darin seinen Gefährten genau auf den Schädel. Der Mann ging mit einem Stöhnen zu Boden und presste die Hände gegen seinen Kopf. Erieso schrie auf und begann auszuweichen, als ein Hagel aus verfaulten Früchten und Fischgräten aus mehr als einem Fenster auf ihn niederging.
Doch der Rest seiner Männer war jetzt eingetroffen, und sie schwärmten aus, um die Mädchen einzukreisen. Sie wurden in die Mitte der Straße gedrängt, wo keine schweren Gegenstände geworfen werden konnten. Alle Frauen auf der Straße schrien jetzt durcheinander. »Ich wette, der hat eine Elritze in der Hose«, brüllte eine. »Oder eine nasse kleine Schnecke, die sich vor lauter Angst in ihr Häuschen verkrochen hat.« »Geht zurück zur Nordstadt, wo ihr hingehört!« Doch Erieso, der sich sicher außer Reichweite aller gefährlichen Geschosse sah, hatte aufgehört, den Damen seine Aufmerksamkeit zu widmen. Wieder kam er auf Anne und Austra zu. »Ihr könnt uns nicht töten, nicht vor all den Leuten hier«, sagte sie. 106 »Im Perto Veto gibt es keine Leute«, erwiderte er. »Nur Gesindel. Selbst wenn jemand sich die Mühe machen sollte, davon zu berichten, niemand würde ihm zuhören.« »Schade«, ließ sich eine neue Stimme vernehmen. »Seine Geschichte wird nämlich ein interessantes Ende haben.« »Cazio!«, rief Austra. Anne schaute nicht hin - sie konnte den Blick nicht von Eriesos Degenspitze abwenden, und inzwischen kannte sie Cazio gut genug. »Und wer im Namen von Lord Ontro seid Ihr?«, wollte Erieso wissen. »Nun, ich bin Cazio Pachiomadio da Chiovattio, und ich bin der Beschützer dieser beiden Casnaras«, erwiderte der Angesprochene. »Und dies erweist sich als ein guter Tag, denn ich habe jemanden, vor dem ich sie beschützen kann. Ich wünschte nur, Ihr wärt keine so offenkundigen Feiglinge - das verdirbt mir die Freude. Aber was soll's.« Anne hörte Stahl aus Leder zischen. »Caspator«, sagte Cazio zu seinem Degen, »an die Arbeit.« »Wir sind zu sechst, du Narr«, entgegnete Erieso. Anne vernahm eine rasche Bewegung hinter sich, ein Keuchen, ein Gurgeln. »Ihr seid nicht gut im Zählen«, meinte Cazio. »Ich sehe nur fünf. Anne, Austra, kommt zurück. Schnell.« Anne tat wie geheißen und streifte Cazio fast, als er an ihr vorbeiglitt, den Degen gerade vorgestreckt. »Bleibt hinter mir«, wies er sie an. Jetzt jubelten die Frauen. Der Kerl, den Cazio bereits durchbohrt hatte, schleppte sich jämmerlich von der Straße weg, während der Degenkämpfer Erieso und seinen restlichen Männern gegenübertrat. Anne jedoch ließ sich von Cazios großspurigem Auftreten nicht täuschen - fünf waren zu viel, selbst für ihn. Sobald sie ihn umzingelt hatten ... Doch er zeigte keine Angst, sondern focht behäbig, fast als wäre er gelangweilt. Er tanzte vor, zurück, rundherum und hatte seine 107 Gegner einen Augenblick lang tatsächlich zu einem dicht gedrängten Haufen zusammengetrieben, während sich alle gleichzeitig verteidigten. Dann jedoch wurde ihnen sein Vorteil klar, und sie begannen, sich von der Seite an ihn heranzupirschen. Cazio parierte einen Angriff und vollführte eine seltsame Drehung, blockierte die Klinge seines Gegners und zwang die Spitze zur Seite, wo sie einen weiteren von Eriesos Männern traf. Gleichzeitig rammte sich Cazios Spitze hart in die Schulter seines eigentlichen Zieles. Beide Männer schrien auf und wichen zurück, doch keiner schien tödlich verwundet zu sein. »Za uno-en-dor«, erklärte Cazio ihnen. »Meine eigene Erfindung. Ich -« Er brach ab, um eine wilde Attacke zu parieren, dann duckte er sich rasch unter einem Stoß aus einer anderen Richtung hinweg. Er trat zurück, jedoch nicht schnell genug, um einem dritten Stoß zu entgehen, der ihn in die linke Schulter traf. Cazio ächzte und packte die Klinge, um sie dort festzuhalten, hatte jedoch nicht genug Zeit, um den Kerl zu durchbohren, denn schon drängten die anderen wieder heran. »Cazio!«, schrie Austra in nackter Angst auf. Dann traf eine Flasche einen der Männer am Kopf und ließ sein Ohr zu rotem Mus aufplatzen. Anne schaute sich um, um zu sehen, wer sie geworfen hatte, und stellte fest, dass etwa dreißig Männer aus dem Viertel, mit Messern und Holzkeulen bewaffnet, hinter ihr standen. Einer davon war Ospero. Er schnippte mit dem Daumen in Eriesos Richtung. »Ihr da«, knurrte Ospero schroff. »Was wollt Ihr von den Mädchen?« Eriesos Lippen wurden schmal. »Das ist meine Sache.« »Ihr seid im Perto Veto, holder Knabe. Das macht es zu unserer Sache.« Eriesos noch kampffähige Männer hatten sich zurückgezogen und waren neben ihn getreten. Einer hielt sich das Ohr, und Blut 108 lief ihm durch die Finger. Anne kam es auf einmal so vor, als sei sie zwischen zwei Löwen geraten. Eriesos Gesichtsausdruck veränderte sich mehrmals, ehe er schließlich seufzte. »Die da, mit den roten Haaren. Sie ist mit Fürst Latro verlobt, aber die dumme kleine catella ist in diesen Burschen da vernarrt und ist
fortgelaufen. Ich bin ausgeschickt worden, um sie zurückzuholen.« »Ach ja?«, erwiderte Ospero. »Gibt es eine Belohnung, wenn man sie zurückbringt?« »Nein.« »Warum solltet Ihr dann so dumm sein, ihr hierher zu folgen?« »Meine Ehre gebietet es. Ich habe versprochen, sie zurückzubringen.« »Aah ja. Fürst Latro, wie? Derselbe Fürst Latro, der unseren Fisch mit einem Zoll belegt hat, damit er seinen billiger verkaufen kann? Derselbe Fürst Latro, der Fuvro Olufio gehängt hat?« »Ich weiß nichts von diesen Dingen.« »Dann wisst Ihr nicht allzu viel. Aber ich sage Euch eins - wenn es Latro da Villanchi Schmerzen bereiten würde, wenn ich mir die Nase abschnitt, würde ich es mit Freuden tun. Er bekommt sein Mädchen zurück. Von uns. In Stücken.« Eriesos Gesicht rötete sich noch mehr. »Das werdet ihr nicht tun. Der Zorn des Fürsten wäre fürchterlich. Er würde den Meddisso Truppen hier herunterschicken lassen. Wollt ihr das?« »Nein«, gab Ospero zu. »Aber wir sind bescheiden, hier unten im Perto. Uns liegt nicht viel daran, die Lorbeeren für solcherlei Sachen einzuheimsen, uns liegt nur daran, dass es geschieht.« »Aber wie werdet ihr -« Eriesos Augen wurden groß, als die Männer plötzlich vorwärts stürmten. »Nein!« Er drehte sich um und rannte davon, und seine Helfershelfer flohen mit ihm. Ospero lachte, während er zusah, wie sie verschwanden. Dann wandte er sich wieder an Anne, Austra und Cazio. »Er hat gelogen, also nehme ich an, es ist wirklich eine Belohnung auf Euch ausgesetzt«, sagte er zu Anne. »Ich glaube, Ihr soll109 te mir lieber verraten, was für eine, und ich glaube, das solltet Ihr lieber sofort tun.« Wie um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drängten sich Osperos Männer dichter heran. 8. Kapitel Der Basilnix Ich werde sterben, dachte Leoff. Es schien ein träger Gedanke zu sein; alles wirkte langsam und in ein eigentümliches goldenes Licht gehüllt. Er konnte jede Einzelheit an dem Mann erkennen, der ganz plötzlich auf ihn zukam. Sein Haar war hell und über der Stirn zu ungleichen Fransen geschnitten. Es war zu dunkel, um die Farbe seiner Augen bestimmen zu können, doch sie standen weit auseinander. Sein Wams war fast bis zum Bauch geöffnet. Seine Ohren standen ab. Er hatte sich ein Stück Stoff um den Kopf gebunden. Und hier war sein Schwert, schön wie eine Viper im Mondlicht. Dann kam etwas an ihm vorbeigeflogen, eine weitere Mondscheinscherbe, und traf den Mann hoch oben an der Brust. Das brachte ihn zum Stehen. Er stieß einen erschrockenen Laut aus und schaute nach unten. Etwas Metallenes landete auf dem Boden und sang einen vollkommenen Ton. Dieser schien in der Luft hängen zu bleiben, gestützt von einer seltsamen Folge aus Wohlklängen. »Verdammt«, sagte Gilmer. »Blöder Tattergreis«, knurrte der Mann und hob erneut das Schwert. »Dafür hole ich mir deine Männlichkeit, ehe du stirbst.« Doch dann zögerte er. Der Gesang, den Leoff vernommen hatte, war nicht in seinem Kopf. Er war hier, unterhalb der Mauer, ein Geräusch, das das Rü110 ckenmark gefrieren ließ. Nur widerstrebend nahm er zur Kenntnis, dass es Männer waren, die gellend brüllten oder zumindest aus voller Lungenkraft schrien. Der Mann mit dem Schwert stand genau neben der Brüstung, und er schaute hinüber. Dann versuchte er in das Lied einzustimmen. Sein Mund klaffte auf, und die Sehnen seines Halses traten wie Drähte hervor. Schließlich brach er einfach zusammen. »Was ist denn da los?« Gilmer schob sich vorwärts, um ebenfalls hinüberzuschauen, doch Leoff riss ihn auf die Steinplatten und lag da, versuchte ihn niederzuhalten. »Nicht«, keuchte er. »Nicht! Ich weiß nicht, was in dem Kasten war, aber ich weiß, dass wir es nicht ansehen dürfen.« Der Mann mit dem Schwert war so zu Boden gestürzt, dass sein Kopf ihnen zugewandt war. Selbst im Mondlicht konnten sie sehen, dass seine Augen zu Asche geworden waren, genau wie die der anderen Toten in Broogh. Von unten ertönte noch immer Geschrei. »Schaut nicht hin!« »Haltet euch die Augen zu! Lasst Reev und Hilman ihn einfangen!« »Es hat sie nicht alle erwischt«, flüsterte Leoff. »Was hat sie nicht alle erwischt?«, wollte Gilmer wissen. Leoff merkte, dass der alte Mann zitterte. Eine kräftigere, befehlsgewohntere Stimme übertönte die anderen: »Das ist von der Mauer gekommen. Da oben ist noch jemand. Findet ihn. Tötet ihn.« »Die meinen uns«, sagte Leoff.»Kommt. Und schaut nicht hin!« Die beiden Männer eilten die Treppe hinunter, zurück in die schweigende Stadt.
»Wie lange wird es dauern, bis sie um die Mauer herumgekommen sind?«, japste Leoff, während sie über das Kopfsteinpflaster rannten. »Nicht lange. Sie werden durchs Südtor kommen. Wir sollten uns lieber verstecken. Los, hier entlang.« 111 Gilmer führte Leoff um mehrere Ecken herum, über den Platz am Fuße des Glockenturms und eine weitere Straße hinauf. »Wie viele hat es wohl erwischt, was immer es war?« »Kann man nicht wissen.« »Psst!«, zischte Gilmer. »Halt. Horcht.« Leoff tat wie geheißen, und obgleich das Geräusch seines Herzschlags und seines Atems seine Ohren füllte, konnte er ausmachen, weshalb Gilmer angehalten hatte - die Schritte mehrerer Männer, die sich der Stelle näherten, wo sie standen. »Kommt, hier rein«, sagte Gilmer. Er entriegelte die Tür eines zweistöckigen Gebäudes, und sie schlüpften hinein. Sie stiegen die Treppe zum ersten Stock empor und traten in ein Zimmer mit einem Bett und einem mit Vorhängen versehenen Fenster. Gilmer steuerte darauf zu. »Nehmt Euch in Acht«, warnte Leoff. »Vielleicht haben sie es dabei.« »Auy, 'r habt Recht. Ich werde nur kurz hinausspähen.« Der kleinere Mann ging zum Fenster. Leoff beobachtete ihn beklommen, als sich von hinten eine Hand auf seinen Mund legte. »Psst«, sagte eine Stimme in sein Ohr. »Ich bin es, Artwair.« Selbst auf dieses leise Geräusch hin fuhr Gilmer herum. »Mylord Artwair!«, keuchte er. »Hallo, Windschmied«, sagte Artwair. »Was für Ärger habt Ihr uns denn da eingehandelt?« »Mylord?«, wiederholte Leoff. »Das wusstet 'r nicht?«, fragte Gilmer. »Sir Artwair ist unser Herzog, ein Vetter Seiner Hoheit König Charles.« »Nein«, antwortete Leoff, »das wusste ich nicht. Mylord -« »Still«, sagte Artwair. »Das ist jetzt nicht wichtig. Sie kommen, sie sind Euch dicht auf den Fersen, und sie werden Euch finden. Der Basilnix hat eine gute Nase.« »Basilnix?« »Auy Unsere dunkelsten Legenden erwachen in diesen Tagen zum Leben.« »Das ist es, was in der Kiste war?« 112 »Auy« Er grinste verkniffen. »Als ich ankam, sind sie mit ihm durch die Straßen gelaufen, haben damit herumgeleuchtet wie mit einer Laterne. Ich habe die letzten der Städter sterben sehen. Ich verdanke meiner alten Amme mein Leben, denn nur durch ihre Geschichten habe ich begriffen, was da vorging. Ich habe die Augen abgewandt, ehe sein Blick auf mich gefallen ist. Natürlich wäre ich erneut fast gestorben, als Ihr seinen Käfig zerschmettert habt, weil ich sie beobachtet habe. Trotzdem, das war schlau. Ich glaube, Ihr habt mehr als die Hälfte von ihnen getötet, bevor sie die Kreatur wieder zudecken konnten.« »Ihr habt es gesehen?« Artwair nickte. »Ich habe sie vom Südturm aus beobachtet.« »Wie haben sie es geschafft, dieses Wesen wieder einzufangen und zuzudecken?« »Sie haben zwei Blinde dabei«, antwortete Artwair. »Sie dienen als seine Wärter. Die anderen gehen hinter ihnen. Der Käfig ist wie eine Aenan-Lampe, auf allen Seiten geschlossen, außer auf einer. Es gibt ein Licht von sich, dieses Wesen, und hat man es einmal gesehen, so kann man ihm nur mit allergrößter Willenskraft widerstehen.« »Aber der Käfig ist doch jetzt zerschmettert.« »Auy Also müssen sie sich sehr vorsehen, und wir auch.« »Wir müssen fliehen, ehe sie uns finden.« »Nein«, sagte Artwair leise. »Ich glaube, wir müssen kämpfen. Zwei Männer sind auf dem Deich geblieben. Sie werden länger brauchen, aber trotzdem werden sie ihn durchbrechen, wenn wir ihnen die Zeit dafür geben. Das können wir nicht zulassen.« »Nein«, pflichtete Gilmer ihm bei. »Nicht, nachdem Broogh sein Leben gegeben hat.« »Aber wie können wir gegen etwas kämpfen, das wir nicht ansehen können?«, wollte Leoff wissen. Artwair hob etwas vom Boden auf: zwei Flaschen aus blauem Glas, mit Flüssigkeit gefüllt. Oben waren Lumpen hineingestopft worden. »Hier ist mein Plan«, sagte Artwair. 113 Augenblicke später stand Leoff oben an der Treppe. Artwair stand unter ihm auf dem ersten Absatz, ein Schatten, der einen Bogen vor sich hielt und einen Pfeil an die Sehne gelegt hatte. Gilmer kauerte mit fest zugekniffenen Augen hinter Leoff am Fenster. »Sie sind da«, drang Artwairs Stimme herauf. »Haltet Euch bereit.« Leoff nickte nervös. Er hielt mit einer Hand eine Kerze und mit der anderen eine der Flaschen voll Öl
umklammert. Gilmer war genauso bewaffnet. Leoff hörte, wie sich die Tür öffnete, und der Bogen sang einen tiefen Ton. »Die haben einen Bogen!«, kreischte jemand. »Die Treppe hinauf!«, befahl eine andere Stimme. »Sie können nicht treffen, was sie nicht sehen können. Wenn sie die Augen öffnen, sind sie tot.« Schritte kamen die Treppe herauf. Wieder surrte der Bogen, und wieder schrie jemand vor Schmerz auf. »Ein Glückstreffer!«, brüllte derjenige, der der Anführer zu sein schien. »Rauf da, und zwar schnell.« »Jetzt!«, schrie Artwair und rannte die Treppe hinauf. Leoff entzündete den ölgetränkten Lumpen. Und er sah ein Licht den Treppenabsatz überfluten. Es war wunderschön, golden, das vollkommenste Licht, das er jemals gesehen hatte. Ein Versprechen absoluten Friedens erfüllte ihn, und er wusste, dass er nicht weiterleben konnte, ohne die Quelle dieses Leuchtens erblickt zu haben. »Jetzt, habe ich gesagt!«, schrie Artwair. Aus weiter Ferne hörte Leoff Glas zerbrechen und neue Schreie von unten. Gilmer musste seine Flasche geworfen, musste auf die Haustür gezielt haben. Aber Gilmer hatte das Licht nicht gesehen, er verstand nicht... Jäh fielen Leoff die Leichen in der Schenke wieder ein. Er erinnerte sich an ihre Augen. Er schleuderte die Flasche auf den Treppenabsatz, den Artwair soeben verlassen hatte. Das Licht war heller und schöner denn je. 114 Noch während die Flammen aufblühten wie eine vielblättrige Rose, beugte Leoff sich vor, um einen Blick darauf zu erhaschen, nur einen flüchtigen Blick ... Und dann stieß Artwair ihn grob zu Boden. »Bei allen Heiligen, was tut Ihr denn da? Ihr dürft nicht hinsehen!«, grollte er. Noch mehr Schreie. Eine Nacht der Schreie. Das Öl brannte schnell, und ebenso das hauptsächlich aus Holz gebaute Haus. »Gilmer!«, brüllte Artwair. »Habt Ihr die Türschwelle getroffen?« »Auy, das habe ich«, antwortete dieser. »Ich dachte, es wäre das Risiko wert, schnell mal hinzusehen, da sie das Biest doch auf der Treppe hatten. Ich habe gut gezielt.« Er kratzte sich am Kopf. »Nur sitzen wir jetzt natürlich in einem brennenden Haus fest.« »Die aber auch«, erwiderte Artwair. Er ging zum Fenster, schob den Vorhang zurück und legte einen Pfeil an seine Bogensehne. »Jetzt wird abgerechnet«, sagte er. »Bewacht die Treppe. Wenn welche durchkommen, schreit.« Das Treppenhaus war bereits eine Flammenhölle, und erstickende Rauchschwaden wirbelten empor. Dies war auch eine Nacht des Feuers, dachte Leoff. Anscheinend war es ihm bestimmt, zu verbrennen. Über die Schreie und das Brüllen des Feuers hinweg hörte er den Bogen surren. Und dann noch einmal, als Artwair auf irgendetwas auf der Straße schoss. Dann kam ein Schatten durch die Flammen, etwas von der Größe eines Hundes, jedoch schlangengleich. Die Flammen färbten sich golden. Leoff kniff die Augen zu. »Schließt die Augen!«, schrie er. »Er kommt herauf!« »Folgt meiner Stimme«, erwiderte Artwair. »Das Fenster. Wir müssen springen.« »Hier«, sagte Gilmer. Er packte Leoffs Hand und zog ihn hoch. Der Geruch von vorhin war überall, und er fühlte seine Haut von mehr als nur der Hitze prickeln. "5 Dann berührte er den Fensterrahmen, und von Entsetzen getrieben ergriff er ihn, trat hindurch, hing einen Augenblick lang an den Fingern und ließ sich fallen. Sein Magen hob sich kopfwärts, und dann schien der Boden unter seinen Füßen zu bersten. Schmerzen, heller als die Sonne, leuchteten in ihm auf. Jemand zerrte an ihm. Schon wieder Gilmer. »Steht auf«, befahl der kleine Mann. Leoff versuchte zu antworten, würgte jedoch stattdessen an seiner eigenen Zunge. Artwairs Gesicht tauchte im rötlichen Feuerschein auf. »Er hat sich das Bein gebrochen. Helft mir, ihn hier wegzubringen.« Sie schleiften ihn von dem Feuer fort, das begonnen hatte, sich auszubreiten. Dunkelheit schlich sich heran, zusammen mit dem Schmerz, und Leoff merkte nicht mehr, was um ihn herum geschah. Das Nächste, was ihm deutlich bewusst wurde, war, dass sie in einem Boot waren, auf dem Kanal. »Bleibt bei ihm, Gilmer«, sagte Artwair grimmig. »Um zwei muss ich mich noch kümmern. Dann können wir gehen.« »Wohin?«, fragte Gilmer, und zum ersten Mal schwang Verzweiflung in seiner Stimme mit. »Meine Malend, meine Stadt...« Er weinte jetzt. Leoff ließ den Kopf zurücksinken und sah zu, wie der Rauch zu den Sternen aufstieg, während das Boot sanft auf dem Kanal schaukelte. Er versuchte, nicht an den Schmerz zu denken. »Was macht das Bein?«, erkundigte sich Artwair.
»Ein dumpfes Pochen«, antwortete Leoff und warf einen Blick darauf. Es war fest geschient worden, doch selbst jetzt sandte jeder Ruck, den der Karren auf der tief zerfurchten Straße machte, einen Stich bis in seinen Oberschenkel, sogar mit den Heuballen als Polster. Artwair hatte den Karren und den schweigsamen Mann, der ihn fuhr, gemietet. »Es war ein glatter Bruch, und es sollte gut heilen«, erklärte Artwair. 116 »Ja, ich habe wohl Glück gehabt«, gab Leoff düster zurück. »Auch ich trauere um Broogh«, sagte Artwair. Seine Stimme wurde sanfter. »Das Feuer hat nur ein paar Häuser vernichtet.« »Aber sie sind alle tot«, wandte Leoff ein. »Die meisten, auy«, gab Artwair zu. »Aber einige waren auf Reisen oder sind spät von den Feldern zurückgekommen.« »Und die Kinder?«, fragte Leoff. »Wer wird für sie sorgen?« Gilmer und Artwair hatten am Morgen nach dem Brand nacheinander die Häuser durchsucht. Sie hatten insgesamt dreißig Kinder gefunden, noch in der Wiege oder im Kinderbettchen. Diejenigen, die alt genug gewesen waren, um draußen zu sein, hatte das gleiche Schicksal ereilt wie ihre Eltern. »Man wird sich um sie kümmern«, antwortete Artwair. »Dafür wird ihr Herzog Sorge tragen.« »Ach ja«, seufzte Leoff. »Warum habt Ihr mir nicht gesagt, wer Ihr seid, Mylord?« »Weil man mehr erfährt, mehr sieht, wenn einen die Leute nicht ständig >Mylord< nennen«, erwiderte Artwair. »So manche Grefftschaft und so manches Königreich sind ins Verderben gestürzt, weil ihre Herren nicht wussten, was auf ihren Straßen und in ihren Gassen vorging.« »Ihr seid ein ungewöhnlicher Herzog«, sagte Leoff. »Und Ihr seid ein ungewöhnlicher Komponist - nehme ich an, obwohl ich noch nie von einem gehört hatte, ehe ich Euch begegnet bin. Ihr habt mir - und dem Reich - einen großen Dienst erwiesen.« »Das war Gilmer«, wehrte Leoff ab. »Ich habe es nicht begriffen. Ich wäre weit fortgerannt, wenn ich allein gewesen wäre. Ich bin kein Held, kein Mann der Tat.« »Gilmer hat sein ganzes Leben hier verbracht. Seine Pflicht und Schuldigkeit ist tief in seinem Gebein verwurzelt. Ihr seid ein Fremder und diesem Ort nichts schuldig - und wie Ihr sagt, Ihr seid kein Krieger. Trotzdem habt Ihr alles dafür aufs Spiel gesetzt. Ihr seid ein Held, Sir, umso mehr, als Ihr fliehen wolltet und es nicht getan habt.« »Und doch haben wir nur so wenige gerettet.« 117 »Seid Ihr toll? Habt Ihr eine Ahnung, wie viele zugrunde gegangen wären, wenn sie den Deich durchbrochen hätten? Was das das Reich gekostet hätte?« »Nein«, erwiderte Leoff. »Ich weiß nur, dass eine ganze Stadt umgekommen ist.« »Das kommt vor«, sagte Artwair. »Im Krieg und bei Hungersnöten, bei Überschwemmungen und Feuersbrünsten.« »Aber warum? Was wollten diese Männer? Woher hatten sie dieses grauenvolle Geschöpf?« »Ich wünschte, ich wüsste es«, entgegnete Artwair. »Ich wünschte wirklich, ich wüsste es. Als ich zum Deich zurückgekommen bin, waren die beiden letzten Männer geflohen. Der Rest ist dem Feuer oder dem Basilnix zum Opfer gefallen.« »Und die Kreatur?«, wollte Leoff wissen. »Ist sie entkommen?« Artwair schüttelte den Kopf. »Sie ist verbrannt. Da ist sie, dort, auf Galasts Rücken.« Leoff schaute hinüber. Das Packpferd trug ein unförmiges, in Leder gehülltes Bündel. »Ist das nicht gefährlich?« »Ich habe das Biest selbst eingewickelt, und mir ist nichts passiert.« »Wo kommt ein solches Wesen her?« Der Herzog zuckte die Schultern. »Vor ein paar Monaten wurde in Cal Azroth ein Gryffin zur Strecke gebracht. Noch vor einem Jahr hätte ich geschworen, dass solche Geschöpfe nichts anderes sind als Alven-Märchen für Kinder. Aber jetzt haben wir auch noch einen Basilnix. Es ist, als erwache rings um uns herum eine ganze verborgene Welt.« »Eine "Welt des Bösen«, sagte Leoff. »Die Welt hatte schon immer reichlich Böses zu bieten«, erwiderte Artwair. »Aber ich gebe zu, ihr Antlitz scheint sich zu verändern.« Gegen Mittag erblickte Leoff etwas, das er für eine Wolke am Horizont hielt. Nach und nach konnte er jedoch schlanke Türme und 118 die Wimpel darauf erkennen und begriff, dass das, was er vor sich sah, ein Hügel war, der aus der riesigen flachen Ebene von Neuland emporragte. »Ist es das?«, fragte er. »Auy«, antwortete Artwair. »Das ist Ynis, die Insel der Köni»Insel? Es sieht aus wie ein Hügel.«
»Hier ist es zu flach, um das Wasser sehen zu können. Der Magierfluss und der Taufluss treffen sich auf dieser Seite von Ynis, teilen sich und fließen darum herum. Auf der anderen Seite liegen die Schaumbrecherbucht und die Lierische See. Das Schloss dort ist Eslen.« »Es sieht groß aus.« »Das ist es auch«, erwiderte Artwair. »Es heißt, in Schloss Eslen gibt es mehr Gemächer als Sterne am Himmel. Ich weiß es nicht - ich habe weder das eine noch das andere je gezählt.« Bald erreichten sie die Stelle, wo die Flüsse sich vereinigten, und Leoff sah, dass Eslen sich tatsächlich auf einer Art Insel erhob. Der Taufluss - der Strom, den sie in der unglücklichen, dem Untergang geweihten Stadt Broogh überquert hatten - strömte in einen anderen, ebenfalls eingedeichten Fluss, den Magierfluss. Dieser war gewaltig, vielleicht eine halbe Meile breit, und gemeinsam bildeten die Flüsse eine Art See, aus dem die Hügel von Ynis steil emporragten. »Wir setzen mit der Fähre über«, erklärte Artwair. »Dann sorge ich dafür, dass Ihr den richtigen Leuten vorgestellt werdet. Ich habe keine Ahnung, ob Eure Stellung sicher ist, aber wenn, dann werden wir es herausfinden. Wenn nicht, kommt zu meinen Ländereien in Hautwarpen, und ich finde einen Platz für Euch.« »Danke, Mylord.« »Nennt mich Artwair - so habt Ihr mich schließlich kennen gelernt.« Als sie in Sichtweite des Fährstegs kamen, fürchtete Leoff schon, sie wären auf ein Heerlager gestoßen. Beim Näher kommen sah er, 119 dass dies, wenn es denn eins war, ein höchst bunt zusammengewürfeltes, ungeordnetes Heer war. Zelte und Wagen hatten eine Art Labyrinth gebildet, mit schmalen Gassen und kleinen Plätzen, fast eine behelfsmäßige Stadt. Rauch stieg von ein paar Kochfeuern auf, doch es waren nicht so viele, wie er erwartet hätte. Ihm fiel ein, dass Gilmer gesagt hatte, das Holz sei knapp. An Menschen herrschte jedenfalls kein Mangel. Leoff schätzte, dass mehrere tausend sich hier versammelt hatten, und die meisten hausten nicht in Zelten oder Wagen, sondern lagerten auf Decken auf dem nackten Boden. Sie sahen den Karren vorbeifahren, und auf ihren Gesichtern erschienen die verschiedensten Ausdrücke zumeist Gier, Zorn und Hoffnungslosigkeit. In der Mitte dieses zerlumpten Feldlagers befand sich ein ordentlicheres; auf sämtlichen Zelten wehten die Farben des Königs, und es mangelte nicht an bewaffneten Männern, die diese ebenfalls trugen. Als sie sich diesem Lager näherten, trat ihnen ein Mann in mittleren Jahren in den Weg. Ein harter, entschlossener Ausdruck lag in seinen Augen. »Verschwinde«, sagte der Fahrer. Der Mann beachtete ihn nicht und sah stattdessen Artwair an. »Mylord«, sagte er. »Ich kenne Euch. Als ich jünger war, habe ich in Eurer Stadtwache gedient.« Artwair blickte auf ihn herunter. »Was wollt Ihr?«, fragte er. »Mein Weib, Mylord, und meine Kinder. Nehmt sie mit in die Stadt, ich flehe Euch an.« »Und wo soll ich sie unterbringen?«, fragte Artwair leise. »Wenn in der Stadt Platz wäre, hätte man Euch hier nicht angehalten. Nein, sie sind draußen besser dran, mein Freund.« »Das sind sie nicht, Mylord. Das Grauen geht um in diesem Land. Alle reden vom Krieg. Ich bin kein Mann, der es leicht mit der Angst zu tun bekommt, Mylord Artwair, und doch fürchte ich mich. Und es ist feucht hier. Wenn der Regen kommt, haben wir keine Zuflucht.« »In der Stadt hättet Ihr auch keine«, sagte Artwair bedauernd. »Hier habt Ihr wenigstens Trinkwasser, weiche Erde und ein we120 nig zu essen. Dort drinnen hättet Ihr nichts als Betten aus Stein und Pisse, die man Euch aus den Fenstern auf den Kopf schüttet, damit Ihr sie gegen Euren Durst auflecken könnt.« »Aber wir hätten die Mauer«, wandte der Mann ein. Seine Stimme klang jetzt flehentlich. »Die Wesen, die Ihr fürchtet, werden sich von Mauern nicht aufhalten lassen«, erwiderte Artwair. Dann richtete er sich auf. »Sagt mir Euren Namen, Sir.« »Jan Readalvson, Mylord.« »Kommt mit mir in die Stadt, Fralet Readalvson. Ihr werdet selbst sehen, dass es dort keinen Platz für Eure Familie gibt, nicht im Augenblick. Des Weiteren gebe ich Euch einen Auftrag - Lebensmittel, Kleider und Zelte an die Menschen hier zu verteilen. Ich vertraue darauf, dass Ihr, nachdem Ihr Eure Familie versorgt habt, gerecht vorgehen werdet. Von Zeit zu Zeit werde ich nach Euch sehen. Das ist das Beste, was ich tun kann.« Readalvson verbeugte sich. »Ihr seid sehr großzügig, Mylord.« Artwair nickte. »Jetzt fahren wir weiter.« Sie gingen an Bord der Fähre und traten ihre kurze Fahrt über das Wasser an. Über ihnen ragte das Schloss wie ein Berg auf, und die Stadt wälzte sich herab wie dessen Ausläufer, eine Lawine aus Häusern mit schwarzen Dächern, die nur durch die mächtige Mauer aufgehalten wurde, die sie umgab. Als sie auf den breiten steinernen Kai zuhielten, sah Leoff, dass es dort ähnlich aussah wie auf dem Ufer, das sie gerade verlassen hatten. Hunderte von Menschen kauerten auf der anderen Seite des Kais, allerdings hatten sie keine Wagen oder Zelte, und in ihren Gesichtern war weniger Hoffnung zu finden.
»Ihr habt gesagt, Ihr hättet in meiner Wache gedient«, wandte Artwair sich an ihren neuen Begleiter. »Woher kommt Ihr jetzt?« »Ich hatte gehört, im Osten gäbe es Siedlungsland, in der Nähe des Königswaldes. Vor zehn Jahren bin ich dorthin gezogen und habe mir einen Hof gebaut.« Seine Stimme klang gebrochen. »Dann ist der Dornenkönig erwacht, oder zumindest erzählt man 121 sich das, und die schwarzen Ranken sind gekommen - und noch Schlimmeres.« Er blickte auf. »Manchmal kann ich immer noch die Schreie meiner Nachbarn hören.« »Sie sind umgekommen?« »Ich weiß es nicht. Die Geschichten - ich konnte es nicht wagen, nachzusehen, versteht Ihr? Ich musste an meine Kinder denken. Aber ich fühle sie immer noch in meinem Rücken, ich spüre immer noch das Schaudern in meinen Knochen.« Leoff verspürte ebenfalls ein Schaudern in seinen Knochen. Was war nur aus der Welt geworden? War das Ende wahrhaftig nahe, wenn der Himmel zersplittern und wie die Scherben eines zerbrochenen Topfes herabfallen würde? Als sie den Kai erreichten, drängte die Menge auf sie zu, doch die Stadtwache stieß die Menschen zurück, und eine Gasse bildete sich. Ein paar Momente später schwang das quietschende Tor weit auf, und sie betraten die Stadt. Ihr Weg führte sie in einen Hof und von dort durch ein zweites Tor. Die Mauern über ihnen waren voller Wachen, doch offensichtlich erkannten sie Artwair, und das innere Tor wurde geöffnet. Die Hauptstraße zum Schloss wand sich durch die Stadt, als wäre sie eine riesige Schlange, die den Hügel hinaufkroch. Leoff setzte sich auf und lehnte den Rücken gegen die Karrenwand, um besser sehen zu können, als sie an Kapellen aus uraltem Marmor vorbeiholperten, vom Regen und Rauch eines Jahrtausends verfärbt und verwittert, an Häusern mit steilen Dächern, die himmelwärts stachen, niedrigen Hütten mit weißen Wänden und rotem Fachwerk, die sich eng aneinander schmiegten, außer dort, wo schmale Gassen sie teilten. Die meisten Gebäude hatten ein Obergeschoss, das ein wenig überhing - einige wenige hatten zwei. Sie rollten auf einen weiteren Platz, in dessen Mitte die verwitterte Bronzestatue einer Frau stand, den Fuß auf den Hals einer geflügelten Schlange gesetzt. Die Bestie krümmte und wand sich unter ihrem Schuh, und ihr Gesicht war so kalt und unnahbar wie der Nordwind. 122 Fast hundert Menschen waren auf dem Platz versammelt, und einen Augenblick lang dachte Leoff, es wäre ein aufgebrachter Haufen, doch dann hörte er eine helle Sopranstimme und zog sich etwas weiter hoch. Auf dem breiten Podest der Statue gab eine Mimentruppe eine Vorstellung, begleitet von einer kleinen Gruppe Musikanten und Sänger. Die Instrumente waren einfach - eine Fiedel und eine Bassgeige, eine Trommel und drei Rohrflöten. Als Leoff vorbeikam, hatte eine Frau gerade aufgehört zu singen, während eine andere im grünen Kleid und mit vergoldeter Krone den Inhalt ihres Liedes dargestellt hatte. Die Schauspielerin schien mit einem Mann auf einem Thron zu reden. Leoff hatte den Text des Liedes nicht mitbekommen, denn die Menge brüllte zur Antwort und übertönte sie, doch die Melodie war simpel, eine wohl bekannte Wirtshausballade. Der Mann auf dem Thron richtete sich auf und grinste einfältig. »Wartet einen Moment«, bat Leoff. »Kann ich da ein bisschen zuhören?« Artwair warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Ihr könnt Euch genauso gut gleich Euren ersten Eindruck vom Hof verschaffen. Ich glaube, die Dame in Grün soll unsere gute Königin Muriele sein.« Der Mann hustete, als wolle er sich räuspern. Drei Männer sangen im Chor. Er ist der König Ha, ha, ha Er ist der König Hi, hi,hi Was soll er bloß tun? Ha, ha, ha Von den Heil'gen berührt Hi, hi, hi Der Schauspieler brach in das hilflose Gelächter eines Schwachsinnigen aus und tollte ein wenig herum, während der Chor seine 123 Verse wiederholte. Eine lächerliche Gestalt mit einem riesigen Hut schloss sich dem Tanz des »Königs« an. »Unser geliebter König Charles«, sagte Artwair trocken. »Und sein Hofnarr.« Die Instrumente verstummten, und der Mime, der den König spielte, sagte etwas, das Leoff völlig unverständlich erschien. Eine unheimliche Gestalt in einer schwarzen Robe und mit einem langen, albernen Kinnbart kam auf die Bühne gerannt. Der Mann schwänzelte um die Königin herum. Er sang nicht, sondern sprach auf theatralische Weise, fast eine Art Sprechgesang. »Lasst mich übersetzen«, rief die schwarz gewandete Gestalt. »Liebwerte Königin, Euer Sohn hat mit der
Stimme der Heiligen verkündet, dass mir das gesamte Reich zu übergeben sei. Dass man mir die Schlüssel der Stadt überreichen möge, dass es mir gestattet sei, meine Hände liebkosend auf Euren -« Das Brüllen der Menge übertönte ihn. »Unser allseits geschätzter Praifec Hespero«, erklärte Artwair. »Was geht hier vor?« Eine Gruppe aus drei als Ratsherren verkleideten Männern kam stolpernd und einander anrempelnd herbeigerannt. Am Fuß des Podests begann ein Chor zu singen: Hier, hier sind der Edlen drei Der Praifec ist im Irrtum, so meinen sie Charles spricht Fing, nicht Kirchlitanei Und sie behaupten, er sagte dies ... Sie hielten inne, und die Musik wechselte den Takt, wurde zu einem recht fröhlichen Tanz. Hinauf mit dem Zehnten Verrammelt die Stadt Bringt Jungfern und Kuchen Krieg macht nicht satt Sehen nicht, was echt und wahr Sind drei töricht Edle gar. 124 pie »Edelleute« hielten sich die Augen zu, und der Chor sang eine neue Strophe, während sie um die Königin herumhüpften. »Unser weiser, verehrter Comven«, sagte Artwair. Die Königin richtete sich inmitten all dieses Treibens auf. »Die Königin fleht«, deklamierte sie. »Ist denn niemand zur Hand, der uns in dieser Zeit der Finsternis errettet?« Dann stimmte der Chor ein Lied von Trauer und Verlust an, ein Klagelied um die Kinder der Königin, während sie einen Tanz für die Toten aufführte und die anderen Lieder als Kontrapunkt wiederkehrten. »Komponiert Ihr solche Dinge?«, wollte Artwair wissen. »Eigentlich nicht«, antwortete Leoff, fasziniert von dem Schauspiel. »Ist so etwas hier üblich?« »Der Mummenschanz? Auy, aber das ist etwas für den Marktplatz, Ihr versteht. Dem einfachen Volk gefällt das. Der Adel tut so, als gäbe es dergleichen nicht - es sei denn, sie gehen zu weit, wenn sie sich über die Edelleute lustig machen. Dann haben die Mimen vielleicht ein tragischeres Ende für ihr Stück.« Er warf einen Blick auf die Sänger. »Wir sollten lieber weiterfahren.« Leoff nickte nachdenklich, während Artwair sich an den Kutscher wandte, der Karren sich knarrend wieder in Bewegung setzte und sie durch immer reichere Viertel den Hügel hinauffuhren. »Die Menschen scheinen wenig Vertrauen zu ihren Führern zu haben«, bemerkte Leoff, der über den Inhalt des Mimenstücks nachdachte. »Die Zeiten sind schwer«, erwiderte Artwair. »William war nur ein mittelmäßiger König, aber das Königreich hatte Frieden und gedieh, und jeder mochte ihn. Jetzt ist er tot, zusammen mit Elseny und Lesbeth, die beide wirklich geliebt wurden. Der neue König, Charles - nun, die Darbietung, die Ihr eben gesehen habt, war nicht ungerechtfertigt. Er ist ein netter Bursche, aber von den Heiligen berührt. Unsere Verbündeten haben sich gegen uns gewendet, sogar Liery, und Hansa droht mit Krieg. Dämonen kriechen aus ihren Löchern, Flüchtlinge drängen sich in den Straßen, und 125 alle Marschhexen sagen Unheil voraus. In Zeiten wie diesen brauchen die Menschen einen starken Führer, und sie haben keinen.« Er seufzte. »Ich wollte, diese wenig schmeichelhafte Darstellung des Hofes wäre das Schlimmste, aber die Gilden sind in hellem Aufruhr, und ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, bis Hungeraufstände ausbrechen. Die halbe Ernte ist in der Nacht des Purpurmondes auf den Feldern verdorrt, und der Fischfang war schlecht.« »Was ist mit der Königin? Ihr habt gesagt, sie sei stark.« »Auy. Stark und wunderschön und so weit von ihrem Volk entfernt wie die Sterne. Und natürlich stammt sie aus Liery. In diesen Zeiten, wo Liery abtrünnig zu werden droht, trauen manche ihr nicht.« Leoff ließ sich das durch den Kopf gehen. »Die Neuigkeiten aus Broogh werden das Ganze nicht besser machen, nicht wahr?« »Kein bisschen. Aber besser, als wenn Neuland in den Fluten untergegangen wäre.« Er schlug Leoff auf die Schulter. »Keine Bange. Nach dem, was Ihr getan habt, werden wir schon irgendein Auskommen für Euch finden.« »Oh«, sagte Leoff. Er hatte gar nicht an seine eigenen Sorgen gedacht. Die Augen von Broogh ließen es nicht zu. 9. Kapitel Anträge Vom Thron aus konnte man weit in den Saal sehen, eine Galerie aus Messerspitzen und Gift. Die Säulen des Großen Thronsaals ragten wie mächtige Baumstämme in einen bleichen Dunst aus kaltem Licht empor, das durch die hohen Fenster hereinfiel. Über dieser rauchigen Schicht lag ein 126 weiteres, tieferes Gewölbe der Dunkelheit. Tauben gurrten und flatterten dort, denn es war unmöglich, sie von dem riesigen Raum fern zu halten, genauso wie die Katzen, die hinter den Vorhängen und Wandbehängen herumschlichen und Jagd auf sie machten. Muriele fragte sich oft, wie sich ein so riesiger leerer Raum derart schwer anfühlen konnte. Es war, als würde man in dem Moment, da man durch die großen Bronzetore trat, die den Eingang des Saales bildeten, so tief unter
die Erde versetzt, dass die Luft selbst zu einer Art Stein wurde. Gleichzeitig kam es ihr vor, als befände sie sich in gefährlich großer Höhe, als würde sie von einem Berggipfel stürzen, wenn sie durch eines der Fenster hinausträte. Es schien, als wäre in den Symmetrien dieses Saales das Schlimmste aus Himmel und Hölle gegenwärtig. Ihr Gemahl, der verstorbene König William, hatte den Großen Thronsaal nur selten benutzt; er hatte für seine Audienzen den Kleinen Saal vorgezogen. Dieser war unter anderem leichter zu heizen, und heute herrschte im Großen Saal Eiseskälte. Sollen sie frieren, dachte Muriele, als sie ihren Blick über die Versammelten schweifen ließ. Mögen sie mit den Zähnen klappern. Soll ihnen Taubendreck auf ihre Gewänder aus Samt und Brokat fallen. Soll dieser Saal sie zermalmen. Sie betrachtete die Menschen, die vor dem Thron standen, und sie hasste sie alle. Irgendjemand - wahrscheinlich jemand, der jetzt dort stand und sie anstarrte - hatte den Mord an ihren Kindern ausgeheckt oder dabei geholfen. Irgendjemand dort im Saal hatte ihren Gemahl getötet. Irgendjemand dort hatte ihr nichts als dies hier gelassen ein Leben in Furcht und Trauer, und soweit es sie betraf, hätten sie es ebenso gut alle miteinander sein können. Messerspitzen und Gift. Fünfhundert Menschen, die alle etwas von ihr wollten, von denen etliche ihr nach dem Leben trachteten. Einige der Letzteren waren leicht auszumachen. Dort war das blasse Antlitz von Ambria Gramme, den schwarzen Trauerflor auf dem Kopf, als wäre sie Königin gewesen und nicht lediglich die Geliebte des Königs. Dort war Ambrias ältester Bastard, he127 rausgeputzt, wie ein Prinz gekleidet sein mochte. Dort waren Grammes drei Liebhaber aus dem Comven, dicht an sie gedrängt, wie um sie aus der Menge herauszuheben, in seliger Unwissenheit - oder vielleicht auch Gleichgültigkeit - gegenüber der Tatsache, dass sie alle drei einander gegenseitig zum Hahnrei machten. Gramme würde sie innerhalb eines Herzschlags umbringen, wenn sie glauben würde, damit davonkommen zu können. Zu Murieles Linker stand Praifec Hespero in seinen schwarzen Gewändern und mit seiner viereckigen Kappe; eine Hand hob sich beiläufig und strich über den schmalen Kinnbart, während er, fast ohne zu blinzeln, jedes Wort um ihn herum in sich aufnahm und es in seine Pläne einflocht. Was wollte er? Er gab sich als Freund, natürlich, als Ratgeber, aber die Männer, die ihre Töchter umgebracht hatten, hatten die Roben der Kirche getragen. Es hatte geheißen, sie seien Abtrünnige gewesen, doch wie konnte sie irgendetwas für erwiesen halten? Und hier, dicht vor ihren Füßen, kam eine neue in Seide gehüllte Hundemeute geduckt näher, starrte sie an, wollte sehen, ob sich ihr Hals ihren Zähnen darbot. Sie wünschte sich, sie könnte sie einfach töten, sie wie Tiere hinschlachten und an die Tauben verfüttern lassen. Doch das konnte sie nicht. In Wahrheit hatte sie nur wenige Waffen. Und eine davon war ihr Lächeln. Also lächelte sie den Anführer der Meute an und nickte, und zu ihrer Linken ahmte ihr Sohn auf dem Herrscherthron sie nach, indem er mit dem Kopf nickte und damit anzeigte, dass der Hund sich aus seiner knienden Stellung erheben und bellen durfte. »Euer Majestät«, sagte er, an ihren Sohn gewandt, »es ist eine Freude, Euch zu sehen.« Charles, der König - ihr Sohn - machte große Augen. »Euer Mantel ist hübsch«, stellte er fest. Das stimmte in der Tat. Der Erzgrefft Valamhar af Aradal schätzte feine Gewänder. Der Mantel, den ihr Sohn so bewunderte, war aus elfenbein- und goldfarbenem Brokat und bedeckte ein 128 seegrünes Wams, das zu den Augen des Erzgreffts passte. Allerdings passte es nicht zu seinem geröteten Gesicht mit den schwellenden Adern oder zu seiner fettleibigen Gestalt. Seine Wachen, in schwarzroten Überwürfen, waren von schlankerer Statur, jedoch nicht weniger grell gekleidet. »Ich danke Euch, Euer Majestät«, erwiderte der Gesandte im Tonfall vollkommener Aufrichtigkeit, ohne auf das unterdrückte Gekicher zu achten, als wäre dies eine völlig normale Antwort für einen König. Doch sie sah den Spott, der sich in seinen Augen verbarg. »Königinmutter«, schnurrte Aradal und verbeugte sich jetzt vor Muriele. »Ich hoffe, Euch wohlauf vorzufinden.« »In der Tat, durchaus wohlauf«, antwortete Muriele munter. »Es ist stets ein Vergnügen, unsere Vettern aus Hansa willkommen zu heißen. Bitte übermittelt Eurem Herrscher Marcomir meine Freude über Eure Anwesenheit.« Wieder verbeugte sich Aradal. »Das werde ich getreulich tun. Ich hoffe allerdings, ihm noch mehr zu überbringen.« »Gewiss«, sagte Muriele. »Ihr mögt ihm meine Beileidsbekundung zum Tod des Herzogs von Austrobaurg überbringen. Ich glaube, der Herzog war ein enger Freund Seiner Majestät.« Aradal furchte die Stirn, nur ganz kurz, und Muriele beobachtete ihn genau. Austrobaurg und ihr Gemahl waren zusammen auf der vom Wind umtosten Landspitze von Aenah umgekommen, bei irgendeinem geheimen Treffen. Austrobaurg war ein Vasall Hansas gewesen. »Das ist überaus gütig, Euer Majestät. Diese ganze Angelegenheit ist ebenso verwirrend wie tragisch.
Austrobaurg wird schmerzlich vermisst werden, ebenso wie König William und Prinz Robert. Ich hoffe - so wie ich weiß, dass auch Ihr hofft -, dass die Schurken, die hinter dieser Schandtat stecken, bald zur Rechenschaft gezogen werden.« Als er das sagte, warf er einen kurzen Blick auf Sir Fail de Liery. Die Leichen auf der Landspitze waren mit lierischen Pfeilen gespickt gewesen. 129 Sir Fail lief dunkelrot an, entgegnete jedoch nichts - was für seine Verhältnisse bewundernswerte und fast unerhörte Selbstbeherrschung bedeutete. Muriele seufzte und wünschte sich, Erren wäre noch an ihrer Seite. Erren hätte augenblicklich gewusst, ob Aradal irgendetwas verbarg. Für Muriele klang er aufrichtig. »Es sind beklagenswert viele Leben verloren gegangen in diesen letzten Monaten«, fuhr er fort und sah wieder Charles an. Er verneigte sich. »Euer Majestät, ich weiß, dass Eure Zeit kostbar ist. Ob ich wohl direkt zur Sache kommen darf?« »Ich befehle es«, erwiderte Charles und warf einen verstohlenen Seitenblick auf Muriele, um zu sehen, ob er auch das Richtige gesagt hatte. »Danke, Euer Majestät. Wie Ihr wohl wisst, sind dies in vielerlei Hinsicht unruhige Zeiten. Unheimliche Geschöpfe treiben des Nachts ihr Unwesen, schreckliche Prophezeiungen scheinen in Erfüllung zu gehen. Das Verhängnis droht allenthalben, am schrecklichsten Eurer Familie.« Mein Gesicht ist aus Stein, sagte sich Muriele im Stillen. Doch selbst Stein würde schmelzen, müsste er ihren Zorn eindämmen. Sie wusste nicht mit Sicherheit, wer den Mord an ihrem Gemahl und ihren Töchtern eingefädelt hatte, doch es konnte kaum Zweifel geben, dass Hansa damit zu tun hatte, trotz des Rätsels um Austrobaurg. Hansische Könige hatten einst auf dem Thron gesessen, den ihr Sohn jetzt innehatte, und sie hörten niemals auf, davon zu träumen, ihn eines Tages wieder unter ihrem Hinterteil zu haben. Doch wenn es auch wenig Zweifel an ihrer Beteiligung gab, so gab es auch wenig Beweise. Also tat sie ihr Bestes, Haltung zu bewahren, sorgte sich jedoch, dass es ihr vielleicht nicht ganz gelingen mochte. »Seine Majestät hat mich gesandt, um in diesen Sorgentagen unsere Freundschaft anzubieten. Unter den Augen der Heiligen sind wir alle vereint. Wir hoffen, alle unerfreulichen Verstimmungen zwischen uns aus der Welt zu schaffen.« 130 »Eine höchst lobenswerte Geste«, erwiderte Muriele. »Mein Herrscher bietet mehr als eine Geste, Mylady«, sagte Aradal. Er schnalzte mit den Fingern, und einer seiner Diener legte ihm einen Kasten aus poliertem Rosenholz in die Hände. Dann verneigte er sich und reichte ihn Muriele. »Gewiss ist das doch für meinen Sohn bestimmt, Erzgrefft«, sagte Muriele. »Geschenk?«, nuschelte Charles. »Nein, Mylady. Es ist für Euch. Ein Zeichen der Gewogenheit.« »Von Marcomir?«, fragte sie. »Einem verheirateten Mann? Doch nicht zu gewogen, will ich hoffen.« Aradal lächelte. »Nein, Mylady Es ist von seinem Sohn, Prinz Berimund.« »Berimund?« Sie hatte Berimund zum letzten Mal gesehen, als er fünf Jahre alt gewesen war, und das schien noch nicht allzu lange her zu sein. ».K/ezVz-Berimund?« »Der Prinz ist jetzt dreiundzwanzig, Königinmutter.« »Ja, und deshalb könnte ich leicht seine Mutter sein«, entgegnete Muriele. Gedämpftes Gelächter war daraufhin ringsum im Hofstaat zu vernehmen. Aradals Gesicht wurde noch röter. »Mylady -« »Lieber Aradal, ich scherze doch nur«, beschwichtigte sie. »Lasst uns sehen, was der Prinz uns geschickt hat.« Der Diener öffnete den Kasten und brachte eine erlesene Gürtelkette aus geschmiedetem Gold mit Smaragden zum Vorschein. Muriele lächelte etwas breiter, ließ ein wenig die Zähne sehen. »Sie ist bezaubernd«, sagte sie. »Aber wie kann ich sie annehmen? Ich trage bereits die Kette des Hauses Dare. Zwei kann ich nicht tragen.« Aradals Gesicht verfärbte sich ein wenig. »Euer Majestät, lasst mich offen sprechen. Die Freundschaft, die mein Herr Berimund Euch entbietet, ist von geneigtester Natur. Er wünscht Euch zu seiner Braut zu machen - und eines Tages zur Königin von Hansa.« »O weh«, erwiderte Muriele. »Großherziger und großherziger, wann ist denn der Prinz in dieser großen Liebe für mich ent131 brannt? Ich bin über die Maßen geschmeichelt. Dass eine Frau meines Alters noch solche Leidenschaft wecken kann -« Sie brach ab, wohl wissend, dass sie nur Augenblicke davon entfernt war, die Worte auszusprechen, die einen Krieg auslösen würden. Sie hielt inne und atmete tief durch, ehe sie fortfuhr. »Das Geschenk ist wunderbar«, sagte sie. »Doch ich fürchte, dass mein Kummer noch zu frisch ist, um es anzunehmen. Wenn es dem Prinzen mit seinen Absichten ernst ist, so bitte ich ihn darum, dass er mir Zeit geben möge, um mich zu erholen, bevor er seine Werbung fortsetzt.« Aradal verbeugte sich, dann trat er näher und senkte die Stimme. »Majestät«, flüsterte er. »Seid nicht unklug. Ihr
mögt mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe Euren Gatten nicht nur geachtet, ich habe ihn geschätzt. Ich bin nur ein Bote - ich setze keine Staatsangelegenheiten in Hansa in Bewegung. Aber ich weiß ein wenig über Eure Stellung hier, und sie ist gefährdet. In Zeiten wie diesen müsst Ihr an Eure Sicherheit denken. William hätte das gewollt.« Muriele dämpfte ihrerseits die Stimme, um sie der des Erzgreffts anzupassen. »Maßt Euch nicht an, für den Geist meines Gemahls zu sprechen«, erwiderte sie. »Er ist noch nicht sehr lange kalt. Dieses Angebot, zu diesem Zeitpunkt, ist unangemessen. Das wisst Ihr, Aradal. Ich habe gesagt, ich ziehe es in Erwägung, und das werde ich auch tun. Das ist das Beste, was ich im Augenblick anbieten kann.« Aradals Stimme wurde noch leiser, während alle im Saal sich anstrengten, dem Gespräch zu folgen. »Ich stimme Euch zu, Lady, dass der Zeitpunkt nicht gut gewählt ist«, gestand er. »Ich hätte diese Angelegenheit nicht so gehandhabt. Aber die Zeit ist gegen uns alle. Die Welt ist randvoll mit Krieg und Verrat. Wenn Ihr schon nicht an Eure Sicherheit denken wollt, so denkt an Euer Volk. Nach allem, was geschehen ist, braucht Crothenien da einen Krieg?« Muriele zog die Brauen zusammen. »Ist das eine Drohung, Erzgrefft?« »Ich würde Euch niemals drohen, Lady. Ich empfinde nichts als Mitleid für Eure Lage. Aber es ist keine Drohung, finstere Wolken 132 zu betrachten und zu vermuten, dass ein Sturm heraufzieht. Es ist keine Drohung, einem Freund zu raten, Schutz zu suchen.« »Ihr seid ein Freund«, log Muriele. »Das sehe ich. Ich werde Euren Rat gründlich in Erwägung ziehen, aber ich kann und werde Euch heute keine Antwort geben.« Aradals Miene war grimmig, doch er nickte. »Wie Ihr wünscht, Majestät. Doch wenn ich an Eurer Stelle wäre, Euer Hoheit, würde ich nicht zu lange zögern.« »Ihr werdet nicht eine einzige weitere Sekunde zögern«, brüllte Fail de Liery Sein Gesicht war vor Wut so rot, dass sein Haar eine weiße Rauchwolke hätte sein können, die von ihm aufstieg. »Ihr werdet dieser aufgeblasenen hansischen Auster sagen, dass Ihr jegliche Annäherungsversuche seines schwachköpfigen Prinzen aufs Nachdrücklichste zurückweist.« Muriele sah einen Moment lang zu, wie ihr Onkel wie ein angeketteter Birsirk auf und ab lief. Der Hof hatte sich zurückgezogen, und sie befanden sich in ihrem privaten Sonnenzimmer, einem Gemach, das ebenso offen und luftig war wie der Thronsaal kalt und hart. »Ich muss mir den Anschein geben, alle Angebote in Betracht zu ziehen«, sagte sie. »Nein«, wehrte er ab und zeigte mit dem Finger auf sie. »Das ist ganz sicher nicht wahr. Ihr könnt nicht ernsthaft darüber nachdenken - oder auch nur so tun, als tätet Ihr es -, das Reich Crothenien Marcomirs Erben auszuliefern.« Muriele verdrehte die Augen. »Welchem Erben? Selbst wenn ich ihn heiraten würde, müsste ich erst einmal einen zur Welt bringen. Selbst wenn ich wollte - und das tue ich nicht -, glaubt Ihr wirklich, dass ich in meinem Alter dazu imstande wäre?« »Das ist egal«, fauchte Sir Fail. »Hier greift ein Rad ins nächste. Euch zu heiraten verhilft ihm zum Thron, in jeder Hinsicht, außer dem Namen nach.« Er schlug mit der flachen Hand auf das Fenstersims. »Ihr müsst Lord Selqui heiraten«, blaffte er. Muriele zog eine Braue empor. 133 »Muss ich?«, fragte sie kalt. »Ja, Ihr müsst. Das ist unbedingt das Beste, und ich habe gedacht, Ihr würdet das einsehen.« Sie erhob sich, ballte die Fäuste so fest, dass ihr die Nägel in die Handflächen schnitten. »Ich habe mir jetzt fünf Heiratsanträge angehört, während Williams Atem noch warm im Wind treibt. Ich bin so geduldig und so liebenswürdig gewesen, wie es mir nur möglich ist. Aber Ihr seid mehr als ein ausländischer Gesandter, Fail de Liery. Ihr seid mein Onkel. Von meinem Blut. Ihr habt mich auf Euer Knie gesetzt, als ich fünf war, und mir vom Wasserpferd erzählt, und ich habe gelacht wie jedes andere Kind und Euch geliebt. Jetzt seid Ihr einer von denen geworden, ein weiterer Mann, der in mein Haus marschiert und mir sagt, was ich zu tun habe. Von Euch lasse ich mir das nicht gefallen, Oheim. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, und Ihr werdet meine Zuneigung nicht ausnutzen.« Fail riss die Augen auf, dann wurden seine Züge ein wenig weicher. »Muriele«, sagte er, »es tut mir Leid. Aber wie Ihr sagt, wir sind vom selben Blut. Ihr seid eine de Liery. Die Kluft zwischen Crothenien und Liery wird größer. Das ist nicht Eure Schuld -aber da war etwas, das William im Schilde geführt hat. Habt Ihr gewusst, dass er der Salzmark Schiffe für ihren Krieg gegen die Kummerinseln geliehen hat?« »Das ist ein Gerücht«, erwiderte Muriele. »Es geht auch das Gerücht um, dass lierische Bogenschützen meinen Gemahl getötet haben.« »Das könnt Ihr doch nicht glauben. Die Beweise dafür waren ganz offenkundig erfunden.« »Im Augenblick könnt Ihr Euch nicht vorstellen, was ich glaube«, gab Muriele zurück. Fail schien eine Bemerkung herunterzuschlucken, dann seufzte er. Plötzlich sah er uralt aus, und einen Augenblick lang wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihn zu umarmen, die raue alte Wange an der ihren zu
spüren. »Was auch immer die Ursache ist«, sagte Fail, »das Problem 134 bleibt bestehen. Ihr könnt diese Wunde heilen, Muriele. Ihr könnt unsere Länder wieder zusammenführen.« »Und Ihr glaubt, Crothenien und Liery können gemeinsam Hansa trotzen?« »Ich weiß, dass es allein keiner von uns beiden kann.« »Das war nicht meine Frage.« Er blies die Backen auf und nickte. »Ich bin eine de Liery«, sagte sie. »Ich bin auch eine Dare. Zwei Kinder sind mir geblieben, und beide sind Erben dieses Throns. Ich muss ihn für sie bewahren.« Fails Stimme wurde noch sanfter. »Es ist wohl bekannt, dass Charles keine Kinder zeugen kann.« »Den Heiligen sei Dank, sonst müsste ich mich mit Anträgen für seine Hand befassen.« »Dann meint Ihr Anne, wenn Ihr von Erben sprecht. Muriele, für Williams Einsetzung seiner Töchter als Erben gibt es so gut wie keinerlei Beispiel. Die Kirche ist dagegen - Praifec Hespero zieht bereits dafür zu Felde, das Gesetz annullieren zu lassen. Und selbst wenn es Bestand hat, was ist, wenn Anne ...« Er stockte, seine Lippen wurden schmal. »Was ist, wenn Anne tot ist?« »Anne lebt.« Fail nickte. »Ich hoffe inständig, dass Anne noch am Leben ist. Nichtsdestotrotz, es gibt noch andere Erben, die in Betracht gezogen werden könnten, und Ihr wisst, dass sie auch in Betracht gezogen werden.« »Nicht von mir.« »Vielleicht werdet Ihr das nicht entscheiden.« »Ich werde sterben, lange bevor ich einen von Ambria Grammes Bastarden den Thron besteigen sehe.« Fail lächelte grimmig. »Sie ist sehr umtriebig in Staatsangelegenheiten«, sagte er. »Sie hat mehr als die Hälfte des Comven auf ihre Seite gebracht, wie Euch bekannt sein muss. Muriele, Ihr müsst Euch versöhnen, sowohl mit dem Comven als auch mit dem Volk Eures Vaters. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Crothenien noch tiefer zu spalten.« 135 »Ebenso wenig ist es der richtige Zeitpunkt, zur lierischen Herrschaft zurückzukehren.« »Das schlage ich auch nicht vor.« »Genau das schlagt Ihr sehr wohl vor.« »Muriele, Liebes, es muss etwas geschehen. So kann es nicht weitergehen. Charles besitzt nicht das Vertrauen der Menschen - er wird es nie besitzen. Sie wissen, dass die Heiligen ihn berührt haben, und in freundlicheren Zeiten wäre ihnen das vielleicht gleichgültig. Aber es passieren schreckliche Dinge, Dinge jenseits unseres Verständnisses. Manche sagen, das Ende der Welt stehe bevor. Sie wollen einen starken Führer, einen mächtigen Führer. Und da ist immer noch die Tatsache, dass er keinen Erben zeugen kann.« »Anne könnte eine starke Führerin sein.« »Anne ist ein eigenwilliges Kind, und das ganze Königreich weiß das. Außerdem wird mit jedem Tag das Gerücht lauter, dass Anne das Schicksal ihrer Schwestern teilt. Die Gefahren an Euren Grenzen mehren sich. Wenn Ihr Hansa den Thron nicht durch eine Heirat gebt, werden sie ihn sich mit Gewalt holen. Nur ihre Hoffnungen und die schwache Sorge, dass die Kirche eingreifen könnte, haben sie so lange zaudern lassen.« »Das weiß ich alles«, sagte Muriele müde. »Dann wisst Ihr auch, dass Ihr handeln müsst, bevor sie es tun.« »Ich darf nicht voreilig handeln. Selbst wenn ich mich mit Selqui vermählen würde, würde das ebenso viele erzürnen wie erfreuen. Wenn ich das Angebot aus Hornladh ausschlage, ist es durchaus möglich, dass sie sich mit Hansa gegen uns verbünden. Es gibt hier keinen klaren Kurs für mich, Sir Fail. Euer Kurs wird durch Eure Treuepflichten deutlich bestimmt. Meinen Weg machen die meinen unsichtbar. Ich brauche wirklichen Rat, echte Möglichkeiten, nicht diesen fortwährenden Druck aus allen Richtungen. Ich brauche einen Menschen, auf den ich zählen kann, einen Menschen, der keine Verpflichtungen hat außer mir gegenüber.« »Muriele -« 136 »Nein. Ihr wisst, dass Ihr das nicht sein könnt. Lierisches Seewasser fließt in Euren Adern. Sosehr ich Euch auch liebe, Ihr wisst, dass ich Euch hierin nicht vertrauen kann. Ich wollte, ich könnte es, aber ich kann nicht.« »Wem könnt Ihr dann trauen?« Muriele spürte, wie ihr eine einsame Träne ins Auge stieg und über ihre Wange rollte. Sie wandte sich ab, damit er es nicht sah. »Niemandem natürlich. Bitte lasst mich allein, Sir Fail.« »Muriele -« Sie konnte hören, wie seine Stimme unter seinen Gefühlen brach. »Geht«, sagte sie. Kurz darauf hörte sie, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie ging ans Fenster, krallte die Finger um den Rahmen und fragte sich, wie Sonnenlicht so finster erscheinen konnte. 10. Kapitel Ospero Cazio trat zwischen Anne und Ospero. Er hob den Degen nicht, doch er hielt ihn weiter vor dem Körper.
»Wie ich den anderen Kerlen schon gesagt habe«, verkündete er energisch, »diese Ladys stehen unter meinem Schutz. Ich bin ebenso wenig gewillt, sie Euch auszuliefern wie ihnen.« Osperos Augen wurden schmal, und plötzlich wirkte er in der Tat äußerst gefährlich, auch ohne die mehr als zwanzig Mann, die sich hinter ihm versammelt hatten. »Nimm dich in Acht, wie du mit mir redest, Bursche«, sagte er. »Es gibt vieles, was du nicht weißt.« »Ganz bestimmt«, gab Cazio zurück. »Ich weiß nicht, wie viele Kerne in einem Granatapfel stecken. Ich weiß nicht, was für Mützen man in Herilanz trägt. Ich verstehe nicht das Geringste von der 137 Sprache der Hunde, und ich kann Euch nicht sagen, wie eine Wasserpumpe funktioniert. Aber ich weiß, dass ich geschworen habe, diese Damen zu beschützen, und beschützen werde ich sie.« »Ich habe deine Schützlinge nicht bedroht«, entgegnete Ospero. »Andererseits sind sie zu einer Bedrohung für mich geworden. Wenn Schwertkämpfer aus der Nordstadt in meine Stadt kommen, bin ich durchaus davon betroffen. Wenn ich mich gezwungen sehe, gegen sie vorzugehen, betrifft mich das umso mehr. Jetzt werde ich sie alle töten und ihre Leichen im Sumpf versenken müssen, und ich muss wissen, ob irgendjemand sie vermissen wird. Ich muss wissen, wer sie vermissen und wer nach ihnen suchen wird, wenn es denn jemand tut. Und vor allem muss ich wissen, warum sie überhaupt hier aufgetaucht sind.« »Und um die Belohnung macht Ihr Euch keine Gedanken?«, fragte Cazio zweifelnd. »So weit sind wir noch nicht gekommen«, erwiderte Ospero. »Und das werden wir auch nicht«, sagte Cazio. »Jetzt seid so freundlich und schickt Eure Männer weg.« »Junge -«, begann Ospero. »Ich weiß nicht, wer diese Männer waren«, platzte Anne heraus. »Ich weiß nur, dass irgendjemand meinen Tod will und bereit ist, dafür zu bezahlen. Eure anderen Fragen kann ich nicht beantworten, weil ich die Antworten nicht weiß. Ich danke Euch für Eure Hilfe gegen diese Männer, Ospero. Ich glaube, dass Ihr im Innern ein Ehrenmann seid und dass Ihr die Situation nicht ausnutzen werdet.« Ospero lachte rau auf, und viele seiner Männer taten es ihm nach. »Ich bin kein Ehrenmann«, sagte er. »Dessen könnt Ihr Euch sicherer sein als alles anderen.« Cazio hob bedächtig den Degen. »Das willst du bestimmt nicht tun, Junge«, sagte Ospero. »Ich glaube, ich weiß besser als Ihr, was ich will«, entgegnete Cazio hochmütig. Ospero nickte leicht. Dann bewegte er sich mit verblüffender Geschwindigkeit, duckte sich und schwang sein Bein herum, so138 dass er Cazios vorderen Fuß traf. Cazio wurde halb herumgewirbelt, und Ospero richtete sich auf, packte beinahe gemächlich seinen Schwertarm und verdrehte ihn, sodass der Degen klirrend zu Boden fiel. Wie durch Zauberei erschien ein Messer in seiner anderen Hand und zuckte zu Cazios Kehle empor. »Ich glaube«, sagte Ospero, »du brauchst eine Lektion in Respekt.« »Von solchen Lektionen braucht er eine Menge«, ließ sich eine neue Stimme vernehmen. »Z'Acatto!«, schrie Austra. Es war tatsächlich der alte Mann, der da die Straße herunter auf sie zugeschlurft kam. »Was habt Ihr mit ihm vor, Ospero?«, erkundigte sich z'Acatto. »Ich überlege mir gerade, ob ich ihn schnell oder langsam ausbluten lassen soll.« »Tut Euch keinen Zwang an«, knirschte Cazio. »Ich würde Euch raten, es schnell zu tun«, sagte z'Acatto. »Sonst hält er nur eine langatmige Rede.« »Das sehe ich«, erwiderte Ospero nachdenklich. »Z'Acatto!«, rief Cazio. Der Alte seufzte. »Lasst ihn lieber los.« Anne wappnete sich. Sie wusste, dass z'Acatto, seinem Äußeren zum Trotz, ein Mestro des Degens war, und sie wusste auch, dass er eine tiefe Zuneigung für Cazio hegte. Er würde den Jüngeren nicht kampflos sterben lassen. Könnte sie noch einmal die Macht Cers heraufbeschwören, Ospero blenden und ihn dazu bringen, das Messer fallen zu lassen? Sie würde es versuchen müssen, um ihrer aller willen. Doch zu ihrer Überraschung senkte Ospero die Klinge und trat zurück. »Selbstverständlich, Emratur.« Cazio sah aus wie vor den Kopf geschlagen. »Emratur?«, fragte er. »Was soll das? Emratur?« »Still, Junge«, brummte z'Acatto. »Sei einfach froh, dass du am Leben bist.« Er wandte sich an Ospero. »Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten.« 139 Ospero nickte. »Es hat den Anschein, als gäbe es Dinge, die Ihr mir nicht erzählt habt.« Auch z'Acatto nickte. »Cazio, geleite die Casnaras zurück ins Zimmer. Ich komme gleich nach.« »Aber -« »Widersprich zur Abwechslung einmal nicht«, knurrte z'Acatto. Osperos Männer zerstreuten sich, während die beiden Älteren zusammen davongingen. Cazio sah ihnen nach, dann seufzte er und schob Caspator in die Scheide. »Ich wünschte, ich wüsste, was das eben sollte.« »Was war das für ein Name, mit dem Ospero z'Acatto angesprochen hat?«, fragte Anne. »Emratur? So habe ich
Euch ihn noch nie nennen hören.« »Kommt«, sagte Cazio. »Wir tun lieber, was er sagt.« Er setzte sich in Bewegung. Anne folgte ihm. »Cazio?«, drängte sie beharrlich. »Cazio hat uns gerade das Leben gerettet«, erinnerte Austra sie. »Wieder einmal.« Anne achtete nicht auf sie. »Ihr habt überrascht ausgesehen«, bemerkte sie. »Das ist kein Name«, knurrte Cazio. »Es ist ein Titel. Der Befehlshaber über hundert Männer.« »Ihr meint, wie in einer Armee?« »Ja, wie in einer Armee.« »War z'Acatto ein Emratur?« »Wenn er einer war, hatte ich keine Ahnung davon.« »Ich dachte, Ihr kennt ihn schon Euer ganzes Leben lang.« Sie hatten die Treppe zu ihrer Unterkunft erreicht, und Cazio schickte sich an hinaufzusteigen. »So ist es auch. Nun, sozusagen. Er war ein Diener meines Vaters; er hat meine Brüder und mich in der Dessrata unterwiesen. Aber als ich noch klein war, ist er manchmal monatelang verschwunden. Wahrscheinlich hat er da irgendwo gekämpft. Mein Vater hatte damals viel Einfluss. Er könnte hundert Mann befehligt haben.« 140 »Aber z'Acatto dient Eurem Vater immer noch.« »Nein. Mein Vater hat sein Vermögen verloren und ist schließlich in einem Duell getötet worden. Ich habe z'Acatto geerbt, zusammen mit einem Haus in Avella. Das ist alles, was vom Besitz meines Vaters übrig geblieben ist.« »Oh. Das tut mir Leid.« Tränen stiegen Anne in die Augen. In all der Aufregung hatte sie ein paar Augenblicke lang ganz und gar vergessen zu trauern. Cazio blieb stehen. Er sah ein wenig verwirrt aus und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das ist vor langer Zeit passiert«, sagte er. »Es gibt keinen Grund für Euch zu weinen.« »Ich habe nur gerade an etwas gedacht«, murmelte Anne. »Das ist alles. An jemanden, den ich verloren habe.« »Oh.« Er schaute auf seine Füße hinab, dann hob er den Blick wieder und begegnete dem ihren. »Es tut mir Leid, dass ich so schroff bin«, sagte er. »Ich bin nur - nun, ich wünschte, ich wüsste, was hier vorgeht. Ich dachte mir bereits, dass irgendetwas komisch war, als z'Acatto hier eine Bleibe für uns gefunden hat, dass er Ospero schon früher gekannt haben muss - es war zu einfach, und er hat uns sogar Kredit gegeben. Jetzt bin ich mir ganz sicher. Ich weiß nur nicht, was das bedeutet.« »Dann vertraut Ihr z'Acatto nicht?« »Ich glaube nicht, dass er mich jemals hintergehen würde, falls Ihr das meint«, antwortete Cazio. »Aber mit seinem Urteilsvermögen ist es manchmal nicht zum Besten bestellt. Schließlich hat er zugelassen, dass mein Vater getötet wurde.« »Wieso war das z'Acattos Schuld? Was ist passiert?« »Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ich weiß, dass z'Acatto sich deswegen schuldig fühlt. Danach hat er angefangen, ständig zu trinken. Und er muss nicht bei mir bleiben - ich habe nicht das Geld, um ihn zu entlohnen. Trotzdem tut er es, und das muss daran liegen, dass er sich schuldig glaubt.« »Vielleicht bleibt er aus Liebe«, meinte Austra. »Ha«, sagte Cazio und wischte diese Möglichkeit mit einer Handbewegung zur Seite. 141 »Aber wer ist Ospero? Ich dachte, er wäre nur unser Hauswirt.« »O ja - er ist der Hauswirt der meisten hier im Perto Veto. Außerdem hat er die Kontrolle über vieles, was auf den Kais passiert. Und über die Ladys, die ich beschütze. Hier im Viertel nennen sie ihn zo cassro - den Herrn. Kein Taschendieb greift zu, ohne dass er davon weiß.« »Er ist ein Verbrecher?« »Nein. Er ist der Fürst der Verbrecher, zumindest in diesem Viertel.« »Was machen wir jetzt?«, wollte Anne wissen. »Bis das richtige Schiff vorbeikommt und wir genug Geld haben, um für unsere Überfahrt zu bezahlen, können wir gar nichts machen. Sie suchen Euch jetzt überall. Hier sind wir sicherer als irgendwo sonst. Falls z'Acatto weiß, was er tut.« »Bestimmt weiß er das«, erwiderte Austra. »Hoffen wir's.« Anne sagte nichts. Abgesehen davon, dass er die meiste Zeit betrunken war, wusste sie nur sehr wenig von z'Acatto. Jetzt stellte sich heraus, dass Cazio nicht so viel über den alten Mann wusste, wie er geglaubt hatte. Es mochte wahr sein, dass z'Acatto Cazio niemals hintergehen würde. Doch das hieß nicht, dass Austra und Anne in Sicherheit waren - nicht im Mindesten. Teil II Neue Bekanntschaften Im Jahre 2223 von Everon Später Novmen Prismo, die erste Tonart, ist die Lampe des Tages. Sie beruft sich auf den heiligen Loy, die heilige Ausa, den heiligen Abullo und den heiligen Fei. Sie beschwört die helle Sonne und das blaue Gewölbe des Himmels herauf. Sie löst Zuversicht, Überschwänglichkeit, Ruhelosigkeit und unbesonnenes Verhalten aus.
Etrama, die zweite Tonart, ist die Lampe der Nacht. Sie beruft sich auf die heilige Soan, die heilige Cer, den heiligen Artumo. Sie beschwört den Mond in all seinen Phasen herauf den bestirnten Himmel, zärtliche Nachtwinde. Sie löst Müdigkeit, Ruhe und Traum aus. aus Der Harmonium-Kodex von Elgin Widsel Prismo, die erste Parade, wird so genannt, weil sie am einfachsten durchzuführen ist, nachdem man den Degen aus der Scheide gezogen hat. Die Riposte ist linkisch. Etrama, die zweite Parade, heißt aus keinem bestimmten Grunde so, ist jedoch eine wirksamere Abwehr gegen Angriffe von der Flanke. übersetzt aus Obsao Dazo Chiadio (»Werk des Degens«) von Mestro Papo Avradio Vallaimo HM
11. Kapitel Ein Zweikampf Ich glaube, dieser Mann will uns töten, Hurrikan«, sagte Neil zu seinem Pferd und klopfte dem Hengst den Hals. Dann zuckte er die Achseln, holte tief Atem und betrachtete den Himmel. Er hatte immer gedacht, der Himmel wäre der Himmel - wandelbar mit dem Wetter, gewiss, doch im Großen und Ganzen derselbe, wo immer man hinging. Hier im Süden jedoch war sein Blau irgendwie anders, kühner. Das passte zu dem Rest der Fremdartigkeit - die weiten, sonnengetränkten Felder und Weingärten, die weiß verputzten Häuser mit ihren roten Ziegeldächern, die niedrigen, knorrigen Eichen und schlanken Zedern, die die Landschaft prägten. Es war schwer, zu glauben, dass eine solche Gegend in derselben Welt existierte wie sein kaltes, nebliges Heimatland - besonders jetzt, wo der Monat Novmen halb vergangen war. Skern war zurzeit wahrscheinlich unter einer Schneeschicht von einer Königselle Dicke begraben. Hier schwitzte er ein wenig unter seinem gesteppten Wams und seiner Rüstung. Das Wundersame an alldem entging Neil nicht. Er erinnerte sich an seine Ehrfurcht, als er Eslen zum ersten Mal gesehen hatte, wie groß die Welt einem Knaben von einer kleinen Insel in der Lierischen See erschienen war. Und doch hatte er in den letzten Monaten das Gefühl gehabt, als sei die Welt um ihn herum geschrumpft, und das Schloss von Eslen war zu nicht viel mehr als einer Schachtel geworden. Jetzt kam ihm die Welt größer denn je vor, und das ließ ihn eine Art melancholisches Glück empfinden. In einer so weiten Welt waren die Traurigkeit und die Ängste von Neil MeqVren nichts gar so Großes. 145 Selbst diese gemischte Freude ging mit einem gewissen Maß an Schuldgefühlen einher. Die Königin lebte in ständiger Gefahr, und sie zu verlassen, aus welchem Grund auch immer, kam ihm falsch vor. Doch sie hatte diesen Weg für ihn gewählt, sie und die Geister von Erren und Fastia. Gewiss wussten sie besser als er, was das Richtige war. Trotzdem sollte es ihm keine Freude bereiten. Er hörte Gebrüll, und ihm wurde klar, dass der Mann auf der Straße es nicht schätzte, zugunsten des Himmels einfach ignoriert zu werden. »Um Vergebung«, rief Neil in der Sprache des Königs zurück, »aber ich kann Euch nicht verstehen. Ich wurde nicht in der Sprache Vitellios unterwiesen.« Der Mann antwortete mit etwas ähnlich Unverständlichem, das diesmal an einen seiner Knappen gerichtet war. Jedenfalls nahm Neil an, dass es Knappen waren, weil er den brüllenden Mann für einen Ritter hielt. Er saß auf einem kräftigen Ross, einem Rappen mit weißer Blesse, der eine leicht gepanzerte Schabracke trug. Der Mann war ebenfalls gerüstet - sein Panzer war von merkwürdiger Machart und ungemein schmuck, mit Eichenblattreliefs an den Gelenken, nichtsdestotrotz war es eine Herrenrüstung. Den Helm trug er unter dem Arm, doch Neil konnte erkennen, dass er kegelförmig war, mit einem Busch bunter Federn, die fast wie ein Hahnenschweif angeordnet waren. Anstelle eines Überwurfs trug er ein rot-gelbes Gewand, und auf seinem Schild prangte etwas, das ein Wappen sein mochte - eine geballte Faust, eine Sonne, eine Art Beutel. Die Symbole hatten in der Wappenkunde, die Neil geläufig war, keinerlei Bedeutung, doch er war schließlich, wie er gerade bei sich gedacht hatte, sehr weit weg von zu Hause. Der Ritter hatte vier Männer in seinem Gefolge; keiner davon trug eine Rüstung, doch alle waren in rote Überwürfe gekleidet, auf denen das gleiche Muster aufgenäht war, das er auf dem Schild trug. Ein großes Zelt war am Straßenrand errichtet worden, über dem ein Wimpel flatterte, der lediglich das Sonnenzeichen auf146 wies. Drei Pferde und zwei Maultiere grasten auf den Wiesen entlang der zerfurchten roten Straße. Einer der Männer schrie: »Mein Herr fordert, dass Ihr Euch zu erkennen gebt!« Er hatte ein langes, knochiges Gesicht und ein Haarbüschel am Kinn, das als Bart durchzugehen versuchte. »Wenn Ihr dies nicht in einer zivilisierten Sprache zuwege bringt, so sprecht nur jedwedes Kauderwelsch, das Euch beliebt, und ich werde übersetzen.« »Ich bin ein Wanderer«, erwiderte Neil. »Mehr als das darf ich Euch nicht sagen, fürchte ich.« Ein kurzes Gespräch zwischen dem Ritter und seinem Knappen folgte, dann wandte der Diener sich wieder an Neil.
»Ihr tragt die Rüstung und die Waffen eines Ritters. In wessen Diensten seid Ihr unterwegs?« »Diese Frage kann ich nicht beantworten«, sagte Neil. »Bedenkt Euch wohl, Sir«, riet der Mann. »Es verstößt in diesem Lande gegen das Gesetz, die Rüstung eines Ritters zu tragen, wenn man nicht die Berechtigung dazu besitzt.« »Ich verstehe«, erwiderte Neil. »Und wenn ich ein Ritter bin und es beweisen kann, was wird Euer Herr dann dazu sagen?« »Er wird Euch zum ehrenvollen Zweikampf herausfordern. Nachdem er Euch getötet hat, wird er sich Eure Rüstung und Euer Pferd aneignen.« »Ah. Und wenn ich mich bloß als Ritter verkleidet habe?« »Dann ist mein Herr gezwungen, Euch mit einer Geldbuße zu belegen und Euer Eigentum einzuziehen.« »Nun«, sagte Neil, »dann spielt es ja keine große Rolle, wie ich mich nenne, oder? Zum Glück habe ich einen Speer.« Die Augen des Knappen wurden kreisrund. »Wisst Ihr denn nicht, wen Ihr vor Euch habt?« »Ich würde ja fragen, aber da ich meinen Namen nicht nennen kann, wäre es unhöflich, den seinen zu verlangen.« »Kennt Ihr sein Emblem nicht?« »Ich fürchte, nein. Können wir das hier dann hinter uns bringen?« 147 Wieder sprach der Diener mit seinem Herrn. Als Antwort setzte der Ritter seinen Helm auf, legte die Lanze an und brachte seinen Schild in Position. Neil tat das Gleiche, wobei ihm auffiel, dass seine eigene Waffe fast eine ganze Königselle kürzer war als die seines Gegners. Der vitellianische Ritter sprengte zuerst los; sein Schlachtross schleuderte in der Abendsonne eine Wolke roten Staubes empor. Neil trieb Hurrikan zum Galopp an und senkte die Spitze seines Speers zum Stoß. Hinter den wogenden Feldern stob eine Wolke Vögel aus einer entfernten Baumreihe auf. Einen Augenblick lang schien alles sehr still. Im letzten Moment verlagerte Neil sein Gewicht im Sattel und drehte plötzlich seinen Schild, sodass die Eisenspitze seines Feindes schräg auftraf, statt direkt dagegenzuprallen. Der Stoß ließ seine Zähne aufeinander schlagen und riss eine Schmarre in seinen Schild, doch er schwang die Spitze seiner eigenen Waffe nach rechts, denn sein Gegner drehte sich in einem ähnlichen Manöver. Er traf den Schild des Vitellianers dicht am Rand, und die ganze Wucht seines Stoßes krachte in den Ritter. Neils Speer brach ab; die Spitze blieb tief im Schild des Fremden stecken. Im Vorbeifegen sah er den Vitellianer im Sattel zurückschwanken, doch als er wendete, bemerkte er, dass es seinem Gegner irgendwie gelungen war, oben zu bleiben. Neil grinste wild und zog Krähe. Der andere Ritter musterte ihn einen Augenblick, dann reichte er einem seiner Männer seine Lanze und zog ebenfalls sein Schwert. Sie prallten wie Donner aufeinander, Schild gegen Schild. Krähe schlug darüber hinweg und klirrte gegen den Helm des Vitellianers, und der fremde Ritter traf Neil mit einem Hieb an der Schulter, der ihm mit Sicherheit den Arm abgetrennt hätte, wäre der Stahl nicht gewesen, der ihn umhüllte. Einen Moment lang rangen sie so miteinander; die Pferde quetschten ihnen zwischen wogenden Flanken die Beine, doch sie waren zu nahe, um schwere Schläge anzubringen. Hurrikan löste sich aus dem Knäuel, und Neil warf ihn herum 148 und schlug fast instinktiv zu. Er traf seinen Feind genau am Hals und schickte ihn krachend zu Boden. Der Rappe stampfte heftig und blieb stehen, um seinen Herrn zu beschützen. Erstaunlicherweise kam der Ritter zittrig wieder auf die Beine. Seine Halsberge und die dicke Binde darunter hatten die Schneide abgefangen, doch es war ein Wunder, dass sein Genick nicht gebrochen war. Neil stieg ab und schritt auf seinen Gegner zu. Der Vitellianer holte mit dem Schwert zu einem Rundschlag aus, doch Neil rammte ihn mit seinem Schild, sodass er einen Schritt zurücktaumelte. Neil nutzte die größere Entfernung, um seinerseits einen Hieb anzubringen, der den Waffenarm des Mannes an der Schulter traf. Die Rüstung dröhnte wie eine Glocke, und das Schwert seines Feindes fiel klappernd zu Boden. Neil wartete darauf, dass er es aufhob. Stattdessen jedoch ließ der Ritter den Schild fallen und nahm den Helm ab, wobei ein von mittleren Jahren gerundetes Gesicht, wirres, von Silber durchzogenes schwarzes Haar sowie ein gepflegter Schnurr- und Kinnbart zum Vorschein kamen. Seine Nase war ein wenig formlos, als sei sie zu oft gebrochen worden. »Ihr seid ein Ritter«, gab der Mann in der Sprache des Königs zu. Er sprach mit hörbarem Akzent, war jedoch durchaus zu verstehen. »Auch wenn Ihr mir Euren Namen nicht nennen wollt, muss ich mich Euch dennoch ergeben, denn ich glaube, Ihr habt mir den Arm gebrochen. Ich bin Sir Quinte dac'Ucara, und es ehrt mich, Euch im Zweikampf gegenübergestanden zu haben. Werdet Ihr mein Gast sein?« Doch ehe Neil antworten konnte, schwanden Sir Quinte die Sinne, und seine Knappen eilten an seine Seite. Neil wartete, während Sir Quintes Männer ihn aus seiner Rüstung schälten und ihn mit einem parfümierten Tuch wuschen. Das Schlüsselbein war in der Tat gebrochen, also fertigten sie eine Schlinge für seinen Arm an. Währenddessen kam Sir Quinte wieder zu sich, doch falls ihm der zerschmetterte Knochen Schmer149
zen bereitete, so war es ihm kaum anzusehen, höchstens an seinen Augen. »Ich habe mich Eurer Sprache zuvor nicht bedient«, sagte er, »weil ich Euch nicht kannte und es sich nicht geziemt hätte, in meinem Heimatland eine fremde Sprache zu sprechen. Aber Ihr habt mich besiegt, also wird Virgenyanisch die Sprache dieses Lagers sein.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf seine verbeulte Rüstung. »Sie gehört Euch«, erklärte er, »genau wie zo Cabadro, mein Ross. Behandelt ihn gut, ich bitte Euch - er ist ein wunderbares Pferd.« Neil schüttelte den Kopf. »Ihr seid großherzig, Sir Quinte, aber ich brauche beides nicht. Ich muss mit leichtem Gepäck reisen, und beides würde mich behindern.« Quinte lächelte. »Ihr seid es, der großherzig ist, Sir. Wollt Ihr diese Großherzigkeit nicht vergrößern, indem Ihr mir Euren Namen verratet?« »Ich darf nicht, Sir.« Sir Quinte nickte weise. »Ihr habt einen Schwur getan. Ihr seid in geheimem Auftrag unterwegs.« »Ihr könnt vermuten, was Euch beliebt.« »Ich respektiere Euren Wunsch«, sagte Sir Quinte, »aber irgendwie muss ich Euch anreden. Sir zo Viotor sollt Ihr sein.« »Diesen Namen verstehe ich nicht.« »Er bedeutet nicht mehr als das, als was Ihr Euch selbst bezeichnet habt, >der Wanderen. Ich habe es ins Vitellianische übersetzt, damit Ihr weniger gebildeten Leuten erklären könnt, wer Ihr seid.« »Dann habt Dank«, erwiderte Neil aufrichtig. Sir Quinte wandte sich an einen seiner Männer. »Arvo, bring uns Wein und Speisen.« »Bitte, ich muss weiter«, wehrte Neil ab. »Obgleich ich Euch für das Angebot danke.« »Es ist spät. Lord Abullo senkt seinen Streitwagen zum Weltende herab, und sogar Ihr - gewaltiger Kämpfer, der Ihr sein mögt -müsst schlafen. Meine Gastfreundschaft anzunehmen wird Euer 150 Streben nicht allzu sehr beeinträchtigen, und es würde mir große Freude bereiten.« Trotz Neils Einspruch war Arvo bereits dabei, ein Tuch auf dem Boden auszubreiten. »Nun gut«, gab Neil nach. »Ich nehme Eure Freundlichkeit an.« Bald war das Tuch mit Speisen bedeckt, die Neil zum größten Teil nicht kannte. Es gab natürlich Brot und eine Art harten Käse und Birnen. In einer roten Frucht kamen zahllose perlenartige Körner zum Vorschein, wenn man sie aufschnitt. Sie schmeckten gut, waren aber nicht leicht zu essen. Kleine schwarze Früchte waren salzig statt süß; der Wein war rot und schmeckte stark nach Kirschen. Erst als sie bereits zu essen begonnen hatten, fiel Neil ein, dass die Speisen vielleicht Schlafpulver oder Gift enthalten könnten. Ein Jahr zuvor wäre ihm etwas derart Unehrenhaftes niemals auch nur in den Sinn gekommen. Bei Hofe jedoch machten Ehre und die Voraussetzungen, die damit einhergingen, einen angreifbarer als alles andere. Doch Sir Quinte und seine Knappen aßen und tranken von allem, was Neil zu sich nahm, und der Gedanke verging. Wie seltsam sein Aussehen und seine Standarte auch sein mochten, Sir Quinte war ein Ritter, und er benahm sich wie einer - er würde Neil ebenso wenig vergiften wie Sir Fail de Liery, der alte chever, der ihn aufgezogen hatte, nachdem sein Vater gefallen war. Plötzlich erschien ihm Vitellio doch nicht so fremdartig. Die Vitellianer aßen langsam und hielten oft inne, um sich in ihrer eigenen Sprache, die in Neils Ohren mehr wie Gesang klang als wie gesprochene Worte, zu unterhalten oder zu streiten. Die Abenddämmerung wich einer angenehmen, kühlen Nacht. Sterne machten den Himmel zu einem Schatz, und wenigstens sie waren die Sterne, die Neil kannte. Nur dass man sie in Eslen nur selten zu sehen bekam. Hier blendeten sie einen geradezu. Sir Quinte wechselte einigermaßen betreten zurück in die Sprache des Königs. »Es tut mir Leid, Sir Viotor, dass ich Euch aus un151 serer Unterhaltung ausgeschlossen habe«, beteuerte er. »Nicht alle meine Knappen sprechen die virgenyanische Sprache, auch mein Historiker Volio nicht.« Er wies auf den ältesten seiner Männer, einen Gesellen mit quadratischem Schädel, auf dem lediglich ein Kranz grauer Haare wuchs. »Historiker?« »Ja, gewiss. Er schreibt meine Taten nieder - meine Siege und Niederlagen. Versteht Ihr, wir haben gerade gestritten, wie meine heutige Niederlage festgehalten werden soll - und was sie für die Zukunft zu bedeuten hat.« »Ist es denn so wichtig, dass sie überhaupt niedergeschrieben wird?«, wollte Neil wissen. »Die Ehre erfordert es.« Sir Quinte klang überrascht. »Vielleicht habt Ihr noch nie ein Duell verloren, Sir Viotor, aber wenn Ihr es tätet, könntet Ihr dann so tun, als sei es niemals passiert?« »Nein, aber das ist doch nicht das Gleiche, wie es aufzuschreiben.« Der Ritter zuckte die Achseln. »Die Gebräuche im Norden sind eben anders - dem lässt sich nicht widersprechen. Allerdings muss sich nicht jeder Ritter in Vitellio vor der Geschichte verantworten, aber ich bin ein Ritter des Berges, und mein Orden verlangt, dass meine Taten aufgezeichnet werden.« »Ihr dient einem Berg?«
Der Ritter lächelte. »Der Berg ist ein heiliger Ort, berührt von den Lords - die Ihr, glaube ich, die Heiligen nennt.« »Dann dient Ihr den Heiligen? Ihr habt keinen menschlichen Herrn?« »Ich diene den Gilden der Kaufleute«, antwortete Sir Quinte. »Sie sind dem Berg verschrieben.« »Ihr dient Kaufleuten?« Der Ritter nickte. »Ihr seid fremd hier, nicht wahr? Alles in allem gibt es vier Sorten Ritter in Vitellio. Jede Obergilde hat ihre Ritter - die Kaufleute, die Handwerker, die Seeleute und so weiter. Jeder Fürst - wir sagen Meddisso -, jeder Meddisso also befehligt Ritter. Dann gibt es natürlich die Ritter der Kirche. Und 152 schließlich haben die Richter ihre eigenen Ritter, die ihnen dienen, damit sie nicht von einem der anderen dazu genötigt werden können, unlautere Entscheidungen zu fällen.« »Was ist mit dem König?«, wollte Neil wissen. »Hat er keine Ritter?« Sir Quinte schmunzelte und wandte sich an seine Knappen. »Fatit, pispe dazo rediatur«, sagte er. Sie stimmten in sein Gelächter ein. Neil ließ sich seine Verwirrung nicht anmerken. »Vitellio hat keinen König«, erklärte Quinte. »Die Städte werden von den Meddissos regiert. Manche Meddissos regieren mehr als eine Stadt, aber keiner von ihnen herrscht über alle. Niemand hat seit dem Sturz der Hegemonie vor tausend Jahren über alle Städte geherrscht.« »Oh.« Neil konnte sich ein Reich mit einem Regenten vorstellen, doch er hatte noch nie von einem Land ohne König gehört. »Und«, fuhr Sir Quinte fort, »da ich der Gilde der Kaufleute diene, wünschen sie, dass Buch geführt wird. Dafür habe ich meinen Historiker.« »Aber Ihr habt auch etwas von einer Bedeutung für die Zukunft gesagt?« »Oh, fürwahr.« Sir Quinte hob den Finger. »Ein Kampf ist, als ob man die Knochen wirft oder die Karten liest. Es liegt eine Bedeutung darin. Schließlich sind es doch die Heiligen, die entscheiden, wer von uns den anderen besiegt, nicht wahr? Und wenn Ihr mich bezwungen habt, so hat das etwas zu bedeuten.« »Und was erkennt Euer Historiker darin?« »Eine Aufgabe. Ihr seid in einem äußerst wichtigen Auftrag unterwegs, und viel hängt davon ab. Das Geschick ganzer Reiche.« »Interessant«, sagte Neil und versuchte, keine Miene zu verziehen, obgleich seine Neugier geweckt war. »Deshalb muss ich mich Euch selbstverständlich anschließen. Die Heiligen haben es verkündet.« »Sir Quinte, Ihr braucht nicht -« »Kommt«, fiel ihm der Ritter ins Wort. »Wir haben getafelt. Ich 153 bin verwundet und erschöpft. Ihr selbst müsst zumindest ermüdet sein. Ich bitte Euch, teilt für diese Nacht die Gastlichkeit meines Feldlagers. Morgen brechen wir früh auf.« »Ich muss allein reisen«, wehrte Neil ab, allerdings widerwilliger, als er es erwartet hätte. Sir Quintes Gesicht erstarrte. »Misstraut Ihr mir? Ihr habt mich besiegt, Sir. Ich könnte Euch niemals verraten.« »Sir Quinte, ich habe zu meiner großen Betrübnis gelernt, dass nicht alle Männer - und damit will ich Euch nicht schmähen -, die behaupten, sich ehrenhaft zu verhalten, dies auch tun. Mein Ziel ist geheim, und so muss es auch bleiben.« »Solange Euer Ziel nicht das Dorf Buscaro ist, kann ich mir nicht vorstellen, was es sein könnte, ob nun geheim oder nicht.« »Buscaro?« Neil besaß eine Karte, doch er war nicht sehr bewandert darin, sie zu lesen. Seit er von der Vitellianischen Hochstraße abgebogen war, war er sich ein wenig unsicher gewesen, was den richtigen Weg anging. »Das ist der einzige Ort, zu dem diese Straße hinführt. Seid Ihr sicher, dass Ihr keinen ortskundigen Führer braucht?« Neil überlegte einen Moment lang. Wenn er sich verirrt hatte, hatte er mehr als nur die Orientierung verloren - er hatte auch Zeit eingebüßt. Wenn er von der rechten Straße abgekommen war, würde er irgendwann jemanden nach dem Weg fragen müssen. Aber nicht unbedingt eine Gruppe bewaffneter Männer. Trotzdem ... Er richtete den Blick wieder auf Sir Quintes ernstes Gesicht und seufzte. »Ihr täuscht mich doch nicht, Sir?« »Echi'dacrumi da ma matir. Bei den Tränen meiner Mutter.« Neil nickte. »Ich suche den Konvent der heiligen Cer«, sagte er widerstrebend, »auch bekannt als der Wohnsitz der Tugenden.« Sir Quinte stieß einen Pfiff aus. »Seht Ihr, es war der Wille der Heiligen, dass Ihr mir begegnet seid. Ihr habt vor etlichen Meilen den falschen Weg eingeschlagen.« Mahnend hob er den Finger vor Neil. »Es ist doch keine Schande, zuzugeben, dass man einen Führer braucht.« 154 Der junge Ritter dachte darüber nach. Wenn Sir Quinte ihm feindlich gesonnen war, konnte er Neil mit
Leichtigkeit folgen und ihn mit seinen Männern überwältigen, wann immer ihm der Sinn danach stand - in der Nacht, ohne Warnung. Wenn er mit ihnen zusammen wäre, wüsste er zumindest, wo sie sich befanden. Und er würde es erfahren, wenn sie einen Boten ausschickten. »Ich nehme Euer Angebot an, Sir«, sagte Neil. »Ich wäre froh über Eure Hilfe.« Trotzdem schlief er in dieser Nacht nur einen sehr leichten Schlaf, mit der Hand an Krähes Heft. Der nächste Morgen dämmerte kühl und klar, mit leichtem Raureif auf dem Gras. Sir Quintes Knappen hatten das Lager abgebrochen und alles zusammengepackt, bevor die Sonne sich auch nur vom Horizont gelöst hatte. Sie ritten die Straße zurück, die Neil heraufgekommen war, und binnen zweier Glockenschläge waren sie auf einen Pfad abgebogen, der ebenso gut von ein paar Ziegen hätte stammen können. »Das ist der Weg zum Konvent der heiligen Cer?«, fragte Neil und versuchte seine Zweifel zu verbergen. Er war noch immer alles andere als im Reinen mit seiner Entscheidung, sich dem Vitellianer anzuvertrauen, und achtete sorgsam darauf, keinen der Männer des Ritters ganz aus den Augen zu lassen. »Eine Abkürzung«, erklärte dieser. »Ihr habt Euch an der Kreuzung hinter Turoci vertan, beim Fluss. Dieser Weg wird uns in der Hälfte der Zeit auf die richtige Straße führen. Und ich vermute, dass die Zeit nicht auf Eurer Seite ist.« »Da habt Ihr Recht«, erwiderte Neil ernst. Je schneller er Anne fand und nach Eslen zurückkehrte, desto eher konnte er sich wieder seiner Aufgabe widmen, die Königin zu beschützen. »Dann sorgt Euch nicht. Ehe die Sterne heute Nacht hervorkommen, seid Ihr im Konvent der heiligen Cer.« Das bebaute Land wurde mit der Zeit wilder. Einer von Sir Quintes Knappen holte ein Saiteninstrument hervor, das aussah wie eine kleine Laute mit zu wenigen Saiten, und sang eine fröhli155 che Weise, von der Neil kein Wort verstand. Trotzdem war die Melodie hübsch, und als der Musikant geendet hatte, stimmte er ein neues Lied an. »Es ist eine Tragödie, dieses Lied«, erläuterte Sir Quinte. »Über die zum Untergang verurteilte Liebschaft eines Ritters mit einer Dame in einem Konvent. Sehr traurig.« Neil spürte, wie ein schwermütiges Lächeln über sein Gesicht huschte. »Ah!«, rief Sir Quinte aus. »Hier geht es also um eine Lady! In dem Konvent?« »Nein«, sagte Neil. »Eine Lady, wahrhaftig, aber sie ist sehr weit weg von dem Konvent.« »Ah.« Sir Quinte dachte eine Weile darüber nach. »Um Vergebung, Sir Viotor, für meine Fragen. Ich habe den Schmerz in Euch zuerst nicht bemerkt. Jetzt weist er Euch aus wie ein Wappen.« »Es ist nichts«, wehrte Neil ab. »Es ist alles andere als nichts. Ich fürchte weder Schwert noch Lanze, Sir Viotor, nicht einmal die Euren. Aber Liebe - das kann den größten Riesen bezwingen.« Er furchte die Stirn, machte Anstalten, etwas hinzuzufügen, und setzte dann sehr viel leiser erneut an. »Nehmt Euch in Acht, Sir Viotor. Ich weiß nichts über Eure Liebe und werde keine weiteren Fragen stellen, doch es will mir scheinen, dass Eure Dame für immer verloren ist, vielleicht jenseits der Gefilde, die uns bekannt sind. Wenn dies der Fall ist, müsst Ihr Euch sicher sein, dass Ihr Euer Herz kennt, denn Euer Herz wird ihre Stimme hören und versuchen, ihr zu antworten. Es könnte Euch an Lord Ontro und Lady Mefitis und ihr trostloses Königreich verraten, obwohl es Euch eigentlich noch bestimmt ist, viele Taten hier unter uns zu verrichten.« Neil fühlte, wie sich ihm jäh die Kehle zuschnürte, und einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete er, er würde in Tränen ausbrechen. Er würgte sie herunter. »Ihr scheint eine Menge über mich zu wissen, Sir Quinte.« »Ich weiß, was ich mutmaße. Lasst mich noch eines mutmaßen, und dann werde ich schweigen. Wenn Ihr darauf aus seid, durch 156 die Schwestern des Konvents Gehör bei den Verblichenen zu finden, so würde ich davon abraten. Der Preis ist fürchterlich.« »Jetzt kann ich Euch' gar nicht mehr folgen«, gestand Neil. »Wisst Ihr denn nichts über den Ort, zu dem Ihr wollt? Lady Cer und Lady Mefita sind Aspekte desselben satho, dessen, was Ihr in der Sprache des Königs eine Heilige nennt. Die Damen, die sich ihr weihen - wenngleich fromm und Frauen der Kirche -, erlernen die Kunst des Meuchelmords und die Sprache der Toten. Ihr werdet Euch im Leben nicht wünschen, auch nur mit einer Novizin jenes Ordens Händel zu suchen, Sir Viotor.« Neil sah plötzlich Lady Erren vor sich, in der Festung von Cal Azroth, umgeben von den Leichnamen ihrer Feinde, von denen die meisten scheinbar unversehrt gewesen waren. Ihm fiel ein, dass sie im Konvent der heiligen Cer ausgebildet worden war. »Das glaube ich von ganzem Herzen, Sir Quinte«, antwortete er. Sie kamen in ein Weinbaugebiet. Reihen von Rebstöcken, die sich bis zu den Hügelkuppen hinauf erstreckten, umgaben sie, und Sir Quinte brachte das Gespräch auf Wein, ein Thema, von dem er eine Menge zu verstehen schien. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und Neils Zweifel an seinen Reisegefährten regten sich, schwanden und regten sich erneut. Doch wenn sie ihm feindlich gesonnen waren, warum hatten sie die Gelegenheit dann nicht genutzt? Sie waren in der Überzahl. Vielleicht wollten sie noch irgendetwas von ihm. Anne zum Beispiel. Wenn die Damen der heiligen Cer alle so Furcht erregend waren wie Erren, konnten sie nicht einfach dort hineinmarschieren oder sich den Zutritt
erkämpfen. Sie würden Neil brauchen, damit er sie mit der Nachricht der Königin dort herausholte. Das wäre der rechte Zeitpunkt, um auf der Hut zu sein. In einer Hinsicht zumindest hatte Sir Quinte Wort gehalten - noch vor Sonnenuntergang folgten sie einer Wegbiegung um den Fuß eines Hügels herum und erreichten den Konvent der heiligen Cer. Oder vielmehr seine Ruinen, denn der Konvent war niederge157 brannt worden. Sobald er die Trümmer erblickte, trieb Neil Hurrikan zum Galopp an, doch er war nur ein paar hundert Schritt weit geritten, ehe er das Pferd wieder in Schritt fallen ließ. Es war kein Rauch zu sehen. Dieses Gemäuer war schon vor langer Zeit abgebrannt. Aber war das hier überhaupt der Konvent der heiligen Cer? Er hatte nur Sir Quintes Wort. Hinter sich hörte er das leise Zischen von Stahl, der aus ledernen Scheiden glitt, und ihm wurde klar, dass er Sir Quinte und den anderen schließlich doch den Rücken zugekehrt hatte. 12. Kapitel Rückkehr in den Wald Als die Ebene von Mey Ghorn dem Königswald wich, hielt Aspar White an, starrte und wünschte sich, er wäre aus Stein. »Hier sind wir doch erst vor zwei Monaten vorbeigekommen«, flüsterte Stephen. »Ich weiß nicht mehr viel von dem, was damals passiert ist«, sagte Winna. »Aber daran würde ich mich erinnern.« »Still, alle beide«, fuhr Aspar sie an. Winnas Augen wurden groß vor Verblüffung und Kränkung, und er konnte sie nicht ansehen. Ehawk, der Wattau-Junge, starrte lediglich den Boden an. »Ich muss ...«, versuchte Aspar zu erklären, doch ihm wollte nichts einfallen. »Wartet einfach hier«, brummte er stattdessen. »Ich bin bald wieder da.« Er versetzte Unhold einen Klaps mit den Zügelenden, und das gewaltige Pferd trottete vorwärts - anscheinend widerwillig. Aspar konnte es ihm nicht verdenken; Unhold war ein Mörder, ein Tier, das nur sehr wenig fürchtete, doch in dieser Hinsicht waren 158 er und Aspar gleich. Das, worauf sie jetzt zuritten, sollte nicht sein. Wie Stephen gesagt hatte, sie waren vor kaum zwei Monaten hier gewesen. Damals war hier der Waldrand gewesen, Wiesen und kleine Bäume, ein paar riesige Eichen und Kastanien, die Blätter von den Farben des Herbstes gezeichnet. Jetzt war alles schwarz. Von weitem sah es fast aus wie wallender Rauch, jedoch auf seltsame Weise am Boden verankert. Aus der Nähe konnte man erkennen, um was es sich wirklich handelte. Ranken, so dick wie Schiffstaue, schlangen sich um die Bäume und wanden sich über den Boden, sandten Tausende kleinerer Schösslinge aus, die mit jedem Ast und Zweig rangen, den sie zu fassen bekamen - und das waren alle. Die Wipfel der höchsten Bäume bogen sich unter ihrem würgenden Gewicht oder waren abgebrochen. Und überall Dornen - von kleinen Stacheln, nicht länger als sein Fingernagel, bis zu mehr als spannenlangen Dolchen. »Grim«, murmelte Aspar. »Haergrim Wüterich, was geschieht mit meinem Wald?« Stephen warf Winna einen Blick zu. »Er wollte nicht -« »Ich weiß«, sagte sie. »Seine Härte kommt aus der Gewohnheit, nicht aus seinem Herzen. Das ist wie diese Metallhüllen, die die Ritter in Eslen tragen.« Sie hielt den Blick auf den Waldhüter gerichtet, während seine Gestalt vor dem düster aufragenden Schwarz kleiner und kleiner wurde. »Er liebt seinen Wald«, fügte sie leiser hinzu. »Mehr als alles andere. Mehr als mich.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Stephen. »Tut das nicht«, sagte sie. »Es stört mich nicht, es macht mich nicht eifersüchtig. Es ist schön, zu wissen, dass ein Mann so viel zu empfinden vermag, sogar jemand, der all das durchgemacht hat, was Aspar hinter sich hat. Es ist gut, zu wissen, dass ein Mann Leidenschaft verspürt und nicht nur hohle Knochen in sich hat.« Sie blickte zu Stephen hinüber, und im Licht des wolkenverhangenen Morgens wirkten ihre grünen Augen beinahe grau. »Ich liebe 159 diese Wälder auch - ich bin auf der anderen Seite von ihnen aufgewachsen. Aber Ihr und ich, wir können niemals verstehen, was er für diesen Ort empfindet. Das ist das Einzige, worauf ich eifersüchtig bin - nicht dass er es fühlt, sondern dass ich es nicht tue.« Stephen nickte. »Was ist mit Eurer Familie? Macht Ihr Euch Sorgen um sie?« »Ja«, antwortete sie. »O ja. Ich versuche, nicht daran zu denken. Aber mein Vater, der wäre der Erste, der verschwindet, wenn es zu schlimm wird. Wenn er es rechtzeitig erfährt. Wenn er genug Zeit hat.« Aspar war in einiger Entfernung vom Pferd gestiegen. Stephen hörte das Knarren, mit dem er sich aus dem Ledersattel löste. Als Novize hatte Stephen den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten. Der Heilige hatte seine Sinne geschärft, sein Gedächtnis - und andere Dinge. Er hörte auch, wie Aspar fluchte und den Wüterich anrief. »Habt Ihr eine Erklärung dafür?«, erkundigte sich Winna. »Warum das passiert? Was genau diese Dornen sind? Habt Ihr im Scriftorium des Königs irgendetwas gefunden?«
»Ich weiß wenig mehr als Ihr«, gestand Stephen. »In Erzählungen und Legenden werden sie mit dem Dornenkönig in Verbindung gebracht, aber das wissen wir ja bereits aus eigener Erfahrung.« Die Festung von Cal Azroth war hinter ihnen noch immer zu sehen, nicht viel mehr als eine Masse verschlungener Dornenranken. Dort hatten sie den Dornenkönig zum letzten Mal gesehen. Ein Pfad aus den gleichen Ranken führte hierher, zum Wald, wo sie sich anscheinend festgesetzt hatten. »Wieso sollte er seinen eigenen Wald zerstören?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Stephen. »Manche Geschichten behaupten, er wird alles vernichten, die Welt neu erschaffen, aus der Asche der alten.« Er seufzte. »Vor einem halben Jahr habe ich mich für gelehrt gehalten, und der Dornenkönig war nicht mehr als ein Name in einem Kinderlied. Jetzt scheint nichts von dem, was ich weiß, wahr zu sein.« 160 »Ich weiß, wie Euch zumute ist«, erwiderte Winna. »Er winkt uns vorwärts«, verkündete Stephen. »Seid Ihr sicher?« »Ja.« Aspar sah seine Gefährten näher kommen. Er brachte seinen Atem zur Ruhe. Sceat darauf, dachte er. Was ist, ist eben. Hat keinen Sinn, deswegen weich zu werden. Ich werde den Dornenkönig finden, ihn töten und alldem ein Ende machen. Und das war's dann. Als die anderen bei ihm ankamen, brachte er sogar ein Lächeln zustande. »Wächst ganz schön schnell, dieses Unkraut«, bemerkte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf den sterbenden Wald. »Das stimmt«, pflichtete Stephen ihm bei. »Ich nehme an, das ist alles aus seiner Spur gesprossen«, sagte Aspar. »Das macht es einem wenigstens leicht, ihm zu folgen. Es sei denn, dieses Zeug hat sich schon überall ausgebreitet.« Dem war nicht so. Nur einen Glockenschlag später stießen sie auf Bäume, die zunächst nur zur Hälfte und schließlich überhaupt nicht mehr von den Ranken überwuchert waren. Aspar fühlte, wie Erleichterung seinen Körper bis zu den Zehen durchströmte. Es war immer noch Zeit, um etwas zu unternehmen. Noch war nicht alles verloren. »Mal sehen«, sagte er. »Wir haben noch zwei Stunden Tageslicht, aber ich rechne bei Dämmerung mit Regen. Stephen, da wir ja jetzt für den Praifec arbeiten, denke ich, Ihr solltet all dies auf Euren Karten vermerken - wie weit das Zeug sich ausgebreitet hat. Winna und ich schlagen in der Zwischenzeit das Lager auf.« »Was glaubt Ihr, wo wir sind?«, wollte Stephen wissen. Aspar sah sich langsam um. Sein Orientierungssinn war durch die Unvertrautheit dessen, was sie vorhin gesehen hatten, ein wenig durcheinander geraten. Der Wald befand sich mehr oder weniger westlich von ihnen, erstreckte sich von Norden nach Süden. Im Osten lagen die hügeli161 gen Midenlande. Er konnte fünf oder sechs kleine Gehöfte ausmachen, ein paar verstreute Schafe, Ziegen und Kühe auf den sanften Hügeln. Der Turm einer kleinen, ländlichen Kirche ragte vielleicht eine Meile weit entfernt in die Höhe. »Wisst Ihr, welche Stadt das ist?«, fragte Stephen. »Ich denke, es ist Thrigaestath«, erwiderte Aspar. Stephen hatte seine Karte hervorgezogen und studierte sie. »Seid Ihr sicher?«, fragte er. »Ich würde eher sagen, es ist Tulhaem.« »Ach ja? Und warum fragt Ihr mich dann? Ich wandere ja erst mein ganzes Leben lang durch diese Wälder. Ihr habt eine Karte.« »Ich wollte bloß sagen«, entgegnete Stephen, »dass dies erst die dritte Stadt ist, die ich gesehen habe, seit wir an Cal Azroth vorbeigekommen sind, und deswegen müsste es Tulhaem sein.« »Tulhaem ist größer«, hielt Aspar dagegen. »Es ist schwer, zu sagen, wie groß eine Stadt ist, wenn man nur die Spitze eines Kirchturms sehen kann. Wenn Ihr sagt, es ist Thrigaestath, dann will ich das gern so vermerken.« »Werlic. Dann tut das.« »Trotzdem, Thrigaestath müsste näher -« »Winna«, fragte Aspar, »wo willst du hin?« Sie hatte ihr Pferd schweigend angetrieben und schickte sich an, im Schritt den Hügel hinunterzureiten, fort von dem Wald. »Fragen«, antwortete sie. »Da unten ist ein Hof.« »Bogelih«, knurrte Aspar. »Bist du sicher?« Der Junge - ein strohblonder Bengel von vielleicht vierzehn Jahren namens Algaf - kratzte sich am Kopf und schien über die Frage nachzusinnen. »Nun ja, Herr«, sagte er schließlich. »Ich wohne schon mein ganzes Leben lang hier, und ich hab noch nie gehört, dass jemand die Stadt anders genannt hätte.« »Das steht nicht auf meiner Karte«, beklagte sich Stephen. »Wie weit sind wir von Thrigaestath entfernt?«, wollte Aspar wissen. »Oh, fast eine Meile, würde ich sagen«, antwortete der Junge. 162
»Aber da wohnt jetzt keiner mehr. Die schwarzen Dornen sind drübergewachsen.« »Über die ganze Stadt?«, fragte Winna. »Ich habe ja immer gesagt, dass sie zu nahe am Wald liegt«, mischte sich eine weibliche Stimme ein. Aspars Blick folgte dem Klang bis zu einer Frau von vielleicht dreißig Jahren, die ein braunes Kleid aus selbst gewebtem Tuch trug und neben dem ummauerten Schweinekoben stand. Ihr Haar hatte die gleiche Farbe wie das des Jungen, und Aspar nahm an, dass sie seine Mutter war. »Stolz, genau das war es«, fuhr sie fort. »Sie haben die Grenze überschritten. Jeder hat es gewusst.« »Wie lange ist das her?«, fragte Stephen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Vor der Zeit der Großmutter meiner Großmutter. Aber der Wald denkt langsam, hat meine Großmutter immer gesagt. Er vergisst nicht. Und jetzt ist der Herr der Dornen aufgewacht, und er holt sich zurück, was ihm gehört.« »Was ist mit den Leuten von Thrigaestath passiert?«, wollte Aspar wissen. »In alle Winde zerstreut. Sind zu ihren Verwandten gezogen, wenn sie welche hatten. Ein paar sind in die Stadt gegangen, glaube ich. Aber sie sind alle fort.« Ihre Augen wurden schmal. »Ihr seid es doch, nicht wahr? Der Waldhüter des Königs?« »Ich bin der Waldhüter«, gab Aspar ihr Recht. Die Frau deutete mit einem Kopfnicken auf die kleinen Gebäude ihres Hofes. »Wir haben außerhalb der Grenze gebaut. Wir haben sein Gesetz geachtet. Sind wir sicher?« Aspar seufzte und schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Aber ich habe vor, es herauszufinden.« »Ich habe weder Gemahl noch Angehörige, die mich aufnehmen könnten«, sagte die Frau. »Ich habe nur den Jungen hier. Ich kann diesen Ort nicht verlassen.« Stephen räusperte sich. »Habt Ihr irgendetwas davon gehört, dass andere Dörfer aufgegeben worden sind? Von Menschen, die - um Vergebung - nackt herumlaufen wie Tiere?« 163 »Ein Reisender aus dem Osten hat solche Dinge erzählt«, sagte die Frau. »Aber Reisende bringen oft Geschichten mit.« Sie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Trotzdem, irgendetwas ist dort.« »Was?«, wollte Aspar wissen. »Irgendwelche Wesen kommen aus den Dornen. Die Tiere riechen sie. Die Hunde bellen die ganze Nacht. Und gestern habe ich eine Ziege verloren.« »Ich hab es gesehen«, fiel der Knabe eifrig ein. »Ich hab es am Waldrand gesehen.« »Algaf«, fuhr die Frau ihn an. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dort nicht hingehen. Niemals.« »Ja, Mama. Aber Riqqi ist dort hinaufgerannt, und da musste ich ihm doch nachlaufen.« »Wir können uns einen neuen Hund besorgen, wenn das nötig sein sollte«, wehrte seine Mutter ab. »Niemals, hast du gehört?« »Ja, Mama.« »Aber was hast du gesehen, Junge?«, fragte Aspar. »Ich glaube, es war ein Uttin«, verkündete der Junge fröhlich. »Er war größer als Ihr, aber er war ganz verkehrt, wenn Ihr versteht, was ich meine. Ich hab ihn nur ganz kurz gesehen.« »Ein Uttin«, knurrte Aspar. Einst hätte er die Worte des Halbwüchsigen schroff abgetan. Sein ganzes Leben lang hatte er Märchen von Uttins, Alven, Boygshinns und allen möglichen seltsamen Bestien im Königswald gehört, und in fast vier Jahrzehnten hatte er niemals eine Spur von ihnen gefunden. Doch er hatte vor diesem Jahr auch noch nie einen Gryffin gesehen - oder einen Dornenkönig. »Ich kann Euch hinführen, Meister Waldhüter«, erbot sich Algaf. »Deine Mutter hat dir gerade gesagt, du sollst dich vom Wald fern halten«, wehrte Aspar ab. »Das ist ein guter Rat. Sag mir einfach, wo es war, und ich schaue mich vor Sonnenuntergang noch einmal dort um.« »Ihr bleibt doch bei uns, oder?«, fragte die Frau. 164 »Ich will Euch keine Umstände machen«, erwiderte Aspar. »Wir werden unser Lager auf Eurer Wiese aufschlagen, wenn wir dürfen.« »Schlaft in der Scheune«, bot die Frau an. »Das macht keine Umstände - es wäre eine Beruhigung.« »Nun gut«, sagte Aspar. »Danke für Eure Freundlichkeit.« Er winkte dem Wattau. »Ehawk, du kommst mit mir. Wir gehen nachsehen, ob dieses Wesen irgendwelche Spuren hinterlassen hat.« Aspar rümpfte bei dem Geruch die Nase. »Nicht anfassen«, warnte er Ehawk, der sich bückte, um die Spur mit dem Finger nachzuzeichnen. »Warum nicht, Meister White?« »Ich habe mal die Fährte eines Gryffin berührt und bin davon krank geworden. Kleinere Lebewesen sind glatt daran krepiert. Ich habe keine Ahnung, von was für einem Geschöpf diese Fährte stammt, aber es ist keins, das ich kenne, und wenn ich im Königswald etwas sehe, das ich nicht kenne, dann habe ich gelernt, vorsichtig damit umzugehen.« »Es ist groß«, bemerkte Ehawk. »Ja. Und hat sechs Zehen. Gibt es oben bei euch irgendetwas, das solche Spuren hinterlässt?« »Nein.«
»Bei uns auch nicht«, sagte Aspar. »Und dieser Gestank?« »So was hab ich noch nie gerochen«, gestand der Junge. »Aber es ist widerlich.« »Ich bin schon einmal auf diesen Geruch gestoßen«, sagte Aspar. »In den Bergen, wo ich die Behausung des Dornenkönigs gefunden habe.« Er seufzte. »Nun, lass uns wieder zurückgehen. Morgen folgen wir der Fährte dieses Wesens.« »Irgendwas folgt ihr jetzt schon«, sagte Ehawk. »Wie? Was siehst du?« Der Junge kniete nieder und zeigte mit dem Finger, und Aspar sah, dass er Recht hatte. Dort war noch eine zweite Spur zu sehen, 165 kleine, fast kindliche Abdrücke, diese von Schuhen mit weicher Sohle. Sie waren so schwach, dass sie selbst seinem geübten Blick entgangen waren. »Du hast gute Augen, Wattau«, knurrte Aspar. »Vielleicht sind sie zusammen unterwegs«, sagte der Junge. »Ja. Könnte sein. Komm.« Die Frau hieß Brean, und sie setzte ihnen einen Hühnereintopf vor; wahrscheinlich hatten sie und der Knabe seit Monaten nicht so gut gegessen. Aspar hielt sich zurück - er hoffte, dass etwas für sie übrig blieb, wenn sie weiterzogen. In dieser Nacht schliefen sie in der Scheune. Genau wie Brean behauptet hatte, bellten die Hunde die ganze Nacht, meilenweit im Umkreis, und wahrscheinlich auch die, die man nicht mehr hören konnte. Furcht lag in ihren Stimmen, und Aspar schlief nicht gut. Am nächsten Tag standen sie früh auf und gingen auf Uttin-Jagd. Unglücklicherweise war die Fährte nicht lang - sie endete nach ungefähr zwanzig Ellen im Wald. »Der Boden ist immer noch weich«, sagte Aspar. »Und das Biest ist schwer. Eigentlich sollten Spuren zu sehen sein.« »In den Geschichten, die ich als Kind gehört habe, konnten Uttins sich so klein machen wie Mücken oder sich in Moos verwandeln«, erklärte Winna. »Er könnte sich direkt unter unseren Füßen versteckt halten.« »Das sind doch nur Märchen«, brummte Aspar. »Gryffins waren auch nur Märchen«, erwiderte sie. »Aber die Geschichten haben nicht ganz gestimmt«, wandte Stephen ein. »In jedem Märchen und jeder Schilderung, die ich über den Dornenkönig gelesen habe, waren nur ein paar Worte wahr. Und der echte Gryffin war ganz anders als der aus den Phay-Märchen.« »Aber echt, oder?« »Werlic«, stimmte Aspar zu. »Ich habe diesen Fabeln noch nie getraut.« 166 »Du traust nie irgendwas, außer dem, was du mit eigenen Augen siehst«, entgegnete Winna. »Warum sollte ich auch? Alles, was nötig war, um mich davon zu überzeugen, dass es so etwas wie Gryffins wirklich gibt, war, dass ich einen sehe. Alles, was notwendig wäre, um mich davon zu überzeugen, dass ein Vieh, das schwerer ist als ein Pferd, sich in Moos verwandeln kann, ist, dass ich es sehe. Ich bin ein schlichter Mensch.« »Nein«, widersprach Stephen. »Ihr seid ein skeptischer Mensch. Das hat Euch dort am Leben erhalten, wo andere umgekommen wären.« »Sind wir uns hierin etwa einig?«, wollte Aspar mit hochgezogenen Brauen wissen. »Mehr oder weniger. Es ist eindeutig, dass viele Dinge, die wir früher für Legenden gehalten haben, auf Tatsachen beruhen. Geschichten entwickeln und verändern sich beim Erzählen, also, nein, wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie zuverlässig sind. Die einzige Möglichkeit, Wahrheit und Erfindung auseinander zu halten, ist durch unsere eigenen Sinne.« »Nun, dann benutzt Eure Sinne mal«, sagte Winna. »Wo ist es hin?« Es war Ehawk, der antwortete, indem er ernst nach oben zeigte. »Guter Junge«, lobte Aspar. Er deutete in die Richtung, in die Ehawk gezeigt hatte. »Hier ist die Rinde zerkratzt, seht ihr? Das Biest ist in den Bäumen unterwegs.« Stephen erbleichte und blickte zu dem fernen Baldachin der Wipfel hinauf. »Das ist fast genauso schlimm, als wenn es sich in Moos verwandeln könnte«, stieß er hervor. »Wie sollen wir es sehen?« »Ist das ein Rätsel?«, wollte Aspar wissen. »Mit unseren Augen.« »Aber wie sollen wir seiner Fährte folgen?« »Ja, das ist ein Problem. Aber es scheint sich am Waldrand entlangzubewegen, wo die Dornen sind, und das ist die Richtung, in 167 die wir auch wollen. Der Praifec hat uns nicht hergeschickt, um Uttins zu jagen. Ich würde sagen, wir machen mit dem weiter, was man uns aufgetragen hat, und wenn wir ihm dabei begegnen, schön und gut.« »Meiner Ansicht nach ist das überhaupt nicht schön und gut«, bemerkte Stephen, »aber ich verstehe, was Ihr meint.« Eine Weile ritten sie schweigend weiter. Aspar suchte mit den Augen die Baumkronen ab, und sein Rücken
juckte unaufhörlich. Der Geruch nach Herbstlaub war schier überwältigend. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass dieser Geruch ein Zeichen dafür war, dass sich ein Mord anbahnte. Die Sefry-Frau, die ihn aufgezogen hatte, hatte gesagt, er verdanke dieses seltsame Wahrnehmungsvermögen Grim dem Wüterich, denn Aspar war an einem Ort geboren worden, wo Grim Opfer dargebracht wurden. Aspar glaubte das nicht unbedingt, und es kümmerte ihn auch nicht - ihn kümmerte nur, dass es im Allgemeinen stimmte. Außer im Herbst, wenn der Geruch ohnehin überall war ... Doch wieder hatte seine Nase Recht. Als sie sich einer Lichtung näherten, wurde der Geruch stärker. »Ich rieche Blut«, sagte Stephen. »Und etwas, das fürchterlich stinkt.« »Könnt Ihr etwas hören, mit Euren von den Heiligen gesegneten Ohren?« »Ich bin mir nicht sicher. Atmen vielleicht, aber ich kann nicht sagen, wo.« Sie drangen ein wenig weiter vor, bis sie den zusammengesunkenen, zerfetzten Körper auf der Lichtung erblickten. »Ihr Heiligen!«, entfuhr es Winna. »In der Heiligen Namen«, sagte Stephen. »Der arme Junge.« Blut tränkte die Blätter und das Erdreich, doch das Gesicht war sauber und unschwer als das Algafs zu erkennen, des Jungen von dem Gehöft. »Er hat wohl doch nicht auf seine Mutter gehört«, seufzte Aspar. Stephen schickte sich an, auf die Lichtung hinauszutreten, doch Aspar hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück. 168 »Nein. Seht Ihr es denn nicht? Der Junge ist ein Köder. Das Biest will, dass wir dorthin gehen.« »Er lebt noch«, wandte Stephen ein. »Er ist es, den ich atmen höre.« »Asp-«, setzte Winna an, doch er brachte sie zum Schweigen. Sein Blick wanderte durch die Baumwipfel, doch dort war nichts außer kahlen Ästen und einem Windhauch. Er seufzte. »Haltet ein Auge auf die Bäume«, sagte er. »Ich hole ihn.« »Nein«, widersprach Stephen. »Ich tue es. Ich kann nicht so gut mit dem Bogen umgehen wie Ihr. Wenn es sich wirklich in den Bäumen versteckt, habt Ihr am ehesten die Chance, es aufzuhalten.« Aspar dachte nach, dann nickte er. »Dann geht. Aber seid auf der Hut.« Als Stephen vorsichtig auf die Wiese hinaustrat, legte Aspar einen Pfeil an die Sehne seines Bogens und wartete. Ein Schwärm Sperlinge schwirrte durch die Bäume. Dann herrschte unheimliche Stille im Wald. Stephen erreichte den Knaben und kniete neben ihm nieder. »Es ist schlimm«, rief er ihnen zu. »Er blutet immer noch. Wenn wir ihn gleich verbinden, gibt es vielleicht noch Hoffnung.« »Ich sehe nichts«, sagte Ehawk. »Ich weiß«, erwiderte Aspar. »Mir gefällt das nicht.« »Vielleicht hast du dich geirrt«, gab Winna zu bedenken. »Wir wissen doch gar nicht, ob ein Uttin - oder was immer das für ein Wesen ist - schlau genug ist, um uns eine Falle zu stellen.« »Der Gryffin war mit Menschen und Sefry zusammen«, erinnerte Aspar sie. Er dachte an die Fußabdrücke. »Dieses Biest vielleicht auch. Es braucht gar nicht selbst schlau zu sein.« »Stimmt.« Irgendetwas entging ihm - er wusste es. Das Geschöpf musste zu Fuß auf die Lichtung gekommen sein. Er hatte nur eine Fährte gefunden, die auf die Wiese hinausführte, und war davon ausgegangen, dass es auf der anderen Seite wieder in den Wald gegangen und dann erneut in die Bäume gestiegen war. 169 »Uttins können sich so klein machen wie Mücken oder sich in Moos verwandeln«, hatte Winna gesagt. »Stephen, kommt her, sofort]«, brüllte Aspar. »Aber ich -« Stephens Augen wurden riesengroß, und sein Kopf drehte sich so schnell, dass er sich fast von den Schultern löste; dann kam er taumelnd auf die Beine. Er war noch keine Elle weit gekommen, als der Boden unter seinen Füßen zu explodieren schien und etwas, das sehr viel größer war als ein Mensch, in einer Wolke aus Blättern auf ihn zusprang. 13. Kapitel Mery I Leoffs Finger tanzten über die rot-schwarzen Tasten der Hammarharfe, doch sein Verstand trieb in hässliche Tagträume hinüber, von Leichen mit Augen aus Asche und einer Stadt, die unter den Schwingen der Nacht für immer verstummt war. Finsternis kroch durch seine Finger und in die Tastatur, und die fröhliche Melodie, die er gespielt hatte, klang plötzlich schwer wie ein Requiem. Verärgert griff er nach seinen Krücken und erhob sich, wobei der Schmerz in seinem Bein ihn zusammenzucken ließ. Er überlegte, ob er in sein Gemach zurückkehren und sich hinlegen sollte, doch der Gedanke an die kleine, dunkle Kammer machte ihn trübsinnig. Das Musikzimmer war wenigstens sonnig, mit zwei hohen Fenstern, aus denen man über Eslen blickte und über Neuland dahinter. Es war auch gut mit Instrumenten ausgestattet - neben der Hammarharfe gab es hier Fiedeln in allen Größen, Lauten und Basslauten, Oboen, Flageoletts und Dudelsäcke. Auch waren reichlich Papier und Tinte vorhanden. Doch die meisten dieser Dinge waren von einer feinen Staubschicht bedeckt, und die Saiteninstrumente waren samt und son-
170 ders seit Jahren nicht mehr gestimmt worden. Leoff fragte sich, wie lange es wohl her war, seit es hier einen Hofkomponisten gegeben hatte. Genauer gesagt, er fragte sich, ob es jetzt einen gab. Wann würde er etwas von der Königin hören? Artwair hatte sein Versprechen gehalten, Leoff ein Quartier im Schloss zu verschaffen und dafür zu sorgen, dass er die Erlaubnis bekam, das Musikzimmer zu nutzen. Ihm war eine sehr kurze Audienz beim König gewährt worden, der allem Anschein nach kaum gemerkt hatte, dass Leoff da war. Die Königin war dabei gewesen, schön und majestätisch, und auf ihr Betreiben hin hatte der König Leoff für sein Handeln in Broogh belobigt. Keiner von beiden hatte ein Wort über seine Stellung verloren. Und obgleich ihm ein paar neue Gewänder geschneidert worden waren und ihm regelmäßig Mahlzeiten in sein Gemach gebracht wurden, hatte seit nunmehr zwei Wochen noch niemand ein Werk bei ihm in Auftrag gegeben. Also tändelte er herum. Er hatte das Lied der Malend zu Papier gebracht, hatte es als Stück für ein zwölfköpfiges Orchester arrangiert und es dann, unzufrieden mit dem Resultat, für dreißig Instrumente umgeschrieben. Seines Wissens hatte noch niemals ein so großes Orchester gespielt, doch das war es, was er in seinem Kopf gehört hatte. Er hatte es noch einmal mit jener flüchtigen Weise von dem Hügel versucht, doch irgendetwas ließ ihn immer wieder innehalten, und er hatte die Arbeit zur Seite gelegt. Stattdessen hatte er eine Suite höfischer Tänze begonnen, in Erwartung des erhofften Auftrags - vielleicht für eine Hochzeit. Während all dessen ließ ihn der Tod Brooghs nicht los, verlangte nach einer Stimme. Ihm war klar, was er tun musste, doch er zögerte. Er fürchtete, dass das Komponieren eines so machtvollen Werkes, wie es in seinem Kopf langsam Gestalt annahm, ihn irgendwie seiner eigenen Lebenskraft berauben könnte. Also rumorte er verdrossen im Musikzimmer herum, durchforstete die Manuscrifte in den Schränken, stimmte die Saiteninstrumente - und stimmte sie dann noch einmal. 171 Er starrte gerade aus dem Fenster und beobachtete die fernen Kähne auf dem Taufluss, als er ein unterdrücktes Niesen vernahm. Er drehte sich um, um zu sehen, wer dort stand, doch es war niemand im Zimmer. Die Tür war leicht geöffnet, und er konnte zehn Ellen des dahinter liegenden Korridors überblicken. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf, als er langsam durchs Zimmer ging und sich fragte, ob er sich das Geräusch vielleicht nur eingebildet hatte. Doch dann ertönte es erneut, lauter diesmal. Es kam aus einem der Schränke. Mit steigender Furcht starrte er zum Ort des Geräusches hinüber. Hatten sie ihn aufgespürt, die Mörder von Broogh? Waren sie gekommen, um Rache zu nehmen, hatten einen Meuchelmörder geschickt, aus Angst, dass er sie verraten könnte? Vorsichtig hob er das Nächstbeste auf, was zur Hand war, eine Oboe. Sie war schwer - und spitz. Wieder schaute er in den Flur hinaus. Es war keine Wache zu sehen. Er überlegte, ob er eine suchen sollte, und hätte es auch beinahe getan, doch stattdessen riss er sich zusammen, marschierte auf den Schrank zu, packte rasch die Tür und riss sie auf, während er die Oboe schwang. Große Augen blinzelten zu ihm empor, und ein kleiner Mund schnappte nach Luft. Das Kind starrte Leoff einen Moment lang an, während dieser sich entspannte. In dem Schrank kauerte ein kleines Mädchen, nicht älter als sechs oder sieben Jahre. Sie trug ein blaues Satinkleidchen, und ihr langes braunes Haar war ziemlich zerzaust. Ihre großen blauen Augen wirkten völlig arglos. »Hallo«, sagte er nach einem Augenblick. »Du hast mich ganz schön erschreckt. Wie heißt du denn?« »Mery, bitte sehr«, antwortete sie. »Warum kommst du nicht heraus, Mery, und erzählst mir, warum du dich dort drin versteckst?« »Ja, bitte sehr«, sagte sie und rutschte aus ihrem engen Versteck. Sie richtete sich auf und wich vor ihm zurück. 172 »Ich gehe jetzt«, verkündete sie. »Nein, warte. Was hast du denn da drin gemacht?« »Hier war sonst nie jemand«, sagte sie. »Ich bin immer hergekommen und habe mit der Hammarharfe gespielt. Ich finde es schön, wie sich das anhört. Jetzt seid Ihr hier, und ich kann nicht mehr damit spielen, aber ich höre Euch gern zu.« »Nun, Mery, du hättest doch fragen können. Manchmal hätte ich nichts dagegen, wenn du zuhörst.« Sie ließ den Kopf ein wenig hängen. »Ich gebe mir einfach Mühe, leise zu sein und mich nicht sehen zu lassen. Das ist am besten.« »Unsinn. Du bist doch ein hübsches kleines Mädchen. Es gibt gar keinen Grund, schüchtern zu sein.« Sie antwortete nicht, starrte ihn jedoch an, als spräche er Vitellianisch. Er zog einen zweiten Hocker vor die Hammarharfe. »Setz dich hierhin. Ich spiele dir etwas vor.« Ihre Augen wurden noch größer, und dann runzelte sie die Stirn, als glaube sie ihm nicht. »Wirklich?« »Wirklich.« Sie tat wie geheißen und ließ sich auf dem Hocker nieder.
»Also, wie heißt dein Lieblingslied?« Sie dachte einen Moment nach. »>Rund um den Hügel und wieder zurück< mag ich gern.« »Das kenne ich«, sagte er. »Als ich so alt war wie du, war das auch eins meiner Lieblingslieder. Mal sehen - geht es ungefähr so?« Er spielte die Melodie. Sie lächelte. »Das dachte ich mir. Jetzt lass es mich mal mit beiden Händen spielen.« Er begann eine einfache Bassbegleitung und spielte die Melodie erneut. Beim dritten Mal fügte er einen Kontrapunkt hinzu. »Jetzt ist es wie ein Tanz«, stellte sie fest. »Stimmt«, sagte er. »Aber hör zu, ich kann eine Hymne daraus machen.« Er ließ die Bassbegleitung weg und ging zu einer vier173 stimmigen Harmonie über. »Oder ich kann machen, dass es traurig klingt.« Er spielte eine eher getragene Variante. Wieder lächelte sie. »So gefällt es mir. Wie könnt Ihr aus einem Lied so viele machen?« »Das ist mein Beruf«, erwiderte er. »Aber wie geht das?« »Nun - stell dir mal vor, du möchtest etwas sagen. >Ich möchte ein bisschen Wasser trinken.< Auf wie viele verschiedene Arten könntest du das sagen?« Mery überlegte. »Ein bisschen Wasser, das ich trinken möchte?« »Richtig. Wie noch?« »Ich würde gern ein bisschen Wasser trinken, bitte.« »Genau. Höflich.« »Ich will ein bisschen Wasser, jetzt gleich« »Befehlend, ja. Und wütend?« »Ich will Wasser« Sie unterdrückte ein Kichern über ihren gespielten Zorn. »Und so weiter«, sagte Leoff. »Mit Musik ist es genauso. Es gibt viele Möglichkeiten, denselben Gedanken auszudrücken. Es kommt nur darauf an, die richtigen auszusuchen.« »Könnt Ihr das auch mit einem anderen Lied?« »Natürlich. Welches Lied hättest du denn gern?« »Ich weiß nicht, wie es heißt.« »Kannst du es summen?« »Ich glaube schon.« Sie konzentrierte sich und begann zu summen. Zwei Dinge fielen Leoff sofort auf. Zum einen summte sie das Thema des Liedes der Malend, das er erst vor ein paar Tagen zu Papier gebracht hatte. Zum Zweiten summte sie die Melodie vollkommen richtig und absolut tonrein. »Das hast du hier drinnen gehört, nicht wahr?« Sie machte ein verlegenes Gesicht. »Ja, bitte sehr.« »Wie oft?« »Nur einmal.« 174 »Einmal.« Interesse regte sich in seiner Brust. »Mery, würdest du mir etwas auf der Hammarharfe vorspielen? Etwas, das du immer gespielt hast, wenn du allein hier warst?« »Aber Ihr könnt das doch viel besser.« »Aber ich spiele auch schon länger, und man hat mich darin unterwiesen. Hast du je Musikunterricht gehabt?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann spiel mir etwas vor. Ich würde es wirklich gern hören.« »Also gut«, sagte sie. »Aber es wird bestimmt nicht schön.« Sie setzte sich auf dem kleinen Hocker zurecht, spreizte die winzigen Finger auf der Tastatur und begann zu spielen. Es war nur eine Melodie, eine einfache Tonfolge, doch er erkannte sie sofort als »Die hübsche Maid von Dalwis«. »Das ist wirklich sehr gut, Mery«, sagte er. Er zog einen Hocker neben den ihren. »Spiel es noch mal, und ich spiele mit.« Sie begann von vorn, und er fügte zunächst nur einzelne Akkorde hinzu, dann eine durchgehende Bassstimme. Merys Lächeln wurde immer strahlender. Als sie geendet hatten, sah sie ihn mit funkelnden blauen Augen an. »Ich wünschte, ich könnte auch mit zwei Händen spielen«, sagte sie. »So wie Ihr.« »Das könntest du, Mery Ich könnte es dir beibringen, wenn du möchtest.« Sie öffnete den Mund, dann zögerte sie. »Seid Ihr sicher?«, fragte sie. »Es wäre mir eine Ehre.« »Ich würde das gern lernen.« »Nun gut. Aber du musst bei der Sache sein. Du musst tun, was ich sage. Du hast ein sehr gutes Ohr, aber die Art und Weise, wie du deine Hände bewegst, ist nicht richtig. Du musst sie so halten ...«
Zwei Glockenschläge verstrichen, ohne dass Leoff es merkte. Mery begriff die Übungen schnell. Ihr Verstand und ihr Gehör waren wirklich erstaunlich, und es entzückte ihn, zu sehen, wie sie Fortschritte machte. 175 Er hörte niemanden kommen, bis jemand an die offene Tür klopfte. Er drehte sich auf seinem Stuhl um. Dort stand Muriele Dare, die Königin. Sie sah nicht ihn, sondern Mery an. Die Kleine hüpfte eilig von ihrem Hocker und beugte das Knie. Mit einiger Verspätung versuchte Leoff, es ihr gleichzutun, obwohl seine Schiene ihn behinderte. »Mery«, sagte die Königin mit leiser, kalter Stimme. »Warum gehst du nicht spielen?« »Ja, Majestät«, erwiderte die Kleine und schickte sich an hinauszuhuschen. Dann jedoch drehte sie sich um und blickte Leoff scheu an. »Danke«, sagte sie. »Mery«, sagte die Königin ein wenig heftiger. Und das kleine Mädchen war verschwunden. Dann wandte die Königin sich mit eisigem Blick an Leoff. »Wann hat Euch Lady Gramme damit beauftragt, ihrem Kind Musikstunden zu geben?«, fragte sie. »Majestät, ich kenne keine Lady Gramme«, erwiderte Leoff. »Das Kind hat sich hier versteckt, weil sie Musik mag. Ich habe sie heute entdeckt.« Die Züge der Königin schienen sich ein wenig zu entspannen. Ihre Stimme wurde weicher. »Ich werde dafür sorgen, dass sie Euch nicht mehr belästigt.« »Majestät, ich finde die Kleine entzückend. Sie hat ein exzellentes Gehör und lernt schnell. Ich würde sie auch umsonst unterrichten.« »Tatsächlich?« Die Kühle war zurückgekehrt, und zum ersten Mal begann Leoff sich zu fragen, wer genau Lady Gramme wohl war. »Mit Verlaub, Majestät, ich weiß so wenig über diesen Ort. Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht einmal, ob ich hier in Stellung bin.« »Um das zu besprechen, bin ich hier.« Sie setzte sich, und er stand beklommen da und sah sie an, die Krücken fest unter die Arme geklemmt. Im Korridor stand zu jeder Seite der Tür ein Wachposten. 176 »Mein Gemahl hat nichts davon gesagt, dass er Euch angestellt hat, und der Brief, den Ihr von ihm erhalten habt, scheint Euch abhanden gekommen zu sein.« »Majestät, mit Verlaub, der Brand in der Malend -« »Ja, ich weiß, und Herzog Artwair hat den Brief gesehen, und das genügt mir. Trotzdem muss ich heutzutage sehr vorsichtig sein. Ich habe an verschiedenen Stellen Erkundigungen über Euch eingezogen, und das hat eine Weile gedauert.« »Ja, Majestät. Selbstverständlich, ich verstehe.« »Ich weiß nicht viel von Musik«, sagte die Königin, »aber man hat mir zu verstehen gegeben, dass Ihr für einen Komponisten einen ungewöhnlichen Ruf habt. Die Kirche zum Beispiel hat Eure Arbeit mehrfach zensiert. Es wurde sogar von Hexerei gemunkelt.« »Ich versichere Euch, Majestät«, erwiderte Leoff hastig, »ich habe nichts Ketzerisches getan und bin ganz gewiss kein Hexenmeister.« »Und doch äußert die Geistlichkeit in Glastir genau diese Ansicht. Sie sagen, Eure Werke würden häufig unziemlich orchestriert.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was das heißt. Außerdem berichten sie, eines Eurer Konzerte wäre Anlass für Gewaltausbrüche gewesen.« »Das stimmt lediglich im weitesten Sinne des Wortes, Majestät. Zwei Herren hatten sich über den Wert einer meiner Kompositionen gestritten. Sie wurden dabei handgreiflich, und sie hatten ... Freunde, die sich ihnen angeschlossen haben.« »Es hat also eine Schlägerei gegeben.« Leoff seufzte. »Ja, Euer Majestät.« »Der Abtor von Glastir meinte, Eure Musik hätte einen schlechten Einfluss auf die Menge gehabt.« »Ich glaube nicht, dass das stimmt, Majestät.« Sie lächelte schwach. »Ich glaube, ich verstehe, warum mein Gemahl Euch diesen Posten angeboten hat, wenngleich er lange unbesetzt war. Er lag mit der Kirche ein wenig im Streit, besonders mit Praifec Hespero. Ich nehme an, er hat es getan, um ihn ein biss177 chen zu ärgern.« Das Lächeln verschwand. »Unglücklicherweise ist mein Sohn nicht in derselben Position wie mein Gemahl. Wir können es uns nicht leisten, die Kirche zu reizen - zumindest nicht sehr. Andererseits habt Ihr Euch als Freund des Königreiches erwiesen, und Herzog Artwairs Fürsprache in Eurer Sache ist Gold wert.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Sagt mir, was der Kirche an Eurer Musik nicht gefällt. Genau.« Leoff bedachte seine Worte sorgfältig. »Majestät, Euer letzter Hofkomponist - welches seiner Werke war Euer Lieblingsstück?« Sie blinzelte, und ihm wurde plötzlich kalt, weil er sich angemaßt hatte, ihre Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. »Das kann ich wirklich nicht sagen«, antwortete sie. »Ich glaube, es war wohl einer seiner Tänze.«
»Könnt Ihr es in Eurem Kopf hören? Könnt Ihr es summen?« Jetzt sah sie verärgert aus. »Wollt Ihr auf irgendetwas Bestimmtes hinaus?« Er balancierte auf seinen Krücken, um die Hände vor der Brust falten zu können. »Majestät, Musik ist eine Gabe der Heiligen. Sie hat die Macht, die menschliche Seele zu rühren. Und doch tut sie es meistens nicht. Seit fast hundert Jahren wird Musik nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand geschrieben, beinahe wie ein Rechenexempel. Sie ist unfruchtbar geworden, eine reine Denkaufgabe.« »Ein Tanz sollte sich doch wie ein Tanz anhören, oder nicht?«, fragte die Königin. »Und ein Requiem wie ein Requiem?« »Das sind Formen, Majestät. Innerhalb dieser Formen lassen sich so erhabene Dinge bewerkstelligen -« »Das verstehe ich nicht. Was hat die Kirche gegen Eure Philosophie?« Und jetzt war Leoff klar, dass er seine Worte sehr sorgfältig wählen musste. »Weil manche Kirchenangehörige Gewohnheit mit Lehre verwechseln. Es gab eine Zeit vor der Erfindung der Hammarharfe - sie ist kaum hundert Jahre alt. Vor zweihundert Jahren war es undenkbar, dass zwei Stimmen verschiedene Teile eines Liedes sin178 gen sollten, geschweige denn vier, aber heute werden Kirchenhymnen stets für vier Stimmen verfasst. Und trotzdem hat sich, aus welchen Gründen auch immer, die Musik in den letzten hundert Jahren überhaupt nicht verändert. Sie ist leblos und vertraut. Manche Menschen fürchten Veränderungen -« »Ich habe Euch um eine genaue Auskunft gebeten.« »Ja, Majestät. Vergebt mir. Nehmt zum Beispiel die Trennung von instrumentaler und gesungener Musik. Die Musik der Kirche ist ausschließlich die des Gesangs. Andererseits gehört zu einem Konzert niemals eine menschliche Stimme.« »Barden spielen und singen«, wandte die Königin ein. »Ja. Und der Kirche gefällt das nicht. Wieso ? Man hat mir nie eine schriftliche Kirchenlehre gezeigt, in der das erklärt wird.« »Dann wollt Ihr also sowohl für Stimme als auch für Instrumente komponieren?« »Ja! In den alten Zeiten hat man das getan, vor der Herrschaft des Schwarzen Narren.« »Hat er es untersagt?« »Nun - nein. Er hat es sogar gefördert, doch wie alles, was er berührt hat, hat er auch dies zugrunde gerichtet. Er hat Musik zu etwas Grauenvollem gemacht - hat Sänger foltern lassen, damit sie im Chor schreien, solche Dinge.« »Ah«, sagte die Königin. »Und als die Hegemonie ihn besiegt und Frieden geschaffen hat, hat sie solche Musik verboten, wegen ihrer Verbindung zum Schwarzen Narren, so wie sie alles andere verboten hat, was mit ihm zu tun hatte.« »Einschließlich der Erfindungskunst«, erklärte Leoff. »Wäre dieser Bann noch in Kraft, wären die Malenden, die Euer Neuland trockenlegen, niemals erdacht worden.« Wieder lächelte die Königin. »Glaubt nicht, die Kirche hätte nicht versucht, das zu verhindern«, bemerkte sie. »Aber um auf Eure Behauptung zurückzukommen - Ihr sagt, Musik hätte die Macht, die menschliche Seele zu rühren, und jetzt sprecht Ihr vom Schwarzen Narren. Es heißt, während seiner Herrschaft sei Musik verfasst worden, die ganze Reiche in Verzweiflung gestürzt hat, 179 die Wahnsinn und tierisches Verhalten hervorrufen konnte. Wenn dem so ist - wenn Musik die menschliche Seele in die Finsternis treiben kann -, ist es dann nicht besser, wenn sie, wie Ihr sagt, unfruchtbar und harmlos bleibt?« Leoff löste seine gefalteten Hände und seufzte. »Majestät«, erwiderte er, »die Welt ist bereits voll von Musik der Verzweiflung. Klagelieder klingen uns unablässig in den Ohren. Ich möchte dem mit Freude begegnen, mit Stolz, Zärtlichkeit, Frieden - und vor allem mit Hoffnung. Ich möchte unser Leben um etwas bereichern.« Die Königin sah ihn lange an, ohne dass in ihrer Miene etwas zu lesen gewesen wäre. »Rührt meine Seele«, sagte sie schließlich. »Zeigt mir, was Ihr meint. Ich werde mir ein Urteil darüber bilden, wie gefährlich es ist.« Er zögerte einen Augenblick; er wusste, dies war der entscheidende Moment, und er überlegte, was er spielen sollte. Eine der aufwühlenden Weisen, die er für den Hof von Glastir geschrieben hatte? Den Siegesmarsch des Lord Fell? Er hatte sich für Letzteres entschieden und legte die Finger auf die Tasten, doch es geschah etwas anderes. Er begann, das zu spielen, was er gemieden hatte, jenen Teil, der in seinem Kopf bereits Gestalt angenommen hatte. Sanft zunächst, ein Lied von Liebe und Sehnsucht, ein Pfad in eine schönere Zukunft. Dann die Feinde, Missklang, Schrecken, dunkle Wolken, die die Sonne auslöschten. Pflicht, grausige Pflicht, doch alldieweil kehrte die Melodie der Hoffnung wieder und wieder zurück, unbezwingbar, bis am Ende, nach Trauer und Tod, nur noch sie übrig blieb, trotz allem triumphierend. Als er geendet hatte, fühlte er, dass seine Augen feucht waren, und er sandte ein stummes Dankgebet an die Heiligen, für das, was sie ihm geschenkt hatten. Langsam wandte er sich von der Tastatur ab und sah, dass die Königin ihn anstarrte. Eine einzelne Träne rann langsam ihre Wange hinunter.
»Wie heißt das Stück?«, fragte sie leise. »Ich habe es noch nie gespielt«, erwiderte er. »Es ist ein Teil von 180 etwas Größerem, eine Quintessenz davon. Aber vielleicht nenne ich es >Die Mär von Litha<.« Sie nickte nachdenklich. »Ich verstehe, warum der Kirche Eure Musik missfällt«, sagte sie. »Sie rührt wahrhaftig die Seele, und sie möchte unsere Seelen für sich allein beanspruchen. Aber die Heiligen sprechen aus Euch, nicht wahr, Leovigild Ackenzal?« »Ich glaube schon, Majestät. Ich hoffe es.« »Ich auch.« Sie hob das Kinn und stand auf. »Ihr steht in meinen Diensten«, sagte sie. »Und ich würde gern etwas bei Euch in Auftrag geben.« »Alles, Majestät.« »Dies sind dunkle Zeiten. Krieg droht, und Kreaturen des Grauens, die es nicht geben dürfte, gehen im Lande um. Viel ist verloren gegangen, und wie Ihr sagt, Verzweiflung umgibt uns allenthalben. Ich hatte vor, Euch zu beauftragen, ein Requiem für die Toten zu komponieren - für meinen Gemahl und meine Töchter. Jetzt glaube ich, wir brauchen etwas Größeres. Ich möchte, dass Ihr etwas schreibt - etwas wie das, was ich gerade gehört habe -, nicht für mich oder die Edlen des Hofes. Ich will, dass Ihr etwas für dieses Land schreibt, etwas, das den niedrigsten Diener mit dem höchsten Herrn vereint. Ich will etwas für mein ganzes Volk, versteht Ihr? Musik, die diese ganze Stadt füllen, die sich in die Lande jenseits der Stadtmauern ausbreiten kann und von der sie auf der anderen Seite der grauen Meere flüstern werden.« »Das wäre -« Einen Augenblick lang fand Leoff keine Worte. »Majestät, Ihr habt die Sehnsucht meines Herzens ausgesprochen.« »Ich hätte es gern, wenn es zu Wihnaht aufgeführt werden könnte, zur Zeit des Julfestes. Könnt Ihr bis dahin fertig sein?« »Auf jeden Fall, Majestät.« Sie nickte und wandte sich zum Gehen, hielt dann jedoch inne. »Ihr seid ein gefährlicher Mann, Mestro Ackenzal. Ich gehe ein großes Risiko mit Euch ein, viel größer, als Ihr jemals ahnen könnt, doch da ich dies nun einmal tue, tue ich es ganz und gar und mit Überzeugung. Wenn Ihr diese Aufgabe übernehmt, dürft Ihr Euch nicht aus Furcht vor der Kirne zurückhalten. Ihr müsst tun, worum ich gebeten habe, nach 181 besten Kräften und mit all Eurer Erfindungsgabe. Tut es in dem Wissen, dass ich vielleicht nicht imstande sein werde, Euch zu schützen, obgleich ich mein Bestes versuchen werde. Wenn Ihr nicht bereit seid, dafür zu brennen, so sagt es mir jetzt.« Ein kalter Schauer der Angst durchfuhr Leoff, doch er nickte. »Ich war, wie Ihr wisst, Majestät, in Broogh«, sagte er. »Ich habe den Preis gesehen, der dort für Euer Reich gezahlt worden ist. Ich bin kein Krieger. In meinem Herzen bin ich nicht tapfer. Aber für das, was Ihr verlangt - für die Gelegenheit, das zu tun, was Ihr verlangt -, werde ich es riskieren, zu brennen. Ich hoffe nur, ich bin dessen würdig.« »Nun gut«, sagte sie. Und dann war sie fort. 14. Kapitel ] Zu Gast bei der Gräfin Neil fuhr im Sattel herum. Er fürchtete, dass das Geräusch von Stahl hinter ihm von Verrat kündete, doch der vitellianische Ritter und sein Gefolge bedrohten ihn nicht. Stattdessen hatten sie, wie er jetzt begriff, gesehen, was ihm entgangen war - eine Gruppe gepanzerter Reiter zu ihrer Rechten, die auf sie zukamen. Sie waren alle gleich gekleidet, in schwarze Überwürfe und rote Umhänge, die sie über den Rüstungen trugen. Keiner von ihnen hatte seinen Helm aufgesetzt. Sir Quinte schob sein Schwert in die Scheide zurück, und seine Männer taten es ihm nach. »Ritter der Kirche«, erklärte er. »Der Orden von Lord Tonno.« Neil nickte und sagte nichts, doch er hielt die Hand dicht bei seinem Schwert. Wenngleich er den Heiligen vertraute, so hatte er doch durch bittere Erfahrung gelernt, dass ihre menschlichen Diener ebenso zur Schlechtigkeit neigten wie jeder andere. 182 Sie saßen auf ihren Pferden und warteten darauf, dass die Ritter sie erreichten. Der Anführer war ein Riese von einem Mann, mit einem buschigen schwarzen Bart und wogengrünen Augen. Er hob die Hand zum Gruß und sprach in deutlichem Vitellianisch. Sir Quinte antwortete, und sie schienen einen kurzen Streit auszutragen. Dann wandte sich der Ritter von Tonno um und betrachtete Neil. »Ich bin Sir Chenzo«, sagte er, nunmehr in der Sprache des Königs, »ein Ritter im Dienst unseres heiligen Fratrex Prismo in z'Irbina. Sir Quinte sagt, Ihr hättet diesen Konvent gesucht?« »So ist es«, erwiderte Neil. »Wusstet Ihr von seinem Zustand?« »Nein, Sir, davon wusste ich nichts.« »Weshalb seid Ihr dann hierher gereist?« »Es tut mir Leid, Sir Chenzo, aber ich fürchte, das kann ich Euch nicht sagen. Aber bitte, ich muss wissen, was hier geschehen ist? Wo sind die Schwestern des Konvents?«
»Sie sind bei ihrer Lady Cer«, antwortete der Ritter. »Alle wurden niedergemacht.« Neil war, als würde er fallen. »Alle, Sir Chenzo? Niemand hat überlebt?« Sir Chenzo kniff die Augen zusammen. »Ein schreckliches Verbrechen ist hier verübt worden. Ich muss Euch noch einmal fragen, warum seid Ihr zu diesem Ort gekommen?« »Sir Viotor hat ein Verschwiegenheitsgelübde abgelegt«, erklärte Sir Quinte, »aber ich bürge dafür, dass er ein höchst edler und ehrbarer Ritter ist.« »Kommt«, sagte Sir Chenzo. »Antwortet mir ganz allgemein. Seid Ihr gekommen, um eine Nachricht zu überbringen? Seid Ihr wegen einer der Schwestern hier? Vielleicht ein Stelldichein?« Neil fühlte, wie ihm die Brust eng wurde. »Es tut mir Leid, Sir. Sir Quinte hat Recht. Ich habe ein Gelübde abgelegt.« »Genau wie ich«, erwiderte der Ritter. »Ich habe geschworen, den Übeltäter zu finden, der diese Schandtat verübt hat. Alles, was Ihr vielleicht wissen mögt, könnte für mich von Nutzen sein.« 183 »Habt Ihr denn keinerlei Anhaltspunkte?«, wollte Sir Quinte wissen. »Ein paar. Es waren fremde Ritter, die keine Standarte und keine Wappen getragen haben, so wie unser Freund hier. Sie haben die Schwestern abgeschlachtet und sind dann in verschiedene Richtungen davongeritten.« »Als würden sie etwas suchen«, murmelte Neil. »Ja, als würden sie nach jemandem suchen«, bestätigte Sir Chenzo. »Aber nach wem, Sir Viotor? Das ist die Frage, und ich habe den Verdacht, dass Ihr eine dunkle Ahnung habt, wie die Antwort lauten könnte.« Neil wandte den Blick ab und versuchte nachzudenken. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das Gemetzel in dem Konvent und die Morde in der königlichen Familie ein Zufall waren. Wer auch immer die Meuchelmörder ausgeschickt hatte, um seine geliebte Fastia zu töten, hatte auch hierher Attentäter gesandt, um ihre Schwester zu ermorden. Wenn Anne tot war, konnte er sich mit Fug und Recht als seines Eides ledig betrachten. Er konnte zur Königin zurückkehren und sie beschützen. Doch das Gespräch der Königin mit Errens Schatten deutete darauf hin, dass Anne vor nur zwei Wochen noch am Leben gewesen war. Nach den Ruinen zu urteilen, schien der Konvent schon vor längerer Zeit niedergebrannt worden zu sein. Also musste sie dem allgemeinen Morden entkommen sein und wurde von ihren Häschern verfolgt. Das bedeutete, dass ihre Verfolger bereits wussten, wer sie war. Das Geheimnis, das zu bewahren er geschworen hatte, war kein Geheimnis mehr. Wenn dem so war, waren nur noch sein Name und sein Auftrag geheim. Er musste sich diese Namenlosigkeit erhalten; wenn Anne noch lebte, war er vielleicht ihre einzige Hoffnung. Er konnte nicht zulassen, dass man ihm auflauerte. Und so log Neil, während er ein stummes Gebet an die heilige Freinte schickte. »Ich sehe, dass ich Euch mein Geheimnis anvertrauen muss«, 184 seufzte er. »Mein Name ist Etein MeqMerlem, von der Insel Andevoi. Es gibt eine junge Dame, die ich liebe, aber ihre Eltern sind mit unserer Verbindung nicht einverstanden. Sie haben sie in einen Konvent geschickt, um uns voneinander fern zu halten. Ich weiß nicht, welcher Konvent es ist, aber seit drei Jahren habe ich jetzt nach ihr gesucht, von Hansa bis Safnien, bisher ohne Erfolg. Jetzt bin ich hier, und Ihr erzählt mir von diesem furchtbaren Ereignis.« Er richtete sich im Sattel auf. »Ich weiß nichts von diesen Morden, aber ich muss wissen, ob sie hier war. Wenn sie noch lebt, werde ich sie finden. Wenn sie tot ist, werde ich sie rächen. Ich bitte Euch, helft mir bei meiner Suche.« »Ich wusste es!«, rief Sir Quinte. »Ich wusste, dass Ihr um der Liebe willen auf der Suche seid.« Sir Chenzo musterte Neil mit einer hochgezogenen Braue. »Wie lautete der Name der Lady?«, erkundigte er sich. »Muerven de Selrete«, antwortete Neil. Dann fuhr er angstvoll fort: »Bitte, war sie hier?« Der Ritter zuckte die Achseln. »Die Dokumente des Konvents sind zusammen mit allem anderen verbrannt. Es tut mir Leid, aber es gibt keine Möglichkeit, das herauszufinden.« »Aber die Leichen -« »Sind längst begraben und - Ihr werdet mir verzeihen - außerdem zumeist bis zur Unkenntlichkeit entstellt.« »Ich weiß, dass sie noch lebt«, stieß Neil hervor. »Ich fühle es in meinem Herzen. Könnt Ihr mir wenigstens sagen, in welche Richtung der größte Suchtrupp geritten ist?« Sir Chenzo schüttelte den Kopf. »Ich bedaure, Sir Etein, ich habe meine eigenen Eide und Pflichten. Aber bitte, begleitet uns zu dem Haus, wo wir zu Gast sind. Ruht Euch heute Nacht aus. Vielleicht fällt Euch dort etwas ein, das uns dienlich ist.« »Ich fürchte, ich muss Euer Angebot ablehnen«, erwiderte Neil. »Ich muss meine Suche sofort wieder aufnehmen.« »Bitte«, sagte Sir Chenzo. »Ich bestehe darauf.« Der Blick seiner Augen gab Neil deutlich zu verstehen, dass er nicht einfach nur höflich war. 185 Aus Wiesen mit langsam gelb werdendem Gras und violetten Disteln kamen sie in riesige Weingärten und
schließlich zu einem weitläufigen Gut mit weiß getünchten Mauern und roten Dächern. Als sie das Herrenhaus erreichten, war die Sonne untergegangen, und nur ein schwaches Glühen war im Westen geblieben. Bedienstete in pflaumenblauem Wams und gelben Beinkleidern nahmen ihnen die Pferde ab, und sie schritten durch ein Tor in einen großen Innenhof. Ein paar Diener in der gleichen Livree fegten diesen gerade, als sie eintraten, und ein Page führte sie durch eine weitere Tür und in eine von Kerzen und einem Kaminfeuer hell erleuchtete Halle. Mehrere Menschen waren um einen langen Tisch versammelt. Am auffälligsten unter ihnen war eine Frau von mittleren Jahren und stattlicher Leibesfülle, die sich bei ihrem Eintreten vom Kopfende der Tafel erhob. »Portate az me ech'opsi, casnar Chemo?«, fragte sie mit angenehmer, leutseliger Stimme. »Oex«, antwortete Sir Chenzo und erklärte sodann etwas auf Vitellianisch. Die Frau nickte, vollführte etliche Gesten mit der Hand und musterte Neil dann eingehend. »Pan tio nomes, me dello?«, fragte sie. »Um Vergebung, Lady«, sagte Neil. »Ich verstehe Euch nicht.« Die Frau warf Sir Chenzo einen gespielt zornigen Blick zu. »Ihr habt zugelassen, dass ich mich einem Gast gegenüber unhöflich zeige«, wies sie ihn in der Sprache des Königs zurecht. »Ihr hättet mir gleich sagen müssen, dass er unsere Sprache nicht versteht.« Sie wandte sich wieder an Neil. »Ich habe nur nach Eurem Namen gefragt, mein dello«, sagte sie. »Lady, mein Name ist Etein MeqMerlem, und ich stehe Euch zu Diensten.« »Ich bin Gräfin Orchaevia, und dies ist mein Haus, in das man Euch gebracht hat.« Sie lächelte erneut. »Meiner Treu. So viele Gäste.« »Ich bedauere, dass Ihr nicht unterrichtet wurdet«, beeilte sich 186 Sir Chenzo zu beteuern, »aber wir sind ihnen vorhin erst begegnet, bei den Ruinen des Konvents. Mein Orden wird Euch selbstverständlich jegliche Unkosten -« »Unfug«, wehrte die Frau ab. »Werdet nicht vulgär, Sir Chenzo. Die Gräfin Orchaevia braucht man nicht mit Kirchensilber zu überhäufen, um sie dazu zu bewegen, Reisenden Gastfreundschaft zu gewähren.« Ihr Blick blieb an Neil hängen. »Schon gar nicht einem so ansehnlichen jungen dello wie diesem.« Dann lächelte sie Sir Quinte an. »Oder einem mit einem Ruf wie dem von Sir Quinte.« Sir Quinte verbeugte sich. »Gräfin Orchaevia, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Ich hatte vor, Euch einen Besuch abzustatten, da ich schon einmal in der Gegend war, noch ehe diese Herren uns hierher geleitet haben.« Neil verneigte sich ebenfalls. Er musste an die Herzogin Elyoner von Loiyes denken, obgleich äußerlich keinerlei Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen bestand. Die Herzogin war zierlich, beinahe von der Größe eines Kindes. Und doch hatte die Gräfin etwas von ihrer koketten Art. Außerdem führte sie eine ausgezeichnete Küche. Zuerst wurden Früchte aufgetragen, mit einem dunklen, süßen Wein, gefolgt von einer erdigen gelben Suppe, die Neil nicht kannte. Dann kam gebratenes Schweinefleisch mit säuerlicher grüner Soße und mit Waldpilzen gefüllten Pastetchen. Danach folgten Rebhühner und Kapaune mit Klößchen aus Hackfleisch, die vergoldet und so geformt worden waren, dass sie Eiern glichen, dann eine Pastete aus ungelegten Eiern, Käse und Wachtelfleisch, mit rotem Honig und Knoblauch glasiert. Als der Fischgang aufgetragen wurde, war Neil fast zu satt, um noch etwas essen zu können, doch er hielt durch; er wollte seine Gastgeberin nicht kränken. »Sir Etein ist auf der Suche nach seiner großen Liebe, Gräfin«, sagte Sir Quinte, während er ein Forellenauge auslöste und es sich in den Mund schob. »Wie bezaubernd«, erwiderte die Gräfin. »Von großer Liebe 187 verstehe ich etwas. Habt Ihr jemand Besonderen im Sinn, Sir Etein, oder ist Euch das Mädchen noch unbekannt?« »Sie -«, setzte Neil an, doch Sir Quinte unterbrach ihn. »Wir glauben, dass sie in dem Konvent war«, erklärte er. »Oh.« Die Miene der Gräfin verdüsterte sich. »So viele Mädchen, so jung. Was für eine schreckliche Geschichte. Und auch noch gleich nach dem Fiussanal. Sie sind kurz vorher hier gewesen, wisst Ihr das?« »Hier?«, fragte Neil. »Oh, in der Tat. Die Schwestern des Konvents sind - waren -meine Nachbarinnen. An jedem Fiussanal habe ich ein Fest für die Mädchen veranstaltet. Es hat genau in jener Nacht stattgefunden -« »In der Nacht des Purpurmondes?«, platzte Neil heraus, ehe er sich eines Besseren besinnen konnte. Wieder tauchte die arme Elseny vor ihm auf, die Kehle von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten. Er fühlte Fastia in seinen Armen, ihr Herzschlag nicht kräftiger als der eines Vogels. Wieder sah er den Gryffin und den Dornenkönig vor sich. Ihm wurde klar, dass alle am Tisch ihn ansahen. »Ja«, sagte die Gräfin. »In der Nacht des Purpurmondes.« Ihre Augenbrauen senkten sich herab, und sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, Ihr irrt Euch, Sir Etein. Ich hoffe, Eure Liebste war keines von den Mädchen in dem Konvent.« »Ist es möglich - wenn sie hier waren -, dass nicht alle zurückgekehrt sind?«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Orchaevia leise. »Die Schwestern waren in dieser Hinsicht sehr streng, und der Angriff hat sich Stunden, nachdem das Fest geendet hatte, zugetragen.« »Die Heiligen seien gesegnet, dass die Angreifer nicht hierher gekommen sind«, sagte Sir Quinte und trank einen tiefen Schluck aus seinem Becher mit trockenem Rotwein. »Ja«, sagte Orchaevia. »Den Heiligen sei Dank, fürwahr. Wie hieß Eure Lady, Sir Etein? Wenn sie hier war, habe ich sie vielleicht kennen gelernt.« 188 »Muerven de Selrete«, erwiderte Neil. »Natürlich tragen sie im Konvent nicht ihre richtigen Namen«, überlegte die Gräfin. »Könnt Ihr sie beschreiben?« Neil schloss die Augen; er dachte immer noch an Fastia. »Ihre Arme waren weißer als Schwanenfedern«, sagte er. »Ihr Haar so schwarz wie Rabenschwingen. Ihre Augen waren noch dunkler, wie aus dem Nachthimmel geschnittene Kreise.« Seine Stimme bebte, als er diese Worte sprach. »Das hilft mir nicht viel weiter«, wandte die Gräfin ein. »Ihr beschreibt eher Eure Liebe als ihr Äußeres.« »Ich muss sie finden«, sagte Neil ernst. Sir Chenzo schüttelte den Kopf. »Wir haben ein paar Mal von zwei Mädchen gehört, die mit zwei Männern auf der Flucht gesehen wurden. Eins hatte Haare wie Kupfer, das andere wie Gold. Keine davon scheint Eure Lady gewesen zu sein, Sir Etein.« Während er dies sagte, warf er Neil einen recht beiläufigen Blick zu, doch in diesem Blick war etwas Suchendes, das darauf wartete, dass er eine Regung zeigte. »Ich muss hoffen«, sagte Neil leise. Innerlich jedoch verspürte er ein jähes Feuer. Sir Chenzo hatte soeben Prinzessin Anne und ihre Zofe Austra beschrieben. Er versuchte enttäuscht auszusehen und war der Meinung, dass ihm dies auch gelungen sei. Nach dem Mahl führte einer der Diener der Gräfin ihn zu einem Gemach, von dem er erwartet hatte, dass es eine Schlafkammer sei, doch er hatte sich geirrt. Der Raum, in den man ihn brachte, war rundum mit Fliesen geschmückt, mit Fresken, die springende Delfine, Aale und Tintenfische zeigten. In den Boden war eine riesige Wanne eingelassen, die bereits mit dampfendem Wasser gefüllt war. Der Lakai stand erwartungsvoll neben ihm, während Neil die Wanne anstarrte und genau wusste, wie wunderbar sich ein Bad anfühlen würde. Außerdem wusste er genau, wie verwundbar er wäre. Der 189 Raum hatte nur einen Eingang. »Ich brauche kein Bad«, sagte er schließlich. Ganz offensichtlich verwirrt nickte der Diener und führte ihn in ein Schlafgemach. Es war ebenso üppig ausgestattet wie der Rest des Hauses, doch es hatte ein Fenster, und man konnte die Tür verriegeln. Vom Fenstersims aus ging es nicht allzu tief hinunter. Er erwog diese Möglichkeit gerade, als ihn ein leises Geräusch herumfahren ließ. Die Gräfin stand in seinem Schlafzimmer. Er wusste nicht, wie sie hereingekommen war. »Erst weist Ihr die Wohltat eines warmen Bades zurück, und jetzt sieht es so aus, als wolltet Ihr auch noch das Bett verschmähen, das ich Euch anbiete«, sagte sie. »Gräfin -« »Still. Euer Misstrauen ist wohl begründet. Sir Chenzo plant, Euch noch heute Nacht in Gewahrsam zu nehmen.« Neils Mund verzog sich grimmig. »Dann muss ich augenblicklich fort.« »Ruht Euch einen Augenblick aus. Sir Chenzo stellt im Moment keine Gefahr für Euch dar. Dies ist mein Haus.« Als sie das sagte, fiel alles Frivole von ihr ab, und einen Augenblick lang verspürte Neil ein Kribbeln der Furcht - nicht vor etwas Stofflichem, sondern vor ihrer schieren Gegenwart. Es war, als stünde er ganz allein in der Finsternis des neuen Mondes. »Wer seid Ihr?«, flüsterte er. »Ich bin die Gräfin Orchaevia«, antwortete sie. »Ihr seid etwas anderes.« Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Nicht alle Schwestern der heiligen Cer sind umgekommen, als ihr Konvent geschleift wurde. Eine lebt noch.« Er nickte verstehend. »Wisst Ihr, was passiert ist?« »Ritter sind in der Dunkelheit gekommen, die meisten waren hansisch. Sie haben ein Mädchen gesucht, genau wie Ihr. Dasselbe Mädchen, nicht wahr?« 190 »Ich glaube schon«, antwortete Neil. »Ja. Sie ist wichtig. Wichtiger, als Ihr wissen könnt.« »Ich weiß nur, dass es meine Pflicht ist, sie zu finden und sie vor Schaden zu bewahren. Das ist alles, was ich wissen muss.« »Das sehe ich. Ich habe beobachtet, wie Ihr gelogen habt, und konnte erkennen, wie sehr es Euch geschmerzt
hat. Ihr seid nicht sehr bewandert im Unredlichsein.« »Ich habe keine Übung darin«, entgegnete er. »Sie lebt, und ihre Zofe auch. Ich glaube, zwei Freunde von mir, Degenfechter, die das Land kennen, begleiten sie. Meine Diener sagen, sie sind nach Norden gezogen, möglicherweise zum Hafen von z'Espino. Ich rate Euch, dort nach ihnen zu suchen. Außerdem rate ich Euch, heute Nacht aufzubrechen, und zwar allein.« »Sir Chenzo. Ist er ein Schurke?« »An sich nicht, allerdings könnte es sein, dass er Schurken dient. Er war nicht an den Morden in dem Konvent beteiligt. Aber merkt Euch meine Worte gut, Sir Neil - irgendjemand in der Kirche war daran beteiligt. Jemand von Bedeutung. Die Ritter, die hier waren, waren von den Heiligen gezeichnet, und manche von ihnen waren von einer ganz besonderen Art, einer Art, wie die Welt sie seit vielen Zeitaltern nicht gesehen hat.« »Und was für eine Art ist das?« »In einem meiner Weinkeller liegt ein Mann, dem der Kopf abgeschlagen wurde. Er lebt noch. Er ist nicht bei Bewusstsein, er kann nicht sprechen oder fühlen, aber sein Körper hört nicht auf zu zucken.« Sie hob die Schultern. »Ich glaube, Sir Chenzo weiß nichts davon, vielleicht aber seine Dienstherren. Man hat ihm aufgetragen, nach jemandem wie Euch Ausschau zu halten. Wie ich schon sagte, Eure Lügen sind nicht gerade überzeugend.« »Und Sir Quinte?« »Ich weiß nicht, ob er etwas damit zu tun hat, aber es wäre töricht, es darauf ankommen zu lassen.« »Er war mir eine Hilfe. Ich beherrsche die Sprache dieses Landes nicht. Als er mich gefunden hat, hatte ich mich verirrt.« »Vielleicht. Vielleicht hat er Euch auch nur eingeredet, dass Ihr 191 Euch verirrt hättet. Ich habe einen Diener, den ich Euch mitgeben werde. Er ist absolut vertrauenswürdig und wird Euer Führer und Euer Dolmetscher sein. Außerdem wird er Euch mit Verpflegung versorgen.« Dann lächelte sie. »Geht. Ihr könnt zur Haustür hinaus. Niemand wird Euch sehen oder Euch aufhalten.« »Was ist mit Euch?« »Habt keine Angst um mich. Ich kann jegliche Schwierigkeiten meistern, die durch Euer Verschwinden entstehen könnten.« Neil betrachtete sie noch einen Moment, dann nickte er. Wie die Gräfin versprochen hatte, begegnete er in den Fluren und Hallen niemandem außer ihren Bediensteten, die sich lediglich verneigten oder höflich nickten, stets in völligem Schweigen. Draußen im Hof wartete Hurrikan zusammen mit einer kleineren schwarzen Stute und einem braunen Wallach, auf dessen Rücken Vorräte festgeschnallt waren. Neben den Tieren stand ein Knabe in braunen Hosen und weißem Hemd, mit einer langen schwarzen Weste und einem breitkrempigen Hut. »Mit Verlaub, Sir«, sagte der Junge. Er sprach die Sprache des Königs, mit einem leichten Akzent. Sein Tonfall klang ironisch. »Ich danke dir -« »Ihr könnt mich Vaseto nennen.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Pferde. »Alles ist bereit. Sollen wir aufbrechen?« »Ich denke schon.« »Gut.« Der Bursche schwang sich auf sein Reittier. »Wenn Ihr mir folgen wollt.« Das Land war blasses Gold, wo der Mond es küsste, aber dort, wo er es nicht tat, waren die Schatten seltsam. Manche breiteten sich aus wie schwarzer Rost, andere waren wie in der Flamme geschwärzte Bronze oder die grüne Verwesung des Kupfers. Es war, als habe ein Riese die Welt aus Metall geschmiedet und sie dann zu lange dem Wetter ausgesetzt. Sogar die Sterne sahen aus wie Stahl, und Vaseto - wenn sein Gesicht unter der Hutkrempe zum Vorschein kam - war rotes, in tiefes Relief graviertes Gold. 192 Neil hatte noch nie so eine Nacht erlebt. Er wünschte sich, er könne dies alles mehr genießen, doch die vielfarbigen Schatten schienen voller tödlicher Pfeile zu sein, und nächtliche Geräusche teilten sich um sie herum, ließen Raum, um etwas anderes zu hören - etwas, das ihnen folgte. »Hörst du das?«, fragte er Vaseto. »Es ist nichts«, meinte der Junge. »Es sind nicht Eure Freunde, die Ritter, das ist sicher. Von denen würde jeder genauso viel Lärm machen wie Ihr.« Er lächelte dünn. »Aber Ihr habt gute Ohren.« Ein paar Stunden später machten sie bei einem verlassenen Haus Halt, das hinter ein paar Weiden verborgen war, und wechselten sich mit Schlafen ab. Neil stand in düsterer Stimmung Wache und sah zu, wie sich die Schatten verschoben, als der Mond unterging. Hin und wieder sah er, wie einer von ihnen sich auf eine Art und Weise bewegte, die nicht hätte sein sollen. Hunde heulten in der Ferne, als trauerten sie um den untergegangenen Mond. Kurz nach Tagesanbruch setzten sie ihre Reise nach Norden fort, Neil mit müden Augen, sein Gefährte anscheinend munter und ausgeruht. Vaseto war ein kleiner, dunkler Bursche mit großen braunen Augen, und sein Haar war dicht über den Ohren gerade abgeschnitten. Er ritt, als wäre er im Sattel geboren worden, und sein Pferd - wenn auch klein - war lebhaft.
Mittags überquerten sie einen kleinen Fluss und kamen an einer Stadt auf einem Hügel vorbei. Drei große Türme ragten aus dem Gewirr der Dächer empor, und Felder erstreckten sich bis zur Straße und darüber hinaus. Häuser und Schenken wurden häufiger, bis die Straße fast von ihnen gesäumt war, dann wurden sie wieder spärlicher. Wald begann sich um den Weg herum breit zu machen und bildete von Zeit zu Zeit dunkle, duftende Tunnel aus Zedern und Lorbeerbäumen. »Wie weit ist es bis z'Espino?«, erkundigte sich Neil ruhelos. »Zehn chenperichi. Wir sollten morgen da sein.« »Was hat die Gräfin dir erzählt?« »Ihr sucht nach zwei Mädchen, eine mit rotem Haar und eine 193 mit goldenem. Sie sind vielleicht mit Cazio und z'Acatto unterwegs.« »Wer sind Cazio und z'Acatto?«, wollte Neil wissen. »Ehemalige Gäste der Gräfin«, antwortete Vaseto. »Warum sollten sie mit diesen Mädchen zusammen sein?« »Cazio hat einer von ihnen den Hof gemacht. In der Nacht, als der Konvent niedergebrannt wurde, sind Cazio und z'Acatto ebenfalls verschwunden. Ich habe ein paar ihrer Spuren gefunden.« »Du hast ihre Spuren gefunden?« »Ja«, sagte Vaseto. »Ich habe sie gefunden.« »Und du glaubst, sie waren zusammen unterwegs?« Vaseto verdrehte die Augen. »Drei verschiedene Fährten, zwei mit kleinen und eine mit großen Spuren, alle von Berittenen verfolgt. Sie sind bei ein paar Ruinen aufeinander getroffen, wo sich ihnen ein weiterer Mann angeschlossen hat - z'Acatto, nach der aufgerissenen Sohle seines Stiefels zu urteilen. Sie haben gegen die Reiter gekämpft und in gewisser Weise gewonnen. Alle vier sind zusammen verschwunden.« Neil betrachtete Vaseto einen Moment lang und dachte über den Klang seiner Stimme nach. »Ihr seid älter, als ich dachte«, sagte er. »Wahrscheinlich«, erwiderte Vaseto. »Und Ihr seid kein Junge.« Vaseto bedachte ihn mit einem kleinen, verschmitzten Grinsen. »Ich habe mich schon gefragt, ob Ihr es je merken würdet«, sagte sie. »Ihr aus dem Norden scheint nicht besonders schlau zu sein. Nicht dass die Männer hier unten normalerweise klüger wären.« »Ihr seid wie ein Junge angezogen. Euer Haar ist geschnitten wie das eines Jungen. Und die Gräfin hat >er< gesagt.« »Ja, das bin ich, ja, das ist es, und ja, das hat sie«, erwiderte Vaseto. »Und damit ist reichlich viel dazu gesagt worden. Überhaupt, im Augenblick müssen wir uns über andere Dinge Gedanken machen.« »Zum Beispiel?« 194 Als Antwort schlug ein Pfeil in den Stamm eines Olivenbaums ein, nur eine Elle von Neils Kopf entfernt. 15. Kapitel Der Uttin Aspar schoss einen Pfeil auf das Geschöpf ab, noch ehe er sehen konnte, was es war. Er traf, dessen war er sich sicher, doch der Pfeil schien keine große Wirkung zu zeigen. Ein langer, klauenbewehrter Arm schoss vor und schleuderte Stephen zu Boden. Als Aspar den zweiten Pfeil fliegen ließ, schien sich ein Lichtschleier über alles zu senken. Die Blätter, die die Grube verborgen hatten, in der sich die Kreatur versteckt hatte, drehten sich langsam, während sie zu Boden fielen; jedes einzelne war deutlich zu erkennen - Eiseneiche, Esche, Haurnbagm, Pappel. Als die Blätter herabsanken, wurde der Uttin sichtbar. Der erste Eindruck war der einer riesigen Spinne - zwar besaß das Geschöpf nur vier Gliedmaßen, doch diese waren lang und spindeldürr und hingen an einem Rumpf, der so gedrungen war, dass er klotzig wirkte, eine Muskelmasse, bedeckt von etwas, das wie braune Schuppen aussah, sowie spärlichem grünlichem Haar, das am oberen Rücken dichter wurde und wie eine Krause einen kurzen, dicken Hals umgab. Gelbe Augen starrten aus einem gewaltigen, länglichen Gebilde aus grünem Hörn, das statt Nasenlöchern lediglich Schlitze und statt Ohren nur Löcher aufwies. Sein Maul war das Lachen einer Schwarzen Mary, ein Schlitz, der den Kopf entzweischnitt und um grässliche, zackige schwarze Zähne herumwaberte. Der zweite Pfeil traf den Uttin in die Brust, dort, wo sich sein Herz hätte befinden müssen. Die Kreatur wandte sich von Ste195 phen ab und ließ sich auf alle viere fallen, dann sprang sie mit grauenvoller Geschwindigkeit auf Aspar zu. Aspar konnte noch einen weiteren Schuss abgeben, genau wie Ehawk, dann hatte das Ungetüm sie erreicht. Sein Gestank traf Aspar in die Magengrube, und ihm wurde übel, als er den Bogen fallen ließ und Kampfdolch und Wurfaxt herausriss. Mit Letzterer schlug er heftig zu und wich aus, als das Wesen an ihm vorbeischoss. Eine Hand mit sechs Klauen hieb nach ihm und verfehlte ihn knapp. Er wirbelte herum und duckte sich kampfbereit.
Der Uttin hielt inne und federte auf seinen langen, merkwürdigen Beinen langsam auf und ab, den Körper aufgerichtet, die Finger klopften auf den Boden. Er überragte Aspar um eine Königselle. Aspar wich zurück und hoffte, knapp außer Reichweite zu sein. »Winna«, sagte er. »Mach, dass du hier wegkommst. Sofort.« Ehawk schob sich langsam seitwärts, bemerkte er, um hinter die Bestie zu gelangen. »Wüiinaaah«, krächzte das Ungeheuer, und Aspars Haut zog sich zusammen, als wäre er in ein Würmernest hineingestolpert. »Wünaah weeeg, ya. Ich hole dich später. Spaß machen.« Die Sprache war der hiesige almanische Dialekt. »Bei Grims Augen«, fluchte Aspar. »Was bist du, verdammt noch mal?« Als Antwort lehnte sich der Uttin ein wenig nach vorn, dann zog er einen der Pfeile aus seiner Brust. Aspar sah, dass die Schuppen eher Knochenplatten waren, ein natürlicher Panzer - der Pfeil war nicht tief eingedrungen. Mehr und mehr fühlte er sich an den Gryffin erinnert, der einem Reptil ebenfalls sehr ähnlich gewesen war. Wenn dieses Wesen giftig war, so wie der Gryffin, dann war Stephen bereits so gut wie tot. Und er auch, wenn es ihn berührte. Er wartete auf die nächste Bewegung des Ungeheuers und suchte nach verwundbaren Stellen. Auch der Kopf war gepanzert und bestand wahrscheinlich hauptsächlich aus Knochen. Mit einem 196 gut gezielten Wurf könnte er möglicherweise eines der Augen treffen. Vielleicht die Kehle? Nein. Alles zu dicht am Gegner. Die Arme des Geschöpfs waren überall. Er verstärkte den Griff um seinen Kampfdolch. Der Uttin schoss plötzlich als undeutlicher Schemen auf ihn zu. Ehawk stieß einen Schrei aus und schoss einen Pfeil ab; Aspar duckte sich, sprang in die Reichweite der zupackenden Klauen, schlug mit der Klinge nach der Innenseite des Schenkels und führte dann einen Stich gegen den Unterleib. Er fühlte, wie Fleisch unter seinem ersten Hieb aufriss, und das Geschöpf heulte auf. Sein Stoß ging ins Leere, als das Ungeheuer wie ein Frosch über ihn hinwegsprang und ihm dann einen gewaltigen Tritt versetzte, der ihn zu Boden schleuderte. Noch ehe er auch nur ans Aufstehen denken konnte, fuhr es herum, riss einen Ast von einem Baum und warf ihn. Aspar hörte Ehawk aufschreien und dann den dumpfen Aufschlag eines Körpers auf dem Boden. Dann kam der Uttin in großen Sätzen auf ihn zu. Aus dem Augenwinkel sah er Winna, nur mit einem Dolch bewaffnet, herbeistürzen, um ihm zu helfen. »Nein!«, brüllte Aspar und stemmte sich mithilfe seiner Axt hoch. Doch der Uttin versetzte Winna einen Schlag mit dem Handrücken, und als sie taumelte, packte er sie mit der anderen Hand. Im nächsten Augenblick sprang er senkrecht in die Höhe und riss Winna mit sich. Er erwischte einen tief hängenden Ast, schwang sich vor und packte mit seinen handartigen Füßen einen anderen Ast. Schneller, als ein Mensch laufen konnte, schoss er durch die Bäume davon. »Nein!«, wiederholte Aspar. Er kam auf die Füße, hob seinen Bogen auf und rannte hinter dem sich rasch entfernenden Ungetüm her. Eine Art Schaudern war in seinem Inneren, ein Gefühl, das er nie gekannt hatte. Er unterdrückte es und rannte weiter, griff an seinen Gürtel, nach der Pfeilhülle, die der Praifec ihm gegeben hatte, und zog den schwarzen Pfeil heraus. Er verlor den Uttin immer wieder aus den Augen. Der Atem 197 pfiff harsch durch Aspars Lippen, als er die Reliquie an die Bogensehne legte. Er blieb stehen, nahm Schusshaltung ein, und einen Augenblick lang war die Welt wieder still. Er spürte die ungeheure Größe der Erde unter sich, die leichte Brise, die sich über das Land schob, den tiefen, langsamen Atem der Bäume. Dann zog er die Sehne zurück. Der Uttin geriet hinter einem Stamm außer Sicht, erschien wieder und verschwand erneut. Aspar zielte auf die schmale Lücke, wo er seiner Meinung nach wieder auftauchen musste, fühlte den richtigen Zeitpunkt kommen und ließ los. Der schwarze Schaft zog davon, fort von ihm, drehte sich um sich selbst, zischte an Blättern und Zweigen vorbei, dorthin, wo der breite Rücken des Uttin kurz die Lücke zwischen zwei Bäumen schloss. Die Stille dehnte sich, nicht jedoch die Ruhe. Aspar rannte wieder los, griff bereits nach einem neuen Pfeil und fluchte vor sich hin; sein Herz krampfte sich zusammen wie eine zornige Faust. Er fand Winna zuerst. Wie eine fortgeworfene Puppe lag sie in einem vom Herbst geröteten Farndickicht, das Kleid blutverschmiert. Der Uttin saß ein Stück entfernt, den Rücken an einen Baum gelehnt. Aspar konnte die Spitze des schwarzen Pfeils erkennen, die aus seiner Brust ragte. Er kniete neben Winna nieder und tastete nach ihrem Puls, hielt jedoch den Blick fest auf den Uttin gerichtet. Dieser gurgelte, spuckte Blut und blinzelte, als wäre er müde. Er hob eine sechsfingrige Hand und berührte die Pfeilspitze. »Nicht recht, Mannmensch«, krächzte er heiser. »Nicht gut. Ein ruchloses Ding, ja? Und doch wird es auch dich niederstrecken. Dein Ende ist dasselbe wie das meine.« Dann erbrach er Blut, keuchte noch zweimal und blickte weit über die Lande des Schicksals hinaus. »Winna?«, sagte Aspar. »Winna?« Sein Herz stolperte, doch ihr Puls war noch zu spüren, ein kräftiger Puls. Er
berührte ihre Wange, und sie regte sich. »Was?«, fragte sie. 198 »Lieg still«, erwiderte er. »Du bist gefallen, ich weiß nicht, wie tief. Hast du irgendwo Schmerzen?« »Ja«, antwortete sie. »Mir tut alles weh. Es fühlt sich an, als wäre ich in einen Sack gesteckt und von sechs Maultieren getreten worden.« Jäh schnappte sie nach Luft und setzte sich ruckartig auf. »Der Uttin ...!« »Er ist tot. Halt jetzt still, bis wir sicher sind, dass nichts gebrochen ist. Wie tief bist du gefallen?« »Ich weiß nicht. Nachdem er mir den Schlag versetzt hat, ist alles verschwommen.« Er begann, ihre Beine zu untersuchen, tastete nach gebrochenen Knochen. »Aspar White. Bist du immer so romantisch gestimmt, nachdem du einen Uttin getötet hast?«, fragte sie. »Immer«, erwiderte er. »Jedes Mal.« Dann küsste er sie, aus purer Erleichterung. Dabei wurde ihm bewusst, dass er in den letzten paar Augenblicken das schlimmste Grauen seines Lebens empfunden hatte. Es überstieg jegliche Furcht, die er je verspürt hatte, so unendlich weit, dass er es überhaupt nicht begriffen hatte. »Winna -«, begann er, doch ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken, und in dem Dickicht hinter dem toten Uttin erhaschte er einen flüchtigen Blick auf eine vermummte Gestalt, halb hinter einem Baum verborgen, das Gesicht knochenweiß, und ein grünes Auge»Fend!«, fauchte er und griff nach seinem Bogen. Als er sich umdrehte, war die Gestalt verschwunden. Er legte den Pfeil an und wartete. »Kannst du laufen?«, fragte er leise. »Ja.« Sie stand auf. »War er es wirklich?« »Auf jeden Fall war es ein Sefry. Ich konnte ihn nicht genau erkennen.« »Da kommt jemand hinter uns her«, sagte sie. »Das sind Stephen und Ehawk. Ich erkenne sie am Schritt.« Die beiden jungen Männer erreichten sie einen Augenblick später. 199 Stephen schnappte nach Luft, als er das tote Ungeheuer erblickte. »Ihr Heiligen!« Aspar wandte den Blick nicht vom Wald ab. »Da draußen treibt sich ein Sefry herum.« »Die Spuren, die wir vorhin gefunden haben?«, fragte Ehawk. »Höchstwahrscheinlich. Seid Ihr unverletzt?«, wollte Aspar wissen. »Ja, alles in Ordnung, danke«, antwortete Stephen. »Ein paar blaue Flecken, das ist alles.« »Der Junge?«, fragte Winna. Stephens Stimme wurde düster. »Er ist gestorben.« Niemand sagte etwas dazu. Es gab nicht viel zu sagen. Der Wald war ruhig, seine normalen Laute machten sich wieder bemerkbar. »Ihr beide bleibt bei ihr«, entschied Aspar. »Ich schaue mal nach, was aus dem Gefährten unseres Freundes geworden ist.« »Aspar, warte«, bat Winna. »Was ist, wenn es wirklich Fend ist? Was ist, wenn er dich wieder in eine Falle lockt?« Er berührte ihre Hand. »Ich glaube, diese eine Falle war alles, was er geplant hatte. Wenn wir den Pfeil des Praifec nicht gehabt hätten, wäre sie ja auch wunderbar zugeschnappt.« »Ihr habt den Pfeil benutzt?«, fragte Stephen. »Das Biest hatte Winna«, sagte Aspar. »Es war oben in den Bäumen. Es gab sonst nichts, was ich tun konnte.« Stephen runzelte die Stirn, nickte dann jedoch. Er ging zu dem Uttin hinüber, kniete neben dem Leichnam nieder und zog das Geschoss vorsichtig heraus. »Ich sehe, was Ihr meint«, bemerkte er. »Die anderen Pfeile sind kaum einen Fingerbreit eingedrungen.« Er bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass es funktioniert.« »Ja. Bei Uttins«, gab Aspar zu. »Ich bin gleich wieder da.« Er drückte Winnas Hand. »Und ich werde mich vorsehen.« Er folgte der Fährte ein paar hundert Ellen, so weit, wie er es allein wagte. Er hatte Winna die Wahrheit gesagt er befürchtete 200 keine Falle, doch er hatte Angst, dass der Sefry sich im Bogen zu Stephen und Winna zurückschleichen könnte, um sie zu erwischen, wenn er nicht da war. Fend würde nichts mehr genießen, als einen weiteren Menschen zu töten, den Aspar liebte, und er war gerade näher daran gewesen, Winna zu verlieren, als er es jemals sein wollte. »Sieht so aus, als wäre er allein«, bemerkte Aspar. Sie waren der Spur des Sefry den größten Teil des Tages gefolgt. »Er ist schnell«, sagte Ehawk. »Aber er will, dass wir ihm folgen.« »Ja, das denke ich auch«, stimmte Aspar zu. »Wie meint Ihr das?«, fragte Stephen. »Die Fährte ist deutlich - sogar nachlässig. Er gibt sich keine Mühe, uns loszuwerden.« »Ehawk hat doch gerade gesagt, dass er es eilig zu haben scheint.« »Das reicht als Erklärung nicht aus. Er hat nicht einmal die einfachsten Tricks versucht, um uns irrezuführen. Er
hat drei Bäche überquert und ist nicht ein einziges Mal ein Stück stromauf- oder stromabwärts gewatet. Werlic, Ehawk hat Recht - aus irgendeinem Grund will er, dass wir ihm folgen.« »Wenn es Fend ist, führt er uns bestimmt zu etwas Unangenehmem«, warf Winna ein. Aspar kratzte sich die Stoppeln am Kinn. »Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich Fend ist. Ich habe ihn nicht genau erkennen können, aber ich habe keine Augenklappe gesehen. Und die Abdrücke sehen zu klein aus.« »Aber wer immer es ist, er war mit dem Uttin unterwegs, genau wie Fend und Bruder Desmond mit dem Gryffin zusammen waren. Also ist es wahrscheinlich einer aus Fends Bande, richtig?« »Nun, soweit ich weiß, sind Fends Geächtete die einzigen Sefry, die sich noch im Wald herumtreiben«, erwiderte Aspar. »Die anderen sind schon vor Monaten fortgezogen.« Die Fährte hatte sie tief in den Wald geführt. Hier war von den 201 schwarzen Dornen nichts zu sehen. Riesige Kastanienbäume ragten um sie herum auf, und der Boden war von ihren stacheligen Früchten übersät. Irgendwo ganz in der Nähe trommelte ein Specht, und hin und wieder hörten sie hoch über sich den Schrei von Wildgänsen. »Was können die nur vorhaben?«, grübelte Winna laut. »Ich denke, das werden wir herausfinden«, erwiderte Aspar. Es wurde Abend, und sie schlugen ihr Lager auf. Winna und Stephen rieben die Pferde ab, während Ehawk Feuer machte. Aspar kundschaftete die Umgebung aus und prägte sie sich ein, damit er sich auch im Dunkeln zurechtfinden konnte. Beim ersten Morgengrauen brachen sie auf und ritten weiter. Die Spuren waren jetzt frischer - im Gegensatz zu ihnen war der Verfolgte nicht beritten, und trotz seiner Eile holten sie auf. Mittags sah Aspar etwas durch die Bäume vor ihnen und bedeutete den anderen anzuhalten. Er blickte zu Stephen hinüber. »Ich höre nichts Ungewöhnliches«, meinte dieser. »Aber dieser Geruch - es stinkt nach Tod.« »Haltet euch bereit«, sagte Aspar. »Barmherzige Heilige«, hauchte Stephen, als sie nahe genug herankamen. Ein kleines Steingebäude kauerte auf einem runden Erdhügel. Um den Fuß des Hügels herum lag ein Kreis aus Leichen, von denen fast nur noch die Gebeine übrig waren. Doch Stephen hatte Recht - der Gestank war noch vorhanden. Für seine von den Heiligen gesegneten Sinne musste er schier unerträglich sein, dachte Aspar. Stephen bekräftigte dies, indem er sich vornüberkrümmte und würgte. Aspar wartete, bis er fertig war, dann trat er näher. »Es ist genau wie damals«, sagte er. »Wie die Opfer, die Eure abtrünnigen Mönche dargebracht haben. Das hier ist ein Sedos, nicht?« »Es ist ein Sedos«, bestätigte Stephen. »Aber es ist nicht so wie damals. Diesmal machen sie es richtig.« »Wie meint Ihr das?«, wollte Winna wissen. 202 Stephen sackte gegen einen Baum. Er sah bleich und schwach aus. »Wisst Ihr Bescheid über die Sedoi?«, fragte er. »Ihr habt etwas darüber gesagt, als die Königin Euch befragt hat, aber damals habe ich nicht besonders gut zugehört. Aspar war verletzt, und seither -« »Ja, wir haben seither nicht mehr viel darüber gesprochen.« Stephen seufzte. »Wisst Ihr, wie Priester den Segen der Heiligen empfangen?« »So ungefähr. Sie suchen Schreine auf und beten.« »Ja. Aber nicht einfach irgendwelche Schreine.« Er deutete mit einer Geste auf den Hügel. »Das da ist ein Sedos. Das ist ein Ort, wo ein Heiliger einmal gestanden und ein wenig von seiner Gegenwart zurückgelassen hat. Einen einzigen Sedos aufzusuchen verhilft einem jedoch nicht zum Segen, jedenfalls für gewöhnlich nicht. Man muss mehrere von ihnen finden, eine Reihe von Orten, die vom selben Heiligen betreten wurden, oder von Aspekten dieses Heiligen. Die Schreine - wie dieses Bauwerk hier - haben selbst keine Macht. Die Macht kommt von dem Sedos - der Schrein dient nur als Erinnerung; es ist ein Ort, der uns helfen soll, unsere Aufmerksamkeit in der Gegenwart des Heiligen zu konzentrieren. Ich habe den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten, und er hat mich mit den geschärften Sinnen beschenkt, die ich jetzt besitze. Ich kann mich einen Monat später noch genauso gut an Dinge erinnern, als wären sie gerade erst passiert. Decmanus ist ein Heiliger des Wissens; Mönche, die andere Pfade beschreiten, empfangen andere Gaben. Der Pfad der Schreine des Mamres zum Beispiel verleiht denen, die auf ihm wandeln, kriegerische Fähigkeiten. Große Kraft, Eifer, einen Instinkt fürs Töten, all so etwas.« »Wie bei Desmond Spendlove.« »Ja. Er ist dem Pfad der Schreine des heiligen Mamres gefolgt.« »Dann gehört das hier also zu einem Pfad der Schreine?«, fragte Winna. »Aber die Leichen ...« »Der Schrein ist neu«, entgegnete Stephen. »Schaut Euch die Steine an. Kein Moos, keine Flechten, keinerlei Verwitterungen. Das könnte gestern gebaut worden sein. Die abtrünnigen Mönche 203 und Sefry, die dem Gryffin gefolgt sind, haben ihn dazu benutzt, die alten Sedoi im Wald zu finden. Ich glaube,
der Gryffin hatte die Fähigkeit, sie zu wittern, und hat einen Rundgang entlang jener gemacht, in denen noch etwas Macht schlummert. Dann haben Desmond und seine Schar Menschen geopfert, ich glaube, um herauszufinden, welchem Heiligen die Sedoi gehörten. Aber ich glaube nicht, dass sie es richtig gemacht haben ihnen haben bestimmte Kenntnisse gefehlt. Wer auch immer das hier getan hat, hat es richtig gemacht.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Und ich bin schuld daran. Als ich in d'Ef war, habe ich uralte, verbotene Scrifti übersetzt, die von diesen Dingen gehandelt haben. Ich habe ihnen zu dem Wissen verholfen, das zu tun, was Ihr hier seht.« Er zitterte und sah blasser aus denn je. »Sie bauen einen Pfad der Schreine, versteht Ihr?« »Wer?«, wollte Aspar wissen. »Spendlove und seine Abtrünnigen sind tot.« »Nicht alle, scheint es«, erwiderte Stephen. »Das hier ist gebaut worden, nachdem wir Spendlove getötet haben.« »Aber welcher Heilige hat hier seine Spur hinterlassen?«, flüsterte Winna. Stephen würgte erneut, rieb sich die Stirn und richtete sich auf. »Es ist an mir, das herauszufinden«, sagte er. »Wartet hier, Ihr alle - bitte.« Stephen übergab sich fast ein zweites Mal, als er den Kreis aus Leichen erreichte. Diesmal nicht wegen des Geruchs, sondern vor Grauen über die Einzelheiten. Kleiderfetzen, das Band im Haar eines der kleineren Leichname, direkt über ihrem schiefen, noch nicht ganz fleischlosen Grinsen. Ein fleckiger grüner Mantel mit einer Messingbrosche in Form eines Schwans. Kleine Zeichen dafür, dass dies einst menschliche Wesen gewesen waren. Wo hatte das kleine Mädchen das Band her? Wahrscheinlich war sie die Tochter eines Holzfällers - vielleicht war es das prächtigste Geschenk gewesen, das sie in ihrem Leben jemals bekommen hatte. Ihr Vater hatte es erstanden, als er die Schweine zum Markt in Tul204 haem getrieben hatte, und sie hatte ihn auf die Wange geküsst. Er hatte sie »mein kleines Entchen« genannt, und er hatte zusehen müssen, wie ihr die Eingeweide aus dem Leib gerissen wurden, kurz bevor er selbst das Messer gespürt hatte, dicht unter der Stelle, wo die Schwanenbrosche seinen Mantel zusammenhielt... Stephen schauderte, schloss die Augen, um über sie hinwegzutreten, und fühlte ... ein Summen, ein sanftes Kitzeln im Bauch, eine Art Knistern im Kopf. Er drehte sich um, um zu Aspar und den anderen hinüberzuschauen, und sie schienen weit entfernt, winzig. Ihre Münder bewegten sich, doch er konnte sie nicht sprechen hören. Einen Augenblick lang vergaß er, was er vorhatte, stand einfach nur da und überlegte, wer sie wohl sein mochten. Gleichzeitig fühlte er sich ausgezeichnet. Alle Schmerzen waren verschwunden, und ihm war, als könnte er zehn Meilen weit laufen, ohne anzuhalten. Stirnrunzelnd musterte er die Gebeine und das verwesende Fleisch rund um den Hügel; er erinnerte sich undeutlich daran, dass ihm dieser Anblick aus irgendeinem Grund Unbehagen bereitet hatte, wenngleich er sich fragte, warum ihn all das mehr stören sollte als die Zweige und Blätter, die ebenfalls auf dem Boden herumlagen. Darüber nachsinnend drehte er sich langsam um, um das Gebäude hinter sich zu betrachten. Es war gebaut wie viele Kirchenschreine - ein einfacher Steinwürfel mit einem Dach aus Schiefer und offenem Eingang. Auf dem Türsturz war ein einzelnes Wort eingraviert, und mit Interesse stellte er fest, dass es sich dabei nicht um Vitellianisch handelte, die in der Kirche übliche Sprache, sondern stattdessen um Altvadhiianisch, die Sprache der Magierkönigreiche. MARHIRHEBEN, lautete es. Im Innern blickte eine kleine, schlanke Statue aus geschnitztem Knochen über einen Steinaltar hinweg. Es war eine wunderschöne Frau mit einem merkwürdigen Lächeln. An ihren Seiten stand je ein Gryffin, und ihre Hände senkten sich, als wollten sie ihre Mähnen liebkosen. Er blickte sich um, sah jedoch sonst nichts Bemerkenswertes. Achselzuckend verließ er den Schrein. 205 Als er erneut über den Kreis aus Leichen hinwegtrat, riss sich etwas Fürchterliches los und sprang ihm aus der Kehle. Die Welt zersplitterte wie Glas, und er stürzte in die Nacht vor der Geburt der Welt. 16. Kapitel Die Hunde der Artuma Während der Pfeil noch zitterte, traten zwei Männer auf die Straße, und Neil schätzte, dass sich mindestens vier in den Büschen am Wegesrand versteckt hielten. Ein leises Scharren verriet ihm, dass einer hinter ihm war. Die beiden vor ihnen waren in ausgeblichenes Leder gekleidet, und jeder hielt einen langen Speer in der Hand. Außerdem hatten sie Tücher umgebunden, um ihre Gesichter zu verbergen. »Banditen?«, fragte Neil. »Nein, Priester«, erwiderte Vaseto spöttisch. Einer der Männer rief etwas. »Von welchem Heiligen?«, erkundigte sich Neil. »Lord Turmo, würde ich denken, dem Schutzherren der Diebe. Sie haben Euch gerade gebeten, abzusteigen und Eure Rüstung abzulegen.« »Tatsächlich?«, sagte Neil. »Was ratet Ihr mir?« »Das kommt darauf an, ob Ihr Eure Habe behalten wollt oder nicht.« »Eigentlich schon, besten Dank.« »Also dann«, sagte Vaseto und stieß einen hellen, hohen Pfiff aus. Wieder brüllte der Mann etwas, und diesmal schrie Vaseto etwas zurück.
»Worum ging es jetzt?« »Ich habe ihnen angeboten, sich zu ergeben.« 206 »Sehr gut«, bemerkte Neil. »Versucht den Kopf unten zu halten.« Er griff nach seinem Speer. In diesem Augenblick brach wildes Getümmel am Straßenrand aus. Neil warf Hurrikan herum und erhaschte einen Blick auf etwas sehr Großes, Braunes im Gebüsch. Blätter flogen, und irgendjemand schrie vor Angst auf. Verwirrt drehte er sich wieder nach den Männern auf der Straße um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie unter den Pfoten zweier gewaltiger Mastiffs zu Boden gingen. »Oro!«, brüllte einer der beiden. »Oro, pertument! Pacha Satos, Pacha sachero satos! Pacha misercarda!« Neil blickte sich um. Es waren mindestens acht der riesigen Bestien zu sehen. Vaseto pfiff erneut. Die Hunde wichen ein oder zwei Schritte von ihren Opfern zurück, fletschten jedoch weiterhin die Zähne. Neil warf Vaseto, die gerade absaß, einen Blick zu. »Wieso behaltet Ihr nicht dieses große Schwert da in der Hand«, schlug sie vor, »während ich diesen Burschen die Waffen abnehme?« »Habt Erbarmen!«, sagte einer der Männer, die auf der Straße lagen, in der Sprache des Königs. »Seht, wie ich spreche Eure Sprache? Vielleicht ich bin Verwandter!« »Was für Erbarmen willst du von mir?«, fragte Neil, der den Hund, welcher den Strauchdieb bewachte, im Auge behielt, während er dem Mann den Speer und seine beiden Messer abnahm. »Ihr hattet doch vor, mich zu bestehlen, oder nicht? Mich vielleicht sogar zu töten?« »Nein, nein, natürlich nicht!«, beteuerte der Mann. »Aber heutzutage ist Leben so schwer. Essen ist wenig, Arbeit noch weniger. Ich habe Weib, zehn Kinder - bitte verschont mich, Herr!« »Still«, befahl Vaseto. »Du hast es selbst gesagt. Futter ist knapp. Wenn meine Hunde ein Schaf oder eine Ziege fressen, bekomme ich Ärger. Wenn sie dich fressen, bekomme ich dafür nur Dank. Also schweig jetzt still, und danke den Lords und Ladys, dass du solch edlen Tieren als Nahrung dienen wirst.« 207 Der Mann blickte auf. Tränen liefen ihm aus den Augen. »Lady Artuma! Lasst Eure Kinder mich verschonen!« Vaseto hockte sich neben ihm hin und zauste ihm das Haar. »Das ist unaufrichtig«, sagte sie. »Erst überfällst du eine Dienerin Artumas, und dann bittest du sie um Vergebung?« »Priesterin, ich wusste nicht!« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Und wieso ist das eine Entschuldigung?«, wollte sie wissen. »Ist nicht, ist nicht. Ich verstehe das.« Sie suchte an seinem Gürtel und förderte einen Beutel zutage. »Nun«, sagte sie, »vielleicht ist ja eine Spende am nächsten Schrein deiner Sache förderlich.« »Ja«, schniefte der Mann, »Vielleicht. Ich bete, dass so ist. Großer Lord, erhabene Lady -« »Ich bin dein Gerede jetzt leid«, sagte Vaseto. »Noch ein Wort, und dir wird die Kehle durchgeschnitten.« Sie entwaffneten den Rest der Wegelagerer und saßen wieder auf. »Sollten wir sie nicht irgendwohin schaffen?«, fragte Neil. Sie zuckte die Achseln. »Nicht, wenn Ihr keine Zeit zu verlieren habt. Ihr würdet bleiben und auf einen Richter warten müssen. Ohne Waffen sind sie eine Weile harmlos.« »Harmlos wie Lamm!«, pflichtete ihr der am Boden liegende Mann bei; dann schrie er auf, als der Hund auf ihn losging. »Kein Geschwätz mehr, ich habe es dir doch gesagt«, wies Vaseto ihn an. »Bleib still liegen. Ich lasse meine Brüder und Schwestern hier, damit sie mit dir verfahren können, wie es ihnen beliebt.« Sie ließ ihre Stute die Straße hinuntertraben. Einen Augenblick später folgte Neil ihr. »Ihr hättet mir von den Hunden erzählen können«, sagte er nach einer Weile. »Das hätte ich«, stimmte sie zu. »Ich fand es kurzweilig, es nicht zu tun. Seid Ihr zornig?« »Nein. Aber ich lerne, nicht verblüfft zu sein.« 208 »Ach? Das wäre ein Jammer. Es steht Euch so gut zu Gesicht.« »Werden sie sie töten?« »Hmm? Nein. Sie werden lange genug bleiben, um ihnen richtig Angst zu machen, dann werden sie uns folgen.« »Wer seid Ihr, Vaseto?«, wollte Neil wissen. »Das ist ja wohl kaum eine angemessene Frage«, entgegnete Vaseto. »Ich weiß nicht, wie Ihr heißt.« »Mein Name ist Neil MeqVren«, sagte er. »Das ist nicht der Name, den Ihr der Gräfin genannt habt«, stellte sie fest. »Nein. Aber es ist mein richtiger Name.« Sie lächelte. »Und Vaseto ist der meine. Ich bin eine Freundin von Gräfin Orchaevia. Das ist alles, was Ihr wissen müsst.« »Diese Männer schienen Euch für eine Art Priesterin zu halten.« »Was ist daran verkehrt?« »Seid Ihr eine?«
»Nicht aus Berufung.« Das war alles, was sie dazu zu sagen bereit war. Gegen Mittag des nächsten Tages roch Neil das Meer und hörte bald darauf die Glocken in z'Espino läuten. Als sie über eine Hügelkuppe ritten, kamen Türme in Sicht; schlanke Spitzen aus rotem oder dunkelgelbem Stein ragten über Kuppeln und Dächern auf, die sich auf Meilen aneinander zu drängen schienen. Weniger weit entfernt bildeten dunklere, olivgrüne Felder einen scharfen Kontrast zu goldenen Weizenflächen und zierlichen Hainen aus messerförmigen Zedern. Hinter den Häusern glänzte das blaue Silber der See unter einem Haufen weißer Wolken. Westlich der Stadt stand eine weitere Ansammlung von Gebäuden, düsterer, ohne Türme und ohne Stadtmauer. Das war wohl z'Espino-des-Schattens, nahm er an. »Es ist groß«, sagte Neil. »Groß genug«, erwiderte Vaseto. »Und für meinen Geschmack zu groß.« »Wie sollen wir da drin jemals zwei Frauen finden?« 209 »Nun, ich vermute, wir werden nachdenken müssen«, antwortete sie. »Wenn Ihr an ihrer Stelle wärt, was würdet Ihr tun?« Schwer zu sagen bei Anne, dachte Neil. Sie könnte beinahe alles tun. Wusste sie überhaupt, was ihrer Familie zugestoßen war? Doch selbst wenn sie es nicht wusste, sie war in einem fremden Land, verfolgt von Feinden. Wenn sie auch nur ein bisschen Verstand hatte, würde sie versuchen, nach Hause zurückzukehren. »Sie würde versuchen, nach Crothenien zu gelangen«, sagte er. »Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu tun. Auf dem Seeweg oder über Land. Hat sie Geld, dieses Mädchen?« »Wahrscheinlich nicht.« »Dann würde ich denken, es wäre leichter, auf dem Landweg zu reisen. Ihr solltet es wissen - Ihr seid gerade erst hergekommen.« »Ja, aber die Straßen sind gefährlich, besonders wenn diese Männer immer noch nach ihr suchen.« Er verlagerte sein Gewicht im Sattel. »Die Gräfin hat etwas von einem Mann erzählt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und der immer noch lebt.« »Sie hat Euch davon erzählt, wie? Und Ihr habt so lange gewartet, um mich danach zu fragen?« »Ich will wissen, womit ich es zu tun habe.« »Ich würde es Euch sagen, wenn ich es wusste«, erwiderte Vaseto. »Nicht mit der übliche Sorte Ritter, aber das ist offenkundig. Wie die Gräfin gesagt hat, der Bursche war in gewisser Weise noch am Leben, wenn auch nicht mehr wirklich in der Lage zu sprechen.« Sie runzelte die Stirn. »Erhebt Ihr denn gar keine Einwände dagegen? Ihr scheint nur allzu bereit zu sein, einen völlig aberwitzigen Gedanken zu akzeptieren.« »Ich habe im letzten Jahr genug Hexerei und Nekromantie gesehen«, sagte Neil. »Ich habe keinen Grund, an den Worten der Gräfin zu zweifeln, und allen Grund, ihr zu glauben. Wenn sie mir sagen würde, es seien die eschasl selbst, die vom Tode zurückgekehrt sind, ich würde es glauben.« »Eschasl?«, fragte Vaseto. »Ihr meint die Skasloi? Ihr Leute aus Liery könnt Worte wirklich bis zur Unkenntlichkeit entstellen, das muss man euch lassen. Auf jeden Fall sind die Männer, von de210 nen wir reden, Menschen, oder zumindest waren sie das am Anfang. Wir haben auch Leichen von der eher gewöhnlichen Sorte gefunden. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie stammten aus Eurem Land oder von irgendwo anders im Norden, denn ein paar hatten gelbes Haar wie das Eure und helle Augen. Das waren keine Vitellianer.« »Was mich überlegen lässt, wie sie auf einer Mission des Mordbrennens so tief in Euer Land geraten sind.« Vaseto grinste. »Aber die Antwort darauf kennt Ihr doch bereits, oder Ihr habt zumindest einen Verdacht. Irgendjemand hier ist ihnen behilflich.« »Die Kirche?« »Nicht die Kirche, aber vielleicht jemand innerhalb der Kirche. Oder es könnte die Gilde der Kaufleute sein, wenn man das Interesse Eures Sir Quinte bedenkt. Oder irgendein beliebiger Fürst, wer weiß ? Aber sie haben hier Hilfe, dessen könnt Ihr gewiss sein.« »Und haben sie Hilfe in z'Espino?« »Das ist durchaus wahrscheinlich. Ein Kupferminser könnte fast jeden Würdenträger in dieser verkommenen Stadt kaufen.« Neil nickte und betrachtete die Landschaft, die zwischen ihm und der Stadt lag, mit neuen Augen. »Was ist das dort unten?«, fragte er und zeigte auf die Stelle, wo die Straße, auf der sie sich befanden, sich mit einer größeren vereinigte. Zahlreiche Zelte und Stände waren am Rand dieser Straße errichtet worden. Gleich hinter der Gabelung überquerte die Straße auf einer Steinbrücke einen Kanal, und auf der zur Stadt gelegenen Seite war ein Tor. »Dort zieht die Gilde der Kaufleute ihre Steuern ein«, antwortete Vaseto. »Warum fragt Ihr?« »Weil ich dort Posten beziehen würde, wenn ich nach jemandem Ausschau halten wollte, der z'Espino betritt oder verlässt.«
Vaseto nickte. »Gut. Ich werde schon noch einen misstrauischen Mann aus Euch machen.« »Möglicherweise halten sie auch nach mir Ausschau«, sagte Neil. 211 »Braver Junge.« Er hatte das Gefühl, sie hätte auch mit einem der Hunde reden können. Er warf ihr einen Blick zu, doch sie starrte wie gebannt die Reisenden an, die in langer Reihe darauf warteten, die Brücke passieren zu können. »Ich habe eine Idee«, verkündete sie. Neil presste das Auge an den Sprung in der Wand des Karrens. Durch den schmalen Spalt sah er hauptsächlich Farben - Seide und Satin und grellbunt gefärbte Baumwolle wirbelten wie tausend Blütenblätter im Wind. Gesichter gingen fast darin unter, doch hier und da konnte er sie erkennen. Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen. Er versuchte einen Blick auf das zu werfen, was er sehen wollte, indem er sich halb hinkauerte und durch ein Astloch spähte. Eine Gruppe Männer in orangefarbenen Überwürfen sprach mit den Wagenlenkern und denen, die mit Packtieren zu Fuß unterwegs waren. Manchmal durchsuchten sie die Fracht, manchmal ließen sie die Leute ohne viele Worte durch. Ein paar Auseinandersetzungen flammten auf und endeten, wenn Münzen den Besitzer wechselten. Hinter alldem, am Tor, waren noch mehr Männer; diese waren bewaffnet, und in den Türmen über dem Tor konnte er Bogenschützen erkennen. Er spähte weiter und verfluchte das Astloch, weil es ihm nur so ein kleines Blickfeld bot. Die Männer der Gilde kamen auf den Wagen zu, in dem er Zuflucht gefunden hatte. Bald würde er Es waren nicht seine Augen, die ihm Aufschluss gaben, sondern seine Ohren. Die Wolke aus unverständlichem Vitellianisch, die ihn umgab, war durchsichtig geworden. Jetzt, durch diese Klarheit hindurch, vernahm er eine Sprache, die er kannte. Eine Sprache, die ihm verhasst war. Hansisch. Er konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, doch er erkannte den Rhythmus, die langen, verschliffenen Vokale und die heiseren Kehllaute. Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten. 212 Er schob sich zu einem anderen Spalt hinüber und stieß sich dabei den Kopf an. »Pssst da hinten«, flüsterte eine Stimme wütend. »Es gibt keinen Handel, wenn Ihr nicht still liegt, so wie man Euch geheißen hat.« »Einen Augenblick«, erwiderte Neil. »Keinen Augenblick. Auf Euren Platz, sofort.« Ein Gesicht schob sich durch den Vorhang, und Licht flutete herein. Neil sah nur den Umriss des breitkrempigen Hutes und das schwache Glitzern laubgrüner Augen. »Seht Ihr da draußen jemanden mit hellem Haar?« »Die beiden Hanser neben den Männern von der Gilde ? Ja. Und jetzt legt Euch hin!« »Ihr seht sie?« »Natürlich sehe ich sie. Sie beobachten die Leute, sehen zu, wie die von der Gilde ihre Arbeit machen. Wahrscheinlich suchen sie nach Euch, und sie werden Euch auch finden, wenn Ihr nicht still liegt!« Ein zweites Gesicht schaute herein, dieses gehörte Vaseto. »Los doch, Ihr Riesentölpel! Ich diene hier als Eure Augen! Ich habe sie gesehen. Jetzt tut das Eure!« Neil zögerte einen Moment, begriff jedoch, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Er konnte nicht gegen alle Männer der Gilde und auch noch gegen die Hanser kämpfen ... Er legte sich hin und zog sich das Tuch über den Mund, als jemand an die Rückwand des Karrens polterte. Dann versuchte er, langsam zu atmen, merkte jedoch erschrocken, dass er etwas vergessen hatte. Die Münzen! Er fand sie und legte sie auf seine Augen, gerade, als die Leinwandklappe an der Rückseite des Wagens raschelte. Rasch hielt er den Atem an. »Pis'es eck egmo?«, fragte jemand scharf. »Un viro morto«, antwortete eine sehr ironische Stimme. Neil erkannte sie als die des Sefry, der für den Rest der Gruppe sprach. »OlViedo! Pis?« 213 Neil fühlte, wie Finger seinen Arm packten. Er kämpfte gegen den Drang an aufzuspringen. Dann streiften die Finger seine Stirn. Die Luft wurde ihm knapp, und seine Lunge begann zu schmerzen. »Chiano Vechioda daz'Ofina«, antwortete der Sefry »Morta daca crussa.« Die Finger verschwanden mit einem Ruck. »Diuvo!«, brüllte der Mann von der Gilde, und die Klappe schloss sich. Eine Auseinandersetzung, die er nicht verstehen konnte, schloss sich an. Endlich, nach endlosen Momenten, setzte sich der Wagen wieder in Bewegung. Nach einer von auf Steinen stoßenden und knirschenden hölzernen Rädern erfüllten Ewigkeit klopfte jemand gegen seinen Stiefel. »Ihr könnt jetzt aufstehen«, sagte Vaseto. Neil nahm die Münzen von den Augen und setzte sich auf. »Haben wir das Tor passiert?« »Ja, und das ist nicht Euer Verdienst«, brummte Vaseto. »Habe ich Euch nicht gesagt, dass es gelingen wird?«
»Er hat mich befühlt. Noch einen Moment länger, und ihm wäre aufgegangen, dass ich noch warm war.« »Wahrscheinlich. Ich habe nicht gesagt, dass kein Risiko dabei wäre. Aber die Sefry haben ihre Rolle gut gespielt.« »Was haben sie ihm erzählt?« »Dass Ihr der Bluteiterseuche erlegen wärt.« Sie lächelte. »Die Schminke hat geholfen.« Neil nickte und kratzte an den falschen Beulen, die die Sefry aus Schweineblut und Mehl fabriziert hatten. »Wahrscheinlich ist er sofort beten gegangen«, fügte Vaseto hinzu. Sie vollführte eine ruckartige Kopfbewegung. »Kommt.« Er streckte den Kopf aus dem Karren. Sie befanden sich auf einer Art Platz, der von hohen Gebäuden umgeben war. Überall wimmelten Menschen herum, ebenso fremdartig und bunt gekleidet wie die Reisenden an der Brücke. Sie gingen zur Vorderseite des Wagens, wo drei Sefry unter einem Baldachin saßen, dicht verschleiert gegen die Sonne. 214 »Danke«, sagte Neil. Eine der Sefry, eine alte Frau, schnaubte. Die beiden anderen beachteten ihn nicht. »Wie habt Ihr sie dazu gebracht, uns zu helfen?«, wollte Neil von Vaseto wissen, als sie ihn über den Platz führte. »Ich habe ihnen gesagt, ich würde sonst das Versteck in ihrem Karren verraten, wo sie ihre Schmugglerware verstauen.« »Woher wusstet Ihr davon?« »Ich wusste es nicht«, antwortete sie. »Nicht sicher. Aber ich weiß ein oder zwei Dinge über Sefry, und dieser Clan hat fast immer Schmugglerware dabei.« »Das ist gut zu wissen.« »Außerdem schulden sie mir ein paar Gefallen. Oder haben mir ein paar geschuldet. Die meisten haben wir gerade verbraucht. Also vertut diese Chance nicht. Behaltet die Perücke auf. Lasst Eure Strohmatte nicht sehen.« Neil zupfte an der Mimenperücke aus Rosshaar, die über sein kurz geschnittenes Haar gestülpt worden war. »Ich mag das nicht«, murmelte er. »Wenn Ihr die aufhabt, seid Ihr eine echte Schönheit«, sagte Vaseto. »Und jetzt versucht, nicht zu viel zu reden, besonders, wenn Euch jemand auf Hansisch oder Crothenisch anspricht. Ihr seid ein Reisender aus Ilsepeq, und Ihr seid hier, um den Schrein von Vanth zu besuchen.« »Wo ist Ilsepeq?« »Ich habe keine Ahnung. Und ebenso wenig wird es irgendjemand wissen, dem Ihr es erzählt. Aber die Espinitos bilden sich etwas auf ihr Wissen über die Welt ein, also wird niemand das zugeben. Übt einfach Folgendes: >Edio dat Ilsepeq. Ne fatio Vitelli-an.<« »Edio dat Ilsepeq«, wiederholte Neil versuchsweise. »Ne fatio Vitellian.« »Sehr gut«, sagte Vaseto. »Ihr klingt ganz so, als sprächet Ihr nicht ein Wort Vitellianisch.« »Das tue ich auch nicht«, erwiderte Neil. 215 »Damit wäre das ja erklärt. Jetzt kommt, gehen wir Eure Mädchen suchen.« 17. Kapitel Ambria Das finde ich schön«, sagte Mery zerstreut. Sie lag bäuchlings auf dem Teppich, die Füße hinter sich in die Luft gereckt. »Ja?«, fragte Leoff und fuhr fort, die Hammarharfe zu spielen. »Ich freue mich, dass es dir gefällt.« Sie machte zwei Fäuste und stützte das Kinn darauf. »Es ist traurig, aber nicht so, dass man weinen muss. Wie wenn der Herbst kommt.« »Schwermütig?«, schlug Leoff vor. Sie kniff nachdenklich die Lippen zusammen. »Ich glaube schon.« »Wie wenn der Herbst kommt«, sann Leoff laut. Er lächelte ein wenig, hielt inne, tauchte seinen Federkiel in die Tinte und machte eine Notiz auf dem Notenpapier. »Was habt Ihr da geschrieben?«, wollte Mery wissen. »Ich habe geschrieben >wie der nahende Herbst<«, antwortete er. »Damit die Musiker wissen, wie sie es spielen sollen.« Er drehte sich auf seinem Sitz herum. »Bist du bereit für deinen Unterricht?« Ihr Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Ja.« »Dann komm und setz dich neben mich.« Sie stand auf, klopfte ihr Kleid ab und rutschte dann auf die Bank. »Mal sehen, wir haben an der dritten Tonart gearbeitet, nicht wahr?« »Mm-hm.« Sie tippte auf das frisch beschriebene Notenblatt. »Darf ich das probieren?« 216 Er warf ihr einen Blick zu. »Du kannst es ja mal versuchen.« Mery legte die Finger auf die Tasten, und ein Ausdruck tiefer Konzentration trat auf ihr Gesicht. Sie biss sich auf
die Lippe und spielte den ersten Akkord, lief die Melodie empor und hörte beim dritten Takt plötzlich auf. Jäher Verdruss zeichnete sich auf ihrer Miene ab. »Was ist denn?«, fragte er. »Ich komme nicht hin«, antwortete sie. »Weißt du auch, warum?« »Meine Hände sind nicht groß genug.« Er lächelte. »Niemandes Hände sind groß genug. Das hier ist eigentlich gar nicht für die Hammarharfe geschrieben. Diese Zeile ist für eine Bassfiedel gedacht.« »Aber Ihr habt es doch gerade gespielt.« »Ich habe gemogelt«, erklärte er. »Ich habe die Noten eine Oktave hinauftransponiert. Ich wollte nur eine Vorstellung davon bekommen, wie sich das alles zusammen anhört. Um das genau zu wissen, müssten wir es von einem Orchester spielen lassen.« »Oh.« Sie zeigte mit dem Finger. »Was ist dann das für eine Zeile?« »Das ist die Oboe.« »Und das hier?« »Das ist die Tenorstimme.« »Jemand, der singt?« »Genau.« Sie spielte die Zeile. »Gibt es dafür Worte?«, wollte sie wissen. Er tippte sich an den Kopf. »Die sind noch hier drin, zusammen mit dem ganzen Rest.« Blinzelnd sah sie ihn an. »Ihr denkt Euch das aus?« »Ich denke es mir aus«, bestätigte er. »Was sind das für Worte?« »Das erste Wort ist ih«, verkündete Leoff feierlich. »Ih? Das sagen die Diener für >ich<.« »Ja«, sagte er. »Es ist ein sehr wichtiges Wort. Das ist das erste Mal, dass es so verwendet wird.« 217 »Das verstehe ich nicht.« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es selbst verstehe.« »Aber wieso die Dienersprache? Warum nicht die Sprache des Königs?« »Weil in Crothenien die meisten Leute Almanisch sprechen und nicht die Sprache des Königs.« »Wirklich?« Er nickte. »Kommt das, weil sie alle Diener sind?« Er lachte. »In gewisser Weise wohl schon.« »Wir alle sind Diener«, ließ sich eine Frauenstimme von der Tür her vernehmen. »Es geht nur darum, wem man dient.« Leoff drehte sich um. Eine Frau stand dort. Zuerst bemerkte er nur ihre Augen, geschliffene Gemmen aus Topas, die mit einem tiefen grünen Feuer glitzerten. Sie hielten ihn gnadenlos fest und schnürten ihm zu lange die Kehle zu. Schließlich riss er sich von ihrem Blick los. »Lady«, brachte er hervor, »ich hatte noch nicht das Vergnügen.« Er griff nach seinen Krücken und schaffte es, aufzustehen und eine kleine Verbeugung zu vollführen. Die Frau lächelte. Sie hatte aschblondes Haar, das in Locken herabhing, und ein freundliches Gesicht mit Grübchen, das die Jahre zu zeigen begann. Er schätzte sie auf Mitte dreißig. »Ich bin Ambria Gramme«, sagte sie. Leoff fühlte, wie sein Mund aufklappte, und schloss ihn wieder. »Ihr seid Merys Mutter?«, fragte er. »Ich bin sehr erfreut, Euch kennen zu lernen. Ich muss sagen, sie ist wirklich eine Freude, und eine außerordentlich viel versprechende Schülerin.« »Schülerin?«, fragte Ambria Gramme süß. »Wer seid Ihr? Und was genau unterrichtet Ihr?« »Oh, um Vergebung. Ich bin Leovigild Ackenzal, der Hofkomponist. Ich dachte, Mery hätte von mir gesprochen.« Er warf einen raschen Blick auf das Mädchen, das unschuldig zur Seite schaute. Das Lächeln wurde breiter. »O ja, ich habe von Euch gehört. 218 £in richtiger Held, nicht wahr? Wegen Eurer Rolle bei dieser Geschichte in Broogh.« Leoff spürte, wie sein Gesicht warm wurde. »Falls ich irgendetwas Lobenswertes getan habe, so ist das rein aus Versehen geschehen, das versichere ich Euch.« »Bescheidenheit ist im Augenblick bei Hofe nicht gerade in Mode, aber Euch steht sie gut«, sagte Lady Gramme. Ihre Augen glitten an ihm hinab. »Ihr seid aus gutem Holz geschnitzt, genau wie ich gehört habe.« »Ich ...« Er verstummte. Darauf hatte er nichts zu erwidern, und er versuchte seine Haltung wiederzugewinnen. »Es tut mir Leid, Mylady, ich dachte, Ihr wüsstet, dass ich Mery Musikunterricht gebe. Ich versichere Euch, ich hege keinerlei böse Absichten ihr gegenüber.«
»Es ist nicht Eure Schuld«, entgegnete Lady Gramme. »Mery hat nur vergessen, Euch zu erwähnen. Nicht wahr, Mery?« »Es tut mir Leid, Mama.« »Es sollte dir auch Leid tun. Fralet Ackenzal ist ein wichtiger Mann. Ich bin überzeugt, dass er keine Zeit für dich hat.« »O doch«, beteuerte Leoff. »Wie gesagt, sie ist eine wunderbare Schülerin.« »Gewiss. Aber meine Umstände lassen gegenwärtig keine Unterrichtskosten zu.« »Ich verlange keinen Lohn. Für meinen Unterhalt bei Hofe ist gesorgt.« Leoff machte eine hilflose Geste mit der Hand. »Ich fände es schrecklich, wenn ihr Talent ungenutzt verkümmern würde.« »Ihr meint, sie hat Talent?« »Ich versichere es Euch. Möchtet Ihr sie etwas spielen hören?« »O nein«, lehnte Lady Gramme immer noch lächelnd ab. »Ich habe überhaupt kein Ohr für Musik, sagt man mir. Ich vertraue auf Euer Urteil.« »Dann habt Ihr nichts dagegen?« »Wie könnte ich eine so freundliche Geste zurückweisen?« Sie schürzte die Lippen. »Aber trotzdem, damit bin ich in Eurer 219 Schuld. Ihr müsst mir erlauben, mich irgendwie erkenntlich zu zeigen.« »Das ist nicht nötig«, versicherte er und gab sich alle Mühe, zu verhindern, dass seine Stimme sich überschlug. »Nein, ich weiß genau das Richtige. Ich veranstalte eine kleine Feier, am Abend des heiligen Bright. Ihr seid neu hier und müsst gewiss ein paar Leuten vorgestellt werden. Ich bestehe darauf, dass Ihr kommt.« »Das ist sehr gütig, Lady« »Ganz und gar nicht. Es ist das Mindeste, was ich für jemanden tun kann, der nett zu meiner kleinen Mery ist.« Ihr Blick wanderte weiter. »Mery, wenn du mit deiner Musikstunde fertig bist, komm in meine Gemächer, ja?« »Ja, Mama«, antwortete das kleine Mädchen. »Dann wünsche ich Euch einen guten Tag«, sagte Ambria Gramme. »Auch Euch einen guten Tag, Lady Gramme.« »Ihr könnt mich Ambria nennen«, sagte sie. »Die meisten meiner Freunde tun das.« Mery ging einen Glockenschlag später, und Leoff wandte sich wieder seiner Arbeit zu, während eine angespannte Erregung in seinem Inneren wuchs. Es fühlte sich richtig an, es fühlte sich vollkommen an, die Art und Weise, wie diese Komposition Gestalt annahm. Es fühlte sich auch bedeutend an, doch diese Überlegung versuchte er von sich fern zu halten. Wenn er zu viel darüber nachdachte, wurde die Aufgabe beängstigend. Um die Stunde der Abendandacht vernahm er Schritte und ein leises Klopfen an seiner Tür. Artwair stand im Türrahmen, ähnlich gekleidet wie bei ihrer ersten Begegnung. »Mylord!« Leoff griff nach seinen Krücken. »Nein, nein, bleibt sitzen«, wehrte Artwair ab. »Das haben wir doch gewiss nicht nötig.« Leoff lächelte; ihm wurde bewusst, wie gut es tat, den Herzog wieder zu sehen. 220 »Wie kommt Ihr zurecht, Leoff?«, erkundigte sich Artwair und ließ sich auf einem Hocker nieder. »Die Königin hat mich aufgesucht«, berichtete Leoff. »Sie hat ein Werk in Auftrag gegeben, und es geht... gut voran, sehr gut sogar. Ich setze große Hoffnungen darauf.« Artwair sah ein wenig überrascht aus. »Was für ein Werk? Doch hoffentlich kein Requiem?« »Nein, etwas viel Aufregenderes. Ich sage Euch, es ist etwas, das es noch nie gegeben hat.« Artwair zog eine Augenbraue hoch. »So? Nun, seht Euch vor, mein Freund. Manchmal ist das Neue nicht gerade das, was im Augenblick am angebrachtesten ist. Die hiesige Geistlichkeit tuschelt bereits über Euch.« Leoff wischte die Worte mit einer Handbewegung fort. »Die Königin setzt Vertrauen in mich. Das ist alles, was mich interessiert.« »Die Königin ist nicht die einzige Macht, die man an diesem Hof bedenken muss.« »Schlimmer als Broogh kann es ja kaum sein«, entgegnete Leoff. »Bestimmt kann es schlimmer sein«, widersprach Artwair. Seine Stimme klang plötzlich so ernst, wie Leoff sie nur selten gehört hatte. »In diesen Zeiten ganz bestimmt.« Leoff zwang sich zu schmunzeln. »Nun, ich werde versuchen, das nicht zu vergessen. Aber es ist ein Auftrag, wisst Ihr, und noch dazu von der Königin.« Er verstummte wieder und betrachtete Artwairs Aufmachung. Bei Hofe hatte er Brokat und Leinen getragen. »Wollt Ihr demnächst auf Reisen gehen?« »Ja, eigentlich bin ich nur vorbeigekommen, um Euch Lebewohl zu sagen. Es gibt ein bisschen Ärger im Osten; man hat mich gebeten, mich darum zu kümmern.« »Noch mehr ungeratene Musiker?« Artwair schüttelte den Kopf. »Nein, etwas ein wenig Anspruchsvolleres, fürchte ich. Die Königin hat mich gebeten, eine Armee dorthin zu führen.« 221 Leoffs Herz setzte einen Schlag aus. »Haben wir Krieg? Ist es Hansa?« »Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Krieg ist, und ich glaube nicht, dass es Hansa ist. Anscheinend sind ein paar
von den Einheimischen zu Menschenfressern geworden.« »Was?« »Klingt lachhaft, nicht? Menschen, die nackt herumrennen und ihre Nachbarn in Stücke reißen. Erst war es schwer zu glauben, auch wenn der Praifec gesagt hat, es wäre wahr. Jetzt - nun, mehrere Dörfer sind zerstört worden, aber letzte Woche haben sie die Bewohner von Slifhaem samt und sonders getötet.« »Slifhaem? Dort war ich schon mal. Das ist eine recht ansehnliche Stadt, mit einer Festung.« Er stutzte. »Habt Ihr nackt gesagt?« »So sagt man, und es werden jeden Tag mehr. Der Praifec meint, es sei Hexerei. Alles, was ich weiß, ist, ich soll dorthin reiten und dem ein Ende bereiten, ehe sie in die Midenlande strömen.« Leoff schüttelte den Kopf. »Und da warnt Ihr mich, ich soll mich vorsehen.« »Nun, ich würde es jederzeit vorziehen, in die Schlacht zu reiten und meinen Tod auf einer Schwertschneide daherkommen zu sehen, anstatt hier in Eslen an einem Nadelstich oder einem vergifteten Weinkelch zu sterben«, erwiderte der Ritter. »Außerdem werde ich in einer Rüstung stecken, mit einem guten Schwert in der Hand, und werde fünfhundert gute Männer um mich herum haben. Ich glaube nicht, dass ein Haufen nackter Verrückter viel Glück dabei haben wird, mich zu erledigen.« »Was ist, wenn sie Kreaturen wie den Basilnix dabeihaben? Wenn es der Dornenkönig selbst ist, der sie antreibt, der sie wahnsinnig macht?« »Nun, dann töte ich den eben gleich auch noch«, antwortete Artwair. »In der Zwischenzeit - hoho, was ist denn das?« Leoff sah, wie Artwair ein Tuch aufhob. »Ihr habt wohl ein paar Bekanntschaften geschlossen, auy?«, fragte der Herzog augenzwinkernd. »Von der Sorte, die es sich so gemütlich macht, dass sie ihre Sachen herumliegen lässt?« 222 Leoff lächelte. »Nicht von der Sorte, die Ihr meint, fürchte ich. pas da muss Mery vergessen haben.« »Mery?« »Eine meiner Schülerinnen. Lady Grammes Tochter.« Artwair starrte ihn an, dann stieß er einen leisen Pfiff aus. »Das ist wahrhaftig eine interessante Bekanntschaft.« »Ja, so hat die Königin das auch gesehen«, erwiderte Leoff. »Kann ich mir denken.« »Aber sie ist ein entzückendes Kind«, erklärte Leoff. »Und eine ausgezeichnete Schülerin.« »Ihr wisst nicht, wer sie ist?«, fragte Artwair ungläubig. »Doch, das habe ich Euch doch gerade gesagt - Lady Grammes Tochter.« »Auy, aber wisst Ihr auch, wer sie ist?« Leoff hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. »Nun ja ... nein, eigentlich nicht«, gestand er. »Ihr seid erfreulich naiv, Leovigild Ackenzal«, bemerkte der Herzog. »Eine Rolle, die ich langsam leid werde.« »Dann solltet Ihr vielleicht hin und wieder ein paar Fragen stellen. Lady Gramme ist die Mutter des Mädchens, das stimmt. Ich sollte besser sagen, sie ist die Tochter von Ambria Gramme und dem verstorbenen König William dem Zweiten.« Leoff schwieg einen Moment. »Oh«, sagte er schließlich. »Jawohl. Ihr habt Freundschaft mit einem der Bastarde des Königs geschlossen - jemand, der im Augenblick bei der Königin nicht gerade beliebt ist.« »Das arme Mädchen kann doch nichts für seine Herkunft.« »Nein, natürlich nicht. Aber Lady Gramme ist eine von vielen, die Visionen von einer künftigen Krone hat, und sie schreckt nicht davor zurück, alles zu tun, was diese Vision wahr machen könnte. Sie ist eine erbitterte Feindin der Königin. Mery hat Glück, dass sie nicht das Opfer eines ... Unglücks geworden ist.« Empört richtete Leoff sich auf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Königin auch nur daran denken würde, so etwas zu tun.« 223 »Vor einem Jahr wäre ich vielleicht Eurer Meinung gewesen«, entgegnete Artwair. »Jetzt - nun, ich würde die kleine Mery nicht allzu sehr ins Herz schließen.« Leoff blickte rasch den Korridor hinunter; er hoffte, dass die Kleine nicht in Hörweite war. »Ah«, sagte Artwair. »Ich sehe schon, es ist zu spät dafür.« Er kam herüber und legte Leoff die Hand auf die Schulter. »Der Hof ist zurzeit ein gefährlicher Ort. Ihr müsst Acht geben, mit wem Ihr Euch anfreundet. Wenn die Königin argwöhnt, dass Ihr Gramme ins Netz gegangen sein könntet - nun, dann würde ich mir Sorgen machen, dass Ihr einen unglücklichen Sturz tun könntet.« Er nahm die Hand weg. »Nehmt mich ernst«, drängte er. »Haltet Euch von Gramme fern. Macht sie nicht auf Euch aufmerksam.« Er zeigte die Zähne. »Und wünscht mir Glück. Wenn alles gut geht, bin ich vor dem Julfest zurück.« »Alles Glück der Welt, Artwair«, sagte Leoff. »Ich werde die Heiligen bitten, Euch zu bewahren.« »Auy. Aber wenn sie es nicht tun, dann keine verdammten Requiems, bitte. Die sind so verflucht trübsinnig.« Leoff sah dem Herzog nach, und sein Herz sank noch tiefer. Artwair war der einzige Erwachsene, den er in Eslen wirklich kannte, ganz bestimmt der einzige, den er als Freund bezeichnen könnte. Außer ihm gab es nur Mery
Und was das und Ambria Gramme betraf - Artwairs Warnung war ein paar Stunden zu spät gekommen. Er hatte sie bereits auf sich aufmerksam gemacht. 224 18. Kapitel Vertrauen Als Cazio in den Hof gestürzt kam, kauerte Anne dicht neben dem Kochfeuer und stopfte ein Umschlagtuch. Die Nächte waren kühler geworden, und sie hatte kein Geld für ein neues. Sie lächelte Cazio verhalten zu, der - wie gewöhnlich - sehr zufrieden mit sich zu sein schien. »Ich habe ein Geschenk für Euch«, verkündete er. »Was für ein Geschenk?« »Fragt mich nett, dann sage ich es Euch.« »Was für ein Geschenk, bitte}«, wiederholte sie ungeduldig. Er runzelte die Stirn. »Netter könnt Ihr nicht sein? Ich hatte mehr auf so etwas wie einen Kuss gehofft.« »Ja, nun, ohne Hoffnung hätten wir wenig, was uns antreibt, nicht wahr? Wenn ich Euch diesen Kuss gäbe, was bliebe Euch dann noch zu hoffen?« »Oh, da wüsste ich ein oder zwei Dinge«, erwiderte er anzüglich. »Ja, aber auf die könntet Ihr niemals wirklich hoffen«, entgegnete sie. Dann reckte sie die Nase empor. »Nun, macht Euch nichts draus. Wenn Euer Geschenk nicht ein neues Umschlagtuch oder wärmere Kleider sind, bezweifle ich, dass ich Verwendung dafür habe.« »Ach nein? Wie hört sich denn eine Schiffspassage an?« Anne ließ ihre Stopfnadel fallen. Dann zog sie die Brauen zusammen. »Treibt keinen Spott mit mir«, sagte sie verärgert. »Das müsst Ihr gerade sagen«, erwiderte er. »Ich habe niemals -« »Das war nur ein Scherz«, beteuerte er. Und dann, hastig: »Nicht das mit dem Schiff. Es ist alles geregelt. Passage für uns alle vier.« 225 »Wohin?« »Nach Paldh. Das ist doch in der Nähe von Eslen, nicht wahr?« »Ganz in der Nähe«, antwortete Anne. »Nahe genug. Ist das wahr? Ihr wollt mich nicht bloß ärgern?« »Casnara, bestimmt nicht. Ich habe gerade mit dem Kapitän gesprochen.« »Und auf dem Schiff ist es sicher?« »So sicher, wie es nur geht.« Blinzelnd sah Anne Cazio an. Nach all dieser Zeit hatte sie angefangen, nicht mehr an daheim zu denken, hatte versucht, in der Gegenwart zu leben, es von einem Tag zum nächsten zu schaffen. Aber jetzt... Ihr Zimmer. Anständige Kleider. Ein knisterndes Kaminfeuer. Warme Bäder. Richtiges Essen. Sicherheit. Sie erhob sich und drückte Cazio sehr bestimmt einen Kuss auf die Lippen. »Gerade jetzt, in diesem Augenblick, bete ich Euch an«, sagte sie. »Nun«, erwiderte Cazio, dessen Stimme plötzlich ein wenig gepresst klang, »wie wäre es dann mit noch einem?« Sie überlegte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Der Augenblick ist vorbei. Aber ich bin trotzdem dankbar, Cazio.« »Ah, Ihr seid wankelmütig«, klagte Cazio. »Alles habe ich aus Liebe zu Euch getan, und so wenig bekomme ich dafür.« Anne lachte und stellte erschrocken fest, dass es sich echt anfühlte. »Ihr liebt mich, Ihr liebt Austra, Ihr liebt jedes junge Ding, das einen Rock trägt.« »Es gibt Liebe, und es gibt wahre Liebe«, entgegnete Cazio. »In der Tat. Und ich frage mich, ob Ihr wohl je den Unterschied begreifen werdet.« Sie zupfte ihn am Ärmel. »Ich weiß Eure Hilfe zu schätzen, obwohl ich den Verdacht hege, dass die Tatsache, dass mein Vater Euch entlohnen -« Schlagartig verstummte sie. Sie hatte es vergessen. 226 Cazio bemerkte die Veränderung in ihrer Miene. »Macht Euch keine Gedanken wegen der Belohnung«, sagte er. »Ich bin schon jetzt der beste Degenfechter in ganz Vitellio. Ich hätte nicht übel Lust, zu sehen, ob sich irgendwo anders jemand mit mir messen kann, und da kann ich genauso gut in Eurem Land anfangen wie anderswo.« Anne nickte, doch es gelang ihr nicht, die Plänkelei zu erwidern. »Auf jeden Fall solltet Ihr Eure Sachen packen«, fuhr er fort. »Das Schiff legt morgen früh ab, vorausgesetzt, Ihr wollt noch mitfahren.« »Und Ihr seid sicher, dass keine Gefahr besteht?« »Ich kenne den Kapitän. Ich mag ihn nicht besonders, aber er ist ein Mann, der Wort hält, und auf eine langweilige Art und Weise absolut vertrauenswürdig.« »Dann müssen wir fahren«, entschied sie. »Wir müssen.« In diesem Moment ertönte ein lauter Ruf auf der Straße. Anne blickte an Cazio vorbei und sah Ospero im
Türrahmen stehen. Draußen sah sie eine Männerschar. »Was ist los?«, fragte sie. »Sie haben Euch wieder gefunden«, antwortete Ospero. Er hielt einen Dolch in der Hand. Neil atmete die Seeluft tief ein, und zum ersten Mal seit langem fühlte er sich wie zu Hause. Die Sprache war ihm fremd, die Kleidung derer um ihn herum war ungewohnt, und sogar der Geruch des Meeres war anders als die kalte, klare Gischt von Skern oder Liery, doch es war trotzdem das Meer. »Setzt Euch«, sagte Vaseto. »Ihr erregt sonst Aufmerksamkeit.« Neil blickte auf die Frau hinab, die mit gekreuzten Beinen auf den Stufen zur Halle der Seefahrergilde saß und eine Hand voll fettiger gegrillter Sardinen aß, die sie bei einem Straßenhändler erstanden hatte. »In all dem Gewühl?«, fragte er und deutete mit dem Kinn auf die Ströme der Kaufleute, Matrosen, Händler und Tagediebe, die 227 sie umgaben. Er trug noch immer seine Verkleidung. »Ich glaube kaum, dass wir auffallen.« »Es sind noch andere hier und beobachten die Schiffe. Die Belohnung für Eure Freundinnen ist hoch.« »Ich habe niemand anderen Wache halten sehen.« »Das liegt daran, dass die wissen, was sie tun«, erwiderte sie. »Wenn man so aussieht, als beobachte man die Schiffe, dann wird irgendjemand das merken.« »Ich werde dieses Verkleidungsspiel wohl langsam leid«, seufzte er. »Diese Taktik des Versteckens.« »Eure Freundinnen halten sich verborgen, aus gutem Grund, und sie scheinen ein ziemlich gutes Versteck gefunden zu haben. Es gibt nicht viel mehr als unzuverlässige Gerüchte auf der Straße, wo sie sein könnten.« »Vielleicht sind sie schon fort.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete sie. »Es heißt, man habe sie gesehen, und zwar vor noch gar nicht langer Zeit. Wenn sie versuchen, eine Überfahrt auf einem Schiff zu ergattern, dann haben wir hier die besten Chancen. Die anderen Beobachter halten sich wahrscheinlich an eine Beschreibung. Ihr kennt die Mädchen und erkennt sie vielleicht auch dann, wenn sie verkleidet sind. Ich kenne Cazio und z'Acatto. Deshalb sind wir im Vorteil.« »Es passt mir trotzdem nicht. Und wir halten jetzt bereits seit vier Tagen Ausschau.« »Sie sind schon viel länger hier.« »Ja, aber warum?« »Weil sie ein Schiff suchen, das in die richtige Richtung fährt, zu einem Preis, den sie aufbringen können. Man hat die Mädchen arbeiten sehen.« »Arbeiten? Beide?« Arbeiten, die Prinzessin von Crothenien? Anne und Arbeit? »Ja. Als Waschfrauen oder Küchenmädchen und dergleichen.« »Unglaublich.« »Schiffspassagen kosten Geld. Wenn sie aus dem Konvent gekommen sind, werden sie nicht viel besitzen, oder? Vielleicht 228 überhaupt nichts. Nach dem, was ich über Cazio weiß, hat der bestimmt auch nichts, und wenn er Geld hätte, würde z'Acatto es im Handumdrehen versaufen. Es könnte noch einen oder zwei Monate dauern, bis sie die Passage zusammenhaben.« »Es muss eine andere Möglichkeit geben, sie zu finden. So lange kann ich nicht warten.« Sie leckte sich die Finger ab und warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Geht spazieren. Tut so, als ob Ihr Euch die Fische anseht, oder irgend so etwas. Ihr fangt an, mich zu ärgern.« »Ich wollte Euch nicht -« »Geht!« Sie scheuchte ihn mit dem Handrücken fort. »Ich sehe mich bei den anderen Schiffen um«, brummte er. Er schritt den Kai hinunter und versuchte sich seine hilflose Ungeduld nicht anmerken zu lassen, sich eine Strategie auszudenken, auf die Vaseto nicht gekommen war. Doch er wusste wenig von Städten, erst recht nicht von fremden Städten, und noch dazu von dieser Größe. Niemals hätte er gedacht, dass sich so viele Menschen am selben Ort drängen würden. Eslen war ihm unvorstellbar groß vorgekommen, als er es zum ersten Mal gesehen hatte, z'Espino jedoch war so riesig, dass er Mühe hatte, es zu begreifen, auch wenn er mittendrin steckte. Wie Vaseto vorgeschlagen hatte, gab er vor, die Waren der Händler und die Fracht, die von den Schiffen ausgeladen wurde, zu begutachten, doch seine Blicke und Gedanken glitten immer wieder zu den Schiffen selbst hinüber, zu seiner Sehnsucht, wieder eines davon unter den Füßen zu haben. Seit er mit Sir Fail in Eslen eingetroffen war, hatte er die Straße des Meeres nicht mehr unter sich gespürt. Ihm war nicht klar gewesen, wie sehr ihm das gefehlt hatte. Weit zu seiner Rechten sah er die zum Himmel aufragenden Masten einer Brimwulf aus der Salzmark und beschloss, sich in die Gegenrichtung zu wenden - die Brimwulfe waren die bevorzugten Kriegsschiffe der hansischen Marine. Er wandte sich nach links, und seine Augen folgten den Linien 229 eines Dreimasters aus Terna-Fath, von dessen Bug das gemeißelte Holzgesicht der heiligen Forvin herabstarrte,
der Seekönigin, die Haare so geschnitzt, dass sie brodelnden Wellen glichen. Direkt dahinter ankerte ein Lankzkef aus Herilanz, das fast wie eines der Langschiffe der Weihand-Piraten aussah, gegen die Neil seit seiner Kindheit gekämpft hatte, mit einem einzigen Segel, fünfzig Rudern und einem eisernen Rammsporn. Ein arg mitgenommenes galleanisches Krabbenboot legte gerade an, und die Mannschaft warf Trossen auf den Kai. Hinter dem Krabbenfänger lag ein hübsches kleines Schiff, mit schnittigen Linien wie ein Tümmler. Es war nicht allzu groß, hatte jedoch alles in allem fünf Masten. Bestimmt ließ es sich leicht wenden, eine Wellentänzerin. Seiner Bauweise nach kam es aus dem Norden, doch nichts offenbarte dem Auge eindeutig seine Herkunft. Keine Flagge war gehisst, und das Schiff trug keinen Namen. Er blieb stehen, musterte es eingehend, stellte seine Namenlosigkeit auf die Probe. Ein paar Männer arbeiteten an Deck, mit blasser Haut und hellem Haar, was ebenfalls für einen Heimathafen im Norden sprach. Ein leiser Schreck durchfuhr ihn, als er merkte, dass jemand ihn aus der Ladeluke auf dem Vordeck beobachtete. Jemand mit tiefblauen Augen und einem Gesicht, so jung, schön und traurig, dass es sein Herz erzittern ließ. Einen langen Moment blieben ihre Blicke aneinander hängen. Dann drehte sie sich um und zog sich in die Dunkelheit des Schiffes zurück. Verlegen drehte er sich weg. Er hatte genau das getan, was Vaseto ihn zu vermeiden geheißen hatte - er war bemerkt worden. Er wandte sich vom Kai ab, und sein Herz hob sich ein wenig, als er etwas schmerzhaft Vertrautes erblickte den mastförmigen Turm einer Kapelle des heiligen Lier. Ohne zu zögern, trat er ein. Es war zu lange her, seit er das letzte Mal gebetet hatte. Als er kurze Zeit darauf wieder ins Freie trat, fühlte sich sein Schritt leichter an. Während er dorthin zurückging, wo er Vaseto zurückgelassen hatte, vermied er es geflissentlich, das seltsame Schiff anzusehen. 230 »Da seid Ihr ja«, begrüßte ihn Vaseto. »Ich wusste doch, dass es Glück bringen würde, Euch wegzuschicken.« »Wie meint Ihr das?« »Cazio. Er ist gerade eben an Bord dieses Schiffes da gegangen.« Sie winkte in Richtung eines viermastigen Handelsschiffes. »Das ist ein vitellianisches Schiff«, sagte er. »Ja. Es fährt nach Paldh. Schaut nicht zu genau hin.« »Waren Anne und Austra bei ihm?« »Nein. Seht mich an.« Mit einiger Mühe riss er den Blick von dem Schiff los und schaute in Vasetos braune Augen. »So«, sagte sie. »Tut so, als interessiertet Ihr Euch für mich, nicht für das Schiff.« »Ich -« Das Bild eines anderen Augenpaares flackerte in seinem Kopf auf - das der Frau auf dem Schiff. Und dann, mit schuldbewusstem Erschrecken, Fastias. Vaseto musste etwas in seinem Gesicht gelesen haben, denn die strengen Linien des ihren wurden weicher, und sie streckte eine sanfte Hand aus, um ihm über die Wange zu streichen. »Manchmal ruft Ihr im Schlaf einen Namen. Wusstet Ihr das?« »Nein«, sagte er. »Ist sie tot?« »Ja.« »Ihr habt sie sterben sehen?« Diesmal nickte er nur. »Der Schmerz wird vergehen«, sagte sie. »Wie jeder Kater.« Er brachte ein freudloses Lachen zustande. »Das ist ein eigenartiger Vergleich.« Sie zog die Schultern hoch. »Vielleicht ein ungerechter. Ich kann nur nach Beobachtungen urteilen, nicht aus Erfahrung.« »Ihr habt noch nie jemanden verloren, den Ihr geliebt habt?« Sie neigte den Kopf zur Seite, und ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich habe noch nie geliebt«, erwiderte sie. »Und ich werde es auch niemals tun.« »Wie könnt Ihr das wissen?« 231 »Das ist ein Teil dessen, wer ich bin. Ich werde niemals die Berührung eines Mannes erleben.« »Das ist nicht das Gleiche«, wandte er ein. »Nein, wahrscheinlich nicht. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich niemals lieben werde.« »Ich hoffe, dass das nicht wahr ist.« »Ihr könnt das sagen, wo es Euch solchen Schmerz beschert hat?« »O ja«, versicherte er. »Als sie ums Leben gekommen ist - hättet Ihr das damals auch sagen können?« »Nein«, antwortete er. »Damals wollte ich selbst sterben.« Sie lächelte und zauste ihm das Haar. »Und das ist der Grund, weshalb ich niemals lieben werde. Schaut jetzt nicht hin, aber unser Freund hat das Schiff verlassen.« Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch sie packte seine Hand. »Nicht bewegen«, sagte sie.
»Aber wir müssen mit ihm sprechen.« »Wenn wir das tun, wird jeder, der ihn beobachtet, es sehen.« »Dann lasst uns ihm folgen.« »Ob das eine gute Idee ist, weiß ich auch nicht.« »Aber was ist, wenn er keine Überfahrt auf diesem Schiff vereinbart hat? Was ist, wenn wir ihn nie wieder sehen? Nein. Im Augenblick ist er meine einzige Verbindung zu Anne, und ich darf ihn nicht aus den Augen verlieren.« Sie dachte über seine Worte nach und seufzte dann. »Vielleicht habt Ihr Recht«, sagte sie. »Vielleicht bin ich in dieser Angelegenheit zu vorsichtig. Aber Anne -« Sie stockte jäh, und zum ersten Mal merkte Neil, dass Vaseto irgendwie unsicher war. Und dass sie etwas gesagt hatte, das sie nicht hätte aussprechen sollen. »Was ist mit Anne?«, wollte er wissen. »Ich kann es Euch nicht sagen. Aber sie ist wichtig, aus mehr Gründen, als Euch klar ist.« Sie stand auf. »Kommt. Legt den Arm um mich. Schlendert mit mir dahin wie mit einer Geliebten, und wir werden Cazio folgen.« 232 Er tat, was sie sagte, und legte den Arm um ihre Taille. Sie war sehr zierlich, und es fühlte sich sehr peinlich an. »Das ist er«, sagte sie. »Der mit dem Federhut.« »Ich sehe ihn«, erwiderte Neil. Sie folgten dem jungen Mann durch gewundene Straßen in einen düsteren, verfallenen Teil der Stadt, wo Männer von derbem Aussehen ihnen mit kühlen, feindseligen Mienen nachsahen. Schließlich stieg Cazio die Stufen zu einem Haus empor und trat ein. Neil beschleunigte seine Schritte, doch Vaseto zerrte an seinem Arm. »Wartet«, sagte sie, dann schnalzte sie mit der Zunge. »Nein, vergesst es. Es ist zu spät.« Neil sah, was sie meinte. Männer schienen plötzlich auf der Straße aufgetaucht zu sein, überall um sie herum, bewaffnet mit Messern und Streitkolben. Neil griff unter seinen Mantel und tastete nach Krähes Heft, doch es war nicht da. Genau wie seine Rüstung hatte er das Schwert in ihrem Quartier zurückgelassen. Vaseto begann, in scharfem Tonfall auf Vitellianisch zu sprechen, doch die Männer kamen näher. »Bleibt zurück«, warnte Ospero. Ohne auf ihn zu achten, drängte Anne sich vorbei und versuchte zu sehen, was los war. Osperos Männer hatten einen Mann und einen Knaben umstellt. Der Mann zog ein Messer und drehte sich langsam. Der Junge schrie irgendetwas davon, dass sie Freunde von Cazio seien. Sie sah Cazio an, auf dessen Gesicht ein Ausdruck der Konzentration lag. »Kennt Ihr ihn?«, fragte sie. »Ich glaube schon«, antwortete er. »Ich glaube, er war hin und wieder bei Orchaevia zu Gast. Den anderen Burschen kenne ich nicht.« »Wartet!«, rief Anne. »Fragt, was sie wollen.« Beim Klang ihrer Stimme fuhr der Kopf des Fremden zu ihr herum. »Anne!«, schrie er. »Eure Mutter schickt mich!« 233 Er sprach die Sprache des Königs, mit dem Akzent der Inseln. Annes Herz drehte sich wie ein Kreisel. »Ospero, bitte sagt Euren Männern, sie sollen ihn in Ruhe lassen«, bat sie. »Ich glaube, ich kenne ihn.« »Lasst ihn näher kommen«, befahl Ospero. Der Junge sagte leise etwas zu dem Mann, der den Blick nicht von Anne abgewandt hatte. Er nickte und kam auf die Tür zu. Im Gehen nahm er eine Perücke ab und enthüllte das blonde Haar darunter. Sie schnappte nach Luft. »Sir Neil?« »Ja«, sagte er und schickte sich an, das Knie zu beugen. »Nein, nein, erhebt Euch«, stieß sie hastig hervor. Rasch gehorchte er. »Mutter schickt Euch?«, fragte sie. »Wie habt Ihr mich gefunden?« »Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte er. »Ich bin zum Konvent geritten und habe ihn zerstört vorgefunden. Die Gräfin Orchaevia hat mir geraten, hierher zu kommen.« »Ich -« Dann schien irgendetwas in Anne zu bersten, wie eine gläserne Flasche im Feuer. Tränen schössen ihr aus den Augen, und obgleich sie sich dessen kaum bewusst war, schlang sie die Arme um Sir Neil und weinte. Neil hielt Anne unbeholfen in den Armen und wusste nicht recht, was er tun sollte. Er fühlte, wie sie zitterte, und schloss die Augen. Und die Geräusche der Welt erstarben. Obwohl sie Schwestern waren, sahen Anne und Fastia sich nicht sehr ähnlich. Doch Anne fühlte sich an wie Fastia. Ihr Hals roch genauso. Anne bebte, und Neil spürte, wie Fastia sterbend erschauerte. Plötzlich drohten seine eigenen Tränen zu fließen. »Sir Neil?«, sagte Anne mit gedämpfter Stimme in seine Schulter. »Sir Neil, das ... das ist fest genug.« Er ließ sie los und trat rasch zurück. »Es tut mir Leid, Pr- ... Es tut mir Leid. Ich habe nur so lange nach Euch gesucht, und Eure Mutter -« 234
Bei diesen Worten empfand er eine Freude, die das Aufwallen der Trauer fast vergehen ließ. Diesmal hatte er nicht versagt. Er hatte Anne gefunden. Jetzt brauchte er sie nur noch nach Hause zu bringen, und dann konnte er an die Seite der Königin zurückkehren, wo er hingehörte. »Meine Mutter? Ist sie noch wohlauf?« »Eure Mutter ist wohlauf«, bestätigte er. »Sie trauert, aber sie ist wohlauf.« Sie hob das Kinn. Die Tränen jedoch wischte sie nicht weg, sondern ließ sie langsam ihr Gesicht hinunterrinnen. »Ihr wart dort, Sir Neil?« Er nickte und spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. »Ich war dort«, sagte er. »Bei Euren Schwestern. Euer Vater war anderswo.« Cazio hustete leise und sagte etwas auf Vitellianisch. Eines der Worte klang wie Roderick. Anne verdrehte kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Neil stand ungeduldig daneben, während die beiden sich unterhielten und Vaseto hin und wieder etwas einwarf. Als sie fertig waren, deutete Anne mit einem Kopfnicken auf Cazio. »Sir Neil, dies ist Cazio Pachiomadio da Chiovattio. Er hat sich als Freund erwiesen. Ohne seine Hilfe wären Austra und ich niemals aus dem Konvent entkommen.« Neil verbeugte sich. »Es ehrt mich, Euch kennen zu lernen.« Auch Cazio verbeugte sich, und dann stellte Anne dem Vitellianer Neil vor. Neil machte sie beide mit Vaseto bekannt. Als all das getan war, wandte sich Anne wieder an Neil. »Cazio weiß, dass ich eine Adlige aus Crothenien bin«, sagte sie. »Er kennt meinen Familiennamen nicht.« »Ihr traut ihm nicht?« »Ich vertraue ihm. Aber ich bin vorsichtig.« Neil nickte und versuchte Anne einzuschätzen. Er hatte sie in Eslen nicht sehr lange und nicht sehr gut gekannt. Doch sie kam ihm ganz anders vor als das eigenwillige Kind, von dem er gehört hatte. Auf jeden Fall hatte sie schnell Vitellianisch gelernt, und ihre rauen Hände bewiesen, dass sie tatsächlich Arbeiten verrichtet hatte, die sich nur wenige von königlicher Herkunft vorzustel235 len vermochten. Das deutete nicht auf einen verwöhnten Fratz hin, sondern eher auf eine Frau, die lernte, Dinge selbst zu tun. Die lernte, die Dinge zu tun, die getan werden mussten. »Ich hole Eure Sachen«, verkündete Vaseto. »Das Schiff, auf dem Cazio die Überfahrt arrangiert hat, läuft in ein paar Stunden aus. Ihr werdet mit ihnen an Bord sein - die Gräfin hat Geld für Eure Reise mitgeschickt, und Cazio glaubt, dass der Kapitän noch einen Passagier mehr aufnehmen wird.« »Ihr kommt nicht mit?« Vasetos Gesicht verzog sich auf beinahe drollige Art und Weise. »Aufs Wasser? Nein, ich glaube nicht. Mein Auftrag war, Euch so weit zu bringen. Nicht mehr.« Neil verbeugte sich. »Ich werde Euch ewig dankbar sein, Lady. Ich hoffe, es war keine allzu lästige Pflicht.« »Nicht allzu sehr. Aber erinnert Euch an Eure Dankbarkeit, wenn wir uns wieder sehen.« »Ich hoffe, das werden wir.« Vaseto lächelte listig. »Nein, daran besteht kein Zweifel. Das wurde bereits gesehen. Jetzt bleibt hier, und ich komme mit Euren Sachen zurück.« »Ich kann auch mitkommen.« Vaseto schüttelte den Kopf. »Ihr werdet hier vielleicht gebraucht, besonders, wenn andere uns gefolgt sind.« Neil nickte bei diesen vernünftigen Worten. »Nun gut.« Cazio zupfte Anne am Ärmel. »Ein Wort unter vier Augen, bitte, Casnara?«, sagte er. Anne wollte bereits ungeduldig abwinken. Sie musste mit Sir Neil reden. Doch dann sah sie die aufrichtige Besorgnis in Cazios Augen und trat mit ihm zur Seite, in den Hof. Außerdem sprach Neil gerade mit dieser seltsamen kleinen Frau. »Schnell«, drängte sie. Cazio verschränkte die Arme. »Wer ist dieser Mann?« »Ich habe es Euch doch schon gesagt, das ist nicht Roderick. Er dient meiner Mutter.« 236 »Und Ihr vertraut ihm vollkommen? Er sieht ein bisschen aus wje diese Ritter, die Euch in dem Konvent angegriffen haben.« »Er war der vertrauenswürdigste Mann meiner Mutter«, versicherte Anne ihm. »Und ist er das noch immer?« Diese Worte ließen Anne innehalten. Sir Neil hatte gesagt, er käme von ihrer Mutter. Doch sie hatte keine Beweise dafür. Soweit sie sich erinnerte, war er erst kurz bevor man sie fortgeschickt hatte, an den Hof gekommen. Gewiss, er hatte ihrer Mutter auf Elsenys Fest das Leben gerettet, doch wenn das nun eine List gewesen war? Die Namen der Mörder ihres Vaters und ihrer Schwestern waren in den Meldungen des Cuveitur nicht erwähnt worden. Was, wenn Sir Neil einer davon gewesen war? Mit kaltem Schrecken begriff sie plötzlich, wie gut das alles zusammenpasste. Nur ihre Mutter und Erren hatten gewusst, dass sie in den Konvent der heiligen Cer geschickt worden war. Und vielleicht der Leibwächter ihrer Mutter, Sir Neil. Das hieße, dass Roderick sie nicht verraten hatte. Nicht dass sie das jemals wirklich geglaubt
hätte, aber ... Cazio sah die Veränderung in ihren Augen und nickte ernst. »Ja, seht Ihr? Das ist alles zu verdächtig. Gerade als ich endlich ein Schiff für uns gefunden habe, taucht er auf.« »Ich ... Mutter hat ihm vertraut.« »Aber Ihr tut es nicht«, entgegnete er. »Jetzt nicht mehr, wo Ihr darüber nachgedacht habt.« »Jetzt nicht mehr, wo Ihr mir diesen Gedanken in den Kopf gesetzt habt«, erwiderte sie unglücklich. Sie bemerkte, dass die kleine Frau verschwunden war. Neil stand jetzt allein da und versuchte so zu tun, als interessiere ihre Unterhaltung ihn nicht. Nach allem, was sie wusste, könnte er fließend Vitellianisch sprechen. »Geht und sucht Austra«, flüsterte sie. »Und z'Acatto. Geht alle zum Schiff. Ich komme gleich nach.« »Warum wollt Ihr nicht mit mir gehen?« 237 »Weil er darauf bestehen wird, mitzukommen. Selbst wenn er der ist, der er zu sein behauptet, und er der treue Diener meiner Mutter ist, wird er mich nicht aus den Augen lassen, jetzt, wo er mich gefunden hat.« »Aber er könnte Euch ermorden, sobald ich fort bin.« »Ospero«, sagte sie. »Meint Ihr, er wird helfen?« Cazio nickte. »Er ist immer noch draußen. Ich sage ihm, dass er auf Euch aufpassen soll.« Sie nickte. Dann trat sie wieder auf die Straße hinaus. »Cazio holt die anderen«, sagte sie zu Neil. »Ich gehe nach oben und packe meine Sachen. Würdet Ihr hier Wache halten?« »Gewiss«, antwortete Neil. Er sah argwöhnisch aus. »Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?« »Im Augenblick nicht.« Er nickte. Als sie die Treppe hinaufstieg, war sie erleichtert, dass er ihr nicht folgte. Sie verspürte einen Stich des schlechten Gewissens. Wenn er die Wahrheit sagte, hatte Sir Neil einen langen, beschwerlichen Weg zurückgelegt, um sie zu finden, und sie hinterging ihn. Doch sie konnte das Risiko nicht eingehen, nicht, wenn sie so wenig wusste. Wenn sie sich irrte, konnte er auf demselben Wege nach Hause zurückkehren, und sie würde sich entschuldigen. Sie würde sich vielmals entschuldigen. 19. Kapitel Leben oder Tod Aspar betrachtete Stephens regloses Gesicht im Feuerschein. »Wie habt Ihr ihn kennen gelernt?«, fragte Ehawk und streckte die Hand aus, um einen Spieß zu drehen, an dem ein stattlicher Igel steckte und brutzelte. 238 Aspar grinste schief und starrte den Zweig an, den er in den Fingern zerpflückt hatte. Er warf ihn ins Feuer. »Dort oben an der Königsstraße«, sagte er. »Ungefähr zwei Tagesritte westlich von der Eulengruft. Er war unterwegs nach Virgenya, um im Kloster von d'Ef zu studieren. Allein, weil er dachte, es würde genau so ein Abenteuer werden wie die, über die er in seinen Büchern gelesen hatte. Als ich ihm begegnet bin, hatten Banditen ihn entführt.« Aspar schüttelte den Kopf. »Damals habe ich nicht viel von ihm gehalten. Er hat ständig törichte Sachen gesagt, hat diese tausend Jahre alten Landkarten mit sich herumgeschleppt, als würden sie ihm was nützen.« »Aber er war Euer Freund?« »Ja. Hat mir mehr als einmal das Leben gerettet, wenn man das glauben kann.« Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum, und Funken wirbelten zum Himmel empor. »Er ist nicht tot«, sagte Winna beklommen. »Würdet ihr wohl aufhören, so zu reden, als wäre er es?« »Winna«, sagte Aspar leise, »ich kann keinen Puls bei ihm finden. Er atmet nicht.« »Er ist nicht tot«, beharrte Winna starrköpfig. »Er ist nicht steif geworden, oder? Es ist vier Tage her, und er hat nicht angefangen zu stinken.« »Diejenigen, die der Gryffin getötet hat, sind auch nicht verwest«, gab Aspar zu bedenken. »Aspar White ...« Winna verstummte und wandte sich ab, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen. Aspar erhob sich und drehte sich ebenfalls weg. Er war selbst den Tränen gefährlich nahe. Er dachte an Stephens letzten, furchtbaren Schrei. Dann war der Junge zu Boden gestürzt, als seien alle seine Sehnen durchtrennt worden. Seitdem hatte er keinen Atemzug mehr getan. »Warum hast du ihn dann nicht beerdigt?«, brach es hinter ihm aus Winna hervor. »Kannst du mir das sagen? Wenn du so sicher bist, dass er tot ist, wieso hast du ihm dann nicht eines von deinen Waldhüterbegräbnissen zuteil werden lassen?« Aspar drehte sich langsam um und sah sie über das Feuer hin239 weg an. »Weil ich will, dass er dabei ist, wenn wir den Dornenkönig finden«, sagte er. »Ich will, dass er dabei ist, wenn ich den Dreckskerl töte.« Er senkte die Hand und berührte die Pfeilhülle, die er in seinen Gürtel gesteckt hatte. Daraufhin verstummte Winna, doch er konnte nicht sagen, was sie dachte. Sie schüttelte lediglich den Kopf und schloss die Augen.
»Wie wollt Ihr ihn finden?«, fragte Ehawk. »Die Spur aus Dornenranken wird uns zu ihm führen.« »Wie könnt Ihr Euch da sicher sein?« »Ich fühle es«, antwortete Aspar und begriff, wie lächerlich sich das anhörte und dass er jeden verspotten würde, der so etwas sagte. »Was ist mit der Sefry-Fährte?« »Was soll damit sein?«, fragte Aspar. »Wir sind nicht gekommen, um den Sefry zu finden.« »Aspar«, erwiderte Winna, »du hast doch gesagt, der Sefry hat sich von uns verfolgen lassen. Wieso sollte er das tun?« Mit einem Kopfnicken deutete Aspar auf Stephens Körper. »Musst du da noch fragen?« »Ja, das muss ich. Was ist, wenn der Sefry nur wollte, dass wir den Schrein sehen} Wenn er uns nur wissen lassen wollte, dass jemand einen bösen Pfad der Schreine baut?« »Wir wissen nicht, was für einen Pfad der Schreine sie bauen«, wandte Aspar ein. »Wir wissen nicht einmal, ob es das ist, was sie tun.« »Aber Stephen hat doch gesagt -« »Ja. Glaubst du, Stephen wäre in den Schrein hineinmarschiert, wenn er damit gerechnet hätte, dass ihm das passiert? Er hat sich eben geirrt, dieses eine Mal, ja?« »Vielleicht. Oder vielleicht war da irgendjemand - oder irgendetwas - in dem Schrein, den wir nicht sehen konnten.« »Er hat ganz gesund ausgesehen, als er den Schrein betreten hat, und er hat auch nicht ausgesehen, als ob ihm etwas fehlen würde, als er wieder herauskam. Er ist erst zusammengebrochen, als er den Hügel verlassen hat.« 240 »Trotzdem -« »Winna.« Er gab sich Mühe, weiter sanft zu klingen, doch er spürte, wie die Schroffheit in seine Stimme kroch, als stecke eine Klette in seiner Kehle. Er seufzte. »Winna. Ich bin Waldhüter. Ich verstehe nichts von Schreinen oder Heiligen oder Hexerei. Das war Stephens Gebiet. Alles, was ich weiß, ist, wie man Spuren verfolgt, wie man Lebewesen findet und tötet. Das soll ich tun. Das werde ich tun.« »Das ist das, was der Praifec dir befohlen hat«, erwiderte Winna. »Aber es sieht dir gar nicht ähnlich, so gehorsam zu sein.« »Er vernichtet meinen Wald, Winna. Und ich sage dir, wenn ich eins über Gryffins und Uttins und verderbte Schreine und über das, was Stephen zugestoßen ist, weiß, dann dies: So etwas ist nicht passiert, bevor der Dornenkönig aufgehört hat, ein Kindermärchen zu sein, und angefangen hat herumzuwandern. Wenn ich dafür sorge, dass er nicht mehr herumwandert, wird alles wieder so, wie es war, denke ich mir.« »Und wenn nicht?« »Dann werde ich denjenigen finden, der diesen Schrein gebaut hat, wer auch immer es ist, und ihn ebenfalls töten.« »Ich kenne dich, Aspar«, sagte Winna. »Du bist nicht aus Tod gemacht.« »Vielleicht nicht«, erwiderte er. »Aber er folgt mir auf dem Fuße.« Er senkte den Kopf, dann hob er ihn wieder. »Winna, wir werden Folgendes tun. Du und Ehawk, ihr kehrt zurück nach Eslen. Berichtet dem Praifec, was wir hier gesehen haben und was Stephen darüber gesagt hat. Ich reite weiter.« Winna schnaubte. »Von wegen. Willst du den armen Stephen ganz allein durch diesen Wald schleifen?« »Er bleibt auf Engels Rücken. Denk daran - ich habe dich schon einmal fast an den Uttin verloren. Seitdem habe ich Schwarze Marys davon. Ich kann nicht klar denken, wenn du in Gefahr bist. Wir haben nur einen Pfeil, vergiss das nicht. Wenn wir auf ihn stoßen, gibt es nichts, was irgendjemand außer mir tun kann, und ich werde das am besten erledigen können, wenn ich nicht abgelenkt 241 werde. Und du hast Recht - Stephen war der Meinung, dass irgendetwas mit dem Schrein war, womit man sich befassen müsste. Keiner von uns hat genug Wissen, um zu erkennen, was man tun muss, und wenn wir hier unser Ende finden, wird der Praifec nie erfahren, was wir entdeckt haben.« Winna presste die Lippen zusammen. »Nein«, sagte sie. »Das ist lange nicht so vernünftig, wie du glaubst. Du denkst, du kannst alles allein machen? Du denkst, wir anderen tun nichts, als dich zu behindern? Nun, du warst allein, als du zum Kloster d'Ef heruntergestolpert bist, nicht wahr? Wenn Stephen dich nicht gefunden hätte, wärst du umgekommen. Wenn er dir nicht gegen die Mönche beigestanden hätte, wärst du umgekommen. Wie willst du dich denn ernähren? Wenn du Stephen zurücklässt, um jagen zu gehen, wird irgendetwas ihn anfressen.« »Winn-« »Hör auf. Ich habe dem Praifec das gleiche Versprechen gegeben wie du. Glaubst du, ich hätte bei dem Ganzen nichts zu verlieren? Mein Vater lebt im Königswald, Aspar - zumindest bete ich zu den Heiligen, dass er noch lebt. Ehawks Leute leben auch hier draußen. Du wirst also einfach mit deiner Angst um mich leben müssen. Ich kann nicht kämpfen wie du, und ich besitze nicht Stephens Wissen, aber wenn es etwas gibt, wozu ich gut bin, dann ist das, dich dazu zu bringen, vorsichtiger zu sein, als du es normalerweise wärst. So habe ich dir das Leben
gerettet, und streite das ja nicht ab, du blöder Riesentölpel.« Aspar betrachtete sie einen Moment lang. »Ich bin der Anführer dieses Trupps. Du wirst tun, was ich sage.« Ihre Miene wurde kalt. »So?« »Ja. Dies ist das letzte Mal, dass du dich gegen mich auflehnst, Winna. Irgendjemand muss das Kommando haben, und das bin ich. Ich kann nicht andauernd mit dir streiten.« Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig. »Aber wir bleiben zusammen?« »Fürs Erste. Wenn ich es mir noch mal anders überlege, dann wird es so gemacht, verstanden?« 242 Wieder verhärteten sich ihre Züge, und er spürte, wie es ihm ein wenig den Atem abschnürte. »Ja«, sagte sie schließlich. Am nächsten Morgen zog sich der Himmel eine graue Wolkenkapuze über, und die Luft war ebenso frostig wie Winnas Stimmung. Sie ritten fast lautlos dahin, abgesehen vom Schnauben der Pferde und dem nassen Stampfen ihrer Hufe auf dem Laub. Mehr denn je spürte Aspar das Siechtum des Waldes, tief in seinen Knochen. Oder vielleicht war es auch Rheumatismus. Sie fanden die Spur aus schwarzen Dornenranken und folgten ihr in die Fuchsmarschen, wo das uralte gelbe Gestein der Schmalgiebelhügel sich zu Stufen für einen Riesen aufwarf, um zum Magierfluss hinunterzustapfen. Für Volk von normaler Größe, wie Aspar und seine Gefährten, waren die Stufen etwas schwieriger zu überwinden - sie mussten nach Stellen suchen, wo Bäche sich ihren Weg gegraben hatten und dann ausgetrocknet waren. Dort, wo die Dornen nicht alles erstickt hatten, war das Land noch immer grün von Farnwedeln und Rossschweifgräsern, die den Pferden fast bis zu den Köpfen reichten. Hickorynuss- und Weißeschenblätter trieben unaufhörlich durch die Luft wie ein sanfter Regen. Und es war still, als hielte die Erde den Atem an, was Aspar einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Wie immer bereute er es, schroff zu Winna gewesen zu sein, was ihn wiederum ärgerte. Er hatte den größten Teil seiner Jahre damit zugebracht, genau das zu tun, was er wollte, ohne dass ihm jemand die Erlaubnis dazu gegeben hätte. Jetzt ließen ihn ein Praifec mit schwielenlosen Seidenhänden und ein Mädchen, das halb so alt war wie er, tanzen wie einen dressierten Bären. Sceat, Winna glaubte wohl, er wäre gezähmt, wie? Doch wie konnte sie in ihrem Alter verstehen, was er war? Das konnte sie nicht, ungeachtet der Tatsache, dass sie es irgendwie doch zu verstehen schien. »Der Sefry ist hier entlanggekommen«, sagte Ehawk leise und unterbrach Aspars stummes Grollen. Er schaute nach unten, dorthin, wo das Kinn des Wattau hinzeigte. 243 »Das ist ein ungeheuer deutlicher Abdruck«, brummte er. »Ist das der erste, den du gesehen hast?« »Ja«, gab Ehawk zu. »Ich auch.« Natürlich war er so sehr damit beschäftigt gewesen, über Winna nachzudenken, dass er sogar diesen übersehen hatte. »Sieht so aus, als ob er versucht, uns wegzulocken«, sagte Ehawk. »Nach Süden.« Aspar nickte. »Er hat sich gedacht, dass wir hier vorbeikommen, dass wir den Dornen folgen, und jetzt hat er einen Wegweiser hinterlassen.« Er kratzte sich am Kinn. Dann warf er einen Blick zu Winna hinüber. »Also?«, fragte er. »Was also?«, erwiderte sie. »Du bist doch der Anführer dieses Trupps, erinnerst du dich?« »Wollte nur sehen, ob du es noch weißt«, knurrte er. Er musterte die Landschaft. Im Süden lag wieder Hochland, ein Gebiet, das er ziemlich gut kannte, und er hatte den Eindruck, dass er wusste, wo der Sefry hinwollte. »Ihr beide reitet denselben Weg zurück zu der Lichtung, an der wir heute Mittag vorbeigekommen sind«, entschied er. »Ich folge dieser Fährte ein Stück weit. Wenn ich bis morgen früh nicht zurück bin, komme ich wahrscheinlich nicht wieder.« »Was soll das heißen?«, fragte Winna. Aspar zuckte die Schultern. »Und was machen wir, wenn du nicht zurückkommst?« »Was wir gestern besprochen haben. Reitet zurück nach Eslen. Und bevor du dir etwas ausdenkst, der Grund dafür, dass ich allein gehe, ist, dass ich mich so leiser vorwärts bewegen kann, sonst nichts.« »Ich habe doch gar nicht widersprochen«, sagte Winna. Sein Herz sank ein wenig tiefer, gleichzeitig jedoch empfand er eine leise Befriedigung. »Nun denn. Das ist gut.« Falls es Unhold verdross, denselben Hügel erneut zu erklimmen, den er gerade hinuntergeklettert war, so ließ er es sich nicht anmerken, sondern stieg ohne das leiseste Wiehern zu dem Eichen244 wald mit dem hohen Blätterdach hinauf. Als sie das einigermaßen flache Hochland erreichten, war Aspar sich sicher, wo die Spur hinführte, und hörte auf, ihr zu folgen, für den Fall, dass in ihrem Verlauf eine unerfreuliche Überraschung für ihn geplant war. Stattdessen schlug er einen Bogen, um sich seinem Ziel aus einer anderen Richtung zu nähern. Die Sonne schien grell und orangerot durch die Bäume, als er Stimmen vernahm. Er stieg ab, ließ Unhold bei
einem Bach zurück und schlich zu Fuß näher. Was er fand, war eigentlich keine Überraschung, trotzdem war er nicht völlig darauf vorbereitet. Die wenigen, die diesem Ort noch einen Namen gaben, nannten ihn Albraeth. Es war ein kegelförmiger Erdhügel, kahl bis auf gelbliches Unkraut und einen einzelnen knorrigen Baum, ein Naubagm, mit einer Rinde wie schwarze Schuppen und Blättern wie herabhängende gezackte Messerklingen. Ein paar der Äste neigten sich tief herab, und an einigen hingen noch verrottende Seilreste, obgleich es Jahre her war, dass das Gesetz des Königs ihre Anwendung verboten hatte. Hier waren einst Verbrecher als Opfer für Grim den Wüterich gehenkt worden. Hier war Aspar geboren worden, auf jenem siechen Gras, unter einer frischen Schlinge. Hier war seine Mutter gestorben. Die Kirche hatte darauf hingearbeitet, diese Opfer zu unterbinden. Jetzt war sie mit ihren eigenen beschäftigt. Holzpfosten waren um den Fuß des Hügels herum im Kreis in den Boden gerammt worden, jeder etwa vier Königsellen hoch, und an jeden Pfosten war ein Mann oder eine Frau genagelt worden, die Hände über dem Kopf und die Füße senkrecht nach unten gezogen. Aspar konnte das Blut erkennen, das aus den Löchern in ihren Hand- und Fußgelenken quoll, doch es war auch sonst noch reichlich Blut zu sehen. Man hatte sie aufgeschlitzt, jeden Einzelnen, hatte ihnen die Eingeweide aus dem Leib gezogen und sie zu Mustern drapiert. Bei manchen wurden die Gedärme noch immer zurechtgelegt, und diejenigen, die das taten, trugen die Roben der Kirche. Er war 245 sich nicht sicher, um welchen Orden es sich handelte. Stephen hätte es gewusst. Aspar zählte sechs. Er hatte doppelt so viele Pfeile. Mit verkniffenem Mund zog er den ersten heraus und überlegte, wie er die Aufgabe angehen sollte, die hier erledigt werden musste. Er war noch immer dabei, sich darüber klar zu werden, als der Gryffin hinter dem Hügel hervorkam. Er war kleiner als der, der ihn beinahe getötet hätte; seine Schuppen waren dunkler und hatten einen grünlichen Glanz, doch der falkengleiche Schnabel und das geschmeidige, katzenartige Spiel seiner Muskeln waren unverwechselbar. Aspar konnte seine Gegenwart fühlen, selbst auf diese Entfernung, wie Hitze auf seinem Gesicht, und er verspürte eine Woge des Schwindels. In der Berührung der Bestie - sogar in ihrem Blick - lag todbringendes Gift. Das wusste er aus leidvoller Erfahrung und von den Leichen derer, die dem Vetter dieses Exemplars hier zum Opfer gefallen waren. So tödlich war es, dass selbst diejenigen, die die Leichname berührten, Wundbrand bekamen und meistens starben. Nicht einmal Maden und Aasfresser rührten die Opfer eines Gryffin an. Doch die Mönche starben nicht. Sie schienen nicht einmal Angst zu haben. Und zu seinem Erstaunen streckte einer von ihnen sogar die Hand aus und streichelte das Ungeheuer, als es an ihm vorbeikam. Er holte tief Luft und versuchte, das zu begreifen, wünschte sich, Stephen wäre bei ihm. Dem würde irgendein uraltes Buch oder eine Legende einfallen, durch die all dies zwangsläufig verständlich würde. Sechs Mönche zu töten würde schwer werden, vor allem, wenn sie vom Orden des heiligen Mamres waren. Sechs Mönche und ein Gryffin wären unmöglich - es sei denn, er benutzte wieder den Pfeil. Doch der war für den Dornenkönig bestimmt. Zuerst richtete sich einer der Mönche von seiner Arbeit auf, dann folgte alle anderen seinem Beispiel und blickten nach Osten, 246 als hätten sie denselben heimlichen Ruf vernommen. Ihre Hände griffen nach den Schwertern, und Aspar spannte sich; ihm war klar, dass er würde fliehen und Hilfe holen müssen. Dann jedoch begriff er, dass sie ihn gar nicht entdeckt hatten, dass etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Jetzt konnte er es hören, ein fernes Heulen, wie Hunde, und doch anders als Hunde, schrecklich vertraut und vollkommen fremd. Grim. Er erinnerte sich daran, wie er Stephen zum ersten Mal begegnet war; sie waren auf der Königsstraße gewesen, als sie in der Ferne Geheul gehört hatten. Aspar hatte in dem Geräusch die Stimmen der Hunde von Sir Symen Rookswald erkannt, doch er hatte die Furcht des Jungen noch angefacht, hatte ihm erzählt, das seien Grim und sein Heer, die Hunde, die die Seelen der Verdammten holten und im Königswald umgingen. Er hatte dem jungen Burschen mächtig Angst eingejagt. Jetzt stellte er fest, dass sein eigenes Herz schneller schlug. Hatten sie Haergrim herbeigerufen? Hatten sie den Wüterich gerufen? Das Heulen wurde lauter, und man hörte ein Rauschen im Laub. Er merkte, dass seine Hände zitterten, und ärgerte sich einen Augenblick lang über seine Schwäche. Doch wenn die verborgene Welt erwachte, warum nicht auch Grim? Grim der Heafroa, der einäugige Gott, der Herr und Meister der Birsirks, der Blutzorn, so wahnsinnig, wie ein uralter, heidnischer Gott es nur sein konnte. Auch der Gryffin hatte sich nach dem Geräusch umgedreht, und die spärlichen Haare entlang seines Rückgrats standen empor. Aspar hörte die Bestie knurren. Und hinter sich vernahm er eine Stimme, die leise in der Sefry-Sprache flüsterte. »Leben oder Tod, Waldhüter«, sagte sie. »Ihr habt eine Entscheidung zu treffen.« 247
20. Kapitel Verrat Neil wartete noch immer auf Anne, als die Sonne allmählich trübe wurde und Vaseto zurückkam, die Hurrikan am Zügel führte. Auf dem Pferd waren seine Rüstung und ein paar andere Habseligkeiten festgebunden. Er ging auf die Straße hinaus und streichelte die Nüstern des Hengstes. Mit Belustigung und Sorge bemerkte er die unverwandten Blicke, mit denen die Leute aus dem Viertel sie beide bedachten. Auch Vaseto sah es. »Ich glaube nicht, dass die Menschen in diesem Teil der Stadt oft Pferde zu sehen bekommen«, sagte sie. »Und erst recht keine Schlachtrösser.« »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Neil, dem wieder einfiel, dass er niemanden zu Pferde gesehen hatte, seit sie den großen Platz beim Stadttor überquert hatten. Hurrikan warf ruhelos den Kopf hin und her. »Ganz ruhig, Junge«, flüsterte Neil. »Bald sind wir wieder da, wo wir hingehören. Ich verspreche dir, in Neuland kannst du dir richtig die Beine vertreten.« »Wenn sie Euch erlauben, ihn mitzunehmen«, gab Vaseto zu bedenken. »Platz für einen Passagier ist eine Sache, Platz für ein Pferd ist etwas ganz anderes.« Sie lächelte ihn an. »Jedenfalls ist das jetzt Euer Problem. Ich muss zurück zu meinen Hunden.« Neil verbeugte sich. »Ich weiß immer noch nicht, wer Ihr wirklich seid, aber ich danke Euch noch einmal.« »Ihr wisst mehr über mich als die meisten anderen«, erwiderte Vaseto. »Aber wenn ich Ihr wäre, würde ich mir eher Gedanken darüber machen, wer Ihr seid. Das wird Euch wahrscheinlich mehr nützen.« Und mit diesen geheimnisvollen Worten ging sie die Straße hinauf und verschwand um die Ecke. 248 Nach einigem Nachdenken beschloss Neil, seine Rüstung anzulegen. Wenn die Männer, die nach Anne suchten, ebenso viel Glück hatten wie er, würde er sie vielleicht brauchen. Einen Glockenschlag später fiel ihm auf, dass nicht nur Anne nicht wieder heruntergekommen war, sondern dass auch Austra und Cazio nicht wieder aufgetaucht waren. Cazio hatte geredet, als sei Eile geboten, doch wo waren sie alle? Er warf einen Blick auf den alten Mann, den sie Ospero genannt hatten. Er hatte Neil im Auge behalten, nicht allzu scharf, jedoch ohne zu versuchen, es zu verbergen. Das hatte er getan, seit Anne mit Cazio gesprochen hatte und die Treppe hinaufgeeilt war. »Könnt Ihr mir sagen, wo Annes Zimmer ist?«, erkundigte er sich. »Ne comperumo«, sagte der Alte und zuckte die Achseln. Neil sah sich um, in der Hoffnung, jemanden zu entdecken, der die Sprache des Königs sprach. Noch immer war Cazio nicht zurück, und der war vermutlich gegangen, um letzte Vorkehrungen zu treffen. Es sei denn ... Sein Herz sank wie das Tal einer gewaltigen Sturmeswoge. Warum? Warum sollte Anne versuchen, vor ihm zu fliehen? Waren ihre vitellianischen Freunde mit dem Feind im Bunde? Nein, es gab eine bessere Erklärung. Was für ein Idiot er doch war, dass er nicht früher darauf gekommen war. Anne hatte gehört, dass ihr Vater und ihre Schwestern getötet worden waren, doch es war unwahrscheinlich, dass sie viel mehr wusste als das. Wieso sollte sie einem Ritter vertrauen, den sie kaum kannte, nur weil dieser behauptete, er sei ausgesandt worden, um sie zu beschützen? Das spielt jetzt keine Rolle, sagte er sich und versuchte die aufsteigende Panik niederzukämpfen. Seine Pflicht war trotzdem seine Pflicht, ob Anne ihm nun glaubte oder nicht. So oder so würde er sie sicher heimgeleiten. Ihm war bekannt, wo das Schiff war - und das würde Anne nicht wissen. Er konnte sie immer noch abfangen, solange es noch nicht abgelegt hatte. 249 Er nickte Ospero zu und schwang sich in den Sattel. Ospero grinste ein wenig, hob die Hand und winkte. Neil sah das Aufblitzen des Stahls im letzten Moment. Er drehte sich im Sattel zur Seite, duckte sich und fühlte, wie etwas seinen Arm streifte, der sich dort befand, wo eben noch sein Herz gewesen war. Grimmig warf er Hurrikan herum und zog Krähe aus der Scheide. Wie auf ein Stichwort drängten plötzlich Männer von beiden Seiten her auf die Straße. In nur wenigen Augenblicken würden es mehr sein, doch Neil hatte nicht vor, ihnen diese Augenblicke zu gewähren. Sie waren mit Messern und Streitkolben bewaffnet, doch einer von ihnen hatte einen Speer. Wenn es ihnen gelang, Hurrikan zu verwunden oder ihn bewegungsunfähig zu machen, stand es schlecht um ihn. Ospero brüllte, und Neil verfluchte sich wieder einmal dafür, dass er kein Vitellianisch verstand. Er lenkte Hurrikan auf den Mann mit dem Speer zu und preschte los. Zur Ehre des Mannes musste man sagen, dass er anscheinend wusste, was er tat. Er kniete nieder, stemmte das hintere Ende des Speerschafts auf die Pflastersteine und richtete die Spitze auf den Punkt unterhalb von Hurrikans Brustbein. Neils Atem ging jetzt kühl, ruhig, ein und aus. Er sah die Gesichter der Männer, ihre Narben, ob sie sich rasiert hatten oder nicht.
Im allerletzten Moment zog er Hurrikan zur Seite und wich dem Speer aus. Mit dem als »der Schnitter« bekannten Hieb sandte er einen der Angreifer zu Boden, wo die Steine das Blut seines kopflosen Leichnams tranken. Hurrikan bäumte sich wild auf und schlug mit den Vorderhufen einen weiteren nieder. Neil spürte einen Schlag gegen sein Bein, doch dann war er durchgebrochen und galoppierte die dunkler werdenden Straßen hinunter. Er tastete nach unten, an seinem Bein entlang, doch die Rüstung hatte den Schlag abgleiten lassen. Hurrikan schien unver250 letzt, und so behielt er das Tempo bei, sah die Fußgänger auseinander stieben, lauschte ihren unverständlichen Protesten und begann, dieses ganze Unterfangen zu verabscheuen. Fremde Länder verloren allmählich ganz unbestreitbar den Reiz des Neuen. Sie hätte mir ein Leichen mitgehen sollen, dachte er wütend. Irgendetwas, um Anne davon zu überzeugen, dass sie mich wirklich geschickt hat. Sein Zorn auf die Königin war ein Schock, dicht gefolgt von Scham. Wer war er, dass er an ihr zweifelte? Er trieb Hurrikan voran und hoffte, dass ihm noch genug Zeit blieb. Anne hatte sich von ihren Gewissensbissen erholt, als sie die Kais erreichten. Als sie die Schiffe erblickte, begriff sie endlich, dass es tatsächlich nach Hause ging. Nach Hause, wo sie keine Kleider schrubbte, keinen Käse machte oder aufgefordert wurde, sich als Hure zu verdingen. Ganz hinten in ihrem Verstand war ihr klar, dass es auch schmerzlich sein würde, das Schloss zu betreten und festzustellen, dass ihr Vater und ihre Schwestern tatsächlich tot waren, doch dieser Augenblick lag noch in weiter Ferne. Fürs Erste würde sie sich an das Gute klammern. »Aber warum lassen wir denn Sir Neil zurück?«, flüsterte Austra dicht an ihrem Ohr. Cazio hatte sie in einem carachio in der Nähe des großen Platzes gefunden, wo sie schmutzige Teller gespült hatte. Anne hatte schon früher dort gearbeitet, und bei dem Geruch von Lammbraten mit Fenchel und Knoblauch war ihr das Wasser im Mund zusammengelaufen. Genau danach roch Austra jetzt. »Hat Cazio es dir nicht erklärt?« »Das schon, aber Cazio kennt Sir Neil doch nicht.« »Ich fasse es nicht«, sagte Anne. »Du zweifelst an Cazios Urteil?« Austra wurde ein bisschen rot. »Er kennt Vitellio besser als wir«, erwiderte sie. »Und er ist sehr klug. Aber wie kann er wis251 sen, was in Sir Neil vorgeht? Das scheint mir nicht richtig zu sein. Auf mich hat er immer sehr ehrlich gewirkt.« »Austra, wir kennen Sir Neil nicht. Nach allem, was wir wissen, könnte er meinen Vater und meine Schwestern umgebracht haben und jetzt hinter mir her sein.« »Er hat aber nicht zu den Rittern gehört, die den Konvent überfallen haben.« »Woher weißt du das ? Wir haben doch gar nicht alle gesehen.« Sie nahm Austras Hand. »Worauf ich hinauswill, ist, dass wir es nicht genau wissen können. Und wenn ich mich irre - nun, ihm wird nichts passieren. Er hat es bis nach Vitellio geschafft, er schafft es auch wieder nach Hause.« Austra runzelte zweifelnd die Stirn. »Ich will ja nicht stören«, ließ sich Cazio vernehmen, »aber da vorn liegt das Schiff.« Z'Acatto, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, seit er in der Gasse hinter dem Haus zu Anne gestoßen war, knurrte plötzlich. »Ich kenne diese Flagge«, sagte er. »Wenn du mir das gesagt hättest, wäre ich niemals damit einverstanden gewesen.« »Still, Alter«, wehrte Cazio ab. »Ich habe getan, was ich tun musste.« »Es kommt nicht oft vor, dass du mich überraschst, Junge«, brummte der Fechtmeister. »Aber heute ist es dir gelungen.« »Was meint er denn?«, wollte Anne wissen. »Gar nichts«, antwortete Cazio rasch. Sie drehte sich zu z'Acatto um und sah, dass seine Augen sehr merkwürdig aussahen, als sei er ärgerlich, sogar wütend. Und dann bemerkte sie, dass er bereits seinen Degen in der Hand hatte; die Spitze glitt soeben aus der Scheide. Noch empfand sie keine Angst, nur Neugierde, warum der alte Mann sie töten wollte. Doch sie spürte die Angst durchkommen, als er sie packte. Z'Acatto versetzte ihr einen Stoß, und sie stolperte und fiel aufs Pflaster; eins ihrer Knie schlug hart auf den Steinen auf. Sie keuchte vor Schmerz und blickte hoch, versuchte zu verstehen, was vor sich ging. 252 Ein Mann - ein Mann, den sie nicht kannte - starrte z'Acattos Klinge an, die soeben in der Kehle des Burschen verschwand. Dann brüllte Cazio los und zog seinerseits blank, und plötzlich waren überall Männer, manche von ihnen in Rüstungen. »Lauft!«, schrie Cazio. »Lauft auf das Schiff!« Anne kroch in die ungefähre Richtung und versuchte wieder auf die Beine zu kommen, doch plötzlich erschienen gepanzerte Stiefel, und sie blickte hinauf in ein Stahlgesicht, das auf sie herabstarrte. Der Ritter hob
ein Schwert, das nur halb da zu sein schien, ein Schemen, wie Kolibriflügel, doch es schimmerte mit jedem Herzschlag in sämtlichen Farben des Regenbogens. Wie erstarrt blickte sie empor, als die Klinge über ihr ausholte. Cazios Klinge stieß über ihren Kopf hinweg und traf die Halsberge des Ritters, und der junge Vitellianer folgte ihr mit einem Satz. »Z'ostato enpert!«, schrie er. Der Ritter taumelte unter der Wucht des Stoßes zurück, doch Cazio war noch immer in der Luft und prallte gegen ihn, drosch das Heft seiner Waffe in das Visier des anderen. Der Ritter kippte hintenüber und ging krachend zu Boden. Anne raffte sich auf, half Austra hoch, die sie an der Hand fasste, und rannte auf das Fallreep zu. Sie konnte eine Menge Gesichter auf dem Schiff erkennen, die voll Staunen zusahen. Unter ihnen war eines, das ein wenig vertraut schien, ein dunkles, schmales Gesicht mit einem Schnurrbart. »Helft uns!«, schrie sie. Keiner der Seeleute rührte sich. Zwei weitere Männer tauchten jäh zwischen ihnen und dem Schiff auf, und alles schien langsamer zu werden und zum Stillstand zu kommen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Ritter mit dem glühenden Schwert sich bereits auf ein Knie erhoben hatte und Cazio einen krachenden Rückhandschlag mit dem Panzerhandschuh versetzte. Z'Acatto wehrte mindestens vier Männer gleichzeitig ab, doch zwei weitere liefen in seine Richtung. Austra und sie saßen in der Falle. 253 Irgendetwas in ihr knurrte wild, und sie riss den Dolch heraus, den Schwester Secula ihr gegeben hatte, fest entschlossen, wenigstens einen Schnitt anzubringen. Die Männer, die zwischen ihr und dem Schiff standen, waren leichter gerüstet als der Ritter, sie trugen Leder und Kettenhemden. Helme hatten sie überhaupt keine. Sie lachten, als sie die Waffe hob. Dann fiel der eine seltsamerweise unvermittelt um; sein Kopf verformte sich irgendwie grotesk, als er von einer Art langer Stange getroffen wurde. Und dann brach etwas Riesiges über den anderen Mann herein und stieß ihn fort, als wäre er aus Lumpen und Stroh gemacht. Noch während ihr klar wurde, dass es sich um ein Pferd handelte, begriff sie, dass das Tier stürzte. Eine weitere gepanzerte Gestalt krachte eine Elle von ihr entfernt dröhnend zu Boden, doch im Augenblick war der Weg zum Schiff frei. Sie stürzte darauf zu und zerrte Austra hinter sich her. Als sie das Fallreep noch nicht einmal zur Hälfte hinaufgerannt war, fielen ihr Cazio und z'Acatto wieder ein, und sie drehte sich um, um zu sehen, was geschah. Das Pferd war wieder auf den Beinen und galoppierte wie wild auf dem Kai herum. Der Ritter, der aus seinem Sattel gefallen war, hatte sich ebenfalls erhoben, und an der Rose an seinem Helm erkannte sie plötzlich, dass es Sir Neil war. Er schlug heftig auf den Ritter mit dem schimmernden Schwert ein und traf ihn so hart, dass sein Gegner regelrecht vom Boden hochgerissen wurde. Dann drehte sich Sir Neil zu den Männern um, die sich an z'Acatto vorbeidrängten, und schlug einem von ihnen den Kopf ab. Cazio zögerte, z'Acatto dagegen nicht. Er löste sich rasch von seinen Feinden und stürmte auf das Schiff zu. Nach kaum merklichem Zaudern schloss Cazio sich ihm an. Anne fühlte plötzlich eine Bewegung unter ihren Füßen und begriff, dass das Fallreep eingezogen wurde. Sie drehte sich gerade um, als zwei Matrosen sie ergriffen und mit einem Ruck auf das Schiff zogen. Ohne recht zu wissen, warum, schrie sie und trat um 254 sich, dabei bemerkte sie, dass sie auch Austra gepackt hatten. Mit einer Gelenkigkeit, die sein Alter Lügen strafte, sprang z'Acatto aUf die immer kürzer werdende Planke und von dort mit einem Satz ins Schiff, dicht gefolgt von einem johlenden Cazio. Auf dem Kai war Sir Neil ein einziger Klingensturm, trieb den Feind vom Schiff zurück. Wenigstens acht Gegner bedrängten ihn, den Mann mit dem leuchtenden Schwert nicht mitgezählt, der sich _ gegen alle Regeln der Natur - wieder erhob. »Sir Neil!«, schrie Anne gellend. »Kommt!« Die Seeleute um sie herum kappten in fliegender Hast die Leinen und stießen sich mit langen Stangen vom Kai ab. »Den Sprung schafft er nie«, sagte z'Acatto. »Nicht mit voller Rüstung.« »Legt wieder an und holt ihn!«, schrie sie. »Legt sofort wieder an!« Sie schlug nach dem am nächsten stehenden Seemann, es war der, der ihr so bekannt vorgekommen war. »Ihr könnt ihn doch nicht dort zurücklassen!« Der Mann bekam ihre Hand zu fassen und blickte finster auf sie herab. »Ich bin Kapitän Malconio, und dieses Schiff läuft aus. Wenn Ihr mich noch einmal schlagt, lasse ich Euch aufhängen.« »Aber er wird sterben!« »Ich sehe keinen Grund, warum mich das kümmern sollte«, erwiderte er. Durch einen roten Nebel hindurch schlug Neil nach links, traf einen Mann in Kettenpanzer und Leder am Schultergelenk und sah es bersten; Blut spritzte, als er die Klinge zurückriss. Mit der gepanzerten Linken packte er die Klinge seiner Waffe und rammte dem nächsten Gegner den Knauf ins Gesicht, dann drehte er das Schwert um, hielt es immer noch wie einen Knüppel und stieß dem Mann die Spitze am Rand des Brustpanzers in den
Körper. Er fühlte das Brustbein krachen, und der Mann kippte zur Seite. Dann legte er beide Hände um den Schwertgriff und hieb auf den nächsten Feind ein, dem es gelang, aus dem Weg zu stolpern. 255 Neil fühlte, wie ein Schlag von links gegen seine Schulter krachte. Er konnte nicht sehen, wo er hergekommen war, spreizte jedoch die Beine und sichelte in Hüfthöhe in diese Richtung. Als er spürte, wie der Schlag sein Ziel fand, drehte er sich um, sodass er den Mann im Blickfeld hatte. Es war ein weiterer der leicht gerüsteten Burschen, und seine Augen wurden groß, als ihm Blut aus dem Mund schoss und er zu Boden stürzte, die Hände auf den zerschmetterten Brustkorb gepresst. Diese Drehung brachte ihn auch wieder vor den Ritter mit dem glühenden Schwert, der - anstatt tot zu sein, wie er es eigentlich hätte sein sollen - näher trat, um einen Hieb gegen ihn zu führen. Hinter dem Ritter bemerkte Neil verschwommen, dass das Schiff weiter vom Kai entfernt war als vorher. Er konnte Annes rotes Haar sehen und wusste, dass sie es an Bord geschafft hatte. Der näher kommende Ritter schlug von oben nach unten zu, von links nach rechts, und Neil trat vor und stieß mit dem dicksten Teil seiner Klinge nach oben in den Schlag hinein. Er spürte die Wucht des Aufpralls bis in die Füße - sein Widersacher war stark, sehr stark, und sein Schwert bewegte sich viel schneller, als es eigentlich möglich sein sollte. Auch Krähe fühlte sich seltsam an, leichter, und Neil begriff jäh, dass die Hälfte seiner Waffe abgetrennt worden war. Das schimmernde Schwert hob sich erneut. Neil stieß den linken Arm nach unten und packte den Panzerhandschuh des anderen, dann drosch er das, was von Krähe noch übrig war, ins Visier des Feindes. Ein in Stahl gehüllter Ellbogen traf ihn unter dem Kinn, sein Griff löste sich, und er taumelte zurück. Wieder kam der Hieb, diesmal von der Seite, und er war zu weit weg, um den Arm des Mannes erneut zu packen, zu langsam, um auch nur die Hand vorzustrecken. Die Hexenwaffe grub sich in seine Rüstung, durchtrennte sie, so wie sie es mit Krähe gemacht hatte. Verzweifelt warf sich Neil in die Richtung des Schlages, selbst als aller Schmerz der Welt ihn durchloderte. Er verlor den Boden unter den Füßen, sah den Himmel, dann schlug er auf etwas auf, das seltsam nachgab, und begriff, dass er sich vom Kai ins Wasser 256 gestürzt hatte. Er drehte sich, versuchte zu sehen, ob Annes Schiff in sicherer Entfernung war, doch das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen, und der Lärm des Getümmels verstummte. Tell III Seltsame Kunde Im Jahre 2223 von Everon Im Monat Decmen Tertiu, die dritte Tonart, beruft sich auf den heiligen Michael, den heiligen Bright, die heilige Fienve. Sie beschwört das Schwert herauf, den Speer, das Schlachtengetöse und die Trommeln des Krieges. Sie löst flammenden Mut, Zorn und Raserei aus. Quarto, die vierte Tonart, beruft sich auf den heiligen Chistai, den heiligen Oimo, die heilige Satire, den heiligen Loh. Sie beschwört den höfischen Schmeichler herauf, den scharfzüngigen Hofnarren, den hinterrücks geführten Dolchstoß. Sie löst Eifersucht, Hass, Täuschung und Verrat aus. aus Der Harmonium-Kodex von Elgin Widsel 21. Kapitel Attentäter Muriele atmete so leise, wie sie es nur vermochte, und tastete sich an der Mauer entlang, bis sie die kleine Metallplatte fand, die sie gesucht hatte. Sie schob sie nach oben und hakte sie fest; auf diese Weise kam ein schwach leuchtender Kreis von der Größe einer Fingerspitze zum Vorschein. Sie beugte sich vor und strich sich das Haar aus dem Gesicht, dann legte sie das Auge an das Guckloch und spähte in den Raum hinter der Mauer. Die Halle der Krieger war leer, doch ein paar flackernde Kienspäne erhellten sie und spendeten gerade genug Licht, dass sie die Statue der heiligen Fienve auf dem kleinen Tisch neben Williams altem Sessel erkennen konnte. Die trübe Beleuchtung ließ die Gemälde von Schlachten und Siegen, die die bunten Wände des Raumes bedeckten, erahnen, ohne sie wirklich sichtbar zu machen. Sie seufzte und wappnete sich mit Geduld. Erren hatte ihr die Geheimgänge in den Mauern des Schlosses vor Jahren gezeigt, kurz nachdem sie Königin geworden war. Sie waren schmal und sehr alt. Erren hatte behauptet, damals, als der Palast errichtet worden war, hätte ihr Orden konventgeschulter Assassinen die Auswahl des Baumeisters geschickt beeinflusst, hätte ihn dazu überredet, heimliche Ergänzungen hinzuzufügen, und dann Sorge getragen, dass weder er noch der Maurer, der sie gebaut hatte, jemals irgendjemandem davon erzählen würden. So waren die dunklen Gänge ein Geheimnis, das nur von den Schwestern der heiligen Cer und einigen ihrer Schützlinge gehütet wurde. Muriele hatte sich oft gefragt, ob es tatsächlich möglich war, ein Geheimnis im Laufe der Jahrhunderte so zu bewahren. Wenn auch anderen Königinnen diese Gänge gezeigt worden waren, so wie ihr, so hätten doch gewiss ein paar von ihnen ihren Gatten, Töchtern oder Freundinnen davon erzählt. 261 Und doch hatte sie niemals jemand anderen als Erren in den düsteren Geheimgängen angetroffen, was darauf
schließen ließ, dass ihre alte Freundin gewusst hatte, wovon sie sprach. Sie waren wirklich gut versteckt. Die Gucklöcher waren getarnt und mit Glas verschlossen, sodass sie nicht leicht zu entdecken waren. Die Türen waren wahre Wunderwerke; wenn sie geschlossen waren, konnte man keinen Spalt erkennen. Seit Errens Tod hatte sie sie oft benutzt. Sie erschienen ihr sicherer als ihre eigenen Gemächer, und ohne Erren oder eine vertrauenswürdige Nachfolgerin musste sie selbst spionieren, wenn sie auch nur im Entferntesten wissen wollte, was für Ränke um sie herum geschmiedet wurden. Heute Abend jedoch war sie nicht einfach nur auf gut Glück unterwegs, in dem Versuch, Praifec Hespero oder irgendein Mitglied des Comven bei einer geheimen Unterredung zu belauschen, heute Abend ging sie einem ganz bestimmten Hinweis nach. Er war ihr in Form eines Zettels zuteil geworden, der zusammengefaltet unter ihrer Tür hindurchgeschoben worden war. Die Botschaft war klar und einfach gehalten. Euer Majestät, Ihr seid in Gefahr. Ich ebenso. Ich verfüge über Kenntnisse, die Euer Leben retten können, bedarf jedoch im Gegenzug Eures Schutzes. Ehe Ihr mir dies nicht zugesichert habt, kann ich mich Euch nicht offenbaren. Wenn Ihr einwilligt, so hinterlasst ein Stück Papier unter der Statue auf dem Tisch in der Halle der Krieger, auf dem »Einverstanden« steht. Nun, dort lag die Antwort, sicher vor allen Blicken verborgen - und hier stand sie und spielte dieses kindische Spiel mit -, doch seit fünf Stunden war niemand erschienen, um die Nachricht zu holen. Natürlich hatte sie »Einverstanden« geschrieben, doch sie war fest entschlossen, herauszufinden, wer der Bote war - das Ganze konnte irgendein ausgeklügeltes Täuschungsmanöver sein. Vielleicht war der Betreffende schon früher hier gewesen, bevor 262 es ihr möglich gewesen war, sich zu entschuldigen und zurückzuziehen. Vielleicht hatte er oder sie die Nachricht gelesen und sie wieder in ihr Versteck zurückgelegt. Doch die Halle der Krieger lag mitten im Herzen des Palastes, und während es dort nachts ruhig war, würde ein Besucher bei Tag Aufmerksamkeit erregen. Außerdem, warum hätte der- oder diejenige das Stück Papier liegen lassen sollen? Die Dunkelheit brach soeben herein, und sie hatte sich offiziell zur Ruhe begeben. Sie hatte Zeit bis zum Morgen, und nach Schlaf und den Träumen, die dieser brachte, stand ihr nicht der Sinn. Und so verstrich ein weiterer Glockenschlag, ehe ein Laut sie aufmerken ließ, ein leises Schaben von Leder auf Stein. Sie spähte durch das winzige Loch, versuchte zu erkennen, wer das Geräusch verursacht hatte, und bemerkte einen Schatten, der sich von der Westseite der Halle her vorwärts tastete. Das war eigenartig, denn der Eingang war auf der Ostseite. Ungeduldig wartete sie darauf, dass die Gestalt ins Licht trat, und schließlich wurde ihre Geduld belohnt. Es war eine Frau, das stellte sie als Erstes fest, mit lockigem kastanienbraunem Haar. Sie trug einen hellblauen Morgenmantel. Also war ihr »Freund« schlau. Er hatte eine Dienstmagd geschickt, um die Nachricht zu holen. "Vielleicht erkenne ich sie ja, dachte sie, und dann weiß ich, wer ihr Herr ist. Doch sie hatte nicht viel Hoffnung. Es gab viele Bedienstete auf Schloss Eslen, und sie könnte nicht mehr als ein Zehntel von ihnen auf den ersten Blick erkennen. Dann drehte sich die Frau um, das Licht fiel auf ihr Gesicht, und Muriele blinzelte vollkommen verblüfft. Sie kannte das Mädchen wahrhaftig, doch es war keine Magd und kein Dienstmädchen. Nein, dieses jugendliche Antlitz gehörte Alis Berrye, der jüngsten Geliebten ihres verstorbenen Gemahls. Alis Berrye. Zorn, unvermittelt und missgünstig, begann in Muriele zu glühen, doch sie bemühte sich, seine Hitze zu dämpfen, denn irgendetwas stimmte hier nicht. Alis Berrye hatte so viel Verstand wie 263 ein Kohlkopf. Sie war die jüngste Tochter von Lord Berrye aus Virgenya, der über einen der ärmsten Teile des Landes herrschte. William hatte Gefallen an ihren saphirblauen Augen und ihrer mädchenhaft gerundeten Figur gefunden, als ihre Familie vor zwei Jahren zu Besuch gekommen war. Seit Williams Tod war sie so gut wie unsichtbar gewesen, und obgleich Muriele mehrmals erwogen hatte, sie aus ihren Gemächern werfen zu lassen, hatte sie sehr viel wichtigere Dinge zu tun, als einem erbärmlichen und mittlerweile bedeutungslosen Groll zu frönen. Bis heute. Jetzt bot Alis Berrye ihr erneut sehr viel Anlass, sich Gedanken zu machen. Sogar Erren hatte das Mädchen für zu dumm und leichtfertig gehalten, um irgendwelchen politischen Ehrgeiz zu hegen, der darüber hinausging, sich die Gunst des Königs zu erhalten. Gramme war stets diejenige gewesen, die gefährlich war. Alis Berrye hatte nicht einmal Kinder, und anscheinend hatte sie sich auch niemals bemüht, Nachwuchs zu empfangen. Das hieß, dass ihr erster Verdacht zutraf und Alis Berrye in dieser Angelegenheit irgendjemandem zu Diensten war. Aber wem? Außer zu William hatte sie nie offenkundige Bindungen zu irgendjemandem bei Hofe erkennen lassen. Nichtsdestotrotz war genug Zeit verstrichen, um das zu ändern, und in der gegenwärtigen Stimmung, wo jeder mit aller Kraft nach der bestmöglichen Stellung und dem größten Vorteil strebte, hatte jemand offensichtlich Verwendung für das Mädchen gefunden. Berrye holte die Nachricht hervor, las sie, nickte und wandte sich der Westseite des Raumes zu. Kurz darauf war
ein Geräusch zu vernehmen, bei dem sich Muriele die Nackenhaare aufstellten. Der einzige Ausgang auf der Westseite der Halle war eine Geheimtür, die in eben jene Gänge führte, in denen Muriele sich gerade aufhielt. Alis Berrye wusste von dieser Tür. Sie wusste, dass das Mädchen sich von Zeit zu Zeit in der Halle der Krieger mit William getroffen hatte. Doch William hatte absolut nichts von den Geheimgängen gewusst. Oder vielleicht doch - vielleicht hatte Muriele ihren Gemahl nicht so gut gekannt, wie sie gedacht hatte. 264 Sie empfand ein so jähes, tiefes Gefühl des Verlusts, dass es sie erschütterte. William und sie hatten nicht aus Liebe geheiratet, doch sie hatten die Liebe gefunden, zumindest für eine Weile. Und obgleich sie ihm seine Geliebten stets verübelt hatte, hatte sie immer geglaubt, dass sie irgendwann, eines Tages, wieder zu dieser Liebe zurückkehren würden. Und sie vermisste ihn - sein Lachen, den Geruch seiner Kleider, die albernen Namen, mit denen er sie bedachte, wenn sie allein waren. Alles vorbei. Und jetzt hatte es den Anschein, als habe er die ganze Zeit über von den Gängen gewusst und ihr nie davon erzählt, ihr dieses Wissen niemals anvertraut. Das wäre nicht so schlimm - schließlich hatte sie ihm auch nie davon erzählt -, doch dass er ausgerechnet Alis Berrye ins Vertrauen gezogen hatte, die dümmste und bedeutungsloseste seiner Huren ... das schmerzte. Außerdem beunruhigte es Muriele. Was, wenn er auch Gramme eingeweiht hatte? Sie wartete ein wenig, hoffte und fürchtete gleichzeitig, das Mädchen würde in ihren Gang einbiegen, damit sie sie erwürgen und den Leichnam an einem Ort verstecken könnte, wo man ihn niemals finden würde, doch als nach einer Weile niemand auftauchte, tappte Muriele den langen, gewundenen Weg zu ihren Räumen zurück, wobei sie nach den erhabenen Zeichen an der Wand tastete, die ihr die Richtung wiesen. Als sie die Geheimtür, die zu ihrem Schlafgemach führte, einen Spaltbreit öffnete, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte eine brennende Lampe dort zurückgelassen, doch kein Licht hieß sie willkommen. In dem Zimmer war es stockfinster. War ihre Zofe Unna gekommen und hatte das Licht gelöscht? Wieso sollte sie das tun? Einen Augenblick lang stand sie wie erstarrt da, und ihr Auge spähte durch den Spalt in die Finsternis. Vielleicht war die Lampe von selbst ausgegangen. Jemand sagte etwas. Ein einziges Wort, zu leise, um es zu verstehen. Sie schnappte nach Luft, schloss die Täfelung und wich zu265 rück; sie wusste, wer immer dort drin war, hatte sie gehört. Doch ihr Verstand war voller spinnwebiger Furchtschwaden, und sie konnte nichts tun, außer die Dunkelheit vor sich anzustarren. Sie konnte nur daran denken, wie sehr sie sich geirrt hatte. Alis Berrye wusste Bescheid über die Geheimgänge der heiligen Cer, also wussten auch andere davon. Kannte der Mann in ihrem Gemach das Geheimnis? War es überhaupt ein Mann? Etwas stieß gegen die Wand, und sie hörte das schwache Zischen von Atemzügen. Ihre Hand senkte sich zu dem Dolch, den sie an ihrer Schlüsselkette trug, doch die Waffe war nur ein schwacher Trost. Dem Stoß folgte ein gedämpftes Klopfen, und dann noch eins und noch eins, immer an der Wand entlang. Die Kälte in ihrem Innern wurde so groß, dass sie zu zittern begann. Jemand suchte nach der Tür. Doch das hieß, dass er nicht wusste, wo sie war. Von der anderen Seite aus würde sie schwer zu finden sein. Trotzdem, sie hatte ihren ungefähren Standort verraten. Das Klopfen wurde ein wenig leiser, als es sich von ihr entfernte, dann kam es zurück. Jetzt konnte sie ihn atmen hören, und plötzlich ein weiteres geflüstertes Wort, wenngleich sie immer noch nicht verstehen konnte, was er sagte. Sie wich zitternd noch weiter zurück und merkte, dass ihr schwindlig wurde, weil sie den Atem angehalten hatte. Mit beiden Händen berührte sie die Wände, ließ sich von ihnen führen, und als sie glaubte, weit genug weg zu sein, beschleunigte sie ihre Schritte, verspürte größere Panik denn je, weil sie nicht wusste, ob er noch in ihrem Gemach oder hier bei ihr in den Tunneln war. Sie fand die Tür zur Halle der Tauben, schaute hinein, vergewisserte sich, dass niemand dort war, und stürzte hindurch. Dann schob sie die Täfelung hinter sich zu und rannte los. Kurze Zeit später wurde sie langsamer, doch sie fühlte sich nicht sicherer, nun, da sie sich in den öffentlichen Korridoren befand, obwohl diese hell erleuchtet und von Dienern bevölkert waren. Ihr Feind hatte ein unbekanntes Gesicht, und jeder im Schloss 266 konnte dieses Gesicht tragen. Und schlimmer noch - das wurde ihr gerade erst richtig klar -, wenn derjenige in ihrem Gemach wirklich dort gewesen war, um sie zu töten, so war das nicht einfach nur ein Mordversuch. Es war ein versuchter Staatsstreich. Was bedeutete, dass sie Hilfe brauchte, und zwar Hilfe, auf die sie sich verlassen konnte. Sie grübelte noch immer darüber nach, wem sie trauen könnte, als sie fast mit Leovigild Ackenzal zusammenstieß. Mit einem erschrockenen Laut sprang sie zurück. Was ihn betraf, so sah der Komponist aus, als wäre er völlig durcheinander, und dann versuchte er das Knie zu beugen. Es machte ihm Mühe, und ihr fiel
wieder ein, dass er an Krücken gegangen war, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Der Held von Broogh. »Bemüht Euch nicht«, sagte sie und bezwang ihre Furcht. »Was treibt Ihr um diese Stunde im Gang, Fralet Ackenzal?« »Majestät? Ich habe nur meinem Bein ein wenig Bewegung verschafft.« In seinem Gesicht war keine Spur von Täuschung zu sehen, deshalb traf sie eine rasche Entscheidung. »Kommt mit«, befahl sie. »Seid Ihr bewaffnet?« »B-bewaffnet?«, stotterte er. »Nein, wohl eher nicht. Nun gut. Kommt trotzdem mit.« »Ja, Majestät.« Sie eilte weiter und musste dann ihre Schritte zügeln, damit er nicht zurückfiel, und sie fragte sich, wieso sie ihn bei sich haben wollte. Er war fast ein Fremder - warum sollte sie ihm vertrauen? Doch sie erinnerte sich an jenen Tag, als er für sie gespielt hatte, an den vollkommenen Ernst, und irgendwie war ihr, als könne er ihr nichts zuleide tun. Sie traute ihren Gefühlen nur selten, jetzt jedoch blieb ihr nichts anderes übrig. Schweigend humpelte er hinter ihr her; ganz offensichtlich war er verwirrt, wollte jedoch keine Fragen stellen. »Wie geht es mit meinem Auftrag voran?«, erkundigte sie sich, hauptsächlich um das angespannte Schweigen zu brechen. 267 »Sehr gut, Majestät.« Ein Hauch von Erregung machte sich in seiner Stimme bemerkbar, was selbst unter diesen Umständen liebenswert war. Ihr fiel auf, wie sehr er Neil MeqVren ähnelte - Neil war voller Leidenschaft und rasch entflammbar, ein wahrer Ritter, in dem nichts Zynisches war. Dieser Komponist war auch so, wenngleich seine Leidenschaft vollkommen anderer Art war. Doch sie waren beide - echt. Sie wünschte sich verzweifelt, Neil wäre jetzt hier, doch sie hatte recht getan, ihn auszuschicken, um Anne zu holen. Er war der Einzige, dem sie Annes Aufenthaltsort anvertrauen konnte. »Ich hoffe, Ihr seid bald fertig damit«, sagte sie. »Ich habe bereits alle Vorkehrungen für eine Aufführung getroffen, mit anschließendem Bankett, im Kerzenhain, in drei Wochen.« »Drei Wochen? Nun, es ist fast fertig. Aber ich werde sofort mit den Proben beginnen müssen.« »Lasst mich nur wissen, was Ihr benötigt.« »Eigentlich wollte ich ohnehin mit Euch sprechen«, gestand er. »Worüber?« »Über die Größe des Orchesters, Majestät.« »Macht es so groß, wie es Euch beliebt«, erwiderte sie. »Das, worauf ich hoffe, ist... ein bisschen ungewöhnlich«, sagte er unsicher. »Ich ... die Komposition, an der ich arbeite ... ich glaube, man sollte sie am besten mit dreißig Musikern aufführen.« Sie blieb stehen und sah ihn verwundert an. »Das ist ziemlich groß, nicht wahr?« »Ein Orchester von dieser Größe hat es noch nie gegeben«, antwortete er. So wie er das sagte, klang es ungeheuer wichtig, und plötzlich ging ihr auf, wie lächerlich das Ganze war. Hier stand sie, fürchtete um ihr Leben und um ihr Königreich, und irgendwie ging es bei dem Gespräch darum, wie viele Musiker sie anstellen sollte. Doch ihr Herzschlag war zur Ruhe gekommen, und sie fühlte sich auf fast unheimliche Weise gelassen. »Und warum soll das unsere dann so groß sein?«, wollte sie wissen. 268 »Weil noch niemals ein Stück wie dieses geschrieben worden ist«, antwortete er. Sie hielt einen Moment lang inne und betrachtete ihn, suchte nach Stolz oder Hochmut in diesen Worten. Wenn sie etwas Derartiges enthielten, so war nichts davon zu bemerken. »Ich habe nichts gegen ein großes Orchester einzuwenden«, sagte sie schließlich. »Nicht einmal gegen das allergrößte.« »Aber die Kirche vielleicht, Majestät.« »Aus welchem Grund?« Er grinste und sah auf einmal sehr jungenhaft aus. »Aus dem Grund, dass das noch niemals gemacht wurde, Majestät.« Sie spürte, wie ein Lächeln an ihren Lippen zupfte. »Macht es so groß, wie Ihr wollt«, wies sie ihn an. »Sogar noch größer.« »Danke, Majestät.« Sie nickte. »Majestät?«, fragte er. »Ja?« »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?« Sie schloss die Augen, dann öffnete sie sie wieder und schritt erneut aus. »Ja, Fralet Ackenzal, etwas ist in der Tat ganz und gar nicht in Ordnung. Es ist jemand in meinen Gemächern, jemand, den ich nicht dorthin eingeladen habe.« »Ihr meint... Majestät, glaubt Ihr etwa, es ist ein Attentäter?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was es sonst sein sollte.« Er wurde bleich. »Aber das ist ja ... nun, sollten wir nicht die Wache rufen, Majestät?« »Unglücklicherweise«, entgegnete sie, »traue ich den meisten Männern der Wache nicht.« »Wie kann das sein? Wie kann eine Königin ihrer Wache nicht trauen?« »Seid Ihr wirklich so naiv, Fralet Ackenzal? Wisst Ihr, wie viele Könige und Königinnen durch die Hand ihrer eigenen Diener ums Leben gekommen sind?« »Aber ich habe gehört, dass die Königliche Leibwache von Eslen - die Handwerksmeister? - unbestechlich ist.« 269 »In den letzten paar Monaten haben zwei von ihnen bei verschiedenen Gelegenheiten versucht, mich umzubringen.« »Oh.« »Sie waren verhext, wie sich herausgestellt hat, durch irgendeine Art von Nekromantie, und angeblich sind sie jetzt gegen derartige Zauber gefeit. Trotzdem fällt es mir schwer, mich auf sie zu verlassen, nachdem sie zwei meiner Töchter getötet haben.« »Das kann ich verstehen, Euer Majestät. Es tut mir Leid.« »Dazu kommt noch die Tatsache, dass einer von ihnen vor meiner Tür Wache gehalten hat. Daraus folgt, dass er den Attentäter entweder eingelassen hat, dass er selbst der Attentäter ist oder dass er tot ist.« »Oh, ihr Heiligen!« »Genau.« »Also ... äh ... ich bin also im Augenblick Euer Leibwächter?« Sie lächelte ihn an. »Fürwahr, das seid Ihr.« »Majestät, ich werde Euch nicht viel nützen, sollten wir überfallen werden.« »Aber Ihr seid der Held von Broogh, Fralet Ackenzal. Gewiss würde doch Euer bloßer Anblick die meisten Angreifer in die Flucht schlagen.« »Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich«, erwiderte Ackenzal. »Aber ich werde Euch beschützen, so gut ich es vermag, Majestät. Es ist nur - wenn Ihr glaubt, dass hier ein Staatsstreich im Gange ist, dann solltet Ihr Euch noch bessere Helfer suchen, und außerdem noch mehr.« »Ich weiß«, antwortete sie. »Und genau das werden wir auch tun. Aber es gefällt mir nicht.« »Und warum nicht?« »Weil ich mich entschuldigen muss.« Fail de Liery wehrte ihre Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Ihr hattet Recht«, sagte er. »Ich habe gegen die guten Sitten verstoßen, und, um es genauer zu sagen, gegen mein Herz. Manch270 mal, wenn mehr als eine Pflicht ruft, ist es schwer, zu entscheiden, welcher man folgen soll. Glorien de Liery ist mein Lehnsherr, aber William war mein König, und Ihr seid meine Königin. Ich bin es, der sich bei Euch entschuldigen und Euch Gefolgschaftstreue schwören sollte, falls Ihr sie denn noch wollt.« Sie hätte ihn am liebsten an Ort und Stelle umarmt, doch im Augenblick waren sie Königin und Untertan, und sie wollte diesen Moment nicht verderben. »Und jetzt sagt mir, warum Ihr hier seid, Majestät«, drängte Fail. »Ihr seht aus, als riefen die Toten Euren Namen.« Er hörte zu, als sie es ihm erklärte. Als sie geendet hatte, nickte er grimmig. »Ihr werdet uns begleiten müssen«, sagte er schließlich. »Selbst wenn die Handwerksmeister Euch treu ergeben sind, werden sie einem Trupp bewaffneter Männer den Zutritt zu den königlichen Gemächern verwehren.« »Das ist mir klar.« Fail nickte. »Wann immer Ihr bereit seid, Majestät.« »Ich bin bereit.« Sie wandte sich an Ackenzal. »Ihr braucht nicht mitzukommen«, sagte sie. »Und ich danke Euch für Eure Begleitung.« Er verbeugte sich, diesmal weniger unbeholfen. »Danke, Majestät. Es ist mir stets eine Freude, Euch zu Diensten zu sein.« »Wann wird mein Stück fertig sein?« »Es ist bereits mehr als zur Hälfte vollendet«, erwiderte er. »Ende des Monats, würde ich sagen.« »Ich freue mich darauf.« »Ich danke Euch, Majestät. Die Heiligen mögen Euch bewahren.« Sie sah zu, wie er davonhinkte, während Sir Fail seine Männer herbeirief. Sie verließen Sir Fails Quartier mit acht Soldaten, und obgleich die Truppe erstaunte Blicke auf sich zog, stießen sie nicht auf Widerstand. 271 Sie fanden zwei Handwerksmeister in der Eingangshalle des königlichen Wohntrakts, die dort Wache standen. Als sie näher kamen, trat einer von ihnen vor und musterte die Männer aus Liery mit offenkundigem Misstrauen. »Zur Seite, Sir Moris«, befahl Muriele. »Diese Männer geleiten mich in meine Gemächer.«
Moris, ein rundgesichtiger Mann mit blondem Schnurrbart, lief rot an. »Majestät, das kann ich nicht gestatten«, verwahrte er sich. »Niemand außer Angehörigen der königlichen Familie und den Handwerksmeistern darf jenseits dieser Halle Waffen tragen.« Muriele richtete sich ein wenig höher auf. »Sir Moris, jemand ist in meine Gemächer eingedrungen, allem Anschein nach genau vor Eurer Nase. Ihr werdet uns vorbeilassen, habt Ihr verstanden?« »In Eure Gemächer eingedrungen?«, fragte Sir Moris. »Das ist einfach nicht möglich.« »Ja, das sollte man meinen«, gab Muriele trocken zurück. »Und doch versichere ich Euch, dass es so ist.« Moris kaute einen Moment lang darauf herum. »Wenn Euer Majestät uns gestatten wollen, der Sache nachzugehen -« Sie schüttelte den Kopf und schritt an ihm vorbei. »Erhebt die Waffe gegen einen dieser Männer, die mich begleiten, und es kostet Euch den Kopf«, sagte sie. »Majestät, das ist... lasst mich wenigstens mit Euch kommen.« »Wie es Euch beliebt.« Sie fanden einen Handwerksmeister, der zusammengesunken vor der Tür zu ihren Gemächern lag. Seine Augen waren offen, blau und sehr tot. Mit Gebrüll stürmte Sir Fail durch die Tür, seine Männer dicht hinter ihm. Auf der anderen Seite der Tür lag Unna, ihr kleines Nachthemd ein blutiger Fetzen. Sie würde ihr zwölftes Jahr nicht erleben. Muriele saß da und starrte Unnas Leichnam an, während Sir Fails Männer ihre Gemächer durchsuchten. Doch sie fanden niemanden, auch keine Spuren, außer den recht offensichtlichen Leichen. 272 Als sie sich dessen sicher waren, legte Sir Fail Muriele die Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf, blickte auf und sah ihrem Oheim in die Augen. »Es reicht«, erwiderte sie. »Sir Fail, ich wünsche Euch und Eure Männer als meine persönliche Leibwache abzustellen.« »So sei es, Majestät.« Sie wandte sich an Sir Moris. »Findet heraus, wie das hier passiert ist«, wies sie ihn an, »sonst rollt der Kopf jedes einzelnen Handwerksmeisters. Habt Ihr verstanden?« »Ich habe verstanden, Majestät«, antwortete Sir Moris steif. »Aber, wenn ich sprechen darf, jeder Mann bei uns ist Euch treu ergeben.« »Ich fürchte, das werdet Ihr beweisen müssen, Sir Moris. Fangt mit Folgendem an: Bringt mir Alis Berrye, und bringt sie mir sofort. Lebendig, und ohne dass jemand davon erfährt.« Sie wandte sich wieder Sir Fail zu. In ihren Augen musste er gesehen haben, was in ihr loderte. »Seid Ihr wohlauf, Majestät?« »Nein«, erwiderte sie. »Das alles macht mich krank. Ich bin es zutiefst leid, eine Zielscheibe zu sein.« Sie ging zum Fenster und stieß es auf, schaute hinaus auf die wenigen Lichter, die noch in der dunklen Stadt unter ihr funkelten. »Ich glaube«, sagte sie, »ich werde anfangen, mir eigene Zielscheiben zu suchen.« 273 22. Kapitel Ein Fiedchese-Spiel Während Neil durch das smaragdgrüne Wasser sank, hörte er, wie die Draughs zu singen begannen. Es war ein Lied aus weiter Ferne, ohne Worte, trotzdem vernahm er die bittere Einsamkeit darin, die Habgier. Sie sangen in Breunt-Toine, dem Land unter den Wogen, wo die einzigen Dinge des Lichts und der Liebe diejenigen waren, die dorthin hinabsanken, um verschlungen zu werden. Jetzt sangen sie von Neil MeqVren und seinem Kommen. Neil kämpfte gegen seinen langsamen Fall an, trat mit den Beinen aus und ruderte mit den Armen, doch seine Rüstung zog ihn hinunter wie ein Anker, und er hatte ohnehin nicht viel Erfahrung mit dem Schwimmen - er war an den Küsten eines Meeres aufgewachsen, das für derlei Ertüchtigungen viel zu kalt war. Er konnte nicht einmal mehr sagen, wo oben und wo unten war, so trübe war das Wasser. Hastig tastete er nach den Verschlüssen seiner Rüstung; er wusste, dass er sie niemals rechtzeitig würde lösen können, und fragte sich, wieso er nicht früher daran gedacht hatte. Er hielt seinen letzten Atemzug fest, doch der war verbraucht, wurde in seinem Inneren schwarz. Die See begehrte Einlass, und die See ließ sich niemals lange zurückweisen. Du hast mich, Schaumvater, dachte er. Ich war stets dein. Aber es gibt hier noch mehr, was ich tun muss. Doch der heilige Lier antwortete nicht, und die klagende Weise der Draughs kam näher, bis sie überall um ihn herum waren. Trotzdem konnte er durch die lichtlosen Tiefen hindurch nichts von ihren kalten Augen und ihren Haifischzähnen sehen. Seine Lunge öffnete sich, und die See ergoss sich hinein. Zuerst schmerzte es wie nichts anderes, was er je gefühlt hatte, doch der Schmerz währte nur kurz, und er spürte, wie sich Frieden über ihn senkte. Er hatte die Königin zum letzten Mal enttäuscht.
Er war am Ende. Seine Finger waren taub geworden, und er konnte die Riemen und Schnallen seiner Rüstung nicht mehr spüren, doch seltsamerweise schien sie abzufallen, als nähme jemand anders sie ihm ab, und ein blasses Licht stieg um ihn herum auf. Er fühlte, wie er auf etwas zu liegen kam, weich wie eine Daunenmatratze, jedoch kalt wie die Brecher im Winter. Finger glitten über seinen nackten Rücken und seinen Arm hinunter, und obgleich nicht mehr Wärme in ihnen war als in den Fluten des Meeres, erkannte er die Berührung. »Fastia«, stöhnte er und fand es merkwürdig, dass er sprechen konnte, wenn er voller Wasser war. »Du hast mich vergessen«, flüsterte sie. Es war ihre Stimme, jedoch spröde und irgendwie weit weg, obwohl sie direkt in sein Ohr sprach. »Das habe ich nicht«, beteuerte er. »Meine Liebste, ich habe dich nicht vergessen.« »Hast. Wirst. Es ist dasselbe.« Das Licht wurde stärker. Er packte ihre Hand und zog, wild entschlossen, sie jetzt, endlich, anzusehen. »Nicht«, sagte sie. Doch es war zu spät. Als er sie sah, schrie er und konnte nicht aufhören zu schreien. Er schrie noch immer, als gelbes Licht aufzuckte und ein Gesicht vor ihm erschien, wie in einem Sonnenaufgang. Es war das Gesicht einer Frau, doch es war nicht Fastia. Zuerst sah er nur ihre widersprüchlichen Augen. Sie waren von einem so dunklen Blau, dass die Pupillen darin untergingen. Sie schien sowohl blind als auch in der Lage zu sein, alles bis ins Innerste zu durchschauen. Eine fast unerträgliche Traurigkeit lag darin, und gleichzeitig eine überschäumende freudige Erregung. Es waren die Augen eines Neugeborenen und einer müden Greisin. 275 »Seid ruhig«, sagte sie. Ihre Stimme klang ein wenig heiser. Sie hielt seinen Arm, ließ ihn jedoch jäh los und trat von ihm zurück, als hätte er irgendetwas getan, das ihr Angst gemacht hatte. Ihre Augen verdunkelten sich, und jetzt sah er, dass ihre Gesichtszüge markant waren, mit hohen, breiten, wie aus Elfenbein gemeißelten Wangenknochen und Haar wie Spinnenseide, das sehr kurz geschnitten war; es reichte nur bis unter die Ohren. Sie leuchtete wie ein Kienscheit im Licht der Laterne, die sie in der einen blassen Hand hielt, ihr Kleid jedoch war schwarz, oder von einer anderen dunklen Farbe, und schien überhaupt nicht vorhanden zu sein. Verwirrung erfasste ihn. Er lag im Bett, und zwar trocken. Luft war in seiner Lunge, kein Salzwasser, doch er befand sich noch immer im Bauch der See, denn er konnte sie überall um sich herum spüren und das Knarren von Balken hören. Hastig ließ er den Blick über die Lukendeckel aus dunkel lackiertem Holz schweifen und begriff, dass er sich in der Kabine eines Schiffes befand. »Seid ruhig«, wiederholte sie. »Ihr seid am Leben, wenn auch nicht völlig gesund. Ihr träumt bloß vom Tod.« Ihre freie Hand hob sich an ihren Hals und betastete dort ein kleines Amulett. Ihm war klar, dass er am Leben war. Sein Herz hämmerte, sein Kopf schmerzte, und seine Seite fühlte sich an, als sei sie gespalten worden. Was, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, auch der Fall war. »Wer seid Ihr?«, brachte er mühevoll hervor. Die Frage schien sie einen Moment lang zu verblüffen. »Nennt mich Swanmay«, sagte sie schließlich. »Wo ...?« Er versuchte sich aufzusetzen, doch irgendetwas in seinem Kopf geriet ins Wirbeln, und der Schmerz in seiner Seite wurde zur überwältigenden Pein. Er schluckte ein Aufheulen hinunter, sodass es lediglich als Ächzen herauskam. »Liegt still«, sagte Swanmay und trat vor, dann hielt sie erneut inne. »Ihr habt viele Wunden davongetragen. Erinnert Ihr Euch nicht mehr?« »Doch«, murmelte Neil, schloss die Augen und versuchte seinen Magen daran zu hindern, sich umzustülpen. »Doch, ich erin276 nere mich.« Jetzt erinnerte er sich auch an sie. Dies war das Gesicht, das er auf dem Kai gesehen hatte, die Frau, die aus dem seltsamen Schiff herausgeschaut hatte. Das wahrscheinlich jenes Schiff war, auf dem er sich jetzt befand. »Wir sind auf See«, sagte er. Seine Gedanken waren wie ungebärdige Schuljungen, die sich nicht zur Ordnung rufen lassen wollten. Fastias tote Berührung hielt sich noch immer auf seiner Schulter. »Ja«, bestätigte sie. »Wir sind vor zwei Tagen ausgelaufen.« »Vor zwei Tagen?« »Ja. Ihr wart die ganze Zeit über bewusstlos. Ich hatte schon angefangen zu fürchten, Ihr würdet nicht aufwachen.« Neil versuchte nachzudenken. Zwei Tage. Was war mit Anne geschehen? Swanmay kam wieder näher. »Lasst Euch nicht einfallen, mir etwas anzutun«, sagte sie. »Wenn ich rufe, kommen meine Männer und töten Euch.« »Ich habe keinen Grund, Euch etwas anzutun«, erwiderte er. »Oder keinen, der mir bekannt ist. Und ich würde es auch nicht tun, selbst wenn ich einen Grund wüsste.« »Das ist sehr vernünftig«, erklärte sie. »Aber Ihr habt im Schlaf sehr heftige Geräusche und Bewegungen gemacht. Ich glaube, Ihr habt ganze Schlachten geschlagen. Erinnert Ihr Euch an diese Träume?«
»An nichts von irgendwelchen Schlachten«, antwortete Neil. »Schade. Eure Träume wären bestimmt interessant.« Sie zögerte. »Ich werde Euch vertrauen. Ich werde mich einen Moment hierher setzen, denn Ihr habt gewiss Fragen. Ich weiß, dass ich welche hätte, wenn ich an einem fremden Ort aufwachen würde, vor einem fremden Menschen. Ich hätte schreckliche Angst.« Sie setzte sich auf einen kleinen Hocker. »Als Erstes werde ich Euch dies sagen«, begann sie, »falls Ihr Angst habt, danach zu fragen. Diejenigen, für die Ihr gekämpft habt - die Leute, die Ihr beschützt habt -, sie sind entkommen.« 277 Neil seufzte und spürte, wie sich etwas in seinem Innern ein wenig lockerte. »Ihr hattet Recht«, sagte er. »Ich hatte Angst zu fragen.« Sie lächelte vorsichtig. »Sie haben unbehelligt abgelegt. Eine hat nach Euch gerufen und versucht, vom Schiff zu laufen, aber die anderen wollten es nicht zulassen.« »Sie sind entkommen«, wiederholte Neil. Erleichterung wallte heran wie eine östliche Brise. »Ja«, bekräftigte sie. »Ich habe mich schon gefragt, ob ich bei einem Verbrechen behilflich gewesen bin.« »Ich bin kein Verbrecher, Lady, das verspreche ich Euch.« Sie zuckte die Schultern. »Vitellio ist nicht meine Heimat, und es kümmert mich wenig, ob Ihr gegen irgendein Gesetz des Landes verstoßen habt. Aber ich bewundere die Art und Weise, wie Ihr gekämpft habt. Ich bewundere es, wie Ihr singend Eurem Untergang entgegengegangen seid. Ich habe Geschichten über Männer wie Euch gelesen, aber ich hätte nie erwartet, einem zu begegnen. Ich konnte Euch nicht der Tiefe überlassen.« »Also habt Ihr ... wie habt Ihr ... ?« »Ein paar von meinen Männern können schwimmen. Sie sind mit einem starken Tau ins Wasser gesprungen und haben Euch heraufgezogen, aber da hattet Ihr schon die Besinnung verloren.« »Ich schulde Euch und Euren Männern mein Leben.« »Ja, das tut Ihr wohl, aber ich würde mich an Eurer Stelle deswegen nicht allzu unbehaglich fühlen.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Wer war sie?« »Wer?« »Das Mädchen mit dem roten Haar. Sie war diejenige, für die Ihr gekämpft habt, nicht wahr?« Neil wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und jäh wurde ihm bewusst, dass er gar nichts sagen sollte. Von dem Augenblick an, als er ins Wasser gestürzt war, wusste er nicht genau, was passiert war. Vielleicht war alles, was Swanmay gesagt hatte, wahr. Vielleicht auch kein Wort davon. Vielleicht war er der Gefangene eben jener, die ihn angegriffen hatten. Immerhin waren sie aus 278 Hansa, zumindest einige von ihnen. Swanmay sah hansisch aus, obgleich sie ebenso gut aus Crothenien oder Herilanz stammen konnte. Aus der makellosen Sprache des Königs, die sie sprach, konnte er nichts schließen. Ihr Schiff, fiel es ihm wieder ein, trug keinerlei Zeichen. »Lady«, sagte er widerstrebend, »bitte vergebt mir, aber ich kann Euch nichts darüber erzählen, warum ich gekämpft habe.« »Ah«, sagte Swanmay, und diesmal wirkte ihr Lächeln stärker. »Dann seid Ihr also nicht dumm. Ihr habt keinen Grund, irgendetwas zu glauben, das ich sage, nicht wahr?« »Nein, Mylady«, antwortete Neil. »Überhaupt keinen.« »Nun, wie dem auch sei. Ich habe nur überlegt, ob es bei Eurem Kampf um Liebe oder um Pflichterfüllung ging. Jetzt sehe ich, dass es irgendwie beides ist. Aber Eure Liebe gilt nicht dem Mädchen auf dem Schiff.« Wieder konnte er ihre Augen sehen, und diesmal wirkten sie nicht im Mindesten blind. »Ich bin müde«, sagte er. Sie nickte. »Ihr braucht Zeit, um nachzudenken. Ich verlasse Euch fürs Erste, aber versucht bitte nicht, Euch zu bewegen. Mein Arzt sagt, Ihr werdet leckschlagen wie ein geborstenes Boot, wenn Ihr das tut, und Ihr interessiert mich. Es wäre mir lieber, wenn Ihr lange genug lebt, um ein wenig Vertrauen zu mir zu fassen.« »Darf ich fragen, wohin wir fahren?« Sie faltete die Hände auf den Knien. »Ihr dürft, und ich werde antworten, aber woher wollt Ihr wissen, dass ich nicht lüge?« »Das kann ich wohl nicht wissen.« »Im Augenblick segeln wir nach Westen, zur Straße von Rusimi, und von dort nach Safnien. Wo es danach hingeht, kann ich nicht sagen.« Sie stand auf. »Nun ruht zunächst wohl«, sagte sie. »Wenn Ihr irgendetwas braucht, zieht an dem Seil neben Eurem Bett.« Da fiel Neil Hurrikan ein. »Lady? Was ist mit meinem Pferd?« Ihre Miene wurde traurig. »Ich habe gesehen, wie es uns nach279 geschaut hat. Wir haben weder Platz noch Futter für Tiere an Bord. Es tut mir Leid. Ich bin sicher, dass ein so prachtvolles Tier einen guten Herrn finden wird.« Das war lediglich ein weiterer dumpfer Schmerz für Neil. Krähe war zerbrochen, seine Rüstung hatte wahrscheinlich so heftigen Schaden genommen, dass sie nicht mehr zu reparieren war, und Hurrikan war verloren. Was konnte er noch verlieren, außer seinem Leben?
»Ich danke Euch, Lady«, murmelte er. Er sah zu, wie sie die Kabine verließ. Ehe sie die Tür hinter sich schloss, konnte er kurz einen flüchtigen Blick auf das hinter ihr im Mondlicht liegende Deck des Schiffes erhaschen. Er versuchte, seine Gedanken wieder zu sammeln. Er war noch immer an seine Pflicht gebunden. Swanmay hatte gesagt, sie führen nach Westen. Anne sollte nach Osten segeln, nach Paldh. Wenn sie überhaupt irgendwohin fuhr. So gut er konnte, untersuchte Neil seine Wunden und stellte fest, dass Swanmay zumindest in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt hatte. Das leuchtende Schwert hatte seine Rüstung und zwei seiner Rippen durchschlagen. Er würde also eine Weile nicht laufen, geschweige denn kämpfen können. Fürs Erste, ob sie nun log oder die Wahrheit sagte, war er Swanmay auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Tatsächlich war er bereits erschöpft, und obgleich er versuchte, wach zu bleiben und die Lage zu überdenken, wiegte die See - das einzig Vertraute um ihn herum - ihn bald wieder in den Schlaf. Als er erneut erwachte, vernahm er leise Musik. Swanmay saß neben ihm auf einem Schemel und spielte auf einer kleinen Harfe aus Kirschholz mit goldenen Wirbeln. Das Kabinenfenster war verhängt, doch Tageslicht drang durch den Stoff, und ohne Feuerschein war sie wie ein Geschöpf aus einem Kindermärchen, eine Frau aus Schnee. »Lady«, sagte er leise. 280 »Ah. Ich wollte Euch nicht wecken.« »Der Klang einer Harfe ist nicht das Schlimmste, wovon man aufwachen kann, besonders, wenn sie so schön gespielt wird.« Zu seiner Überraschung errötete sie daraufhin ein wenig. »Ich habe mir nur die Zeit vertrieben«, sagte sie. »Wie fühlt Ihr Euch?« »Besser, glaube ich. Mylady - ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass Ihr so über mich wacht. Ich verspreche Euch, ich werde still liegen. Mir bleibt nicht viel anderes übrig.« Sie schlug die Augen nieder. »Nun, dies ist meine Kabine«, sagte sie. »Und manchmal werde ich es müde, mich an Deck aufzuhalten. Wenn es so hell ist wie jetzt, tut die Sonne meinen Augen weh und verbrennt mir die Haut.« »Ihr seid doch keine Sefry, oder?«, scherzte er. »Nein. Nur nicht ans Tageslicht gewöhnt.« Sie blickte wieder zu ihm auf. »Aber Ihr seid Sefry begegnet, nicht wahr?« »O ja. Das ist nicht schwer.« »Ich habe noch nie einen gesehen. Aber ich hoffe, bald ist es so weit.« »Ich sollte nicht in Eurer Kabine sein, Lady«, beharrte Neil. »Es gibt doch gewiss eine angemessenere Unterkunft für mich.« »Keine, die für jemanden in Eurem Zustand angemessener wäre«, erwiderte sie. »Aber das ist doch unziemlich. Eure Männer -« Sie hob das Kinn. »Meine Männer wollten Euch den Haien überlassen. Meine Männer führen hier nicht den Befehl, sondern ich. Und ich denke, dass mir von Euch keine Gefahr droht. Seid Ihr anderer Meinung?« »Nein, Mylady, aber trotzdem -« »Ich kann mich dort drüben umkleiden, hinter dem Wandschirm, und mich dort auch waschen. Dort ist eine Pritsche, auf der ich schlafen kann.« »Ich sollte auf der Pritsche schlafen.« »Wenn es Euch besser geht, werdet Ihr das tun. Wenn es Euch noch besser geht, werdet Ihr bei den Männern schlafen.« »Ich wünschte -« 281 »Wie heißt Ihr?«, fragte sie abrupt. »Ihr habt mir Euren Namen nicht gesagt.« »Ich ...« Er zögerte einen Augenblick. »Ich heiße Neil«, antwortete er schließlich. Er hatte es satt, zu lügen. »Neil«, wiederholte sie. »Das ist ein guter Name. Ein lierischer Name. Oder vielleicht seid Ihr auch aus Skern. Kennt Ihr... könnt Ihr Fiedchese spielen?« Neil zog überrascht die Brauen hoch. »Das Spiel kenne ich, Lady. Mein Vater hat es mir beigebracht, als ich ein Junge war.« »Ich überlege gerade - würdet Ihr gern spielen? Niemand auf dem Schiff kann es, und sie haben zu viel zu tun, um es zu lernen. Aber Ihr ...« »Nun, das ist etwas, das ich auch im Liegen tun kann«, meinte Neil. »Wenn Ihr ein Spielbrett habt.« Swanmay lächelte ein wenig scheu und ging zu einem kleinen Schrank hinüber, der in die Wand der Kabine eingebaut worden war. Sie holte ein Fiedchese-Brett und einen Lederbeutel mit Figuren daraus hervor. Das Brett war wunderschön, die Quadrate waren Einlegearbeiten aus Holz, ein Satz rotbraun, der andere knochenweiß. Der Thron in der Mitte des Bretts war schwarz. Die Figuren waren nicht minder schön. Der König war aus dem dunklen Holz geschnitzt und trug einen spitzen Helm als Krone. Seine Männer waren mit Schild und Schwert versehen, und sie waren alle hoch gewachsen und
schlank, so wie ihr König. Die Räuber waren bunt gemischt, keine zwei Figuren glichen sich, und sie sahen ein bisschen grotesk aus. Manche waren von menschlicher Gestalt und hatten Hunde-, Vogel- oder Schweinsköpfe. Andere hatten breite Körper mit kurzen Beinen, oder überhaupt keine Beine, nur lange Arme, die diese Aufgabe übernahmen. Neil hatte noch nie ein solches Spiel gesehen. »Wen soll ich übernehmen, Lady?«, erkundigte er sich. »Den König oder die Räuber?« »Ich habe schon viel zu oft den König gespielt«, antwortete Swanmay nachdenklich. »Aber vielleicht sollte ich es noch einmal tun, um zu sehen, ob darin ein Omen verborgen liegt.« 282 Und mit diesen geheimnisvollen Worten begann sie, die Figuren aufzustellen. Der König kam in die Mitte, in kreuzförmiger Aufstellung umgeben von seinen Männern. Die Räuber - Neils Figuren - wurden entlang der Ränder des Bretts aufgestellt. Es gab vier Tore, eines an jeder Ecke. Wenn der König eines der Tore erreichte hätte Swanmay gewonnen. Neil würde gewinnen, wenn er den König eroberte. Sie machte den ersten Zug, schickte einen ihrer Ritter nach Osten, jedoch nicht so weit, dass er einen seiner Räuber geschlagen hätte. Er betrachtete das Brett eine Weile und schlug im Gegenzug ihren Mann. »Ich habe mir gedacht, dass ein Krieger nach diesem Köder schnappen würde«, sagte sie. Sie schob einen weiteren Ritter über das Brett, und mit diesem blockierte sie eine seiner Figuren. Fünf Minuten später passierte der König das Nordtor, und Neil konnte sich nur fragen, was genau passiert war. »Nun«, sagte er, »wenn Ihr auf ein Omen aus wart, so habt Ihr ein gutes erhalten.« »Ja«, erwiderte sie. »Tatsächlich bin ich schon fast an meinem eigenen Tor angelangt. Ich hoffe, es bald zu durchschreiten.« Sie begann, die Figuren wieder auf dem Brett aufzustellen. »Wart Ihr schon einmal in Safnien?«, erkundigte sie sich. »Nein, Mylady. Ich bin noch nicht sehr weit herumgekommen.« »Weiter als ich«, entgegnete sie. »Das Einzige, wo ich jemals gewesen bin - außer dem Ort, wo ich geboren wurde -, ist dieses Schiff. Und Ihr seid der einzige Mensch ...« Sie stockte, und ihr Gesicht färbte sich erneut in jenem schwach rosigen Ton. »Ich sollte nicht darüber sprechen. Ihr hattet Recht, Eure eigenen Geheimnisse zu bewahren. Aber ich wünschte ... nein, erzählt mir etwas von anderen Orten, bitte.« Neil überlegte, was er ihr erzählen könnte, ohne zu viel preiszugeben, obgleich er sich seiner Vorsicht wegen allmählich albern vorkam. Wenn sie mit jenen im Bunde war, die Anne überfallen hatten -, dann wusste sie mit Sicherheit, wer Anne war, und gewiss musste sie wissen, dass er ein Vasall Crotheniens war. 283 Nun, zumindest hatte sie erraten, woher er kam. »Ich kann Euch von Skern erzählen«, schlug er vor. »Das ist eine Insel in der Lierischen See, nicht wahr? Sie gehört jetzt zu Liery?« »Früher war sie hansisch«, sagte er, hielt Ausschau nach einer unbedachten Regung und sah keine. »Aber jetzt steht sie unter lierischer Schutzherrschaft.« »Solche Sachen weiß ich aus Büchern«, erklärte sie. »Aber erzählt mir, wie es ist, dort zu sein.« Neil lehnte sich zurück und dachte mit geschlossenen Augen nach, betrachtete die Farben seiner Kindheit. »Man ist nie weit vom Meer entfernt«, sagte er leise. »Man kann es überall riechen, wo man auch hingeht, sogar in den Kielen.« »Kiele?« »Das ist eine große, felsige Bergkette, die die Insel in zwei Teile schneidet, eigentlich nicht viel mehr als Steine und Gras. Ich bin früher mit meinem Fah dorthin gewandert, um meine Tante Nieme zu besuchen. Sie hat Schafe gehalten und in einem Haus aus Grassoden gewohnt. Es hat fast immer geregnet, und im Winter war der Schnee tief, aber an klaren Tagen konnte man die Küste der Salzmark sehen und die Berge von Skiepey - das ist die nächste Insel. Es war, als stünde man auf dem Gipfel des Himmels.« »Ihr habt an der Küste gewohnt?« »Ich wurde in einem Dorf namens Frouc geboren, direkt an der Küste, aber aufgewachsen bin ich größtenteils auf Schiffen.« »Habt Ihr gefischt?« »Als ich noch sehr klein war. Danach habe ich meistens gekämpft.« »Oh. Wie alt wart Ihr, als Ihr Krieger geworden seid?« »Ich bin das erste Mal mit meinem Vater in die Schlacht gezogen, als ich neun war, um seine Speere zu tragen.« »Neun?« »Das ist kein ungewöhnliches Alter«, erklärte Neil. »Es herrscht Mangel an Männern.« »Kein Wunder, wenn sie mit neun in den Krieg ziehen.« 284 »Unsere Feinde ließen sich nicht überreden, zu warten, bis wir erwachsen waren«, entgegnete Neil. »Es tut mir Leid«, beteuerte Swanmay. »Ich wollte keine schlimmen Erinnerungen wecken.« »Erinnerungen und Narben sagen uns, wer wir sind«, erwiderte Neil. »Ich fürchte weder das eine noch das andere, noch schäme ich mich dafür.« »Nein, aber manche tun weh, nicht wahr?«, sagte sie leise. »Ich bin nie in den Krieg gezogen, aber das weiß
ich.« Sie warf einen Blick auf das Spielbrett. »Diesmal spielt Ihr den König.« »Seid Ihr in Schwierigkeiten, Mylady?«, fragte Neil. »Seid Ihr vor irgendetwas auf der Flucht?« Sie antwortete nicht sogleich, sondern wartete, bis er seinen ersten Zug getan hatte, und zog dann ihrerseits. »Wenn Ihr überallhin könntet, wo Ihr schon einmal gewesen seid oder wo Ihr noch nie wart, wohin würdet Ihr gehen?« »Im Augenblick nach Paldh«, erwiderte er. »Dort fährt sie hin, nicht wahr? Nach Paldh?« Ein kurzer Schreck schoss Neils Rückgrat hinauf, und er begriff, dass er sich von der Unterhaltung hatte einlullen lassen. Es war ihm gelungen - trotz allem -, Anne zu helfen, zu entkommen, sie auf den Heimweg zu bringen. Jetzt hatte er es ihren Feinden ermöglicht, ihr erneut zu folgen. Er betrachtete Swanmays hübsche weiße Kehle und überlegte, ob er wohl genug Kraft hatte, um sie zu erwürgen, ehe sie um Hilfe rief und sein Verhängnis über ihn brachte. 285 23. Kapitel Leshya Gibt nicht viele, die sich an mich heranschleichen können«, brummte Aspar dem Sefry hinter sich leise zu. Er hatte sich nicht umgedreht, doch er wusste jetzt zwei Dinge über den Sefry, die er zuvor nicht gewusst hatte. Erstens war es mit Sicherheit nicht Fend. Fends Stimme kannte er ebenso gut wie seine eigene. Zweitens war es eine Frau. »Das hätte ich auch nicht gedacht«, antwortete sie. »Aber es spielt keine Rolle. Ich werde Euch nichts zuleide tun, wenn Ihr mir nichts tut.« »Das wird von ein paar Dingen abhängen«, sagte Aspar und drehte sich langsam um. Er befürchtete nicht länger, dass die Mönche oder der Gryffin ihn gesehen haben könnten. Was immer von Osten her näher kam, hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sein dringlicheres Problem war das hinter ihm. Sie war zierlich, sogar für eine Sefry, mit violetten Augen und schwarzen Haarfransen über der Stirn, die fast bis zu ihren Wimpern reichten. Um ungehindert sprechen zu können, hatte sie Schal und Kapuze gelockert, und er konnte gerade noch ihre geschwungenen Lippen erkennen. Sie sah jung aus, doch aus ihren Augen schloss er, dass dem nicht so war. Sie hätte durchaus so alt sein können wie er, oder auch älter, doch Sefry alterten von der Haut her früh, lebten jedoch länger als Menschen. Er fragte sich, wie er sie jemals für Fend hatte halten können, selbst von weitem. »Und was für Dinge sind das?«, wollte sie wissen. Jetzt konnte er ihre Hände sehen; sie waren leer. Er entspannte sich ein wenig. »Ihr habt mich herumgeführt«, sagte er. »Mit mir gespielt. Das mag ich nicht.« 286 »Nein? Ihr hättet mir ja nicht zu folgen brauchen.« »Ich habe Euch für jemand anderen gehalten.« Sie nickte nachdenklich. »Ah. Ihr habt gedacht, ich sei Fend.« Der Name stach wie ein Dorn. »Sceat, wer seid Ihr?«, zischte Aspar. Sie legte den Finger an die Lippen. »Ich kann es Euch später erklären. Ihr werdet sehen wollen, was gleich passieren wird.« »Ihr wisst, was da kommt? Ihr habt es gesehen?« Sie nickte. »Es sind die Slinderlinge. Seht Ihr - da sind sie.« »Slinderlinge?« Er blickte sich um, und zuerst sah er nur Wald. Doch die Bäume schienen sonderbar zu beben, als wehe der Wind nur an einer Stelle durch ihre Kronen. Amseln wirbelten in Wolken auf, hoben sich von dem silbrigen Himmel ab. Die Mönche standen da wie erstarrt, wie Statuen. Dann kam etwas zwischen den Bäumen hervor, Kreaturen, die manchmal auf vier und manchmal auf zwei Beinen dahinrannten. Es waren zehn, und ihr Geheul wurde wilder, als sie auf die Lichtung kamen und die Mönche erblickten. Zuerst hielt Aspar sie für eine kleinere Unterart des Uttin oder für irgendetwas anderes Hässliches aus den Schauermärchen, doch als er begriff, was sie waren, durchzuckte ihn kalter Schrecken. Es waren Männer und Frauen. Nackt, zerschrammt, schmutzig, blutend, vollkommen wahnsinnig - aber es waren Menschen, genau wie Ehawk es beschrieben hatte. Während die Blätter in einem heftigen Herbstwind zu rauschen begannen, tauchte die eigentliche Meute hinter den Anführern auf. Er schätzte, dass es mindestens hundert waren. Sie bewegten sich eigenartig, und nicht nur, weil sie manchmal auf allen vieren liefen. Sie rannten zuckend, haltlos - in gewisser Weise wie Insekten. Ein paar hielten Steine oder Äste in den Händen, die meisten jedoch waren unbewaffnet. Der größte Teil von ihnen schien ziemlich jung zu sein, einige jedoch waren gebeugt und grauhaarig. Manche waren fast noch Kinder, doch er sah niemanden, der aussah, als habe er weniger als fünfzehn Winter erlebt. 287 Sie schwärmten aus, um die Mönche einzukreisen, und ihr misstönendes Heulen wurde zu einer Art
haarsträubendem Lied. Die Worte waren undeutlich und gebrochen, doch er erkannte die Melodie. Es war ein Kinderlied über den Dornenkönig, auf Almanisch gesungen. Plappernd und plaudernd Taler, musst wandern Der Dornkönig schreitet von ein'm Ort zum andern »Das sind die Slinderlinge?«, fragte er. »So nennen die Oostischen sie«, antwortete die Sefry »Jedenfalls die, die sich ihnen nicht angeschlossen haben.« Noch während sie sprach, begannen die Slinderlinge zu Boden zu gehen, von schwarzen Pfeilen durchbohrt. Die Mönche schössen mit unmenschlicher Schnelligkeit und Treffsicherheit. Doch der Beschuss ließ die Woge aus Leibern kaum langsamer werden. Sie strömten um die Gefallenen herum wie ein Fluss um Felsbrocken. Die Mönche zogen Schwerter und bildeten einen Kreis - nur zwei benutzten weiter ihre Bögen, und diese standen in der Mitte des Rings. Beinahe ohne nachzudenken, griff Aspar nach seinem eigenen Bogen. »So töricht seid Ihr doch nicht«, sagte sie. »Warum wollt Ihr für sie kämpfen? Ihr habt doch gesehen, was sie tun.« Aspar nickte. »Werlic.« Die Mönche verdienten, was sie bekamen. Doch das, was da über sie hereinbrach, war so seltsam und grauenvoll, dass er das beinahe vergessen hätte. Und mehr noch, den Gryffin hatte er wirklich vergessen. Jetzt fiel ihm die Bestie wieder ein, als sie ein leises, unirdisches Grollen ausstieß. Das Ungeheuer stand da und scharrte mit dem Vorderbein am Boden; die Stacheln auf seinem Rücken standen steif empor. Dann, als hätte es einen plötzlichen Entschluss gefasst, machte es kehrt und rannte mit großen Sätzen in den Wald. Genau auf Aspar zu. 288 »Sceat«, sagte Aspar und hob den Bogen. Schon jetzt spürte er die giftige Übelkeit, die in den Augen des Geschöpfes brannte. Er ließ den Pfeil fliegen. Das Geschoss prallte von den knochigen Schuppen oberhalb der Nüstern ab. Der Gryffin warf ihm einen Blick zu und wechselte in rasendem Tempo die Richtung, schoss in den Wald und War verschwunden. Aspar hatte einen Gryffin durch halb Crothenien verfolgt. Er hatte niemals erlebt, dass dieser vor irgendetwas geflohen wäre. Hatte der Gryffin an ihrer Seite gekämpft, so hätten die Mönche vielleicht eine Chance gehabt. Er hatte gesehen, wie ihresgleichen kämpfen konnten, und selbst ein schlechter Schwertkämpfer war noch so vielen nackten, unbewaffneten Gegnern mehr als überlegen. Diese Angreifer jedoch kümmerte es nicht, ob sie umkamen, und das allein war eine mächtige Waffe. Also sah er zu, wie die Slinderlinge sich auf die glitzernden Klingen der Mönche warfen wie Fleisch in einen Fleischwolf, mit ungefähr dem gleichen Ergebnis. Binnen Augenblicken war die Lichtung mit Blut, Eingeweiden, abgeschlagenen Köpfen und Gliedmaßen bedeckt. Doch die Angreifer stießen ohne Zaudern weiter vor, ohne Furcht, wie Grims Birsirks - obschon Birsirks im Allgemeinen wenigstens einen Speer trugen. Er sah, wie einer, dem ein Bein fehlte, auf die Mönche zukroch. Ein anderer spießte sich selbst auf einer Schwertklinge auf und schloss die Hände um die Kehle seines Feindes. Gegen so etwas konnte man kämpfen, doch man konnte nicht gewinnen. Einer nach dem anderen wurden die Mönche durch die schiere Übermacht zu Boden gerissen, die Kehlen wurden ihnen durchgebissen oder die Bäuche mit Fingern und Nägeln aufgerissen. Dann, während sich ihm der Magen umdrehte, sah Aspar zu, wie die Slinderlinge sich labten - wie Wölfe stürzten sie sich auf die Leichen. Er warf einen Seitenblick auf die Sefry-Frau, doch diese achtete nicht auf die Slinderlinge. Ihre Augen waren auf den Waldrand 289 gerichtet, wo sie hervorgebrochen waren. Er folgte ihrem Blick und sah, dass die Bäume noch immer bebten, sogar schwankten, und ihm war, als ginge die Sonne auf, doch es war kein Licht zu sehen. Nur diese Empfindung wie von etwas Strahlendem auf seinem Gesicht und ein Gefühl der Veränderung. Dann trat etwas aus dem Wald, nicht so hoch wie die Bäume, jedoch doppelt so groß wie ein hoch gewachsener Mann. Schwarze Geweihstangen wuchsen von seinem Kopf empor, das Gesicht jedoch war das eines Menschen mit Haut so bleich wie Birkenrinde und einem Bart wie dickes braunes Moos. Er war ebenso nackt wie die Slinderlinge, allerdings bedeckte dichtes Haar oder Moos ihn zum größten Teil. Dort, wo seine Füße den Boden berührten, sprossen schwarze Dornenranken hervor wie behäbige Springbrunnen. »So hat er aber damals nicht ausgesehen«, brummte Aspar. »Er ist der Dornenkönig«, entgegnete die Sefry. »Er ist immer anders, immer gleich.« Eine Horde Slinderlinge folgte ihm, und wenn die Dornenranken emporwucherten, warfen sie sich darauf und versuchten sie aus dem Boden zu reißen. Ihre Körper waren blutüberströmt, denn die Dornen drangen tief ein, doch ebenso wie die Mönche waren die Ranken ihrer Entschlossenheit und Überzahl nicht gewachsen. Die Slinderlinge bluteten und starben, doch die Dornenranken wurden ebenso unbeirrbar in Stücke gerissen wie ihre menschlichen Feinde. Der Dornenkönig, den nichts davon zu kümmern schien, schritt zu den toten Mönchen hinüber, und der Wald
hinter ihm schien ihm mit aller Macht folgen zu wollen. Grimmig griff Aspar nach dem schwarzen Pfeil. Er erkannte seine beste Chance, wenn sie sich ihm bot. »Und hier liegt die Entscheidung, die Ihr treffen müsst, Waldhüter«, flüsterte die Sefry-Frau. »Da gibt es nichts zu entscheiden«, erwiderte Aspar. »Er tötet den Wald.« »Tatsächlich? Sind Eure Augen wirklich offen, Waldhüter?« 290 Als Antwort legte Aspar den Pfeil auf die Sehne. Der Wind erstarb, und dann drehte der Dornenkönig sich um. Selbst auf diese Entfernung konnte Aspar das grüne Glitzern seiner Augen erkennen. Auch die Slinderlinge blickten auf und wollten auf Aspar zustürzen, doch der gehörnte Monarch hob die Hand, und sie blieben wie angewurzelt stehen. »Denkt nach, Waldhüter«, sagte die Sefry-Frau. »Ich bitte Euch nur, nachzudenken.« »Was wisst Ihr, Sefry-Weib?« »Nicht viel mehr als Ihr. Ich weiß nur, was mein Herz mir sagt. Jetzt fragt das Eure, was es Euch zuraunt. Ich habe Euch hierher gebracht, weil niemand den Wald besser kennt als Ihr - kein Sefry, kein Menschling. Wer ist hier der Feind? Wer hat Euch diesen Pfeil gegeben?« Der Wind war kaum noch spürbar. Beinahe hätte er schießen können, ohne darüber nachzudenken. Er könnte es zu Ende bringen. »Diese Wesen, die ihm folgen«, sagte Aspar. »Das waren einmal Menschen. Leute aus den Dörfern.« »Ja«, bestätigte sie. »Ich habe die leeren Dörfer gesehen.« »Dann ...« Doch der Dornenkönig hatte ihm das Leben gerettet. Er war von dem Gryffin vergiftet worden, und der König hatte sich zu ihm herabgebeugt. Er erinnerte sich lediglich an einen Traum von den Wurzeln, die sich tief hinabsenkten, von Baumwipfeln, die das Sonnenlicht tranken, vom gewaltigen Rad der Jahreszeiten, von Tod, Geburt und Verwesung. Er hatte sich eingeredet, dass es eine Lüge war. Der Dornenkönig drehte sich sehr langsam um und ging zurück zum Wald. Aspar spannte den Bogen bis zum Äußersten und bemerkte plötzlich, dass seine Finger zitterten. Der Blick des Dornenkönigs verweilte noch immer. In den Augen des Gryffin hatte er nur Siechtum gesehen. In denen des Dornenkönigs sah er Leben. 291 Mit einem leisen Fluch senkte er den Bogen, während die mächtige Kreatur und ihr Gefolge zwischen den Bäumen entschwanden. Das Geheul verstummte, und der Wald war still. Die Sefry-Frau brach das Schweigen. »Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, dass das die richtige Wahl war, Waldhüter. Aber es ist die Entscheidung, die ich getroffen hätte.« Aspar schob den Pfeil wieder in seine Hülle. »Wie wäre es, wenn Ihr mir jetzt einfach sagt, wer Ihr seid?«, knurrte er. »Mein Clan ist Sern«, antwortete sie. »Mein Sprechname lautet Liel, aber ich ziehe den Namen vor, den man mir in Nazhgave gegeben hat - Leshya.« »Ihr lügt. Niemand vom Clan Sern hat seit tausend Generationen die Rewns der Halafolk verlassen.« »Habt Ihr in Rewn Aluth irgendjemanden meines Clans gefunden? Ihr habt doch selbst gesehen, dass wir es getan haben. Und ich habe dieses Verbot schon vor langer Zeit gebrochen, vor jedem anderen aus meinem Volk.« »Sceat«, grollte er. »Woher wisst Ihr so viel über mich, wo ich noch nie von Euch gehört habe?« Sie lächelte grimmig. »Ihr glaubt, Ihr wisst alles über die Sefry, Aspar White? Das tut Ihr nicht, und über mich noch viel weniger. Wie gesagt, ich war fort. Dreißig Winter habe ich im Norden verbracht. Ich bin erst zurückgekommen, als ich gespürt habe, dass er erwacht.« »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Woher wisst Ihr so viel über mich?« »Ich habe Interesse an Euch, Aspar White«, erwiderte sie. »Das ist immer noch keine Antwort«, sagte er. »Ich habe wenig Geduld mit doppeldeutigem Sefry-Geschwätz.« Er kniff die Augen zusammen. »Jeder Sefry im ganzen Wald ist schon vor Monaten verschwunden. Wieso seid Ihr noch hier?« »Die anderen fliehen vor ihrer Pflicht«, sagte sie streng. »Ich nicht.« »Was ist das für eine Pflicht? Ich habe noch nie von einem Sef292 ry gehört, der jemand anderem als sich selbst verpflichtet gewesen wäre.« »Und ich fürchte, Ihr werdet fürs Erste unwissend bleiben«, erwiderte sie. »Werdet Ihr meines Schweigens wegen auf mich losgehen?« »Vielleicht. Euretwegen ist ein Freund von mir ums Leben gekommen.« »Der Menschling? Ich konnte nicht wissen, was geschehen würde - ich wollte nur sehen, was die Kirche tut. Er muss irgendwie empfänglich für die Schreine sein. War er ein Priester?«
»Ihr wisst also auch nicht alles.« »Nein, natürlich nicht. Aber wenn er ein Priester war und einen anderen Pfad der Schreine beschritten hat, vielleicht einen, der mit diesem hier verwandt ist, dann könnte das möglicherweise erklären -« »Wartet«, fiel Aspar ihr ins Wort, als plötzlich eine Erinnerung in ihm aufblitzte. »Dieser Sedos - ist das ein Teil desselben Schreinpfades wie der, zu dem Ihr uns geführt habt?« Sie zog eine Braue hoch. »Das scheint mir sehr wahrscheinlich. Die Mönche haben zuerst den Schrein dort gebaut, dann sind sie hierher gekommen.« »Und sind sie hier fertig geworden? Haben sie ihre Rituale vollendet?« Sie warf einen Blick auf die Leichen rings um den Hügel. »Ich denke schon«, sagte sie. »Aber ich bin ganz sicher nicht bewandert in solchen Dingen.« »Dann hole ich denjenigen, der darin bewandert ist«, erwiderte Aspar. Er wandte sich zum Gehen. »Wartet einen Moment, Waldhüter. Wir müssen uns immer noch unterhalten. Es scheint, als strebten wir nach demselben Ziel.« »Im Augenblick habe ich nur ein Ziel«, entgegnete Aspar, »und ich bezweifle sehr, dass es dasselbe ist wie das Eure.« »Dann gehe ich mit Euch.« Aspar antwortete nicht. Er suchte Unhold, stieg auf und ritt los, dorthin, wo er die anderen zurückgelassen hatte. 293 Doch die Sefry folgte ihm trotzdem. Er fand Ehawk, Winna und Stephen nicht weit von der Stelle entfernt, wo er sie verlassen hatte, nur war es ihnen irgendwie gelungen, Stephens leblosen Körper auf eine Eiseneiche hinaufzuschaffen, wo sie ihn sicher in eine Astgabel geklemmt hatten. Ehawk hielt seinen Bogen bereit. »Das sind sie«, sagte er, als er Aspar erblickte. »Das ist es, was im Duth ag Pae über uns hergefallen ist. Hört Ihr sie?« Das Lied der Slinderlinge hatte von neuem begonnen, wenn auch in weiter Ferne. »Ja«, sagte Aspar. »Aber ich glaube nicht, dass sie in unsere Richtung ziehen.« »Du hast sie gesehen?«, fragte Winna und schickte sich an herunterzuklettern. »Ja. Ich habe sie gesehen.« Winnas Füße kamen auf dem Boden auf, und sie rannte los, um sich in seine Arme zu werfen. »Wir dachten schon, sie hätten dich erwischt«, flüsterte sie an seinem Hals. Er spürte etwas Feuchtes. »Ist ja gut, Winna«, beschwichtigte er sie. »Ist ja gut.« Doch es fühlte sich schön an, nach diesen Tagen voller Spannungen und Streit. Dann jedoch erstarrte sie in seinen Armen. »Er ist hier«, sagte sie. »Hinter dir.« »Ja. Es ist nicht Fend.« Nichtsdestotrotz warf er Ehawk einen warnenden Blick zu. Der Junge nickte und blieb auf dem Baum, die Waffe schussbereit. »Nein?« Sie machte sich von ihm los, und sie sahen zu, wie die Sefry-Frau ins Lager geschlendert kam. Leshya warf einen Blick auf Winna, dann musterte sie Ehawk nachdenklich. »Die Eichhörnchen hier sind aber groß.« »Und gefährlich«, fügte Aspar hinzu. »Wer ist das?«, wollte Winna wissen. »Nur eine Sefry«, knurrte Aspar. »Genauso voll von Lügen und Scherereien wie alle anderen.« »Und sie kann für sich selbst sprechen«, sagte Leshya. Sie setz294 te sich auf einen umgestürzten Stamm, zog einen ihrer Schuhe aus, schüttelte ein Steinchen heraus und begann, ihren Fuß zu massieren. Winna beobachtete sie einen Moment lang und versuchte die neue Lage zu erfassen. »Unser Freund hat Euretwegen Schaden genommen«, sagte sie schließlich zornig. »Ihr habt uns -« »Ich habe gehört, er wäre tot«, unterbrach Leshya sie. »War diese Ansicht ein bisschen übertrieben?« »Vielleicht«, gab Aspar zu. »Wie?«, fragte Winna. »Du hast deine Meinung geändert?« Aspar streckte beschwichtigend die Hände aus. »Mach dir keine allzu großen Hoffnungen«, mahnte er. »Aber nach dem, was er erzählt hat, ist ihm so etwas schon einmal passiert. Als er den Pfad der Schreine des heiligen Wie-auch-immer beschritten hat.« »Decmanus.« »Genau. Er hat gesagt, er hätte überhaupt kein Gefühl mehr im Körper gehabt, hätte vergessen, wer er war, dass sogar sein Herz aufgehört hätte zu schlagen. Vielleicht ist jetzt wieder so etwas geschehen. Vielleicht muss er nur den Pfad vollenden.« Hoffnung leuchtete in Winnas Augen auf, dann wurden sie wieder trübe. »Wir verstehen nichts von solchen Dingen, Aspar. Das letzte Mal hat er es allein geschafft, weil die Heiligen es so wollten. Diesmal...« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die reglose Gestalt. »Du hast doch selbst gesagt, dass er noch nicht angefangen hat zu verfaulen.« »Aber ... nein, du hast Recht. Wir können nicht einfach gar nichts tun. Wir müssen es versuchen. Wir wissen
allerdings noch nicht einmal, wo der Rest des Pfades der Schreine ist.« »Wir wissen, wo ein Teil davon ist«, berichtigte Aspar. »Das ist schon mal ein Anfang.« »Überlegt Euch gut«, mischte Leshya sich ein, »ob irgendjemand - auch Euer Freund - einen Pfad der Schreine wie jenen beschreiten sollte, den die Kirche errichtet.« »Die Kirche?« Winna sah Aspar an. 295 »Ja«, bestätigte er. »Es waren Priester bei dem Sedos. Sie haben Menschen aufgeschlitzt und sie rundherum aufgehängt, so wie wir es schon öfter gesehen haben.« »Aber das waren doch Spendlove und seine Abtrünnigen«, wandte Winna ein. »Stephen hat gesagt, die Kirche hätte nichts von ihnen gewusst.« Leshya schnaubte. »Dann hat Euer Freund sich geirrt. Das ist keine kleine Renegatenbande. Glaubt Ihr, Spendlove und Fend haben allein gearbeitet? Sie sind nur eine Felszacke auf einem Berg.« »Ja«, sagte Aspar. »Und was wisst Ihr darüber? Wo finde ich Fend?« Er neigte den Kopf zur Seite. »Und Ihr wisst Bescheid über den Pfeil. Wie konntet Ihr davon wissen?« Sie verdrehte die Augen. »Ich habe gesehen, wie Ihr den Uttin erschossen habt. Ich habe seinen Leichnam untersucht. Den Rest habe ich entweder von Euch gehört, als ich Euch gefolgt bin, oder ich habe es erraten. Jemand von der Kirche hat ihn Euch gegeben, nicht wahr? Und Euch angewiesen, den Dornenkönig zu töten.« »Fend.« Aspar ließ sich nicht beirren. »Wo ist er?« »Ich weiß nicht, wo er zu finden ist«, antwortete sie. »Ich habe gehört, er sei in den Bairghs, als ich auf meinem Weg nach Süden dort durchgekommen bin. Es gab ein Gerücht, dass er zur Sarnwaldhexe unterwegs sei, aber wer weiß, ob das stimmt.« »Wie habt Ihr uns dann gefunden? Woher habt Ihr gewusst, wer wir waren?«, fragte Winna . »Ihr? Herzenskind, ich habe keine Ahnung, wer Ihr seid oder wer der Knabe da auf dem Baum ist. Aber Aspar White ist im ganzen Königswald gut bekannt.« »Aber vor dreißig Jahren war ich nicht gut bekannt«, wandte Aspar ein. »Wenn Ihr so lange nicht mehr hier gewesen seid, dann ist das eine gute Frage.« »Nein, das ist immer noch eine dumme Frage. Ich habe den Waldhüter des Königs gesucht, also habe ich herumgefragt, wer er sei und wie ich ihn finden könnte. Unter anderem habe ich von Eurem Kampf mit dem Gryffin gehört und dass Ihr der Erste gewesen wärt, der den Dornenkönig zu Gesicht bekommen hat. Es 296 hieß, Ihr wärt nach Eslen gezogen, also war ich unterwegs dorthin, um Euch zu finden. Vor ein paar Wochen war ich in Fellenbeth und habe erfahren, dass Ihr dort durchgekommen seid. Also bin ich Euch gefolgt.« »Habt Euch aber nicht die Mühe gemacht, Euch vorzustellen.« »Nein. Ich hatte von Euch gehört, aber ich kenne Euch nicht. Ich wollte, dass Ihr die Dinge seht, die ich gesehen hatte, und ich wollte abwarten, was Ihr tun würdet.« »Und jetzt seid Ihr unsere beste Freundin«, bemerkte Winna mit beißendem Spott. »Und nach all Eurer Hilfe mit dem Uttin und nachdem Ihr den armen Stephen geradewegs ins Verderben geführt habt, glaubt Ihr, wir seien die Euren.« Leshya lächelte. »Ihr mögt sie jung, nicht wahr, Waldhüter?« »Das ist genug«, sagte Aspar. »Mehr als genug. Was hat die Kirche mit alldem zu tun?« »Alles«, antwortete Leshya. »Ihr habt die Mönche doch gesehen.« »Aber nicht der Praifec«, stieß Winna wütend hervor. »Wenn er davon wüsste, warum sollte er -?« »- euch losschicken, um den einzigen Feind zu töten, der stark genug ist, um seine Pläne zu vereiteln?«, vollendete Leshya recht selbstgefällig ihren Satz. »Die Heiligen mögen es wissen.« »Wieso glaubt Ihr, dass der Dornenkönig gegen die Kirche ist und nicht für sie?« »Fragt Euren Geliebten.« Aspar wäre bei dem Wort beinahe zusammengezuckt, und als er sich zu Winna umdrehte, bemerkte er einen sonderbaren Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Was ist, Aspar?«, fragte sie. »Wir haben ihn gesehen«, berichtete er. »Die Slinderlinge - die Wesen, die Ehawk gesehen hat und die ihr gehört habt -, sie waren ihm zu Diensten. Sie haben die Priester getötet, und sie hätten auch uns umgebracht, aber er hat sie davon abgehalten.« »Dann ist der Dornenkönig gut?« »Gut? Nein. Aber er kämpft für den Wald. Die Dornen, die ihm 297 folgen - sie versuchen, ihn zu zerstören, ihn zu Boden zu reißen, wie sie es mit den Bäumen machen. Der Gryffin war nicht sein Diener - er war sein Feind.« »Dann ist er gut«, beharrte Winna. »Er kämpft für den Wald, Winna. Aber er ist nicht unser Freund, kein Freund der Menschen.« »Trotzdem, du hast ihn nicht getötet«, wandte sie ein. »Du sagst, du hast es nicht einmal versucht.« »Nein. Ich weiß nicht genau, was hier vorgeht. Ich kann diesen Pfeil nur noch ein einziges Mal verwenden - falls der Praifec nicht gelogen hat, was das angeht -, und ich will ihn nicht für das falsche Ziel benutzen, wenn du
verstehst, was ich meine.« Winna warf Leshya einen scharfen Blick zu. »Dann haben wir also keine Ahnung, wem wir trauen können?« »Werlic.« »Und was machen wir jetzt? Der Praifec hat uns hergeschickt, um den Dornenkönig zu töten. Du hast es nicht getan. Was machen wir jetzt?« »Wir bringen Stephen zu dem Sedos und sehen, was passiert. Danach überlegen wir uns, wer uns etwas vorlügt, der Praifec« - er sah Leshya direkt in die Augen - »oder Ihr.« Die Sefry lächelte nur und zog ihren Schuh wieder an. 24. Kapitel Die dritte Glaubende Es gelang Anne, aufs Deck hinauszukriechen, ehe ihr wieder schlecht wurde. Sie schaffte es sogar bis zur Steuerbordreling, und dort verkrampfte sich ihr ganzer Körper, und sie übergab sich, bis sie glaubte, es würde ihr gleich die Brust zerreißen. Dann glitt sie zitternd aufs Deck und lag schluchzend da. 298 Es war Nacht, und wenn auch das Schiff nicht still war, so war es doch der Wind. Sie hörte einen Matrosen kurz auflachen und einen anderen, der ihn ermahnte, den Mund zu halten. Es war ihr gleich. Alles war ihr gleich. Sie wünschte sich, sie könnte einfach sterben und es hinter sich bringen. Sie hatte es verdient. Sie hatte Sir Neil getötet, so sicher, als hätte sie ihn selbst ins Meer gestoßen. Er war durch die halbe Welt gereist und hatte sie gerettet - hatte sie alle gerettet -, und alles, was sie hatte tun können, war zuzusehen, wie die See über seinem Kopf zusammenschlug. Auch wenn sie ewig leben würde, würde sie niemals den Blick in seinen Augen vergessen, das Wissen, hintergangen worden zu sein. Sie holte tief und zitternd Atem. Hier draußen an der Luft war es besser. Wenn sie nach unten ging, in die winzige Kajüte, die sie sich mit Austra teilte, drehte sich alles. Zwei Tage ging das nun schon so. Sie konnte überhaupt nichts bei sich behalten, und Wein machte es nur schlimmer, selbst wenn er mit Wasser verdünnt war. Sie drehte sich auf den Rücken und blickte zu den Sternen hinauf. Die Sterne starrten zurück. Ebenso ein orangefarbener Halbmond, der ihr irgendwie viel zu hell vorkam. Wieder begann sie Übelkeit zu verspüren. Sie heftete den Blick auf den Mond, versuchte das Schwanken zu verdrängen, sich auf etwas jenseits davon zu konzentrieren. Aus den dunklen Flecken spann sie Bilder, erschuf Landkarten und bemerkte sonderbare Muster, die nichts ergaben, was sie jemals gesehen hatte, jedoch trotzdem eine Bedeutung zu haben schienen. Die Bewegungen des Schiffes verblassten allmählich, und das Licht des Mondes wechselte von Orange zu Gelb und dann - als er direkt über ihr hing - zu leuchtendem Silber. Mit einer leisen Regung war das Schiff ganz und gar verschwunden. Anne sah sich um, diesmal nur halb überrascht, sich in einem noch immer vom Mondlicht übergossenen Wald wieder zu finden. 299 Sie stand ein wenig zittrig auf. »Hallo?«, sagte sie. Es kam keine Antwort. Zweimal war sie schon an diesem Ort gewesen. Das erste Mal zwangsweise - sie war von einer seltsamen maskierten Frau von der Geburtstagsfeier ihrer Schwester weggerissen worden. Das zweite Mal war sie irgendwie selbst hergekommen, hatte versucht, der Dunkelheit der Höhle zu entfliehen, wo sie von den Schwestern der heiligen Cer eingesperrt worden war. Diesmal war sie sich nicht sicher, ob sie gerufen worden oder freiwillig gekommen war, oder irgendetwas dazwischen. Doch es war Nacht, während es vorher immer hell gewesen war. Und es war niemand hier - keine fremdartigen maskierten Frauen, die in rätselhafter Weise davon sprachen, dass sie Königin werden müsse, oder die ganze Welt würde untergehen. Vielleicht wussten sie ja gar nicht, dass sie hier war. Eine Wolke zog vor dem Mond vorbei, und die Schatten in den Bäumen wurden tiefer, schienen zu ihr herabzusinken. Das war der Augenblick, als ihr wieder einfiel, dass es an diesem Ort keine Schatten gab, zumindest nicht unter der Sonne. Warum sollte es dann nachts welche geben? Allmählich begann sie zu glauben, dass sie gar nicht am selben Ort war. Und langsam ging ihr auf, dass sie sich auch in anderer Hinsicht geirrt hatte. Es war doch jemand hier, jemand, den ihre Augen hartnäckig mieden, den sie nicht direkt ansehen konnte. Sie strengte sich noch mehr an, doch jedes Mal, wenn sie sich in eine Richtung drehte, stellte sie fest, dass sie in eine ganz andere blickte, sodass der hoch gewachsene Schatten stets am Rand ihres Blickfeldes blieb. Ein leises Lachen berührte ihre Ohren. Ein Mann. »Was ist denn das?«, fragte eine Stimme. »Ist das etwa eine Königin, die mich besuchen will?« Anne merkte, dass sie zitterte. Er bewegte sich, und sie knirschte mit den Zähnen, als sich ihr Kopf unwillkürlich drehte, sodass sie ihn nicht sehen konnte. »Ich bin keine Königin«, sagte sie. 300 »Keine Königin?«, wiederholte er. »Unsinn. Ich sehe die Krone auf deinem Haupt und das Zepter in deiner Hand. Haben die Glaubenden dir das nicht gesagt?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, erwiderte Anne. »Ich kenne keine Glaubenden.« Doch ihr war klar, dass sie log. Die Frauen, denen sie hier begegnet war, hatten niemals ihre Namen genannt, doch diese Bezeichnung schien irgendwie sehr passend. Auch er wusste es. »Vielleicht kennst du ihren Namen nicht«, schnurrte die Stimme wie ein Widerhall ihrer Gedanken. Die Schatten drängten näher heran. »Man kennt sie unter vielen Namen: Hagautsin, Vatheis, Suesori, Heckenmumen - die Schattenlosen. Es ist ohne Bedeutung, wie man sie nennt. Sie sind aufdringliche Hexen, die nicht einmal annähernd so viel Weisheit und Macht haben, wie sie vorgeben.« »Und Ihr? Wer seid Ihr?« Anne versuchte selbstbewusst zu klingen. »Jemand, den sie fürchten. Jemand, vor dem du sie, wie sie glauben, beschützen kannst. Aber das kannst du nicht.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Anne. »Ich will nur nach Hause.« »Damit du gekrönt werden kannst? Damit du das werden kannst, was die Glaubenden vorhergesagt haben?« »Ich will nicht Königin werden«, erwiderte Anne wahrheitsgemäß und wich immer weiter zurück. Ihre Angst war wie eine leuchtende Schnur, die ihr Herz umschloss, doch sie griff nach der Macht, die sie in z'Espino entfesselt hatte. Sie fühlte sie dort beben, bereit, doch als sie sich nach dem Schatten ausstreckte, war dort kein Fleisch, kein Blut, kein klopfendes Herz. Nichts, worauf sie einwirken könnte. Und doch war da etwas, und dieses Etwas kam plötzlich herbei, raste über die Wiese, nicht aus einer Richtung, sondern aus allen, eine Schlinge aus Dunkelheit, die sich ruckartig zuzog. Zitternd ballte sie die Fäuste und hob das Gesicht zum Mond, das Einzige, was ihr Körper ihr anzusehen gestattete. Dann durchzuckte sie Licht, und das, was in ihr war, wurde vollkommen anders, und sie fühlte sich wie Marmor, wie leuch301 tender Stein, und die Dunkelheit war eine Welle kalten Wassers die um sie herumbrandete und verschwand. »Ah«, sagte die Stimme, die schwächer wurde. »Du lernst immer weiter. Aber das tue ich auch. Lass dir dein Leben nicht zu teuer werden, Anne Dare. Es wird dir nicht lange gehören.« Dann waren die Schatten fort, und die Lichtung war von vollkommenem Mondlicht erfüllt. »Er hat Recht«, sagte eine Frauenstimme. »Du lernst wahrhaftig. Der Mond hat mannigfaltigere Mächte als die Finsternis.« Anne drehte sich um, doch es war keine der Frauen, die sie bisher gesehen hatte. Diese hatte Haar, das so silbrig war wie das Mondlicht, und sehr blasse Haut. Sie trug ein schwarzes Kleid, auf dem hier und dort Edelsteine blitzten, und eine Maske aus schwarzem Elfenbein, die ihren Mund frei ließ. »Wie viele von Euch gibt es?«, wollte Anne wissen. »Es gibt vier«, antwortete die Frau. »Du hast zwei meiner Schwestern kennen gelernt.« »Die Glaubenden.« »Er hat dir nur ein paar wenige unserer Namen genannt.« »Ich habe bisher noch nie von Euch gehört, mit keinerlei Namen.« »Es ist lange her, dass wir auf der Welt gewandelt sind. Die meisten haben uns vergessen.« »Wer war das? Wer war er?« »Er ist der Feind.« »Der Dornenkönig?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Der Dornenkönig ist nicht der Feind, obgleich viele durch seine Hand umkommen werden. Der Dornenkönig ist Teil dessen, wie die Dinge waren, und dessen, wie sie sind. Der, mit dem du gesprochen hast, ist das nicht.« »Und wer war er dann?« »Wir kennen seinen sterblichen Namen nicht. Aber die Möglichkeit seines Seins trifft schon seit Jahrtausenden ein.« Anne schloss die Augen; Zorn wallte in ihrer Brust empor. »Ihr seid genauso nutzlos wie Eure Schwestern.« 302 »Wir versuchen zu helfen, aber uns werden von unserer Natur Grenzen gesetzt.« »Ja, zumindest das hat Eure Schwester erklärt«, entgegnete Anne. »Aber ich fand das genauso wenig hilfreich wie alles andere, was irgendeine von Euch zu mir gesagt hat.« »Alles hat seine Zeit, Anne. Der Mond durchläuft jeden Monat seinen Zyklus, und jedes Jahr bringt Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Doch die Welt hat größere Kreisläufe, mächtigere Gezeiten. Blumen, die im Prismen blühen, schlummern im Novmen. So ist es gewesen, seit die Welt jung war. Und doch wurde, als diese Jahreszeit das letzte Mal heraufzog, der Kreislauf selbst beinahe zerstört, ein Gleichgewicht ging verloren. Das Rad knarrt auf gesplitterter Achse, und Möglichkeiten bestehen, die es noch nie zuvor gegeben hat. Eine jener Möglichkeiten ist er. Keine Person zuerst, bloß ein Ort, ein Thron, wenn du so willst, noch niemals erstiegen, doch er wartet darauf, besetzt zu werden. Und jetzt ist jemand gekommen, um darauf zu sitzen. Doch wir kennen ihn noch nicht - wir sehen nur, was du gesehen hast, seinen Schatten.« »Steckt er hinter den Morden an meinem Vater und meinen Schwestern? Hat er die Ritter zu dem Konvent geschickt?« »Letzten Endes, möglicherweise. Ganz gewiss will er dich tot sehen.«
»Aber warum?« »Er will nicht, dass du Königin wirst.« »Warum?«, wiederholte Anne. »Wieso bin ich eine Bedrohung für ihn?« »Weil es jetzt zwei Throne gibt«, antwortete die Glaubende leise. »Zwei.« Anne erwachte an Deck des Schiffes. Jemand hatte eine Decke über sie gebreitet. Einen Augenblick lang lag sie still da; sie fürchtete, die Seekrankheit würde zurückkehren, wenn sie sich aufrichtete, doch gleich darauf wurde ihr bewusst, dass es ihr gut ging. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. Es war Morgen, die Sonne lugte gerade über den blauen Horizont. Austra stand ein 303 paar Ellen entfernt an der Reling und unterhielt sich leise mit Cazio. Sie lächelte, und als Cazio die Hand ausstreckte und die ihre berührte, färbte sich ihr Gesicht rosig. Dummes Mädchen, dachte Anne verärgert. Sieht sie denn nicht, dass keine aufrichtige Liebe in ihm ist? Er ist nur ein Knabe, der Spielchen spielt. Doch warum sollte Austras Dummheit ihr etwas ausmachen? Immerhin würde er sie vielleicht in Ruhe lassen, wenn er sich auf Austra konzentrierte. Das wäre gewiss am besten. Trotzdem, Austra war ihre Freundin, und sie musste auf sie Acht geben. Also zog sie sich an der Reling hoch und kam auf die Beine. Die Übelkeit kehrte nicht zurück. Sie fühlte sich wohl, zumindest körperlich. »Ah, sie lebt doch noch«, sagte Cazio und warf einen Blick in ihre Richtung. Austra fuhr schuldbewusst zusammen und errötete noch mehr. Jäh fragte sich Anne, ob dies hier vielleicht über ein bisschen Händchenhalten hinausgegangen war. Vielleicht, während ihr schlecht gewesen war, während sie geschlafen hatte? »Geht es dir besser?«, fragte Austra. »Du warst nicht in deinem Bett, und ich konnte dich nicht finden. Ich dachte schon, du wärst über Bord gefallen. Schließlich habe ich dich hier schlafen sehen und eine Decke geholt, um dich warm zu halten.« »Das war nett von dir«, antwortete Anne. »Hier draußen war mir nicht so übel. Und jetzt geht es mir viel besser.« »Das ist gut«, sagte Cazio. »Ihr wart ein wenig langweilig.« »Dann passen wir ja bestens zusammen«, entgegnete Anne. Cazio öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch irgendetwas hinter ihr erregte seine Aufmerksamkeit, und er runzelte die Stirn. Sie drehte sich um. Als sie sah, dass es Kapitän Malconio war, spannte sich ihr Kiefer an. »Nun«, sagte er, »Ihr scheint Euch besser zu fühlen. Die Toten sind auferstanden.« 304 »Nicht alle«, erwiderte Anne kalt. »Ein paar sind immer noch ausgesprochen tot.« In Malconios Augen blitzte etwas auf, Zorn oder Verdruss, es war schwer zu sagen. »Casnara, es tut mir Leid, dass Ihr dort im Hafen einen Freund verloren habt. Aber ich bin nicht angeheuert worden, um eine Schlacht zu schlagen, sondern nur, um Euch diese Überfahrt zu gewähren.« Er richtete den Blick auf Cazio, und ihre Unsicherheit hinsichtlich seiner Stimmung verflog. Malconio war zornig, und er war schon zornig gewesen, ehe sie etwas gesagt hatte. »Tatsächlich«, fuhr der Kapitän fort, »wurde mir die Tatsache verschwiegen, dass das Ganze mit irgendwelchen Gefahren verbunden war.« »Selbstverständlich«, entgegnete Cazio. »Ich bin klug genug, mich weder auf Ehre noch auf Tapferkeit zu verlassen, wenn es um dich geht, Malconio.« Der Kapitän schnaubte. »Und ich bin meinerseits klug genug, bei dir nicht mit Vernunft, Urteilsvermögen oder Dankbarkeit zu rechnen. Oder bei deinen Freunden, wie ich sehe. Wenn wir noch einen Augenblick länger mit dem Ablegen gewartet hätten, wäre mein Schiff überrannt worden. Selbst wenn wir nicht alle getötet worden wären, hätten wir zwei Wochen am Kai festgesessen, bis die Formalitäten geregelt gewesen wären. Soweit ich sehen kann, habe ich euch allen das Leben gerettet, und jetzt überlege ich, warum ich euch nicht über Bord werfen soll.« »Weil ich«, sagte Cazio, »Caspator mit deiner Gurgel bekannt mache, wenn du es versuchst.« »Du machst mir die Entscheidung leichter, Cazio.« »Ach, bei Diuvo, hört auf, ihr zwei«, krächzte z'Acatto, der um den Baum des Großsegels herumgehinkt kam. »Keiner von euch beiden könnte Hand an den anderen legen, und das wisst ihr ganz genau, also verschont uns mit diesen kindischen Drohungen.« Malconio bedachte den Fechtmeister mit einem Nicken. »Wie hast du ihn bloß all die Jahre ertragen?« »Indem ich ständig betrunken war«, erwiderte z'Acatto. »Aber 305 wenn ich es mit euch beiden zu tun gehabt hätte, hätte ich mir was Stärkeres zu trinken suchen müssen. Wobei mir einfällt - ist noch etwas von diesem galleanischen Zeug da?« »Ihr kennt euch bereits?«, staunte Austra, deren Blick von z'Acatto zu dem Kapitän und dann zu Cazio huschte.
»Kaum«, knurrte z'Acatto. »Aber sie sind Brüder.« »Brüder?« Austra schnappte nach Luft. Anne teilte Austras Überraschung, doch jetzt sah sie die Ähnlichkeit. »Mein Bruder würde niemals die Familienehre preisgeben«, sagte Cazio höhnisch. »Inwiefern habe ich die Familienehre preisgegeben?«, wollte Malconio wissen. »Indem ich dir diesen verrottenden Kasten von einem Haus überlassen habe?« »Du hast das Landgut verscherbelt, um dir ein Schiff zu kaufen«, sagte Cazio. »Land, das seit der Herrschaft der Hegemonie unserer Familie gehört hat. Du hast es für das hier verkauft.« Mit einer Handbewegung deutete er auf das Schiff. »Das Land hat keinen Profit abgeworfen, Cazio, und zwar schon seit einer ganzen Generation nicht mehr. Und ich hatte auch keine Lust, in Avella herumzufaulenzen und Duelle anzuzetteln, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen - diese Rolle hast du hinlänglich ausgefüllt. Ich habe es als Kaufmann zu etwas gebracht. Mir gehören vier Schiffe, und bald werde ich meine eigenen Landgüter besitzen. Du klammerst dich an die Vergangenheit der Chiovattios, Bruder. Ich stehe für unsere Zukunft.« »Das ist eine hübsche Rede«, gab Cazio zu. »Übst du die vor dem Spiegel?« Malconio setzte zu einer Antwort an, verdrehte die Augen, stemmte die Hände in die Hüften und lächelte Anne spöttisch zu. »Heiratet ihn, und macht ihm das Leben zur Hölle, ich bitte Euch«, sagte er. Anne richtete sich zu voller Größe auf. »Ihr maßt Euch viel zu viel an«, erwiderte sie, »auch im Scherz. Was das betrifft, seid Ihr genau wie Euer Bruder, wenn Ihr ihm auch sonst nicht gleicht.« 306 »Diuvo sei Dank, dass das alles ist.« »Ihr könntet Euch glücklich schätzen, wenn Ihr so wärt wie Euer Bruder«, platzte Austra heraus. »Er ist ein tapferer Kämpfer. Wir wären zehnmal getötet worden, wenn er nicht gewesen wäre.« »Und wenn ich nicht gewesen wäre«, entgegnete Malconio, »wärt ihr nur einmal getötet worden, was, wie ich meine, wohl ausgereicht hätte.« Cazio hob den Finger und schien im Begriff, etwas beizutragen, doch sein Bruder winkte ab. »Z'Acatto hat Recht - das ist sinnlos. Ich hätte es besser wissen müssen, als meinen Bruder und seine Freunde an Bord zu nehmen, aber jetzt habe ich es eben getan. Passiert ist passiert, also, um zur Sache zu kommen - wer waren diese Männer, die euch verfolgt haben?« »Ich dachte, Ihr seid lediglich dafür zuständig, uns die Überfahrt zu gewähren«, bemerkte Anne. »Wieso diese plötzliche Neugier, was unsere Feinde angeht?« »Aus zweierlei Gründen, Casnara. Erstens bin ich für sie jetzt mit Euch im Bunde. Ich habe einen Gegner, den ich mir nicht zum Feind machen wollte. Zweitens werden wir gegenwärtig von einem ziemlich schnellen Schiff verfolgt, und ich hege den dringenden Verdacht, dass sich Eure Freunde vom Kai von z'Espino darauf befinden.« 25. Kapitel Alis Berrye Majestät?« Muriele blickte auf. Es war der junge Soldat, den Sir Fail in ihrem Vorzimmer hatte Posten beziehen lassen. »Was ist?«, fragte sie. 3°7 »Jemand klopft und begehrt Einlass.« Muriele rieb sich die Augen. Sie hatte nichts gehört. »Seht nach, wer es ist.« »Jawohl, Majestät.« Er verschwand in ihr Audienzgemach, während sie nervös die Geheimtür anstarrte. Obgleich klar zu sein schien, dass der Attentäter durch die Vordertür eingedrungen war, war sie sich weniger sicher, ob er auch auf diesem Wege wieder verschwunden war. Die Tür war unsichtbar, wenn man nicht wusste, dass sie da war, doch wenn man genug Zeit hatte und wusste, dass es sie gab, könnte man den Riegel gewiss finden. Bis sie sicher war, dass er nicht mehr da war, sich nicht in den Mauern versteckte, würde sie sich ganz allein niemals wirklich wohl fühlen. Der Soldat kam zurück. »Es ist Praifec Hespero, Majestät.« »Ist er allein?« »Ja, Majestät.« »Wohlan.« Sie seufzte. »Lasst ihn herein.« Kurz darauf betrat der dunkel gewandete Praifec ihre Gemächer und verbeugte sich. »Majestät«, sagte er. Muriele hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass an dem Praifec irgendetwas fehlte, doch sie hatte nie sagen können, was. Er hatte Verstand, gewiss, sogar Leidenschaft, wenn es um Angelegenheiten des Staates und der Religion ging. Er war beredt, beinahe schon glattzüngig. Und doch kam es ihr so vor - selbst in den hitzigsten Streitgesprächen -, als sei er nicht ganz anwesend, dass es irgendeine grundlegende Eigenschaft gab, die er nur vortäuschte, die er eigentlich gar nicht besaß. Vielleicht lag es einfach nur daran, beschloss sie, dass sie ihn nicht mochte. »Welchem Umstand verdanke ich diesen Besuch, Praifec?«, erkundigte sie sich. »Meiner natürlichen Sorge um Euer Wohlergehen«, antwortete er. Sie hob eine Braue. »Bitte erklärt Euch näher.«
»Ich denke, das müsste offensichtlich sein«, sagte er. »Mitten in 308 der Nacht kommen plötzlich Sir Fail und seine Wachen in die königlichen Gemächer marschiert. Seine Majestät König Charles wird ebenfalls unter lierische Bewachung gestellt. Die Handwerksmeister geraten in Aufruhr, und im ganzen Schloss herrscht Unordnung.« Muriele zuckte die Achseln. »Jemand hat versucht, mich umzubringen, Praifec. Unter solchen Umständen ist Unordnung nur natürlich. Was sollte ich Eurer Meinung nach tun?« »Jemand hat versucht, Euch zu töten?« Seine Verblüffung schien ebenso echt zu sein wie seine Betroffenheit. »Wenn es ihnen nicht in Wirklichkeit darum ging, meine kleine Zofe und meine "Wache niederzumetzeln, müsste ich davon ausgehen«, erwiderte Muriele. »Das ist ja furchtbar. Wie haben sie das gemacht?« Sie lächelte grimmig. »Wie damals, als die Männer der Kirche meine Töchter getötet haben, scheint niemand es zu wissen.« Der Mund des Praifec öffnete sich zu einem kleinen o, dann schloss er ihn wieder, ehe er zu sprechen begann. »Majestät, wenn Ihr andeuten wollt, dass die Kirche hier ihre Hand im Spiel hatte, so vergebe ich Euch. Ganz offensichtlich hat die Aufregung Euer Urteilsvermögen getrübt.« »Wie dem auch sei, dies hier trägt den gleichen Gestank an sich«, entgegnete Muriele. »Bruder Desmond und seine Männer waren Abtrünnige«, erinnerte Hespero sie. »Schlimmer noch, sie waren Ketzer, die die verbotenen Künste betrieben haben.« »Nachträglich betrachtet, ja«, stimmte Muriele zu. »Aber ich habe mir die Freiheit genommen, die Dokumente des Klosters d'Ef zu überprüfen, und habe herausgefunden, dass er und seine Männer bis unmittelbar vor ihrem Tode vertrauenswürdige Kirchenmitglieder waren.« »Ehrlich gesagt, ich glaube, man hat Bruder Desmond wohl nicht gerade für geheiligt gehalten, als er den Fratrex seines Ordens ermordet hat«, meinte Hespero sarkastisch. »Als Möglichkeit ist das Böse überall vorhanden, sogar in der Kirche. Das be309 streite ich nicht. Die Morde an Euren Kindern - und die Methoden, die angewendet wurden, um sie zu begehen haben dafür gesorgt, dass wir erneut auf diese simple, jedoch missachtete Wahrheit aufmerksam geworden sind. Wir haben mit der ernsthaftesten Untersuchung unserer verschiedenen Orden seit der Hegemonie begonnen, eine Suche, die beim Fratrex Prismo höchstselbst ihren Anfang nimmt und bis zum niedersten Frater und dem fernsten Sacritor hinunterreichen wird. Wenn Ihr irgendeinen Beweis dafür habt, dass der heutige Anschlag auf Euer Leben mit einem Mann der Kirche in Verbindung steht, so bin ich gezwungen zu fragen, worin dieser besteht.« »Es gibt keinen«, gab Muriele zu. »Ich verstehe«, sagte der Praifec. »Und was weiß man bislang?« »Dass jemand die Wache vor meiner Tür mit einem Messer umgebracht hat. Dass er danach in meine Gemächer eingedrungen ist und meine Zofe auf die gleiche Weise getötet hat.« »Aber Ihr seid entkommen.« »Ich war nicht hier«, erwiderte Muriele. »Das war ein großes Glück«, bemerkte der Praifec. »Ja, das stimmt«, sagte Muriele müde. »Praifec, wieso seid Ihr hier?« Beide Augenbrauen hoben sich verblüfft. »Um Euch meine Unterstützung und meinen Rat anzubieten.« »Was für ein Rat ist das?« »Majestät, ich muss offen sprechen. Wenngleich ich jetzt verstehe, dass Euer Handeln eine Folge von Furcht und Verzweiflung war - und daher vielleicht in gewisser Weise gerechtfertigt ist -, so hat es doch Aufruhr ausgelöst. Gerüchte machen zuhauf die Runde. Manche besagen, dies wäre eine Art lierischer Staatsstreich, dass Ihr gezwungen wurdet - oder noch schlimmer, selbst beschlossen habt -, das Königreich mit Gewalt an Euch zu reißen.« »Darf ich Euch daran erinnern, Praifec, dass das Reich mir bereits gehört?« »Das tut es nicht, Majestät«, widersprach der Praifec mit einer Sanftheit, die übertrieben wirkte. »Es gehört Eurem Sohn, und er 310 ist ein Dare, kein de Liery. Ihr habt keinerlei Anspruch auf den Thron.« »Nun denn«, erwiderte Muriele, »lasst auch mich aufrichtig sein. Irgendwie ist ein Meuchelmörder an den berühmten Handwerksmeistern vorbeigekommen oder hat sie umgehen können, ist in meine Gemächer eingedrungen, hat meine Zofe getötet und hätte mich umgebracht, wenn ich das Pech gehabt hätte, hier zu sein. Seit Cal Azroth ist es mir schwer gefallen, rückhaltloses Vertrauen in die königliche Wache zu setzen, und jetzt ist es mir unmöglich geworden. Ich vertraue Sir Fail de Liery, und ich vertraue seinen Männern. Ich traue niemandem sonst in diesem Schloss, und das sollte ich auch nicht, wie Ihr ruhig wissen könnt. Also schütze ich mein Leben, das Leben meines Sohnes und den Thron meines Sohnes, so gut ich kann. Falls Euch etwas Besseres einfällt, so teilt es mir bitte mit.« Hespero rieb sich die Stirn. »Ihr seid keine Närrin, Majestät. Euch muss doch klar sein, was für Auswirkungen
dies hat. Was immer Ihr in Wahrheit tut, wenn Hansa den Eindruck bekommt, dass Ihr hier eine Art lierische Regentschaft errichtet, dann werden sie ihre Armeen schicken. Ich und der Praifec von Hansa haben uns bemüht, diesen Krieg zu verhindern. Wenn Ihr auf diesem Pfad weiter voranschreitet, werden wir scheitern.« Sie sah ihn eindringlich an. »Dann sagt mir, was ich tun soll, Praifec.« Er blieb einen Augenblick lang stumm. Dann räusperte er sich zögernd. »Nun, es gibt hier einen Präzedenzfall«, sagte er schließlich. »Welchen Präzedenzfall meint Ihr?« »Vor dreihundert Jahren regierte Liery den größten Teil von Crothenien, kontrollierte jedoch lediglich den westlichen Teil - im östlichen herrschte verhältnismäßige Ordnungslosigkeit, bis er an Virgenya abgetreten wurde.« »Ja. Die Lords von Liery hatten nicht die nötige Stärke, um das Gebiet zu kontrollieren, und zogen es vor, es unter virgenyanischer Herrschaft zu wissen statt unter hansischer.« 311 »Ja«, pflichtete der Praifec ihr bei, »die Feindschaft zwischen Liery und Hansa ist tief verwurzelt, sie geht zurück bis zu den Tagen der Hegemonie, vielleicht sogar noch weiter, zu der Zeit, als sie Stämme waren, die sich befehdeten. Auf jeden Fall, während die Kirche die rechtmäßige Abtretung und die Heirat, die sie besiegelte, anerkannte, war Hansa das stärkere Reich und schickte sich an, Ostcrothenien mit Gewalt zu erobern. Oder es zurückzuerobern, wie sie es vielleicht ausdrücken würden, da es ursprünglich Stämme aus Hansa gewesen waren, die in dieser Region die Vorherrschaft der Hegemonie gebrochen hatten.« »Ich verstehe.« Muriele versteifte sich. »Ihr schlagt vor, dass ich einem Pax sacer zustimme.« Der Praifec nickte. »So wie es damals getan wurde. Seine Eminenz, der Fratrex Prismo, könnte dazu überredet werden, Truppen zur Verfügung zu stellen, um den Frieden zu sichern und den Verdacht zu zerstreuen, dass Ihr irgendeine Seite begünstigt.« »Und fünfzig Jahre später hat Hansa ganz Crothenien erobert, den Osten und den Westen.« »Das stimmt, aber erst, nachdem der Pax nicht mehr gültig war.« »Euer Vorschlag ist also, dass ich zulasse, dass diese Stadt durch Truppen aus Vitellio besetzt wird.« »Aus z'Irbina«, verbesserte Hespero. »Die Soldaten Seiner Heiligkeit, des Fratrex Prismo. Nur bis die Situation hier auf friedliche Weise geregelt worden ist. Das ist das Beste, Majestät. Hansa wird es niemals wagen, sich gegen die Kirche zu stellen. Der Frieden bliebe erhalten, Tausende von Menschenleben würden gerettet.« Muriele schloss die Augen. Es war verlockend. Wenn sie der Kirche die Herrschaft überließ, könnte sie sich ausruhen. Sie könnte ihre Aufmerksamkeit darauf richten, die Kinder zu schützen, die ihr geblieben waren. »Die Kirche hat seit dreihundert Jahren nicht mehr Partei für ein Land ergriffen«, sagte sie. »Wieso jetzt?« »Gewiss versteht Ihr, Majestät, dass dies weit über die Frage hinausgeht, wer in einem Jahr auf dem Thron von Crothenien sitzen 312 wird. Ein großes Übel hat sich in der Welt erhoben, ein Übel, das wir nicht verstehen, das wir jedoch nicht unbeachtet lassen können. Habt Ihr die letzten Berichte von Herzog Artwair aus dem Osten gelesen? Die Hälfte seiner Männer wurde von Feinden niedergemacht, die man nur als Horden nackter Verrückter bezeichnen kann, von Dämonen und Ungeheuern, wie sie die Welt seit den Magierkriegen nicht mehr gesehen hat. Ganze Städte sind verwüstet worden, und der Osten wird entvölkert. Eslen birst fast vor Flüchtlingen, und immer noch verlieren wir an Boden. Aber es sind nicht nur die Grenzen - Broogh lag mitten im Herzen von Neuland und wurde von einer ruchlosen Kreatur zerstört, von der keiner von uns gedacht hätte, dass es sie noch gäbe. Jetzt ist es an der Zeit für die Reiche, sich zu vereinen, nicht, sich zu entzweien. Wir müssen gemeinsam dieser finsteren Flut, die sich erhebt, die Stirn bieten. Das ist es, was ich Euch anbiete: nicht nur die Möglichkeit, diesen irdischen Thron zu retten, sondern es uns allen zu ermöglichen, den wahren Feind zu bekämpfen - zusammen.« »Unter zTrbinas Führung.« Hespero fingerte an seinem Bart herum. »Der Grund, weshalb wir in den weltlichen Zwistigkeiten der Reiche keine Partei ergreifen, Majestät, ist, dass wir eine höhere Berufung haben. Virgenya Dare hat unsere Welt von jenem ersten Übel gesäubert, von den Skasloi. Und doch scheint es, dass das Übel, ganz gleich wie gründlich und sorgfältig es auch ausgerottet wird, doch stets in neuer Gestalt zurückkehrt. Es ist die Kirche, die Virgenya Dares Nachfolge angetreten und ihre Mission auf sich genommen hat. Als der Schwarze Narr an die Macht kam, wurde er unter Führung der Kirche niedergerungen.« »Ja. Und dann hat die Kirche sechshundert Jahre lang über den größten Teil der bekannten Welt geherrscht.« »Das war ein goldenes Zeitalter.« Hespero runzelte angesichts ihres Tonfalls die Stirn. »Der vollkommenste Frieden und Wohlstand, den Everon je gekannt hat.« »Ihr wollt zu diesem Zeitalter zurückkehren?« 313 »Es wäre nicht das Schlechteste, doch auf ein solches Ergebnis will ich nicht hinaus. Was ich sage, ist, dass wir geeint werden müssen, und zwar nicht durch Krieg und Eroberung. Wir brauchen eine Reinigung, ein Resacaratum, das uns auf die kommende große Prüfung vorbereitet. Das Resacaratum hat bereits begonnen Majestät, innerhalb der Kirche selbst, aber es muss - es wird - darüber hinausgehen.«
»Ihr fordert mich auf, ohne Gegenwehr eine Armee durch meine Tore marschieren und mein Land besetzen zu lassen.« »Im heiligen Auftrag, Majestät. Um den Frieden und die Gerechtigkeit zu bringen, deren Crothenien so verzweifelt bedarf.« »Was ist, wenn ich mich weigere?« Hesperos Gesicht schien ein wenig zu verfallen. »Dann versetz Ihr uns allen einen Todesstoß, Majestät«, antwortete er. »Aber wir werden geeint sein - irgendwie werden wir diese Übel bekämpfen Ich biete die beste Vorgehensweise an, nicht die einzige.« »Schlagt eine andere vor«, forderte sie ihn heraus. Er schüttelte den Kopf, und seine Augen glitzerten sonderbar »Dazu sollte es nicht kommen. Bitte, Majestät - werdet Ihr mein Worte wenigstens bedenken?« »Gewiss, Praifec«, versicherte sie ihm. »Es sind weise Worte, und dies sind gewichtige Angelegenheiten, und ich bin müde. Wir werden bald wieder darüber sprechen. Seid darauf vorbereitet, mir genauer zu erläutern, wie Euer Plan in die Tat umgesetzt werden würde.« »Ich bete, dass die Heiligen Euch ihre Eingebung senden mögen, Majestät.« Er verbeugte sich und ging, und Muriele blieb mit dem deutlichen Eindruck zurück, dass sie gerade bedroht worden war. Hespero schien aufrichtig, und er sagte die Wahrheit - etwas Schreckliches ging in der Welt vor, und wahrscheinlich wusste er mehr darüber als sie. Die Absichten der Kirche mochten vollkommen lauter sein, und es war durchaus möglich, dass Hespero Recht hatte, dass es das Beste für alle wäre, Heilige Truppen in ihre Stadt einzulassen. Doch sie sah auch, was der Praifec vorsichtig angedeutet hatte. 314 Was letzten Endes auch immer die Beweggründe und Absichten der Kirche sein mochten, sie brauchten ein Werkzeug, um sie zu verwirklichen. Ein Reich. Wenn Crothenien nicht dieses Reich war, bliebe nur noch Hansa. Sie dachte noch immer darüber nach, als Alis Berrye hereingebracht wurde, die immer noch denselben Morgenrock trug, in dem Muriele sie zuletzt gesehen hatte. »Majestät«, murmelte das Mädchen und verbeugte sich. Beklommen stand sie da, während Muriele sie musterte. Sie war ein hübsches Ding - darum kam man nicht herum -, selbst mit den dunklen Ringen unter ihren saphirblauen Augen und dem völlig zerzausten kastanienbraunen Haar. »Ist sie durchsucht worden?«, fragte Muriele den Soldaten. »Ja, Majestät. Sie hat keine Waffen bei sich.« »Habt Ihr ihr Haar untersucht?« »Äh ... nein, Majestät. Aber ich werde es sogleich tun.« Er machte sich daran, seine Worte in die Tat umzusetzen. Alis Berrye ließ es mit einem kleinen Lächeln über sich ergehen. »Erscheine ich Euch so gefährlich, Majestät?«, fragte sie. Muriele antwortete nicht, sondern nickte dem Soldaten zu. »Bitte lasst uns allein.« Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ließ sich Muriele in einem Sessel nieder. »Lady Berrye«, sagte sie. »Viel ist während der letzten paar Glockenschläge geschehen. Gewiss sind Euch ein paar der Gerüchte zu Ohren gekommen.« »Ein paar, Majestät«, gab das Mädchen zu. »Jemand hat gestern Abend versucht, mich zu töten.« »Das ist ja schrecklich.« »Danke. Ich weiß, dass Ihr mir nie etwas anderes als allerbeste Gesundheit gewünscht habt.« Berrye sah verwirrt aus. »Ich habe Euch stets bewundert und Euch wirklich Wohlergehen gewünscht.« »Selbst wenn Ihr mit meinem Gemahl im Bett gelegen habt?« »Natürlich.« 315 »Aber es ist Euch nie in den Sinn gekommen, dass mich das stören könnte?« Alis Berrye zuckte die Achseln. »Das war eine Angelegenheit zwischen Euch und Seiner Majestät. Wenn es Euch gestört hat, wäre er derjenige gewesen, dem man das hätte sagen müssen. Es sei denn, ich war die einzige seiner Geliebten, gegen die Ihr etwas einzuwenden hattet.« »Vielleicht seid Ihr zu verwegen«, meinte Muriele. »Besonders jetzt, da Ihr nicht mehr unter seinem Schutz steht.« »Ich stehe unter niemandes Schutz, Majestät«, erwiderte Alis Berrye. »Das ist mir nur allzu klar.« Irgendetwas stimmte hier nicht, begriff Muriele. War denn gar nichts so, wie sie gedacht hatte? »Ihr seid wirklich zu verwegen«, sagte sie. »Wo ist das einfältige, nervöse Mädchen, das sich immer geduckt hat, wenn ich ins Zimmer gekommen bin?« Wieder lächelte Alis Berrye schwach. »Sie ist mit William gestorben.« »Ihr werdet meinen Gemahl als Seine Majestät oder den König bezeichnen oder überhaupt nicht von ihm sprechen, Lady Berrye.« »Sehr wohl«, erwiderte die Gescholtene gelassen. »Genug davon«, entschied Muriele. »Meine Zeit ist kostbar. Ihr habt mir geschrieben und behauptet, ich wäre in Gefahr. Binnen weniger Glockenschläge nach dieser Nachricht gab es einen Anschlag auf mein Leben. Wenn Ihr wollt, dass Euer Kopf dort bleibt, wo er sich befindet, erklärt mir - und zwar augenblicklich -ganz genau, was Ihr
wisst.« Falls Alis Berrye überrascht war, dass Muriele wusste, dass sie die Nachricht hinterlassen hatte, so zeigte sie es nicht. Aufrecht stand sie da, ohne auch nur von einem Fuß auf den anderen zu treten, und hielt dem Blick der Königin stand. »Ich werde Euch alles sagen, was ich weiß, Majestät, aber ich glaube, in meinem Brief stand auch etwas darüber, dass ich Schutz brauche.« »Im Augenblick braucht Ihr Schutz vor mir. Und das Einzige, was Euch retten wird, ist die Wahrheit.« 316 Alis Berrye nahm dies mit einem kleinen Kopfnicken zur Kenntnis. »Wisst Ihr, warum Seine Majestät an jenem Tag auf der Landspitze von Aenah war?«, fragte sie Muriele. »Wollt Ihr mir vielleicht sagen, dass Ihr es wisst?« »Prinz Robert ist zum König gekommen, in die Halle der Krieger. Er war eine Weile fort gewesen, auf einer geheimen Mission zur Salzmark. Als er zurückkam, hat er etwas mitgebracht - den abgeschnittenen Finger von Prinzessin Lesbeth.« »Lesbeth.« Lesbeth war Williams jüngere Schwester gewesen, Roberts Zwillingsschwester. Sie war lange vermisst gewesen. »Prinz Robert hat behauptet, Lesbeths Verlobter - Cheiso von Safnien - hätte sie verraten und sie Herzog Austrobaurg ausgeliefert, der sie als Geisel festhielte.« »Um was für eine Art Lösegeld ging es?« »Die Salzmark hat, wie Ihr Euch gewiss erinnert, Krieg gegen die Kummerinseln geführt. Das Lösegeld bestand darin, dass Seine Majestät ihnen insgeheim in diesem Krieg helfen sollte.« Muriele verschränkte die Arme. »Die Kummerinseln stehen unter lierischem Schutz und damit auch unter unserem. Das konnte er nicht tun.« »Seine Majestät konnte es tun und hat es getan«, entgegnete Alis Berrye. »Ihr müsst doch wissen, wie sehr er Lesbeth geliebt hat.« »Jeder hat Lesbeth geliebt, aber unseren Feinden in einem Krieg gegen unsere Freunde beizustehen - so schlecht war Williams Urteilsvermögen selten.« »Prinz Robert hat ihn da hineingedrängt - er war sehr überzeugend, besonders, da er Lesbeths Finger als Beweis hatte. Schiffe aus Crothenien haben unter falscher Flagge zwanzig Schiffe der Kummerinseln angegriffen und versenkt. Seine Majestät ist nach Aenah geritten, um Prinzessin Lesbeth heimzuholen, und dort wurde er verraten.« »Von wem? Austrobaurg wurde doch auch getötet.« Doch allmählich ergab das Ganze einen grauenhaften Sinn. Vielleicht wa3i7 ren die lierischen Pfeile, die die Leibwache ihres Gemahls gefällt hatten, gar kein Täuschungsmanöver gewesen. Vielleicht hatte es sich bei dem Überfall wirklich um die Vergeltung irgendeines lierischen Lords gehandelt, dem bekannt gewesen war, was William getan hatte. Und wenn das stimmte, wusste Fail de Liery davon? War dieser Mordversuch nur dazu gedacht, sie ihm direkt in die Hände zu treiben? »Ich habe eine Vermutung, wer der Verräter war«, sagte Alis Berrye. »Aber keine sicheren Beweise.« »Nun?« Das Mädchen ging ein paar Schritte auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Dann drehte sie sich wieder zu Muriele um. »Wusstet Ihr, dass Ambria Gramme noch einen Geliebten hatte?« Muriele schnaubte. »Für wen hat sie nicht die Beine breit gemacht - das ist die Frage.« Alis Berrye schüttelte den Kopf. »Dies war ein sehr geheimer Liebhaber. Ein sehr wichtiger.« »Ermüdet mich nicht, Lady Berrye. Wer war es?« Ein triumphierendes Leuchten erschien in den Augen des Mädchens. »Prinz Robert.« Muriele brauchte einen Augenblick, um diese Worte in sich aufzunehmen. Nach dem ersten Schock wurde ihr klar, dass es eigentlich gar nicht überraschend war. Robert hatte immer haben wollen, was William besaß. Einoder zweimal hatte er sogar versucht, Muriele zu verführen. »Und was hat es damit auf sich?« »Prinz Robert hat Seine Majestät dazu gebracht, das Lösegeld zu bezahlen. Prinz Robert hat Ort und Zeitpunkt des Treffens von Seiner Majestät und Austrobaurg festgelegt. Nur Robert hat alle Einzelheiten gekannt.« »Ihr glaubt, Robert hätte William verraten und in den Tod geführt?« »Das glaube ich.« 318 »Trotz der Tatsache, dass auch Robert bei dem Hinterhalt ums Leben gekommen ist?« Alis Berrye blinzelte. »Robert wurde nie gefunden, Majestät.« »Sie haben auch nur einen Teil von William gefunden«, erwiderte Muriele. »Er wurde ins Meer geworfen. Es liegt nahe, dass Robert ...« Sie verstummte. Wieso war sie so ohne weiteres davon ausgegangen, dass Robert tot war? Weil alle anderen es getan hatten? »Was hat das mit Gramme zu tun?«, wollte sie wissen. »Ich habe sie kürzlich von dem Prinzen sprechen hören, als wüsste sie, dass er noch am Leben ist. Sie hat
angedeutet, dass sie ihn gesehen hätte.« »Das hat sie zu Euch gesagt?« »Nein«, gab das Mädchen zu. »Aber ich habe es trotzdem gehört. Und ich glaube, sie weiß es.« »Ihr habt es Euch offenbar zur Aufgabe gemacht, eine ganze Menge zu hören«, stellte Muriele fest. »Ja, Majestät, das stimmt.« »Und wie habt Ihr all dies gehört?« »Ich glaube, das wisst Ihr, Majestät«, erwiderte Alis Berrye und strich sich das widerspenstige Haar aus dem Gesicht; endlich zeigte sie ein wenig Nervosität. »Genau so, wie Ihr herausgefunden habt, wer die Nachricht geschickt hat.« »So. William wusste also von den Gängen.« Zu ihrer Verblüffung stieß Alis Berrye ein angespanntes Kichern aus. »Seine Majestät? Nein, er wusste nichts davon.« Muriele runzelte die Stirn. »Woher habt Ihr dann... ?« Dann traf sie die Erkenntnis. »Ihr seid in einem Konvent geschult worden.« Die Jüngere nickte kaum merklich. Muriele lehnte sich zurück und versuchte sich ein neues Bild von dem Mädchen zu machen; sie fragte sich, ob überhaupt irgendetwas in ihrem Leben Bestand hatte. »Hat Erren das gewusst?«, fragte sie. Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme dünn. »Ich glaube nicht, Majestät. Wir waren nicht vom selben Orden.« 319 Ein Frösteln zog Muriele das Rückgrat zusammen. »Es gibt nur einen Orden der heiligen Cer.« Doch Erren selbst hatte die Ansicht geäußert, dass es wohl noch andere, geheime Orden gäbe. »Es gibt noch einen anderen«, bestätigte Alis Berrye ihre Gedanken. »Und sie haben Euch hergeschickt?« »Ja, Majestät. Um Augen und Ohren offen zu halten, um in der Nähe des Königs zu sein.« Jetzt war es an Muriele, aufzulachen, wenn auch ein wenig bitter. »Diese Anweisung habt Ihr auch wirklich hervorragend befolgt. Solltet Ihr nicht eigentlich in Keuschheit leben?« Das Mädchen blickte scheu zu Boden, und zum ersten Mal, seit die Unterhaltung begonnen hatte, sah sie nicht älter aus als ihre neunzehn Jahre. »In meinem Orden gibt es keine solchen Beschränkungen«, sagte sie leise. »Ich verstehe. Und warum kommt Ihr jetzt mit diesem Wissen zu mir?« Alis Berrye blickte auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Weil sie alle tot sind, Majestät - alle meine Schwestern. Ich bin verwaist. Und ich glaube, diejenigen, die sie ermordet haben, waren dieselben, die William, Fastia, Elseny und Lesbeth umgebracht haben.« Muriele verspürte eine jähe Aufwallung des Mitgefühls, und ihre eigene Trauer drohte hervorzubrechen, doch sie unterdrückte sie mit Gewalt. Dafür würde sie später Zeit haben, und sie hatte sich schon jetzt gestattet, vor Alis Berrye zu schwach zu erscheinen. Stattdessen hielt sie sich an die Fakten. »Lesbeth? Also hat Austrobaurg sie getötet?« »Ich glaube, Austrobaurg hat sie nicht einmal zu Gesicht bekommen. Ich glaube, sie ist hier umgekommen, in Eslen.« »Wo hat Robert dann ihren Finger her?« »Von dem, der all das eingefädelt hat, natürlich. Von demjenigen, der diese ganze Tragödie geplant hat.« »Gramme?« »Oder Robert. Oder beide. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.« 320 »Robert hat Lesbeth mehr geliebt als irgendjemanden sonst.« »Ja«, sagte Alis Berrye. »Mit einer furchtbaren Liebe. Ich glaube mit einer unnatürlichen Liebe, die sie nicht erwidert hat.« Muriele verspürte ein Übelkeit erregendes Drehen und Winden im Leib, und ihr Mund wurde trocken. »Und wo ist Robert jetzt?« »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, Ambria Gramme weiß es.« »Und wo ist sie?« »Auf ihrem Gut; sie bereitet irgendeine Feier vor.« »Davon habe ich nichts gehört«, sagte Muriele. »Es wurde nicht an die große Glocke gehängt, Majestät.« »Und wer ist dazu eingeladen?« »Auch das habe ich nicht in Erfahrung bringen können«, gestand das Mädchen. Muriele lehnte sich zurück; in ihrem Kopf wirbelte es. Sie schloss die Augen und hoffte, alles würde zur Ruhe kommen, doch es war zu viel. »Wenn Ihr mich angelogen habt«, sagte sie, »werdet Ihr nicht schnell sterben.« »Ich habe Euch nicht angelogen, Majestät«, antwortete Alis Berrye. Ihre Augen waren wieder klar, und ihre Stimme war fest. »Hoffen wir es. Gibt es sonst noch etwas, das Ihr mir sagen könnt?« »Eine ganze Menge«, antwortete Alis Berrye. »Ich kann Euch sagen, welche Mitglieder des Comven Euch
gewogen sind und welche nicht. Ich kann Euch sagen, wen Gramme auf ihrer Seite hat. Und ich kann Euch sagen, dass sie vorhat, bald gegen Euch vorzugehen.« »Habe ich Grund, an Sir Fail und seinen Männern zu zweifeln?« »Nicht dass ich wüsste.« Muriele setzte sich auf. »Lady Berrye, werdet Ihr einen Eid leisten, dass Ihr mich als Eure Lehnsherrin anerkennt, bei welchem Heiligen Ihr auch immer schwört?« »Wenn Ihr mir im Gegenzug Schutz gewährt, Majestät.« Muriele lächelte. »Euch muss doch klar sein, dass ich kaum mich selbst schützen kann.« 321 »Ihr habt mehr Macht, als Ihr wisst«, sagte Alis Berrye. »Ihr habt nur noch nicht gelernt, sie anzuwenden. Ich kann Euch dabei helfen. Dazu wurde ich ausgebildet.« »Ihr würdet meine neue Erren sein?«, fragte Muriele bitter. »Meine neue, konventgeschulte Leibwächterin?« »Das würde ich, Majestät. Ich gelobe es bei den Heiligen, auf die ich schwöre.« Sie berührte Stirn und Brust mit dem Daumen. Muriele seufzte. »Ich wäre eine gewaltige Närrin, Euch zu vertrauen.« »Wäre ich bereits in Euren Diensten, so würde ich Euch genau das sagen«, erwiderte das Mädchen. »Ihr habt keinen Grund, mir zu trauen. Aber ich bitte Euch darum. Mein ganzer Orden ist niedergemetzelt worden, Frauen, die ich geliebt habe. Und glaubt mir oder nicht, aber ich hatte Seine Majestät gern. Er war kein guter König, aber er war trotz all seiner Fehler ein guter Mensch, und davon gibt es wenige auf dieser Welt. Ich will diejenigen, die ihn gestürzt haben, schreiend zu Mefitis niederfahren sehen. Ach ja, und noch etwas.« »Was?«, fragte Muriele. »Verlangt nicht von mir, dies zu erklären. Es ist das Einzige, was ich nicht erklären kann.« »Fahrt fort.« »Eure Tochter Anne. Sie muss am Leben bleiben, und sie muss Königin werden.« Ein langer Schock durchfuhr Muriele; er begann an ihren Füßen und arbeitete sich bis zu ihrem Scheitel empor. »Was wisst Ihr von Anne?«, verlangte sie zu wissen. »Dass sie lebt. Dass sie im Konvent der heiligen Cer war. Dass die Schwestern der heiligen Cer alle ermordet wurden, so wie die meines eigenen Ordens.« »Aber Anne ist entkommen?« »Ich habe keine Beweise, aber ich fühle es in meinem Herzen. Ich sehe es in meinen Träumen. Aber sie hat viele Feinde.« Muriele starrte Alis Berrye an und fragte sich, wie sie sie je für das hohlköpfige, hübsche kleine Ding hatte halten können, das zu 322 sein sie vorgegeben hatte. Sogar Erren war darauf hereingefallen, was bemerkenswert war. Alis Berrye war eine sehr gefährliche Frau. Außerdem könnte sie eine sehr nützliche Verbündete sein. Muriele erhob sich und rief die Wache herein. »Gebt Lady Berrye eine Eskorte, und sagt den Männern, sie sollen sie in ihr Gemach geleiten, wo sie ihre persönlichen Habseligkeiten holen wird. Bringt sie in den kleinen Gemächern weiter hinten im Gang unter. Und bitte sagt Sir Fail, dass ich um sein Erscheinen ersuche.« »Ihr werdet es nicht bereuen, Majestät«, versicherte Alis Berrye. »Sorgt dafür, dass ich es nicht tue. Jetzt geht, Lady Berrye.« Sie sah dem Mädchen nach und kehrte dann zu ihrem Sessel zurück. Mit den Fingern klopfte sie auf die hölzerne Armlehne und wartete auf Sir Fail. Es war an der Zeit, der anderen Geliebten ihres Gemahls einen Besuch abzustatten. Doch zunächst musste sie noch jemand anderen aufsuchen. Jemanden, den sie gemieden hatte. Sie ging zu ihrem Frisiertisch, und obgleich sie ihren Entschluss gefasst hatte, zögerte sie vor der kleinen Schatulle und dachte an ihn, tief unter dem Palast, wo kein Licht jemals schien. Seine Stimme aus Seide und Albtraum. Sie hatte seit jenem Tag, als sie den Schlüssel in Williams Arbeitszimmer gefunden hatte, nicht mehr mit dem Bewahrten gesprochen. Doch jetzt hatte sie Fragen an ihn. Ohne weiteres Zaudern öffnete sie den hölzernen Kasten. Der Schlüssel war nicht da. 323 26. Kapitel Beobachtungen zu verschiedenen Dingen, wie zum Beispiel dem Totsein VON STEPHEN DARIGE Ich habe schon einmal das Hören wieder erlernen müssen. Das war, nachdem ich den Pfad der Schreine des Decmanus beschritten hatte. Jeder Schritt auf diesem Pfad hat mir etwas genommen - zuerst das Gefühl in meiner Hand, dann mein Gehör, dann mein Augenlicht -, bis nichts mehr von mir übrig war als ein Körper, nicht einmal ein Verstand. Irgendwie habe ich den Pfad vollendet, und es kam alles zurück, aber anders, besser. So ist es, tot zu sein. Zuerst hörte ich eine Menge, doch es hatte keine Bedeutung. Es war nur Lärm, wie das Jammern der Geister in den Hallen der Verdammten. Dann begannen die Geräusche, einen Sinn zu ergeben und mir schließlich vertraut zu werden.
Ich kann Aspar, Winna und Ehawk hören, doch mein Körper ist für mich verloren. Ich kann nicht zu ihnen sprechen oder auch nur einen Finger oder ein Augenlid bewegen. Ich erinnere mich, dass sie mir einst teuer waren. In mancher Hinsicht sind sie es immer noch. Wenn Winna in der Nähe ist, kann ich sie riechen, fühlen, beinahe schmecken. Wenn sie mich berührt, lässt das Schauer durch mich hindurchzucken, die sich irgendwie auf meinem toten Fleisch nicht offenbaren. Gestern Nacht habe ich sie und Aspar gehört. Sie riecht anders, wenn sie das tun. Aspar auch. Die wunderliche und kuriose Waldhüter-Bestie: Beim Fortpflanzungsakt zeigt sich dieses normalerweise 324 schweigsame Geschöpf ungemein beredt, wenn auch nur sehr leise. Es ersinnt Reime für den Namen der Geliebten: Mina-Winna, Fenna-Winna und das unvermeidliche Winna-Winna. Außerdem bedenkt es sie noch mit anderen törichten, selbst erdachten Namen, ungeachtet der Tatsache, dass Winna an und für sich schon ein recht alberner Name ist. Es ist jemand Neues hier, eine Sefry-Frau. Winna mag sie nicht, weil Aspar sie mag, obgleich er es auf jede nur mögliche Weise abstreitet. Ob sie wohl aussieht wie seine Gemahlin, die gestorben ist? Sie bringen mich zum nächsten Schrein, was für ihre Verhältnisse sehr schlau ist. Ich frage mich, was dort wohl geschehen wird. Der erste Schrein war sehr sonderbar, und es fällt mir schwer, zu erklären, warum er eine solche Wirkung auf mich gehabt hat. Er war einer der Verdammten Heiligen geweiht, jener, die als die Königin der Dämonen bekannt war. Vielleicht bestraft mich Decmanus dafür, dass ich ihren Pfad der Schreine betreten habe, doch irgendwie fühlt sich das nicht richtig an. Die einzige andere Möglichkeit, die mir einfällt, ist, dass sie irgendwie auch ein Aspekt des heiligen Decmanus ist, was in der Tat sehr interessant wäre, um nicht zu sagen ketzerisch. Können Heilige Ketzer sein? Wir nähern uns dem Schrein. Ich kann ihn spüren, wie ein Feuer. Aspar ließ den Blick über die Lichtung und den Hügel schweifen. Die Geopferten waren noch da, und keiner von ihnen regte sich. Von dem Dornenkönig und seiner wilden Jagd war keine Spur zu sehen, bis auf die Leichen der Slinderlinge und der Mönche, die sie getötet hatten. »Oh, Ihr Heiligen!«, stieß Winna hervor, als sie das Gemetzel erblickte. »Schwacher Magen?«, erkundigte sich Leshya. 325 »Ich habe schon früher solche Leichen gesehen«, erwiderte Winna. »Aber ich brauche ja nicht so zu tun, als würde mir das gefallen.« »Nein, das brauchst du nicht«, pflichtete die Sefry-Frau ihr bei. »Also, was machen wir jetzt?«, wollte Winna wissen. Aspar zuckte die Achseln und saß ab. »Stephen auf den Hügel bringen, würde ich sagen. Sehen, was passiert.« »Seid Ihr wirklich sicher, dass das das Richtige ist?«, fragte Leshya. »Nein«, antwortete Aspar knapp. Vorsichtig suchten sie sich einen Weg um die Stellen herum, wo die Leichen am dichtesten aufgehäuft lagen, und erklommen den Sedos. Genau in der Mitte legte Aspar Stephen nieder. Wie er es mehr oder weniger erwartet hatte, geschah gar nichts. »Nun, einen Versuch war es wert«, brummte er. »Ihr drei passt auf ihn auf. Ich schaue mich mal genauer um.« Durch das Leichenfeld hindurch ging Aspar den Hügel wieder hinunter; er fühlte sich müde und war zornig auf sich selbst, weil er eine so sinnlose Hoffnung gehegt hatte. Menschen starben nun einmal. Das wusste er doch inzwischen, oder etwa nicht? Früher hatte ihm das nichts ausgemacht. Die Slinderlinge sahen jetzt aus wie Menschen, die Gesichter im Tode gelöst. Sie hätten aus jedem beliebigen Dorf um den Königswald herum stammen können. Er war froh, dass er niemanden sah, den er kannte. Nach einer Weile schlenderte er zum Waldrand hinüber, und ehe er sich dessen bewusst wurde, stand er unter den knorrigen Ästen des Naubagm und den verrottenden Seilresten, die daran hingen. Die Erde hatte hier viel Blut getrunken. Sie hatte das Blut seiner Mutter getrunken. Man hatte ihm nie gesagt, was sie hierher gebracht hatte. Sein Vater und seine Stiefmutter hatten nur selten von ihr gesprochen, und wenn, dann mit gedämpften Stimmen, und sie hatten dabei das Zeichen gegen das Böse gemacht. Dann waren sie gestorben, und er war bei Jesp gelandet. 326 Ein Rabe landete auf dem obersten Ast des Baums. Noch weiter oben konnte er den Umriss eines Adlers erkennen. Er atmete tief durch und spürte, wie das Land von ihm fortrollte, größer wurde, seine Knochen aus Stein und Sehnen aus Wurzeln streckte. Er roch das Alter und das Leben dieses Landes, und zum ersten JVlal seit langem empfand er eine Art friedvolle Entschlossenheit. Ich bringe das in Ordnung, versprach er den Bäumen stumm. »Ich bringe das in Ordnung.« Das war das Erste gewesen, was Jesp gesagt hatte, als sie ihn gefunden hatte. Er war einen Tag lang blutend auf der Flucht gewesen; der Wald um ihn herum hatte sich in Schatten verwandelt. Als er schließlich zu Boden gegangen war, hatte er geträumt, er liefe immer noch, doch hin und wieder war er
aufgewacht und hatte gewusst, dass er im Schilf irgendeines Sumpfes lag, halb vom Wasser bedeckt. Er war wach gewesen, als er sie hatte kommen hören, und er hatte versucht, nach seinem Messer zu greifen, hatte jedoch nicht die Kraft gehabt, sich zu bewegen. Sieben Winter war er alt gewesen. Dann hatte er Jesps Gesicht gesehen, dieses uralte, bleiche Sefry-Gesicht. Sie stand eine Weile, die ihm sehr lang vorkam, einfach nur da, während er sich abmühte zu reden, und dann kniete sie nieder und berührte sein Gesicht mit ihren knochigen Fingern. »Ich bringe das in Ordnung«, sagte sie. »Ich bringe dich wieder auf die Beine, Kinddes-Naubagm.« Woher sie über ihn Bescheid gewusst hatte, hatte sie nie gesagt. Doch sie hatte ihn aufgezogen, ihn mit ihrem Unsinn voll gestopft, und dann war sie gestorben. Sie fehlte ihm. Und jetzt, da er wusste, dass die Geschichten der Sefry nicht alle Unsinn waren, wünschte er sich verzweifelt, er könnte wieder mit ihr reden. Er wünschte sich, er hätte besser aufgepasst, als sie noch ,am Leben gewesen war. Und vielleicht wünschte er sich auch, er hätte ihr gedankt, wenigstens ein Mal. Doch das war vorbei. Er seufzte und blickte sich um. Ein paar Königsellen nördlich von ihm kam etwas aus dem Wald gerannt; es bewegte sich schneller als ein Hirsch. 327 Es war ein Mann, gekleidet in den dunklen Habit der Mönche. Er hatte einen Bogen bei sich, und er hielt direkt auf den Sedos zu, wo Aspar die anderen noch immer sehen konnte. Mit einem stummen Fluch zog Aspar einen Pfeil aus seinem Köcher, legte ihn an die Sehne und schoss. Der Mönch musste die Bewegung aus dem Augenwinkel bemerkt haben - noch während der Pfeil auf ihn zuzischte, duckte er sich plötzlich, wirbelte herum und schoss auf Aspar. Aspars Schuss verfehlte den anderen um eine Daumenbreite; der des Mönchs ging um knapp das Doppelte daneben. Aspar trat hinter den Naubagm, als der Mönch einen zweiten Pfeil anlegte und abschoss. Zitternd blieb der Schaft in dem uralten Baum stecken. Wieder machte der Mönch kehrt, rannte auf den Hügel zu und geriet außer Schussweite. Fluchend - und sehr viel langsamer als sein Gegner - stürmte Aspar hinter ihm her. Der Mönch vollführte einen sonderbaren, verrenkten Tanz, und Aspar wurde klar, dass Ehawk und Leshya jetzt auf ihn schössen. Beide verfehlten ihn, und noch ehe einer der beiden einen neuen Pfeil hervorziehen konnte, schoss der Kirchenbruder zurück. Mit hilflos zugeschnürter Kehle sah Aspar zu, wie Ehawk seltsam zuckte und zu Boden stürzte. Winna hatte sich hingekauert, gab jedoch noch immer ein viel zu großes Ziel ab. Leshya schoss erneut und hatte wieder keinen Erfolg. Die Ausweichmanöver des Mönchs machten es Aspar möglich, wieder in Reichweite zu gelangen, und in vollem Lauf zog er die Sehne zurück, um zu schießen. Sie riss mit einem hohlen Geräusch. Knurrend zog er seine Axt. Leshya spannte ihren Bogen und schoss. Diesmal musste der Mönch so heftig ausweichen, dass er strauchelte, doch er rollte sich ab und kam wieder hoch, wobei er jetzt Aspar zugewandt war. Aspar warf die Axt und sprang zur Seite. Der Schaft des Kirchenmannes schwirrte durch leere Luft, doch auch die Axt verfehlte ihr Ziel. 328 Der Mönch trabte plötzlich nach rechts, und Aspar begriff grimmig, dass der andere nicht vorhatte, sich auf ein Handgemenge einzulassen. Er würde einfach weiterlaufen und schießen, bis sie alle tot waren oder ihm die Pfeile ausgingen. Er griff in seinen Rucksack, fand seine Ersatzsehne und zog sie heraus, um sie in den Bogen einzuhängen. Ein Pfeil traf geräuschvoll seinen Lederharnisch, er fluchte und ließ sich zu Boden fallen. Er schaffte es, die Sehne einzuhängen. Ein weiterer Pfeil bohrte sich genau vor seiner Nase in den Boden, und jetzt kam der Mönch auf ihn zugestürzt, ohne auf Leshya zu achten. Aspar legte einen Pfeil an die Sehne und hielt den Bogen flach über dem Boden. Es war schwierig, ihn so zu spannen, und er wusste, dass sein Gegner noch einen Schuss hatte, ehe er so weit war. Doch der Mönch stolperte; ein Pfeilschaft ragte plötzlich aus seinem Schenkel. Er brüllte, drehte sich um und schoss seinen Pfeil auf den Hügel ab, doch ein zweiter Pfeil traf ihn mitten in die Brust, und er setzte sich hart auf den Boden. Aspar schoss, traf ihn am rechten Schlüsselbein, und der Bursche kippte heulend zur Seite. Leshya war fast augenblicklich über ihm und trat ihm den Bogen aus den Händen. »Tötet ihn nicht«, schrie eine wohl bekannte Stimme. Aspar schaute zu dem Hügel hinüber. Dort stand Stephen, Ehawks Bogen in den Händen. Winna stürzte auf ihn zu und riss ihn fast um, als sie ihn umarmte. Aspar konnte es nicht verhindern, dass ein Lächeln sich auf seinen Lippen breit machte. Es tat einfach zu gut, Stephen dort stehen zu sehen. »Sceat«, knurrte er. »Es hat geklappt.« »Erhaltet ihn am Leben«, wies er Leshya an und deutete mit einer Geste auf den Mönch.
Sie war bereits dabei, dem Mann die Hände zu fesseln. »Wenn es möglich ist«, sagte sie. »Ich habe auch ein paar Fragen an ihn.« Aspar zögerte. Sie hatte ihnen im Kampf beigestanden. Wahrscheinlich hatte sie ihm das Leben gerettet, als der Dornenkönig 329 gekommen war. Aber ihr zu vertrauen - irgendeinem Sefry zu vertrauen - war töricht. Sie blickte erneut auf, als hätte er seine Gedanken laut herausgebrüllt. Einen Moment lang hielten ihre violetten Augen seinen Blick fest, dann schüttelte sie angewidert den Kopf und machte sich erneut an ihre Arbeit. Aspar schaute sich gründlich auf der Lichtung um, dann ging er auf Winna und Stephen zu. Seine Schritte fühlten sich leichter an. Sie wurden wieder schwerer, als er Ehawk sah. Der Junge lag im Gras und tastete schwach nach dem Pfeil, der in seinem Schenkel steckte. Der Boden um ihn herum war nass von Blut. Winna und Stephen bemühten sich bereits um ihn. »Hallo, Aspar«, sagte Stephen, ohne aufzublicken. »Schön, Euch auf den Beinen zu sehen, und - äh - am Leben«, erwiderte Aspar. »Ja, schön, am Leben zu sein«, sagte Stephen, ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden. »Winna, steckt ihm irgendetwas in den Mund, damit er sich nicht die Zunge abbeißt.« »Ich kann mich darum kümmern, wenn es Euch zu viel wird«, erbot sich Aspar. »Nein«, wehrte Stephen ab. »Dafür bin ich ausgebildet worden. Aber ich könnte etwas Narrenvettelkraut für die Wunde gebrauchen, um die Blutung zu stillen.« Aspar blinzelte. Als Stephen sich das letzte Mal einer blutenden Wunde gegenübergesehen hatte, war er zusammengesackt, hatte sich übergeben und war vollkommen nutzlos gewesen. Jetzt beugte er sich über Ehawk, die Hände glitschig vom Blut, und arbeitete rasch, sicher und besonnen. Der junge Mann hatte sich in den Monaten, die er ihn jetzt kannte, wahrhaftig verändert. »Ich suche welches«, sagte er. »Ehawk, mein Junge, wie geht es dir?« »W-war schon mal besser«, keuchte der junge Bursche. »Ich bringe Saelic mit, gegen die Schmerzen«, versprach Aspar. »Immer schön tief und langsam atmen. Stephen weiß schon, was er tut.« 33° Er ging, um die Kräuter zu suchen, und hoffte, dass es tatsächlich so war. Sobald Ehawks Blutung gestillt und sein Bein verbunden war, setzten sie ihn auf sein Pferd, luden den noch immer bewusstlosen Mönch auf Engel und machten sich auf, um vor Einbruch der Nacht so weit wie möglich von dem Sedos fortzukommen. »Wir reiten in die falsche Richtung«, sagte Leshya. »Ich habe sie gewählt, ich bin der Anführer, es kann nicht die falsche sein«, wandte Aspar ein. »Wir sollten der Spur des Mönchs folgen.« »Welcher Spur? Der Dornenkönig hat ihn übersehen, das ist alles.« »Das bezweifle ich«, erwiderte sie. »Ich glaube, er ist gekommen, um ihnen eine Nachricht zu überbringen.« Sie hielt ein Dokument mit einem Siegel hoch. »Das ist ein Kirchensiegel«, sagte Stephen, der ungefähr zehn Ellen entfernt neben Ehawk ritt. »Nun, Eure Augen sind immer noch gut«, bemerkte Aspar. »Stimmt.« Stephen lächelte. »Wie fühlt Ihr Euch?« »Ein bisschen durcheinander. Ich weiß nicht, was passiert ist, seit - nun, was immer auch geschehen ist.« »Ihr erinnert Euch nicht?«, fragte Winna. Stephen trabte näher heran. »Eigentlich nicht. Ich weiß noch, dass ich in den Schrein gegangen bin und mich merkwürdig gefühlt habe. Von den Leichen ist mir schlecht geworden - ich war schon drauf und dran, mich zu erbrechen -, und dann war es mir plötzlich egal. Sie hätten genauso gut Steine sein können.« »Der Brief?«, unterbrach Leshya. »Stephen ist unser Freund«, fauchte Winna. »Ihr werdet Euch einen oder zwei Atemzüge lang um Eure eigenen Angelegenheiten kümmern müssen.« Leshya zuckte die Schultern und schützte großes Interesse an dem umliegenden Wald vor. 331 »Ihr seid umgefallen, als Ihr den Sedos wieder heruntergekommen seid«, sagte Aspar. Stephen schüttelte den Kopf. »Daran erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, dass ich auf dem Sedos aufgewacht bin und Euch mit dem Mönch habe kämpfen sehen.« »Das war ein sauberer Schuss, den Ihr da abgegeben habt. Ich wusste gar nicht, dass Ihr so gut mit dem Bogen umgehen könnt.« »Kann ich auch nicht«, erwiderte Stephen. »Und wie ...?« »Wisst Ihr noch, wie ich Desmond Spendlove mit seinem Messer getroffen habe? Manchmal sehe ich, wie etwas gemacht wird, und - nun ja, dann tue ich es. Das gelingt nicht immer, und nie bei komplizierten Sachen. Ich kann
zum Beispiel nicht jemandem beim Fechten zusehen und dabei lernen, mit dem Schwert zu kämpfen, obwohl ich vielleicht ein paar von den Schlägen hinbekommen könnte. Aber zu wissen, wann ich sie ausführen muss -das ist etwas anderes.« Bogenschießen ist auch nicht so einfach, dachte Aspar. Man muss die Waffe ganz genau kennen, muss den Wind berücksichtigen ... Etwas war anders an Stephen, doch er konnte nicht sagen, was. »War das eine von den, äh, Gaben der Heiligen, die Euch zuteil geworden sind?«, erkundigte er sich. »Als ich den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten habe, ja.« »Und habt Ihr jetzt irgendetwas Neues in dieser Art? Von diesem Sedos?« Stephen lachte. »Nicht dass ich wüsste. Ich fühle mich nicht anders. Und überhaupt, ich habe nicht den ganzen Pfad beschritten, nur zwei Sedoi, wenn ich richtig verstanden habe, was passiert ist.« »Aber es ist etwas geschehen«, beharrte Aspar. »Der erste hat Euch getötet, der zweite hat Euch wieder zum Leben erweckt.« »Was wohl der nächste tun würde?«, grübelte Leshya laut. »Ich habe nicht die Absicht, das herauszufinden«, erwiderte Stephen. »Ich bin am Leben, laufe herum, atme, es geht mir gut 332 und ich will nichts mehr mit der Heiligen zu tun haben, der dieser Pfad der Schreine gehört.« »Ihr kennt den Heiligen?«, fragte Leshya. »Im ersten Schrein war eine Statue«, erklärte Stephen, »mit einem Namen: Marhirheben.« »Von dem habe ich noch nie gehört«, sagte Winna. »Von der«, verbesserte Stephen. »Zumindest in diesem Aspekt ist es eine weibliche Heilige. Wenn der Begriff Heilige wirklich zutrifft.« »Wie meint Ihr das?« »Marhirheben war eine der Verdammten Heiligen, deren Anbetung von der Kirche verboten worden war. Ihr Name bedeutet >Königin der Dämonen<.« »Wie kann eine Heilige völlig in Vergessenheit geraten?« »Sie ist nicht in Vergessenheit geraten. Ihr habt von ihr gehört - Nautha, die Leichenmutter, die Galgenhexe - das sind einige der Namen, die überdauert haben.« »Nautha ist doch keine Heilige«, widersprach Winna. »Sie ist ein Ungeheuer aus Ammenmärchen.« »Das war der Dornenkönig auch«, sagte Stephen. »Zumindest kennt irgendjemand noch ihren alten Namen.« Er runzelte die Stirn. »Oder ist daran erinnert worden. Sie wurde in etlichen der Texte erwähnt, die ich entschlüsselt habe. Ein weiterer ihrer Aspekte ist >Die verschlingende Mutter<. Die Leben frisst und den Tod gebiert.« Er blickte zu Boden. »Ohne mich, ohne meine Arbeit hätten sie das nicht tun können.« »Stephen, es ist nicht Eure Schuld«, erklärte Winna. »Nein«, erwiderte Stephen. »Aber ich war ein Werkzeug desjenigen, dessen Schuld es ist, und das gefällt mir nicht.« »Dann sollten wir der Spur des Mönchs folgen«, sagte Leshya. »Lasst mich den Brief sehen«, bat Stephen. »Dann können wir entscheiden, was wir tun. Wir sind hergeschickt worden, um den Dornenkönig zu finden, nicht um meinen verderbten Glaubensbrüdern nachzujagen. Es könnte sein, dass einer von uns zurückreiten und dem Praifec Bericht erstatten muss.« 333 »Wir haben den Dornenkönig schon gefunden«, ließ sich Aspar vernehmen. »Was?« Stephen drehte sich im Sattel um. »Es waren der Dornenkönig und seine Kreaturen, die da hinten die restlichen Mönche getötet haben«, erklärte Aspar. »Ihr habt etwas von der wilden Jagd des Dornenkönigs gesagt«, erwiderte Stephen, »aber mir war nicht klar, dass Ihr ihn noch einmal gesehen habt. Dann hat der Pfeil anscheinend nicht gewirkt?« »Ich habe ihn nicht benutzt«, sagte Aspar. »Nicht benutzt?« »Der Dornenkönig ist nicht der Feind«, erläuterte Leshya. »Er ist auf die Mönche losgegangen und hat uns in Frieden gelassen.« »Er ist der Feind«, meldete sich schwach Ehawks Stimme. »Er macht die Leute aus den Dörfern zu Tieren und bringt sie dazu, andere Dorfbewohner umzubringen. Vielleicht hasst er die Mönche, aber er hasst alle Menschen.« »Er säubert den Wald«, erwiderte Leshya. »Meine Leute haben seit dem Sturz der Skasloi in den Bergen gelebt«, entgegnete Ehawk. »Es ist unser Recht, dort zu wohnen.« Leshya zuckte die Achseln. »Bedenke doch«, wandte sie ein, »er wacht auf und stellt fest, dass sein Wald krank ist und aus der Fäulnis Ungeheuer erstehen, die sein Ende beschleunigen werden. Uttins, Gryffins - die schwarzen Dornen. Es ist die Krankheit, die er bekämpft, und soweit es ihn betrifft, sind die Menschen, die im Wald leben und die Bäume fällen, Teil dieser Krankheit.«
»Uns hat er nicht getötet«, gab Aspar zu bedenken. »Weil wir«, antwortete sie, »genau wie er Teil des Heilmittels sind.« »Das könnt Ihr doch gar nicht wissen«, widersprach Stephen. Wieder zuckte sie die Schultern. »Wahrscheinlich nicht mit Sicherheit, aber es ergibt einen Sinn. Fällt Euch eine andere Erklärung ein?« »Ja«, sagte Stephen. »Irgendetwas ist mit dem Wald, gewiss, und fürchterliche Geschöpfe erwachen oder werden geboren. Der Dornenkönig ist eines davon, und genau wie sie ist er wahnsinnig, 334 alt, geisteskrank und schrecklich mächtig. Er ist genauso wenig unser Freund oder unser Feind wie ein Sturm oder ein Blitz.« »Das unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem, was ich eben gesagt habe«, bemerkte Leshya. Stephen wandte sich an Aspar. »Was meint Ihr, Waldhüter?« Aspar atmete tief aus. »Vielleicht habt Ihr beide Recht. Aber was immer auch mit dem Wald nicht stimmt, der Dornenkönig ist nicht die Ursache. Und ich glaube, er versucht, es wieder in Ordnung zu bringen.« »Aber das könnte bedeuten, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind innerhalb seiner Grenzen zu töten«, wandte Stephen ein. »Ja.« Stephens Augen wurden groß. »Es ist Euch gleich Euch kümmern die Bäume mehr als die Menschen!« »Sprecht nicht an meiner statt, Stephen«, warnte Aspar. »Dann sprecht selbst! Sagt es mir!« »Lest den Brief«, erwiderte Aspar, um von einem Thema abzulenken, über das er sich selbst nicht im Klaren war. »Dann überlegen wir, wohin wir uns von hier aus wenden. Vielleicht sollten wir noch einmal mit dem Praifec reden.« Stephen blickte ihn mit gefurchter Stirn an, nahm jedoch den Brief aus Leshyas Hand entgegen. Als er das Siegel untersuchte, lächelte er grimmig. »Fürwahr«, sagte er. »Wir sollten uns wirklich noch einmal mit Praifec Hespero unterhalten. Das hier ist sein Siegel.« 335 27. Kapitel Auf dem Ball Fralet Ackenzal?« Leoff blickte zu dem jungen Mann auf, der in seiner Tür stand. Er hatte blaue Augen, dünnes gelbes Haar und eine leicht krumme Nase. »Ja?« »Mit Verlaub, man hat mich geschickt, um Euch zum Fest der Lady Gramme zu geleiten.« »Ich ... ich bin sehr beschäftigt«, erwiderte Leoff und klopfte auf die Notenblätter auf seinem Pult. »Ich habe einen Auftrag ...« Der Mann runzelte die Stirn. »Aber Ihr habt die Einladung der Lady angenommen.« »Nun, ja, gewiss, aber -« Der Bursche hob mahnend den Finger, als wäre Leoff ein unartiges Kind. »Mylady hat sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ungemein gekränkt wäre, wenn Ihr nicht kämt. Sie hat nur Euretwegen eine neue Hammarharfe kommen lassen.« »Ich verstehe.« Verzweifelt ließ Leoff den Blick durch den Raum huschen, in der vagen Hoffnung, irgendetwas zu entdecken, das ihn aus dieser Zwangslage befreien könnte. »Ich habe nicht viel anzuziehen«, versuchte er es. Der Mann lächelte und winkte jemandem, der nicht zu sehen war. Ein rundgesichtiges Mädchen im Dienstbotenkleid erschien mit einem Bündel sorgfältig gefalteter Kleidungsstücke. »Ich denke, dies hier wird Euch passen«, sagte der Mann. »Mein Name ist Alvreic. Ich bin heute Abend Euer Lakai.« Da er keinen Ausweg sah, nahm Leoff die Kleider entgegen und begab sich in sein Schlafgemach. 336 Leoff beobachtete die sich gemächlich drehenden Saglwics der Malenden am Ufer des Kanals und schauderte, sowohl vor Kälte als auch bei der Erinnerung an jene Nacht bei Broogh. Der Vollmond, bei Tageslicht bleich, ging direkt dahinter auf, und in der klaren Luft vernahm er fernes Hundegebell. Der Herbstduft nach frischem Heu war verschwunden, und an seine Stelle war der Geruch von Asche getreten. »Ich hatte gedacht, der Ball findet im Schloss statt«, sagte Leoff. »Ist der Mantel nicht warm genug?« »Es ist ein sehr schöner Mantel«, versicherte Leoff. Das stimmte, denn das Kleidungsstück war gefüttert und gesteppt, mit gestickten Blättern auf dem Kragen und den breiten Manschetten. Er wünschte sich lediglich, es wäre ebenso warm wie hübsch. »Die Lady hat einen exzellenten Geschmack.« »Wo fahren wir hin, wenn ich fragen darf?« »Nun, nach Grammeshugh natürlich«, antwortete Alvreic. »Myladys Landgut.«
»Ich dachte, Lady Gramme lebt im Palast.« »Das tut sie auch, meistens jedenfalls, aber selbstverständlich besitzt sie auch ein Gut.« »Selbstverständlich«, wiederholte Leoff und kam sich dumm vor. Ihm war, als befände er sich in einem jener Träume, in denen man sich immer weiter und weiter von seinem Ziel entfernt und allmählich ganz vergisst, worin dieses Ziel eigentlich besteht. Noch erinnerte er sich an seine Absicht, dieses Fest zu meiden. Nach Artwairs Warnung und der seltsamen Nacht mit der Königin schien ihm jegliche Verbindung mit Lady Gramme töricht zu sein. Also hatte er beschlossen, so zu tun, als habe er ihre Einladung vergessen. Das war ihm ganz offensichtlich nicht gelungen, also hatte seine nächstbeste Hoffnung darin bestanden, kurz auf dem Fest zu erscheinen und sich dann unauffällig zu entschuldigen. Jetzt hatte er irgendwie das Schloss verlassen, hatte die Stadttore passiert und befand sich in einem schmalen Ruderboot, das nach Neuland hineinfuhr. Bald würde es Nacht werden, und die Stadt337 tore würden geschlossen werden - vor morgen früh würde er nicht in seine Gemächer zurückkehren können. Er hätte sich einfach weigern sollen mitzugehen, doch dafür war es jetzt viel zu spät. Jetzt konnte er nur hoffen, dass die Königin es nicht erfahren würde. Die Welt wurde dunkler, und Leoff kauerte sich vor dieser Dunkelheit zusammen. Für ihn hatte die Nacht nichts Unschuldiges mehr. Sie hielt Dinge verborgen, aber ungerechterweise verbarg sie ihn nicht. Im Gegenteil, es schien, als sei er allem hier draußen schutzlos ausgeliefert, und er fühlte sich wie ein gejagtes Tier. Dieser Tage ließ er sogar eine Lampe brennen, wenn er schlief. Nach einer Weile bemerkte er eine Reihe heller Lichter vor ihnen, und als sie näher kamen, sah er, dass entlang des Kanals Laternen aufgehängt worden waren. Sie führten zu einem an einem Steg gelegenen Pavillon, wo zwei Dutzend oder mehr Kanalboote vertäut lagen. Musik lag in der Luft. Zuerst vernahm er einen hohen, süßen Klang, der sich wie ein Flageolett anhörte, jedoch mit einem eindringlicheren Timbre und merkwürdigen Glissando-Passagen zwischen bestimmten Noten. Auch der Rhythmus war seltsam, erst ein Zweier-, dann ein Dreiertakt, der sich schließlich zum Vierertakt ausdehnte. Das Unvorhersehbare daran ließ ihn grinsen. Die Melodie klang leicht und fröhlich, alles in allem jedoch wirkte sie schwermütig, weil ihre Basis aus den langsamen, tiefen Tönen einer Bassvithule bestand, die mit einem Bogen gestrichen wurde. Es glich eigentlich keiner anderen Musik, die er jemals gehört hatte, was sowohl aufregend als auch merkwürdig war. Sie waren bereits nahe am Steg, als er die Musiker im Laternenlicht erkennen konnte - vier Sefry, die breitkrempigen Hüte zur Seite gelegt, die Gesichter wie silberne Skulpturen im Mondlicht. Zwei Männer - Menschen - kamen herbei, um die Bugleine aufzufangen und das Boot festzumachen. Ohne auf seinen Führer zu achten, trat Leoff auf den Steg und ging auf die Sefry zu; er hoffte, mit einem von ihnen sprechen zu können. Das Flageolett hat338 te, wie er jetzt sah, keine Luftkappe; der Musikant blies direkt auf Jen diagonalen Schlitz, der in das Instrument aus Knochen - oder Elfenbein? - geschnitten worden war. Soweit er es erkennen konnte, waren die anderen Instrumente von herkömmlicher Machart. »Kommt, kommt«, drängte Alvreic. »Eilt Euch. Ihr seid bereits spät dran.« Die Musiker ließen sich durch nichts anmerken, dass sie sein Interesse bemerkt hatten, und das Lied schien noch lange nicht zu Ende zu sein. Die Laternen zogen sich weiter einen flachen Hügel hinauf und beleuchteten eine Straße, die auf den hoch aufragenden Schatten eines Herrenhauses zuführte. Als Leoff und Alvreic schweigend zu dem Gut hinaufgingen, gesellte sich eine Singstimme zu der Musik, und alles an dem Stück war plötzlich so, wie es sein sollte, auf eine Art und Weise, die seinen Lippen einen Seufzer entlockte. Er bemühte sich, die Worte zu erlauschen, doch es war nicht die Sprache des Königs. Jäh stand ihm ein lebhaftes Bild der Kate am Meer vor Augen, wo er aufgewachsen war. Er sah seine Schwester Glinna im Garten seiner Mutter spielen, das blonde Haar voller Schlamm, ein breites Lächeln auf dem Gesicht; sein Vater saß auf einem Schemel und spielte eine kleine Fiedel. Ein Haufen Steine jetzt, das Haus. Geister, sein Vater und seine Schwester. Und plötzlich schien es ihm, als verstünde er die Worte doch, wenn auch nur für einen Augenblick. Dann übertönte der Lärm aus dem Herrenhaus die Sefry-Melodie. Auch dort gab es Musik, einen vertrauten Volkstanz, der ihm nach dem, was er gerade gehört hatte, schwerfällig und vulgär vorkam. Dem Gelächter und Geschrei nach jedoch, das er gleichzeitig hören konnte, schien die Musik den meisten Gästen zu gefallen. Schließlich erreichten sie eine gewaltige, mit Eisenbändern beschlagene Doppeltür, die sich - auf ein Zeichen von Alvreic an jemand Unsichtbaren hin - langsam und knarrend öffnete. Ein Be339 diensteter in leuchtend grünen Beinkleidern und braunem Wams begrüßte sie. »Leovigild Ackenzal«, sagte Alvreic. »Er soll angekündigt werden.« Leoff unterdrückte einen Seufzer. So viel zu der Hoffnung, kein Aufsehen zu erregen. Sie folgten dem Diener einen langen, von Kerzen erhellten Gang hinunter zu einer zweiten Doppeltür, die
ebenfalls aufschwang, diesmal, um den Blick auf einen von Kerzen und Lampen hell erleuchteten Saal freizugeben. Lärm strömte heraus, Musik, gemischt mit dem Geplapper der Menge. Die Musiker befanden sich am gegenüberliegenden Ende des Raumes, ein Quartett, das erneut einen Volkstanz spielte. Ungefähr zwanzig Paare tanzten dazu, und gut doppelt so viele standen in Gespräche vertieft herum. Doch als er den Saal betrat, hielten alle inne, und mehr als hundert Leute drehten sich nach ihm um. Die Musik verstummte. »Ich verkünde die Ankunft von Leovigild Ackenzal«, rief der Türdiener mit klarer, tragender Stimme. »Hofkomponist und Held von Broogh.« Leoff war sich nicht sicher, was er erwartet hatte, der plötzliche, donnernde Applaus jedoch kam für ihn völlig überraschend. Natürlich hatte er schon oft vor Publikum gespielt und war für seine Kompositionen gelobt worden. Dies hier jedoch - dies war etwas anderes. Er spürte, wie sein Gesicht rot anlief. Lady Gramme erschien plötzlich aus dem Nichts an seinem Arm. Sie beugte sich herüber und küsste ihn leicht auf die Wange, dann wandte sie sich wieder der Menge zu. Leoff merkte, wie jemand an seine andere Seite trat, ein junger Mann. Er legte Leoff die Hand auf die Schulter. Der Komponist fühlte sich immer unbehaglicher. Als sich die Menge schließlich beruhigte, knickste Lady Gramme vor den Versammelten. Dann lächelte sie Leoff an. »Ich hätte Euch wohl mitteilen sollen, dass Ihr der Ehrengast sein werdet«, sagte sie. 340 »Wie bitte?«, stieß Leoff hervor. Doch Lady Gramme hatte sich bereits wieder der Menge zugewandt. »Fralet Ackenzal ist ungemein bescheiden, meine Freunde, und wir dürfen ihn nicht zu sehr beschämen, ebenso wenig, wie ich ihn für mich allein in Beschlag nehmen darf, wenn so viele von uns sich wünschen, ihn kennen zu lernen. Aber schließlich ist dies mein Haus, und ich kann mir ein paar Freiheiten herausnehmen.« Sie lächelte, während ein Chor aus Gelächter dieser Bemerkung folgte. Als sie dann fortfuhr, war ihre Stimme plötzlich ernst. »Diese Halle ist voller Licht«, sagte sie. »Aber lasst euch nicht täuschen. Draußen herrscht Finsternis, ob nun die Sonne scheint oder nicht. Dies sind schwere Zeiten, schreckliche Zeiten, und was es noch schlimmer macht, ist, dass uns der Mut verlassen zu haben scheint. Widrigkeiten krönen Helden, besagt das nicht ein altes Sprichwort? Und trotzdem, wer ist hier gekrönt worden? Wer ist aus dem Schatten unserer Tragödien getreten und hat eine starke Hand gegen das Böse ausgestreckt, das sich erhebt? Ich hatte - genau wie ihr - schon lange die Hoffnung aufgegeben, hatte geglaubt, solche Männer würden auf dieser Welt nicht mehr geboren. Und doch war dieser Mann, ein Fremder in unserem Land, der nicht einmal das Kriegshandwerk erlernt hat, unser Retter, und hiermit kröne ich ihn zu unserem Helden! Von nun an möge er den Titel >Cavaor< führen.« Etwas senkte sich auf Leoffs Kopf herab, während die Menge zu jubeln begann. Er betastete es und stellte fest, dass es ein metallener Reif war. Jäh wurde die Menge wieder still, und Leoff wartete beklommen darauf, was als Nächstes geschehen würde. »Ich glaube, sie würden gern ein paar Worte von Euch hören«, sagte Lady Gramme. Leoff blinzelte und ließ den Blick über die wartenden Gesichter schweifen. Er räusperte sich. »Ah, danke«, sagte er. »Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Überhaupt nicht. Aber, äh, das ist nicht ganz richtig.« 341 Nervös warf er Lady Gramme einen Blick zu, und seine Anspannung nahm zu, als er die kleine Falte bemerkte, die zwischen ihren Augenbrauen erschien. »Ihr wart doch in Broogh, oder nicht?«, schrie jemand. »Ich war dort«, bestätigte Leoff. »Das stimmt, aber ich war nicht allein. Herzog Artwair und Gilmer Oercsun, ihnen gebührt die Ehre. Aber, Lady, ich muss Euch widersprechen. Ich bin noch nicht lange hier, aber dieses Land hat viele Helden. Eine ganze Stadt voll. Sie sind in Broogh für Euch gestorben.« »Hört, hört«, schrien ein paar Stimmen. »Daran besteht kein Zweifel«, beteuerte Lady Gramme. »Und wir danken Euch, dass Ihr uns helft, sie zu ehren.« Sie drohte ihm mit dem Finger, als tadele sie ein Kind. »Aber ich war dabei, als Herzog Artwair Bericht erstattet hat, und wenn es einen Mann im Königreich gibt, der über den Mut und den Verstand seiner Vorfahren verfügt, so ist es der Herzog. Tatsächlich war es mein Wunsch, den Herzog heute Abend hier zu sehen, doch anscheinend ist er in die östlichen Marschen beordert worden, weit fort von Eslen. Trotzdem werde ich in seiner Abwesenheit nicht an seinen Worten zweifeln, Cavaor Ackenzal, und ich hoffe doch, Ihr werdet es auch nicht tun.« »Das würde ich niemals«, verwahrte sich Leoff. »Das dachte ich mir. Nun, genug geredet. Fühlt Euch hier wie zu Hause, Leoff Ackenzal - Ihr seid unter Freunden. Und solltet Ihr Lust dazu verspüren, so hoffe ich, dass Ihr meine neue Hammarharfe ausprobiert und mir sagt, ob sie wirklich so gut gestimmt ist, wie man mir versichert hat.« »Ich danke Euch, Mylady«, erwiderte Leoff. »Ich bin wahrhaftig überwältigt. Ich werde sie sofort in Augenschein nehmen.« »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Aber Ihr könnt es gern versuchen.«
Sie hatte Recht. Er hatte nur ein paar Schritte getan, als eine junge Frau von vielleicht sechzehn Jahren seinen Arm ergriff. »Wollt Ihr nicht mit mir tanzen, Cavaor?« »Ah ...« Dümmlich blinzelnd sah er sie an. Sie war hübsch, hat342 te ein freundliches, ovales Gesicht, dunkelbraune Augen und rotgoldenes Haar, das in Locken herabhing. Die Musik hatte erneut eingesetzt, ein Whervel im Dreivierteltakt. Er sah sich um. »Diesen Tanz kenne ich nicht«, sagte er. »Er scheint ein bisschen lebhaft zu sein.« »Ihr werdet es schnell lernen«, versicherte sie ihm und nahm seine Hände. »Mein Name ist Areana.« »Es ist mir ein Vergnügen, Euch kennen zu lernen«, beteuerte Leoff, während er sich unsicher an den Tanzschritten versuchte. Wie sie gesagt hatte, war es nicht schwierig, sie hatten große Ähnlichkeit mit den ländlichen Rundtänzen seiner Jugendzeit. »Ich bin gut dran, die Erste zu sein, die mit Euch tanzt«, sagte Areana. »Das bringt Glück.« »Wirklich«, erwiderte Leoff, dessen Nacken zu brennen begann, »das wird alles zu sehr aufgebauscht. Erzählt mir lieber etwas von Euch. Aus welcher Familie stammt Ihr?« »Ich bin eine Wistbirm«, antwortete sie. »Wistbirm?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin neu hier.« »Es gibt keinen Grund, weshalb Ihr von uns gehört haben solltet«, sagte sie. »Nun, es muss eine gute Familie sein, wenn sie eine so reizende Tochter hervorbringt«, erklärte Leoff, der sich plötzlich sehr mutig fühlte. Sie lächelte. Es war schön, mit ihr zu tanzen. Sein Bein war immer noch steif, und hin und wieder bewegte er sich unbeholfen, so dass ihre Körper gegeneinander stießen. Es war lange her, dass er einer Frau so nahe gewesen war, und er stellte fest, dass er es genoss. »Wie ist es bei Hofe?«, wollte sie wissen. »Wart Ihr noch nie dort?« Sie starrte ihn an und kicherte dann. »Haltet Ihr mich für eine Adlige?« Leoff blinzelte. »Das muss ich wohl getan haben.« »Nein, wir sind nur niedere Landwaerde - obwohl mein Vater 343 der Aethil von Wistbirm ist. Findet Ihr mich jetzt weniger reizend?« »Nicht im Mindesten«, antwortete er, obgleich ihm jetzt auffiel, dass sie mit dem Akzent der Landbevölkerung sprach - nicht so ausgeprägt wie Gilmer, jedoch immer noch vernehmlich - und dass ihr Tonfall ganz anders klang als der Singsang der höfischen Sprache, die ihm inzwischen vertraut war. »Es ist ja nicht so, als ob ich selbst von adligem Blut wäre.« »Und doch ist so viel Edelmut in Euch.« »Unsinn. Ich hatte Todesangst. Ich weiß kaum noch, was passiert ist, und es ist ein Wunder, dass ich nicht umgekommen bin.« »Ich glaube, es war ein Wunder, das Euch zu uns geführt hat«, sagte Areana. Das Lied endete mit einer Art rumpelndem Schlag, und Areana trat von ihm zurück. »Ich werde Euch nicht für mich allein beanspruchen«, erklärte sie. »Die anderen Ladys würden mir das nie verzeihen.« »Vielen Dank für diesen Tanz«, sagte er. »Das nächste Mal müsst Ihr mich auffordern«, erwiderte sie. »Ein Mädchen meines Standes darf nicht zu dreist sein.« Es herrschte allerdings kein Mangel an dreisten Mädchen, die, wie sich herausstellte, alle zu den Familien der Landwaerde gehörten. Nach dem vierten Tanz bat er sich eine Pause aus und strebte dorthin, wo die Bediensteten Wein ausschenkten. »He, Cavaor«, ließ sich eine raue Stimme vernehmen. »Wie war's mit einem Tänzchen für mich?« Beim Klang der Stimme fuhr Leoff entzückt herum. »Gilmer!«, rief er und umarmte den kleinen Mann. »He, ich habe nur einen Scherz gemacht«, brummte Gilmer. »Ich hüpfe doch hier nicht mit Euch herum.« »Aber wo wart Ihr vorhin, als Mylady mich vorgestellt hat? Dieser Ball sollte für Euch veranstaltet werden, nicht für mich.« Gilmer lachte und schlug ihm auf die Schulter, dann flüsterte er: »Ich habe mich mit einem Haufen anderer eingeschlichen. Aber keine Angst - dieses Fest ist für keinen von uns beiden gedacht.« 344 »Wie meint Ihr das?« »Habt 'r bei der hübschen Rede der Lady nicht zugehört? Ist Euch nicht aufgefallen, von welchem Schlag die Gäste sind?« »Nun, es scheinen hauptsächlich Landwaerde zu sein.« »Auy Oh, 's sind auch Edelleute hier - Mylady natürlich, und der Grefft von Nithergaerd dort drüben in Blau, der Herzog von Shale, Lord Fallow, Lord Fram Dagen und ihre Damen, aber die meisten hier sind Landwaerde oder Fraleten: Leute vom Land und aus kleinen Städten.«
»Für eine Lady scheint es ein seltsames Fest zu sein«, gab Leoff zu. Gilmer griff nach einem vorbeikommenden Tablett und schnappte sich zwei Weinkelche. »Gehen wir ein Stück«, sagte er. »Werfen wir mal einen Blick auf Eure Hammarharfe.« Sie gingen zu dem Instrument hinüber, das auf der anderen Seite des Saales stand. »Diese Familien hier sind 's Rückgrat von Neuland«, erklärte Gilmer. »Sie mögen nicht von edlem Blut sein, aber sie haben Geld, und sie haben Männer unter Waffen, und die, die das Land bestellen, sind ihnen treu ergeben. Sie sind schon seit Generationen nicht glücklich über die adligen Familien, aber jetzt ist's noch schlimmer, besonders nach dem, was in Broogh passiert ist. Zwischen der königlichen Familie und den Menschen hier draußen liegt ein tiefer Kanal, und er wird jeden Tag tiefer und breiter.« »Aber Herzog Artwair -« »Der ist von einem anderen Schlag, und wie Lady Gramme gesagt hat, man hat ihn fortbeordert, oder etwa nicht? Und der König blickt nicht hierher. Er hört und sieht uns nicht, und er hilft uns nicht.« »Der König -«, setzte Leoff an. »Ich weiß Bescheid über den König«, fiel Gilmer ihm ins Wort. »Aber seine Mutter, die Königin - wo ist sie? Wir haben nichts von ihr gehört.« »Aber sie ...« Jäh hielt er inne; er war sich nicht sicher, ob er von 345 seinem Auftrag sprechen durfte. Er nippte an seinem Wein. »Was soll das dann?«, fragte er. »Warum bin ich hier?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Gilmer. »Aber 's ist was Gefährliches. Ich bin nur hier hereingeschlüpft, um Euch zu warnen. Sobald ich eine Möglichkeit sehe, mache ich mich aus dem Staub.« »Wartet. Was meint Ihr damit, etwas Gefährliches?« »Wenn die Adligen sich so um die Landwaerde bemühen wie hier, dann geht's normalerweise nicht nur darum, einfach freundlich zu sein. Erst recht nicht, wenn anscheinend niemand genau weiß, wer dieses Land eigentlich regiert. Lady Gramme hat einen Sohn, wisst 'r - hat direkt neben Euch gestanden. Ich nehme an, Euch ist bekannt, wer sein Vater war.« »Oh«, sagte Leoff. »Auy. Hört auf mich - spielt etwas Hübsches auf dieser Hammarharfe, und dann macht, dass 'r hier wegkommt.« Leoff nickte und fragte sich, ob Alvreic ihn wohl zurückbringen würde, wenn er ihn darum bat. Sie hatten das Instrument erreicht. Es war wunderschön, aus tiefrot lackiertem Ahornholz, mit schwarzen und gelben Tasten. »Was macht Ihr jetzt, nachdem Eure Malend abgebrannt ist?« »Herzog Artwair hat mir eine neue Stellung verschafft«, antwortete Gilmer. »In einer von den Malenden am Graf f des heiligen Thon, gar nicht weit von hier.« »Es freut mich, das zu hören.« Er ließ sich auf dem Hocker nieder und schaute noch einmal auf. Gilmer war verschwunden. Mit einem Seufzer berührte er die Tastatur und begann zu spielen. Es war eine seiner älteren Kompositionen, eine, an der der Herzog von Glastir großen Gefallen gefunden hatte. Einst hatte sie ihm auch gefallen, jetzt jedoch kam sie ihm unbeholfen und kindisch vor. Rasch spielte er das Stück zu Ende, fügte ein paar Variationen hinzu, in der Hoffnung, es interessanter zu machen, doch als er geendet hatte, erschien es ihm leer. Zu seiner Überraschung wurden die letzten Töne mit Applaus 346 aufgenommen, und er bemerkte, dass sich eine kleine Menschenmenge um ihn versammelt hatte, unter ihnen auch Lady Gramme. »Wunderbar«, sagte sie. »Bitte spielt noch etwas.« »Was immer Ihr wünscht, Mylady« »Ob ich wohl ein Stück bei Euch in Auftrag geben könnte?« »Es wäre mir eine Freude, allerdings habe ich bereits einen Auftrag angenommen, den ich erst vollenden muss.« »Ich hatte eher gedacht, dass Ihr Euch vielleicht etwas für diesen Anlass ausdenken könnt«, entgegnete sie. »Man hat mir gesagt, Ihr wärt zu so etwas in der Lage, und ich habe eine Wette mit dem Herzog von Shale abgeschlossen, dass Ihr aus dem Stegreif etwas Gefälliges spielen könnt.« »Ich könnte es versuchen«, stimmte er widerstrebend zu. »Aber hört doch«, meldete sich der Herzog zu Wort, ein aufgedunsener Mann in einem Wams, das zu eng aussah. »Woher sollen wir wissen, dass er das Stück erfindet und nicht einfach irgendetwas Älteres, wenig Bekanntes spielt?« »Ich denke, wir können auf seine Ehre vertrauen«, erwiderte Lady Gramme. »Nicht, wenn es um meinen Beutel geht«, wehrte der Herzog ab. Leoff räusperte sich. »Mit Verlaub, Herzog, summt doch ein paar Töne Eures Lieblingsliedes.« »Nun ...« Der Angesprochene überlegte einen Moment lang, dann pfiff er ein paar Töne. Murmelndes Gelächter war aus der Menge zu hören, und Leoff fragte sich, was genau das wohl für eine Melodie war.
Er erblickte Areana in der Menge. »Und Ihr, meine Liebe«, sagte er. »Gebt mir auch eine Melodie.« Areana errötete. Nervös sah sie sich um, dann sang sie: Waey cunnad min loof, min goth moder? Waey cunnad min werlic loofi Thus cunnad in at, ispaed thin loof That ne nethal Niwhuan Coonth 347 Sie hatte eine liebliche Sopranstimme. »Sehr gut«, sagte Leoff. »Das ist schon mal ein Anfang.« Er begann mit Areanas Weise, weil sie mit einer Frage anfing: »Woran werde ich meinen Liebsten erkennen, liebe Mutter? Woran werde ich meinen wahren Liebsten erkennen?« Dies spielte er in einer klagenden Tonart, mit einer sehr leichten Bassbegleitung, und jetzt antwortete die Mutter, in volleren, farbigeren Akkorden: »An seinem Mantel wirst du ihn erkennen, der niemals die Nadel gekannt.« Nun trennte er die beiden Hälften der Melodie und begann, sie miteinander zu verweben, und als Kontrapunkt fügte er die gepfiffene Zeile des Herzogs ein, dicht am oberen Ende der Tastatur der Hammarharfe. Als sie das hörten, lachten fast alle Anwesenden, und auch Leoff selbst lächelte. Er hatte sich gedacht, dass die Gegenüberstellung des Liebesrätsels und der anderen, wahrscheinlich anstößigen Melodie die Zuhörer belustigen würde, und jetzt machte er ein Zwiegespräch daraus: das Mädchen, das fragte, woran sie ihren Liebsten erkennen würde, der lüsterne Wüstling, der sie belauscht hatte, und die gestrenge Mutter, die ihn sich fortscheren hieß; schließlich ließ er das Ganze mit einer Art Knall enden, als die Mutter einen Krug nach dem Mann warf und er davonrannte, sodass seine Melodie rasch verklang, bis nur noch das Mädchen übrig blieb. Waey cunnad min loof... ? Zügelloses Klatschen folgte, und Leoff war es plötzlich, als habe er in einer Schenke gespielt; es war ganz anders als der höfliche und oft unaufrichtige Applaus, der ihm an den verschiedenen Höfen zuteil geworden war. Dies hier fühlte sich zutiefst ehrlich an. »Das ist wirklich bemerkenswert«, sagte Lady Gramme. »Ihr habt eine seltene Begabung.« »Meine Begabung«, erwiderte Leoff, »wie immer sie auch beschaffen sein mag, gehört den Heiligen. Aber es freut mich, dass es Euch gefallen hat.« 348 Die Gastgeberin lächelte und wollte gerade noch etwas sagen, doch ein plötzlicher Tumult an der Tür ließ alle herumfahren. Leoff hörte Stahl klirren und Schmerzgeheul, und grimmige Männer in Rüstungen, die Schwerter in den Händen hielten, kamen in den Saal gestürmt, gefolgt von Bogenschützen. Aufruhr brach im Raum aus; Leoff wollte sich erheben, doch jemand rempelte ihn von hinten an, und er fiel zu Boden. »Auf Befehl des Königs«, donnerte eine Stimme über das allgemeine Getöse hinweg, »seid ihr alle wegen Verschwörung gegen den Thron festgenommen.« Leoff versuchte aufzustehen, doch ein Stiefel traf ihn am Kopf. 28. Kapitel Swanmay Neil spannte sich an und sah alle Wege, die ihm offen standen, dunkel werden. Wenn er Swanmay tötete, würde er das Geheimnis von Annes Reiseziel bewahren und der Königin auf die einzige Art und Weise dienen, die ihm jetzt noch blieb. Doch eine Frau zu töten, der er versprochen hatte, ihr nichts zuleide zu tun, wäre das Ende jeglicher Ehre, auf die er sich noch berufen könnte. So oder so war er mit Sicherheit tot. Er starrte Swanmays weiße Kehle an, versuchte sie mit schierer Willenskraft dazu zu bringen, näher zu kommen, und fragte sich, wie er sich so in ihr hatte täuschen können. Sie senkte leicht den Kopf, und Strähnen ihres kurzen Haares fielen ihr übers Gesicht. »Ich wollte, ich könnte Euch Euren Wunsch erfüllen, Sir Neil«, sagte sie. »Aber ich kann Euch nicht nach Paldh bringen. Ich bin beinahe frei, versteht Ihr? Wenn ich Euch noch mehr helfe, als ich es schon getan habe, setze ich alles 349 aufs Spiel. Und Ihr würdet wahrscheinlich getötet werden, was ich nicht möchte.« Er ließ den Kopf ins Kissen sinken. Helle Lichtpunkte tanzten in seinem Blickfeld, und einen Moment lang überlegte er, ob sie ihn irgendwie behext hatte. Die blindwütige Raserei, die sich angebahnt hatte, verging jetzt, doch sein Blut strömte immer noch zu schnell, und er begann zu zittern. »Geht es Euch gut?«, fragte sie. »Mir war einen Augenblick lang schwindlig«, antwortete er. »Bitte, was habt Ihr damit gemeint - dass ich getötet werden würde?« »Ich habe Euch gesagt, dass das Schiff Eurer Freunde aus dem Hafen entkommen ist, und das stimmt auch. Aber sie sind verfolgt worden - ich habe gesehen, wie ein Schiff hinter ihnen hergesegelt ist. Wenn sie nicht auf hoher See eingeholt werden, dann in Paldh. Ich denke, es wird bestimmt einen Kampf geben, und Ihr seid nicht in der richtigen Verfassung, um zu kämpfen.« »Ich flehe Euch an, Lady, bringt mich nach Paldh. Was immer Ihr auch für Schwierigkeiten habt - was immer es ist, wovor Ihr auf der Flucht seid -, ich werde Euch davor beschützen. Aber ich muss Paldh erreichen.« »Ich glaube, dass Ihr versuchen würdet, mich zu beschützen«, entgegnete Swanmay. »Aber es würde Euch nicht
gelingen. Versteht Ihr denn nicht? Die Leute, die Eure Freunde überfallen haben - auch ich fliehe vor ihnen. Eure Feinde sind meine Feinde. Ich bin ein größeres Risiko eingegangen, als Ihr Euch vorstellen könnt, als ich Euch das Leben gerettet habe. Hätten sie mich bemerkt, hätten sie mein Schiff erkannt, so wäre alles zu Ende gewesen. Wenn ich ihnen folge, werden sie mich ganz gewiss erkennen.« »Aber -« »Ihr wisst, dass Ihr mich nicht beschützen könntet«, sagte sie leise. »Der Nauschalk kann nicht getötet werden. Er hat Euch besiegt, als Ihr heil und gesund wart - glaubt Ihr, Ihr könntet jetzt besser gegen ihn bestehen?« 35° »Nauschalk? Ihr kennt ihn? Ihr wisst, was er ist?« »Nur aus den alten Geschichten. Solche Dinge sollte es eigentlich nicht mehr geben, und bis vor kurzem gab es sie auch nicht. Jetzt jedoch ist das Gesetz des Todes gebrochen worden.« Ihre Stimme war ein wenig unheimlich geworden, als spräche sie aus weiter Ferne zu ihm. Ihre Augen waren Spiegel. Neil versuchte sich aufzusetzen. »Wer seid Ihr, Lady, dass Ihr von solchen Dingen sprecht? Seid Ihr eine Zauberin?« Sie lächelte schwach. »Ich verstehe ein wenig von derlei Künsten, und auch von anderen, von denen Ihr bestimmt noch nie gehört habt.« »Das kann ich nicht glauben.« Neil wurde plötzlich kalt. »Ihr seid zu gütig, Lady. Ihr könnt nicht böse sein.« Ihre Brauen senkten sich in einem Stirnrunzeln, doch einer ihrer Mundwinkel hob sich. Sie legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich danke Euch«, sagte sie. »Ich halte mich nicht für böse. Aber warum solltet Ihr das denken?« »Zauberer sind böse, Mylady Sie üben verbotene Künste aus, die die Kirche verabscheut.« »Wirklich?«, fragte sie. »Das hat man mir immer gesagt. Das habe ich immer geglaubt.« »Dann habt Ihr Euch vielleicht geirrt. Oder vielleicht bin ich wirklich böse, und wir sind nur nicht der gleichen Meinung darüber, was das Böse eigentlich ist.« »Darüber kann keine Uneinigkeit bestehen, Mylady«, wandte Neil ein. »Das Böse ist, was es ist.« »Ihr lebt in einer simplen Welt, Sir Neil. Das missgönne ich Euch nicht. Um die Wahrheit zu sagen, ich beneide Euch. Aber ich glaube, dass die Dinge komplizierter sind.« Er wollte gerade etwas erwidern, als ihm die Entscheidung einfiel, der er sich erst Augenblicke zuvor gegenübergesehen hatte. Vielleicht war es wirklich komplizierter. Er war kein Geistlicher, der über solche Fragen streiten könnte. Das Gesetz des Todes wurde gebrochen. Fastia hatte das gesagt, in Eslen-des-Schattens. 351 »Lady, um Vergebung. Ihr sprecht von Dingen, die ich nicht verstehe. Was ist das Gesetz des Todes?« Sie lachte leise. »Ganz einfach, dass das, was stirbt, auch tot bleibt.« »Wollt Ihr damit sagen, der Mann, gegen den ich gekämpft habe, war tot?« »Nein, nicht direkt. Aber er existiert, weil jemand, der tot sein sollte, es nicht ist. Jemand ist über die Gefilde des Schicksals hinausgewandelt und dann zurückgekehrt. Das verändert die Welt, Sir Neil, zerbricht etwas darin. Es lässt Dinge zu, die vorher nicht hätten geschehen können, erschafft Magie, die es niemals gegeben hat. Das hat es mir möglich gemacht, zu entkommen.« »Von wo zu entkommen, Mylady? Wer verfolgt Euch?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist eine alte Geschichte, nicht wahr? Die im Turm eingesperrte Frau, die auf einen Prinzen wartet, der sie rettet? Und doch habe ich gewartet und meine Pflicht getan, und kein Mann ist gekommen. Also musste ich selbst fliehen.« »Was für ein Turm?« Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihr Haar wie mit einem Kamm, dann ließ sie den Kopf hängen, die erste an eine Niederlage gemahnende Geste, die er bei ihr sah. »Nein«, flüsterte sie. »So sehr darf ich Euch nicht vertrauen. Ich darf niemandem so sehr } vertrauen.« »Und Eure Mannschaft? Was ist mit der?« »Bei ihnen bleibt mir nichts anderes übrig - und ich glaube, dass sie mich lieben. Hätte ich mich in ihnen getäuscht, würden Ihr und ich uns jetzt nicht unterhalten. Trotzdem wird mich einer von ihnen binnen Tages-, Monats- oder Jahresfrist verraten. Das ist die Art der Menschen.« »Habt Ihr das in einer Vision gesehen?« »Nein. Aber es ist sehr wahrscheinlich.« Neil seufzte. »Ihr seid nichts anderes als ein Rätsel, Lady Swanmay« »Dann bin ich vielleicht gar nichts.« 352 »Das glaube ich nicht.« Sie lächelte wehmütig. »Ich würde Euch helfen, wenn ich könn-: Sir Neil. Aber ich kann nicht.« »Dann setzt mich im nächsten Hafen ab«, drängte er. »Lasst mich meinen Weg allein finden. Ich werde niemandem von Euch erzählen.«
»Ist Euch meine Gesellschaft so lästig?«, fragte sie. »Nein. Aber meine Pflicht -« »Sir Neil, glaubt mir, wenn ich sage, dass der Schmerz darüber, Eure Verpflichtungen hinter Euch lassen zu müssen, vergehen wird.« »Niemals. Und Ihr könnt das auch nicht glauben. Dafür seid Ihr zu gut.« »Eben habt Ihr mich noch böse genannt.« »Das habe ich nicht getan. Ich habe gesagt, Ihr könntet nicht böse sein.« Sie dachte darüber nach. »Das habt Ihr wohl, auf etwas umständliche Art und Weise.« Sie zuckte die Achseln. »Aber ob Ihr nun Recht habt oder nicht, ich muss glauben, dass es im Leben mehr gibt als die Pflicht.« »Es gibt mehr«, erwiderte Neil. »Aber ohne Pflicht ist der Rest bedeutungslos.« Sie stand auf und schritt von dem Lampenlicht fort, dann drehte sie sich um, um ihn mit einem wilden Glitzern in den Augen zu betrachten. »Als Ihr ins Wasser gestürzt seid«, sagte sie und wog ihre Worte dabei sorgfältig ab, »wart Ihr noch bei Bewusstsein. Und trotzdem habt Ihr nicht versucht, Eure Rüstung abzustreifen. Nicht eine einzige Schnalle war offen.« »Ich habe nicht daran gedacht, sie auszuziehen, zumindest nicht, bis es zu spät war«, antwortete Neil. »Wieso nicht? Ihr seid nicht dumm, und Rüstungen sind nichts Neues für Euch. Jeder Ertrinkende hätte versucht, sie abzustreifen, und zwar sogleich, es sei denn ...« »Es sei denn was, Lady?« »Es sei denn, für ihn wäre die Rüstung so sehr Teil seiner selbst, 353 dass er glaubt, er könne sie nicht ablegen. Es sei denn, er würde lieber sterben, als sie auszuziehen. So als wolle er sterben, vielleicht.« Er erlebte einen Augenblick der Orientierungslosigkeit. Woher konnte sie ... ? »Ich habe nicht den Wunsch zu sterben, Swanmay«, sagte er. Sie trat wieder ins Licht. »Wer war sie? Wer war Fastia?« Jetzt war ihm, als habe ihn ein Kugelblitz getroffen. Er öffnete den Mund, ehe die Besonnenheit die Oberhand gewann. »Diesen Namen kenne ich nicht«, log er. »Ihr habt ihn oft ausgesprochen, als Ihr geschlafen habt. Sie ist es, die Ihr liebt, nicht wahr? Nicht das Mädchen auf dem Schiff.« Sie senkte die Stimme. »Der Herrscher von Crothenien hatte eine Tochter dieses Namens. Es heißt, sie sei in Cal Azroth umgebracht worden.« »Wer seid Ihr, Lady?«, fragte Neil. »Niemand«, erwiderte sie. »Euer Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben, Neil MeqVren. Der einzige Grund, weshalb ich diese Fragen stelle, ist, um meine Neugier zu stillen.« »Darauf kann ich mich nicht verlassen.« »Ich weiß. Wolltet Ihr wirklich sterben?« Neil seufzte und ließ den Kopf zurücksinken. »Ihr wechselt so häufig das Ziel, Lady.« »Nein. Dieses wollte ich die ganze Zeit über treffen.« »Ich habe es nicht darauf angelegt, zu sterben«, antwortete Neil. »Aber ich war ... ich glaube, ich war erleichtert. Erleichtert, dass es nichts gab, was ich hätte tun können.« »Und dann habe ich alles verdorben.« »Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich bin Euch dankbar.« Swanmay begutachtete ihre Fingernägel. »Es hat einen Zeitpunkt gegeben, Sir Neil«, sagte sie, »da habe ich mit einem Rasiermesser in der Hand dagestanden und meine Handgelenke angeschaut. Ein andermal habe ich einen Giftkelch in der Hand gehalten, nur wenige Fingerbreit von meinen Lippen entfernt. Von' allen Menschen, die ich je gekannt habe, denke ich, könnt Ihr 354 vielleicht verstehen, wie die unaufhaltsame Pflicht die Flamme in uns auslöschen kann.« »Die Pflicht ist die Flamme in mir.« »Ja. Und wenn Ihr versagt, oder schlimmer noch, wenn sie Euch im Stich lässt, dann ist nichts mehr übrig.« »Nein.« »Ich habe meine Rüstung abgestreift, Sir Neil. Ich bin nicht ertrunken. Ich werde bessere Dinge finden, mit denen ich mein Leben ausfüllen kann, bessere Gründe, um mich jeden Tag aufs Neue zu erheben.« »Aber Ihr habt sie noch nicht gefunden.« »Jetzt schießt Ihr auf mein Ziel.« »Das erscheint mir nur gerecht.« »Ihr habt daneben geschossen«, sagte sie. »Ich bin keine Zielscheibe mehr.« Sie kam und setzte sich neben ihn. »Es ist mir gleich, wer Ihr seid, Sir Neil. Es ist mir gleich, wem Ihr gedient habt. Aber ich hätte es gern, wenn Ihr mir dienen würdet. Ich brauche jemanden wie Euch, jemanden, dem ich vertrauen kann.« Neil lächelte schwach. »Wenn ich einen Herrn verrate, könntet Ihr Euch dann jemals darauf verlassen, dass ich Euch nicht auch im Stich lasse?« Sie nickte. »Da habt Ihr wohl Recht. Ich hatte gehofft, Ihr würdet das nicht ansprechen.«
»Aber Ihr habt bereits daran gedacht.« »Gewiss. Aber es scheint mir, dass Ihr es seid, der verraten worden ist, nicht andersherum.« »Die, der ich diene, hat mich nie verraten.« »Das ist nicht das, was Ihr im Schlafe murmelt«, entgegnete Swanmay »Ich werde jetzt gehen. Denkt über das nach, was ich gesagt habe.« »Ich glaube nicht, dass ich es mir anders überlegen werde. Ich bitte Euch noch einmal - lasst mich im nächsten Hafen an Land gehen.« »Falls Ihr mein Angebot ausschlagt, setze ich Euch an Land ab, wenn es Euch gut genug geht, um zu reisen«, erwiderte sie. 355 Er sah ihr nach und hörte durch die offene Tür das Kreischen von Möwen. Einen Moment lang wartete er, dann ging er, ohne auf die Schmerzen in seiner Seite zu achten, zum Fenster hinüber. Die saphirblaue See tanzte unter der Sonne, und weniger als eine Meile entfernt konnte er eine Küste ausmachen. Es war also kein Trick. Hätten sie Kurs auf Paldh genommen, so wären sie jetzt auf hoher See. Keine Insel in der Lierischen See war so groß. Er ließ sich wieder aufs Bett sinken und fragte sich, was er wohl im Schlaf gemurmelt hatte. Oder hatte sie das nur geraten? Die Königin hatte ihn nicht hintergangen, aber... fühlte er sich hintergangen ? Sie hatte ihn fortgeschickt, und sie war von einem gefährlichen Hofstaat umgeben. Wenn sie angegriffen wurde, gäbe es nichts, was er tun könnte. Er hatte sie angefleht, ihn bleiben zu lassen. Doch er war erleichtert gewesen, als sie ihn schließlich doch weggeschickt hatte, denn ein Teil von ihm hatte das Gefühl, dass sie dann selbst an ihrem Tod schuld wäre, dass er nicht dafür verantwortlich sein würde. In Vitellio hatte er sich wieder richtig lebendig gefühlt, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten, hatte es mit Feinden zu tun gehabt, die er sehen und gegen die er kämpfen konnte, auch wenn sie nicht starben, wenn er sie niederstreckte. Selbst das war besser als die von Messerklingen starrenden Schatten des Hofes. Swanmay zu dienen hatte seinen Reiz, und ein Teil von ihm sehnte sich danach. Du hast mich vergessen, hatte Fastia zu ihm gesagt. Das habe ich nicht. Hast. Wirst. Es ist dasselbe. Auf seinem Gesicht waren Tränen, und hundert Ellen Schmerz, die verknotet in seiner Brust lagen, begannen sich zu lockern und zu lösen, als er das Gesicht in die Laken drückte und weinte. Sechs Glockenschläge später kam sie zurück, als die Sonne im Wald jenseits der Welt verschwunden war. Er tat, als schliefe er, und sie machte keinen Versuch, ihn zu wecken. Er hörte, wie sie sich auf der Pritsche niederließ, wie sie sich eine Weile hin und her 356 drehte, ehe ihr Atem erst leiser und schließlich ruhig und gleichmäßig wurde. Dann erhob er sich, die Hand gegen seine verbundene Seite gepresst, und schlurfte über den Holzboden. Die Tür war verriegelt, jedoch nicht abgeschlossen, und er drückte sie einen Spaltbreit auf und spähte hinaus. Das Deck war weitgehend still und wurde nur spärlich von einem Mond beleuchtet, den er nicht sehen konnte. Zwei Männer standen am Steuerruder und unterhielten sich leise. Ein weiterer stand ein paar Ellen entfernt an der Steuerbordreling. An Backbord war niemand zu sehen. Geduckt schob er die Tür ein wenig weiter auf. Beinahe hätte er den Mann damit angestoßen. Er saß gleich hinter dem Schott, einen Speer über die Knie gelegt. Sie hatte Recht. Sie brauchte bessere Wächter. Doch Neil konnte keiner davon sein. Niemand rief ihn an, als er sich der Reling näherte. Angestrengt starrte er ins Dunkel, versuchte zu erkennen, ob das Land, das er vorhin gesehen hatte, noch nahe war oder nicht. Er glaubte, ein paar Lichter gesehen zu haben, doch vielleicht waren es auch nur Funken des Feuers gewesen, das in seiner Seite loderte. Ohne weiteres Zögern glitt er über die Reling. Platschend stürzte er ins Wasser. Die Kälte traf ihn wie ein Schock, doch es gelang ihm, sich auf den Rücken zu drehen und mit Armen und Beinen zu rudern und zu treten, wobei er hoffte, dass die Wunde in seiner Seite nicht wieder aufbrach. Er hatte keinen Plan, was er tun würde, wenn er das Ufer erreichte, doch jeder Tag auf dem Schiff führte ihn weiter von dort fort, wo er hinmusste. »Hwas ist thata?«, brüllte jemand auf Hansisch. »Hwas fott Airicf« »Ne, ni mih.« Grimmig schwamm Neil mit verbissener Entschlossenheit weiter. Einmal glaubte er, Swanmays Stimme gehört zu haben, doch er war sich nicht sicher. Dann gab es nur noch seinen eigenen Kampf gegen die Wellen. Viel zu schnell wurden seine Arme bleischwer, und trotz des 357 Feuers in seinen Rippen fühlte er, wie die Wärme aus seinem Körper schwand. Wenn das Ufer nicht nahe war, würde er den Tod vollenden, vor dem Swanmay ihn bewahrt hatte. Hatte sie Recht? Wollte er sterben? Er beschwor ein Bild der Königin herauf, von ihrem blassen Gesicht und ihrem dunklen Haar, und von Händen, die aus allen Richtungen nach ihr griffen, doch er konnte es nicht festhalten. Stattdessen sah er im halben Antlitz
des Mondes Swanmays blaue Augen. Eine seltsame Verzweiflung ergriff von ihm Besitz. Wenn sie hansisch war - und dessen war er sich jetzt sicher -, warum hatte sie ihm dann geholfen? Vor wem war sie auf der Flucht? Der Ozean hob sich unter ihm, und sein Gesicht tauchte unter. Heftig prustete er Wasser aus Mund und Nase und drehte sich um, um in Bauchlage zu schwimmen. Jetzt vernahm er ein leises Rauschen - es mochte die Brandung sein oder das ersterbende Schlagen seines Herzens. Er schwamm weiter. Es war das Einzige, was er tun konnte. Er erwachte unter blauem Himmel und hörte das warme Knistern eines Feuers. Einen Moment lang glaubte er, er habe geträumt, doch dann drang Swanmays Stimme zu ihm durch. Er fühlte sich unendlich viel besser, so als hätte er zehn Tage lang geschlafen. Der Schmerz in seiner Seite war jetzt nur noch ein dumpfes Pochen, und einen Augenblick lang dachte er, alles, was geschehen war, seit er Eslen verlassen hatte, sei bloß ein Traum gewesen. Dann jedoch hörte er das Geplapper um sich herum, auf Hansisch, und griff nach seinem Schwert. »Ihr seid ein sehr dummer Mann«, ließ Swanmays Stimme ihn wissen. Er öffnete die Augen und richtete sich auf. Er lag auf einer Decke. Das Feuer brannte ganz in der Nähe, und dahinter waren ein Sandstrand und das Meer. Zwei Langboote waren auf den Strand gezogen worden, und Swanmays Schiff lag hundert Königsellen vom Ufer entfernt vor Anker. In der anderen Richtung war eine Ebene mit kurzem, borstigem 358 Gras zu sehen. Swanmay saß neben dem Feuer auf einem kleinen Schemel. Ihre Männer schienen hier ein Lager aufgeschlagen zu haben. In der Nähe zerlegten zwei von ihnen einen kleinen, seltsam aussehenden Hirsch. Swanmay trug einen breitkrempigen Hut, als wäre sie tatsächlich eine Sefry, doch ihr Gesicht sah müde und verhärmt aus. Das Blau ihrer Augen war stumpf geworden, als habe sie etwas Lebenswichtiges eingebüßt. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich musste es versuchen.« »Das verstehe ich jetzt«, erwiderte sie. »Es macht Euch nicht weniger dumm.« Dies räumte er mit einem Nicken ein. Sie zuckte die Achseln. »Wir konnten in z'Espino nicht genug Verpflegung an Bord nehmen. Dem helfen meine Männer jetzt ab.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Wie fühlt Ihr Euch?« »Wunderbar.« »Gut. Erinnert Ihr Euch an irgendetwas?« »Das Letzte, was ich weiß, ist, dass ich die Brandung gehört habe.« »Wir haben Euch am Strand gefunden. Eure Wunden waren aufgebrochen, und Ihr habt kaum geatmet. Ihr wart sehr kalt.« »Aber jetzt... Was ist passiert?« »Wie ich Euch gesagt habe, ich verstehe mich auf ein paar Künste. Ich habe gezögert, sie anzuwenden, denn sie haben ihren Preis.« Sie lächelte wild. »Ihr habt Glück, dass die Mauern zwischen Tod und Leben so dünn sind.« Übelkeit erregende Furcht durchzuckte Neil. »War ich tot? Habt Ihr ...?« »Ihr wart nicht tot. Das Leben in Euch war eine flackernde Kerze, aber es war nicht erloschen.« »Lady, was für Zauberei Ihr auch immer angewendet habt, Ihr hättet das nicht tun sollen. Nennt mir den Preis, und ich werde ihn bezahlen.« »Es ist nicht an Euch, ihn zu bezahlen«, sagte sie leise. »Und es ist bereits geschehen.« Ihre Stimme wurde fester. »Außerdem tref359 fe ich meine eigenen Entscheidungen. Habt keine Furcht, Ihr seid nicht verflucht oder von Geistern besessen. Ihr werdet nicht nachts umgehen und auf meinen Befehl hin Böses tun.« »Ich könnte mir niemals vorstellen, dass Ihr mir etwas antun würdet«, erwiderte Neil. »Nein? Und doch habt Ihr meine Gesellschaft verschmäht, als Ihr mir Euer Leben schuldig wart.« Ihre Stimme wurde lauter. »Versteht Ihr? Ihr habt in z'Espino Euer Leben weggeworfen, und alle Verpflichtungen oder Aufgaben, die Ihr je hattet. Ihr habt es weggeworfen, und ich habe es aufgehoben. Könnt Ihr nicht zugeben, dass es jetzt mein ist? Fühlt Ihr Euch mir gegenüber nicht verpflichtet?« »Doch, natürlich«, stieß Neil hervor, »und genau das ist das Problem. Und jetzt schulde ich es Euch zweimal, aber ich kann die Schuld nicht bezahlen. Das bereitet mir unglaubliche Pein, Lady. Versteht Ihr? Ihr habt mich zwischen die anrollende Flut und die unerklimmbare Klippe gestellt -« »Und Euch fällt nichts Besseres ein, als Euch erneut zu ertränken.« Sie schnaubte. »Genug. Ich bin fertig hiermit.« »Fertig?« »Ihr werdet niemals in meine Dienste treten, das ist mir jetzt klar. Aber Ihr steht zweifach in meiner Schuld, und ich erwarte, dass Ihr das nicht vergesst. Eines Tages werde ich Euch um einen Gefallen bitten, und Ihr werdet ihn mir erweisen. Habt Ihr verstanden?« »Wenn ich kann.« »Nein. Wenn Ihr Euch mir verpflichtet fühlt, dann betrachtet es als Geis, als gestundete Schuld. Ich werde mich nicht in naher Zukunft darauf berufen.« Er seufzte und senkte den Kopf. »Wollt Ihr damit sagen, Ihr werdet mich jetzt gehen lassen, wenn ich diese Geis
annehme?« »Still. Um die Mittagsstunde brechen wir auf, und ich bringe Euch nach Paldh, ganz gleich, was Ihr jetzt sagt. Doch wenn Ihr auch nur ein wenig von der legendären Rechtschaffenheit Skerns besitzt, werdet Ihr meine Geis anerkennen.« »Ich schwöre bei den Heiligen, auf die meine Väter geschworen 360 haben, und erkenne diese Geis an«, sagte Neil. »Wenn Ihr mich braucht, werde ich kommen, solange dies nicht die Sicherheit derer gefährdet, die zu beschützen meine Pflicht ist.« »Nun gut.« Sie stand auf und blickte zu den fernen Wiesen hinüber. »Ich bin in z'Espino nie an Land gegangen«, sagte sie leise. »Dies ist das erste fremde Land, das ich je betreten habe. Es ist schön.« »Lady -« »Macht das Schiff bereit«, rief sie ihren Männern auf Hansisch zu. Dann schritt sie von ihm fort, ohne noch einmal zurückzuschauen. 29. Kapitel Der Wind und das Meer Werden sie uns einholen?« Wie gebannt sah Anne zu, wie die Masten des anderen Schiffes hinter den hohen Wellen auftauchten und wieder verschwanden. Der Himmel war ein türkisblauer Edelstein, nur hier und dort durch ein paar weiße Wolkenstreifen verunziert. Es war kein Land zu sehen. Kapitän Malconio stützte die schwieligen Hände auf die Reling und beugte sich vor. Bizarrerweise fiel ihr auf, dass ihm der gleiche Mandelgeruch anhaftete, den Cazio immer verströmte, wenn er schwitzte. »Lord Netuno weiß es«, erwiderte er. »Das ist ein schnelles Schiff, eine Brimwulf, in der Salzmark gebaut. Und sie haben guten Wind von achtern.« »Sind sie schneller als wir?«, fragte Anne. »Viel schneller.« »Also werden sie uns einholen.« Malconio kratzte sich am Bart. »Nun ja - es kommt nicht nur 361 auf die Geschwindigkeit an, della. Wir können ein bisschen höher am Wind segeln als sie, und wir haben weniger Tiefgang. Wenn wir vor Einbruch der Nacht die Untiefen um Terna-Fath erreichen, gebe ich uns eine Chance.« »Nur eine Chance?«, höhnte Cazio. Malconio musterte seinen Bruder mit zusammengekniffenen Augen. »Es kommt nicht oft vor, dass ich einem Kriegsschiff davonsegeln muss«, gab er scharf zurück. »Ehrlich gesagt... nun, das ist mir noch nie passiert. Dazu musstest erst du auftauchen und mir diese wunderbare Gelegenheit verschaffen, frater mio. In der Tat, mir kommt der Gedanke, dass unsere Verfolger sich vielleicht zufrieden geben, wenn ich ihnen einfach meine Fracht überlasse.« »Das werdet Ihr nicht tun«, sagte Anne. Malconios Augenbrauen schössen in die Höhe, und er sah sie an, als habe sie soeben von ihm verlangt, sich den Fuß abzuhacken. »Wie belieben? Ich frage mich, wie Ihr wohl zu dieser Ansicht kommt?« »Diese Männer haben mich überfallen, als ich im Konvent der heiligen Cer war. Sie haben jede einzelne Schwester dort umgebracht. Wie kommt Ihr darauf, dass sie Euch verschonen würden?« »Und da wäre noch die Seefahrergilde zu bedenken«, fügte z'Acatto ein wenig betrunken hinzu. Er fuchtelte mit der langhalsigen Weinflasche herum, die er irgendwo aufgetrieben hatte. »Du weißt doch, dass sie es niemals hinnehmen würden, wenn eins ihrer Schiffe aufgebracht würde, egal aus welchem Grund. Der Kapitän des Schiffes hinter uns wird dieses Risiko nicht eingehen - er wird dir niemals die Chance geben, ihn anzuzeigen. Also sei kein collone.« »Ganz ruhig, alter Mann«, beschwichtigte Malconio. »Du weißt doch, dass ich nur so dahergeredet habe - das ist der Familienfluch. Aber wenn wir sie nicht abhängen können, dann können wir ganz sicher nicht gegen sie kämpfen. Ein Schiff wie das da hat mit Sicherheit drei oder vier Arbaleste an Bord, wahrscheinlich mit Seefeuer bestückt. Mein Bruder wird gar nicht erst dazu kommen, seinen Degen zu benutzen, es sei denn, sie wollen das Mäd362 chen aus irgendeinem Grunde lebend haben.« Er sah wieder Anne an. »Ist das wahrscheinlich?« »Ich glaube nicht«, erwiderte Anne. »Ich glaube, sie wollen einfach nur meinen Tod.« »Und Ihr wollt mir noch immer nicht sagen, warum?« »Ich weiß noch immer nicht, warum«, beteuerte Anne hilflos. »Nun«, sagte Malconio. »Dann fliehen wir also und hoffen, dass uns der Wind gewogen ist.« Sie kreuzten hart nach Norden, und zunächst schien das größere Schiff ein wenig zurückzufallen, doch dann gewann es erneut an Fahrt. Es war noch nicht einmal Mittag. »Wenn uns nicht ein bisschen Glück zuteil wird, kriegen sie uns, lange bevor wir die Untiefen erreichen«, gab Malconio schließlich zu. »Nun, dann können sie sich auf einen Kampf gefasst machen«, versicherte Cazio seinem Bruder und ließ die
Hand auf dem Heft seines Rapiers ruhen. »Ich habe es dir doch schon gesagt«, entgegnete Malconio, »die haben keinen Grund, nahe heranzukommen, wenn sie uns auch aus einiger Entfernung versenken können.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Aber mal angenommen, sie entern uns doch. Dieser Kerl mit dem leuchtenden Schwert - wie willst du gegen den fechten? Euer Freund hat ihm im Hafen einen Hieb versetzt, nach dem man ihn eigentlich an zwei verschiedenen Stellen hätte begraben müssen. Aber als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, ist er herumgelaufen, als wäre nichts gewesen.« »Gegen seinesgleichen habe ich schon öfter gekämpft«, erklärte Cazio mit jenem Übermaß an Selbstvertrauen, das Anne stets aufs Neue rasend machte. »Ich werde ihn köpfen und ihn auf den Meeresgrund schicken.« »Das letzte Mal habe ich Ziegelsteine auf deinen Gegner fallen lassen«, erinnerte z'Acatto ihn. »Was sollen wir auf den da hinten werfen?« Cazio zuckte die Achseln. »Vielleicht einen Anker? Irgendetwas werden wir doch bestimmt finden.« 363 Malconio faltete die Hände. »Was? Kein Duell Mann gegen Mann diesmal? Und was ist mit deiner Ehre?« »Es ist wohl kaum ehrenhaft, mithilfe der Hölle zu kämpfen«, entgegnete Cazio. »Ich habe geschworen, diese Ladys zu beschützen. Das werde ich tun, auch wenn ich nicht absolut ehrenhaft kämpfen kann.« Malconio verdrehte die Augen. »Es spielt sowieso keine Rolle. Sie sind doppelt so viele wie wir, ohne Casnar z'Estrigo mitzuzählen. Wirf ihm von mir aus einen Anker auf den Kopf, allerdings habe ich nicht so viele Anker.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf das näher kommende Schiff. »Aber dazu wird es nicht kommen. Seht ihr die Arbaleste da? Was habe ich euch gesagt?« Anne konnte etliche hässliche Gestelle ausmachen, die auf dem Deck des anderen Schiffes befestigt waren, konnte jedoch nicht erkennen, wozu sie dienen sollten. Austra half ihr aus der Verlegenheit, sich erkundigen zu müssen, was eine Arbaleste sei, indem sie selbst fragte. »Das ist ein riesiger mechanischer Bogen«, antwortete Malconio. »Schleudert Steine, Bleikugeln, Feuertöpfe solche Sachen eben.« »Habt Ihr denn überhaupt kein Kriegsgerät, Kapitän?«, wollte Anne wissen. »Irgendeine Möglichkeit, uns zu wehren? Gewiss habt Ihr Euch doch schon öfter gegen Piraten zur Wehr setzen müssen.« Malconio schüttelte den Kopf. »Wir haben eine kleine Arbaleste. Das ist alles, was gegen die paar Piraten, die es wagen, den Zorn der Gilde zu riskieren, jemals nötig war.« »Dann würde ich vorschlagen, dass du sie aufstellst«, bemerkte z'Acatto. »Du hast wohl Recht, alter Mann. Ein bisschen Gegenwehr ist besser als überhaupt keine. Und vielleicht lächelt Netuno mir ja zu. Das hat er früher schon getan.« Fünf Glockenschläge später schleuderte ihr Verfolger probeweise ein paar Steine nach ihnen. Sie schlugen hinter ihnen ins Wasser, al364 lerdings nicht sehr weit hinter ihnen, und Malconios Matrosen standen nervös mit ihren Bogen bereit und stellten ihre Arbaleste auf, die Ähnlichkeit mit einer großen Armbrust hatte. Anne konnte jetzt die Seeleute auf dem anderen Schiff hören und sehen, wie sie an Deck und in der Takelage herumhantierten. »Wir werden für sie in Reichweite sein, lange bevor sie in unserer sind«, sagte Malconio. »Ladys, ich schlage vor, dass Ihr Euch nach unten begebt.« Er warf einen Blick auf den Horizont, wo sich schwarze Wolken auftürmten. »Es kommt nicht oft vor, dass ich mir einen Sturm herbeiwünsche, aber Ihr könntet zu den Heiligen beten, die Ihr verehrt, wer immer sie auch sind, dass uns einer erwischt, ehe die dort es tun. Wenn es tüchtig bläst, können wir sie vielleicht loswerden.« »Ich bleibe hier oben«, sagte Anne. »Und tut was?«, erkundigte sich Cazio. »Könnt Ihr mit einem Bogen schießen?« »Ich könnte es versuchen.« »Wir haben nicht genug Pfeile, um sie zu vergeuden«, wehrte Malconio ab. »Geht nach unten. Es ist mein Schiff, und das ist ein Befehl.« Anne setzte zu neuerlichen Widerworten an, sprach sie jedoch nicht aus. Sir Neil war wegen ihrer letzten falschen Entscheidung ums Leben gekommen. Malconio verstand viel mehr von seinem Gewerbe als sie. »Komm, Austra«, sagte sie. »Nehmt das hier.« Cazio hielt ihr das Heft eines Dolches hin. »Ich habe selbst einen«, erwiderte Anne. »Ich nicht«, meldete sich Austra zu Wort. »Dann nehmt Ihr ihn«, sagte Cazio. Austra nahm die Waffe, doch ihr Gesicht zuckte. »Ich möchte hier oben bleiben, bei Euch.« Cazio lächelte und nahm Austras Hand. »Diesmal hat mein Bruder Recht«, erwiderte er. »Hier oben würdet Ihr uns ablenken. Wenn Ihr sicher unter Deck seid, kann ich so kämpfen, wie die Heiligen es für mich vorgesehen haben.« 365 Austra senkte den Blick und stellte sich plötzlich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Lippen. »Sterbt nicht«, sagte sie.
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte er ihr. »Es ist mir nicht bestimmt, auf See zu sterben. Geht jetzt, und seid tapfer.« Sie nickte und wandte sich ab. Dann stolperte sie auf ihre Kabine zu und bemühte sich vergeblich, ihre Tränen zu verbergen. Cazio sah Anne an, und einen Augenblick lang konnte sie ihren Blick nicht von dem seinen losreißen. Ihr war, als hätte man sie bei etwas ertappt, das sie nicht hätte tun sollen, doch sie konnte nicht die richtigen Worte für eine Entschuldigung finden. Cazio brach den Bann. »Nun, das war ein Kuss als Glücksbringer«, sagte er. »Wie wäre es mit noch einem?« »Das war kein Glücksbringer«, erwiderte Anne leise. »Und Ihr seid trotzdem ein Narr.« Dann folgte sie Austra. »Sie hat Recht«, sagte Malconio, als die Frauen von der Bildfläche verschwunden waren. »Du bist ein Narr und treibst ein närrisches Spiel.« »Was meinst du damit?«, fragte Cazio gereizt. »Zwei Mädchen. Die, auf die du deine Hoffnungen setzt, ist die rofola - Diuvo weiß, wieso -, aber du machst dich an ihre Freundin heran.« »Ich habe kein Interesse an Anne«, wehrte Cazio ab. »Aber wenn doch, ginge dich das überhaupt nichts an.« »Dein sehr offenkundiges Interesse an ihr wird mich in Kürze das Leben kosten, also geht mich das sehr wohl etwas an«, erwiderte Malconio. »Aber lassen wir das. Trotzdem, es ist grausam, mit dem Herzen eines Mädchens zu spielen.« »Anne hat kein Herz.« »Jetzt rede ich von der anderen.« »Ah, aber du hast ja gerade gesagt, dass wir alle drauf gehen werden, also ist gar nicht genug Zeit dafür.« »Ja, nun, das ist das Beste, worauf du hoffen kannst.« Zu Cazios 366 Verblüffung schlug Malconio ihm auf die Schulter. »Bleib in Deckung. Du wirst uns nichts nützen, bis sie uns entern, wenn sie das denn tun.« Er wandte sich zum Gehen. »Warte einen Moment«, sagte Cazio. Sein Bruder blieb stehen. »Aber nur einen Moment.« »Was weißt du über z'Acatto?« Malconio zuckte die Schultern. »Weniger als du, sollte ich annehmen. Was meinst du damit?« »Ein Mann in z'Espino - ein Mann, der ihn kannte - hat ihn Emratur genannt.« »Das ist merkwürdig«, gab Malconio zu. »Das fand ich auch.« »Er hat in den Kriegen gekämpft«, sagte Malconio. »Fast jeder hat das getan, sogar Vater.« »Ja, aber als Befehlshaber? Wieso sollte er dann -« »Wieso sollte er dann sein Leben der Aufgabe widmen, den ungehobelten Bälgern eines fast mittellosen Adligen beizubringen, wie man mit dem Degen herumfuchtelt? Ich weiß es nicht. Vielleicht solltest du ihn fragen.« »Hast du je versucht, ihn irgendetwas Persönliches zu fragen?« Malconio lächelte. »Ein- oder zweimal, als ich noch zu jung war, um es besser zu wissen. Aber er hat dich immer geliebt, Cazio. Du warst etwas anderes für ihn. Du warst es, wegen dem er geblieben ist.« »Wer hat unseren Vater getötet, Malconio?« Die Züge seines älteren Bruders wurden ein wenig weicher. »Cazio, ich habe dich nie verstanden. Vielleicht als wir noch klein waren - wir hatten ein bisschen Spaß, nicht wahr? Du warst immer so ernst und nüchtern, wie ein kleiner Priester. Und dann, nach Vaters Tod -« »Ich will nicht darüber reden. Und du hast keine Zeit dafür.« »Vielleicht ist dies der einzig mögliche Zeitpunkt«, sagte Malconio. »Nach Vaters Tod hast du dich aufs Fechten gestürzt, als hättest du kein anderes Leben. Wie jeder kleine Junge hast du geschworen, seinen Tod zu rächen. Wir haben dir nichts von dem 367 Duell gesagt, weil wir Angst hatten, du würdest davonlaufen und versuchen, den Mann zu finden.« »Das hätte ich auch getan.« »Aber als du älter warst und - daran darfst du nicht zweifeln - zum besten Dessrator in ganz Avella geworden bist, vielleicht des ganzen Tero Mefio, hast du nie gefragt, hast nie versucht, es herauszufinden.« »Weil es mich nicht mehr interessiert hat«, erwiderte Cazio. »Vater war ein Narr. Er hat unsere Güter verschleudert und sich umbringen lassen.« »Du duellierst dich doch jeden Tag«, gab Malconio zu bedenken. »Wie kannst du es Vater da übel nehmen, dass er ein einziges Duell ausgefochten hat? Vor allem, wenn du nichts über die Umstände weißt?« »Ich weiß, dass er in den Rücken getroffen wurde«, sagte Cazio leise. »Ich habe die Leiche gesehen, Malconio. Was für ein Duellant wird in den Rücken getroffen?« Malconios Gesicht arbeitete einen Moment lang stumm. »Ich habe den Kampf nicht gesehen, und du auch nicht«, sagte er schließlich. »Wieso interessiert dich das plötzlich wieder?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Cazio. »Es ist mir einfach so in den Sinn gekommen.«
»Z'Acatto hat den Kampf gesehen. Er ist derjenige, mit dem du dich unterhalten musst. Aber ... unser Vater war gar nicht so schlecht, Cazio. Als unsere Mutter noch gelebt hat, war er ein besserer Mensch. Viel von ihm ist mit ihr dahingegangen.« Ein neuerliches unbehagliches Schweigen folgte auf diese Worte. »Hast du Cheso in letzter Zeit mal gesehen?«, erkundigte sich Cazio. »Vor zwei Monaten. Es geht ihm gut. Er hat drei eigene Schiffe. Du weißt, du kannst dich uns jederzeit anschließen.« »Ich kann mich nicht von unserem Namen und unserer Heimat abwenden«, sagte Cazio. »Ich kann nicht.« Malconio verdrehte die Augen. »Schau dich doch um - du hast es schon getan. Du weißt es nur noch nicht.« 368 Cazio seufzte und blickte zu den fernen Sturmwolken hinüber. »Das da kommt nicht mehr rechtzeitig, um uns eine Hilfe zu sein, nicht wahr?« Malconio schüttelte den Kopf. »Das zieht nicht mal in unsere Richtung.« Anne fühlte sich wieder ein wenig flau, als sie sich auf den Rand ihrer Koje setzte. Austra spähte durch das dicke Glas des Fensters. »Sie kommen von backbord«, bemerkte Anne. »Von der anderen Seite.« »Ich weiß«, erwiderte Austra steif. »Es ist nur - wir sollten dort oben sein.« »Sie haben Recht«, wandte Anne ein. »Wir wären nur im Weg.« »Vielleicht könnten wir helfen«, protestierte Austra. »Es ist ja nicht so, als wären wir noch nie in Gefahr gewesen.« »Ja, aber wir verstehen nichts von der Seefahrt oder von Arbalesten. Und ich glaube, Kapitän Malconio hofft, unsere Feinde werden denken, dass sie das falsche Schiff verfolgen, wenn sie uns nicht sehen.« Austra schüttelte den Kopf. »Diese Männer werden von Teufeln geführt. Sie werden nie aufhören, bis wir tot sind.« »Bis ich tot bin«, verbesserte Anne. »Ich bin es, hinter der sie her sind, nicht ihr anderen.« Austra runzelte die Stirn. »Du denkst doch nicht etwa wieder ans Davonlaufen? Du hast mir versprochen, dass du das nicht tust. Oder sind deine Versprechen mir gegenüber jetzt nichts mehr wert?« »Was soll denn das heißen?«, wollte Anne wissen. »Gar nichts.« »Hör mal, du bist doch diejenige, die ständig mit Cazio zusammensteckt. Du bist diejenige, die keine Zeit mehr für mich hat«, begehrte Anne auf. Austra wandte sich ab und murmelte irgendetwas vor sich hin. »Was hast du gesagt?«, fragte Anne. »Nichts.« 369 »Sag schon!« Mit rotem Gesicht fuhr Austra herum. »Du hast mich angelogen! Gelogen hast du! Wer bist du?« Anne wich vor ihrer unbändigen Wut zurück. »Wovon in aller Welt redest du eigentlich?« »Ich meine, dass du genau weißt, warum sie hinter dir her sind. Du weißt es, und du willst es mir nicht sagen. Und außerdem: Am Ende werde ich genauso tot sein wie du und Cazio und z'Acatto - genauso tot wie Neil MeqVren!« »Sprich nicht von ihm!«, fuhr Anne auf. »Warum? Weil es deine Schuld ist, dass er getötet worden ist?« Annes wachsender Zorn schrumpfte zu einem dicken Klumpen in ihrer Kehle, geronnene Wut, Trauer und Hilflosigkeit. Sie konnte nichts erwidern. Was nicht weiter schlimm war. Austra hatte noch eine Menge zu sagen. »Irgendetwas ist im Konvent mit dir passiert. Du siehst Sachen, die andere nicht sehen. Du kannst Dinge tun, die andere nicht können. Ich habe die ganze Zeit gewartet, dass du es erklärst, aber das hast du nicht vor, nicht wahr?« »Austra -« »Du vertraust mir nicht, stimmt's? Wann bin ich je etwas anderes gewesen als deine treue Freundin, auch wenn es gefährlich für mich war?« »Du verstehst das nicht, Austra. Ich verstehe es nicht.« »Das reicht nicht!«, schrie Austra. Die Segel der Della Puchia begannen schlaff herabzusinken, als sie in den Windschatten ihrer Verfolger geriet, und Augenblicke später traf der erste Stein der Arbaleste mit hohlem Dröhnen ihren Bug, prallte ab und fiel ins Wasser. »Der hat ja nicht viel ausgerichtet«, bemerkte Cazio. »Sie suchen bloß nach dem richtigen Schusswinkel«, erklärte Malconio grimmig. »Es wird schlimmer werden.« »Sie kommen nicht näher.« 370 »Stimmt. Sie gehen davon aus, dass meine Waffe nicht diese Reichweite hat. Sie haben uns in ihrem
Windschatten, also können wir uns nicht rühren. Die werden dort liegen bleiben und uns unter Beschuss nehmen, bis wir sinken.« »Warum hast du dann überhaupt deine Arbaleste aufgestellt?« »Für den Fall, dass sie blöd sind. Das sind sie nicht.« Noch während Cazio hinsah, feuerten zwei der Kampfmaschinen des Feindes beinahe gleichzeitig. Zwei Feuerbälle schössen in den Himmel empor und zogen Schweife aus dickem schwarzem Rauch hinter sich her. »Ich verstehe, was du gemeint hast, als du gesagt hast, es wird schlimmer«, erklärte Cazio. Einer der Bälle stürzte ins Wasser, ohne Schaden anzurichten, der andere jedoch schlug mitten auf dem Deck ein und erblühte zu einer Flammentulpe. Auch einer von Malconios Matrosen wurde von dem Feuer erfasst und fiel schreiend und um sich schlagend auf die Planken, während seine Kameraden sich bemühten, die Flammen mit einer nassen Segeltuchplane zu ersticken. Cazio umklammerte Caspators Heft, bis seine Knöchel weiß wurden. Malconio hatte Recht - er würde keine Gelegenheit bekommen, einen von denen zu töten. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Er blickte zu seinem Bruder hinüber und wollte fragen, ob er irgendetwas tun könne, doch er sah, dass Malconio nicht das andere Schiff beobachtete, sondern aufs Meer hinausstarrte. Und dass er lächelte. »Was ist?«, fragte Cazio. »Sieh mal dorthin«, sagte sein Bruder. »Aufs Wasser.« Cazio folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts Bemerkenswertes entdecken. Malconio legte dem Steuermann die Hand auf die Schulter. »Klarmachen zum Wenden«, wies er ihn an. »Siehst du, wo?« »Aye, ich seh's«, antwortete der Mann. »Das wird knapp.« »Was ist los?«, fragte Cazio. »Pass auf ihre Segel auf«, sagte Malconio. 371 Cazio versuchte es, doch es war schwierig, da in diesem Moment eine weitere Salve brennender Tontöpfe auf sie zugeflogen kam. Einer traf das Großsegel. »Sofort löschen!«, brüllte Malconio. »Das brauchen wir noch.« In diesem Augenblick erschlafften die Segel des anderen Schiffes plötzlich. »Wenden, jetzt«, donnerte Malconio. Die Matrosen sprangen herbei und zerrten an den Schoten. Der Baum schwang über das Deck, und das noch immer brennende Segel füllte sich mit einem schwachen Lufthauch. Es schien kaum genug, um das Schiff von der Stelle zu bewegen, doch dann jubelten alle Männer laut. »Was ist passiert?«, fragte Cazio. »Netuno hat ihnen den Wind genommen und uns eine Brise aus einer anderen Richtung geschickt«, erklärte Malconio. »Viel ist es ja nicht«, meinte Cazio. »Nein, und das ist für uns gerade richtig. Wir können genau vor dem Wind segeln, und wir werden schneller Fahrt aufnehmen als sie.« »Ich dachte, die wären schneller«, wandte Cazio ein. »Aye, bei gleichmäßigem Wind. Aber wir kommen schneller in Fahrt, weil unser Schiff kleiner ist. Bis sie gewendet und wieder Fahrt aufgenommen haben, haben wir zwei Meilen Vorsprung.« Wieder hatte sein Bruder Recht. Obgleich sie sich kaum vorwärts zu bewegen schienen - das größere Schiff kam überhaupt nicht von der Stelle. Allerdings ließen die Arbaleste weiterhin Feuer regnen. Cazio schloss sich der Mannschaft an, die Brände löschte, während sie quälend langsam außer Reichweite kreuzten. Als die Salven der Kriegsgeräte wieder hinter dem Schiff ins Wasser zu schlagen begannen, erhob sich neuerlicher Jubel. Dann segelten sie direkt vor dem Wind - kein Kreuzen mehr -, und mit einer Gemächlichkeit, die Cazio fast zur Raserei trieb, begannen sie, ihre Verfolger hinter sich zu lassen. Doch als es dämmerte, begann das große Schiff erneut aufzuholen. 372 Der Lärm des Beschusses wurde lauter und dann wieder leiser. Seit ihrem Wutausbruch hatte Austra stumm auf ihrer Koje gekauert. »Sie jubeln«, sagte Anne. »Irgendetwas Gutes muss passiert sein.« Austra nickte vage, schaute ihr jedoch noch immer nicht in die Augen. »Ich gehe mal nachsehen«, verkündete Anne. »Willst du mitkommen?« Austra schüttelte den Kopf und schloss die Augen. »Es ist zu viel«, sagte sie. Einen Moment lang betrachtete Anne die Jüngere und wünschte sich, es gäbe etwas, das sie sagen könnte. »Damals hast du auch Recht gehabt«, erklärte sie schließlich. »Womit?« »Damals, als ich versucht habe davonzulaufen. Als ich gedacht hatte, ich könnte mich als Mann verkleiden und mich allein durchschlagen. Als ich auf ein Abenteuer aus war. Du hast gesagt, ich wäre dumm, ich würde innerhalb einer Woche verhungern, oder man würde mich töten oder entführen.« »Ach ja, stimmt«, erinnerte sich Austra. »Das habe ich wirklich gesagt.«
»Damals bin ich nur dageblieben, weil du mich darum gebeten hast, weil ich mir Sorgen gemacht habe, was mit dir passiert, wenn ich weglaufe. Jetzt weiß ich, dass du mit allem Recht gehabt hast. Ich hatte damals so gut wie keine Ahnung, wie es in der Welt zugeht. Auch jetzt weiß ich kaum etwas darüber. Aber wenn es eines gibt, was ich weiß, dann, dass ich keine Abenteuer mehr erleben möchte. Ich will wieder in Eslen sein. Ich will, dass das Schlimmste, was mir passieren kann, eine Standpauke von Fastia oder von Mutter ist. Und ich will, dass du bei mir bist.« »Ich bin froh, dass du endlich zugibst, dass ich auch mal Recht haben kann«, bemerkte Austra. »Viele Menschen sind meinetwegen umgekommen«, sagte Anne. »Die Schwestern im Konvent. Sir Neil. Ich fürchte mich da373 vor, nach oben an Deck zu gehen, weil ich Angst davor habe, herauszufinden, wer noch gestorben ist. Ich will nicht, dass noch jemand meinetwegen stirbt, Austra. Ich habe das alles satt.« »Na ja, warum versuchst du nicht, ihnen das zu sagen?«, erwiderte Austra. »Wenn diese Männer uns das nächste Mal einholen, dann sag ihnen doch einfach, du willst nicht mehr mitspielen und dass du brav sein wirst und sie uns doch bitte in Ruhe lassen sollen.« Anne lächelte; sie glaubte, Austra mache einen Scherz und ihre Laune bessere sich allmählich. Dann jedoch sah sie die Miene ihrer Freundin. »Es ist egal, was du satt hast«, sagte Austra. »Es wird alles trotzdem passieren.« Anne spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. »Bitte, Austra -« »Du wirst mir trotzdem nicht sagen, was los ist.« Anne fühlte sich ihrerseits den Tränen nahe. »Ich glaube, dass es für dich nur noch schlimmer wird, wenn ich dir etwas sage. Ich habe Angst, dass es dein Tod sein wird.« »Ich werde doch sowieso getötet werden«, entgegnete Austra. »Fühlt du das nicht? Weißt du das nicht?« »Wovon in aller Welt redest du denn da?« »Ach, nichts. Gar nichts.« »Austra -« »Ich bin jetzt müde.« Austra rollte sich herum, sodass sie Anne den Rücken zukehrte. Hilflos sah Anne zu; ihre Augen waren nass. Wie konnte sie Austra von ihren Visionen erzählen? Wie konnte sie ihrer besten Freundin die Bürde auferlegen, zu entscheiden, ob Anne verrückt geworden war oder ob sie so wichtig für die Welt war, dass diese untergehen würde, wenn sie nicht Königin wurde? Wie konnte sie ihr von dem Mann in dem Wald erzählen? Sie glaubte es ja selbst nicht, nachdem die Visionen vergangen waren. Auf jeden Fall würde es dann noch schwerer werden, ihr Ver374 sprechen zu brechen, und Austra würde versuchen mitzukommen. Sie hatte eben nicht gelogen, als sie gesagt hatte, dass sie beim ersten Mal Recht gehabt hatte, was das Weglaufen betraf. Jetzt jedoch lagen die Dinge anders. Jetzt hatte Austra Cazio, um sie zu beschützen. Diesmal floh sie nicht vor ihrer Pflicht, sie eilte ihr entgegen, und wenn die Glaubenden so sehr darauf beharrten, dass sie Königin werden musste, dann konnten sie sie auch so lange beschützen. Sie würde keinen ihrer Freunde mehr ihretwegen sterben lassen. Denn Austra hatte Recht. Sie würden nicht aufhören. Sie würden niemals aufhören. Und obwohl es Austra wehtun würde, wenn sie wieder davonlief, würde Austra am Leben bleiben, und sie hätte einen Beschützer. Nachdem ihr Beschluss solcherart feststand, ging sie wieder hinauf an Deck, um zu sehen, wen sie sonst noch ums Leben gebracht hatte, und um in Erfahrung zu bringen, ob irgendjemand von ihnen die Nacht überleben würde. Sie stellte fest, dass das Schiff ihnen immer noch folgte und erneut näher kam. Als sich die Nacht herabsenkte, zogen Wolken auf, und die Dunkelheit, die darauf folgte, war undurchdringlich. Malconio ließ das Schiff ein paar Mal wenden und halsen, als der Wind auffrischte. Jetzt gab es keine Jubelrufe, denn das Einzige, woran sich ihre Verfolger vielleicht halten konnten, waren Geräusche. Anne kehrte in ihre Kabine zurück und versuchte zu schlafen, erwachte jedoch ein paar Glockenschläge später von einem lauten Krachen. Sie warf ihren Morgenrock über und eilte erneut an Deck; schon hatte sie Angst, das Schiff hätte sie erneut entdeckt. Doch das Schiff hatte sie nicht eingeholt - ein Sturm hatte es getan. 375 30. Kapitel Kanäle Leoff erwachte mit rasenden Kopfschmerzen und hörte ein kleines Stimmchen dicht an seinem Ohr. »Steht auf, Herr«, sagte es. »Bitte seid nicht tot.« In einer Kakophonie aus Gebrüll und Getrampel im Hintergrund ging die Stimme beinahe unter. Mühsam öffnete Leoff die Augen. Zuerst sah er nur einen verschwommenen Fleck, der sich, als er schärfer wurde, in Merys kleines Gesicht verwandelte.
»Was ist los?«, stöhnte er. »Ihr seid ja gar nicht tot!«, rief sie. »Nein«, pflichtete er ihr bei. »Aber vielleicht bald.« Er befühlte die eine Seite seines Kopfes, und als seine Finger sich wieder lösten, waren sie klebrig vom Blut. Das sah nicht wie ein gutes Zeichen aus. »Schnell«, drängte Mery »Ehe die Soldaten kommen.« Er versuchte sich zu erheben, doch eine Woge des Schwindels durchlief ihn. »Nein, nicht aufstehen«, sagte sie. »Kommt einfach mit.« Auf Händen und Knien kriechend, folgte er Mery durch den Tumult und schloss, dass er wohl nur ein paar Sekunden lang bewusstlos gewesen war. Mery verschwand hinter einem Wandbehang, und er huschte hinterdrein. Er fragte sich, was er eigentlich tat und warum. Als er sich hinter den Wandbehang schob, sah er den blauen Saum von Merys Kleid durch einen schmalen Schlitz in der Mauer verschwinden. Der Schlitz zog sich etwa eine Königselle weit hin und endete dann in einem breiten, von Fackeln erhellten Korridor. »Wartet«, mahnte Mery und bedeutete ihm zurückzubleiben. »Noch nicht.« Er wartete. Sein Kopf fühlte sich riesengroß an, geschwollen von den Schmerzen. 3/6 »Jetzt, schnell.« Sie richtete sich auf und schoss quer über den Korridor auf einen offenen Türbogen zu. Er folgte, kam ein wenig zittrig auf die Beine und sah ein Stück weiter den Gang hinunter mehrere Männer in den Farben des Königs vor einer sehr viel größeren Tür stehen und denen in dem Raum dahinter mit Schwertern und Speeren drohen. Sie schienen viel zu beschäftigt zu sein, um ihn zu bemerken. »Gut«, sagte Mery »Ich glaube, sie haben uns nicht gesehen.« »Was ist denn los?« »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Kommt.« Sein Kopf fühlte sich etwas besser an, doch er hoffte inständig, dass Mery wusste, was sie tat, denn nach ein paar Augenblicken in dem düsteren Labyrinth des großen Hauses war ihm klar, dass er niemals den Weg zurück finden würde. Mery jedoch zögerte nicht ein einziges Mal; sie bog um eine Ecke nach der anderen, führte ihn durch riesige Räume und winzige Kammern. Es war, als sei das ganze Gebäude eine Art magischer Kasten, mit immer kleineren und ausgeklügelteren Kästen und Kästchen darin. Der Lärm des Ballsaals lag weit hinter ihnen. Langsam kam er zu dem Schluss, dass die Platzwunde an seinem Kopf nichts Ernstes war. Hoffentlich war der Knochen heil geblieben. Schließlich spürte Leoff frische Luft. Der Raum war stockfinster, doch Mery führte ihn zu etwas, das sich wie ein Schacht anfühlte, der schräg abwärts führte. »Dort hinein«, wies sie ihn an. »Wir müssen da durch.« »Was ist das?« »Das hier ist die Küche«, erklärte sie. »Da werfen sie den Abfall hinein.« »Vielleicht sollten wir einfach hier warten, bis sich alles wieder beruhigt hat«, schlug Leoff vor. »Die bösen Männer werden uns finden«, widersprach sie. »Wir müssen nach draußen.« »Draußen sind bestimmt auch böse Männer«, gab er zu bedenken. 377 »Ja, aber da gibt es geheime Wege«, sagte sie. »Wollt Ihr denn nicht zurück nach Eslen?« »Warte«, seufzte er. Er versuchte gerade, all das zu begreifen. Die »bösen Männer« waren Männer der Königin. Die Soldaten im Korridor trugen die gleichen Farben wie der Ritter - Fail de Liery -, zu dem er die Königin erst zwei Abende zuvor geleitet hatte. Jemand hatte versucht, die Königin umzubringen, und zwei Tage später gingen ihre Männer gegen Ambria Gramme vor. Hatte Lady Gramme das Attentat geplant? Ihr Heiligen, wo war er da hineingeraten? »Ja«, sagte er zu Mery »Ich glaube, wir gehen lieber wieder zurück nach Eslen.« Ansonsten würde er in diese ganze Geschichte hineingezogen werden, und er hatte den Verdacht, dass er dabei mehr verlieren würde als nur seine Stellung. Doch vielleicht erfuhr es die Königin ja ohnehin. Wenn er flüchtete, sah das lediglich so aus, als wäre er schuldig. Trotzdem, er musste auch an Mery denken, oder nicht? Er schob sich den nach Schweinefett, verfaultem Gemüse und noch unangenehmeren Dingen riechenden Schacht hinunter und hoffte, dass er nicht stecken bleiben würde. Der Haufen, auf dem er landete, stank noch schlimmer. Er war froh, dass es zu dunkel war, um genau zu erkennen, woraus er bestand. Wieder einmal irrte er nachts in Neuland umher. Allmählich begann er, dieses Land zu hassen. Er fing Mery auf, als sie aus dem Schacht gerutscht kam, und ersparte ihr die ekelhafte Landung, die ihm zuteil geworden war.
»Wohin jetzt?«, fragte er. »Jetzt nehmen wir ein Boot auf dem Kanal.« »Ich glaube, die bösen Männer sind auf dem Kanal hergekommen«, wandte Leoff ein. »Da sind bestimmt ziemlich viele von ihnen.« »Doch nicht der Kanal«, sagte sie. »Es gibt noch einen anderen. Kommt. Hier entlang.« Sie gingen durch dunkle Gärten voller zu fantastischen Formen 378 geschnittener Hecken, um marmorne Becken herum, die schwach im Mondlicht schimmerten. Das Gras knirschte vor Raureif, und zwei Eulen hielten ein geisterhaftes Zwiegespräch. Nicht allzu weit entfernt konnte er Männerstimmen hören, doch sie wurden leiser. Abrupt blieb er stehen. »Was ist denn?«, fragte sie. »Gilmer. Mein Freund Gilmer war dort drin.« »Der kleine Mann? Nein, der ist weggegangen, als Ihr angefangen habt, auf der Hammarharfe zu spielen.« »Oh. Gut.« Oder vielleicht auch nicht. Wie lange waren die Soldaten vor dem Haus gewesen? Sie mussten ihn erwischt haben, als er sich aus dem Staub gemacht hatte. Doch im Augenblick konnte er diesbezüglich nichts unternehmen, nicht, wenn Mery dabei war. Wahrscheinlich war sie in größerer Gefahr als er. »Woher hast du gewusst, dass du weglaufen musst, Mery?«, fragte er. »Das war ja, als hättest du das alles schon lange geplant.« »Ja, das stimmt«, antwortete sie nach einem Moment des Schweigens. »Aber wieso denn?« »Mutter hat gesagt, vielleicht kommen sie eines Tages, um mich zu töten.« »Hat sie auch gesagt, warum?« »Nein. Nur dass sie vielleicht eines Tages kommen werden, die Männer des Königs, um mich und meinen Bruder umzubringen. Also habe ich mir ausgedacht, wie ich weglaufen kann, und Verstecke, wo ich mich verkriechen kann. So habe ich auch das Musikzimmer gefunden.« »Du bist ein sehr kluges Mädchen, Mery« »Werdet Ihr Mutter heiraten?«, fragte sie. »Was?« Einen Augenblick lang kehrte das Schwindelgefühl zurück. »Hat sie so etwas gesagt?« »Nein«, antwortete Mery »Und warum fragst du dann?« »Weil ich Euch gern mag.« 379 Er nahm sie bei der Hand. »Ich mag dich auch gern, Mery Komm, suchen wir uns etwas, wo es warm ist.« Sie fanden den Kanal ohne Schwierigkeiten, und außerdem mehrere kleine Schmalboote. Sie hielten gerade darauf zu, als Mery seinen Arm ergriff. »Psst!«, zischte sie. Stimmen waren in der Dunkelheit zu vernehmen, und Leoff konnte mit großer Mühe mehrere Gestalten dicht neben dem Kanal ausmachen. Er und Mery kauerten sich hinter einen Busch. »Sie haben Lady Gramme und ihren Sohn gefangen genommen«, sagte einer der Männer mit heiserer Baritonstimme. »Das ist ohne Bedeutung«, ließ sich ein zweiter vernehmen. Irgendetwas in dieser Stimme ließ Leoff frösteln. Es war nicht die Stimme selbst, sie war völlig normal, ein kultivierter Tenor. Doch ebenso wie der Klang einer Laute viele kleinere Töne in sich verbirgt, lag etwas in dieser Stimme verborgen - etwas, das irgendwie falsch war. »Wie könnt Ihr das sagen?«, fragte der Bariton. »Unsere Pläne sind zunichte gemacht worden.« »Wohl kaum. Ich bin überrascht, dass Muriele davon erfahren und auf diese Erkenntnis hin gehandelt hat, aber nachdem unsere Spione von ihrem Kommen berichtet hatten, habe ich mein Bestes getan, um sie zu ermutigen.« »Wie meint Ihr das?« »Ein paar von meinen Männern haben sie am Steg mit Pfeil und Bogen in Empfang genommen und einen oder zwei von ihnen niedergestreckt; dann sind sie in die Dunkelheit geflohen. Danach haben die Männer der Königin keine Fragen mehr gestellt - sie sind durch die Vordertür gestürmt, wo die Wachen sich natürlich gegen sie zur Wehr gesetzt haben, ehe sie überhaupt begriffen, gegen wen sie da kämpfen. Was wahrscheinlich als friedliche Befragung geplant war, hat mit Blutvergießen geendet. Wisst Ihr, wie viele getötet worden sind?« »Ich bin mir nicht sicher, Mylord - aber mehr als nur ein paar.« 380 »Ich komme mir töricht vor, dass ich ihnen den Beweis für dieses Treffen nichts selbst zugespielt habe«, sagte der Tenor. »Aber trotzdem, es hat sich alles trefflich gefügt.« »Das kann ich wirklich nicht nachempfinden.« »Er hat Recht«, meldete sich eine dritte Stimme zu Wort. Sie kam Leoff bekannt vor, doch er vermochte sie nicht einzuordnen. »Wenn einer von uns dort angetroffen worden wäre, wäre es etwas anderes gewesen. So wie
die Dinge liegen, werden Murieles Männer nicht viel von Belang finden - wenig, um diesen Übergriff zu rechtfertigen. Es wird aussehen, als seien sie über eine friedliche Versammlung hergefallen und hätten angefangen, Landwaerde niederzumetzeln.« »Fürwahr«, stimmte der Tenor zu. »Selbst die wenigen Mitglieder des Comven, die ihr die Treue halten, werden nicht in der Lage sein, dies gutzuheißen. Ich denke, das hier bringt uns sehr viel weiter, als es geplant war.« »Ich rate zur Vorsicht, Mylord«, beschwor der dritte Mann den Sprecher. »Gebt dem Reich Zeit, das hier zu verdauen, ehe Ihr zur Tat schreitet.« »Nein, das sehe ich nicht so«, widersprach der zweite. »Der Zeitpunkt zum Zuschlagen ist gekommen.« »Ihr meint, heute Nacht?«, fragte der Bariton ungläubig. »Nicht heute Nacht. Aber bald. Begebt Euch ins Lager. Sagt ihnen, sie sollen sich zum Übersetzen bereithalten.« »Ja, Mylord.« Eine der Gestalten ging zu den Schmalbooten hinüber, und bald ruderte sie auf dem Kanal davon. »Auch ich werde mich jetzt empfehlen«, sagte die bekannte Stimme. »Aber hört auf meinen Rat - zu schnell vorzugehen könnte ein Fehler sein.« »Nein, dies ist genau der richtige Zeitpunkt.« »Es gibt viele, die der Königin noch immer gewogen sind, und noch viel mehr, die Euch nicht schätzen werden, Mylord. Die Lage ist wahrhaftig für Euch von Vorteil, aber vielleicht gibt es Mittel und Wege, das Ganze zu versüßen.« 381 »Nun, Euer Rat ist stets willkommen«, erwiderte die Tenorstimme. »Nach der heutigen Nacht werden die Landwaerde aufgebracht sein«, fuhr die bekannte Stimme fort. »Durch Lady Gramme könnt Ihr Euch ihrer Unterstützung sicher sein. Die Adligen allerdings werden sich nicht allzu sehr um ein paar tote Waerde scheren. Tatsächlich könnte dies hier einige von ihnen wieder auf die Seite der Königin bringen.« »Sie hat ihnen genug Kopfzerbrechen bereitet, indem sie ihre eigene lierische Leibwache gebildet hat.« »Gewiss. Aber was ist, wenn sie alle denkbaren Linien der Thronfolge außer Charles und Anne kappt?« »Ihr meint, indem sie Lady Gramme und ihre Bastarde tötet?« »Genau.« »Aber wir brauchen Lady Gramme. Ich glaube, sie und ihr Sohn könnten sich als nützlich erweisen. Schließlich ist er Williams Bastard.« »Ja. Der Mord an Lady Gramme und dem Jungen könnte als ungeschickt angesehen werden. Aber das Mädchen hat keinen Wert für uns.« »Mery? Nein, wohl eher nicht. Und sie befindet sich im Augenblick wahrscheinlich bereits im Gewahrsam der Königin. Könnt Ihr das in die Wege leiten?« »Das sollte nicht schwer sein«, erwiderte die bekannte Stimme. »Vor morgen früh?« »Habt Ihr es so eilig?« »Drei Tage. Nicht mehr.« »Das ist Zeit genug, würde ich sagen«, seufzte die vertraute Stimme. »Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr tut.« »Haltet Euch einfach bereit, Eure Rolle zu spielen, und alles wird vollendet ablaufen.« »Genau das ist es ja. Meine Männer kommen erst in einem Monat.« »Wir brauchen Eure Männer nicht, Praifec. Nur Euer Wort.« »Ihr habt es.« 382 Dann verschwanden sie, der Praifec zu Fuß, der andere Mann in einem Schmalboot. Leoff hielt Mery umfasst und schauderte bis in die Knochen, und das nur zum Teil der Kälte wegen. »Ich habe es Euch ja gesagt«, ließ sich Mery leise vernehmen. »Das wird nicht passieren, Mery«, versprach ihr Leoff. »Sie werden dich nicht töten. Komm mit.« »Wenn wir ins Schloss gehen, finden sie mich.« »Ich weiß. Wir gehen nicht ins Schloss.« Sie nahmen eins der Schmalboote und ruderten in die Richtung, die der andere Mann nicht eingeschlagen hatte. Am nächsten Morgen hatten sie eine kleine Stadt erreicht, die Plinse hieß. Dort erkundigte sich Leoff vorsichtig nach dem Weg nach Meolwis. Außerdem erstand er einen Mantel, um Merys Kleid darunter zu verstecken, und dann folgten die beiden der Leokwigstraße in Richtung Norden. Sie trafen bei Sonnenuntergang in Meolwis ein und übernachteten in einem verlassenen Haus. Am nächsten Tag gingen sie auf dem Deich am Graff des heiligen Thon entlang und stießen innerhalb eines Glockenschlages auf eine Malend. Leoff versteckte Mery unterhalb der Deichkrone, ging zur Tür und klopfte. Zu seiner großen Erleichterung war es Gilmer, der ihm öffnete. Die Augen des kleinen Mannes quollen vor Überraschung hervor wie bei einem Gnom. »'s ist schön, Euch wohlauf zu sehen«, sagte Gilmer, nachdem sie sich umarmt hatten. »Ich habe von dem Ärger im Hause der Lady gehört. Hätt beinahe selbst was davon abgekriegt, 'r müsst wohl auf mich gehört haben.« »Ich war noch dort«, gestand Leoff. »Jemand hat mir geholfen zu entkommen.«
»Eine von den jungen Damen, wie?« Leoff lächelte. »Ihr müsst mir einen Gefallen tun, Gilmer.« »'r braucht nur zu fragen.« »Es ist kein einfacher Gefallen, und es ist gefährlich. Lasst es mich Euch erklären, bevor Ihr einwilligt.« 383 Er rief Mery herein und berichtete alles, was geschehen war, einschließlich dessen, was sie in jener Nacht erlauscht hatten. »Was glaubt 'r, wer das war?«, fragte Gilmer. »Außer dem Praifec? Wer waren die beiden anderen?« »Ich habe keine Ahnung.« »Einer war Prinz Robert«, sagte Mery. Gilmer sah sie an. »Prinz Robert ist tot, Kleine.« »Er war's aber«, beharrte das Mädchen. Gilmer stieß einen langen, leisen Pfiff aus. »Das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut.« Er schlug sich auf die Knie. »Aber 'r habt 's Richtige getan. Dort könnt 'r nichts tun. Die Angehörigen der königlichen Familie werden diese Geschichte regeln, und damit hat sich's. Aber der Praifec - nun, manchmal werden die eben so.« »Ich kann nicht zulassen, dass Mery etwas zustößt«, sagte Leoff. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Gilmer. Er zauste dem Kind das Haar, »'s ist mir gleich, ob der Fratrex Prismo selbst von z'Irbi-na heraufgekommen ist, hier wird kein kleines Mädchen umgebracht, während ich in der Nähe bin. Nein, 'r beide bleibt hier. Wenn das alles vorbei ist, können wir uns immer noch überlegen, was wir tun sollen.« »Gilmer, Ihr müsst dafür sorgen, dass Mery in Sicherheit ist -aber ich muss zurück.« Gilmer drohte ihm mit dem Finger. »Das ist doch verrückt«, widersprach er. »Glaubt 'r denn, 'r könnt ganz allein eine Palastrevolte aufhalten? Oder dass Euch irgendjemand dankbar wäre, wenn 'r das tätet? 'r wart der Ehrengast auf diesem Fest. Selbst wenn die Königin gewinnt, sie wird Euch für einen Verräter halten. Lernt Eure Lektion, mein Junge - haltet Euch von dort fern.« »Ich kann nicht. Die Königin muss gewarnt werden.« Er straffte die Schultern. »Außerdem muss ich noch eine Auftrags arbeit fertig stellen und ein Konzert aufführen.« Teil IV Meilensteine Im Jahre 2223 von Everon Im Monat Decmen Ponto, die fünfte Tonart, beruft sich auf den heiligen Diuvo, den heiligen Flenz, den heiligen Thunor und den heiligen Rooster. Sie beschwört die leidenschaftliche, neu entflammte Liebe herauf, das zügellose Bankett und den in Strömen fließenden Wein. Sie löst Entzücken, überschäumende Freude und Lust aus. Sesto, die sechste Tonart, beruft sich auf die heilige Erren, die heilige Anne, die heilige Fiendeseve und den heiligen Adlainn. Sie beschwört den Schmerz herauf, auf den man nicht verzichten will, die stumme Traurigkeit nach der körperlichen Liebe, die unerwiderte Sehnsucht. Sie löst sinnliche Schwermut aus. aus Der Harmonium-Kodex von Elgin Widsel 31. Kapitel Freundschaften Anne zog einen Kamm durch ihr vom Salz verklebtes Haar und sah den Möwen zu, die sich am Strand um die Überreste von Fischen und zweifelhafteren ehemaligen Lebewesen stritten. Die Vögel waren nicht die Einzigen, die Nachlese hielten; zwanzig oder dreißig Leute - zumeist Kinder - suchten den Sand ebenfalls nach Schätzen der Wogen ab. Ein Stück weiter unten am Ufer lag der übel zugerichtete Rumpf der Della Puchia von Gerüsten umgeben im Trockendock, und dahinter drängte sich eine Ansammlung weiß getünchter Hütten, das galleanische Dorf Duvre. Es war schwer, sich an Einzelheiten des Sturms zu erinnern. Das Krachen des Donners, brechende Spieren und tosende Wellen verschmolzen zu einem langen Schrecken. Danach waren sie mit einem einzigen behelfsmäßigen Segel auf dem langsam sinkenden Schiff dahingetrieben und hatten Glück gehabt, dass sie sich in Sichtweite des Landes befunden hatten. Fast einen Tag lang waren sie dem Verlauf der Küste gefolgt, bis sie dieses Fischerdorf und den sicheren Ankerplatz, den es bot, entdeckt hatten. Ein kalter Wind wehte vom Meer her. Doch die Wolken waren verschwunden. Das Einzige, was von dem Sturm noch zu sehen war, waren die Verwüstungen, die er zurückgelassen hatte. Der Kamm blieb hängen, und sie riss unwillig an ihrem Haar und sehnte sich nach einem Bad. Doch in dem Dorf gab es keinen Gasthof, lediglich eine Schenke. Außerdem war ihr Geld fast gänzlich aufgebraucht. Cazio war gerade mit dem Rest unterwegs und versuchte Pferde und Verpflegung zu kaufen. Kapitän Malconio hatte geschätzt, dass es eine Woche dauern würde, bis das Schiff wieder seetüchtig war, und sie hatte nicht die Absicht, so lange zu warten. 387 Nach den Worten der Dorfbewohner - zumindest soweit irgendeiner von Malconios Männern sie verstehen konnte - lag Duvre ungefähr zehn Meilen südlich von Paldh. Sie hatten ohnehin vorgehabt, auf dem Landweg nach Eslen zu reisen, also hatten sie beschlossen, dass sie sich ebenso gut gleich auf den Weg machen könnten. Mit einem Seufzer erhob sie sich und ging zurück ins Dorf, um sicherzugehen, dass Cazio auch tat, was er tun sollte, und nicht irgendwo mit Austra herumtändelte. Das kurze Alleinsein war schön gewesen, doch es war Zeit
aufzubrechen. Natürlich fand sie ihn in der Schenke, zusammen mit z'Acatto, Malconio, Austra und einem Haufen Dorfbewohner. Hier drinnen war es stickig und verraucht, und es roch überwältigend nach dem getrockneten Stockfisch, der überall von den Dachbalken hing. Die beiden langen Tische waren vom jahrelangen Gebrauch zerkerbt und blank gescheuert, und der Boden bestand - ebenso wie die Wände - aus einer Art Mörtel aus zermahlenen Muschelschalen. Malconio redete - irgendetwas über die Wunder einer Stadt namens Shavan -, und ein verhutzelter Greis mit nicht mehr als drei oder vier Zähnen übersetzte. Kinder in roten und gelben Kitteln aus grober Wolle und Frauen, deren Haar von schwarzen Tüchern verhüllt war, beugten sich vor, lachten gelegentlich und tauschten untereinander Bemerkungen aus. Sie blickten zu ihr herüber, als sie eintrat, richteten ihre Aufmerksamkeit jedoch rasch wieder auf Malconio. Anne stemmte die Hände in die Hüften und versuchte Cazios Blick aufzufangen, doch dieser hatte sie entweder nicht gesehen oder zog es vor, lieber Austra zu beachten, die - gemeinsam mit ihm - Wein aus einem Tonkrug trank. Z'Acatto saß zusammengesunken da, den Kopf auf der Tischplatte. Ungeduldig drängte Anne sich durch die Menge und machte Cazio auf sich aufmerksam, indem sie ihm auf die Schulter tippte. »Ja, Casnara?«, fragte er und sah zu ihr auf. Austra wandte den 388 Blick ab und tat so, als interessiere sie sich für Malconios Geschichte, die ungestört ihren Verlauf nahm. »Ich dachte, Ihr kauft Pferde und Lebensmittel.« Cazio nickte. »Genau das tue ich auch«, sagte er. Er klopfte einem untersetzten Mann in mittleren Jahren auf die Schulter, dessen Gesicht von der Sonne verbrannt war. Der Mann hatte verblüffend grüne Augen. »Das ist Tungale MapeGovan. Ich mache Geschäfte mit ihm.« Der Mann - der sich auf dem besten Wege zur Volltrunkenheit zu befinden schien - lächelte zu Anne empor. »Hinne allan«, bemerkte er und kratzte sich am Bauch. »Nun, könnt Ihr Euch nicht ein wenig beeilen?«, erkundigte sie sich, ohne auf den widerlichen Kerl zu achten. »Die Leute hier scheinen sich mit allem viel Zeit zu lassen«, erwiderte Cazio. »Genau meine Lieblingssorte Mensch.« »Cazio.« »Außerdem haben wir nicht genug Geld«, sagte er. »Anscheinend habt Ihr Geld für Wein.« Cazio trank einen weiteren Schluck. »Nein«, erwiderte er. »Den verdienen wir uns mit Geschichten.« »Also, wie viel brauchen wir?«, wollte sie wissen. Cazio stellte den Krug wieder hin. »Er will für einen Esel und Verpflegung für vier Tage doppelt so viel, wie wir haben.« »Einen Esel?« »Niemand hier hat ein Pferd - und selbst wenn, wir könnten niemals den Preis aufbringen.« »Nun, ein Esel ist den Ärger wohl kaum wert«, entschied Anne. »Kauft doch einfach den Proviant.« »Wenn Ihr ihn auf dem Rücken schleppen wollt, dann schließe ich den Handel sofort ab«, entgegnete Cazio. »Wenn es sein muss, werde ich das tun. Wir können hier nicht länger warten.« Jemand zupfte leicht an ihren Haaren. Sie schnappte nach Luft und stellte fest, dass Tungale die Flechten liebkosend befingerte. »Lasst das«, sagte sie und stieß seine Hand weg. 389 »Olpanne?«, fragte er. Cazio warf einen Blick zu dem Übersetzer hinüber, doch der Alte war immer noch mit Malconios Erzählung beschäftigt. »Sie ist nicht zu verkaufen«, antwortete Cazio kopfschüttelnd. Das war ein bisschen zu viel. »Zu verkaufen?«, schrie sie. Malconio verstummte mitten im Satz, und die Tischrunde brach in schallendes Gelächter aus. »Ne, ne«, beteuerte Tungale. »Se venne sepanne?« »Was sagt er?«, verlangte Anne zu wissen. Der Übersetzer lächelte breit und betonte seine weitgehende Zahnlosigkeit. »Er möchte wissen, wie viel Euer Haar kostet.« »Mein Haar?« »Se venne se?«, fragte der Greis Tungale. »Te«, antwortete dieser. »Ja«, bestätigte der Übersetzer. »Euer Haar. Wie viel?« Anne spürte, wie ihr Gesicht brannte. »Ihr Haar ist nicht -«, setzte Cazio an, doch Anne legte ihm die Hand auf den Arm.
»Der Esel und Verpflegung für eine Woche«, sagte sie. Bei diesen Worten drehte Austra sich um. »Anne, nein!« »Es sind doch nur Haare, Austra«, erwiderte Anne. Sie nickte dem Übersetzer zu. »Sagt es ihm.« Ungeachtet ihrer tapferen Reden kostete es sie große Mühe, nicht zu weinen, als sie es abschnitten, während alle im Raum Anwesenden johlten und lachten wie bei einem Mummenschanz. Doch sie hielt die Tränen zurück und widerstand der Versuchung, die Stoppeln zu reiben, die auf ihrer Kopfhaut zurückgeblieben waren. »So«, sagte sie, erhob sich von ihrem Stuhl und eilte hinaus. Dort kamen ihr doch kurz die Tränen, nicht so sehr des Verlusts ihres Haares als der erlittenen Demütigung wegen. Sie hörte Schritte hinter sich. »Lasst mich in Ruhe«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Ich dachte, Ihr hättet vielleicht Verwendung für das hier.« 390 Sie sah sich um und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass es Malconio war. Er hielt eines der schwarzen Kopftücher in der Hand, die die Frauen aus dem Dorf trugen. Einen Moment lang starrte sie es an. »Wisst Ihr«, sagte er, »Ihr hättet mich ruhig um das Geld bitten können. Ich muss hier sowieso einiges verkaufen, um das Schiff reparieren lassen zu können. Cazio ist zu stolz, aber Ihr hättet doch fragen können.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann Euch nicht um etwas bitten, Kapitän. Ein paar von Euren Männern sind meinetwegen ums Leben gekommen, und Euer Schiff hat Schaden genommen. Ich schulde Euch schon zu viel.« »Das stimmt in gewisser Weise«, sagte Malconio. »Aber Matrosen sterben, und Schiffe schlagen leck. Es gibt so etwas wie das Schicksal, und es ist Zeitverschwendung, sich zu wünschen, man hätte irgendetwas nicht getan. Es ist besser, aus den eigenen Fehlern zu lernen und weiterzumachen. Ich trage Euch nichts nach, Anne. Ich habe Euch als Passagier an Bord genommen, weil mein Bruder mich darum gebeten hat, und trotz all dem, was ich damals gesagt habe, weiß ich ungefähr, was ich von meinem Bruder und seinen... Zwangslagen zu erwarten habe. Habt Ihr eine Ahnung, wie schwer es ihm gefallen sein muss, zu mir zu kommen? Aber er hat es getan, und das sagt mir etwas über Euch. Dass Ihr ihn aus dem Tero Mefio weggezerrt habt, sagt sogar noch mehr. Der Cazio, den ich kannte, hat nie viel für irgendjemand anderen getan. Wenn er sich gebessert hat, wie kann ich mich da von ihm bloßstellen lassen?« Anne brachte daraufhin ein kleines Lächeln zustande. »Ihr liebt ihn, nicht wahr?« »Er ist mein Bruder.« Er hielt ihr das Kopftuch hin, und sie nahm es. »Danke«, sagte sie. »Eines Tages werde ich in der Lage sein, Euch alles zurückzuzahlen.« »Die einzige Bezahlung, die ich verlange, ist, dass Ihr auf meinen kleinen Bruder Acht gebt.« »Ich werde mein Bestes tun.« 391 Malconio lächelte, doch das Lächeln verschwand rasch, als er den Kopf hob und sich seine Augen auf etwas hinter ihr richteten. »Da sind sie ja«, seufzte er. »Ich hätte wissen müssen, dass sie nicht absaufen würden.« Anne folgte seinem Blick. Dort, wo Meer und Himmel aufeinander stießen, sah sie Segel. »O nein«, flüsterte sie. »Sie kommen nicht her«, beschwichtigte Malconio nach einem Augenblick. »Wahrscheinlich sind sie auf der Suche nach einem tieferen Hafen - ihnen fehlt ein Mast, seht Ihr?« Anne sah es nicht, aber sie nickte. Doch Malconio hatte Recht - das Schiff hielt nicht auf die Küste zu, sondern segelte daran entlang. »Wenn sie Euer Schiff sehen -«, begann sie, doch der Kapitän schüttelte den Kopf. »Das ist auf diese Entfernung nicht sehr wahrscheinlich, nicht, wenn die Della Puchia ohne Masten im Trockendock liegt. Aber selbst wenn, sie kämen hier nicht herein - nicht durch die Riffe, die wir passiert haben. Ihr Schiff hat zu viel Tiefgang.« Er wandte sich wieder an Anne. »Trotzdem würde ich an Eurer Stelle aufbrechen, und zwar schnell. Wenn sie die Puchia gesehen haben, werden sie Männer über Land hierher zurückschicken, sobald sie einen Ankerplatz mit tieferem Wasser gefunden haben. Ihr könntet alle Zeit der Welt haben, aber andererseits könnte Euch auch nur ein Tag bleiben.« »Was ist, wenn sie hierher kommen?«, fragte Anne. »Sie werden Euch töten.« »Nein«, widersprach Malconio. »Es ist mir nicht bestimmt, an Land zu sterben. Holt die anderen, und macht Euch auf den Weg. Ihr habt noch ein paar Glockenschläge bis Sonnenuntergang.« Cazio fand seinen Bruder bei seinem Schiff. Malconio setzte eine finstere Miene auf, als er ihn erblickte. »Bist du immer noch da? Hat Anne dir nicht gesagt, dass wir das Schiff gesehen haben?« 392 »Doch«, erwiderte Cazio. »Ich wollte nur ...« Unsicher verstummte er; plötzlich wusste er nicht mehr genau, was er sagen wollte. »Abschiede bringen Unglück«, knurrte Malconio. »Damit deutet man an, dass man nicht erwartet, sich wieder zu sehen. Und ich sehe dich ganz bestimmt wieder, nicht wahr, kleiner Bruder?« Cazio spürte etwas Bitteres tief in der Lunge. »Es tut mir Leid wegen deinem Schiff.« »Nun, darüber unterhalten wir uns noch mal, wenn du dein Glück gemacht hast«, entgegnete Malconio. »Bis
dahin lass das meine Sorge sein. Schließlich ist es mein Schiff.« »Du machst dich über mich lustig«, sagte Cazio. »Nein«, widersprach Malconio. »Nein, das tue ich nicht. Du hast eine Bestimmung, fratrillo, das spüre ich in den Knochen. Und es ist deine eigene - nicht meine, nicht die unseres Vaters, nicht einmal die unserer verehrten Vorväter. Es ist deine. Ich bin nur froh, dass dich endlich jemand dazu gebracht hat, danach zu suchen. Und wenn du sie gefunden hast, erwarte ich, dass du mich in meinem Haus in Turanate besuchst und mir davon erzählst.« »Das würde ich gern einmal sehen«, sagte Cazio. Malconio lächelte. »Dann geh. Adzei, bis ich dich wiedersehe.« Cazio drückte die Hand seines Bruders, dann trottete er den Strand wieder hinauf, dorthin, wo die anderen warteten. Es gab nur eine Straße, die aus Duvre herausführte, und eigentlich war es nicht mehr als ein schmaler Feldweg. Cazio ging voraus und führte ihren soeben erstandenen Esel. Ehe sie in das Wäldchen oberhalb des Dorfes traten, warf er einen Blick zurück auf das Schiff seines Bruders. Er sah Malconio, eine winzige Gestalt, mit seinen Männern arbeiten. Dann richtete er den Blick auf den Weg vor sich. Der Wald machte bald wogenden Weizenfeldern Platz. Sie sahen ein paar ferne Häuser, jedoch keine Dörfer von der Größe Duvres. Als der Abend dämmerte, entzündete Cazio ein Lagerfeuer unter einem Apfelbaum, der so alt war, dass seine unteren Äste sich bis zum Boden senkten. 393 Anne hatte nicht viel gesagt, seit sie ihr Haar eingebüßt hatte. Cazio hatte noch nie eine Frau ohne Haare gesehen, und der Anblick gefiel ihm nicht. Als sie sich das Tuch um den Kopf schlang, wurde es besser. Ein- oder zweimal versuchte er ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, doch ihre Antworten waren einsilbig und führten zu nichts. Auch Austra war still. Er kam zu dem Schluss, dass die beiden Mädchen auf dem Schiff Streit gehabt haben mussten und dass beide deswegen immer noch schmollten. Ob es dabei wohl um ihn gegangen war? Austra zeigte sich sehr empfänglich für seine Aufmerksamkeiten; falls Anne eifersüchtig war, so zeigte sie es ihm nicht, doch es konnte sein, dass sie es an Austra ausließ. Also blieb nur z'Acatto, der trunken gemurrt hatte, als man ihn aus seinem Dämmerzustand geweckt hatte. Als sie jedoch das Lager aufschlugen, wurde er recht munter. Als Cazio Caspator aus der Scheide zog und ein paar Übungen machte, kam der alte Mann ächzend auf die Beine und zog seine eigene Klinge. »Ich habe dich letztens mit dem z'ostato angreifen sehen«, sagte er. »Stimmt.« »Das ist ein törichter Stoß. Den habe ich dir nicht beigebracht.« »Nein«, pflichtete Cazio ihm bei. »Das war etwas, das einer von Estenios Schülern mal bei mir versucht hat.« »Aha. Hat er damit etwas ausgerichtet?« Cazio grinste. »Nein. Ich habe mit dem pero perfo gekontert und ihn sich aufspießen lassen.« »Natürlich. Wenn du beide Füße vom Boden nimmst, kannst du die Richtung nicht mehr ändern. Du beraubst dich selbst deiner ganzen Manövrierfähigkeit.« »Ja.« Z'Acatto fuhr ein paar Mal mit dem Degen durch die Luft. »Warum hast du es dann getan?« Cazio dachte nach, versuchte sich zu erinnern. »Der Ritter hätte Anne fast erwischt«, sagte er nach einem Augenblick. »Mit ei394 nem Ausfall hätte ich ihn vielleicht getroffen, aber mein Degen wäre nicht durch seine Rüstung gedrungen, und der Stoß wäre nicht stark genug gewesen, um ihn aufzuhalten. Aber mit meinem ganzen Gewicht hinter der Degenspitze konnte ich ihn umwerfen. Ich glaube, ich habe ihm auch die Luftröhre zerquetscht, durch seine Halsberge hindurch, aber da er ja irgendeine Art Teufel war, hat das keine Rolle gespielt.« Z'Acatto nickte. »Ich habe dich den z'ostato nie gelehrt, weil es beim Fechten mit Rapieren ein törichter Stoß ist. Wenn man gegen einen gepanzerten Mann mit einem schweren Schwert kämpft, ist er gar nicht so dumm.« Cazio gab sich Mühe, sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen. »Willst du damit sagen, ich hatte Recht, ihn anzuwenden?« »Du hattest Recht, ihn anzuwenden, aber du hast es nicht richtig gemacht. Die Ausführung war schlecht.« »Es hat doch geklappt«, protestierte Cazio. Z'Acatto fuchtelte mit dem Finger vor seinem Gesicht herum. »Was war das Erste, was ich dich über die Kunst der Dessrata gelehrt habe?« Cazio seufzte und stützte sich auf seinen Degen. »Dass es bei der Dessrata nicht auf Schnelligkeit oder Kraft ankommt, sondern darauf, dass man sie korrekt ausführt.« »Genau!«, rief z'Acatto und schwenkte seine Waffe. »Manchmal hat man mit Kraft oder Schnelligkeit trotz schlechter Ausführung Erfolg, versteh mich nicht falsch. Aber eines Tages wirst du diese Kraft nicht haben, und die Schnelligkeit auch nicht, weil du verwundet bist oder krank - oder alt, so wie ich. Es ist besser, sich darauf vorzubereiten.«
»Na schön«, gab Cazio nach. »Was habe ich falsch gemacht?« Z'Acatto nahm die Grundstellung ein. »Der Stoß beginnt so, mit dem hinteren Fuß«, erklärte er. »Er muss wie eine Explosion nach vorn erfolgen, und dein Arm muss dann schon starr und auf das Ziel gerichtet sein. Du solltest auf der Außenlinie angreifen, nicht auf der inneren, weil du so näher dran bist. Nach dem Treffer schlüpft man am Gegner vorbei, vielleicht um noch einmal von 395 hinten zuzustoßen, vielleicht auch nur, um davonzurennen. Versuche es.« Unter Anleitung des Alten übte Cazio den Stoß ein paar Mal. »Besser«, meinte z'Acatto. »Aber der Sprung sollte mehr nach vorn gehen - du solltest dich nicht so weit vom Boden lösen. Je höher du kommst, desto langsamer wirst du, und dieser Angriff muss vor allem schnell gehen.« »Worauf ziele ich bei einem Mann mit Rüstung?«, wollte Cazio wissen. »Die Halsberge war keine schlechte Wahl. Wenn er den Arm oben hat, ist es auch nicht schlecht, genau in die Achselhöhle zu stoßen. Wenn du von hinten kommst, aufwärts unter den Helm. Die Kniekehlen. Die Augenschlitze, wenn du sie treffen kannst.« Cazio grinste. »Hast du mir nicht beigebracht, dass man sich mit Rittern nicht duelliert?«, fragte er. »Man ficht nicht mit ihnen«, entgegnete z'Acatto. »Das heißt nicht, dass man sie nicht töten kann.« »Außer anscheinend im Fall unserer jetzigen Feinde«, erinnerte Cazio ihn. »Die meisten sind aus Fleisch und Blut«, erklärte z'Acatto höhnisch. »Die anderen brauchen wir nur zu köpfen. Wir wissen, dass es möglich ist.« Er hob sein Rapier über den Kopf; das Heft zeigte nach oben, und die Spitze war mehr oder weniger auf Cazios Gesicht gerichtet. »Wenn das Breitschwert so gehalten wird und er damit zustößt, nicht parieren. Gegenstoß an der Klinge entlang und dann zur Seite lösen. Begegne einem Breitschwert nie mit einer einfachen Parade. Benutze deine Füße - warte auf den Hieb, dann zustoßen, und nimm dich vor dem Rückhandschlag in Acht.« Während der nächsten zwei Stunden spielten sie im Feuerschein Degen und Breitschwert, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Cazio die ungetrübte Freude an der Dessrata zurückkehren, am Lernen und Üben mit seinem Mestro. Schließlich schob der Alte seine Waffe keuchend wieder in die Scheide. »Genug«, seufzte er. »Ich bin zu alt für so etwas.« 396 »Noch ein paar«, bat Cazio. »Was ist, wenn der Schlag von unten kommt, aber -« »Nein, nein. Morgen.« Z'Acatto sackte auf einen Stein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wann hast du denn gegen Ritter gekämpft, z'Acatto?«, fragte Cazio. Z'Acatto grunzte nur und blickte ins Feuer. »Ospero hat dich Emratur genannt. Was hat er damit gemeint?« »Das ist lange her«, murmelte z'Acatto. »Zeiten, an die ich nicht gern denke, wenn ich nicht muss.« »Du hast nie etwas davon gesagt, dass du einmal Befehlshaber warst.« Z'Acatto schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gerade gesagt, dass ich nicht gern darüber rede, oder?« »Ja.« »Also.« Er stand auf, streckte sich auf seiner Decke aus und schloss die Augen. Cazio betrachtete ihn lange. Die Mädchen schliefen bereits. Es sah so aus, als hätte er die Wache. Der nächste Tag war kühl und klar. Immer noch erstreckten sich die Felder, und nach einem Glockenschlag des Wanderns sahen sie ein Schloss auf einem Hügel. Cazio konnte die weißen Mauern und gelben Dächer einer kleinen Stadt an seinem Fuß ausmachen. Schließlich kamen sie an eine Weggabelung. Eine Straße führte zu dem Schloss, die andere geradeaus weiter. »Geradeaus ist unsere Richtung«, sagte Cazio. »Ihr seid heute Morgen ja so fröhlich«, bemerkte Austra. Die beiden waren mit dem Esel ein Stück vorausgegangen. Anne war ein wenig zurückgeblieben und schien tief in Gedanken versunken. Z'Acatto humpelte. »Das bin ich wohl«, erwiderte Cazio. »Wieso auch nicht? Ich bin in Gesellschaft einer wunderschönen Casnara, die Sonne scheint, und wir sind Gefahren entronnen, zumindest fürs Erste. Und am allerbesten ist, dass wir nicht auf einem Schiff sind.« 397 »Das stimmt«, sagte Austra. »Und all das hier«, fuhr Cazio fort und machte eine weit ausholende Geste mit dem Arm. »Das ist mal etwas anderes. Vitellio ist es jedenfalls nicht. Sieht Crothenien so aus?« Austra schüttelte den Kopf. »Das hier ist eigentlich mehr wie Vitellio«, erwiderte sie. »Crothenien ist feuchter. Es gibt mehr Bäume, und die Wiesen sind grüner, sogar um diese Jahreszeit. Dort ist es auch kälter.« »Nun, ich freue mich darauf, es zu sehen. Ihr bestimmt auch. Ihr freut Euch doch gewiss auf Euer Zuhause.« Austra hob gleichmütig die Schultern. »Im Moment weiß ich nicht genau, was mein Zuhause ist«, sagte sie. »Alles hat sich verändert. Ich weiß nicht, ob es dort noch einen Platz für mich gibt.« »Wie meint Ihr das?« »Ich weiß nicht, ob Anne mich noch als ihre Zofe haben will.«
»Zofe?« Sie sah ihn überrascht an. »Wusstet Ihr das nicht?« »Nein. Ich dachte, ihr wärt Basen oder Freundinnen.« »Nun, wir waren Freundinnen.« Er blickte zu Anne zurück und senkte die Stimme. »Mir ist schon aufgefallen, dass Ihr in letzter Zeit nicht sehr freundschaftlich miteinander umgeht.« »Wir haben uns auf dem Schiff gestritten«, gestand Austra. »Ich habe ein paar Sachen gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen.« »Nun, Ihr kennt sie länger als ich«, erwiderte Cazio, »aber sie ist nicht gerade der verträglichste Mensch der Welt.« »Für mich war sie das immer«, sagte Austra. »Aber irgendetwas hat sich geändert.« »Ja. Sie hat sich verändert. Irgendetwas ist mit ihr passiert, und sie will mir nicht sagen, was.« Cazio zerrte am Strick des Maulesels, der sich für irgendetwas am Straßenrand zu interessieren schien. »Nun ja«, erwiderte er. »Ihr habt mir erzählt, ihr Vater und ihre Schwestern wären ermordet worden, und irgendwer gibt sich ziemliche Mühe, auch sie umzubringen. Das hat wahrscheinlich eine gewisse Wirkung.« 398 »Natürlich. Aber es ist mehr als das.« »Nun, ich bin sicher, Ihr versöhnt Euch bald wieder«, sagte Cazio. »Oder zumindest hoffe ich das. Ich sehe so ungern solche langen Gesichter.« Schweigend gingen sie ein paar Schritte. »Ich bin froh, dass Ihr hier seid, Cazio«, sagte sie. »Anne ist die einzige Freundin, die ich je wirklich hatte.« »Ich hoffe, ich bin Euer Freund.« »Ihr kommt mir vor wie ein Freund«, antwortete sie. »Aber nicht so einer wie Anne.« »Nein? Was für ein Freund bin ich denn dann?« »Einer, wie ich ihn mir kaum jemals vorzustellen gewagt habe.« Er schob seine Hand in die ihre und fühlte sich merkwürdig und auf sonderbare Weise schuldig. Malconio hatte Recht. Sein Interesse hatte stets Anne gegolten, wenngleich das, was ihn daran rasend machte, die Tatsache war, dass er nicht genau sagen konnte, warum. Aber Anne war schwierig. Sie glaubte immer noch, in diesen Roderick verliebt zu sein. Er hatte gedacht, wenn er Austra ein wenig den Hof machte, würde er Anne dazu bringen, sich für ihn zu interessieren - viele Frauen waren so. Manchmal glaubte er, damit Erfolg zu haben. Dann wieder hatte er den Eindruck, dass er nur seine Zeit verschwendete. In der Zwischenzeit jedoch war er bei Austra nur allzu erfolgreich gewesen. Ihre Zuneigung war unverkennbar. Zu seiner Überraschung wurde ihm bewusst, dass er anfing, sie aufrichtig zu erwidern. Sie war freundlich und klug und auf ihre eigene Art ebenso reizvoll wie Anne. Seltsam, jedes Mal, wenn er sie ansah, kam sie ihm hübscher vor. Austra war die Sorte Mädchen, die man in den Arm nehmen und der man versichern wollte, dass alles gut werden würde. Trotzdem begehrte er Anne. Kurz nach Mittag erreichten sie die Vitellianische Hochstraße; endlich eine richtige Straße, breit genug für Kutschen. Eine überholte sie, und Anne sah ihr sehnsüchtig nach. Sie und Austra wa399 ren in einer solchen Kutsche nach Vitellio gereist, mit all dem Luxus, den sie zeit ihres Lebens erwartet hatte. Jetzt kehrte sie mit einem Esel nach Hause zurück. In einer Hinsicht ähnelten sich Hin- und Rückweg: Austra hatte auch in der Kutsche kaum mit ihr geredet. Sie hatte Anne bestraft, weil sie versucht hatte durchzubrennen. Dieser Streit war mit einem Versprechen begraben worden. Anne glaubte nicht, dass das jetzige Schweigen so einfach zu brechen sein würde. Und außerdem hatte Austra jetzt Cazio. Die beiden hatten sich den ganzen Tag lang an den Händen gehalten. Sie übernachteten in einer Scheune kurz vor Pacre. Der Bauer war ein wenig mit der Sprache des Königs vertraut und sagte ihnen, sie würden bald die Grenze von Hornladh überschreiten. Ihr Herz schlug bei diesen Worten ein wenig schneller, und sie fragte ihn, ob er wisse, wo Dunmrogh war. Er sagte, es läge im Osten, er kannte den Weg dorthin nicht genau. In dieser Nacht lag sie wach und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht öfter an Roderick dachte. Sie wusste, dass sie ihn liebte, doch so viel war inzwischen geschehen. Tief im Innern war ihr klar, dass es mehr war als nur das. Cazio hatte Zweifel an Roderick gesät, und obgleich sie wusste, dass er Unrecht hatte, konnte sie sie nicht ganz aus ihrem Kopf verbannen. Sie musste ihn wieder sehen. War er in Eslen oder wieder daheim in Dunmrogh? Vielleicht konnte sie, wenn sie nach Paldh kamen, einen Kurier finden, der die Nachricht nach Dunmrogh bringen würde, dass sie heimkehrte. Am nächsten Tag machten die Felder ausgedehnten Weingärten Platz, die sich über die Hügel bis zum Horizont hinzogen. Anne erinnerte sich von der Reise in der Kutsche her an sie - ihr fiel wieder ein, wie sie sich damals nie hätte träumen lassen, dass es so viele Trauben auf der Welt gab. Sie blickte zu Austra hinüber, die zur Abwechslung einmal nicht zwanzig Ellen vor ihr ging.
400 »Der Fluss, der Teremene, müsste vor uns liegen«, versuchte Anne es. »Wenn ich mich noch recht an dein Tagebuch erinnere.« »Ich glaube, du hast Recht«, antwortete Austra. »Das war schlau von dir«, fuhr Anne fort, »dieses Tagebuch zu führen. Wenigstens wissen wir, wo wir sind. Was glaubst du, wie viele Tagesreisen wir von Eslen entfernt sind?« »Die Kutsche hat fünf Tage gebraucht«, überlegte Austra. »Aber wir sind nicht den ganzen Tag gefahren, und wir haben zweimal in Paldh übernachtet.« »Dann also sechs oder sieben Tage, wenn wir uns beeilen?« »Das könnte stimmen«, pflichtete Austra ihr bei. Anne biss sich auf die Unterlippe. »Wollen wir so weitermachen?«, fragte sie. »Dass wir nicht miteinander reden?« »Wir reden doch«, entgegnete Austra. »Du weißt, was ich meine.« Austra seufzte und nickte. »Es ist nur ... ich habe dich immer noch lieb, Anne, aber manchmal glaube ich, dass du mich nicht lieb haben kannst.« »Das ist doch Unsinn«, erwiderte Anne. »Du bist meine beste Freundin. Du warst immer schon meine beste Freundin. Und ich brauche dich immer noch.« »Es tut nur weh, die Art und Weise, wie du mich ständig ausschließt.« »Ich weiß«, sagte Anne. »Aber du wirst nicht damit aufhören.« Anne seufzte. »Lass mich darüber nachdenken. Aber können wir für den Augenblick einen Waffenstillstand schließen?« »Wir sind doch nicht im Krieg.« »Na, da bin ich aber froh«, erwiderte Anne und versuchte fröhlich zu klingen. Danach plauderten sie darüber, wie es in Eslen wohl sein würde. Das Ganze war nicht so unbefangen wie früher, doch es war besser als das Schweigen. Nach ungefähr einem Glockenschlag bat Austra um einen Halt, um dem Ruf der Natur zu folgen. 401 »Ich komme mit«, sagte Anne. »Der Wein von heute Morgen ist glatt durch mich durchgelaufen.« Cazio und z'Acatto nutzten die Gelegenheit, um sich hinzusetzen. »Lasst Euch Zeit«, sagte Cazio. »Der Esel muss sich ausruhen.« Die beiden Mädchen schlenderten zwischen langen Reihen von Rebstöcken einen Hügel hinauf, bis sie die Männer nicht mehr sehen konnten. Anne wünschte, es wäre die richtige Jahreszeit für Weintrauben - der getrocknete Fisch und das Brot, das sie mit ihrem Haar gekauft hatte, hatten von Anfang an nicht gut geschmeckt, und jetzt war sie Fisch und Brot gründlich leid. »Was ist denn das da unten?«, fragte Austra, als sie getan hatten, weswegen sie auf den Hügel gestiegen waren. Anne spähte in die Richtung, in die sie zeigte. Der Hügel fiel von dort, wo sie die Männer zurückgelassen hatten, ein wenig ab und bildete ein kleines Tal zwischen sich und der nächsten Hügelkuppe. Eine Reihe Weiden kennzeichnete einen Bach, vor dem Bach jedoch befand sich etwas, das zuerst wie eine unregelmäßige Mauer aus roten Ziegelsteinen aussah. Dann bemerkte sie, dass noch mehr daran war. »Es scheint eine Art Ruine zu sein«, sagte Anne. »Sollen wir uns das einmal näher ansehen?«, fragte Austra. Anne hatte eigentlich keine Lust dazu - von Erkundungen und Abenteuern hatte sie fürs ganze Leben genug. Aber Austra redete wieder mit ihr. »Ganz kurz«, gab sie nach. »Wir sollten nicht zu lange herumtrödeln.« Sie gingen den Hügel hinunter. Die Rebstöcke endeten auf halber Höhe und fingen auf dem gegenüberliegenden Hang wieder an, doch das Tal selbst war unbestellt; Gestrüpp und Buschwerk wucherten dort. Ziegelsteine lagen überall verstreut. »Das muss ein Schloss gewesen sein, oder ein Herrenhaus«, sagte Austra, als sie näher kamen. Anne nickte zustimmend. Weinranken verbargen den größten Teil des Bauwerks. Eine Mauer war noch immer höher als ihre 402 Köpfe, der Rest war fast bis aufs Fundament eingestürzt. Nichtsdestotrotz konnten sie die Umrisse der ehemaligen Räume erkennen, und es war ein Haus von beachtlicher Größe gewesen. Jetzt, wo sie hier unten waren, konnte man auch deutlich sehen, dass es noch mehr Gebäude gab, oder was früher einmal Gebäude gewesen waren. Und doch war irgendetwas daran seltsam. Sogar völlig verfallen hatte das Ganze etwas Vertrautes an sich. Neugierig stieg Anne über die Reste einer Mauer hinweg in die nächste Ruine. Nicht weit im Innern befand sich eine Art kleiner Hügel, der sich bei näherem Hinsehen als geborstener steinerner Kasten entpuppte. Etwas Stumpfes, Weißes fiel ihr ins Auge, und sie bückte sich, um es aufzuheben. Es war dünn, aber schwer, und erschrocken stellte sie fest, dass es ein kleines Stück Bleifolie war. Sie fühlte die schwachen Erhebungen von
Buchstaben darauf und ließ es mit einem Aufkeuchen fallen. »Was ist denn los?«, fragte Austra. »Das hier ist eine Stadt der Toten«, flüsterte Anne. »Wie Eslen-des-Schattens.« Sie wich von dem Steinkasten zurück, bei dem es sich nur um die Überreste eines Sarkophags handeln konnte. »Ihr Heiligen!«, sagte Austra leise und sah sich um. »Aber wo ist die Stadt der Lebenden? Wir sind zu weit von Pacre entfernt, und ich glaube nicht, dass wir Teremene schon erreicht haben.« »Niemand hat das hier instand gehalten«, sagte Anne. »Die Stadt der Lebenden muss ebenfalls verschwunden sein. Vielleicht hat sie weiter unten im Tal gelegen.« »Eine ganze Stadt, verschwunden?«, wunderte sich Austra. »Wie soll denn das gehen?« »So etwas kommt vor«, erwiderte Anne. »Vielleicht war es eine Seuche oder Krieg ...« Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Machen wir, dass wir hier wegkommen. Das sind nicht unsere Vorfahren. Vielleicht gefällt es ihnen nicht, dass wir hier sind.« »Warte«, sagte Austra. »Schau mal dort drüben.« Widerstrebend folgte Anne Austra um einen weiteren Schutthaufen herum. Dahinter stand ein Gemäuer, das noch mehr oder weniger intakt war; vier Wände, allerdings kein Dach. Der Torbo403 gen war eingestürzt, doch die Öffnung war noch vorhanden. Im Innern wucherten Bäume und Ranken so dicht, dass sie beinahe undurchdringlich wirkten. »Das ist ein Horz«, sagte Austra. »Er sieht fast so aus wie der zu Hause - wo wir Virgenyas Grab gefunden haben.« Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich Annes, als ihr klar wurde, dass Austra Recht hatte. Sie spürte, wie sich etwas hinter ihren Augen drehte, und vernahm ein schwaches Flüstern in einer Sprache, die sie nicht kannte. »Wir müssen hier weg, Austra«, stieß sie drängend hervor. »Wir müssen weg, sofort« Austra drehte sich um, und ihre Augen wurden groß. »Dein Gesicht.« Sie klang besorgt. »Ist dir nicht gut?« »Ich muss einfach nur hier weg.« Das Gefühl verging, als sie den Horz hinter sich ließen. »Was war denn los?«, wollte Austra wissen. »Ich weiß es nicht«, antwortete Anne. Dann, als sie Austras skeptische Miene sah, fügte sie hinzu: »Ich weiß es wirklich nicht. Aber jetzt geht es mir besser.« Plötzlich runzelte Austra die Stirn. »Hast du das gehört?«, fragte sie. »War das Cazio?« »Ich habe nichts gehört.« Austra schickte sich an, den Hügel hinaufzurennen, doch Anne bekam ihre Hand zu fassen. »Warte«, flüsterte sie. »Langsam. Leise.« »Warum denn? Das hat sich angehört, als ob er geschrien hätte.« »Ein Grund mehr«, erwiderte Anne. »Was ist, wenn er uns warnen wollte?« »Uns warnen?« Leise Panik schwang in Austras Stimme mit. Sie eilten zum Gipfel des Hügels hinauf, duckten sich und spähten zwischen den Rebstöcken hindurch. Cazio und z'Acatto waren zu sehen, zusammen mit ungefähr zwanzig Reitern. Cazio kniete auf dem Boden; sein Degen lag ein paar Ellen von ihm entfernt, und einer der Männer band ihm ge404 rade die Hände auf dem Rücken zusammen. Z'Acatto stand aufrecht, er war bereits gefesselt. Es waren die Ritter und Soldaten vom Hafen. »Sie haben uns gefunden«, flüsterte Anne. »Cazio«, keuchte Austra. Dann öffnete sie den Mund, um den Namen herauszuschreien, und Anne musste ihn ihr mit der Hand zuhalten. »Nein.« Annes Stimme war kaum lauter als ein Seufzen. »Wir müssen fliehen.« Austra schloss die Augen und nickte. Anne nahm die Hand weg. »Wir können sie doch nicht zurücklassen«, sagte Austra verzweifelt. »Sie haben sie nicht getötet«, meinte Anne. »Und das werden sie auch nicht tun, bis sie uns erwischen, verstehst du? Aber wenn sie uns kriegen, sterben wir alle.« »Ich -« »Sie werden hier heraufkommen«, fuhr Anne fort. »Wir haben Glück, dass sie es noch nicht getan haben, aber sie haben Cazio und z'Acatto erkannt, also wissen sie, dass wir hier irgendwo sein müssen. Wir können ihnen nur helfen, indem wir in Freiheit bleiben.« »Du hast wohl Recht«, gab Austra nach. Sie zogen sich wieder den Hügel hinunter zurück. Zuerst schlichen sie dahin, doch als sie Pferdehufe hinter sich den Hang heraufkommen hörten, rannten sie los. 405 32. Kapitel Der Blinde, der Taube und die Finsternis Als Alis Berrye eintrat, winkte Muriele sie zu einem Stuhl. Erzählt mir, was vorgeht«, verlangte sie. »Sagt mir, wie ich heute ums Leben kommen könnte.«
Alis Berrye runzelte die Stirn, und ihre Hände verkrampften sich. »Majestät«, erwiderte sie, »zuerst würde ich gern über den Angriff auf Lady Grammes Gut sprechen.« »Fahrt fort«, sagte Muriele und griff nach ihrer Teetasse. »Ihr habt diese Maßnahme wegen meiner Vermutung befohlen, dass Prinz Robert dort sei und dass Lady Gramme etwas gegen Euch im Schilde führt. Ich fürchte, ich habe Euch enttäuscht.« »Weil wir Robert nicht gefunden haben?« Muriele nippte an ihrem Tee. »Das ist ja wohl kaum eine Überraschung. Das Ganze ist sehr ungeschickt durchgeführt worden, aber das ist nicht Eure Schuld. Zum einen hätte gar kein Angriff stattfinden sollen. Mein Befehl lautete, das Gut zu umstellen, damit sich niemand davonschleichen kann. Dann sollte Sir Fail mit meiner Befugnis das Haus betreten und eine gewaltlose Durchsuchung vornehmen. Stattdessen wurden seine Männer überfallen und haben wie die Krieger gehandelt, die sie nun einmal sind. Aber abgesehen von Robert, es ist ziemlich eindeutig, dass Lady Gramme heimlich versucht hat, sich die Unterstützung der Landwaerde von Neuland zu sichern. Das allein war schon wissenswert.« Alis Berrye sah immer noch besorgt aus. »Majestät, das hätte ich selbst herausfinden können, ohne Blutvergießen.« »Ihr habt die Dreistigkeit, mir zu sagen, dass es ein Fehler war, meine Männer zu Lady Gramme zu schicken?« »Es ist meine Pflicht, Euch solche Dinge zu sagen, Majestät«, 406 erwiderte die junge Frau. »Das liegt in der Natur dessen, was Ihr mich zu tun gebeten habt.« Muriele zog eine Braue hoch, doch Alis Berrye hatte Recht. Erren hatte sich niemals gescheut, ihr zu sagen, wenn sie töricht gewesen war. Natürlich war Erren älter und seit Jahren ihre Freundin gewesen. Sich von diesem Mädchen Vorhaltungen machen zu lassen war ... ärgerlich. »Nun gut, das akzeptiere ich«, sagte sie widerwillig. »Ich weiß, dass dieses Vorgehen nicht gut aufgenommen worden ist, besonders in bestimmten Kreisen. Aber ich hatte den Eindruck, ich sollte Macht zeigen, müsste deutlich machen, dass ich nicht tatenlos dasitzen und als Zielscheibe dienen werde.« »Vielleicht«, erwiderte die Jüngere, »aber Ihr hättet Euch einen anderen Kampf aussuchen können. Die Landwaerde sind nicht mehr unzufrieden mit dem Thron - sie sind wütend. Euer Rückhalt im Comven ist schwächer denn je, und auf den Straßen geht das Gerücht um, dass Ihr wahnsinnig geworden seid. Und was am schlimmsten ist, der Praifec hat begonnen, die Stimme gegen Euch zu erheben.« »Tatsächlich?«, fragte Muriele. »Was sagt der Praifec denn?« »Er deutet sehr nachdrücklich an, dass Ihr Eurem Sohn die Macht entrissen hättet.« »Er weiß sehr gut, dass Charles nicht fähig ist, Entscheidungen zu treffen.« Alis Berrye nickte. »Genau darauf will er, glaube ich, hinaus. Außerdem will er darauf hinaus, dass Euer Sohn Eurer Betreuung entzogen und der seinen unterstellt werden sollte.« Muriele lächelte bitter. »Erst vor ein paar Tagen hat er vorgeschlagen, dass ich Truppen aus zTrbina in der Stadt dulden soll. Wusstet Ihr das?« »Nein, aber ich hätte es mir denken können. Die Kirche ist in Bewegung geraten, Majestät. Ich weiß nicht genau, welches Ziel sie verfolgt, aber ich halte es für sicher, dass sie ihre lange Enthaltsamkeit, was direkte Einmischung in weltliche Angelegenheiten betrifft, aufgeben wird.« 407 Muriele stellte die Tasse auf die Armlehne ihres Sessels. »Hespero hat etwas in der Art zu mir gesagt«, erklärte sie. »Wohlan -bringt ihn für mich um.« »Majestät?« Alis Berryes Augen wurden ein wenig größer. »Ich scherze, Lady Berrye.« »Ich ... oh, gut.« »Es sei denn, Ihr denkt ebenfalls, ich wäre wahnsinnig geworden.« »Das denke ich ganz und gar nicht, Majestät«, versicherte die Jüngere ihr. »Nun gut«, erwiderte Muriele, »Ihr habt mir gesagt, was ich falsch gemacht habe. Ich bin offen für Vorschläge, was ich richtig machen könnte.« »Es ist von großer Wichtigkeit, dass Ihr die Landwaerde und die Kaufleute wieder für Eure Sache gewinnt, Majestät«, antwortete das Mädchen. »Das kann ich gar nicht genug betonen.« »Ob Ihr es glaubt oder nicht«, entgegnete Muriele, »derartige Gedanken hatte ich schon vor Wochen. Ich habe ein Musikstück in Auftrag gegeben, das für sie und die einfachen Leute der Stadt komponiert werden soll. Die Aufführung sollte in etwa drei Wochen stattfinden, zusammen mit einem Bankett. Ich wusste nicht, dass Lady Gramme mir zuvorgekommen ist. Jetzt hat das wohl wenig Sinn. Es würde bloß wie eine Entschuldigung aussehen.« »Und genau deswegen solltet Ihr an diesem Plan festhalten«, erwiderte Alis Berrye. »Aber Ihr müsst noch weiter gehen, glaube ich, und Euch überlegen, welche Gesetze Ihr abändern könntet, um sie friedlich zu stimmen. Ich würde eine förmliche Anhörung vorschlagen, wo sie ihre Forderungen vorbringen können.« »Das tue ich morgen. Was noch?« »Ob Ihr Euch nun auf Lierys Seite geschlagen habt oder nicht, alle denken, es wäre so. Ihr habt zwei Möglichkeiten: Entweder straft Ihr diese Vorstellung Lügen, indem Ihr Berimund heiratet, oder Ihr bestätigt sie
in jeder Hinsicht, indem Ihr Euch mit einem der lierischen Lords vermählt.« »Nein. Was noch?« 408 »Lasst Lady Gramme sofort frei«, drängte Alis Berrye. »Ihr habt nicht nachgewiesen, dass sie etwas Unrechtes getan hat, und wenn ihr etwas zustößt, während sie sich in Eurem Gewahrsam befindet, steht Ihr nur noch schlechter da.« »Ich hatte eigentlich gehofft, dass ihr etwas zustoßen würde, während sie sich in meinem Gewahrsam befindet«, entgegnete Muriele. »Ich hoffe, das ist wieder ein Scherz, Majestät.« »Es ist ein Scherz, Lady Berrye, allerdings nur mit Mühe und Not. Ich lasse sie noch in dieser Stunde auf freien Fuß setzen. Gibt es sonst noch etwas?« »Ja. Tretet hin und wieder auch außerhalb dieser Hallen in Erscheinung. Und schlaft ein wenig. Ihr bekommt Ringe unter den Augen.« Muriele lachte leise. »Erren hat mir immer das Haar gekämmt. Werdet Ihr auch anfangen, das zu tun?« »Wenn Ihr es wünscht, Majestät«, sagte das Mädchen vorsichtig»Nein danke. Ich glaube, es wäre mir ein wenig zu vertraulich, wenn die Geliebte meines Gemahls sich mit einem Kamm an meinem Haar zu schaffen macht.« »Das ist verständlich.« »Habt Ihr ihm das Haar gekämmt?« »Ich ... ab und zu«, gestand das Mädchen. »Hat Euch dieses seltsame schnaufende Geräusch, das er im Schlaf immer gemacht hat, gestört?« »Ich fand es liebenswert, Majestät.« »Nun gut. Ich danke Euch, Lady Berrye. Wir unterhalten uns wieder, wenn Ihr mehr zu berichten habt.« Alis Berrye erhob sich und schickte sich an zu gehen. »Einen Augenblick, Lady Berrye«, sagte Muriele, die zu einem widerstrebenden Entschluss gelangt war. »Ja, Majestät?« »Der Attentäter, der in meine Gemächer eingedrungen ist, hat etwas mitgenommen. Einen Schlüssel.« 409 »Einen Schlüssel zu was, Majestät?« »Das werde ich Euch zeigen.« Alis Berrye blieb am Rande des Lichts stehen. »Kommt weiter«, sagte Muriele. »Aber Majestät, da sind keine Fackeln mehr. Vielleicht sollten wir zurückgehen und eine Laterne holen.« »Wir werden eine bekommen«, erwiderte Muriele. Doch sie drehte sich nach der Jüngeren um. »Es ist gut, zu wissen, dass Ihr nicht alle meine Geheimnisse kennt.« »Von diesem Ort weiß ich gar nichts, außer dass Seine Majestät einmal - kurz vor seinem Tod - irgendwohin in die Verliese gestiegen ist, und als er zurückkam, war er blass und wollte nicht darüber sprechen.« »Ich habe bis nach Williams Tod nicht gewusst, dass es diesen Ort gibt. Ich habe einen Schlüssel in seinem Gemach gefunden, und die Fragen, die dieser aufgeworfen hat, haben mich hierher geführt. Aber niemand würde zugeben, zu wissen, was hier unten ist.« Sie trat in die Finsternis, und Alis Berrye folgte ihr. Muriele tastete nach der hölzernen Tür, die sich, wie sie wusste, hier befand, und fand die Klinke. »Man hört keine Musik«, flüsterte sie. »Sollte denn welche zu hören sein?«, fragte das Mädchen. »Der Bewahrer vertreibt sich manchmal die Zeit damit, auf der Theorbo zu spielen«, erwiderte Muriele. »Bewahrer?« Anstatt zu antworten, klopfte Muriele an die Tür. Als nicht sofort eine Antwort kam, klopfte sie erneut, diesmal lauter. »Vielleicht schläft er«, sagte Alis Berrye. »Das glaube ich nicht. Kommt, holen wir uns eine der Fackeln -« Muriele wurde durch das fast geräuschlose Öffnen der Tür unterbrochen. Das Gesicht des Bewahrers wirkte im schwachen Licht vom Gang her rötlich. Es war ein uraltes, schönes Gesicht, weder of410 fensichtlich männlich noch weiblich. Seine blinden, trüben Augen schienen nach ihnen zu suchen. »Ich bin es, die Königin«, sagte Muriele. »Antwortet mir.« Seine einzige Antwort bestand darin, den Mund weit aufzureißen, als wollte er schreien. Sie sah, dass er keine Zunge mehr hatte. »Ihr Heiligen«, keuchte sie und wich zurück. Dann würgte sie mit überraschender Heftigkeit und taumelte gegen die Wand. Ihr war, als wimmelten Maden in ihrem Leib durcheinander. Plötzlich war Alis Berrye da und stützte sie mit verblüffender Kraft. »Es geht schon -«, setzte Muriele an und übergab sich wieder, und dann noch einmal. Als die Übelkeit schließlich verging, richtete sie sich auf unsicheren Beinen auf.
»Er konnte also früher sprechen, nehme ich an«, sagte Alis Berrye. »Ja«, erwiderte Muriele schwach. Der Bewahrer stand noch immer teilnahmslos da. Alis Berrye umkreiste ihn und musterte ihn genau. »Ich glaube, seine Trommelfelle sind durchstoßen worden«, verkündete sie. »Er kann uns also auch nicht hören.« Zitternd trat Muriele näher zu dem alten Sefry »Wer war das ?«, flüsterte sie. »Wer hat das getan?« »Derselbe, der Euren Schlüssel genommen hat, denke ich«, erwiderte das Mädchen. Muriele spürte Tränen auf ihrem Gesicht. Sie kannte den Bewahrer nicht - sie war ihm nur ein einziges Mal begegnet, und damals hatte sie ihm damit gedroht, ihm das Gehör zu nehmen. Natürlich hatte sie es nicht ernst gemeint, doch sie war völlig außer sich gewesen. »Sein ganzes Leben hat er hier verbracht«, sagte sie. »In der Dunkelheit, ohne Augenlicht. Hat gedient. Aber er hatte seine Musik, und manchmal Gespräche, wenn jemand gekommen ist. Was hat er jetzt?« 411 »Seine Ohren könnten verheilen«, sagte Alis Berrye. »Das kommt manchmal vor.« »Ich werde meinen Arzt hier herunterschicken.« Sie griff nach der tastenden Hand und nahm sie in die ihre. Die Finger griffen mit einer Art verzweifelter Kraft zu, und das Gesicht des Bewahrers verzerrte sich kurz. Dann ließ er die Hand fallen, trat zurück und schloss die Tür. »Was bewahrt er, meine Königin?«, fragte Alis Berrye. Muriele schritt den Gang wieder hinauf und zerrte eine Fackel aus ihrer Halterung. Dann stieg sie eine Treppe hinunter, die in den Fels gehauen war, während das Mädchen ihr auf dem Fuß folgte. »In dem Stein sind Knochen«, bemerkte Alis Berrye, als sie die feuchten Stufen hinuntertappten. »Ja«, erwiderte Muriele. »Der Bewahrer hat mir gesagt, sie seien älter als der Fels selbst.« Am Fuß der Treppe stand eine mit seltsamen Schriftzeichen versehene Tür. Die Luft roch nach brennendem Pech und Zimt, und der Widerhall ihrer Stimmen schien noch andere, schwächere Worte zu wecken. »Vor über zweitausend Jahren«, begann Muriele, »befand sich dort, wo Eslen jetzt steht, eine Festung, die letzte Festung der Skasloi-Herren, die unsere Vorväter als Sklaven hielten. Hier haben Virgenya Dare und ihre Armee die Mauern niedergerissen und die letzten Angehörigen dieser Dämonenrasse niedergemacht. Sie haben alle erschlagen, bis auf einen - ihn haben sie bewahrt, verkrüppelt, aber am Leben.« Sie ging auf die Tür zu und legte die Fingerspitzen dagegen. »Für diese Tür braucht man zwei Schlüssel - den, der aus meinem Gemach gestohlen wurde, und den des Bewahrers. Hinter dieser Tür ist eine andere, durch die kein Licht fallen darf. Und dort ist er.« »Der letzte der Skasloi«, hauchte Alis Berrye. »Noch immer am Leben, nach all dieser Zeit. Das hätte ich mir niemals träumen lassen.« 412 »Die Skasloi sind nicht auf natürliche Weise gestorben«, erklärte Muriele. »Sie sind nicht gealtert wie wir.« »Aber warum? Warum so ein Wesen am Leben lassen?« »Weil es Wissen besitzt«, antwortete Muriele, »und Weitsicht, die die der Sterblichen übertrifft. Seit zweitausend Jahren haben die Könige von Crothenien ihn gezwungen, ihnen Rat zu spenden.« »Nicht einmal die Schwestern des Konvents wissen davon«, stieß Alis Berrye hervor. »Die Kirche weiß es gewiss nicht, sonst würde sie ihn töten lassen.« Ihre Brauen hoben sich ein wenig. »Ihr habt mit ihm gesprochen?« Muriele nickte. »Nachdem William und meine Kinder umgebracht worden waren, habe ich ihn gefragt, wie ich mich an ihren Mördern rächen könnte.« »Und er hat es Euch gesagt.« »Ja.« »Ist es geglückt?« Muriele lächelte bitter. »Ich weiß es nicht. Ich habe denjenigen verflucht, der hinter den Morden steckte, aber ich weiß nicht, wer er ist. Also weiß ich auch nicht, ob mein Fluch Erfolg hatte. Aber ich hatte das Gefühl, als hätte es gewirkt. Ich habe gespürt, wie sich etwas bewegt hat, wie ein Hebel in einem Türschloss.« »Flüche sind gefährlich«, warnte Alis Berrye. »Sie ziehen Kreise, wie ein Stein, der ins Wasser fällt. Ihr könnt nie wissen, was Eure Absicht bewirkt.« »Köööönigin«, kratzte eine Stimme in Murieles Kopf. »Er spricht zu mir«, sagte sie leise. »Könnt Ihr ihn hören?« »Ich höre nichts, Majestät«, erwiderte das Mädchen. »Kööönigin, Gestank nach Weib, Gestank nach Mutterschaft. Türen stehen zwischen uns. Wollt Ihr nicht zu mir kommen?« »Ich kann nicht«, antwortete sie. »Ich habe den Schlüssel nicht.« Etwas wie schwarzes Gelächter rasselte in ihrem Schädel. »Nein. Er hat ihn. Der, den Ihr geschaffen habt.« Murieles Herz ballte sich in ihrer Brust zusammen wie eine Faust. 413 »Der, den ich geschaffen habe? Was meinst du damit?« »Ich singe von ihm, ich singe und singe. Wenn die Welt selbst zerspringt, vielleicht werde ich dann sterben.«
»Sag es mir«, befahl sie. »Sag mir, wer er ist. Du kannst mich nicht belügen.« »Ihr habt den Schlüssel nicht...« Die Stimme verwehte wie ein sterbender Wind. Murieles letzter Eindruck war der von Schadenfreude. »Antworte mir!«, schrie sie. »Quexqaneh, antworte mir!« Doch die Stimme kehrte nicht zurück, und nach und nach beruhigte sich Muriele. »Wir müssen herausfinden, wer hier war«, sagte sie zu Alis Berrye. »Wir müssen erfahren, worüber er mit dem Bewahrten gesprochen hat, und ich muss meinen Schlüssel wiederhaben.« »Ich werde mein Bestes tun«, versprach das Mädchen. Sie klang ein wenig verschreckt, und Muriele bereute es plötzlich, das Geheimnis des Bewahrten mit ihr geteilt zu haben. Doch wer konnte ihr sonst helfen? In Spionagedingen wären Sir Fail und seine Männer keine Hilfe. Alis Berrye hatte bewiesen, dass sie auf diesem Gebiet eine gewisse Begabung besaß. So eingeschränkt, wie ihre Möglichkeiten waren, war ihr davon zu erzählen das Einzige gewesen, was sie hatte tun können. Sie verließen die unterirdischen Verliese. Muriele kehrte in ihre Gemächer zurück, rief ihren Leibarzt und trug ihm auf, sich um den Bewahrer zu kümmern, unterschrieb den Befehl, Lady Gramme freizulassen, und ging dann früh zu Bett. Träume von Spinnen und Schlangen und augenlosen Greisen ließen sie alle paar Glockenschläge hochfahren. Am nächsten Tag machte sie sich bereit, Hof zu halten, wie Alis Berrye es ihr geraten hatte. Seit dem Anschlag auf ihr Leben hatte sie dies vermieden, doch sie konnte es nicht für alle Zeit aufschieben. Also ließ sie Charles ankleiden, und da Alis Berrye sich verspätete, begann sie, sich selbst umzuziehen. Sie wählte ein Kleid aus violettem Safnit mit steifem Spitzenkragen und begann 414 sich hineinzuzwängen, obwohl sie wusste, dass sie die Haken am Rücken nicht würde schließen können. Sie brauchte eine neue Zofe, ging es ihr durch den Kopf, doch ihr Kummer um Unna war noch zu frisch, als dass sie den Gedanken hätte ertragen können, jemanden auszusuchen. Vielleicht würde sie Alis Berrye diese Aufgabe übertragen, dachte sie, und ihr wurde klar, wie sehr sie sich bereits auf die junge Frau verließ. Sie ist nicht Erren, ermahnte sie sich selbst. Sie war die Hure deines Gemahls. Doch Alis Berrye hatte etwas an sich, das sie Erren so ähnlich machte - ein bestimmtes Selbstvertrauen, das nur von den Jahren der Ausbildung im Konvent kommen konnte -, dass Muriele merkte, wie sie wieder in ihre alten Gewohnheiten verfiel. Alte Gewohnheiten konnten tödlich sein. Sie hatte noch immer keinen Beweis dafür, dass Alis Berrye lautere Absichten verfolgte. Und sie kam zu spät. Gerade war sie im Begriff, richtig ärgerlich zu werden, als das Mädchen endlich hereinkam. Sie öffnete schon den Mund, um sich zu beschweren, als sie den Gesichtsausdruck der Jüngeren bemerkte. »Was ist?«, fragte Muriele. »Er ist hier, Majestät«, verkündete Alis Berrye. Sie klang ein wenig außer Atem. »Prinz Robert ist hier. Ich habe ihn gesehen.« Es stimmte also. Muriele schloss die Augen. »Er ist im Schloss?« »Im Thronsaal, Majestät, er wartet auf Euch.« »Wisst Ihr, was er vorhat?« Sie hob die Lider. Alis Berrye setzte sich und drückte die Handflächen gegen die Stirn. Muriele hatte sie noch nie so verstört gesehen. »Er hat seine Leibwache bei sich, Euer Majestät, vierzig Mann. Der Herzog von Shaie und Lord Fram Dagen haben jeder mindestens zwanzig Männer. Alle anderen Mitglieder des Comven haben ihre Wachen um sich geschart, und man redet von Landwaerden-Milizen in der Stadt.« Das Zimmer schien zu pulsieren, schien sich mit Murieles Herzschlag auszudehnen und wieder zu schrumpfen. Sie ließ sich 415 schwer in einen Sessel fallen, ohne daran zu denken, dass sie mit dem Ankleiden nicht fertig geworden war. »Er ist hier, um sich des Throns zu bemächtigen«, stieß sie hervor. Ihr Mund war trocken. »Das halte ich für das Wahrscheinlichste.« »Es ist das einzig Mögliche.« »Ich hätte das kommen sehen müssen«, sagte Alis Berrye bitter. »Ihr habt es doch kommen sehen«, murmelte Muriele. »Aber nicht so schnell«, wandte das Mädchen ein. »Nicht annähernd so schnell. Ich dachte, wir hätten Zeit, um zu handeln, den Schlag abzumildern.« »Nun, wir haben keine.« Muriele schloss die Augen, versuchte nachzudenken. »Sir Fail hat dreißig Männer. Es gibt zwanzig Handwerksmeister - falls ich ihnen trauen kann - und ihre Bewaffneten, insgesamt weitere hundert Mann, bei denen ich nicht sicher bin, ob ich auf sie zählen kann. Es könnte sogar gut sein, dass sie Robert zu ihrem König wählen.« »Das können sie dem Gesetz nach nicht«, erwiderte Alis Berrye. »Nicht, solange Charles und Anne am Leben sind.« »Niemand weiß, ob Anne am Leben ist, und Charles - bei Charles machen sie vielleicht eine Ausnahme, wegen
seiner Art. Robert könnte noch weiter gehen. Wenn er den Vater umgebracht hat, könnte er durchaus auch den Sohn töten.« Sie stand auf und wandte Alis Berrye den Rücken zu. »Lady Berrye, würdet Ihr mir das Kleid zumachen?« »Ihr habt noch immer vor, zu Hofe zu gehen?« »Ich denke immer noch nach«, antwortete Muriele. Alis Berrye begann, die Haken zu schließen. Muriele konnte den Atem des Mädchens auf ihrem Haar spüren. Ihr Herzschlag schien langsamer zu werden, und eine sonderbare Ruhe senkte sich herab, als ein Plan Gestalt anzunehmen begann. »Ihr kennt die Geheimgänge«, sagte sie, als Alis den dritten Verschluss zuhakte. »Wisst Ihr den Weg aus der Stadt?« »Der lange Gang, der unter der Stadtmauer hindurchführt? Der, der mit Wasser geflutet werden kann?« 416 »Das ist der einzige Weg, den ich kenne«, erwiderte Muriele. »Ich weiß, wo er ist«, sagte die Jüngere. »Ich war noch nie dort.« »Aber Ihr seid sicher, dass Ihr ihn finden könnt?« »Ich habe in meinem Konvent die Baupläne dieses Schlosses studiert. Bis jetzt habe ich keinen Fehler darin gefunden.« Sie schloss den letzten Haken und dann den Kragen. »Gut.« Muriele schritt in ihr Vorzimmer und rief die Wache herein, die vor der Tür stand. »Holt sofort Sir Fail«, befahl sie. Der Ritter hatte Elsenys Gemach bezogen, das sich nur ein kleines Stück den Gang hinunter befand. Er erschien ein paar Augenblicke später. »Sir Fail«, sagte sie. »Ich muss Euch noch einmal um einen Gefallen bitten.« »Was immer Ihr wünscht, Majestät.« »Ihr müsst Charles nach Liery bringen.« Der Mund des alten Mannes klappte auf, und er starrte sie einen Moment lang an. »Was?«, stieß er schließlich hervor. Muriele verschränkte die Arme und betrachtete ihren Oheim. »Wie das Schicksal es will, ist Prinz Robert nicht tot. Er ist zurückgekehrt, und ich glaube, er wird heute den Thron an sich reißen. Ich will, dass mein Sohn in Sicherheit ist, Sir Fail.« »Ich ... gewiss können wir ihn doch aufhalten? Er hat kein Recht -« »Das werde ich nicht riskieren«, erklärte Muriele. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf Alis Berrye. »Ihr kennt diese Lady?« »Lady Berrye, ja.« Er sah verwirrt aus. »Es gibt einen sicheren Weg aus dem Palast, einen geheimen Weg. Sie kennt ihn und wird Euch hinausführen. Ihr müsst Charles holen und sofort aufbrechen. Lasst mir zwei Männer als Eskorte hier, und nehmt den Rest mit, für den Fall, dass Feinde bei Eurem Schiff warten.« »Aber Ihr geht doch mit uns, oder?«, sagte Sir Fail. »Nein, das tue ich nicht«, erwiderte Muriele. »Das ist der Ge417 fallen, um den ich Euch bitte, und es ist keine Zeit, um mehr dazu zu sagen als einfach Ja oder Nein.« »Muriele -« »Bitte, Sir Fail. Ich habe zwei meiner Töchter verloren.« Er straffte die Schultern. »Dann ja. Aber ich komme wieder und hole Euch.« »Und wenn Ihr das tut, werdet Ihr den rechtmäßigen König hinter Euch wissen«, sagte Muriele. »Versteht Ihr?« »Ich verstehe.« Fails Augen wurden feucht, und sein Kopf sank herab. Seufzend trat sie vor und umarmte ihn. »Danke, Onkel Fail.« Er drückte ihre Arme. »Die Heiligen seien mit Euch, Meur«, murmelte er. Alis Berrye packte sie am Arm. »Ich komme zurück, nachdem ich ihnen den Weg gezeigt habe.« »Nein«, widersprach Muriele. »Bleibt bei ihnen. Wacht über meinen Sohn.« Als sie fort waren, setzte sie sich für einen halben Glockenschlag wieder in ihren Sessel, um ihnen Zeit zum Aufbruch zu geben. Dann holte sie tief Atem, erhob sich und verließ ihre Gemächer. Sie ging den Korridor hinunter zu dem Raum, wo Sir Moris Lucas, der Hauptmann der Handwerksmeister, sein Quartier hatte. Auf ihr Klopfen hin öffnete er mit völlig verblüffter Miene die Tür. »Majestät«, sagte er. »Was verschafft mir diese Ehre?« »Sir Moris«, begann Muriele, »ich habe Euch und Eure Männer während der letzten Monate nicht gut behandelt.« »Wenn Ihr es sagt, Majestät«, erwiderte er. Er klang unsicher. »Nachdem dies gesagt ist, muss ich Euch bitten, ein paar direkte und dreiste Fragen hinzunehmen.« »Ich werde jede Frage beantworten, die Euer Majestät mir stellt«, versicherte der Ritter. »Sind die Handwerksmeister mir und meinem Sohn Charles treu ergeben?« 418
Moris versteifte sich. »Wir sind Charles als König und Euch als seiner Mutter treu ergeben«, antwortete er. »Und erkennt Ihr noch andere Ansprüche auf den Thron an?« Moris' Stirnrunzeln verstärkte sich. »Prinzessin Anne hat Anspruch darauf, aber sie ist meines Wissens nicht anwesend.« »Ihr habt gehört, dass Prinz Robert zurückgekehrt ist?« »Es gibt ein Gerücht, das das besagt.« »Was wäre, wenn ich Euch sagen würde, dass er meinen Gemahl ermordet und die Handwerksmeister und Mitglieder der Königlichen Reiterei getötet hat, die mit dem König zur Landspitze von Aenah geritten sind?« »Das würde ich als begründeten Verdacht bezeichnen, Majestät. Und wenn Ihr wissen wollt, ob ich Prinz Robert folgen würde, so lautet die Antwort Nein.« »Und Ihr vertraut Euren Männern?« Er zögerte. »Den meisten«, gestand er schließlich. »Dann erlege ich Euch folgende Geis auf, Sir Moris, Euch und Euren Männern. Ich will, dass Ihr dieses Schloss und diese Stadt verlasst, selbst wenn Ihr Euch den Weg freikämpfen müsst.« Seine Augen wurden rund wie Regatur-Taler. »Majestät? Wir werden an Eurer Seite stehen.« »Wenn Ihr das tut, werdet Ihr sterben. Ich brauche Euch lebend, außerhalb des Palasts, außerhalb von Eslen, wo Ihr die Unterstützung finden könnt, die Ihr braucht, um meine Rechte durchzusetzen. Ich will, dass Ihr Hundehut mitnehmt, und ich will, dass einer von Euren Männern sich mit einem schweren Kapuzenmantel verhüllt, damit es so aussieht, als wäre Charles bei Euch.« »Aber der König, Majestät -« »Ist immer noch der König. Für seine Sicherheit ist gesorgt, das verspreche ich Euch.« »Wollt Ihr, dass wir sogleich aufbrechen, Majestät?« »Sogleich, und so leise wie möglich. Ich will kein Blutvergießen, es sei denn, es ist absolut unumgänglich.« Er verbeugte sich. »Auf Euren Befehl, Lady Die Heiligen seien mit Euch.« 419 »Mit Euch auch, Sir«, erwiderte sie. Sie kehrte in ihre Gemächer zurück und dachte bei sich, dass sie jetzt zumindest erfahren würde - ein für alle Mal -, ob sie den Handwerksmeistern tatsächlich vertrauen konnte. Taten bewiesen mehr als Worte. Dann setzte sie den Kronreif auf, rief die beiden Wachen, die Fail ihr dagelassen hatte, und ging zu Hofe. 33. Kapitel Schwertkämpfer, Priester und Krone A ls Stephen das Siegel des Praifec erbrach, war ihm klar, dass Ziler sich von der Kirche losgesagt hatte. Das Siegel war sakrosankt, es durfte nur von dem geöffnet werden, für den es bestimmt war. Die Strafe für einen Novizen oder Priester, der dieses geheiligte Vertrauen missbrauchte, begann mit dem Ausschluss aus den heiligen Orden. Danach wurden die Missetäter weltlichen Strafen unterzogen - was alles heißen konnte, von Auspeitschen bis zum Ertränken. Für Stephen jedoch bedeutete das alles nichts. Damit die Kirche ihn dieses Vergehens anklagen konnte, müssten ihre Vertreter erst einmal wissen, dass er es begangen hatte, und wenn er es vor ihnen verbergen wollte, so war ihm das wahrscheinlich möglich. Nein, er erbrach das Siegel, weil er tief in seinem Herzen wusste, dass die Fäulnis, auf die er im Kloster d'Ef gestoßen war, nicht nur ein dunkler Fleck auf einer Birne war - die ganze Frucht war verfault, durch und durch, genau wie der Baum, an dem sie wuchs. Wenn die Kirchenväter hinter dem Erwachen der Verdammten Heiligen steckten, so waren die Folgen kaum absehbar. Und wenn 420 die Kirche selbst korrupt war, wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er würde den Heiligen auf seine eigene Art dienen. »Stephen?«, fragte Winna. »Was steht da?« Ihm wurde bewusst, dass er durch die mit Tinte geschriebenen Buchstaben hindurchgestarrt hatte, ohne sie zu lesen. Er versuchte, den Kopf freizubekommen und sich zu konzentrieren. Seltsam, dachte er. Abgesehen von der Unterschrift und einem Gedicht, das vadhiianisch zu sein schien, war der Brief völlig unverständlich. »Äh, das ist irgendeine Art von Verschlüsselung«, sagte er zu den anderen. »Eine Geheimschrift.« »Ein Wortknoten, den Ihr nicht lösen könnt?«, bemerkte Aspar. »Das bezweifle ich.« Stephen nickte und konzentrierte sich. »Wenn ich mir Zeit nehme, könnte ich ihn wohl lesen. Das hier basiert auf Kirchenvitel-lianisch und einer alten Liturgiesprache namens Jhehdykhadh. Aber so, wie es geschrieben ist, hat es keinerlei Bedeutung. Da ist allerdings dieses Gedicht...« Er verstummte, während er die Zeilen studierte. Es war wirklich Altvadhiianisch oder ein verwandter Dialekt. »Hier ist ein canitu«, sagte er, »in der Sprache der Magierlords, ein canitu subocaum - äh, ein >Gesang der Beschwörung<.« »Wen beschwören?«, wollte Leshya wissen. »Khrwbh Khrwkh«, antwortete er kopfschüttelnd. »Davon habe ich noch nie gehört. Aber nicht alle Verdammten Heiligen sind allgemein bekannt. Eigentlich hört sich das mehr nach einem Ort als nach einer Person an - es
bedeutet so etwas wie >Gebogener Hügek« »Könnte damit ein Sedos gemeint sein?«, fragte Leshya. »Ohne weiteres«, bestätigte Stephen. »Und wenn man bedenkt, was wir bisher gesehen haben, ergäbe das auch am ehesten einen Sinn. Es ist nur, dem Wort geht ein dhy voraus, was normalerweise darauf hinweist, dass der darauf folgende Name der eines Heiligen sein wird. Ziemlich rätselhaft.« »Auf jeden Fall hat es keinen Sinn, nach Eslen zurückzukehren 421 und Euren Praifec zu benachrichtigen«, stellte Leysha fest, »da es klar zu sein scheint, dass er genau weiß, was hier vorgeht.« »Also, mir ist das ganz und gar nicht klar«, sagte Aspar. »Mir auch nicht«, entgegnete Leshya, »aber wir wissen jetzt, dass die Kirche einen alten Pfad der Schreine wieder zum Leben erweckt, und es scheint genauso gewiss, dass es keine gute Idee wäre, sie ihr Werk vollenden zu lassen.« »Vielleicht haben sie es ja schon vollendet«, gab Aspar zu bedenken. »Das glaube ich nicht«, sagte Stephen. »Ich glaube, das hier sind die Anweisungen für die Weihung dieses Khrwbh Khrwkh, was immer das auch genau sein mag. Und das canitu scheint Teil eines längeren Textes zu sein - genauer gesagt, das Ende eines längeren Textes.« »Ihr meint, wir haben hier das, was sie brauchen, um den Pfad zu vollenden?« »Ja, genau das meine ich. Hört zu, ich werde versuchen, es für Euch zu übersetzen.« Er räusperte sich. Und jetzt zum Gebogenen Hügel Dem blutigen Halbmond Blut für den Gebogenen Hügel Blut der Sieben Blut der Drei Blut des Einen Lasset die Sieben in allem sterblich sein Lasset die Drei sein Schwertkämpfer, Priester und Krone Lasset den Einen sein ohne Tod Schlage sodann das Herz des Gebogenen Hügels Fließe vom Geisterhaften Auge Fließe von der Verschlingenden Mutter Fließe von Pel dem Zornbringer Fließe vom Hülsenholz Fließe von den Zwillingen, Fäulnis und Verwesung Fließe von den Nichttoten. 422 Hier beginnt es, der Weg ist vollendet. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann knurrte Aspar: »Ein Trinklied ist das nicht gerade.« »Ich bin mir nicht bei allem ganz sicher«, gab Stephen zu. »Das mit dem Schwertkämpfer, Priester und Krone zum Beispiel. Die Worte hier sind Pir Khabh, dhervhidh und Thykher. Das erste ist sehr eindeutig, ein >Mann, der mit einem Schwert kämpfte Dhervhidh heißt >jemand, der auf einem Pfad der Schreine gewandelt ist<, allerdings nicht unbedingt ein Ordensmann. Das dritte, Thykher, könnte jede beliebige Person von königlichem Blut sein, oder es könnte ausdrücklich einen König meinen. Ohne bessere Arbeitsmittel, bessere Nachschlagewerke, kann ich das nicht mit Sicherheit sagen.« »Was war das von wegen >ohne Tod«, wollte Winna wissen. »Mhwrmakhy«, antwortete Stephen. »Eigentlich heißt das >Diener des Mhyr<, ein weiterer Name des Schwarzen Narren, aber sie wurden auch >anmhyry< oder >Todlose< genannt. Wir wissen nicht viel über sie, außer dass es sie nicht mehr gibt.« »Nicht mehr gegeben hat, meint Ihr«, sagte Leshya. »Das hat für eine Menge Dinge gegolten.« »Stimmt«, pflichtete Stephen ihr ein wenig zerstreut bei. Irgendetwas an dieser Liste der »Fließe-von« machte ihm zu schaffen. Aspar bemerkte seine Unaufmerksamkeit. »Was ist denn los?« Stephen verschränkte die Arme vor der Brust. »Einen Pfad der Schreine muss man in der richtigen Reihenfolge beschreiten, und der ganze Pfad muss sozusagen wach sein, damit die Macht richtig fließen kann. Deshalb ist etwas Merkwürdiges passiert, als ich den Fuß auf einen gesetzt habe, wahrscheinlich, weil ich schon eine Verbindung zu den Sedoi habe.« »Und das heißt?«, fragte Leshya. »Nun, wenn ich diese Beschwörung richtig verstehe, ist der letzte Sedos auf dem Pfad der Schreine der Khrwbh Khrwkh«., erklärte Stephen. »Wir wissen natürlich nicht, wo das ist, aber laut diesen Versen ist der erste das Geisterhafte Auge ...« 423 »Ihr wisst, wo das ist?«, fragte Aspar.
»Moment«, erwiderte Stephen. »Ich denke das gerade noch zu Ende.« »Nein, bitte, lasst Euch ruhig Zeit«, brummte Aspar. »Der zweite, die >Verschlingende Mutter< - das ist der Schrein, den ich betreten habe, da bin ich mir sicher. Der erste, zu dem Leshya uns geführt hat. Das ist einer der Titel von Marhirheben. Aspar, damals, als Ihr der Fährte des Gryffin gefolgt seid, nachdem Ihr mich nach d'Ef weitergeschickt habt, da seid Ihr auf ein Menschenopfer an einem Sedos gestoßen, habt Ihr gesagt. Wo genau war das?« »Ungefähr fünf Meilen von hier, am Taffbach.« »Taff«, überlegte Stephen. Dann griff er in seine Satteltasche, wo seine zusammengerollten Karten steckten. Er wählte die aus, die er brauchte, ließ sich dann mit gekreuzten Beinen auf dem Boden nieder und entrollte sie. »Was ist das für eine Karte?«, wollte Leshya wissen und schaute interessiert darauf hinab. »Stephen hat die Angewohnheit, Karten mit sich herumzuschleppen, die schon seit tausend Jahren überholt sind«, sagte Aspar. »Ja«, erwiderte Stephen. »Aber vielleicht war das endlich einmal von Nutzen. Das hier ist die Kopie einer Karte, die zur Zeit der Hegemonie gezeichnet wurde. Die Ortsnamen sind geändert worden, um für vitellianische Ohren eine Bedeutung zu ergeben und in der alten Schrift verzeichnet werden zu können. Wo wäre hier der Taffbach, Aspar?« Der Waldhüter bückte sich und studierte das vergilbte Dokument. »Der Wald ist anders«, bemerkte er. »Größer. Aber die Flüsse sind fast gleich.« Er zeigte mit dem Finger auf eine kleine, gewundene Linie. »Ungefähr da.« »Seht Ihr den Namen dieses Baches?« »Tavata«, las Winna. Stephen nickte. »Ich wette, das ist eine Verballhornung des alotersianischen Wortes tadvat - das heißt >Geist<.« 424 »Das ist es also«, stellte Leshya fest. Aspar gab ein zweifelndes Geräusch von sich. Stephen schob den Finger ein wenig weiter. »Der am Taffbach ist also der Erste. Der, den ich betreten habe, ist der Zweite, in etwa hier. Der Letzte war ungefähr hier.« Er legte den Finger auf gekrümmte Linien, die Hügel darstellen sollten. Seltsamerweise war auf einem von ihnen ein toter Baum eingezeichnet. »Hat das irgendeine Bedeutung für Euch, Aspar? Wisst Ihr etwas über diesen Ort?« Aspar runzelte die Stirn. »Das war da, wo die alten Völker früher Grim Opfer dargebracht haben. Sie haben sie an diesen Baum gehängt, den Naubagm.« »Haergrim der Wüterich?« Langsam nickte Aspar; seine Miene war sorgenvoll. »Von Pel habe ich noch nie gehört«, sagte Stephen, »aber die Tatsache, dass sowohl er als auch Haergrim mit Zorn in Verbindung gebracht werden, ist interessant, nicht wahr?« »Jetzt kann ich Euch folgen«, erwiderte Leshya. »Die Mönche scheinen nach Osten gezogen zu sein, und wir haben die ersten drei Schreine gesehen. Wo ist also der vierte?« »Hülsenholz. Auf Vadhiianisch Vhydhmbh.« Stephen fuhr mit dem Finger ostwärts, bis er auf dem Fluss d'Ef zum Stehen kam. Dort befand sich ein Ort, dessen Name mit Vitraf angegeben war. »Whitraff!«, entfuhr es Winna. »Das ist ein Dorf! Es ist immer noch da!« »Oder zumindest hoffen wir das«, ergänzte Stephen grimmig. »Ja«, sagte Aspar. »Wir sollten lieber nachsehen gehen. Und sagt mir Bescheid, wenn unser Gefangener aufwacht. Vielleicht können wir ihn dazu bringen, uns mehr über all dies zu erzählen.« Doch als sie nach ihm sahen, war der Mönch tot. Sie ließen dem Mönch ein Waldhüterbegräbnis zuteil werden - was nicht mehr bedeutete, als dass sie ihn auf den Rücken legten und seine Hände über der Brust kreuzten - und machten sich auf den Weg über die Hochlande von Brogy-Stradh. Der Wald wich 425 mit Heidekraut durchsetzten Wiesen und üppigen Lichtungen voller Farne. Selbst kurz vor Einbruch des Winters schien der Königswald vor Leben nur so zu strotzen. Stephen konnte sehen, dass Aspar und Leshya Dinge bemerkten, die ihm entgingen. Sie ritten wie mürrische Zwillinge an der Spitze und führten Ehawks Pferd. Winna war eine Zeit lang neben ihnen geritten, doch jetzt ließ sie sich zurückfallen. »Wir fühlt Ihr Euch?«, erkundigte sie sich. »Gut«, antwortete Stephen. Doch das stimmte nicht ganz - irgendetwas machte ihm zu schaffen. Allerdings konnte er ihr nicht sagen, dass er, als er auf dem Hügel erwacht war und nach Ehawks Bogen gegriffen hatte, statt dem Mönch fast ihr einen Pfeil in den Leib gejagt hätte. Während jener ersten Herzschläge hatte er einen Hass empfunden, wie er ihn sich zuvor niemals hätte vorstellen können und den er sich jetzt nicht mehr wirklich in Erinnerung rufen konnte. Nicht unbedingt auf Winna, sondern auf alles Lebendige. Er war so abrupt verschwunden, dass er sich fragte, ob er ihn wirklich verspürt hatte. Er erinnerte sich auch an irgendwelche Träume beim ersten Erwachen, doch auch diese waren verflogen und hatten nur ein vages schmutziges Gefühl zurückgelassen.
»Was ist mit Euch?«, fragte er. »Ich habe Euch noch nie so bedrückt gesehen.« Sie verzog das Gesicht. »Das ist eine ganze Menge, die da über einen kommt«, sagte sie. »Ich bin die Tochter eines Gastwirts, wisst Ihr noch? Vor ein paar Monaten war meine größte Sorge, dass Banf Thelason sich betrinken und eine Schlägerei anzetteln könnte oder dass Enry Flory sich aus dem Staub machen könnte, ohne seine Zeche zu bezahlen. Selbst als ich mit Aspar zusammen war, als er der Fährte des Gryffin gefolgt ist, war alles ziemlich einfach. Jetzt weiß ich nicht, gegen wen wir eigentlich kämpfen sollen. Gegen den Dornenkönig ? Den Praifec ? Wahnsinnig gewordene Dorfbewohner? Wer bleibt da noch übrig? Und wozu bin ich nütze?« »Redet nicht so.« 426 »Warum nicht? Aspar hat das doch die ganze Zeit gesagt. Ich habe es abgestritten, habe mir Ausreden ausgedacht, aber tief im Innern weiß ich, dass er Recht hat. Ich kann nicht kämpfen oder Spuren lesen, ich verstehe von nichts besonders viel, und jedes Mal, wenn es eine Prügelei gibt, muss ich beschützt werden.« »Nicht so wie Leshya, wie?«, bemerkte Stephen. Ihre Augen wurden groß. »Seid nicht grausam«, flüsterte sie. »Aber das ist es doch, was Ihr denkt«, sagte er, überrascht, derart kühne Worte aus seinem Mund kommen zu hören. »Sie ist schön und eher in seinem Alter. Sie ist eine Sefry, und er ist von Sefry aufgezogen worden, sie kann Fährten verfolgen wie ein Wolf und kämpfen wie ein Panter, und sie scheint mehr über all das hier zu wissen als wir Übrigen zusammen. Warum sollte er Euch wollen und nicht sie?« »Ich...« Ihre Stimme versagte. »Warum redet Ihr so?« »Nun, zum einen weiß ich, wie es sich anfühlt, zu glauben, man wäre nutzlos«, erklärte er. »Und niemand kann einem so gut das Gefühl geben, vollkommen nutzlos zu sein, wie Aspar. Er tut das nicht mit Absicht - es ist nur, dass er das, was er tut, so gut kann. Er sagt, er braucht nichts und niemanden, und manchmal glaubt man ihm das tatsächlich.« »Nutzlos, Ihr?«, fragte sie. »Ihr seid von den Heiligen mit Talenten beschenkt worden. Ihr besitzt Wissen über kleine und große Dinge und über alles dazwischen, und ohne Euch hätten wir nicht die leiseste Ahnung, was wir tun sollen.« »Ich war nicht von den Heiligen gesegnet, als ich Aspar begegnet bin«, wandte er ein und erinnerte sich sehr gut an die unverhohlene Verachtung des Waldhüters, »und Aspar hat mich auf jeden Fall für eine nutzlose Last gehalten. Als wir uns getrennt haben, dachte ich, er hätte Recht. Aber ich habe mich geirrt. Ihr irrt Euch ebenfalls, und das wisst Ihr auch.« »Ich habe nicht -« »Wieso seid Ihr Aspar gefolgt, Winna? Warum habt Ihr Colbaely und Euren Vater und alles, was Ihr kanntet, zurückgelassen, um einem Waldhüter nachzulaufen?« 427 Sie verzog den Mund nach einer Seite, eine Angewohnheit, die er reizend fand. »Nun ja, ich hatte nie vor, Colbaely wirklich zu verlassen«, sagte sie. »Nicht für so lange Zeit. Ich habe gedacht, Aspar wäre in Gefahr, und bin losgegangen, um ihn zu warnen, und dann, dachte ich, würde ich wieder heimkehren.« »Aber das habt Ihr nicht getan. Warum nicht?« »Weil ich ihn liebe«, antwortete sie. Das löste ein eigentümliches Gefühl in Stephen aus, doch er fuhr unbeirrt fort. »Trotzdem, Ihr müsst schon eine ganze Weile in ihn verliebt gewesen sein. So schnell ist das doch nicht gegangen, oder?« »Ich habe ihn geliebt, seit ich ein kleines Mädchen war.« Sie seufzte. »Und warum habt Ihr plötzlich etwas deswegen unternommen?« »Ich hatte das gar nicht vor«, beteuerte sie. »Es war nur ... ich habe ihn lang ausgestreckt auf dem Boden gefunden. Ich dachte, er wäre tot, und ich dachte, er würde es nie erfahren.« »Warum habt Ihr geglaubt, es würde ihm etwas bedeuten?« Sie schüttelte den Kopf und sah elend aus. »Ich weiß es nicht.« »Darf ich Euch sagen, was ich denke?«, fragte Stephen. Winna schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. »Warum nicht?«, antwortete sie trübsinnig. »Ihr wart ja schon so direkt, wie ich es mir nur vorstellen kann.« »Ich glaube, Ihr habt in diesem Moment gesehen, dass Aspar etwas fehlt. Er ist stark, entschlossen und geschickt, und er ist auf seine Art klug. Aber er hat kein Herz, nicht ohne Euch. Ohne Euch ist er nur ein weiterer Teil des Waldes, entfernt sich weiter und weiter davon, menschlich zu sein. Ihr habt ihn zu uns zurückgebracht.« Er hielt inne, verfolgte die Worte in Gedanken zurück. »Klingt das irgendwie sinnvoll?« Winnas Stirn legte sich in Falten, doch sie sagte nichts. »Deswegen arbeiten wir drei so gut zusammen«, fuhr Stephen fort. »Er ist die Muskelkraft, das Messer und der Pfeil. Ich habe das Bücherwissen, das zu verachten er vorgibt, von dem er aber 428 weiß, dass er es braucht, und Ihr seid uns beiden überlegen, seid das, was uns alle aneinander bindet.« Sie schnaubte. »Schwertkämpfer, Priester und Krone?« Er blinzelte. Sie meinte die vadhiianische Beschwörungsformel. »Nun, das ist eine sehr alte Dreifaltigkeit«, erklärte er. »Sogar die Heiligen werden auf diese Weise in
Dreiergruppen eingeordnet - der heilige Nod, der heilige Oimo und der heilige Loy zum Beispiel.« »Ich bin keine Königin«, sagte sie. »Ich bin nur eine junge Frau aus Colbaely, die sich in etwas verrannt hat, wo sie nicht hingehört.« »Das ist nicht wahr«, erwiderte Stephen. »Nun, wie passt sie dann hier hinein?«, fragte sie und deutete mit dem Kinn in Leshyas Richtung. »Gar nicht«, antwortete Stephen. »Sie ist ein zweiter Aspar, genau das ist sie, und er wird kein Herz von ihr bekommen, genauso wenig wie sie von ihm.« »Aspar war noch nie besonders erpicht auf ein Herz«, meinte Winna. »Vielleicht braucht er ja gerade eine Frau, die ein bisschen mehr so ist wie er.« »Es spielt keine Rolle, was er will«, sagte Stephen. »Liebe schert sich nicht darum, was richtig ist oder was irgendjemand will.« »Das weiß ich nur zu gut.« »Fühlt Ihr Euch ein wenig besser?« »Vielleicht«, sagte sie. »Wenn nicht, liegt das gewiss nicht an Euch. Danke, Stephen.« Danach ritten sie schweigend weiter, und Stephen war froh darüber, denn er war sich nicht sicher, ob er Aspar noch lange würde verteidigen können, ohne treulos zu werden. Er hatte nicht gelogen - alles, was er gesagt hatte, war die Wahrheit gewesen. Unglücklicherweise auch das, was er über Liebe gesagt hatte, die sich nicht darum schert, was richtig ist oder was irgendjemand will. Whitraff war noch da, doch selbst aus der Ferne sah es tot aus. Die Luft war kalt, aber nicht ein einziger Rauchfaden zog sich über 429 den Himmel. Niemand war auf den Straßen, und es war kein Laut zu hören, der von Mann oder Frau hätte stammen können. Die meisten Dörfer und Städtchen um den Königswald waren noch gar nicht so alt - die meisten waren, wie Colbaely, im Laufe der letzten hundert Jahre aus dem Boden gesprossen. Die Häuser waren meistens aus Holz und die Straßen aus Erde. Aspar hatte Whitraff als alten Ort in Erinnerung - seine schmalen Straßen bestanden aus Kopfsteinpflaster, das von Generationen von Stiefeln und Schuhen abgewetzt und blank war. Der Stadtkern war nicht groß - ungefähr dreißig Häuser drängten sich um einen Platz mit einem Glockenturm -, doch einst hatte es Gehöfte östlich der Stadt und auf Pfählen errichtete Häuser entlang des Flusses gegeben, die sich noch ein Stück weit hingezogen hatten. Es war stets eine recht lebhafte Stadt gewesen, trotz ihrer geringen Größe, denn es war der einzige Flusshafen südlich von Ever, das gute zwanzig gewundene Meilen flussabwärts lag. Jetzt waren die Gehöfte Asche, doch die Stadt stand noch. Als er von dem Hügel hinabblickte, bemerkte Aspar, dass der Glockenturm verschwunden war. Er war einfach nicht mehr da. An seiner Stelle - auf dem Hügel, auf dem der Turm einst gestanden hatte -bot sich ein nur allzu vertrauter Anblick. Ein Ring des Todes. »Sceat«, murmelte er. »Wir sind zu spät gekommen«, sagte Winna. »Viel zu spät«, fügte Leshya hinzu. »Das hier wurde vor Monaten getan, nach den verbrannten Höfen zu urteilen.« Aspar nickte. Von den um den Sedos verstreuten Toten schienen größtenteils nur noch die Gebeine vorhanden zu sein. »Ganz schönes Pech«, meinte er, »seine Stadt ausgerechnet auf dem Fußabdruck eines Verdammten Heiligen zu errichten.« »Ich verstehe nicht, wie du Witze darüber machen kannst«, sagte Winna. »All diese Menschen ... ich verstehe nicht, wie du darüber scherzen kannst.« Aspar warf ihr einen Blick zu. »Ich habe keine Witze gemacht«, erwiderte er leise. In letzter Zeit schien es unmöglich zu sein, das Richtige zu sagen, wenn Winna in der Nähe war. »Jedenfalls, viel430 leicht ist es ja nicht so schlimm, wie es aussieht. Vielleicht konnten die restlichen Bewohner der Stadt ja fliehen.« Er wandte sich an die Sefry-Frau. »Dies ist ein guter Platz. Ihr und Ehawk haltet hier oben Wache, während wir hinunterreiten und uns umsehen.« »Soll mir recht sein«, antwortete Leshya. Sie nahmen die Straße, die in die Stadt führte. Niemand kam heraus, um sie zu begrüßen. Die Stadt war ebenso stumm wie ihre Zwillingsschwester, Whitraff-des-Schattens, das gleich stromaufwärts lag. Von den Bewohnern war nichts zu sehen. Vor dem Bunten Hahn, einst die beliebteste Schenke der Stadt, saß Aspar ab. »Ihr beide deckt mir den Rücken«, wies er Stephen und Winna an. »Ich sehe mich mal drinnen um.« Es war niemand in dem Wirtshaus, und es waren auch keine Leichen zu finden, was nicht gerade eine große Überraschung war. Doch er entdeckte, dass ein am Spieß steckender Braten zu Kohle hatte verbrennen können und dass einer der Zapfhähne offen gelassen worden war, sodass das ganze Bier ausgelaufen war und als noch immer klebrige Schicht den Fußboden bedeckte. Er ging wieder hinaus auf den Platz.
»Sie sind in aller Eile aufgebrochen«, berichtete er. »Kein Blut, keine Anzeichen eines Kampfes.« »Vielleicht haben die Mönche die Leichen in den Fluss geworfen«, sagte Winna. »Vielleicht, oder vielleicht konnten sie auch fliehen. Aber eines frage ich mich- dieser Fluss ist nicht der belebteste der ganzen Gegend, aber irgendjemandem hätte das hier doch auffallen müssen, und wie Leshya gesagt hat, das muss schon vor ein paar Monaten passiert sein, vielleicht sogar schon, bevor wir gegen Desmond Spendlove und seine Bande gekämpft haben. Wieso hat niemand die Leichen weggeräumt? Wieso ist niemand in die Stadt gezogen oder hat wenigstens eine Nachricht den Fluss hinuntergeschickt?« »Vielleicht haben sie das ja getan«, wandte Stephen ein. »Und der Praifec hat es für sich behalten.« 43i »Ja, aber die Flussschiffer, die das hier gesehen haben, hätten flussauf- und flussabwärts davon geredet. Irgendjemand wäre doch gekommen, um nachzusehen.« »Ihr glaubt, die Kirche hat eine Garnison hier zurückgelassen?«, fragte Stephen. »Davon ist nichts zu sehen. Jede Menge Bier und Vorräte in der Schenke - man sollte doch meinen, eine Garnison hätte sich daran gütlich getan. Außerdem habe ich keinen Rauch gesehen, als wir hergeritten sind, und ich rieche auch jetzt keinen. Aber wenn hier keine Garnison liegt, wieso hat dann nicht irgendein Schiffer, der zufällig vorbeikam, die Schenke geplündert?« »Weil niemand, der hierher gekommen ist, die Stadt wieder verlassen hat«, sagte Winna. »Werlic«, stimmte Aspar zu und ließ den Blick über die Häuser schweifen. »Vielleicht ist hier ein Gryffin«, überlegte Stephen. »Könnte sein«, gab Aspar dem Jüngeren Recht. »Die Mönche bei Grims Galgen hatten auch einen bei sich.« Er sagte nicht, dass das Ungeheuer ihn gemieden hatte. »Ich gehe zum Wasser hinunter«, entschied er. »Ihr beide folgt mir und behaltet mich im Auge, aber haltet euch nicht zu dicht hinter mir. Wenn ein Gryffin Flussschiffer getötet hat, müssten wir ihre Boote und ihre Leichen finden.« Seine Stiefel dröhnten hohl, als er die kleine Straße hinunterging, die zum Fluss hin abfiel. Bald konnte er die hölzernen Anlegestege erkennen. Sie waren noch da. Boote sah er allerdings keine. In den Schatten des letzten Hauses geduckt, spähte er angestrengt zum gegenüberliegenden Flussufer. Die Bäume standen bis dicht ans Wasser, und ihm fiel nichts Besorgniserregendes auf. Er blickte zurück und sah, dass Stephen und Winna ihn nervös beobachteten. Er bedeutete ihnen, dass er näher herangehen würde. Eine zerfetzte gelbe Windfahne flatterte in der Brise und machte fast das einzige Geräusch, als er auf die Stegplanken zuging. Die wenigen Vögel, die er hörte, waren ziemlich weit weg. 432 Was eigenartig war. Selbst in einer leeren Stadt sollten Tauben und Krähen hausen. Am Fluss sollte es Eisvögel, Schwirrtaucher und Reiher geben, selbst um diese Jahreszeit. Stattdessen - nichts. Etwas zog seinen Blick auf sich, und er duckte sich erneut, den Bogen schussbereit, doch er konnte nicht benennen, was er gesehen hatte. Etwas Unauffälliges, ein seltsames Spiel des Lichts. Und der Geruch von Herbst in seiner Nase, der stets bedeutete, dass der Tod nahe war. Langsam begann er zurückzuweichen, denn er konnte etwas spüren, etwas, das sich dicht unter der Haut der Welt verbarg. Wieder sah er es - und verstand. Nicht der Welt, sondern des Wassers. Etwas Riesiges bewegte sich dicht unter der Oberfläche. Er ging immer weiter rückwärts, doch dann fiel ihm ein, dass es den Menschen aus Whitraff nicht geholfen hatte, weit vom Fluss entfernt zu sein. Das Wasser wölbte sich jäh empor, und etwas erhob sich daraus, mit der Behäbigkeit eines Ungeheuers in einem Traum, das genau weiß, dass sein Opfer ihm nicht entfliehen kann. Zuerst hatte er nur eine Ahnung von diesem Etwas, den Eindruck einer sehnigen Gestalt und eines glatten Fells - oder vielleicht auch Schuppen -und gewaltiger Größe. Und dann rief es mit einer Stimme, die so wunderschön war, dass ihm klar wurde, er hatte sich geirrt, dieses Geschöpf war kein Lebensvernichter, sondern die reine Essenz des Lebens. Er war an den Ort gekommen, wo Leben und Tod sich wandelten, wo Jäger und Gejagter eins waren und alles Frieden war. Sprachlos vor Erleichterung legte Aspar seinen Bogen weg, richtete sich auf und ging ihm entgegen. 433 34. Kapitel Grenzland Jemand begann zu brüllen, gerade als Anne und Austra wieder die verfallene Stadt der Toten betraten. Anne riss den Kopf herum und sah zwei Reiter in voller Rüstung den Hügel herunterpreschen. »Sie haben uns gesehen!«, schrie sie unnötigerweise. Sie duckte sich hinter das erste Gebäude und zerrte Austra förmlich mit sich, schaute sich verzweifelt nach einem Versteck um. In jeder Richtung lagen Tod oder Gefangenschaft - die ordentlichen Rebstöcke auf beiden Seiten des Tals boten
keinen wirklichen Schutz; vielleicht könnten sie ihren Verfolgern noch eine Weile entrinnen, am Ende jedoch würden sie sie einholen. Sich zu verstecken stellte sie natürlich vor das gleiche Problem, und es gab eigentlich auch gar keine Verstecke. Außer dem Horz. Wenn der so dicht war, wie er aussah, dann könnten sie sich vielleicht in Nischen zwängen, in die größere, gepanzerte Männer ihnen nicht folgen konnten. »Hier entlang«, wies sie Austra an. »Schnell, bevor sie uns sehen können.« Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie den ummauerten Garten erreicht hatten, doch als sie durch den geborstenen Torbogen stürzten, waren die Ritter noch immer nicht in Sicht. Anne ließ sich auf Hände und Knie fallen und begann, sich durch den verschlungenen Wildwuchs zu drängen, der sogar noch dichter zu wuchern schien als in dem Horz, in dem Austra und sie in Eslen-des-Schattens immer ihr Unwesen getrieben hatten. Die Erde roch satt und ein wenig verfault. »Sie werden uns finden«, stieß Austra hervor. »Sie werden uns einfach nachkommen, und dann sitzen wir in der Falle.« 434 Anne wand sich zwischen den eng nebeneinander verlaufenden Wurzeln eines uralten Olivenbaums hindurch. »Sie können sich den Weg nicht freihacken«, widersprach sie. »Der heilige Sefan wird sie verfluchen.« »Sie haben die Schwestern eines heiligen Ordens ermordet«, wandte Austra ein. »Sie scheren sich nicht um Flüche.« »Trotzdem, uns bleibt nichts anderes übrig.« »Kannst du nicht... kannst du nicht irgendwas tun, wie damals am Fluss?« »Ich weiß nicht«, antwortete Anne. »So geht das eigentlich nicht. Es passiert einfach.« Doch das stimmte nicht ganz. Es war eher so, dass sie, als sie den Ritter vor dem Konvent geblendet und Erieso in z'Espina Qualen gesandt hatte, das nicht geplant, sondern es einfach getan hatte. »Ich habe Angst davor«, gestand sie. »Ich begreife es nicht.« »Ja, Anne, aber wir werden sterben, verstehst du?« »Da hast du Recht«, gab Anne zu. Sie hatten sich so weit in den Horz gedrängt, wie sie konnten. Schon jetzt lagen sie bäuchlings auf der Erde, und von hier an war das Unterholz zu dicht verflochten. »Lieg einfach ganz still«, sagte sie. »Keinen Mucks. Weißt du noch, wie wir immer so getan haben, als wäre der Scaos hinter uns her? Genau so müssen wir es machen.« »Ich will nicht sterben«, sagte Austra leise. Anne ergriff Austras Hand und zog sie dicht an sich, bis sie den Herzschlag der anderen spüren konnte. Irgendwo ganz in der Nähe konnte sie die Männer reden hören. »Wlait in thihai hourshai«, sagte einer der beiden in befehlendem Tonfall. „ »Raish«, antwortete der andere. Anne hörte das Knarren von Sattelleder und dann das Geräusch auf dem Boden aufkommender Stiefel. Völlig abwegig fragte sie sich, ob wohl ihrer Stute Windschnell etwas zugestoßen war, und sie sah für einen Augenblick mit schmerzhafter Deutlichkeit vor sich, wie sie auf ihr im Sonnenschein über die Schleppe ritt, wäh435 rend die Düfte des Frühlings in der Luft lagen. Das schien Jahrhunderte her zu sein. Austras Herz schlug heftiger neben dem ihren, als die Stiefelgeräusche näher kamen und die Pflanzen zu rascheln begannen. Anne schloss die Augen und versuchte, an ihrer Furcht vorbei zu jenem dunklen Ort in ihrem Innern vorzudringen. Stattdessen stieß sie auf Krankheit. Ohne Vorwarnung durchfuhr es sie wie eine Woge, eine Art Fieber, das sich anfühlte, als hätte sich ihr Blut in heiße Jauche verwandelt, und ihre Knochen in faulendes Fleisch. Sie wollte würgen, konnte jedoch irgendwie ihre Kehle nicht finden, und ihr Körper fühlte sich an, als sei er zerronnen. »Ik ni shaiwha iyo athan sa snori wanzyis thiku«, sagte jemand ganz in ihrer Nähe. »Ita mait, thannuh«, knurrte der andere, etwas weiter entfernt. »Maitaf«, fragte der nähere Mann. Es klang zögernd. » Yah.« Eine kurze Stille, und dann schlug etwas auf die Pflanzen ein. Anne keuchte, als das Gefühl der Übelkeit stärker wurde. Austra hatte Recht gehabt. Diese Männer zeigten keinerlei Furcht vor dem Heiligen. Sie presste sich fester gegen den Boden, und ihr Kopf fing an, sich zu drehen. Die Erde schien nachzugeben, und sie begann hinabzusinken, durch die Wurzeln, fühlte, wie die zarten Fasern daran ihr Gesicht kitzelten. Gleichzeitig schien etwas unter ih nach oben zu steigen, wie Blut an die Oberfläche einer Wunde Wut pulsierte in ihr wie eine bebende Lautensaite, und einen Moment lang wollte sie sich davon erfassen und verschlingen lassen. Doch dann verging auch das, genau wie die Übelkeit und das Gefühl, immer tiefer zu sinken. Ihre Wange fühlte sich warm an. Sie öffnete die Augen. Sie lag auf einer sanft abfallenden, frühlingsgrünen Wiese, die von Eichen, Buchen, Pappeln, Fließharz- und
Evericstämmen sowie von anderen Baumarten umgeben war, die sie nicht kannte. Hinter ihrer linken Schulter plätscherte ein kleiner Bach in einen 436 See, der von Seerosen bedeckt und von Schilf gesäumt war; ein einsamer Kranich stelzte dort vorsichtig dahin und hielt nach Fischen Ausschau. Zu ihrer Rechten wichen die weißen Blumen und die winzigen blauen Blüten, die ihr Bett bildeten, Farnwedeln und Fiedelkopf gras. Austra lag neben ihr. Sie setzte sich hastig auf, die Augen von Panik erfüllt. Anne hielt immer noch ihre Hand. Sie packte sie fester. »Es ist gut«, sagte sie. »Ich glaube, fürs Erste sind wir in Sicherheit.« »Das ... verstehe ich nicht«, stammelte Austra. »Was ist passiert? Wo sind wir? Sind wir tot?« »Nein«, antwortete Anne. »Wir sind nicht tot.« »Und wo sind wir dann?« »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Anne. »Wie kannst du dann sicher sein ... ?« Jähes Verstehen blitzte in Austras Augen auf. »Du bist schon einmal hier gewesen.« »Ja«, gestand Anne. Austra stand auf und sah sich um. Gleich darauf fuhr sie zusammen. »Wir haben keine Schatten«, stieß sie hervor. »Ich weiß«, sagte Anne. »Das hier ist der Ort, wo man hinkommt, wenn man verkehrt herum geht.« »Du meinst, wie in den Phay-Märchen?« »Ja. Das erste Mal war ich während Elsenys Geburtstagsfest hier. Weißt du noch?« »Du bist ohnmächtig geworden. Als du wieder zu dir gekommen bist, hast du nach irgendeiner Frau mit einer Maske gefragt. Dann hast du beschlossen, dass du geträumt hättest, und wolltest nicht mehr darüber reden.« »Ich hatte nicht geträumt - jedenfalls nicht richtig. Seitdem war ich noch zweimal hier. Einmal, als ich im Schoß der Mefitis war, das andere Mal, als ich an Deck des Schiffes geschlafen habe.« Sie blickte sich auf der Lichtung um. »Es ist jedes Mal anders«, fuhr sie fort, »aber irgendwie weiß ich, dass es immer derselbe Ort ist.« »Wie meinst du das?« »Beim ersten Mal war es ein Heckenlabyrinth. Beim zweiten 437 Mal eine Lichtung mitten im Wald, und auf dem Schiff war ich in einem Wald, und es war dunkel.« »Aber wie? Wie sind wir hierher gekommen, meine ich?« »Das erste Mal bin ich von jemandem hergebracht worden«, erklärte Anne. »Von einer Frau mit einer Maske. Die anderen Male bin ich selbst gekommen.« Austra ließ sich mit gefurchter Stirn im Schneidersitz auf dem Boden nieder. »Aber ... Anne«, wandte sie ein, »du bist nirgends hingegangen, diese anderen Male. Im Schoß der Mefitis war ich ja nicht dabei, aber damals auf Tom Woth warst du immer noch da. Und auf dem Schiff auch.« »Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Anne. »Vielleicht bin ich verschwunden und zurückgekommen.« »Damals auf Tom Woth, da kann ich es nicht genau sagen«, gab Austra zu. »Aber auf dem Schiff schon. Ich habe dich nicht aus den Augen gelassen. Das heißt, wo immer wir zu sein glauben - oder wohin auch immer unsere Schatten verschwunden sind -, unsere Leiber sind noch dort, und die Ritter können damit machen, was sie wollen.« Hilflos hob Anne die Hände. »Das kann sein, aber ich weiß nicht, wie man zurückkommt. Das passiert immer von selbst.« »Nun, hast du es denn jemals versucht? Schließlich hast du uns hierher gebracht.« »Das ist wahr«, pflichtete Anne ihr bei. »Na, dann versuch es.« Anne schloss die Augen und bemühte sich, jenen Ort wieder zu finden. Er war da, doch er war still und schien nicht geneigt, sich zu rühren. Austra schnappte nach Luft. Anne öffnete die Augen, sah jedoch zunächst nichts. »Was ist denn?« »Irgendetwas ist hier«, sagte Austra. »Ich kann es nicht sehen, aber es ist da.« Anne schauderte; der Schattenmann fiel ihr wieder ein. Doch jetzt gab es hier keine Schatten. Ein warmer Wind kam auf, bei438 nahe sommerlich, bog die Baumkronen und fuhr raschelnd durch das Gras. Er trug einen Geruch nach gärenden Pflanzen heran, der nicht völlig unangenehm war. Und er blies aus allen Richtungen auf sie ein, zwang die Bäume, die Farnwedel und Grashalme, sich zu verneigen, als wären sie und Austra Herrscher von Elphin. Und ganz am Rande ihres Hörvermögens vernahm Anne die wilde Musik vieler Vögel. »Was geht hier vor?«, sagte sie leise. Plötzlich kamen sie über die Baumwipfel - Schwäne und Gänse, Schwalben und Mauersegler, Regenpfeifer und Rotschwänzchen, Tausende von ihnen; sie alle schwirrten auf die Lichtung hinab, hielten zwitschernd, krächzend
und kreischend auf Anne und Austra zu. Anne riss die Hände hoch, um ihr Gesicht zu bedecken, doch die Vögel umkreisten sie eine Elle entfernt, ein Zyklon aus Federn, der emporwirbelte, um den Himmel zu bedecken. Nach einem Moment verging die Angst, und Anne begann zu lachen. Austra sah sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Was ist los?«, fragte sie. »Weißt du, was hier geschieht?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Anne. »Aber es ist so ein Wunder ...« Sie brauchte ein Wort, das sie nicht kannte, also hörte sie auf, danach zu suchen. Es schien sehr lange zu dauern, doch die Winde legten sich schließlich und zogen sich in ihre Quartiere zurück, wobei sie die Vögel mitnahmen und nur den Kranich zurückließen, der immer noch nach Beute suchte. Endlich verklang der Lärm der Vögel. »Anne, ich bin müde«, seufzte Austra. Ihre Panik schien sich gelegt zu haben. Anne stellte plötzlich fest, dass auch ihre eigenen Lider schwer waren. Die Sonne schien jetzt wärmer, und nach den sich überstürzenden Ereignissen, natürlicher und anderer Art, hatte sie das Gefühl, seit Tagen auf den Beinen zu sein. »Glaubende, seid Ihr hier?«, fragte sie. Es kam keine Antwort, doch der Kranich blickte auf und betrachtete sie, ehe er wieder seiner Jagd nachging. 439 »Danke«, sagte Anne. Sie war sich nicht sicher, mit wem sie sprach oder wofür sie sich bedankte. Sie erwachte in dem Horz; Austra lag neben ihr und umklammerte noch immer ihre Hand. Sie waren beide von abgehauenen Ästen und Blättern bedeckt. Die Ritter hatten das getan - sie hatten den heiligen Garten entweiht. Sie und Austra lagen am Ende ihres zerstörerischen, ketzerischen Weges. Nun, dachte sie, wir sind nicht tot. Das ist schon mal ein Anfang. Doch wenn Austra Recht hatte und das Land der Glaubenden nur eine Art Traum war, wie hatten ihre Angreifer sie dann übersehen können? Lange lauschte sie still, hörte jedoch nichts außer dem gelegentlichen Brummen eines Insekts. Nach einer Weile weckte sie Austra. Diese setzte sich auf und begriff, dass sie zurückgekehrt waren, dann murmelte sie ein schwaches Gebet an den heiligen Sefan und die heilige Rieyene. »Sie haben uns nicht gesehen«, bemerkte sie. »Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wieso.« »Vielleicht hast du dich ja geirrt«, sagte Anne. »Vielleicht haben wir unsere Körper ja doch nicht zurückgelassen.« »Vielleicht«, erwiderte Austra zweifelnd. »Du bleibst hier«, wies Anne sie an. »Ich gehe mich mal umsehen.« »Nein, lass mich gehen.« »Wenn sie dich erwischen, kommen sie trotzdem und suchen mich«, sagte Anne. »Wenn sie mich kriegen, haben sie keinen Grund, nach dir zu suchen.« Widerstrebend beugte Austra sich dieser Logik, und Anne verließ den Horz. Diesmal ging sie aufrecht durch das zerfetzte, zertrampelte Buschwerk. In der Nähe des Eingangs fand sie eine Pfütze dunkler, klebriger Flüssigkeit, die sie als Blut erkannte. Draußen war noch mehr, eine Blutspur, die jäh endete. Sie durchsuchte ein paar der Ruinen, doch die Reiter schienen 440 tatsächlich fort zu sein. Sie waren auch nicht auf der Straße, als sie den Hügel erklomm und hinabspähte. Cazio, z'Acatto und die Reiter waren verschwunden. »Wir müssen sie finden«, beharrte Austra verzweifelt. Tränen strömten über ihre Wangen, und Anne konnte ihr keinen Vorwurf machen. Sie hatte selbst geweint, ehe sie zum Horz zurückgegangen war, um ihre Freundin zu holen. »Das werden wir auch«, erwiderte sie und versuchte zuversichtlich zu klingen. »Aber wie?« »Weit können sie nicht sein«, sagte Anne. »Nein, nein«, widersprach Austra. »Wir könnten ein Jahr da drin gewesen sein. Oder zehn Jahre, oder hundert. Wir waren doch gerade in Elphin, oder nicht? Solche Sachen passieren.« »Das sind Ammenmärchen«, entgegnete Anne. »Und überhaupt wissen wir gar nicht, ob wir in Elphin waren. Ich war nie länger fort als einen Glockenschlag. Also sollten wir in der Lage sein, ihnen zu folgen.« »Vielleicht haben sie Cazio und z'Acatto schon umgebracht.« »Ich sehe nirgends ihre Leichen, du etwa?« »Vielleicht haben sie sie begraben.« »Ich glaube nicht, dass diese Männer zu denen gehören, die so etwas tun würden. Wenn sie keine Angst davor haben, was passiert, wenn sie einen ganzen Konvent niedermetzeln oder einen Horz kurz und klein hacken, dann würde es ihnen auch nicht viel ausmachen, zwei Leichen am Straßenrand liegen zu lassen. Außerdem haben die Ritter sie doch gefesselt, erinnerst du dich? Wahrscheinlich schaffen sie sie zurück zu ihrem Schiff.« »Oder Cazio hat ihnen irgendeine schlaue Lügengeschichte aufgetischt, wo wir beide hin sind«, meinte Austra. »Und sie wollen erst sehen, ob er die Wahrheit gesagt hat, ehe sie ihn foltern.«
»Das ist möglich«, erwiderte Anne und versuchte, nicht an Cazio auf der Folterbank zu denken. »In welche Richtung gehen wir also?«, fragte Austra. 441 »Ihr Schiff ist nach Norden an Duvre vorbeigesegelt«, überlegte Anne. »Also ist es wohl wahrscheinlich, dass sie aus der anderen Richtung die Straße heruntergekommen sind, von dort, wo wir hinwollten.« »Aber Cazio hätte sie doch nach Süden geschickt, damit wir in Sicherheit sind.« »Stimmt«, pflichtete Anne ihr bei und starrte hilflos die Straße an. Sie wünschte sich, dass sie auch nur ein winziges bisschen darüber wüsste, wie man einer Fährte folgt. Doch selbst so viele Reiter hatten auf einer Straße, auf der zahlreiche Reisende unterwegs waren, kaum eine Spur zurückgelassen, oder zumindest keine, die ihr ungeübtes Auge erkennen konnte. Doch dann sah sie es, einen kleinen Blutstropfen. Sie ging ein paar Schritte in nördlicher Richtung und fand einen weiteren und dann noch einen. »Nach Norden«, sagte sie. »Einer von ihnen hat beim Horz geblutet, und ich nehme an, er blutet noch immer. Wie dem auch sei, das ist die einzige Spur, die wir haben.« In irgendeinem lang zurückliegenden Zeitalter hatte der Teremene eine Schlucht in das bleiche Gebein des Landes gegraben, jetzt jedoch sah er ganz und gar nicht aus wie ein Strom, der so etwas zuwege brachte. Er wirkte alt und schwerfällig unter dem winterlichen Himmel und brachte die Kähne, Barken und Segelboote auf seinem Rücken kaum ins Schwanken. Ebenso wenig schien er etwas gegen die beeindruckende Steinbrücke zu haben, die ihn an einer Flussenge überspannte, oder gegen die mächtigen Granitpfeiler, die in seine Fluten hinabstießen, um die Brücke zu tragen. Anne heftete den Blick auf das Dorf, das jenseits der steinernen Wölbung lag. Vage erinnerte sie sich daran, dass es ebenfalls Teremene hieß und dass sie dort auf ihrer letzten Reise auf der Vitellianischen Hochstraße nicht Halt gemacht hatten. »Austra«, sagte sie, »als wir nach Vitellio hineingefahren sind, waren da doch Wachposten an der Grenze. Erinnerst du dich?« 442 »Ja. Ich weiß noch, dass du mit einem von ihnen herumkokettiert hast.« »Habe ich nicht, du gemeines Stück«, protestierte Anne. »Ich habe ihm gesagt, dass er vorsichtiger in meinen Sachen herumstöbern soll! Und das ist jetzt auch ganz egal. Waren hier Grenzwachen? Das ist die Grenze zwischen Tero Galle und Hornladh. Sollten da nicht Wachen postiert sein?« »Wir wurden nicht angehalten«, erklärte Austra nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Aber wir sind auch nicht angehalten worden, als wir von Crothenien aus nach Hornladh hineingefahren sind.« »Richtig, aber Hornladh gehört zu Vaters -« Jäh verstummte sie, als die Trauer zustach. Sie vergaß es immer wieder. »Hornladh gehört zum Reich. Tero Galle nicht. Auf jeden Fall sieht es so aus, als gäbe es hier jetzt Wachen.« Austra nickte. »Ich habe gesehen, wie sie den Planwagen durchsucht haben.« »Warum also diese plötzliche Wachsamkeit?« »Der Wagen ist nach Hornladh gefahren, und wir haben das Land verlassen. Vielleicht kümmert es das Reich, wer sein Gebiet betritt, und Tero Galle kümmert es nicht?« »Vielleicht.« Anne seufzte. »Ich sollte so etwas wissen, nicht wahr? Warum habe ich meinen Lehrern bloß nicht besser zugehört?« »Du fürchtest, es könnten die Reiter sein?« »Ja - oder vielleicht haben sie eine Belohnung auf uns ausgesetzt, wie in z'Espino.« »Dann ist es egal, ob das rechtmäßige Wachen sind oder nicht«, sagte Austra. »Wir können es nicht riskieren.« »Aber wir müssen über die Brücke«, wandte Anne ein. »Und ich hatte gehofft, dass wir vielleicht Hilfe finden, wenn wir erst wieder im Königreich sind. Oder zumindest fragen können, ob irgendjemand Cazio und z'Acatto gesehen hat.« »Und uns etwas zu essen besorgen können«, ergänzte Austra. »Der Fisch war ja langweilig, aber er war besser als gar nichts.« 443 Auch Annes Magen knurrte. Im Augenblick war es lediglich unangenehm, in ein, zwei Tagen jedoch würde es ein ernstes Problem werden. Sie hatten nicht einmal mehr eine Kupfermünze, und ihr Haar hatte sie bereits verkauft. Jetzt war nur noch wenig Verkäufliches übrig, und über nichts davon wollte sie näher nachdenken. »Vielleicht wenn es dunkel wird«, schlug Austra zweifelnd vor. Hinter ihnen rührte sich etwas. Ein Steinchen rollte den Abhang herunter und hüpfte an ihrem Versteck vorbei. Mit einem leisen Aufkeuchen fuhr Anne herum und entdeckte zwei junge Männer mit dunklem Haar und olivfarbener Haut, die auf sie herabstarrten. Sie trugen Lederwämser und dicke Hosen, die in hohen Stiefeln steckten. Beide hatten kurze Schwerter, und einer hatte außerdem einen Bogen. »Ishatite! Ishatite, ne ech te nekeme!«, schrie der mit dem Bogen. »Ich verstehe Euch nicht«, fauchte Anne hilflos zurück. Der Rufer legte den Kopf schief. »Sprache von König, ja?«, sagte er, während er den Hang herunterkam und mit seinem Pfeil direkt auf sie zielte. »Dann ihr seid wirklich, die sie suchen, ich mache Wette.«
»Jetzt ist auch noch einer hinter uns«, flüsterte Austra. Anne sank der Mut, doch als die beiden näher kamen, verwandelte sich ihre Angst in Zorn. »Wer seid Ihr?«, fragte sie. »Was wollt Ihr?« »Wollen dich«, antwortete der Mann. »Fremde kommen gestern vorbei, sagen: >Findet zwei Mädchen, eine mit rot Haar, eine mit golden. Bringt her oder macht tot, ist gleich, aber bringen und bekommen viel Geld.< Hier sehe ich Mädchen mit Goldhaar. Ich mache Wette, unter Lumpen da Haar ist rot.« Er vollführte eine Geste mit seiner Waffe. »Nimm ab.« Anne hob die Hand und zog das Kopftuch herunter. Das Grinsen des Mannes wurde breiter. »Wolltest verstecken, wie? Hast nicht so gut gemacht.« »Ihr seid ein Narr«, sagte Anne. »Sie werden Euch nicht bezahlen. Sie werden Euch töten.« 444 »Du sagen«, erwiderte der Mann. »Ich denke, ich dir lieber nicht traue.« Er trat vor. »Rührt mich nicht an«, fauchte Anne. »Eshrije«, sagte der andere Mann. »Ja, richtig«, pflichtete der mit dem Bogen ihm bei. »Sie sagen, Rothaar ist Hexe. Besser einfach totmachen.« Als er die Sehne zurückzog, hob Anne trotzig das Kinn und griff nach ihrer Macht, war bereit, herauszufinden, was sie tatsächlich ausrichten konnte. »Dafür werdet Ihr sterben«, verkündete sie. Ein kurzes Zucken der Furcht schien über die Züge des Mannes zu huschen, und er zauderte. Dann keuchte er vor Schmerz auf und taumelte, und sie sah einen Pfeil aus seiner Schulter ragen. Mit einem lauten Stöhnen ließ er seinen Bogen fallen, und der andere Mann brüllte los. »Zurück mit dir, Comarre, und ihr anderen auch«, befahl eine neue Stimme. Anne sah ihren Besitzer ein Stück weiter oben am Hang stehen - ein Mann in mittleren Jahren, mit einem von Falten durchzogenen, sonnengebräunten Gesicht und schwarzem Haar, das zur Hälfte silbern geworden war. »Diese Ladys scheinen nichts für euch übrig zu haben.« »Verdammt sollst sein, Artore«, knirschte der mit dem Pfeil in der Schulter. »Das nicht deine Sache.« »Meine Jungs und ich machen es zu unserer Sache«, erwiderte der ältere Mann. Die Angreifer wichen langsam zurück. »Ja, gut«, knurrte Comarre. »Aber ein anderes Mal, Artore.« Darauf traf ihn ein Pfeil in die Kehle, und er stürzte zu Boden wie ein Sack voll Korn. Die anderen hatten gerade noch Zeit aufzuschreien, und dann starrte Anne auf drei Leichen. »Kein anderes Mal, Comarre«, bemerkte Artore kopfschüttelnd. Anne blickte zu ihm empor. »Es tut mir Leid, dass Ihr das mit ansehen musstet, Ladys«, sagte er. »Seid Ihr wohlauf?« Er kam näher. 445 Anne packte Austra und hielt sie eng umschlungen. »Was wollt Ihr?«, stieß sie hervor. »Warum habt Ihr sie getötet?« »Das haben die schon lange verdient«, erwiderte der Mann. »Aber gerade jetzt habe ich mir gedacht, wenn ich sie laufen lasse, erzählen sie dieser Bande hansischer Ritter alles, und die suchen dann nach mir, brennen mein Haus nieder - nicht gut.« »Ihr meint, Ihr werdet uns nicht zu ihnen bringen?« »Ich? Ich hasse Ritter, und ich hasse Hanser. Warum sollte ich denen einen Gefallen tun? Kommt, es wird bald dunkel, und Ihr habt bestimmt Hunger, oder?« Wie betäubt folgte Anne dem Mann namens Artore eine von Wacholder- und Wachsholzbüschen gesäumte Straße entlang in das hügelige Land, das sich weit hinzog, bis man den Fluss nicht mehr sehen konnte. Rasch schlössen sich ihnen vier junge Burschen an, die alle mit Bögen bewaffnet waren. Die sinkende Sonne war hinter ihnen, und ihre Schatten eilten ihnen voraus in die Dämmerung. Schwalben durchschnitten mit gebogenen Schwingen die Luft, und Anne fragte sich wieder einmal, was genau wohl in dem Horz geschehen war, warum die Ritter sie nicht gesehen hatten. Sie kamen an leeren Feldern und strohgedeckten Häusern vorbei, und die Jungen schwatzten und tauschten Grußworte mit ihren Nachbarn aus, als sei nichts Ungewöhnliches passiert. »Das hier ist Tarne«, erklärte Artore ihr und klopfte einem dürren jungen Mann auf die Schulter. »Er ist der Älteste, fünfundzwanzig. Dann kommt Cotomar, der mit dem dichten wirren Haar. Dann Lochete, das ist der mit den großen Ohren, und Senche ist der Jüngste.« »Ich habe Euch gar nicht gedankt«, sagte Anne vorsichtig. »"Wieso solltet Ihr? Ihr habt gedacht, wir bringen Euch in die Stadt, genauso, wie Comarre es vorhatte, nicht wahr?« »Sind die Ritter noch in der Stadt?«, fragte Anne. »Ein paar von ihnen. Ein paar sind draußen auf dem Land unterwegs, und drei sind nach Westen gezogen, mit zwei Burschen, die sie gefesselt hatten.« 446 »Cazio!«, stieß Austra hervor. »Freunde von Euch, nehme ich an.« »Ja«, sagte Anne. »Wir sind ihnen gefolgt; wir haben gehofft, wir bekämen vielleicht eine Gelegenheit, sie zu
retten.« Artore lachte. »Ich frage mich, wie Ihr das wohl bewerkstelligen wolltet.« »Wir müssen es versuchen«, erwiderte Anne. »Sie haben uns das Leben gerettet, und wie Ihr gesagt habt, sie sind unsere Freunde.« »Aber gegen Männer wie diese? Ihr seid tapferer, als Ihr klug seid. Warum sind sie hinter Euch her?« »Sie wollen mich töten, das ist alles, was ich weiß«, antwortete Anne. »Sie haben uns den ganzen Weg von Vitellio gejagt.« »Wo wollt Ihr hin?« Anne zögerte. »Nach Eslen«, sagte sie schließlich. Er nickte. »Das dachte ich mir. Das ist aber noch weit, und es liegt nicht in der Richtung, in die sie Eure Freunde schleppen. Wohin werdet Ihr Euch also wenden?« Darüber hatte Anne viel nachgedacht, seit Cazio und z'Acatto gefangen genommen worden waren. Es war ihre Pflicht, nach Eslen zurückzukehren, das wusste sie. Doch sie war auch ihren Freunden verpflichtet. Solange ihre Häscher nordwärts geritten waren, hatte sie sich nicht zu entscheiden brauchen. Jetzt war es so weit, und sie wusste ohne jeden Zweifel, welche Entscheidung ihre Mutter - und die Glaubenden - als die richtige bezeichnen würden. Die Sache war die, wie auch immer sie sich entschied, ihre Überlebenschancen waren nicht groß, nicht mit Austra als Gefährtin. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Anne!«, rief Austra. »Was sagst du denn da?« »Ich lasse mir etwas einfallen«, versprach sie. »Ich lasse mir etwas einfallen.« Artores Haus glich jenen, an denen sie vorbeigekommen waren, nur war es größer und weitläufiger. Hühner pickten im Hof, und 447 dahinter, in einem Pferch, sah sie mehrere Pferde. Der Himmel war jetzt fast finster, und das Licht aus dem Inneren des Hauses war einladend. Eine Frau, die ungefähr so alt war wie Artore, erwartete sie an der Tür. Ihr blondes Haar war zu einem Knoten gerafft, und sie trug eine Schürze. Wundervolle Gerüche wehten aus der Tür. »Das ist meine Frau«, sagte Artore. »Osne.« »Du hast sie also gefunden«, sagte Osne. »Daje Vespre, Mädchen.« »Ihr habt nach uns gesucht?« Die Haare in Annes Nacken richteten sich auf. »Habt keine Angst«, erwiderte die Frau. »Ich habe ihn geschickt.« »Aber warum?« »Kommt herein und esst. Wir können uns hinterher unterhalten.« Das Haus war von innen ebenso freundlich wie von außen. Ein großer Herd stand an einem Ende des Hauptraums, mit Töpfen und Pfannen, außerdem gab es einen Arbeitstisch mit Tontöpfen voll Mehl, Zucker und Gewürzen. Knoblauch hing in langen Zöpfen von den Dachbalken, und ein kleines Mädchen spielte auf dem mit irdenen Fliesen ausgelegten Boden. Anne war plötzlich hungriger als je zuvor in ihrem Leben. Der Tisch war bereits gedeckt, und die Frau drängte sie, sich zu setzen. Während des nächsten halben Glockenschlags vergaß Anne fast alles außer dem Essen. Das Brot wurde von Laiben geschnitten, die noch warm vom Ofen waren, und es gab Butter - kein Olivenöl, wie stets in Vitellio, sondern Butter. Osne schöpfte einen Eintopf aus Schweinefleisch, Lauch und Muscheln über das Brot, was an und für sich schon genug gewesen wäre, doch dann brachte sie so etwas wie eine Pastete, die mit geschmolzenem Käse, Hunderten kleiner Teigstreifen und ganzen Eiern gefüllt war. Dazu gab es eine Art Paste aus in einer Kruste gebratener Hühnerleber, und das alles wurde mit einem kräftigen roten Wein hinuntergespült. 448 Anne hätte am liebsten vor Freude geweint. Im Konvent hatten sie karg gespeist - Brot, Käse und Hafergrütze. Unterwegs und in z'Espino hatten sie gehungert und gegessen, was sie finden oder mit ihrem wenigen Geld kaufen konnten. Dies war das erste wirklich köstliche Mahl, das sie gekostet hatte, seit sie Eslen vor all diesen Monaten verlassen hatte. Es erinnerte sie daran, dass das Leben mehr zu bieten hatte, als dem Tod zu entgehen. Nachdem sie sich satt gegessen hatten, half Anne Osne, Austra und den beiden jüngeren Söhnen, den Tisch abzuräumen und abzuwaschen. Als sie fertig waren, waren sie und Osne plötzlich allein. Sie wusste nicht genau, wo Austra geblieben war. Osne wandte sich ihr zu und lächelte. »Und jetzt, Anne Dare«, sagte sie, »Thronerbin von Crothenien, müssen wir beide uns unterhalten.« 35. Kapitel Der Hafen von Paldh Swanmay hielt Wort. Fünf Tage, nachdem sie ihr Versprechen gegeben hatte, erreichten sie die Mündung des Teremene. Mittlerweile konnte Neil wieder stehen und sogar gehen, obgleich er rasch müde wurde. Als er hörte, dass Land in Sicht sei, zog er die Kleider an, die Swanmay ihm gegeben hatte, und ging an Deck.
Die Wolkendecke riss mit dem Sonnenaufgang auf und färbte die Landschaft mit langen Pinselstrichen aus Licht. Die Meerenge von Corcac, dachte Neil bei sich, war das, was Neuland ohne die Kanäle, die Malenden und die schiere Kraft menschlichen Willens gewesen wäre, die das Wasser fern hielten: tausend Inseln und Schären, von denen manche bei Flut verschwanden, und alles grün 449 vor Sumpfgras und alten Eichen. Sie segelten an Dörfern vorbei, deren Häuser auf Pfählen standen, und an Männern in Ruderbooten, die Netze voll wimmelnder Krabben emporzogen. Hinter der Flussmündung erstreckte sich ein Labyrinth aus Bächen und Wasserläufen bis zum flachen Horizont. Er fand Swanmay am Bug. »Wir sind fast da«, sagte sie. »Seht Ihr, ich habe es Euch gesagt.« »Ich habe nicht an Euch gezweifelt, Lady« Unbehaglich hielt er inne. »Ihr habt gesagt, die Männer, die mich angegriffen haben, seien dieselben, die Ihr fürchtet. Aber sie haben Euer Schiff in z'Espino nicht erkannt. Wieso habt Ihr Angst, dass sie es jetzt erkennen, falls sie im Hafen von Paldh sind?« Die Andeutung eines Lächelns streifte ihre Lippen. »In z'Espino haben sie noch nicht gewusst, dass sie nach mir suchen. Noch ein oder zwei Tage dort, und sie hätten die Neuigkeit erfahren. Ganz gewiss ist die Kunde mittlerweile bis nach Paldh gedrungen.« »Die Kunde von Eurer Flucht?« »Ja.« »Dann möchte ich - wenn ich darf - vorschlagen, dass ich Euch nicht streng beim Wort nehme. Setzt mich hier ab, bevor wir den Hafen erreichen. Ich bin sicher, dass ich zum Festland finde.« Sie blickte über die Marschen. »Es ist schön hier, findet Ihr nicht?« Seinem Vorschlag schien sie keine Beachtung zu schenken. »Ja«, stimmte er zu. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Sie drehte sich zu ihm um. »Es ist freundlich von Euch, dass Ihr Euch meinetwegen Gedanken macht, Sir Neil.« »Verglichen mit dem, was Ihr für mich getan habt, ist das gar nichts, Lady Ich möchte nicht, dass Euch etwas zustößt.« Sie zuckte die Achseln. »Mir droht keine Gefahr für Leib und Leben. Sie werden mich nicht töten, falls es das ist, was Euch Sorgen macht.« »Dafür bin ich dankbar.« »Ich nehme Euer Angebot an«, entschied Swanmay »Es besteht 450 nur eine sehr kleine Chance, dass ich jetzt, da mein Vorsprung dahin ist, aus der Lierischen See entkommen kann. Aber nichtsdestotrotz ist es eine Chance. Vielleicht gewinne ich meine Fiedchese-Partie ja doch noch.« »Ich bete, dass es Euch gelingt, Lady Swanmay«, sagte er ernst. »Das ist nicht mein richtiger Name, wisst Ihr das?« »Nein«, antwortete er. »Ich wollte, ich wüsste Euren richtigen Namen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich gebe Euch ein Boot und ein paar Vorräte.« »Das ist nicht nötig«, wehrte er ab. »Es kostet mich nichts und wird Euch das Leben leichter machen. Warum also sollte ich es nicht tun?« Sie hob den Kopf. »Aber wenn Ihr Euch für das Boot erkenntlich zeigen wollt, hätte ich einen Vorschlag.« »Alles, so es in meiner Macht steht.« »Das tut es. Einen Kuss - nur einen. Das ist alles, worum ich bitte.« Im Licht der Sonne waren ihre Augen blauer als der Himmel. Plötzlich fiel ihm der Text eines Liedes ein, das er als Junge gern gemocht hatte. »Elveher qei Queryen.« Und bleibst du nicht und teilst mein Bett Die Herrin von Queryen bat So bitt ich nur um einen Kuss Einen Kuss an deiner statt. Doch als Elveher sich herabbeugte, um die Lady von Queryen zu küssen, stach sie ihm ein Messer ins Herz, das sie in ihrem Ärmel verborgen hatte. Mit ihrer außerweltlichen Schönheit könnte Swanmay durchaus eine menschliche Queryen sein. »Wieso solltet Ihr das wollen, Lady?«, fragte er. »Weil ich vielleicht niemals wieder einen bekomme«, antwortete sie. 451 »Ich ...« Jäh wurde ihm klar, dass sie keinen Scherz machte. »Alles, was in Eurer Macht steht, habt Ihr gesagt.« »Das habe ich«, lenkte er ein und beugte sich zu ihr vor, gefangen von diesen seltsamen, wunderschönen Augen. Sie roch schwach nach Rosen. Ihre Lippen waren warm und irgendwie überraschend, anders als alle Lippen, die er je geküsst hatte, und mit ihrer Berührung schien alles sonderbar verändert. Als er sich von ihr löste, waren ihre Augen nicht mehr so geheimnisvoll. Es lag etwas darin, das er zu verstehen glaubte. »Mein Name ist Brinna«, sagte sie. Es war kein Messer in ihrer Hand.
Noch vor dem nächsten Glockenschlag saß er in einem Schmalboot und schaute ihrem Schiff nach, bis er die Segel nicht mehr sehen konnte. Dann begann er, stromaufwärts zu rudern. Jedes Mal, wenn die Ruder ins Wasser tauchten, meinte er, Fastia sagen zu hören, dass er sie vergessen würde. Die Flut kam und machte seine Reise leichter, doch Paldh lag mehrere Meilen stromaufwärts, und er war noch immer sehr schwach und musste sich oft ausruhen. Trotzdem tat die Anstrengung gut, und der salzige Marschgeruch behagte ihm. Kurz vor Sonnenuntergang legte er in einem Fischerdorf an, wo ein etwa zwölfjähriger Knabe mit blondem Schopf seine Bugleine auffing und festmachte. Daraufhin überprüfte er die Börse, die Brinna ihm gegeben hatte, und fand Münzen darin. Er suchte eine Kupfermünze für den Jungen heraus, drehte sie jedoch erst zwischen den Fingern, ehe er sie ihm reichte. Eine Seite zeigte ein Schwert, jedoch keine Inschrift. Er holte ein Goldstück hervor und betrachtete es. Darauf war das Konterfei eines Mannes geprägt, und Schriftzeichen, die MARCOMIR ANTH AR THIUZ AN MIKIL lauteten. Marcomir war der König von Hansa. Er seufzte und steckte die Münzen zurück in die Börse. Der Junge sagte etwas auf Hornisch, eine Sprache, von der Neil nur ein paar Worte verstand. 452 »Sprichst du die Sprache des Königs, Junge? Oder Lierisch?«, fragte er in seinem besten Hornisch. »Tho, gewiss, ich spreche Königssprache«, versicherte der Knabe mit einem behäbigen, melodischen Akzent. »Braucht Ihr Platz für Nacht? Das Moyr Muc hat Zimmer.« Er zeigte auf ein langes Gebäude mit Lederwänden und einem Schindeldach. »Ich danke dir«, antwortete Neil. »Sag, Junge, wie heißt du?« »Nel MaypPenmar.« Neil lächelte. »Fast genauso wie ich. Mein Name ist Neil MeqVren. Nel, kennst du dich mit Schiffen aus?« Der Junge warf sich in die Brust. »Tho, Sir, gewiss.« »Hast du in den letzten Tagen vielleicht ein vitellianisches Handelsschiff hier vorbeikommen sehen, die Della Puchiaf« »Das Schiff ich habe gesehen«, antwortete der Knabe. »Aber nicht letzte Zeit.« »Was ist mit einer großen Brimwulf, ohne Namen oder Flagge?« »Die habe ich gesehen, vor drei Tagen. Ist von großem Sturm erwischt worden und hatte mächtig Schlagseite, brauchte neuen Mast.« »Sturm?« »Tho, sehr schlimm. Manche Schiffe sind dabei gesunken - eins hier draußen, die Tunn Carvanth.« »Vielleicht ist die Della Puchia ja vorbeigekommen, und du hast sie nicht bemerkt?« »Vielleicht«, erwiderte Nel zweifelnd. »Ihr könnt fragen im Moyr Muc. Warum? Ihr habt Verwandte an Bord?« »So etwas Ähnliches«, antwortete Neil. »Danke.« Er nahm seine Sachen und ging auf das Gasthaus zu. Neben der Tür hing ein Schild, auf dem ein Delfin abgebildet war, was Neils beiläufigen Verdacht bestätigte, dass Moyr Muc dasselbe bedeutete wie meurmuc, wie Delfine auf Skern genannt wurden. Es hieß »Seeschwein«; er war stets der Ansicht gewesen, dass das ein schlechter Name für ein so schönes Geschöpf sei. Allerdings bedeutete Neil »Recke«, ein Name, den er auch nicht gerade verdiente. Er hatte seine Rüstung und sein Schwert verloren, 453 und jetzt konnte es sein, dass die Prinzessin, die seine Königin ihn zu holen ausgesandt hatte, auf dem Grund der Lierischen See lag. Keiner der wenigen Gäste im Seeschwein gab an, die Della Pu-chia gesehen zu haben, doch sie wiesen darauf hin, dass das Schiff mit seinem geringen Tiefgang an einem halben Dutzend Stellen der Küste angelegt und den Sturm abgewettert haben könnte. Daraufhin fühlte Neil sich ein wenig besser, doch ein noch größeres Problem blieb - wenn Anne noch am Leben war, dann weil die Della Puchia genau das getan hatte. Was bedeutete, dass er ihre Spur erneut verloren hatte. Es war keine Überraschung, dass niemand in dem Dorf Torn-y-Llagh ein Schwert besaß, doch es gelang ihm, einen Fischspeer und ein Messer zu erwerben, was besser war als gar nichts. Er aß Brot und gekochten Dorsch und genoss die simple Vertrautheit dieser Speisen. Am nächsten Morgen fühlte er sich noch kräftiger und machte sich auf den Weg nach Paldh. Paldh war eine alte Stadt. Als die großen Häfen von Eslen noch Marschland gewesen waren, vor der Errichtung des großen Walls von Thornrath, war Paldh der einzige nennenswerte Tiefwasserhafen im Umkreis von Hunderten von Meilen gewesen. In jenen Zeiten vor dem Crothenischen Reich waren Crothenien, Hornladh und Tero Galle, was die Seefahrt anging, alle auf Paldh angewiesen gewesen. Sie hatten deswegen Kriege mit den Einwohnern geführt, und davor mit der Hegemonie und den Magierkönigreichen. Wie viele tausend Schiffe verrottend im Bett des Teremene lagen, wusste niemand, doch die ältesten von ihnen waren nicht von Menschenhand gebaut worden. Ebenso wenig wie die ältesten Mauern der Stadt, die zum größten Teil auf einer ganz normalen grauen Klippe zu ruhen schien, dreißig Ellen über der Hochwasserlinie. Neil hatte sie noch nie gesehen, doch jetzt, da er an ihnen entlangruderte, stellte er fest, dass es stimmte, was er gehört hatte: Oberhalb der von Seepocken bedeckten Hochwassergrenze konnte man noch immer die dünnen Spalten zwischen den ursprünglichen Steinblöcken
ausmachen. Als er den Hafen erreichte, bildete die mächtige Barriere einen ge454 waltigen Halbkreis, der über eine Meile lang war, und hier diente ein uralter steinerner Kai als Anker für die schwimmenden Anlegestege. Der Kai war vielleicht hundert Ellen breit, und darauf war eine Art Seemannsstadt in die Höhe gesprossen Schenken, Gasthäuser und Spielschuppen drängten sich samt und sonders gegen die künstliche Klippe. Sogar von weitem konnte Neil sehen, dass es auf dem Kai von buntem Leben nur so wimmelte. Er erblickte die Brimwulf fast sofort, weil er auf dem Weg zum Anleger an den Reparaturdocks vorbeikam, und dort lag sie, mit stützenden Streben aufgepallt, während Werftarbeiter herumwuselten und mit Hämmern und Sägen Musik machten. Es lagen noch mehrere andere Schiffe da; keines davon war das, auf dem Anne davongesegelt war. Er dachte an den Kampf in z'Espino zurück. Die Brimwulf hatte viel weiter unten am Kai gelegen, weit entfernt von der Della Puchia. Die Matrosen an Bord hatten den Kampf gewiss nicht gesehen - und außerdem hatte er seine Rüstung getragen. Er paddelte sein Boot zum Kai hinüber, vertäute es in der Nähe des Schiffes und trat auf den von der Zeit glatt geriebenen Stein. Dann winkte er einem der am nächsten stehenden Seeleute zu. »Hallo«, versuchte er es auf Hornisch. »Ik ni mathlya Haurnaraz«, erwiderte der Angerufene. Neil zwang sich ein Lachen ab und wechselte zu Hansisch. »Ich auch nicht«, sagte er. »Es tut gut, dich reden zu hören - ich bin es so leid, mir ständig Mühe zu geben, dieses Kauderwelsch hier zu verstehen.« Der Seemann lächelte und zeigte mit dem Finger auf Neils Boot. »Bist du den ganzen Weg bis hierher in dem Ding da gefahren?« Neil schüttelte den Kopf. »Nein, das Schiff, auf dem ich gedient habe, ist bei dem Sturm neulich gestrandet. Das da habe ich einem Fischer abgekauft.« »War ein übler Sturm«, sagte der Mann. »Wir wären fast gesunken.« »Hat ganz schön geblasen«, stimmte Neil zu. 455 »Auf welchem Schiff warst du denn?«, wollte der andere wissen. »Auf der Esecelsur, von Hall.« Das erschien ihm ungefährlich genug - Hall war eine der fernsten und am seltensten angelaufenen Inseln der Kummer-Kette, und sie befand sich - nach seinem Wissensstand - unter hansischer Herrschaft. »Ah, das erklärt deinen Akzent«, meinte der Bursche. »Nun, und was willst du?« »Ich habe mich gefragt, ob ihr vielleicht noch Leute braucht, zumindest, bis das Schiff wieder seeklar ist. Ich würde für einen Schlafplatz und ein oder zwei Geldstücke arbeiten, bis ich eine Koje auf irgendetwas finde, das nach Hause fährt.« Der Matrose kratzte sich am Kopf. »Nun ja, der Kapitän hat dem frummashipmanna gesagt, er soll ein paar Leute von hier anheuern, aber bestimmt hat er lieber jemanden, der die Göttersprache spricht.« Neil hoffte, dass er bei diesen Worten nicht zusammengezuckt war. Er hatte den Großteil seines Lebens damit zugebracht, gegen Menschen zu kämpfen, die Hansisch sprachen. Die Tatsache, dass sie ihre Sprache für die Sprache der Heiligen hielten, erinnerte ihn lediglich daran, warum er das getan hatte. Er musste seine Gefühle gut verborgen haben, denn der Matrose stellte ihn dem Ersten Maat vor, der den Blick an ihm hinauf-und hinunterwandern ließ, ihn das Gleiche fragte wie der andere Mann und dann die Achseln zuckte. »Wir werden es mit dir versuchen«, erklärte er. »Aber ich sage dir gleich, eine Koje kriegst du bei uns nicht. Der Lord, dem das Schiff gehört, ist ziemlich eigen, wenn es darum geht, wen er an Bord nimmt. Aber wenn du trotzdem interessiert bist, gibt's einen Schilling pro Tag und ein Mittagsmahl, und du kannst in einem der Zelte schlafen.« »Einverstanden«, sagte Neil. »Und dein Name?« »Kniva«, antwortete Neil aus dem Stegreif. »Kniva Berigsunu.« »Hast du schon mal einen Mast getrimmt?« »Schon bevor ich sechs war.« 456 »Dann geh dort rüber. Wenn mir deine Arbeit nicht gefällt, gibt's kein Geld.« Der Mast war ein guter Platz - er konnte bei der Arbeit alle sehen, die kamen und gingen. Er bekam jedoch niemanden zu Gesicht, den er wieder erkannt hätte, und ganz bestimmt keinen der Ritter oder ihrer Bewaffneten. Das war wahrscheinlich ein gutes Zeichen - es wies darauf hin, dass sie immer noch nach Anne und ihren Begleitern suchten. Seite an Seite mit seinen Feinden zu arbeiten machte ihn nervös, doch nach einer Weile entspannte er sich. Die anderen, die sich mit dem Mast abplagten, schienen ihn als das anzunehmen, was er angeblich war, und es gelang ihm, sich mit zweien von ihnen anzufreunden. Beide kamen von Selhastranth, einem Eiland vor der Küste der Salzmark, und wenn man ihre Sprache und alles böse Blut einmal beiseite ließ, war Neils Knabenzeit auf
seiner Insel nicht viel anders gewesen als die ihre. Daher war er, als sie abends ihre Schillinge in Empfang nahmen, auch nicht überrascht, als Jan und Vithig ihn aufforderten, sie in die Schenke zu begleiten. Das curm valc, das in dem Wirtshaus ausgeschenkt wurde, war bitter und stark, gar nicht so viel anders als das Bier, das auf den Inseln gebraut wurde - und Neil wusste, dass er sich nicht zu viel davon genehmigen durfte. Er war noch nie ein großer Trinker gewesen, und es war lange her, dass er mehr getrunken hatte als ein wenig Wein. Jan und Vithig legten keine derartige Zurückhaltung an den Tag und schütteten das Zeug hinunter, als wäre es Wasser. Als ihr Aaleintopf kam, hatten sie bereits ein gutes Stück des Weges zur Halle der heiligen Leine hinter sich. Nach einer Runde Geprahle über verschiedene Glanzleistungen auf hoher See beugte Neil sich vor. »Ich habe in letzter Zeit seltsame Dinge gesehen«, sagte er leise. »Unheimliche Dinge. Ich habe die Draughs singen gehört und einen toten Mann auf Terna-Fath wandeln sehen. Mein Fah sagt, das Ende der Welt stehe bevor.« Beide verzogen bei diesen Worten das Gesicht. Jan war ein gro457 ßer Mann mit einer von einem Haarkranz umgebenen Glatze, dunklen Augen und geröteter Haut, während Vithigs Gesicht so kantig war, dass es aussah, als habe er einen Amboss verschluckt, der dann in seinem Kopf stecken geblieben war. »Uns brauchst du nicht zu sagen, dass es seltsam zugeht«, erklärte Vithig. »Wir haben Sachen gesehen -« Jan legte ihm die Hand auf den Arm. »Nein, tu das nicht.« Vithig nickte bedächtig. »Aiw, ich weiß. Aber das ist nicht richtig. Ich hab doch gesagt, manche Männer von Mylord sind gar keine Männer - und ich sag's noch mal.« Er rammte einen Finger in Neils Richtung. »Sei bloß froh, dass sie dir keine Koje angeboten haben, das ist alles, was ich sage.« »Vithig, nicht so laut«, knurrte Jan. »Ich habe an Bord nichts Sonderbares gesehen.« »Aiw - sie sind weg, Ansu Hlera sei Dank, sind nach Süden, auf der Jagd nach -« »Vithig!« Jan schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass ihre Becher und Schüsseln klapperten. Neil trank einen Schluck Bier. »Nicht streiten, Kameraden«, beschwichtigte er. »Ich wollte keinen Ärger machen. Wie heißt es noch? >Weise der Mann, der den Runenhort seines Herrn bewachte« »Stimmt, genau meine Rede«, brummte Jan. »Gut gesprochen«, nuschelte Vithig. »Ich gebe zu, ich bin nicht weise, nicht wenn Ansu Woths Blut in mir wogt.« Er hob seinen Humpen. »Mögen wir in warmen Gewässern sterben.« »Auf die Weisheit«, erwiderte Neil und trank seinen Schluck. »Und jetzt muss ich euch von der Riesenseeschlange erzählen, die wir bei den Kummerinseln gesichtet haben.« »Du hast bestimmt keine Seeschlange gesehen«, wehrte Jan ab. »Aiw, habe ich doch, und was für ein Ungeheuer das war!« Er begann eine Geschichte, die sein Großvater oft erzählt hatte, und als sie zu Ende war, hatte Jan sich beruhigt, und Vithig drohte damit, ein Lied anzustimmen. So kühn ihm auch zumute war, Neil gedachte trotzdem nicht, noch weitere Wagnisse einzu458 gehen, indem er sie bedrängte - es wäre schön, zu wissen, welchem Lord das Schiff gehörte, doch er hatte bereits erfahren, was er wissen wollte, und dabei nur einen einzigen Tag verloren. Sehr viel später taumelten sie zu den Zelten zurück, und Jan und Vithig sanken augenblicklich in bierseligen Schlummer. Neil überlegte, ob er sie töten sollte, ließ es jedoch aus verschiedenen Gründen bleiben. Ein ehrlicher Kampf würde Aufsehen erregen, und ihnen im Schlaf die Kehlen durchzuschneiden würde das letzte bisschen Ehre zunichte machen, das ihm noch geblieben war. Er bezweifelte, dass die Matrosen irgendeine Verbindung zwischen ihren Bemerkungen und seiner morgigen Abwesenheit erkennen würden, und wenn doch, so würden sie lediglich glauben, sie hätten ihm solche Angst eingejagt, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte. Auf jeden Fall sprachen Seeleute nicht mehr mit ihren Offizieren und Lords, als unbedingt nötig war, und sie zu töten würde viel eher dazu führen, dass sich die Leute Gedanken machten, wohin er wohl verschwunden war. Und schließlich waren Jan und Vithig anständige Burschen, die es nicht verdient hatten, unter seinen Händen ein schlimmes Ende zu nehmen, nur weil sie etwas gesagt hatten, das sie lieber hätten für sich behalten sollen. Also raffte er seine Sachen zusammen und stieg die Rampe in die Stadt hinauf. Dort fand er ein Schwert, das er sich dank des Geldes, das Brinna ihm gegeben hatte, leisten konnte. Der Schmied zögerte, es ihm zu verkaufen, deshalb zeigte Neil ihm den Schnitt auf der Rückseite seines Handgelenks und die kleine silberne Rose, die er an einer Halskette trug - die beiden Dinge, die er noch hatte, um sich als Ritter auszuweisen. »Schneiden kann sich jeder«, sagte der Schmied. »Und die Rose könntet Ihr einem toten Ritter abgenommen haben.« »Das ist wahr«, pflichtete Neil ihm bei. »Aber ich habe Euch mein Wort gegeben, dass ich ein Ritter Eslens bin.« »Der hansisches Geld bei sich hat«, erwiderte der Schmied zweifelnd.
Neil legte noch ein weiteres Goldstück neben die fünf, die be459 reits auf dem Tisch blinkten. »Wozu habt Ihr es geschmiedet, wenn nicht, um es zu verkaufen?«, fragte er. »Welcher Ritter hat es bei Euch in Auftrag gegeben?« »Die Stadtwache kauft bei mir«, antwortete der Mann. »Ich habe die Erlaubnis, an sie zu verkaufen.« »Und gewiss auch an einen Ritter, der seine Ausrüstung verloren hat«, sagte Neil. »Außerdem verlasse ich Paldh, und es ist unwahrscheinlich, dass ich zurückkehre.« Der Schmied suchte ein Stück Stoff und wickelte das Schwert fest hinein. »Haltet es einfach verborgen, bis Ihr die Stadt verlassen habt, ja?« »Das werde ich tun«, versprach Neil. Er nahm das Schwert und ging. In einem Stall an der Straße außerhalb der Stadt erwarb er ein Pferd, dessen Augen ein wenig Verstand zu zeigen schienen, und Sattelzeug, wodurch ihm nur noch ein paar Schillinge für Lebensmittel blieben. Solcherart beritten, machte er sich auf der Vitellianischen Hochstraße auf den Weg nach Süden. Das Schwert war kein besonders gutes Schwert - es war eher eine stählerne Keule mit einer Schneide -, und das Pferd war kein besonders gutes Pferd. Doch schließlich war er auch kein besonders guter Ritter, obgleich er sich endlich wieder ein wenig wie einer vorkam. Was er tun würde, wenn er den unheimlichen Ritter und seine Männer fand, wusste er nicht, doch er war bereit, sich etwas auszudenken. 36. Kapitel Die Rückkehr Der Hofstaat, der Muriele und ihre beiden Leibwächter empfing, war vollkommen still. Das, so dachte sie bei sich, war ein Wunder, etwas, das sie bislang an einem Ort, der so voller 460 schnatternder Narren war, für unmöglich gehalten hätte. Nachdem ihre Wachen ihren Platz an der Tür eingenommen hatten, war das einzige Geräusch das Klicken ihrer Absätze auf dem Marmor, und auch das verstummte, als sie sich auf dem Thron der Königinmutter niederließ. »Nun«, sagte sie und setzte ihr vollkommen gespieltes Lächeln auf, »der Erste Minister wird heute nicht bei Hofe zugegen sein, daher werde ich die Angelegenheiten in der Reihenfolge abhandeln, in der sie sich präsentieren. Praifec Hespero, hat die Kirche heute etwas mit dem Thron zu besprechen?« Hespero runzelte leicht die Stirn. »Königinmutter, wo ist Seine Majestät König Charles? Er sollte wirklich bei Hofe anwesend sein.« »Ja«, erwiderte Muriele, »das habe ich ihm auch gesagt. Aber Seine Majestät kann sehr starrköpfig sein, wenn ihm danach zumute ist. Und ich wüsste gern, Euer Eminenz, wann Ihr aufgehört habt, mich mit Majestät anzureden.« »Ich bedaure zutiefst, Königinmutter, aber all unseren Gesetzen zufolge ist es nicht angemessen, Euch so anzusprechen. Nur der König und die Königin werden mit diesem Titel bedacht, und zurzeit seid Ihr keins von beidem. Der Hof hat Euch aus Hochachtung und aus Respekt vor Eurer Trauer weiterhin so angeredet.« »Ich verstehe. Und jetzt ist es wohl so, dass Ihr mich nicht mehr achtet oder mit mir trauert. So ein Jammer.« Sie war erstaunt, wie ruhig sie innerlich war, als wäre das Ganze ein Gesellschaftsspiel. »Königinmutter«, unterbrach der Herzog von Shale und versuchte sein komisch gerundetes Gesicht irgendwie streng erscheinen zu lassen, »der Comven hat schwerwiegende Fragen bezüglich des jüngsten Verhaltens seitens des Throns - fürwahr, wir stellen die Rechtmäßigkeit dieses Verhaltens selbst infrage.« Muriele lehnte sich auf dem Thron zurück und tat, als wäre sie überrascht. »Nun, meine Herren, eröffnet mir unbedingt diese Fragen. Ich bin begierig, sie zu hören.« »Es geht mehr um die Frage der Rechtmäßigkeit«, erläuterte der 461 Herzog von Shale. Plötzliche Vorsicht zeigte sich in seinen Blaubeeraugen. »Habt Ihr nun Fragen an mich oder nicht?«, wollte Muriele wissen. »Keine direkten Fragen, Euer Hoheit, nur allgemeine -« »Aber mein lieber Herzog, Ihr habt doch gesagt, der Comven hätte schwerwiegende Fragen, was das Verhalten des Throns betrifft. Jetzt sagt Ihr, Ihr hättet keine Fragen bezüglich dieses Verhaltens. Entweder seid Ihr ein Lügner oder ein Possenreißer, Herzog von Shale.« »Jetzt hört -« »Nein«, unterbrach ihn Muriele. Ihre Stimme wurde lauter. »Jetzt hört Ihr mir zu. Nach jedem Gesetz ist Charles König und Herrscher, und Ihr seid seine Untertanen, Ihr schwatzenden, kraftlosen Schurken. Glaubt Ihr wirklich, ich weiß nicht, was Ihr alle heute im Schilde führt? Habt Ihr gedacht, ich wäre blindlings in Eure kindische Falle getappt?« »Königinmutter -«, setzte der Praifec an, doch sie schnitt ihm das Wort ab. »Ihr haltet den Mund«, befahl sie. »Durch rechtskräftiges Urteil ist Eure Position auf die eines Beraters beschränkt, Praifec.« »Das ist auch alles, was ich angeboten habe, Königinmutter.« »O nein«, wehrte Muriele ab. »Ihr habt getratscht wie die niederste Hure in einem Bordell. Ihr habt aufgewiegelt, Ihr habt Ränke geschmiedet, und alle hier im Saal wissen das, weil sie diejenigen sind, mit denen Ihr dies
getrieben habt. Ihr habt angeboten, dieses Reich von Kirchentruppen besetzen zu lassen, und Ihr habt gedroht, diese Truppen Hansa zur Verfügung zu stellen, wenn wir sie nicht haben wollen. Ihr habt mir mit einer Hand Euer Wohlwollen angetragen und mit der anderen einen Dolch, und Ihr seid ganz gewiss der erbärmlichste Tropf von einem Mann, den ich jemals zu Gesicht bekommen habe, erst recht von einem Mann, der vorgibt, heilig zu sein. Also genug von Euch, und genug von Euren Comven-Marionetten und Eurem kleinlichen Streben. Lasst ihn vor mich hintreten. Lasst den Meuchelmörder, den ihr Narren 462 auf den geheiligten Thron von Crothenien setzen wollt, vor mir stehen, damit ich sein Antlitz sehen kann.« Die Höflinge gerieten in Aufruhr, als wären sie alle Hühner und jemand hätte soeben eine Katze mitten unter sie geworfen. Der Praifec allein blieb stumm und betrachtete sie mit völlig ausdrucksloser Miene. Irgendwie war es der drohendste Blick, dem sie je standgehalten hatte. Als die Menge sich langsam beruhigte, teilte sie sich, und hier kam er - Robert Dare, der Bruder ihres Gemahls. Er trug ein schwarzes Wams und schwarze Beinkleider und hielt einen breitkrempigen Hut von der gleichen düsteren Farbe in einer Hand. Sein Gesicht war bleicher, als sie es in Erinnerung hatte, jedoch mit denselben ansehnlichen, spöttischen Zügen, dem kleinen Kinn- und Schnurrbart. Er kam aus der Menge stolziert, wobei sein lächerlich schmales Schwert wie der Schwanz eines großspurigen Hundes hin- und herschwang, und beugte das Knie vor ihr. »Seid gegrüßt, Königinmutter.« »Erhebt Euch«, wies sie ihn an. Seine Augen begegneten den ihren - da war er also, da war der Mörder ihres Gemahls. Robert konnte so etwas nicht verbergen, nicht vor jemandem, der ihn kannte. Seine Schadenfreude war zu offensichtlich. »Es tut mir Leid, Euch so erregt vorzufinden«, heuchelte er. »Ich hatte gehofft, all dies könnte auf vernünftigere Weise getan werden.« »Wirklich?«, fragte Muriele nachdenklich. »Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb man hier so viele von Euren persönlichen Wachen herumlungern sieht. Weshalb Milizen der Landwaerde sich vor der Stadt sammeln und weshalb Eure Speichellecker aus dem Comven so viele Schwerter mitgebracht haben. Weil Ihr glaubt, dass das, was Ihr vorhabt, vernünftig ist?« »Was ich vorhabe?«, fragte Robert und ließ plötzlich Zorn erkennen. »Besitzt die Königinmutter die Gabe, in den Herzen und Köpfen anderer zu lesen? Hat Euch ein Phay etwas ins Ohr ge463 flüstert? Was ist es denn, was ich, wie Ihr so unverschämt mutmaßt, vorhabe, Euer Hoheit?« »Euch des Throns zu bemächtigen«, erwiderte sie. »Oh«, sagte er. »Oh, nun ja, das werde ich tun.« Er wandte sich an die Menge. »Hat jemand etwas dagegen?« Niemand rührte sich. »Ihr seht, Königinmutter, sosehr wir alle Charles auch lieben, so besteht doch kein Zweifel, dass, besäße er einen halben Verstand, dies deutlich mehr wäre als das, was er jetzt hat. Und, wie der Herzog von Shale sich auf seine elegantere Weise zu erklären bemüht hat, der Hof schätzt Eure Entscheidungen nicht, oder, um ehrlich zu sein, Euch, meine anmaßende Schwägerin. Ihr habt Bündnisse mit Liery geschlossen, ehrbare Landwaerde niedermetzeln lassen, einen Frieden mit Hansa abgelehnt, und heute haben wir erlebt, wie Ihr den Praifec, die Kirche und jeden hier im Saal beleidigt habt. In der Zwischenzeit werden unsere Bürger von einem Basilnix getötet, in unseren Marschlanden tobt ein nicht erklärter Krieg mit den Mächten der Hölle, und sehr bald wird ein ausdrücklich erklärter mit Hansa herrschen. Und Ihr wollt Euch meiner Führung widersetzen, weil Ihr es vorzieht, Euch durch Euren armen, von den Heiligen berührten Sohn an die Macht zu klammern? Das ist wirklich zu viel, Königinmutter.« Muriele empfand bei seinen Worten nicht den leisesten Schrecken. »Ich widersetze mich Eurer Führung«, entgegnete sie, »weil Ihr ein Brudermörder und noch Schlimmeres seid.« Sie beugte sich vor und sprach sehr bestimmt weiter. »Ihr wisst, was Ihr seid, Robert. Ich weiß, was Ihr seid. Ihr habt William ermordet oder dafür gesorgt, dass es geschieht. Wahrscheinlich auch meine Töchter - und ich glaube, auch Lesbeth. Ihr werdet keine Gelegenheit bekommen, meinen Sohn zu töten.« Seine Augen weiteten sich in einer Aufwallung eigenartiger Wut, als sie dies sagte, doch sie war sich sicher, dass nur sie es bemerkt hatte. Dann veränderte sich seine Miene, wurde betrübt. »Wo ist Charles?« »In Sicherheit vor Euch.« 464 Er sah sich um. »Wo sind Sir Fail und seine Wachen? Wo sind die Handwerksmeister ?« »Ich habe sie fortgeschickt«, antwortete Muriele. »Sonst hätten sie sich Eures Thronraubs möglicherweise mit Waffengewalt widersetzt, und ich wollte nicht, dass in diesen Hallen Blut vergossen wird.« Er starrte sie einen Moment lang finster an, dann beugte er sich dicht zu ihr. »Das war schlau von dir, Muriele«, hauchte er. »Ich habe dich unterschätzt. Nicht dass es dir am Ende etwas nützen wird.« Er hob die Stimme und wandte sich der Menge zu. »Sucht Seine Majestät, und gebt Acht, dass ihm kein Leid zustößt. Nehmt seine Wachen fest, und die Handwerksmeister auch. Wenn sie Widerstand leisten, tötet sie. Von diesem Augenblick an übernehme ich die Regentschaft über dieses Reich. Morgen um diese Zeit werden wir Hof halten und die Einzelheiten besprechen.«
Zwei seiner Wachen näherten sich. »Bringt die Königinmutter in den Wolfspelzturm. Sorgt dafür, dass sie es dort bequem hat.« Als sie die Männer abführten, fragte sich Muriele, wie lange sie wohl noch zu leben hatte. Es war keine Überraschung, dass Muriele noch nie im Wolfspelzturm gewesen war. Alles in allem hatte Eslen dreißig Türme, wenn man diesen Begriff einigermaßen freizügig auslegte. Was den Wolfspelzturm - oder, angemessener, den Wolfspelz - betraf, so war keine Wortklauberei notwendig. Von der Ostseite des inneren Burgfrieds aus strebte er sechzig Ellen senkrecht empor und verjüngte sich dabei zu einer so scharfen Spitze, dass er wie ein auf den Himmel zielender Speer aussah. Vielleicht war er das auch gewesen - Thiuzwald fram Reiksbaurg, »der Wolfspelz«, war der Geschichtsschreibung nach kein bescheidener Mann oder auch nur vollständig Herr seiner Sinne gewesen, und er hatte den Turm errichten lassen. Später im selben Jahr war es vorüber gewesen, der Wolfspelz hatte sterbend in der Halle der Tauben gelegen, niedergestreckt von William I., dem 465 Ersten aus dem Geschlecht ihres Gemahls, der Crothenien regiert hatte. Jetzt fand sie sich hier als Gefangene wieder. Robert hielt sich wahrscheinlich für ausgesprochen spitzfindig. Wie dem auch sei, er hatte es ernst gemeint, als er gesagt hatte. sie solle es bequem haben. Innerhalb weniger Glockenschläge waren die staubigen Steingemächer mit Bett, Sessel, Schemeln, Teppichen und Ähnlichem ausgestattet worden, wenn gleich auffiel dass nichts davon aus ihren eigenen Räumen stammte. Eine schöne Aussicht hatte sie auch. Ihr Quartier befand sich ungefähr im obersten Viertel des Turms und hatte zwei schmal Fenster. Von einem aus konnte sie die Dächer und Plätze der Süd hälfte der Stadt sehen, ein kleines Stück von Eslen-des-Schatten und die Wasserläufe der Marschen. Das andere ging nach Osten und bot einen großartigen Blick auf die Wasserfläche, zu der sich der Magier- und der Taufluss vereinigten. Bequem oder nicht, Aussicht oder nicht, sie war eingekerkert. Wachen standen vor ihrer Tür - Roberts Wachen -, und die Tür selbst war von außen fest verschlossen. Von dort aus müsste man vielleicht zweihundert Stufen einer schmalen Wendeltreppe hinuntersteigen, vorbei an einer ganzen Garnison Wachsoldaten, um den inneren Burgfried zu erreichen. Sie überlegte, dass es wohl an der Zeit war, ihr Haar wachsen zu lassen. Sie beschloss, die Aussicht, die mit der Zeit langweilig werden würde, zu rationieren, und ließ sich seufzend in dem Sessel nieder, um nachzudenken. Doch sie stellte fest, dass es wenig zu bedenken gab. Sie hatte getan, was sie konnte, und jegliche weiteren Entscheidungen waren ihr verwehrt, außer vielleicht der Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen, den zu fassen sie nicht beabsichtigte. Wenn Robert ihren Tod wollte, würde er es selbst tun müssen oder zumindest den Befehl dazu geben. Sie hörte, wie sich die Tür des Vorraums öffnete und wieder schloss. Ein leises Klopfen an der inneren Tür folgte. »Herein«, sagte sie und fragte sich, was für eine neuerliche Auseinandersetzung jetzt wohl auf sie zukam. 466 Die Tür schwang auf und gab den Blick auf eine Frau frei, die sie kannte. »Alis Berrye, zu Euren Diensten, Königinmutter«, sagte sie. »Ich soll Euch als Zofe dienen.« Angst durchfuhr Muriele, und wieder war ihr, als sei der Boden, dem sie vertraut hatte, mit einem Mal verschwunden. »Ihr seid zurückgekommen«, sagte sie. Ihre Zunge fühlte sich an wie der Klöppel einer Bleiglocke. »Wurde mein Sohn gefangen? Ist er tot?« »Nein, Majestät«, erwiderte Alis Berrye mit leiserer Stimme. »Alles ist so geschehen, wie Ihr es geplant habt.« »Quält mich nicht«, bat Muriele. »Robert besitzt jetzt alles. Es kann nichts geben, was er begehrt, außer meinen Qualen. Wenn Ihr mich nicht aus irgendeinem Grunde hasst, so sagt mir die Wahrheit.« Alis Berrye kniete vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und küsste sie. »Es ist die Wahrheit. Ich kann Euch keinen Vorwurf machen, dass Ihr daran zweifelt, aber ich habe das Schiff ablegen sehen. Ihr habt den Prinzen vollkommen überrumpelt.« »Wie kommt es dann, dass Ihr hier seid?«, wollte Muriele wissen. »Ihr braucht eine Zofe. Prinz Robert hat mich ausgewählt.« »Wieso sollte er das tun?« »Ich habe es vorgeschlagen. Nachdem er Euch hierher geschickt hatte, habe ich gehört, wie er laut darüber nachgedacht hat, was für Dienstboten er für Euch finden könnte, die Euch am meisten zuwider wären. Ich habe mir diesen Augenblick ausgesucht, um ihm zu gratulieren, und er hat gelacht. Kurz danach war ich unterwegs hier herauf. Er hatte keine Ahnung, versteht Ihr?« »Ihr wart bei Hofe?« »Ich bin gerade erst angekommen, als sie Euch fortgeschafft haben - Eure Aufzählung der Missetaten des Praifec habe ich verpasst, obwohl ich wünschte, es wäre nicht so. Es wurde viel darüber geredet.« »Das ist die Wahrheit? Nicht irgendein Trick?« 467 »Ich bin hier eingeschlossen, genau wie Euer Majestät. Ich habe nicht mehr Freiheiten als Ihr, denn Robert würde niemals riskieren, dass wir uns am Ende miteinander befreunden.« »Wenn das, was Ihr sagt, stimmt«, erwiderte Muriele, »wenn Ihr wirklich entschlossen seid, mir zu helfen, wieso
seid Ihr dann hier? Draußen hättet Ihr mir vielleicht mehr nützen können.« »Das habe ich bedacht, Euer Majestät, aber dort draußen kann ich Euch nicht beschützen. Wenn man Euch ermordet, wird jegliche Kunde, die ich in Erfahrung bringe, wertlos sein. Hier gibt es tausend unauffällige Möglichkeiten, wie sie Euch töten könnten. Ich kann wenigstens einige davon aufdecken und beseitigen. Und wer weiß, vielleicht gestehen sie mir ja eine gewisse Bewegungsfreiheit zu, wenn wir so tun, als ob wir uns bis aufs Blut hassen, sobald die Wachen in Hörweite sind.« »Ich hatte Euch gebeten, meinen Sohn zu beschützen«, erinnerte Muriele sie. »Er hat Beschützer«, erwiderte Alis Berrye. »Ihr nicht.« Muriele seufzte. »Ihr seid genauso starrsinnig wie Erren«, murmelte sie, »und jetzt ist es geschehen. Ich nehme nicht an, dass Ihr wisst, ob es in diesem Turm irgendwelche Geheimgänge gibt?« »Ich glaube nicht«, sagte das Mädchen. »Das sollte uns nicht davon abhalten, danach zu suchen, aber von den Plänen her kann ich mich nicht an etwas Derartiges erinnern.« Sie hielt inne. »Übrigens, ich denke, es muss Prinz Robert selbst gewesen sein, damals in Eurem Gemach.« »Woraus schließt Ihr das?« »Wieso hat er Euch nicht einfach in Euren eigenen Gemächern eingesperrt?«, fragte die Jüngere zurück. »Dort hätte er Euch genauso leicht bewachen lassen können wie hier, und das ist auch die üblichere Art und Weise, solcherlei Dinge zu tun. Warum hat er Euch hier heraufschaffen lassen, wo Ihr seinem Blick und seiner Kontrolle mehr entzogen seid?« »Es ist ein Symbol«, erklärte Muriele. »Der letzte Reiksbaurg, der Crothenien regiert hat, hat diesen Turm gebaut.« »Ich glaube, er weiß von den Gängen«, widersprach Alis Ber468 rye. »Ich glaube, er weiß, dass Ihr aus Euren eigenen Räumen entfliehen könntet. Und das ist sehr merkwürdig, Euer Majestät. Wirklich sehr merkwürdig.« »Ich verstehe nicht, warum«, wandte Muriele ein. »Es ist ein Wunder, dass inzwischen nicht jeder darüber Bescheid weiß.« Das Mädchen lachte. »Es ist ein Wunder, Majestät, und, genauer gesagt, ein Blendzauber. Männer können sich an die Gänge nicht erinnern.« »Wie meint Ihr das?« »Ich meine, man kann sie ihnen zeigen, sie können sogar darin herumlaufen, aber einen Tag später werden sie sie vergessen haben. Die meisten Frauen übrigens auch. Nur die mit dem Zeichen der heiligen Cer oder der Lady, der ich diene, können sich für längere Zeit daran erinnern - wir und diejenigen, die wir auswählen, um ihnen die Augen dafür zu öffnen. Erren muss Euch ausgewählt haben - aber einen Mann hätte sie nicht erwählen können.« »Dann wird Sir Fail nicht mehr wissen, wie er aus dem Schloss entkommen ist?«, fragte Muriele. »Nein. Ebenso wenig wie seine Männer oder Charles. Es ist ein sehr alter und sehr mächtiger Zauberbann.« »Aber Ihr glaubt, Robert kann sich daran erinnern?« »Es wäre eine Erklärung dafür, weshalb er Euch anderswo untergebracht hat. Die einzige, die mir im Augenblick einfallen will.« »Robert ist ein äußerst misstrauischer Mann, wie Ihr kürzlich gesagt habt«, meinte Muriele. »Er könnte lediglich fürchten, dass es irgendeine Fluchtmöglichkeit für mich gibt.« Alis Berrye schüttelte den Kopf. »Da ist noch mehr. Der Schlüssel - wer sonst könnte auf den Schlüssel zur Zelle des Bewahrten aus sein? Und die Grausamkeiten, die dem Bewahrer angetan wurden, deuten sehr auf Robert hin.« »Das sind zwei gute Überlegungen«, gab Muriele zu. »Aber wenn Ihr Recht habt, ist er auf irgendeine Weise immun gegen den Zauber.« Die Jüngere nickte. Ihr Gesicht nahm einen fast schmerzlichen Ausdruck an, als habe sie sich auf die Zunge gebissen. 469 »Er ist nicht normal«, sagte sie. »Es ist etwas Unnatürliches an ihm.« »Das weiß ich«, erwiderte Muriele. »Das habe ich schon lange gewusst.« »Nein«, erklärte Alis Berrye, »es ist etwas Neues. Eine Eigenschaft, die er früher nicht hatte. Meine KonventAugen schmerzen, wenn ich ihn ansehe. Und dieser Geruch - wie etwas Verwesendes.« »Mir ist kein Geruch aufgefallen«, wandte Muriele ein. »Und ich war ganz in seiner Nähe.« »Der Geruch ist da.« Das Mädchen schlang die Hände ineinander und schloss sie zur Faust. »Ihr habt gesagt, der Bewahrte hätte Euch einen Fluch gegeben - einen Fluch gegen denjenigen, der Euren Gemahl und Eure Kinder getötet hat.« »Ja.« Alis Berrye nickte. »Und Ihr habt ihn angewendet?« »Ja. Glaubt Ihr, Robert ist verflucht?« »Oh, ganz bestimmt. Das ist ein Teil dessen, was ich fühle, allerdings nicht alles. Aber was für ein Fluch war das? Was sollte er bewirken?«
»Ich weiß es nicht genau«, gestand Muriele. »Der Bewahrte hat mir gesagt, was ich schreiben sollte, aber der Spruch war in einer Sprache, die ich nicht kannte. Ich habe ihn auf eine Bleifolie geschrieben und ihn in einen Sarkophag unter dem Horz in Eslen-des-Schattens gelegt.« »Unter dem Horz?« »In einer Grabkammer darunter, genauer gesagt. Es war sehr merkwürdig - ich glaube nicht, dass irgendjemand wusste, dass es sie gibt. Der Eingang war ganz hinten, wo das Unterholz am dichtesten ist. Ich musste auf allen vieren kriechen, um ihn zu finden.« Alis Berrye beugte sich vor und sprach mit drängender Stimme. »Wisst Ihr, wessen Grab es war?« »Nein, ich habe keine Ahnung«, antwortete Muriele. »Der Spruch - erinnert Ihr Euch noch an irgendwelche Worte? Wisst Ihr, an welchen Heiligen er gerichtet war?« 470 »Die Worte selbst waren zu fremdartig. Von der Heiligen hatte ich noch nie gehört, Mary-irgendwie.« Alis Berryes Lippen öffneten sich, und sie legte die Hand auf den Mund. »Marhirhebent«, fragte sie, und ihre Stimme bebte. »Das hört sich richtig an«, sagte Muriele. »Es waren mehrere h in dem Namen, das weiß ich noch. Ich erinnere mich, dass ich überlegt habe, wie man ihn wohl ausspricht.« »Grundgütige Heilige«, stieß das Mädchen schwach hervor. »Was habe ich getan?« »Ich ...« Ihre Stimme versagte. Sie schien starr vor Schreck. »Was habe ich getan?«, wiederholte Muriele beharrlich. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete die Jüngere. »Aber nichts kann diesen Fluch verhindern, versteht Ihr? Überhaupt nichts.« »Ich verstehe nicht«, erwiderte Muriele. »Ihr sagt, Robert ist verflucht. Meiner Ansicht nach ist daran nichts verkehrt - es ist genau das, was ich wollte.« »Wenn Ihr einen Menschen in Ihrem Namen verflucht habt, Majestät, konnte ihn nichts davor bewahren, nicht einmal der Tod. Und wenn er bereits tot war, als Ihr ihn verflucht habt ...« Sie blickte zu Boden. »Dann würde ihn das zurückbringen?«, fragte Muriele ungläubig. »Dann würde ihn das zurückbringen«, bestätigte Alis Berrye. »Und es ist etwas an dem Prinzen, das sich ... tot anfühlt.« Muriele legte die Stirn in die Hände. »Solche Dinge, die sind doch nicht wahr«, sagte sie. »Das kann doch nicht wirklich sein.« »Oh, das ist sehr wirklich, Majestät«, versicherte das Mädchen ihr. Muriele blickte wieder zu ihr auf. »Aber wieso denkt Ihr, dass Robert gestorben ist? Schließlich hatte er geplant, William umbringen zu lassen.« »Pläne können fehlschlagen. William hatte treue Männer bei sich, und es hat einen Kampf gegeben. Auf jeden Fall hat es reich471 lieh Menschen gegeben, die Robert genug gehasst haben, um ihn zu töten - und er war schrecklich lange vom Hof verschwunden.« »Das sind trotzdem nur Vermutungen«, entgegnete Muriele. »Das stimmt«, sagte Alis Berrye. »Aber es würde auch andere Dinge erklären, von denen ich gehört habe. Grauenhafte, unnatürliche Dinge, die es nicht geben sollte.« »Ich habe doch nur Robert verflucht -« Heftig schüttelte das Mädchen den Kopf. »Majestät, wenn er von den Toten zurückgekehrt ist, habt Ihr mehr getan, als nur einen einzigen Mann zu verfluchen. Ihr habt das Gesetz des Todes gebrochen, und das ist in der Tat etwas sehr Schlimmes.« 37. Kapitel Ein neuer Dienstherr Bitte«, flehte Leoff den Soldaten an, »könnt Ihr mir nicht sagen, was passiert ist, was ich getan haben soll?« »Weiß ich nicht«, erwiderte der Mann. Er war ein untersetzter Bursche mit aufgedunsenem, rotem Gesicht und einer unangenehmen, näselnden Stimme. »Am Tor war der Befehl ausgegeben worden, Euch zu schnappen, wenn Ihr auftaucht - und Ihr seid aufgetaucht. Das ist alles, was ich weiß. Also geht einfach weiter, und macht mir das Leben nicht mit einer Menge Fragen schwer, die ich nicht beantworten kann.« Leoff schluckte, fand sich jedoch damit ab, warten zu müssen. Sie befanden sich in einem Teil des Palasts, in dem er noch nie gewesen war - nicht dass das überraschend gewesen wäre, denn er war im größten Teil des Schlosses noch nicht gewesen. Den Hofsaal hatten sie bereits passiert, dorthin ging es also nicht. Sie schritten einen langen Gang mit hohen Türbögen und rotem Marmorboden hinunter und betraten dann einen großen Raum aus 472 Alabaster. Licht strömte durch breite, mit Vorhängen in Hellgrün und Gold drapierte Fenster herein. Die Teppiche und Wandbehänge waren in ähnlichen Farben gehalten. Als er die Männer erblickte, die in diesem Raum warteten, kribbelte seine Kopfhaut, und sein Herz ruckte unstet.
»Fralet Ackenzal«, sagte einer der Männer. »Oder soll ich Euch Cavaor nennen?« Leoff kannte das Gesicht nicht, die dissonante Stimme jedoch erkannte er sogleich wieder. Es war der Mann vom Deich, der, von dem Mery behauptet hatte, es wäre Prinz Robert. »Ich ... ich bedaure, Mylord«, stotterte er und verbeugte sich. »Ich weiß nicht, wie ich Euch anreden soll.« Der andere Mann war natürlich der Praifec. »Ihr werdet Prinz Robert nicht kennen«, sagte er, »aber er ist Euer neuer Regent. Ihr dürft ihn mit >Euer Hoheit< oder >mein Prinz< ansprechen.« Leoff verbeugte sich erneut und hoffte, dass das Zittern in seinen Beinen nicht zu sehen war. Wussten sie irgendwie, dass er sie gehört hatte? Wussten sie Bescheid? »Es ist mir eine große Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen, Euer Hoheit«, sagte er. »Und es ist mir eine Ehre, die Eure zu machen, Fralet Ackenzal. Wie ich gehört habe, habt Ihr diesem Land während meiner Abwesenheit einen großen Dienst erwiesen.« »Das war doch nicht der Rede wert, Euer Hoheit.« »Und ich habe außerdem vernommen, dass Ihr überaus bescheiden wärt, ein Wesenszug, für den ich wenig Verständnis aufbringen kann.« Der Prinz erhob sich und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Es freut mich, dass Ihr wohlauf seid, wenngleich ich sehe, dass Ihr verletzt wurdet.« Er zeigte auf den Verband um Leoffs Kopf. »Ihr wart auf Lady Grammes Ball, nicht wahr?« »So ist es, Euer Hoheit.« »Eine tragische Angelegenheit«, bemerkte der Prinz. »Es wird nicht wieder vorkommen.« »Mein Prinz, wenn ich fragen darf, ist Seiner Majestät etwas zugestoßen?« 473 Der Regent gab ein unerfreuliches kleines Lächeln zum Besten. »Ich habe Euch nicht herbringen lassen, Fralet Ackenzal, damit Ihr mir Fragen stellt. Zur gegebenen Zeit wird Euch die Lage begreiflich werden. Was ich im Moment gerne wüsste, ist, wo Ihr gewesen seid.« »W-wo ich gewesen bin, Euer Hoheit?«, stammelte Leoff. »Fürwahr. Als sich der Rauch verzogen hatte, wart Ihr auf dem Anwesen von Lady Gramme nirgends zu finden, und jetzt, fünf Tage später, taucht Ihr plötzlich wieder vor den Stadttoren auf.« Leoff nickte. »Jawohl, Sire. Wie Ihr Euch gewiss denken könnt, war ich völlig verängstigt und verwirrt. Wegen meiner Kopfverletzung war mir schwindlig, und ich habe im Dunkeln den Weg verloren. Ich bin herumgeirrt, bis ich zusammengebrochen bin. Ein Bauer hat mich gefunden und mich gepflegt, bis ich mich wieder auf den Weg machen konnte.« »Ich verstehe. Und Ihr wart allein, als Euch dieser Bauer gefunden hat?« »Ja, Sire.« Der Prinz nickte. »Ich glaube, Ihr kennt Lady Grammes Tochter Mery? Ihr habt sie darin unterwiesen, die Hammarharfe zu spielen?« »So ist es, mein Prinz.« »Ihr habt sie auf dem Ball nicht gesehen?« »Nein, Sire. Ich wusste gar nicht, dass sie dort war.« Der Prinz lächelte und kratzte sich am Kinnbart. »Sie war dort, und jetzt kann sie niemand finden. Es wurde versucht, Lady Gramme und ihren Sohn zu töten, während sie sich im Gewahrsam der Königin befanden, deshalb befürchten wir das Schlimmste.« Leoff versuchte, betroffen auszusehen. Es war nicht schwer. »Ich bete, dass ihr nichts passiert ist«, sagte er. »Sie ist ein entzückendes Kind und eine begabte Musikerin.« Wieder nickte der Prinz. »Ich hatte gehofft, Ihr wüsstet, wo sie sich aufhält.« »Ich bedaure, mein Prinz.« 474 Der Regent zuckte die Schultern. »Wie seid Ihr aus dem Haus entkommen?«, wollte er wissen. »Die Eingänge waren gut bewacht.« »Ich weiß es nicht mehr, Sire«, erwiderte Leoff. »Ich war völlig verwirrt.« »Ah«, sagte der Prinz. Er durchquerte den Raum, ließ sich in einen Sessel sinken und schnippte mit den Fingern. Sofort brachte ein Haushofmeister ihm einen Kelch mit Wein. »Wie wäre es«, erkundigte er sich, »wenn ich Euch sage, was geschehen ist?« »Euer Hoheit?« Der Regent trank einen Schluck und zog eine Grimasse. »Ihr seid von den lierischen Wachen der Königin gefangen genommen worden«, erläuterte er, »und habt fünf Tage lang in einer feuchten Zelle geschmachtet, bis ich davon erfahren habe und Ihr auf meinen Befehl hin auf freien Fuß gesetzt wurdet.« Leoff runzelte die Stirn. »Mein Prinz -« »Denn wenn es sich nicht so zugetragen hat«, fuhr der Prinz fort und begutachtete die Fingernägel seiner rechten Hand, »müsste ich dem Bericht aus einem nahe gelegenen Dorf Glauben schenken, dem zufolge ein Mann, der aussah wie Ihr, und ein kleines Mädchen, das aussah wie Mery, zusammen unterwegs waren. Dann müsste ich zu dem Schluss kommen, dass Ihr mich belogen habt, was ein Kapitalverbrechen wäre, selbst wenn Ihr es getan hättet, um ein kleines Mädchen zu beschützen, dem, wie Ihr ganz richtig vermutet habt, Gefahr von der Königinmutter droht.« Er blickte wieder auf und sah Leoff an. »Ich würde denken, meine Geschichte sagt Euch
mehr zu.« »Ich ... jawohl, Euer Hoheit«, antwortete Leoff und fühlte sich durch und durch elend. Prinz Robert lächelte und klatschte in die Hände. »Dann sind wir uns ja einig«, sagte er. »Und wenn Ihr zufällig etwas von Mery hört oder erfahrt, wo sie steckt - ihre Mutter vermisst sie, und ihr droht keine Gefahr mehr von der Königinmutter, also lasst das irgendjemanden wissen, wollt Ihr so gut sein?« 475 »Jawohl, Euer Hoheit.« »Sehr gut. Und jetzt - man hat mir zu verstehen gegeben, dass die Königinmutter eine Art Konzert bei Euch in Auftrag gegeben hat?« »Ja, Euer Hoheit. Für das Julfest, im Kerzenhain. Es sollte ein Festmahl geben, und alles Volk aus Stadt und Land sollte eingeladen werden.« »Eine wundervolle Idee«, sagte der Prinz. »Bitte reicht das Werk bei Seiner Eminenz dem Praifec zur Überprüfung ein.« »Jawohl, Euer Hoheit«, erwiderte Leoff. »Gut. Damit wäre ich mit Euch fertig.« Er entließ Leoff mit einer Geste. Sobald der Komponist allein war, lehnte er sich gegen eine Wand; seine Gliedmaßen fühlten sich an wie Wasser. Was sollte er tun? Wenn er ihnen sagte, wo Mery war, was würde dann mit ihr geschehen? Mit ihm? Wussten oder argwöhnten sie, dass er und das Mädchen ihre Verschwörung belauscht hatten? Suchten sie immer noch nach ihr? Doch irgendetwas musste er tun, und hierbei konnte er nur auf einen einzigen Verbündeten hoffen. Er straffte die Schultern und ging weiter. »Ja?«, erkundigte sich der Lakai. »Wie kann ich Euch behilflich sein, Fralet?« »Ich muss mit Mylady sprechen«, sagte Leoff. »Es handelt sich um eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit.« Der Lakai machte ein verdrossenes Gesicht, nickte jedoch und verschwand. Kurz darauf kam er zurück. »Bitte folgt mir.« Er führte Leoff in ein Wohnzimmer, dessen eine Wand von einem riesigen Wandbehang bedeckt war, der ein ländliches Idyll zeigte. Schäfer und bäurisch gekleidete Frauen veranstalteten ein Picknick neben einem Teich und ließen sich von einem bocksbeinigen Mann mit einer Harfe und drei Nymphen, die Flöte, Laute und Sackpfeife spielten, unterhalten. Lady Gramme sah verhärmt und aufgelöst aus, doch anstatt 476 ihre Schönheit zu schmälern, schien Unordnung sie irgendwie noch zu betonen. Sie verschwendete keine Zeit mit ihren üblichen Plaudereien. »Habt Ihr etwas von meiner Tochter gehört, Fralet Ackenzal?«, fuhr sie ihn an. »Sie lebt und ist wohlauf, Lady«, versicherte ihr Leoff. »Habt Ihr den Verstand verloren?«, fauchte sie. »Wisst Ihr, welche Strafe darauf steht, ein Kind zu entführen?« »Bitte, Mylady«, beteuerte Leoff, »ich habe sie nicht entführt. Ich habe nur versucht, sie in Sicherheit zu bringen.« »Nun.« Lady Gramme senkte den Blick und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Armlehnen ihres Sessels. Sie holte tief Atem und stieß ihn wieder aus, ehe sie ihm erneut in die Augen sah. »Ihr seid kein Vater, nicht wahr, Fralet Ackenzal?« »Nein, Lady, das bin ich nicht.« »Dann werdet auch nie einer«, riet sie ihm. »Es ist unglaublich lästig. Ich wollte nie eine Tochter, niemals, wisst Ihr. Sie war stets nichts als eine Bürde für mich, und dennoch, aller Vernunft zum Trotz und sehr gegen meinen Willen stelle ich fest, dass ich Gefühle für sie hege. Ich habe gedacht, sie wäre tot, Fralet Ackenzal, und das ist Eure Schuld.« »Lady, vergebt mir die Sorgen, die ich Euch bereitet habe, aber ich glaube, wenn ich nicht so gehandelt hätte, wie ich es getan habe, wäre sie jetzt wirklich tot.« Lady Gramme seufzte. »Ich bin erregt, und Ihr habt nicht Unrecht. Man hat versucht, mich und meinen Sohn zu vergiften, während wir im Gewahrsam der Königin waren. Ohne Zweifel hatte sie vor, auch Mery umzubringen.« Sie atmete tief durch. »Wohlan, vergessen wir das. Der Prinz will ohnehin, dass Ihr eine andere Geschichte erzählt, und ich halte es für unklug, sich ihm in dieser Angelegenheit in den Weg zu stellen. Sagt mir einfach, wo ich meine Tochter finden kann.« »Ich würde es vorziehen, sie selbst zu holen, Mylady«, erwiderte Leoff. »Wenn Ihr mir ein Pferd oder eine Kutsche zur Verfügung stellen könntet -« 477 Sie runzelte die Stirn. »Wieso wollt Ihr es mir nicht sagen?« »Weil ich sie in der Obhut von jemand anderem zurückgelassen habe, von jemandem, den ich nicht in die Folgen meiner Handlungen hineinziehen möchte. Ich hoffe, Ihr könnt das verstehen.« Nach einem Augenblick nickte sie brüsk. »Nun gut. Ich werde dafür sorgen, dass meine Kutsche Euch fährt.« »Mylady ? Dürfte ich vielleicht fragen, was ... äh ... was sich in meiner Abwesenheit ereignet hat? Es scheint
sich ... einiges geändert zu haben.« »Ihr habt es nicht vernommen?« »Nein, Mylady.« Sie lächelte leicht und lehnte sich zurück. »Prinz Robert ist von den Toten zurückgekehrt und hat sich gestern zum Regenten erklärt.« »Aber was ist mit Seiner Majestät König Charles?« »Muriele hat ihn irgendwie heimlich aus dem Schloss geschafft, zusammen mit ihren lierischen Wachen. Die Handwerksmeister haben die Stadt ebenfalls verlassen.« »Und die Königin?« »Die Königinmutter ist in Eslen geblieben«, sagte Lady Gramme. »Sie steht unter Arrest.« Sie spitzte die Lippen. »Wieso glaubt Ihr, dass meine Tochter immer noch in Gefahr ist?« Die plötzliche Rückkehr zu ihrem ursprünglichen Gesprächsthema verschlug Leoff ein wenig den Atem. »Ich habe nicht gesagt, dass ich denke, dass sie noch in Gefahr ist«, erwiderte er. »Nein, aber Ihr glaubt es.« »Ich ...« Er suchte nach einer Erklärung, die nicht enthüllen würde, was er gehört hatte. Falls Mery auf irgendeine Weise ums Leben käme, bevor sie nach Eslen zurückkehrte, wäre das lediglich eine weitere Waffe, die gegen die Königin eingesetzt werden würde. Er hatte bereits zugelassen, dass er selbst zu einem solchen Werkzeug geworden war - er würde Mery nicht sterben lassen, damit sie auch dazu gemacht wurde. »Ich habe nur so ein Gefühl«, murmelte er. »Aber ich glaube, wenn ich sie Euch erst zurückgebracht habe, ist sie in Sicherheit.« 478 »Und dort, wo sie jetzt ist, ist sie in Sicherheit?« Er dachte darüber nach - der Prinz hatte Berichte erhalten, dass er und Mery gemeinsam unterwegs gewesen waren, doch er hatte Mery nicht, woraus zu schließen war, dass er ihre Spur nicht bis zu Gilmer hatte verfolgen können. »Ich glaube schon, Mylady.« »Dann lasst sie fürs Erste bleiben. Ich schicke nach Euch, wenn ich bereit bin, sie von Euch abholen zu lassen.« »Ich danke Euch, Lady Gramme.« Sie sah ihn unverwandt an. »Nein - ich danke Euch, Fralet Ackenzal.« Er kehrte in seine Quartiere zurück und hoffte auf Ruhe und Frieden. Stattdessen fand er dort den Praifec vor, der die Notenblätter auf seinem Pult durchsah. Leoff verspürte ein Aufwallen ungewohnten, flammenden Zorns. »Euer Eminenz«, sagte er und versuchte, jegliches Gift aus seiner Stimme zu verbannen. »Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen«, sagte der Praifec. »Ich bin einfach hereingekommen.« »Euer Eminenz sind stets willkommen«, versicherte Leoff. »Dies hier ist das Stück, das die Königin in Auftrag gegeben hat?« »Der größte Teil davon, Euer Eminenz.« »Ich bilde mir ein, ein wenig von Musik zu verstehen«, bemerkte der Praifec. »Ehe ich der Geistlichkeit beigetreten bin, habe ich an der Akademie der heiligen Ome studiert. Mein Studiengebiet war das Schrifttum, aber Musik war selbstverständlich Pflicht.« »Welches Instrument habt Ihr gewählt?«, fragte Leoff. »Hauptsächlich die Laute, und natürlich die Harfe. Ich bin in Tero Galle geboren, wo die Harfe verehrt wird.« Er runzelte leicht die Stirn und betrachtete die Notenblätter. »Aber das hier verstehe ich nicht ganz. Was sind das für Worte, die da unter den Noten geschrieben stehen?« »Das soll gesungen werden, Euer Eminenz.« 479 »Zu den Instrumenten?« »Jawohl, Euer Eminenz.« »Wie kann man das hier dann als ernsthafte Komposition ansehen?«, wunderte sich der Praifec. »Es erscheint mir höchst gewöhnlich, wie etwas, das in einer Schenke oder auf der Straße aufgeführt werden könnte. Die Musik, die von diesem Hofe kommt, sollte die Seele erbauen, auch wenn sie für nicht wahrhaft edle Ohren gespielt wird.« »Ich verspreche Euch, Praifec, sie wird erbauen. Das hier ist etwas ganz Neues.« »Die Welt ist plötzlich voll von neuen Dingen«, sagte der Praifec. »Nur wenige davon sind gut. Aber fahrt fort, Fralet - erklärt mir dieses >Neue<.« »Es ist eine Vermählung von Drama und Musik, Euer Eminenz.« »Wie die Possenspiele, die man auf den Straßen hört?«, fragte der Praifec geringschätzig. »Nein, Euer Eminenz - und ja. Ein Lustspiel wird durch Gesang erzählt, und die Mimen spielen die Rollen. Ich habe vor, die Schauspieler selbst singen zu lassen, begleitet vom Orchester.« »Da scheint für mich kein großer Unterschied zu bestehen.« »Aber es ist ein großer Unterschied, Euer Eminenz. Ihre M... die Königinmutter hat mich gebeten, etwas zu schreiben, das nicht für den Adel sein soll, nicht für den Hof, sondern für das Volk, um ihm in diesen dunklen Zeiten Hoffnung zu geben. Dem Volk ist - wie Ihr gesagt habt - der Mummenschanz vertraut. Doch während die
Straßenvorstellungen, die ich gesehen habe, vulgär und schlecht gemacht sind, habe ich vor, den Menschen etwas zu geben, das ihre Seelen anrühren, sie, wie Ihr sagt, erbauen wird.« »So wie Ihr sie in Glastir erbaut habt, indem Ihr einen Aufruhr ausgelöst habt?« »Das war ein unglückliches Vorkommnis«, erwiderte Leoff. »Aber meine Musik war nicht schuld daran.« Hespero sagte nichts, sondern fuhr fort, die Noten durchzublättern. 480 »Dieser Dreiklang ist in der siebten Tonart geschrieben«, bemerkte er. »In der Tat, Euer Eminenz haben ein vortreffliches Auge.« »Dreiklänge in der siebten Tonart dürfen nicht verwendet werden«, erklärte der Praifec sehr bestimmt. »Sie haben eine disharmonische Wirkung auf den Geist.« »Ja, ja«, sagte Leoff. »Genau, Euer Eminenz. Das hier ist eine Stelle, wo es den Anschein hat, dass das Böse triumphiert. Aber wenn Ihr weiterblättert, dann seht Ihr hier -« »Die dritte Tonart«, unterbrach Hespero ihn. »Aber das hier sind nicht nur Dreiklänge, das sind ... für wie viele Instrumente ist das gedacht?« »Für dreißig, Euer Eminez.« »Dreißig? Unerhört. Wieso braucht Ihr drei Bassvithulen?« »Der Kerzenhain ist recht groß. Um über die Stimmen hinwegzudringen ... aber Ihr seht auch, hier und hier, wo sie alle zu verschiedenen Themen übergehen.« »Ich sehe es. Das ist außergewöhnlich umtriebig. Auf jeden Fall, von der siebten in die dritte Tonart zu wechseln »Von Verzweiflung zu Hoffnung«, warf Leoff ein. Der Praifec runzelte die Stirn und fuhr fort: »Heißt, erst eine heftige Gefühlsregung zu erzeugen und dann eine andere.« »Aber Euer Eminenz, das sollte Musik doch tun.« »Nein, Musik sollte die Heiligen erfreuen. Sie sollte erbauen. Sie ist nicht dazu gedacht, Gefühlswallungen hervorzurufen.« »Ich glaube, wenn Ihr es hören würdet, Euer Eminenz, so würdet Ihr feststellen -« Der Praifec winkte ihm mit seinen eigenen Notenblättern, zu schweigen. »Was für eine Sprache ist das?« »Almanisch.« »Wieso Almanisch, wenn Altvitellianisch für die menschliche Stimme genau das Richtige ist?« »Aber Euer Eminenz, die meisten Leute, die sich das Konzert anhören, können kein Altvitellianisch, und es ist ziemlich wichtig, dass sie verstehen, was gesungen wird.« 481 »Und worum geht es, in aller Kürze?« Leoff fasste die Geschichte zusammen, die Gilmer ihm erzählt hatte, einschließlich seiner eigenen Ausschmückungen. »Ich glaube, ich verstehe, warum Ihr Euch diese Erzählung ausgesucht habt«, bemerkte der Praifec. »Sie hat eine Art schlichten Reiz, der bei denen, für die sie gedacht ist, gut ankommen wird, und sie vertritt die Vorstellung von Treue gegenüber dem Herrscher, sogar bis in den Tod. Aber wo ist in alldem der König? Wo ist er in der Stunde der Not?« Er hielt inne und führte den gekrümmten Finger an die Lippen. »Wie wäre es damit?«, meinte er. »Ihr fügt noch etwas hinzu. Der König ist gestorben, vergiftet von seiner Gemahlin. Diese regiert durch ihre Tochter, die - allem, was recht und heilig ist, zum Trotz - als seine Nachfolgerin eingesetzt wurde. Die Stadt wird besetzt, und die Menschen schicken um Hilfe, doch sie wird ihnen verwehrt. Nachdem das Mädchen sich selbst geopfert hat, schwören die Eindringlinge in blinder Wut, die ganze Bevölkerung niederzumetzeln, und genau in diesem Moment erfährt man, dass der Sohn des Königs - den alle für tot hielten - am Leben ist. Er rettet die Stadt und kehrt zurück, um seinen rechtmäßigen Platz als König einzunehmen.« »Aber Euer Eminenz, das ist nicht das, was -« »Und ändert die Namen der Länder«, fuhr der Praifec fort. »Es würde in der gegenwärtigen Lage für zu große Spannungen sorgen, Hansa als den Bösewicht darzustellen. Nennt die Länder, lasst mich sehen ... ah, ich hab's. Tero Sacaro und Tero Ansacaro. Ihr könnt Euch ja denken, wer wer ist.« »Gibt es sonst noch etwas, Euer Eminenz?«, fragte Leoff. Er konnte fühlen, wie ihn der Mut verließ. »Durchaus. Ich werde Euch eine Liste mit Dreiklängen zukommen lassen, die Ihr in Eurem Stück nicht verwenden dürft, und Ihr werdet keine größeren Akkorde als den Dreiklang verwenden. Eure dreißig Instrumente mögt Ihr behalten, aber nur um der Lautstärke willen - Ihr werdet die Passagen, die ich kennzeichne, vereinfachen. Und vor allem dies: Stimme und Instrument werden nicht miteinander verbunden.« 482 »Aber Euer Eminenz, genau darum geht es doch gerade.« »Darum geht es Euch, aber dazu wird es nicht kommen. Die Instrumente werden ihre Passagen spielen, und dann können die Schauspieler ihren Text vortragen. Meinethalben können sie ihn auch singen, aber ohne Begleitung.« Er rollte die Seiten zusammen. »Ich borge mir das hier. Schreibt den neuen Text, mit meinen Zusätzen. Tut es auf Almanisch, wenn Ihr müsst, aber ich werde ihn vollständig übersetzen lassen und wahrscheinlich noch das eine oder andere hinzufügen, also hängt Euer Herz nicht zu sehr daran. In zwei Tagen bringe ich Euch die Seiten zurück. Dann habt Ihr zwei Tage Zeit, um sie zu meiner Zufriedenheit zu ändern, und danach werdet Ihr
umgehend mit den Proben beginnen. Ist das alles klar?« »Jawohl, Euer Eminenz.« »Kopf hoch, Fralet Ackenzal. Seht das Ganze so: Die Dienstherrin, die dieses Stück in Auftrag gegeben hat, ist nicht mehr in der Lage, Euch dafür zu entlohnen. Ihr habt Glück, dass Ihr hier überhaupt noch eine Stellung habt. Der Regent ist Euer neuer Dienstherr - gebt Acht, dass Ihr das nicht vergesst.« Er lächelte dünn und wandte sich zum Gehen. »Euer Eminenz?«, sagte Leoff. »Ja?« »Wenn ich so bald mit den Proben beginnen soll, muss ich die Musiker anstellen. Ich habe ein paar ins Auge gefasst.« »Stellt eine Liste zusammen«, wies der Praifec ihn an. »Man wird nach ihnen schicken.« Als der Praifec gegangen war, schloss Leoff die Tür und stützte sich mit geballten Fäusten auf die Hammarharfe. Und dann, sehr langsam, begann er zu grinsen. Nicht weil er glücklich war oder etwas komisch gefunden hätte, sondern weil er sich keine Sorgen mehr machte und keine Furcht mehr verspürte. Dieses Gefühl war von einer reinen, kalten Wut weggefegt worden, wie er sie noch nie empfunden hatte. Dieser Mann, dieser Popanz, der sich als Praifec bezeichnete, hatte gerade ein sehr großes Feld eingesät, und schon bald würde er die Früchte ernten. Wäre 483 Leoff ein Krieger, so würde er sein Schwert ergreifen und den Praifec niederstrecken, und Prinz Robert, und alle, die in Reichweite waren. Er war kein Krieger. Aber wenn er fertig war, würde der Praifec sich wünschen, dass Leoffs Waffe das Schwert wäre. Das gelobte er sich selbst und sämtlichen Heiligen, die er kannte. 38. Kapitel Der Nicwer Zuerst dachte Stephen, das Wasser selbst hätte sich zu eine Faust emporgewölbt, um Aspar zu zerschmettern, doch dann schälte sich aus der Faust ein breiter, flacher Kopf heraus, mit gelbgrünen Augen, die glühten wie Laternen. Der Schädel saß auf einem dicken, langen Hals, und das Wesen hatte eine Farbe, die irgendwo zwischen Olivgrün und Schwarz lag, und sah seltsam pferdeartig aus. Pferdeartig. Das ließ in seinem von den Heiligen gesegneten Gedächtnis sofort eine Glocke erklingen. Er presste die Handflächen gegen die Ohren. »Winna, haltet Euch -«, setzte er an, doch es war zu spät, da die Bestie bereits zu singen anfing. Der Ton schnitt durch seine Hände wie ein heißes Messer durch Talg, grub sich geradewegs in seinen Schädel und begann dort um sich zu schlagen. Er war wunderschön, genau wie die alten Legenden es behaupteten, doch für sein überempfindliches Bewusstsein war es eine grauenvolle Schönheit, die wie Hornissen stach und ihn nicht denken ließ. Durch einen roten Schleier sah er Aspar ruhig seinen Bogen hinlegen und auf das Geschöpf zugehen. Auch Winna fing an, ihm entgegenzugehen; Tränen strömten über ihr Gesicht. 484 Er ließ seine nutzlosen Hände sinken und hob Ehawks Bogen auf. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis Aspar direkt in den klaffenden Rachen des Wesens hineintappte. Er schrie, als seine zitternden Hände die Waffe hoben, versuchte den Lärm in seinem Kopf zu übertönen, sich an die kontrollierte Bewegung zu erinnern, mit der Aspar immer schoss. Er zog durch und ließ los. Der Pfeil prallte harmlos vom Schädel des Ungetüms ab. Der Ton, den es sang, veränderte sich, und er spürte, wie seine angespannten Muskeln sich lockerten und ihn eine eigenartige Freude durchströmte, als wäre er betrunken, glücklich und im Warmen. Er ließ den Bogen fallen und merkte, wie sich ein törichtes Grinsen auf seinem Gesicht breit machte. Dann lachte er, als der Nicwer genau das war es, ein Nicwer - sein Maul auf Aspar herabsenkte. Jäh zuckte der Hals wie eine Peitschenschnur zurück; das wundervolle Lied wurde von einem schmerzlichen Brüllen ersetzt. Etwas zischte an seinem Ohr vorbei, und sein Auge erhaschte den verschwommenen Schemen eines Pfeils im Flug. Dieser traf den Nicwer unterhalb des Kiefers, und Stephen sah, dass dort bereits ein Schaft steckte, tief in einer Art Hautsack oder Kehllappen, den er noch gar nicht bemerkt hatte. Er drehte sich in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war, und sah Leshya die Straße hinunter auf sie zurennen, noch immer fünfzig Ellen weit entfernt. Eigentlich hätte sie noch auf dem Hügel sein sollen, doch er war froh, dass sie nicht dort war. Er hob den Bogen auf und stürzte auf Winna zu. Aspar fühlte sich, als wäre alle Gute in ihm herausgerissen worden - morgendliches Erwachen in den Kronen der Eiseneichen, die Stille des tiefen Waldes, das Gefühl von Winnas Haut unter seinen Fingerspitzen - alles, was wundervoll war, war verschwunden. Alles, was geblieben war, war das hässlichste Biest, das er jemals gesehen hatte, und es schickte sich gerade an, mit scharfen, glän485 zend schwarzen Zähnen zuzubeißen. Mit einem heiseren Schrei warf er sich zur Seite und bemerkte plötzlich den Gestank, wie der aufgeblähte Bauch eines schon lange verendeten Pferdes oder der Atem eines Geiers. Mit Axt und Dolch in der Hand fuhr er wieder hoch und kam sich albern vor. Jetzt sah er das Ungeheuer besser, als es sich auf den Steg hinaufwälzte. Der Kopf ähnelte dem eines Otters, war so keilförmig wie der einer Viper
und doppelt so groß wie der gewaltigste Pferdeschädel, den er je zu Gesicht bekommen hatte. Genau wie der Gryffin und der Uttin war es mit Schuppen bedeckt, allerdings auch mit öligem, grün-schwarzem Pelz. Zuerst glaubte er, der Leib des Ungetüms wäre wie der einer riesigen Schlange, doch noch während er dies dachte, stemmte es sich plötzlich mit kurzen, dicken Vorderpfoten auf den Steg empor. Die Pfoten hatten Schwimmhäute und Krallen, die so lang waren wie sein Arm. Abgesehen von einer Art gurgelndem Pfeifen nunmehr stumm, kam es auf ihn zugeschwankt und zerrte den Rest seiner Körpermasse aus der Tiefe des Flusses. Er wich zurück und war sich nicht sicher, was er tun sollte. Wenn er das Vieh abermals singen ließ, würde er gewiss völlig idiotisch in dessen Rachen marschieren, so wie er es eben beinahe getan hätte. Wenigstens wusste er jetzt, was mit den Bewohnern von Whitraff passiert war. Sie waren lächelnd zum Fluss hinuntergegangen und verschlungen worden. Eine Geschichte der Ingorn über etwas Derartiges fiel ihm ein, doch er wusste nicht mehr, wie das Ungeheuer genannt wurde. Er hatte sich noch nie viel aus Märchen über Geschöpfe gemacht, die es nicht gab. Ein weiterer Pfeil erschien in dem Kehlsack, doch abgesehen davon, dass die Bestie ihren tödlichen Lockruf nicht mehr ausstoßen konnte, wirkte sie einigermaßen ungerührt. Sie war jetzt ganz aus dem Wasser herausgekommen, mit Ausnahme des Schwanzes. Die Hinterbeine waren genauso gedrungen wie die vorderen und zwei Pferdelängen von diesen entfernt, sodass der Bauch des Geschöpfs über die Holzplanken schleifte. Obgleich es unbeholfen aussah, bewegte es sich, als es erst einmal an Land war, mit einer 486 Geschwindigkeit, die Aspar nicht erwartet hätte. Es fuhr auf ihn los, und er duckte sich zur Seite, wobei er mit der Axt auf den Nacken der Bestie einschlug. Zu seiner Überraschung hinterließ die Axtklinge eine Kerbe in den Schuppen, wenn auch keine sehr tiefe. Er war noch immer verblüfft, als der Kopf heftig zu ihm herumschwang und ihn von den Beinen riss. Er rollte sich ab und hatte das Gefühl, seine Rippen wären gebrochen, dann kam er wieder hoch und sah den Kopf erneut auf sich zuzucken. Aus seiner geduckten Stellung heraus wand Aspar sich seitlich aus dem Weg, zog den Dolch über die entblößte Kehle und fühlte, wie sich das Fleisch zu einer langen, unregelmäßigen Schnittwunde teilte. Blut spritzte auf seinen Arm, und diesmal wich er dem Gegenangriff aus und rannte los. Sobald er sich von der Bestie entfernt hatte, prasselten Pfeile auf sie ein. Die meisten prallten ab, denn jetzt hatte sie den Kopf gesenkt, um ihre verwundbare Kehle zu schützen. Aspar sah, dass Leshya und Stephen gleichzeitig schössen. Das Ungetüm blutete, jedoch nicht so stark, wie Aspar gehofft hatte. Trotzdem schien es nach kurzem Zögern zu beschließen, dass es genug hatte. Es rannte zurück zum Fluss, glitt hinein und verschwand unter der Wasseroberfläche. Aspar blieb keuchend zurück und fragte sich, ob das Biest wohl giftig war, wie der Gryffin. Doch obwohl er dort, wo das Blut seine Haut berührt hatte, ein leichtes Brennen fühlte, war das nicht mit jenem augenblicklichen, krankhaften Fieber zu vergleichen, das er verspürt hatte, als er es mit dem anderen Ungeheuer zu tun gehabt hatte. Bei Leshya und Winna war das etwas anderes. Winna kauerte auf Händen und Knien und übergab sich, und Leshya stützte sich schwer auf ihren Bogen; die blauen Adern ihres Gesichts traten deutlich unter der Haut hervor. Stephen schien wohlauf zu sein. Aspar ging zu Winna hinüber und kniete neben ihr nieder. »Hat das Vieh dich berührt?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« 487 »Dann wird alles wieder gut«, sagte er leise. Er streckte die Hand aus, um ihr über den Kopf zu streichen. »Nicht!«, rief Leshya. »Das Blut.« Wenige Zoll von Winnas Kopf entfernt hielt Aspar inne, dann zog er die Hand weg und ging davon. »Werlic«, gab er der Sefry Recht. Leshya nickte. »Der Blick des equudscioh ist nicht tödlich, nicht wie der einiger anderer sedhmhari, aber sein Blut würde uns verseuchen.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ich frage mich nur, wieso es Euch nicht verseucht hat. Oder warum unser Priester hier von seinem Lied nicht ebenso sehr betroffen war wie Ihr beide.« »Ihr wisst, was das für ein Wesen ist?«, fragte Aspar. »Nur aus Erzählungen«, antwortete die Sefry-Frau. »Erklären die Erzählungen auch, wie es das mit uns machen konnte, bloß indem es ... indem es geblökt hat?«, verlangte Aspar zu wissen. Er vermisste es immer noch, diesen Klang, dieses vollkommene Gefühl. Sollte er es wieder hören ... »Es gibt bestimmte Töne und Harmonien, die eine solche Wirkung auf die Menschen haben können«, sagte Stephen. »Es heißt, der Schwarze Narr hätte Melodien geschaffen, die so mächtig waren, dass sich ganze Heere in ihre Schwerter stürzten, als sie sie vernommen haben. Man sagt, er wäre von einer Kreatur dazu inspiriert worden, die ekhukh genannt wurde. Auf Almanisch heißt diese Bestie Nicwer, auf Lierisch eq odche. Ich glaube, in der Sprache des Königs sagt man Nix, wenn ich mich recht an meine Phay-Märchen erinnere.« »Schön, jetzt weiß ich, wie man es in fünf verschiedenen Sprachen nennt«, knurrte Aspar. »Und was ist das für ein Vieh?« Leshya schloss die Augen und schwankte unsicher hin und her. »Es ist einer der sedhmhari, wie ich gesagt habe.
Er ist nicht tot, wisst Ihr, und er liegt wahrscheinlich nicht einmal im Sterben. Wir sollten uns auf den Hügel zurückziehen, wenn wir darüber reden wollen. Und Ihr müsst Euch das Blut abwaschen, unseretwegen. Auch wenn Ihr auf irgendeine Art und Weise immun seid, wir sind es nicht.« 488 »Werlic«, stimmte Aspar ihr zu. »Tun wir das.« Sie stellten fest, dass Ehawk trotz seiner Wunde den halben Hügel hinuntergekrochen war. »Das Lied«, keuchte der Junge. »Was war das?« Aspar überließ das Erklären den anderen, während er sich waschen ging. Er fand einen kleinen Bach, der den Hügel hinabfloss. Dort zog er seinen Lederpanzer und sein Hemd aus und weichte sie ein, während er sich Arme und Gesicht mit einem Lumpen wusch. Nachdem er fertig war, schien es Leshya und Winna besser zu gehen. Als er näher kam, deutete Leshya auf den Fluss. »Ich habe ihn von hier oben gesehen, wie er sich unter Wasser bewegt hat. Wir sollten ihn sehen können, wenn er wieder auftaucht.« »Ja«, knurrte Aspar. »Deshalb habt Ihr auch Euren Posten verlassen.« »Von hier oben konnte ich nicht auf ihn schießen«, wandte sie ein. »Und außerdem hat Ehawk weiter aufgepasst.« »Ich beschwere mich ja gar nicht«, beschwichtigte Aspar. »Wir drei wären jetzt in seinem Bauch, wenn Ihr nicht gekommen wärt.« »Wieso hatte sein Lied keine Wirkung auf Euch?«, fragte Winna scharf. »Ich bin eine Sefry«, antwortete Leshya. »Unsere Ohren sind anders gemacht.« Sie bedachte Stephen mit einem belustigten Lächeln. »Aus Menschenmusik mache ich mir auch nicht besonders viel.« Winna zog bei diesen Worten eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts. Stephen dagegen schon. »Trotzdem«, beharrte er, »woher wusstet Ihr, dass es Euch nicht genauso betören würde wie uns?« »Ich wusste es nicht«, gab die Sefry-Frau zurück. »Aber es ist gut, das jetzt zu wissen, nicht wahr?« Winna betrachtete sie. »Danke«, sagte sie. »Danke, dass Ihr uns das Leben gerettet habt.« 489 Leshya zuckte die Achseln. »Ich habe Euch doch gesagt, wir stecken alle zusammen in dieser Geschichte drin.« »Wie töten wir das Biest also?«, wollte Aspar wissen. »Ich glaube, wir töten es gar nicht«, erwiderte Stephen. »Wieso das?« »Vielleicht könnten wir es so lange mit Pfeilen beschießen, bis es irgendwann stirbt, wenn wir genug Zeit hätten, aber die haben wir nicht. Der Pfad der Schreine muss fast fertig sein. Aspar, wir müssen verhindern, dass sie ihr Werk vollenden.« »Aber wir haben doch die Anleitung für den letzten Schrein«, wandte Winna ein. »Ja«, erwiderte Stephen, »was lediglich bedeutet, dass sie einen Reiter nach Eslen schicken müssen, zum Praifec. Das verschafft uns ein bisschen mehr Zeit, aber nicht bis nächsten Monat. Der Nicwer hat seine Stimme verloren, und das ist seine gefährlichste Waffe. Wir müssen es den Flussschiffern überlassen, ihn zu töten.« Er wandte sich an Leshya. »Ihr habt ihn einen sedhmhari genannt. Was habt Ihr damit gemeint? Ist das ein SefryWort?« »So hat Mutter Gastya den Gryffin genannt«, sagte Winna. Leshyas Augen wurden kreisrund. »Ihr habt mit Mutter Gastya gesprochen?«, stieß sie offenkundig verblüfft hervor. »Ich dachte, sie wäre tot.« Aspar erinnerte sich an den letzten Blick, den er auf die alte Frau geworfen hatte, wie sie scheinbar aus nichts als Gebeinen bestanden hatte. »Vielleicht war sie das auch«, sagte er. »Aber das tut nichts zur Sache.« Leshya fügte sich mit einem Schulterzucken. »Es gibt keine echte Sefry-Sprache«, erklärte sie. »Wir haben sie schon vor langer Zeit aufgegeben. Jetzt benutzen wir alles, was die Menschenleute um uns herum sprechen, aber wir behalten auch alte Wörter. Sedhmhari ist eines davon. Es bedeutet >Dämon des Sedos<.« »Sie stehen mit den Sedoi in Verbindung?«, fragte Stephen. »Gewiss habt Ihr das doch gewusst«, sagte Leshya. »Der Gryffin hat die Sedoi abgeschritten, als Ihr ihn zum ersten Mal gesehen habt.« 49° »Ja«, warf Aspar ein. »So finden die Kirchenleute diese Ungeheuer.« »Aber Ihr meint, dass da eine tiefere Verbindung besteht«, drängte Stephen beharrlich. »Ja«, antwortete Leshya. »Sie werden durch die Macht der Sedoi hervorgebracht, werden von ihnen genährt. In gewisser Weise sind sie Quintessenzen der Macht des Sedos.« Stephen schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn. Dann wären sie Quintessenzen der Heiligen selbst.« »Nein«, entgegnete Leshya behutsam. »Dann wären die Heiligen Quintessenzen der Macht des Sedos, genau wie die sedhmhari. « Aspar hätte beinahe laut gelacht, als Stephens Mund aufklappte. Einen Augenblick lang schien er derselbe unbedarfte Knabe zu sein, dem er vor Monaten auf der Königsstraße begegnet war. »Das ist Ketzerei«, sagte er schließlich.
»Ja«, erwiderte Leshya trocken. »Und wäre es nicht schrecklich, einer Kirche zu widersprechen, die Kinder opfert, um die Dunklen Heiligen zu laben? Ich schäme mich entsetzlich.« »Trotzdem...« Stephen brachte seinen Gedanken nicht zu Ende, doch seine Miene wurde immer verbissener und nachdenklicher. »Mir scheint, das meiste hiervon spielt im Moment keine große Rolle«, mischte sich Winna ein. »Worauf es ankommt, ist, den letzten Sedos zu finden, diesen Gebogenen Hügel.« »Sie hat Recht«, stimmte Aspar ihr zu. »Wenn wir keine Zeit haben, den Nicwer zur Strecke zu bringen, dann haben wir auch keine Zeit dafür, dass Ihr beide hier herumsteht und eine Woche lang Bücherweisheiten austauscht.« Widerstrebend pflichtete Stephen ihm mit einem Nicken bei. »Ich habe auf meiner Karte nachgesehen«, sagte er, »aber ich habe keinen Eintrag gefunden, der irgendwelche Ähnlichkeit mit Khrwbh Khrwkh hätte. Der Logik nach muss das im Osten sein.« Er kniete nieder und breitete die Karte auf der Erde aus, damit alle sie betrachten konnten. »Wieso?«, wollte Aspar wissen. 491 »Wir kennen die Reihenfolge der Schreine aus der Beschwörungsformel, und wir wissen, wo der erste war. Die anderen haben uns immer weiter nach Osten geführt. Die meisten Schreinpfade neigen dazu, in ziemlich gleichmäßigen Linien oder Bögen zu verlaufen.« »Augenblick«, sagte Winna. »Was ist mit dem Sedos, wo sie mich opfern wollten? Das war in der Nähe von Cal Azroth, wäre also im Norden.« Stephen schüttelte den Kopf. »Dort haben sie ein vollkommen anderes Ritual durchgeführt. Der Sedos damals war nicht Teil eines Pfades der Schreine, sondern er wurde ausschließlich dazu benutzt, sich der Wachen der Königin zu bemächtigen. Nein, dieser Schreinpfad führt nach Osten.« Aspar sah zu, wie Stephens Zeigefinger einen flachen Bogen beschrieb, über das hinweg, was der Daw-Fluss sein musste, und in die Ebene, in die Nähe der Stelle, wo sich heute Dunmrogh befand. »Das hier ist der Daw, und das dort der Sefodh-Fluss?«, fragte Aspar. »Ja«, antwortete Stephen. »So weit hat sich der Wald erstreckt - bis ganz nach Hornladh hinein? Kein Wunder, dass der Dornenkönig wütend ist. Der Wald ist nur noch halb so groß, wie er einmal war.« »Viel davon ist während der Magierkriege vernichtet worden«, erklärte Stephen. »Daran kann der Dornenkönig uns ja wohl kaum die Schuld geben.« Leshya schnaubte. »Natürlich kann er das. Ihn schert es nicht, welche Menschenleute seinen Wald zerstört haben, nur dass er zerstört worden ist.« »Es gibt noch ein Eiseneichengehölz in Hornladh«, bemerkte Aspar. »Ich bin einmal auf dem Weg nach Paldh dort durchgekommen. Hatte einen komischen Namen - Prethsorucaldh.« »Prethsorucaldh«, wiederholte Stephen. »Das ist wirklich ein sonderbarer Name.« »Ich spreche nicht gut Hornisch«, gab Aspar zu. »Die Endung caldh bedeutet einfach >Wald<«, erläuterte Ste492 phen. »Preth heißt >Hain<. Soru heißt, glaube ich, >Laus< oder >Wurm< oder so etwas.« »Hain-Wurm-Wald?«, sagte Leshya. »Das klingt nicht gerade besonders sinnvoll. Warum sollten sie es im selben Namen einen Hain und einen Wald nennen?« Stephen nickte. »Das klingt nicht sinnvoll, was bedeutet, dass es ursprünglich wahrscheinlich kein hornischer Name war. Es war irgendetwas, das sich wie >Prethsoru< angehört hat, also haben sie es mit der Zeit einfach durch Wörter ersetzt, die für sie eine Bedeutung hatten.« »Wie meint Ihr das?«, fragte Leshya. Sie klang genauso verwirrt, wie Aspar zumute war. »So wie dieser Ort hier, Whitraff«, erklärte Stephen. »Auf Oostisch heißt das >Weiße Stadt<, aber von der Karte her wissen wir, dass der ursprüngliche Name Vhydhrabh gelautet hat, das heißt Hülsenholz, durch das Vitellianische zu >Vitraf< verballhornt. Als sich Menschen hier niedergelassen haben, die Oostisch gesprochen haben, haben sie den Namen gehört und gedacht, es hieße >Weiße Stadt<, also ist es dabei geblieben. Versteht Ihr?« »Davon kriege ich Kopfschmerzen«, knurrte Aspar. »Soll das alles irgendetwas nützen?« »>Preth-wie-auch-immer< klingt aber gar nicht wie Khrwbh Khrwkh«, wandte Winna zaghaft ein. »Jedenfalls nicht für mich.« »Nein, überhaupt nicht«, pflichtete Stephen ihr bei. »Aber das erinnert mich an ...« Er hielt inne. »Die Karte ist vitellianisch; sie wurde um die Zeit gezeichnet, als die Hegemonie gerade die Herrschaft über dieses Gebiet übernommen hatte. Die meisten Namen darauf stammen ursprünglich aus dem Alotersianischen oder dem Vadhiianischen. Aber später muss es vitellianische Namen für Städte und wichtige Orte gegeben haben.« »Habt Ihr noch eine Karte aus einer späteren Zeit?«, fragte Leshya. »Nein, nicht von dieser Gegend«, antwortete Stephen. »Und ich sehe immer noch nicht, wie Khrwbh ...« Wieder verstummte er und schien ins Leere zu starren. Manchmal beunruhigte es 493
Aspar, wie rasch und seltsam Stephens Verstand arbeitete, seit er den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten hatte. Nicht dass er nicht von Anfang an seltsam gearbeitet hätte. »Das ist es«, murmelte Stephen. »Das muss es sein.« »Was ist was?«, wollte Aspar wissen. »Sie haben es übersetzt.« »Was übersetzt?« »Ortsnamen sind komisch«, sagte Stephen. Seine Stimme klang immer erregter - wie stets, wenn er etwas ausgeknobelt hatte. »"Wenn ein neues Volk mit einer neuen Sprache irgendwohin kommt, behalten sie den alten Namen manchmal bei und haben keine Ahnung, was er bedeutet. Manchmal verbiegen sie ihn so, dass er eine Bedeutung bekommt, wie bei Whitraff. Und manchmal, wenn sie wissen, was der Name bedeutet, übersetzen sie ihn in ihre eigene Sprache. Ehawk, wie nennt dein Volk den Königswald?« »Yonilhoamalho«, antwortete der junge Bursche. »Und das heißt?«, drängte Stephen. »>Wald des Königs<«, antwortete Ehawk. »Genau. In der Sprache der Magierkönige hieß er >Khadath Rekhuz<. Die Hegemonie hat ihn >Lov Regatureis< genannt, und während der lierischen Regentschaft hieß er >Cheldet de Rey<. Auf Ootisch heißt er >Holt af sa Kongh<, und als Virgenyanisch zur Sprache des Königs wurde, haben wir angefangen, ihn den Königswald zu nennen. Aber die Bedeutung ist nach tausend Jahren immer noch dieselbe, versteht Ihr?« »Und das alles bedeutet jetzt was?«, brummte Aspar. Er war ein wenig verstimmt, weil er noch immer nicht begriff, wo all dies hinführte, und er wusste, dass er sich töricht vorkommen würde, wenn Stephen zum Schluss kam. »Ich glaube, >Prethsoru< stammt von dem vitellianischen Peros Urus ab«, verkündete Stephen triumphierend. »Hurra«, sagte Aspar. »Und was zum Sceat heißt das?« »>Gebogener Hügel<«, antwortete Stephen ein wenig zu selbstgefällig. »Könnt Ihr mir jetzt folgen?« 494 »Nein, ich kann nichts von alldem folgen«, schoss Aspar zurück. »Das ist eine Brücke aus Nebel.« »Wahrscheinlich«, gab Stephen zu. »Und wenn ich Euch recht verstehe, sagt Ihr, wir sollten Hals über Kopf zu einem "Wald in Hornladh reiten, mit nichts als Grundlage außer diesem albernen Wortspielchen?« »Genau«, erwiderte Stephen prompt. »Und - lasst uns das klarstellen - nicht einmal Ihr glaubt, dass Ihr damit Recht habt?« »Es ist ein Schuss ins Dunkel«, räumte Stephen ein. Aspar kratzte sich am Kinn. »Na, dann lasst uns aufbrechen«, sagte er. »Das sind mindestens zwanzig Meilen.« »Wartet!«, protestierte Leshya. »Wenn er sich irrt -« »Er irrt sich nicht«, entgegnete Aspar. »Und was ist mit dem Nicwer?«, fragte Ehawk. »Wir müssen immer noch über den Fluss.« »Eine Meile flussabwärts ist eine Furt«, erklärte Aspar. »Wenn er uns dorthin folgt, können wir ihn da wenigstens sehen. Danach können wir das Stück zur Alten Königsstraße zurückreiten. Die führt geradewegs nach Dunmrogh.« Er nickte Stephen und Winna zu. »Ihr beide helft Ehawk beim Aufsitzen. Leshya, Ihr kommt mit mir, und wir besorgen uns ein paar Vorräte aus der Schenke.« Er bemerkte Winnas Stirnrunzeln und verspürte einen kurzen Anflug von Verdruss. Leshya war die Einzige von ihnen, die gegen das Lied des Nicwer immun war. War Winna denn nicht klar, dass es das Vernünftigste war, wenn die Sefry-Frau mit ihm in die Stadt zurückritt? Schließlich konnte es im Fluss mehr als eines von diesen Ungeheuern geben. Doch er sagte nichts. Er würde sich nicht die Blöße geben, etwas zu erklären, das eigentlich völlig verständlich war. Winna hatte noch eine Menge zu lernen. »Behaltet den Fluss immer im Auge«, riet er stattdessen. »Schreit, wenn ihr etwas seht. Und stopft euch etwas in die Ohren.« »Das solltest du auch tun«, gab Winna schroff zurück. 495 »Dann kann ich euch doch nicht schreien hören, oder?«, entgegnete er und machte sich auf den Weg in die Stadt. Leshya folgte einen Schritt hinter ihm. 39. Kapitel Schwesternschaft Einen Moment lang war Annes Zunge vor Überraschung wie gelähmt. »Verzeihung?«, fragte sie schließlich. »Wen meint Ihr? Ich glaube, Ihr habt mich mit jemandem verwechselt.« »Das habe ich nicht«, erwiderte Osne. »Man hat mich wissen lassen, dass Ihr möglicherweise hier vorbeikommen würdet. Glaubt Ihr, es war ein Zufall, dass mein Mann Euch gefunden hat?« Sie legte die Hände auf den Tisch, die Handflächen nach oben. »Schwester Ivexa«, sagte sie leise. »Eine der Schwestern vom Konvent der heiligen Cer ist bei dem Überfall nicht umgekommen, und der Konvent hat viele Verbündete im ganzen Land. Die Kunde von Eurer Not und Euren Verfolgern hat sich rasch verbreitet.« Anne kam es vor, als sei das Einzige, worauf sie sich fortbewegen konnte, eine Schwertschneide unter ihren
Füßen. Die simple Vorstellung, dass jemand tatsächlich wusste, wer sie war, und ihr helfen wollte, statt ihr nach dem Leben zu trachten, war fast zu viel für sie. Der Gedanke prallte hart gegen die Tatsache, dass dies lediglich ein weiterer, kunstvoll getarnter Verrat sein könnte. Sie war viel zu müde, um zu überlegen, was wahrscheinlicher war. »Wenn Ihr meinen Tod wolltet, dann hättet Ihr das haben können«, sagte sie. »Ich wünsche Euch nichts Schlechtes, Anne«, versicherte Osne ihr. 496 »Es ist lange her, dass es mir leicht gefallen ist, Worten wie diesen zu trauen.« Anne legte eine Hand flach auf den Tisch, fühlte die Festigkeit des Holzes. »Wer hat das Massaker überlebt?«, wollte sie wissen. »Ihr kennt sie nicht als Schwester«, erwiderte Osne. »Und in gewisser Hinsicht ist sie auch keine - sie ist mehr.« Da wusste Anne Bescheid, ohne auch nur nachzudenken, als habe sie es immer gewusst. »Die Gräfin Orchaevia.« Osne nickte. »Unglücklicherweise seid Ihr von ihren Ländereien geflohen, ehe sie wusste, was vorging. Aber jetzt seid Ihr wieder unter Freunden.« »Was wollt Ihr von mir?«, fragte Anne vorsichtig. Osne streckte den Arm über den Tisch und ergriff ihre Hand. »Ich will Euch lediglich helfen, nach Eslen zurückzukehren und Eure Bestimmung zu erfüllen.« Anne fühlte die schwielige Hand in der ihren, ebenso fest und wirklich wie der Tisch. »Ihr ... Ihr seid eine Schwester des Konvents, Osne?« »Ich habe dort gelernt«, erwiderte die Ältere. »Ich habe die Gelübde nicht abgelegt, aber trotzdem bin ich zur Stelle, wenn sie rufen. Ich würde nicht alles für den Konvent der heiligen Cer riskieren - nicht mein Leben oder das Leben meines Mannes und meiner Söhne -, aber ich werde es für Euch riskieren, Anne Dare. Ich habe gesehen. Die Glaubenden haben mir Träume gesandt.« »Die Glaubenden!«, rief Anne. »Ihr wisst von ihnen? Wer sind sie?« »Manche sagen, sie seien lediglich sehr mächtige Seherinnen, andere behaupten, sie seien so alt wie die Welt, Göttinnen des Schicksals. Sogar die Schwestern im Konvent haben sich darüber gestritten. Ich für meinen Teil glaube, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Meinungen liegt. Was man nicht leugnen kann, ist ihre Weisheit. Ob sie nun Jahrhunderte oder Äonen alt sind, sie haben mehr von dieser Welt gesehen als wir, und sie wissen sehr viel mehr über ihre Zukunft.« Sie hielt inne. »Ihr habt sie gesehen, mit ihnen gesprochen?« 497 »Mit dreien von ihnen«, bestätigte Anne. Osne seufzte. »Ich war nie so gesegnet, dass ich gerufen worden wäre. Ich habe ihre Stimmen in meinen Träumen vernommen, habe kurze Blicke auf das erhascht, was sie sehen, das ist alles. Ihr seid eine vom Glück begünstigte junge Frau.« »Ich fühle mich aber gar nicht vom Glück begünstigt«, wehrte Anne ab. »Ich fühle mich, als säße ich in einer Falle.« »Wir sitzen alle in einer Falle«, erwiderte Osne. »Wenn Ihr so darüber denken wollt.« »Kann man denn anders darüber denken?«, fragte Anne. »Ja«, sagte Osne. »Wir sind alle wichtig. Jede von uns mag vielleicht nur ein Faden sein, aber ohne Fäden gibt es keinen Wandbehang.« »Wie kann dann ein Faden wichtiger sein als die anderen?« »Manche Fäden sind Ketten- und andere Schussfäden«, antwortete Osne. »Die Kettenfäden müssen da sein, damit die anderen hindurchgewoben werden können. Die Kette muss zuerst da sein.« »Ihr seid genauso schlimm wie die Glaubenden«, seufzte Anne. Osne lächelte und fasste ihre Hand fester. »Sie haben Euch gesagt, was Ihr tun müsst, nicht wahr? Und sie haben zumindest angedeutet, warum.« Anne bestätigte dies mit einem Nicken. »Es ist ja nicht so, als würde ich mich dagegen wehren«, sagte sie. »Ich habe mich doch bemüht, nach Eslen zurückzukehren.« »Und jetzt werdet Ihr auch zurückkehren«, gelobte Osne. »Mein Mann und meine Söhne werden Euch über den Fluss bringen und Euch an Euren Feinden in der Stadt vorbeilotsen. Sie werden Euch nach Eslen geleiten.« »Ich kann nicht gleich nach Hause gehen«, wandte Anne ein. »Noch nicht.« »Aber Ihr habt doch gerade gesagt, dass das Euer Ziel sei.« »Die beiden Männer, die mich beim Konvent gerettet und mich seither beschützt haben, sind von den Reitern gefangen genommen worden. Ich muss sie zuerst retten.« Osnes Stirn legte sich in sorgenvolle Falten. »Das mit Euren 498 Freunden tut mir Leid«, sagte sie. »Aber sie sind nicht Eure vordringlichste Pflicht.« »Vielleicht nicht«, entgegnete Anne, »aber ich werde sie nicht einfach sterben lassen. Ich muss etwas unternehmen.« Osne schloss die Augen. »Das ist nicht der Weg, den Ihr einschlagen sollt.«
»Ich kann einen anderen Weg wählen?« Osne zögerte. »Ja. Aber dann wird die Zukunft undeutlich.« »Soll sie nur. Wenn ich meinen Freunden nicht die Treue halte, wem kann ich dann treu sein? Was kann ich dann irgendjemandem nützen?« Osne schloss einen Moment lang die Augen. »Wie viele Reiter sind mit Euren Freunden unterwegs?« »Artore hat sie gesehen. Er hat gesagt, es wären drei.« »Dann werde ich Artore und meine Söhne hinter ihnen herschicken und einen sicheren Platz für Euch finden, bis sie zurückkommen.« »Nein«, widersprach Anne. »Ich will mit ihnen gehen.« »Vielleicht haben sie keinen Erfolg«, sagte Osne leise. »Wenn einer von den Rittern ein Marevase ist, schaffen sie es vielleicht nicht.« »Ein was?« »Einer, der nicht sterben kann. Sie haben auch andere Namen.« »Oh«, sagte Anne. »Einer von ihnen ist so«, erklärte sie. »Vielleicht auch mehr.« »Dann wisst Ihr ja, dass das Risiko groß ist.« »Ihr würdet Euren Mann und Eure Söhne in den Tod schicken, nur damit ich nach Eslen gelange?« »Ich würde es lieber nicht tun«, erwiderte Osne. »Es wäre mir lieber, wenn sie Euch nach Hause geleiten. Damit wäre noch immer ein gewisses Risiko verbunden, aber es wäre nicht so groß, als wenn ich sie ausschicken würde, um gegen einen Marevase zu kämpfen.« »Ihr versteht nicht«, sagte Anne. »Diese Männer - Cazio und z'Acatto - haben alles für uns riskiert.« »Und das würden wir auch tun, meine Liebe.« 499 »Das sehe ich«, erwiderte Anne tonlos. »Ich bin es leid, dass Menschen für mich sterben, versteht Ihr? Ich kann das nicht länger ertragen.« »Die Menschen sterben nun einmal für ihre Königin«, sagte Osne. »Das ist eine Bürde, die Ihr akzeptieren müsst, sonst ist es ohne Bedeutung, ob Ihr Eslen erreicht. Vor Euch liegen sehr viel schwerere Entscheidungen als diese, Anne.« »Cazio und z'Acatto wissen nichts über meine angebliche Bestimmung«, wandte Anne ein. »Und wenn ich nichts tue, werden sie bestimmt sterben. Aber wie kann ich auch Eure Familie gefährden?« »Weil wir Eure Bestimmung akzeptieren, und die Rolle, die wir dabei spielen. Wenn Ihr beschließt, den Reitern zu folgen, werden wir Eure Entscheidung hinnehmen.« Ihr Blick wurde eindringlicher. »Ich hätte Euch etwas in den Wein tun können«, sagte sie. »Artore hätte Euch einfach nach Hause schaffen können. Aber eine Königin, die keine eigenen Entschlüsse fassen kann, ist fürwahr eine armselige Königin.« Anne rieb sich den Kopf. »Ich hasse das«, fauchte sie. »Ich hasse das alles.« »Vielleicht sind sie schon tot«, meinte Osne. »Wenn die Reiter glauben, sie hätten Euch verloren, kann ich mir keinen Grund denken, weshalb sie Eure Freunde am Leben lassen sollten - außer vielleicht als Köder, in der Hoffnung, dass Ihr ihnen folgt.« Anne spürte Tränen auf ihrem Gesicht. Sie dachte an Cazio, wie sie ihm das erste Mal begegnet war, unverfroren und spöttisch und voller Leben. Bei dem Gedanken, dass er tot sein könnte, fühlte sie sich wie ausgehöhlt. Doch ihr Vater war tot. Elseny war tot. Fastia war tot. »Ich werde nach Eslen gehen«, sagte sie und ein heftiges Schluchzen brach aus ihrer Brust hervor. Osne kam um den Tisch herum und nahm sie in die Arme, und Anne ließ sich von ihr festhalten, obwohl sie die Frau kaum kannte. Sie weinte, und Osne wiegte sie, während die Nacht durchs Fenster und in ihr Herz kroch. 500 Anne und Austra waren in einem fensterlosen Raum untergebracht worden. Im Licht der Laterne hatte der Putz eine dunkle gelbe Farbe. Die Kammer war einfach eingerichtet, mit einem Bett, einer Waschschüssel auf einem Holzständer und einem Nachtgeschirr unter dem Bett. Abseits vom Herd war es kalt, und Anne schlüpfte rasch in das Nachthemd, das Osne ihr gegeben hatte, und kroch dann unter die dicke wollene Decke. Austra schlief bereits, doch sie wachte auf, als Anne sich neben ihr ausstreckte. »Das war ja ein langes Gespräch«, sagte Austra. »Worüber habt ihr denn geredet?« Anne holte tief Luft. Ihre Brust schmerzte vom Weinen. »Osne war im Konvent der heiligen Cer, vor vielen Jahren«, erklärte sie. »Sie weiß, wer wir sind, weil Gräfin Orchaevia Nachricht geschickt hat, dass man nach uns Ausschau halten und auf uns aufpassen soll.« »Die Gräfin? Wie merkwürdig.« »Es ist nicht merkwürdig«, widersprach Anne. »Die Gräfin hat auch zum Konvent gehört.« »Das ist irgendwie sogar noch merkwürdiger, aber es passt auch wieder zusammen. Die Gräfin muss wirklich gewusst haben, wer du bist.« »Ich soll Königin werden, Austra.« Austra setzte zu einem Lachen an, das gleich darauf erstarb. »Wie meinst du das?«, fragte sie. »Vater, weißt du noch? Er hat dafür gesorgt, dass der Comven Fastia, Elseny und mich als legitime Thronfolgerinnen anerkennt. Fastia und Elseny sind tot, und nur ich bin noch übrig.« »Aber Charles ist doch noch am Leben«, wandte Austra ein. »Der Cuveitur hat nichts von seinem Tod
berichtet.« »Unseren Feinden ist Charles gleichgültig«, erwiderte Anne. »Sie wollen keine Königin in Eslen. Sie haben Angst vor einer Königin.« »Wieso denn?« Dann erklärte Anne es ihr, erklärte alles. Erzählte von den 501 Glaubenden, von dem finsteren Mann im Wald, von ihren Träumen. Als sie geendet hatte, waren Austras Augen kreisrund vor Staunen. »Warum hast du mir das alles nicht schon früher erzählt?«, wollte sie wissen. »Weil ich es selbst nicht geglaubt habe«, antwortete Anne. »Weil ich gedacht habe, es würde dich irgendwie noch mehr in Gefahr bringen. Aber jetzt weiß ich, dass ich es dir sagen muss.« »Warum? Weil ich dort gewesen bin, wo die Glaubenden sind?« »Nein, wegen morgen. Artore und seine Söhne werden uns über den Fluss schmuggeln und uns nach Eslen bringen.« »Aber das ist ja wunderbar«, stieß Austra hervor; dann erschrak sie, und ihre Stimme wurde leiser. »Du meinst, nachdem wir Cazio und z'Acatto gerettet haben.« Anne schüttelte den Kopf. »Nein, Austra. Wir können ihnen nicht folgen. Es tut mir Leid.« »Das verstehe ich nicht. Mit Artore können wir sie doch retten.« »Artore und seine Jungen sind diesen Rittern nicht gewachsen«, sagte Anne. »Das weißt du doch gar nicht, Anne, du -« »Ich kann das nicht riskieren, verstehst du das nicht?« »Nein! Wie kannst du auch nur daran denken, sie einfach sterben zu lassen?« »Austra, ich weiß, was du für Cazio empfindest, aber -« »Nein! Nein, das weißt du nicht. Das kannst du gar nicht wissen.« Sie begann zu weinen. »Wir können doch nicht einfach aufgeben.« »Wir haben keine andere Wahl«, entgegnete Anne. »Doch!« »Du musst mir zuhören«, drängte Anne. »Das hier fällt mir sehr schwer. Glaubst du denn, ich will das tun? Aber wenn wir ihnen folgen, und es ist ein Hinterhalt - was wahrscheinlich der Fall ist -, dann sterben nicht nur Cazio und z'Acatto, sondern auch Artore und seine Söhne. Und wir auch.« 502 »Ich hätte dich nie für einen Feigling gehalten«, sagte Austra. »Wenn es nur unser Leben wäre, das ich aufs Spiel setze, dann würde ich ihnen augenblicklich folgen«, entgegnete Anne. »Wenn es nur diese paar Männer wären, würde ich es trotzdem tun. Aber wenn ich den Glaubenden und Osne glauben soll - und Schwester Secula auch, was das betrifft -, dann darf ich hier nicht mein Leben riskieren. Ich muss auf kürzestem Wege nach Eslen zurückkehren.« »Und wieso glaubst du ihnen? Wieso sollte ich dir glauben? Du, eine Königin, die die Welt vor der Vernichtung bewahren kann? Weißt du eigentlich, wie lächerlich sich das anhört?« »Ja, das weiß ich. Aber ich fange an, es zu glauben.« »Natürlich! Du sollst Königin werden und die Retterin von allem, was gut ist. Du bist so aufgeblasen wie ein Weinschlauch!« »Austra -« »O nein«, fauchte Austra. »Versuch es gar nicht erst. Sprich nicht mit mir. Sprich nie wieder mit mir.« Unter neuerlichem Schluchzen drehte sie Anne den Rücken zu, und auch Annes eigene Tränen kehrten zurück, diesmal in aller Stille. Sehr lange lag sie wach, bis die Erschöpfung sie schließlich übermannte. Als sie am nächsten Morgen erwachte, war Austra fort. »Es sieht so aus, als hätte sie einen Mantel und ein wenig Brot genommen«, sagte Osne. »Aber niemand hat sie fortgehen sehen.« »Austra ist keine Diebin«, erwiderte Anne. »Das weiß ich. Bestimmt ist sie der Meinung, ihre Notlage überwiege alles andere, und ebenso sicher hat sie vor, den Mantel zurückzubringen. Das macht überhaupt nichts - ich hätte ihr den Mantel und das Brot ohnehin gegeben.« »Nun, weit kann sie nicht sein«, meinte Anne. »Wenn wir uns beeilen, finden wir sie.« Sie wusste, dass dies allem widersprach, was sie gestern Abend gesagt hatte, aber hier ging es um Austra, und außerdem hatte sie die Reiter bestimmt noch nicht eingeholt. Es sollte keine Gefahr bestehen. 503 »Wir müssen sowieso ein paar Meilen in diese Richtung reiten«, sagte Artore. »Und wir brechen am besten gleich auf.« »Die Pferde sind bereit, Atte«, meldete Cotmar, der Zweitälteste der Jungen. »Und Jarne hat sich um den Proviant gekümmert.« »Osne, kleide die Prinzessin ein, dann geht es los.« Osne stattete sie mit Jungenkleidern aus - mit Reithosen, die in Lederstiefel gesteckt wurden, einem
Baumwollhemd und einem dicken wollenen Wams, einem Wettermantel und einem abgetragenen breitkrempigen Hut. Noch vor dem nächsten Glockenschlag ritten sie los. »Da ist ihre Spur, Atte«, sagte Cotomar und deutete auf irgendetwas auf dem Weg, das Anne nicht sehen konnte. »Te, irgendjemand hat ihr von der oberen Furt erzählt«, grübelte Artore. »Sie muss Halt gemacht und Vimsel gefragt haben. Kluges Mädchen.« »Nun ja, wir haben gewusst, dass wir lieber nicht versuchen sollten, die Brücke bei Teremene zu überqueren«, meinte Anne. Sie tätschelte die Mähne ihres Pferdes. »Wie heißt er?«, fragte sie. »Trege«, antwortete Artore. »Träge«, wiederholte Anne. »Hoffentlich ist er schneller als sein Name.« Artore sah sie seltsam an, sagte jedoch nichts. Sie ritten weiter die Straße entlang, die dicht am Fluss verlief, bis sie eine wacklig aussehende Hängebrücke erreichten. Die Schlucht war hier sogar noch tiefer als bei Teremene, und Anne gab sich Mühe, nicht nach unten zu schauen, als sie über die Brücke schwankte. Sie fanden Austras Spur auf der anderen Seite, wo sie auf einen Weg stieß, der breit genug war, dass Karren darauf fahren konnten. Die helle, staubige Straße führte sie höher in die Hügel hinauf, hielt sich überall, wo es irgend möglich war, an die Hügelkuppen und tauchte widerstrebend in Täler hinab, wenn es nicht anders ging. Die Hügel selbst waren gedrungen, verwittert und fast völlig baumlos. Graue und weiße Schafe grasten auf den Hängen; hier und da war auch eine Ziege oder ein Pferd zu sehen. Sie erblickten 504 ein paar verstreute Häuser, die zum größten Teil aus unbehauenen Steinen gebaut waren und Strohdächer hatten. »Te, ich wette, da haben wir die Reiter«, sagte Artore nach einer Weile. »Woran seht Ihr das?«, erkundigte sich Anne. Diesmal konnte sie zumindest Hufspuren erkennen. »Einer ist hier abgesessen. Seht Ihr die Kratzer seiner Sporen? Außerdem sind die Hufeisen komisch geformt, und sie sind zu dritt.« »Und Austra?« »Sie hat ein Pferd von dem Bauernhof da hinten genommen«, antwortete er. »Da ist sie.« Er deutete auf eine Art verwischte Fährte. »Sie trabt; sie hat es eilig.« »Wie weit voraus?« »Sie ist ungefähr eine Stunde vor uns, und die Männer mehr als einen halben Tag.« »Können wir schneller reiten?« »Gewiss, aber wenn sie von der Straße abbiegt, übersehen wir es vielleicht.« »Sie kann Fährten nicht lesen wie ihr. Sie wird sich an die Straße halten und hoffen, dass die Männer, die Cazio gefangen halten, das Gleiche tun.« »Nun denn«, erwiderte Artore. Er ließ sein Pferd in Trab fallen. »Na komm, Träge«, drängte Anne. Zuerst hielt sie lediglich im Trab mit, dann jedoch, nur um herauszufinden, wie schnell das Pferd war, ließ sie es schneller werden und schließlich in gestreckten Galopp übergehen, und einen Augenblick lang stellte sie fest, dass sie trotz allem grinste. Sie ritt für ihr Leben gern, und obgleich Träge nicht so flink war wie ihr eigenes Pferd Windschnell, brachte er doch ein beachtliches Tempo zustande, und sie hatte schon sehr lange nicht mehr auf einem Pferd gesessen. Fast hatte sie vergessen, wie sich das anfühlte. Trotzdem wusste sie, dass sie ihn nicht lange so antreiben durfte, also ließ sie ihn wieder in Trab fallen, und auf diese Weise ritten sie weiter, trabten und galoppierten abwechselnd. Die Meilen 505 zwischen ihnen und Teremene wurden länger, während ihre Schatten es ihnen gleichtaten, bis schließlich die Nacht hereinbrach. Sie lagerten auf einem Hügel, von dem aus man die Straße überblicken konnte. »Morgen holen wir sie ein«, versprach Artore. »Sie reitet ihr Pferd müde, und es wird langsamer. Damit sollten wir in die Nähe der Straße nach Dunmrogh kommen, und auf der können wir dann in Richtung Westen nach Eslen reiten.« »Dunmrogh«, sagte Anne. »Sind wir in der Nähe von Dunmrogh?« »Ungefähr fünf Meilen, würde ich sagen. Warum?« »Ich bin nur neugierig. Ich kenne jemanden von dort.« Roderick. Er würde ihr helfen - gewiss verfügte seine Familie doch über Truppen. Mit seiner Hilfe könnten sie Cazio befreien. Aber höchstwahrscheinlich war Roderick in Eslen. Trotzdem, wenn sie schon so nahe war, dann konnte es doch nicht schaden, das herauszufinden, oder? Doch Cazios Verdächtigungen folgten diesem Gedanken auf dem Fuße. Was war, wenn ihre Feinde nach Dunmrogh wollten} Was, wenn er in Wahrheit mit ihnen im Bunde war? Sie schob diese Überlegungen beiseite. Morgen würde sie es wissen. Die Hügel fielen sanft zu einer Ebene ab, die Artore Magh y Herth nannte, die »Ebene der Hügelgräber«. Anne sah keine Hügelgräber, nur Meilen gelb werdenden Grases und gelegentlich eine Baumreihe, die den Lauf eines Baches kennzeichnete. Gänse zogen über ihnen dahin, und hin und wieder grasten Viehherden neben der Straße. Ab und zu führten schmale Seitenstraßen auf kleine Dörfer zu, von denen man nur die Glockentürme sah.
Gegen Mittag erschien ein grüner Strich am Horizont und wurde schließlich zu einem Wald. Die Straße führte sie unter den gewaltigen, gewölbten Ästen von Eiseneichen, Eschen, Everic- und Hickorynussbäumen hindurch. Die Hufschläge ihrer Pferde wurden hier durch herabgefallene Blätter gedämpft. Der Wald fühlte 506 sich alt und aufdringlich an, wie ein gebrechlicher Greis, der versuchte, sie zu umarmen. »Prethsorucaldh«, sagte Artore und deutete mit einer Geste auf die Bäume. »Ihr würdet >Kleiner Wurmwald< sagen.« »Das ist ja ein seltsamer Name«, meinte Anne. »Warum heißt er so?« »Ich habe mal eine Geschichte über irgendein Ungeheuer gehört, das im Boden gehaust hat, aber ich weiß keine Einzelheiten mehr. Es heißt, das hier war mal ein Teil des Königswaldes, aber während der Magierkriege ist ein Heer aus Feuer zu beiden Seiten des Sefodh-Flusses marschiert und hat ihn abgetrennt. Seither schrumpft er. Heute ist es das Jagdrevier des Lords von Dunmrogh.« »Ein Heer aus Feuer?« »Das behaupten die Geschichten - Sverfath Mit Den Zwanzig Augen hat eine Armee aus Feuer heraufbeschworen und sie gegen seine Feindin ausgesandt, gegen Sefhind die Windhexe. Manche sagen, es war eine Armee aus flammenden Dämonen, andere erzählen, es sei ein lebendiger Feuerfluss gewesen. Aber wenn es Feuer war, dann kein gewöhnliches, denn die Bäume sind nie zurückgekehrt. Ihr werdet es sehen, wenn wir die andere Seite erreichen - kein einziger Baum von hier bis zum Fluss.« »Atte!« Einer der Jungen schrie gellend auf, Anne war sich nicht sicher, welcher, und in dem Augenblick, der seinem Schrei folgte, vernahm sie ein eigenartiges Geräusch, wie Regen, der durch Blätter rauscht, jedoch unterlegt von einem seltsamen Schwirren. Jarne, der vor ihnen ritt, griff sich ans Herz und zuckte sonderbar; dann stürzte er vom Pferd. Alles wurde schlagartig klar, als sie begriff, dass Pfeile um sie herum durch die Luft zuckten. »Vorwärts!«, schrie Artore und schlug nach Träges Kruppe. Das Pferd sprang mit einem Ruck nach vorn. Mit fliegendem Puls beugte Anne sich tief über den Hals des Hengstes. Ein paar Pfeile zischten so dicht an ihr vorbei, dass sie den Luftzug spürte, und sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn einer davon sie träfe. 507 Wie sich herausstellte, fühlte es sich an wie eine Art harter Schlag - sie dachte, sie wäre gegen einen Ast oder etwas Ähnliches gestoßen. Doch als sie nach unten schaute, sah sie den langen, gefiederten Schaft in ihrem Oberschenkel. Gerade, als sie überlegte, warum es nicht wehtat, setzte der Schmerz ein, und ihr wurde schwindlig. Träge schrie auf, und sie nahm an, dass auch er getroffen worden war, obgleich sie nicht sehen konnte, wo. »Es tut mir Leid, es tut mir so Leid«, keuchte Anne. Sie wusste nicht genau, wen sie meinte. Wahrscheinlich alle. Träge rannte weiter, und nach einer Weile wurde Anne klar, dass keine Pfeile mehr durch die Luft flogen. Sie blickte sich um und sah niemanden. »Artore!«, schrie sie. Ihr Bein pochte, und sie fühlte sich fiebrig und schwach. Als sie wieder nach vorn schaute, erblickte sie einen Reiter, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. 40. Kapitel Annäherungsversuche Muriele erwachte von leisem Summen. Schläfrig öffnete sie die Augen und suchte nach der Quelle des Geräuschs. »Ah«, sagte eine Männerstimme. »Guten Morgen, Königinmutter.« Sie wurde starr, als sie sah, dass es Robert war, der sich in ihrem Sessel lümmelte. Alis Berrye saß auf seinem Schoß. »Verlasst mein Gemach«, befahl Muriele. »Nun, das hier ist eigentlich nicht dein Gemach, weißt du«, entgegnete Robert. »Es gehört der Krone, und die gehört im Moment mir.« 508 Muriele antwortete nicht, denn es gab nichts zu sagen. Sie konnte die Wachen nicht rufen, denn sie würden nicht kommen. Suchend sah sie sich nach etwas um - irgendetwas, egal, was -, das sie als Waffe benutzen könnte, doch es gab nichts. Alis Berrye kicherte. »Komm, Schätzchen«, sagte Robert zu dem Mädchen. »Hinaus mit dir. Ich habe etwas mit deiner Herrin zu besprechen.« »Ach, kann ich nicht bleiben?«, schmollte Alis. »Das hier wird ein Gespräch für Erwachsene«, erwiderte Robert. »Geh in dein Zimmer, und mach die Tür zu.« »Na schön, ich gehe. Aber sie war sehr unfreundlich zu mir. Ich finde, Ihr solltet sie bestrafen.« Damit erhob sie sich und verschwand in ihrer Kammer. Robert blieb, wo er war, und strich sich über den Schnurrbart. »Das war eine ziemliche Überraschung gestern«, sagte er. »Mein Kompliment - ich hatte nicht gedacht, dass du die Mittel hast, auch nur zu wissen, dass ich wiederkommen würde.«
»Hast du meine Töchter getötet?«, wollte Muriele wissen. »Was William betrifft, habe ich keinerlei Zweifel.« »Also, ich kann doch nicht an zwei Orten zugleich sein, nicht wahr?«, wandte Robert durchaus vernünftig ein. »Nein. Aber du kannst dafür sorgen, dass andere deine Schandtaten für dich verrichten. Ich kann mir vorstellen, dass du William eigenhändig umbringen wolltest.« Er lachte. »Du kennst mich so gut, Muriele. Ja, diese Befriedigung wollte ich haben, und weißt du was? Es war schwerer, als ich gedacht hatte. William war ... also, am Schluss war er richtig tapfer. Hat unserem Namen Ehre gemacht. Natürlich wäre das nie passiert, wenn er nicht so ein vollendeter Tölpel gewesen wäre. Selbst du, meine Liebe, musst zugeben, dass er als König nicht viel hergemacht hat.« »Er war ein besserer König, als du jemals sein wirst, und ein viel besserer Mensch, du verkommener Irrer!« Er seufzte. »Was deine Töchter betrifft, das habe ich nicht befohlen, obwohl ich gewusst habe, dass es geschehen würde. In 509 Wahrheit hat William sie getötet, als er sie als Thronerbinnen hat legitimieren lassen.« »Der Praifec hat dahinter gesteckt?« Robert drohte ihr mit dem Finger. »Ah, nein, damit würde ich dir mehr verraten, als du zu wissen brauchst. Wie dem auch sei, die Wahrheit ist so viel größer, als du dir vorstellen kannst. Ich will deine Verständnisfähigkeit nicht überstrapazieren. Obwohl du, wie gesagt, schlauer bist, als ich gedacht habe.« Er legte die Hände auf die Knie und beugte sich vor. »Folgendes: Es ist wichtig, dass du jegliche Hoffnung, den Thron zurückzuerobern, fahren lässt. Wir stehen wahrhaftig vor Problemen, die ein gemeinsames Vorgehen erforderlich machen. Ich weiß, du bist im Moment ein bisschen wütend auf mich, aber du bist doch eine praktisch veranlagte Frau -« »Wirklich?«, unterbrach ihn Muriele. »Du denkst, ich bin ein bisschen wütend auf dich? Robert, du hast den letzten Rest Verstand verloren, den du jemals gehabt hast. Ich würde lieber sterben, als dir in irgendeiner Form behilflich zu sein.« »Ja, siehst du? Genau das meine ich. Du bist wütend. Deswegen bin ich auch so enttäuscht, dass Charles nicht hier ist - dann könnte ich ein Leben in die Waagschale werfen, das dir teurer ist als dein eigenes. Aber so muss ich an deine Vernunft appellieren.« »Lesbeth«, fauchte Muriele. »Warum hast du Lesbeth getötet? Sie hätte niemals Königin werden können.« Sein Gesicht rötete sich. »Gewiss weißt du doch, warum.« »Wie kannst du von mir erwarten, dass ich jemanden, der seine eigene Schwester umbringt, auch nur ansatzweise verstehe?« »Niemand hat Lesbeth mehr geliebt als ich«, erklärte Robert und sah allmählich wirklich zornig aus. »Niemand. Aber manche Dinge kann man nicht vergeben; manche Kränkungen können nicht zurückgenommen werden.« »Was denn für Kränkungen?« »Das weißt du ganz genau!«, schrie Robert und sprang auf. »Jeder hat es gewusst! Es war unglaublich.« »Tu einfach so, als wüsste ich es nicht«, stieß Muriele mit zusammengebissenen Zähnen hervor. 510 Er sah sie an, als sei sie diejenige, die den Verstand verloren hatte. »Du willst wirklich vorgeben, dass du es nicht weißt?« »Das gebe ich vor«, erwiderte Muriele. »Sie ... sie hat mich nicht um Erlaubnis gebeten zu heiraten«, grollte er. Seine Stimme wurde immer lauter. »Sie hat William gefragt, o ja, aber nicht mich.« Das letzte Wort brach zwischen seinen Lippen hervor wie ein berstender Kessel. Raureif schien Murieles Rückgrat zu überziehen. »Du bist verrückt, weißt du das?«, flüsterte sie. Urplötzlich hatte sie furchtbare Angst, nicht so sehr vor Robert als vielmehr vor den Dingen, die in seinem Kopf zu finden sein mussten. Irgendeine unbestimmbare Gefühlsregung glitt über seine Züge, dann gab er ein bitteres Hohnlachen von sich. »Wer wäre das nicht?«, murmelte er. »Aber genug davon. Wieso lenkst du mich ständig mit solchen Fragen ab? Die Handwerksmeister lagern vor der Stadt und weigern sich, mit mir zu reden. Warum?« »Vielleicht erkennen sie die Rechtmäßigkeit Eures Anspruchs nicht an, Mylord.« »Nun, dann werden sie sterben, was ein Jammer ist, weil sie zweifellos viele von den Männern der Landwaerde mitnehmen werden. Dadurch wird das Volk dich noch weniger leiden können, und wir werden als Reich noch mehr geschwächt.« »Du würdest Fußvolk mit Piken gegen Ritter ins Feld schicken? Das ist abscheulich.« »Sie haben ihre Ritterwürde verwirkt, indem sie sich gegen die Krone aufgelehnt haben«, entgegnete Robert. »Ich werde nicht warten, bis sie sich gegen mich erheben. Es gibt bereits Berichte, dass sie ihr eigenes Fußvolk sammeln.« »Und natürlich ist da noch Liery«, bemerkte Muriele. »Sie werden wohl kaum tatenlos hinnehmen, was du getan hast.« Robert schüttelte den Kopf. »Ich habe dem hansischen Botschafter klar zu verstehen gegeben, dass ich keinen Einspruch erheben werde, wenn Hansas Flotte gegen Liery in See sticht.« »Der Bund zwischen Crothenien und Liery ist heilig«, sagte Muriele. »Den kannst du nicht brechen.« 511
»Du hast ihn gebrochen, als du lierische Wachen gegen die Landwaerde eingesetzt hast«, erklärte Robert. »Das ist völliger Unsinn«, entgegnete Muriele. Er zuckte die Schultern und stand auf. »Auf jeden Fall würde ich keine Hilfe von Liery erwarten, wenn ich du wäre.« »Genauso wenig können wir mit ihrer Hilfe rechnen, wenn Hansa uns angreift«, sagte Muriele. »Wir können uns nicht mit ihnen entzweien. Robert, das ist doch Wahnsinn.« »Ständig benutzt du solche Wörter«, erwiderte er. »Ich frage mich, ob du wirklich weißt, was sie bedeuten.« Er wedelte mit den Händen, als wollte er ihre Worte zum Fenster hinausfächeln. »Sieh mal, du kannst das alles verhindern, Muriele. Ruf die Handwerksmeister zurück, hol Charles zurück. Ich bleibe hier, als König, mit dir an meiner Seite, und alle werden zufrieden sein.« »Willst du allen Ernstes vorschlagen, dass ich den Mörder meines Gemahls heiraten soll?« »Zum Wohle des Reiches, ja. Es ist die eleganteste Lösung, da stimmst du mir gewiss zu.« Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen das Fenstersims. »Robert«, sagte Muriele, »ich bin sehr in Versuchung, genau das zu tun, was du sagst, nur um die Gelegenheit zu bekommen, dir ein Messer ins Herz zu stoßen, während du schläfst, aber ich könnte die Scharade niemals so lange durchhalten.« Sie verschränkte ebenfalls die Arme. »Wie hört sich das an? Du entsagst dem Thron, schickst deine Wachen fort und löst das Heer der Landwaerde auf. Ich hole Charles und die Handwerksmeister zurück, und dann hängen wir dich. Ist dir das elegant genug?« Robert lächelte schief und kam auf das Bett zu. »Muriele, Muriele. Die Zeit hat dir weder die Schönheit noch deiner Zunge die Schärfe genommen. Dein Gesicht ist so liebreizend wie eh und je. Natürlich heißt es, das Gesicht muss als Letztes dran glauben, dass das Alter sich von den Zehen nach oben arbeitet. Ich habe nicht übel Lust, herauszufinden, ob das stimmt.« Er packte die Decke und riss sie mit einem Ruck vom Bett. »Robert, wage es ja nicht!«, herrschte sie ihn an. 512 »Ach, ich glaube doch«, erwiderte er und streckte die Hand nach ihrer Brust aus. Sie hob die Hände, um ihn abzuwehren, doch er packte ihre Handgelenke mit Fingern wie Stahlbänder und stieß sie grob zurück. Sehr bedächtig schwang er ein Bein über ihren Leib und zog das andere hoch, bis er über ihr kniete; dann ließ er sich herabsinken, bis sein Körper sich gegen den ihren presste und sein Gesicht zwei Handbreit über ihr war. Ohne den Blick von ihren Augen abzuwenden, ließ er eine ihrer Hände los, griff ihr zwischen die Beine und begann, ihr Nachthemd hochzuzerren. Dann schob er ein Knie zwischen ihre Schenkel und begann sie auseinander zu drängen. Er schien schwerer zu werden, drückte sie auf das Bett, und sein Gesicht war dem ihren jetzt so nahe, dass es verzerrt aussah, das Antlitz eines Fremden. Sie dachte an Robert als Kleinkind, als kleiner Junge bei Hofe, doch sie konnte das nicht mit dem in Verbindung bringen, was mit ihr geschah, mit diesem Wesen, das seine Hand zwischen ihren Beinen hatte. Sie fühlte, wie ihre Gliedmaßen erschlafften, als er sich anschickte, seine Hose aufzuschnüren, und drehte den Kopf zur Seite, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Seine Hände bewegten sich wie riesige Spinnen auf ihr, und er roch nach Aas, genau wie Alis Berrye es gesagt hatte. Sie ließ ihren Blick an Robert entlang gleiten, dann an ihm vorbei, und sah Alis Berrye auf Roberts Rücken zuschleichen; sie hielt irgendetwas fest in der Hand. Muriele schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen das Wort Nein. Dann, mit dem Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben, griff sie gemächlich nach dem Heft von Roberts Messer, zog es aus der Scheide und stach es ihm in die Seite. Es drang leicht ein. Sie hatte sich immer vorgestellt, jemandem ein Messer in den Leib zu stoßen sei so ähnlich, als schneide man in einen Kürbis, aber es war überhaupt nicht so. Robert zuckte, ächzte und setzte sich über ihr auf, und sie trieb ihm die Klinge ins Herz. Mit einem Stöhnen fiel er zurück, und sie wand sich unter ihm hervor, das Messer noch immer in der Hand. 513 Sie fing gerade an zu zittern, als Alis plötzlich da war, sie stützte und tröstende Worte murmelte. Robert raffte sich vom Boden empor; sein Atem ging rau und keuchend. »Erst der Ehemann und jetzt das Weib«, japste er. »Allmählich fange ich an, diese Familie zu hassen.« Es war kein Blut zu sehen, bemerkte Muriele - oder zumindest nicht sehr viel. Irgendetwas sickerte wie Sirup aus Roberts Wunden, doch es war nicht rot. Sie schaute das Messer an, das sie noch immer in der Hand hielt. Es war mit einem durchsichtigen, klebrigen Harz bedeckt. Sie fuhr zurück, als Robert quer durchs Zimmer taumelte, doch er schien sie nicht zu beachten und ließ sich erneut in den Sessel sinken. »Es tut aber immer noch weh«, sagte er geistesabwesend. »Ich hatte mich gefragt, ob es wohl wehtun würde.« Er blickte zu ihr auf. »Dann heiraten wir wohl doch nicht.« »Robert, was hast du getan?«, flüsterte Muriele. Robert warf einen Blick auf die Wunde in seiner Brust. »Das? Das war nicht ich, Liebchen. Ich habe mich gerade um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert und war dabei, zu sterben ... William hat es geschafft, mich zu erstechen, weißt du, entgegen jeglicher Logik. Und dann bin ich auch gestorben, glaube ich, und jetzt nun, jetzt bin ich so, wie du es hier siehst.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Du hast das getan, böses Mädchen.
Der Bewahrte hat es mir gesagt.« »Also warst du es doch, an jenem Abend in meinem Gemach.« »Natürlich«, gestand er und wischte sich die Stirn. »Es ist so seltsam, dass ich nichts von den Geheimgängen gewusst habe. So hast du Charles hinausgeschafft, nicht wahr?« Muriele antwortete nicht. Sie ließ das Messer fallen und klammerte sich an Alis. »Ihr beide scheint euch ja gut zu verstehen«, stellte Robert fest. »Alis, waren deine Aufmerksamkeiten mir gegenüber etwa unaufrichtig? Ich meine, ich weiß, dass sie nicht echt waren, aber ich 514 hatte angenommen, sie entsprängen deinem Wunsch, wieder deine Stellung als Palasthure einzunehmen.« »Bitte lasst sie in Ruhe, Robert«, sagte Alis. »Wenn Ihr jemanden wollt, nehmt mich.« »Ach nein, mir ist die Lust ziemlich vergangen«, erwiderte Robert. Er ließ den Kopf zurücksinken. »Schauen wir doch mal«, murmelte er, »da gab es noch etwas, das ich dir sagen wollte, was war es doch noch gleich?« Er kratzte sich am Kinn. »Ach ja. Diese Sache, die du da im Kerzenhain geplant hast - das war eine gute Idee. Ich werde sie stattfinden lassen. Und da es schließlich deine Idee war, werde ich dafür sorgen, dass du dabei bist. Betrachte es als Entschuldigung.« Er stemmte sich hoch. »Ich sollte das hier wohl lieber untersuchen lassen«, sagte er, »und mir dann überlegen, ob ich den Arzt töten muss.« Er verbeugte sich. »Ich wünsche den Ladys noch einen guten Tag.« Als er fort war, begann Muriele heftig zu zittern. »Setzt Euch«, sagte Alis. »Nein«, keuchte sie. »Nein, nicht in den Sessel. Und auch nicht aufs Bett, niemals - nie wieder.« »Gut, dann kommt in mein Zimmer. Ich mache Euch Tee. Kommt.« »Ich danke Euch, Alis«, sagte Muriele. Sie ließ sich von dem Mädchen in ihre Kammer führen und setzte sich aufs Bett. Alis ging zu dem kleinen Herd hinüber und machte Feuer. »Was ist er, Alis?«, fragte Muriele. »Was genau habe ich geschaffen?« Alis hielt inne und drehte sich halb um, dann widmete sie sich wieder dem Herd. »Im Konvent«, begann sie, »haben wir uns mit den Gerüchten über eine solche Kreatur befasst. Aber in unserer ganzen Geschichte wird nur ein einziges Mal davon berichtet, dass das Gesetz des Todes gebrochen wurde - vom Schwarzen Narren. Er hat sich selbst zu dem gemacht, was Robert ist, untot und doch nicht wirklich lebendig. Doch wenn das Gesetz des Todes einmal 515 gebrochen ist, ist es leichter, weitere Kreaturen zu erschaffen. Einer der Titel des Schwarzen Narren war Mhwr. Die, die er erschaffen hatte, wurden die Mhwrmakhy genannt. In den Chroniken des Alten Nordkönigreiches wurde der Schwarze Narr als der Nau bezeichnet, und seine Diener als die Nauschalken.« »Diese letzten Namen sind leichter auszusprechen«, gab Muriele zu. Sie fühlte noch immer seine Hände auf sich, sein Gewicht... »Wartet«, sagte sie, bemüht, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. »Wenn der Schwarze Narr das Gesetz des Todes gebrochen hat, wie habe ich es dann noch einmal brechen können?« »Es wurde wiederhergestellt, unter großen Opfern«, antwortete Alis. »Aber es kann wiederhergestellt werden«, sagte Muriele hoffnungsvoll. »Wir wissen nicht mehr, wie«, erwiderte das Mädchen. »Die, die es getan haben, sind dabei zugrunde gegangen.« Muriele senkte den Kopf, und Verzweiflung erfüllte sie. »Dann habe ich verdient -« Alis machte drei rasche Schritte vom Herd weg und versetzte ihr eine heftige Ohrfeige. Völlig verblüfft blickte Muriele zu ihr empor; ihre Wange brannte. »Nein«, stieß Alis hervor. »Sagt das nicht. Sagt das niemals, und denkt es auch nicht.« Sie kniete nieder und ergriff Murieles Hand, und in ihren Augen standen Tränen. Muriele sehnte sich so sehr danach, zu weinen, dass es schmerzte, doch sie konnte ihre eigenen Tränen nicht finden. Stattdessen rollte sie sich auf dem Bett zusammen, schloss die Augen und suchte dahinter nach Schlaf und Vergessen. Leoff öffnete auf das leise Klopfen hin die Tür und sah sich Areana gegenüber, die ein wenig verwirrt wirkte und in ihrem dunkelblauen Kleid sehr hübsch aussah. »Ihr habt nach mir geschickt, Cavaor Ackenzal?«, sagte sie. »Ja«, antwortete er. »Bitte nennt mich Leoff.« 516 Sie lächelte nervös. »Wie Ihr wünscht, Leoff.« »Bitte, kommt doch herein, setzt Euch.« Er bemerkte eine ältere Frau hinter ihr im Korridor. »Und Ihr auch, Lady, bitte.« Areana machte ein betretenes Gesicht. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Es ist nur ... Ich war noch nie im Palast, und es ist alles so ... Also, ich bin ganz nervös, das seht Ihr ja. Dies ist meine Kinderfrau Jen Unilsdauter. Ich habe es für angemessen gehalten ...« Sie sprach nicht weiter, als sei sie sich nicht sicher, was sie sagen wollte, oder als fürchte sie, bereits das Falsche gesagt zu haben.
»Ihr seid mir hochwillkommen, Lady Jen«, versicherte Leoff. »Besonders wenn Ihr für Areanas Eltern sprechen könnt.« »Ich bin keine Lady, junger Mann«, antwortete die Kinderfrau, »aber ich weiß Komplimente durchaus zu schätzen.« »Bitte, setzt Euch doch, alle beide.« Als sie Platz genommen hatten, schaute er wieder Areana an, die errötete. »Leoff«, fing sie an, »ich ... das heißt-« Da begriff er. »O nein, Ihr versteht nicht recht, glaube ich«, versicherte er hastig. »Ich habe Euch nicht hergebeten, um ... Nicht dass ich Euch nicht reizend finde ...«Er stockte. »Es wird immer schlimmer, wie?« Er seufzte. »Nun, auf jeden Fall wird es immer verwirrender«, stimmte Areana zu. »Es geht um das hier.« Leoff klopfte auf die Notenblätter auf seinem Arbeitstisch. »Deshalb habe ich Euch hergebeten. Ihr habt doch von der Aufführung gehört, die im Kerzenhain stattfinden soll?« »Natürlich«, antwortete sie. »Jeder hat davon gehört. Ich freue mich schon sehr darauf.« »Nun, das ist gut«, erwiderte er. »Das ist sehr gut.« Hoffentlich hatte er sie nicht beleidigt. »Und?«, erkundigte sie sich. Leoff wurde klar, dass er eigentlich gar nichts erklärt hatte. »Richtig«, sagte er. »Ich hätte es gern, wenn Ihr die Hauptrolle singen würdet.« 517 Ihre Augen wurden unwahrscheinlich groß. »Ich?« »Äh, ja«, antwortete er und rieb die Hände aneinander. »Oder wenn Ihr zumindest einmal dafür vorsingen würdet.« »Ich verstehe das nicht.« »Bei Lady Grammes Fest ist mir Eure Singstimme aufgefallen. Sie ist genau die Stimme, die ich für diese Aufführung suche. Ich denke, Ihr werdet verstehen, wenn Ihr die Rolle gelesen habt.« »Die Rolle?« Verwirrt runzelte sie die Stirn. »Ja, ja - es ist etwas Neues, ein bisschen wie ein Lustspiel, aber ein wenig ... äh, gehobener.« »Das will ich doch hoffen!«, plusterte sich die Kinderfrau auf. »Ach, sei still, Jen«, sagte Areana. »Du magst den Mummenschanz genauso gern wie ich. Wir tun nur so, als würden wir so etwas für unter unserer Würde halten, hast du das vergessen?« »Ja, aber ein Mädchen deines Standes -« »Hört mich zu Ende an«, bat Leoff. »Es ist die Geschichte von Litha, aus Broogh. Ihr kennt die Erzählung?« »Ja, gewiss.« »Ihr würdet die Rolle der Litha singen.« »Ihr meint, sie spielen«, verbesserte Areana. »Nein, nein, seht her.« Er zeigte ihr die Notenblätter. »Ihr könnt doch lesen, oder?« »Sie liest ausgezeichnet«, verkündete die Kinderfrau. Während Areana die Seiten überflog, sah er, wie sie langsam begriff. »Versteht Ihr?«, fragte er. Sie sah ihn zweifelnd an. »Was Ihr wollt, ist mein Neuland-Akzent, nicht wahr?« »Zum Teil«, gab er zu. »Und außerdem glaube ich, dass, wenn dieses Stück für die Menschen aus Neuland und Eslen sein soll, jemand von Euch darin singen sollte. Aber Ihr müsst verstehen, ich würde meine Musik niemals um einer solchen Laune willen kompromittieren. Ihr habt eine Art... eine Art... unschuldige Verwegenheit, die jede andere Sängerin vortäuschen müsste. Bei Euch ist sie echt.« 518 Arena errötete erneut, heftiger diesmal. »Jetzt weiß ich wirklich nicht, was ich sagen soll.« »Nun, versuchen wir es doch einmal«, schlug er vor. »Also gut.« Er entschied sich für Lithas erste Arie, die sie wunderschön sang, und dann für den schwierigeren Teil, das, was er als Bannsingen bezeichnete, eine Art Mittelding zwischen Sprechen und Singen. Lange bevor sie geendet hatte, wusste er, dass sein Instinkt ihn nicht getrogen hatte. »Es ist sehr schön«, sagte sie. »Wenn es mit einer solchen Stimme gesungen wird, kann es nur schön sein«, erwiderte Leoff. »Ich hoffe wirklich, dass Ihr in Erwägung zieht, die Rolle zu übernehmen.« »Wenn Ihr meint, dass ich dafür geeignet bin, wäre es mir eine Ehre«, sprudelte sie begeistert hervor. »Ihr seid so hervorragend dafür geeignet, wie es überhaupt nur möglich ist«, erwiderte Leoff strahlend. Dann hustete er und setzte eine ernstere Miene auf. »Aber ich muss Euch etwas sehr Wichtiges sagen. Vielleicht ändert Ihr dann Eure Meinung.« »Und was?« »Praifec Hespero hat ausdrücklich verboten, dass dies so aufgeführt wird, wie es hier niedergeschrieben ist. Wenn wir gegen sein Verbot verstoßen, wird er zornig sein. Ich denke, ich werde das meiste von seinem Missfallen zu spüren bekommen, und ich werde natürlich die Verantwortung für alles übernehmen, aber es besteht eine gewisse Gefahr für alle Beteiligten, einschließlich Euch.«
»Wieso sollte der Praifec etwas dagegen haben?«, fragte Areana. »An dem Stück ist doch gewiss nichts Unheiliges?« »Nicht im Mindesten, das versichere ich Euch.« »Dann -« »Der Praifec ist ein Mann der Heiligen«, mischte sich die Kinderfrau abrupt ein. »Wir dürfen uns seinen Anordnungen ganz gewiss nicht widersetzen.« »Aber es erscheint mir nicht -«, setzte Areana an. 519 »Areana, nein«, warnte ihre Kinderfrau. »Du solltest dich da nicht hineinziehen lassen.« Areana wandte sich an Leoff. »Warum geht Ihr das Risiko ein?«, fragte sie. »Warum bittet Ihr mich, es zu tun?« »Weil es großartig sein wird«, erwiderte er leise. »Ich weiß in meinem Herzen, dass es richtig ist, und ich werde mich nicht davon abbringen lassen. Ich habe Euch gesagt, ich würde meine Musik niemals kompromittieren, und das werde ich auch nie tun, nicht, wenn ich weiß, dass ich etwas geschaffen habe, das es wert ist, gehört zu werden.« Areana starrte ihn weiter an und biss auf ihrer Unterlippe herum. Dann schlug sie die Augen nieder. »Jen hat Recht«, sagte sie. »Ich glaube Euch, Leoff. Ich glaube an Euch. Aber ich kann das nicht tun. Es tut mir Leid.« Niedergeschlagen nickte er. »Dann danke ich Euch für Eure Zeit. Es war auf jeden Fall schön, Euch ein wenig davon singen zu hören.« »Die Ehre war ganz auf meiner Seite, Sir«, erwiderte sie. »Und ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit.« »Komm«, sagte die Kinderfrau. »Wir könnten schon Ärger dafür bekommen, dass wir überhaupt hergekommen sind.« Sie gingen, und Leoff setzte sich betrübt wieder. Hoffentlich würde nicht jedes Vorsingen so ablaufen. Es war bereits ein Glockenschlag vergangen, als der nächste Kandidat eintraf, und Leoff spürte, wie ein wildes Grinsen sein Gesicht überzog, als er sah, wer es war. »Edwyn!« Edwyn Mylton war ein hoch gewachsener Mann, so schlaksig wie eine Vogelscheuche, mit einem Gesicht, das auf den ersten Blick lang und bekümmert aussah, bis man bei den Augen anlangte, die vor Übermut und Wohlwollen geradezu funkelten. Er umarmte Leoff ausgiebig und schlug ihm auf den Rücken. »Hofkomponist, wie?«, sagte er. »Ich habe ja immer gewusst, dass du es in der Welt zu etwas bringen würdest, Leoff.« Er senkte die Stimme. »Obwohl hier im Augenblick ja wohl alles auf et520 was wackligen Füßen steht, nicht wahr? Hat es wirklich einen Staatsstreich gegeben?« »Ja, ich fürchte schon - aber mein Stück wird trotzdem aufgeführt, äh ... gewissermaßen. Wie ist es dir ergangen? Ich hätte mir nie träumen lassen, dass du vor meiner Tür auftauchst. Ich dachte, du spielst immer noch für diesen grauenvollen Herzog von Ranness, hundert Meilen weit weg von hier.« »Äh, nein«, erwiderte Edwyn. »Es gab da eine kleine Auseinandersetzung, zwischen dem Herzog und mir. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, einen Rausschmiss - meinen Rausschmiss. Ich war in Loiyes, am Hof der Herzogin; ein bezauberndes, wenn auch recht anstrengendes Geschöpf. Ich habe durch Rothlinghaim von dieser Aufführung erfahren; er hat deine Einladung bekommen, konnte aber nicht kommen. Ich hatte gehofft, mich als angemessenen Ersatz anbieten zu können.« »Ein höchst angemessener Ersatz«, stimmte Leoff ihm zu. »Na dann, lass mich nicht warten, Mann - zeig mir das Stück.« »Einen Moment noch, Edwyn«, sagte Leoff. »Ich muss erst ein paar Dinge klarstellen - was die Aufführung betrifft.« Er erklärte Edwyn das Gleiche, was er Areana erläutert hatte, allerdings führte er die Einwände etwas genauer aus. »Aber er kann doch eigentlich nichts tun, dieser Praifec, oder?«, wandte Edwyn ein. »Er hat keine weltliche Macht.« »Nein, aber andererseits hört der Prinz auf ihn, den ich überhaupt nicht kenne. Ich kann nicht sagen, was passieren wird, wenn er herausfindet, dass ich ihn getäuscht habe.« »Aber wird er denn nicht bei den Proben dabei sein?« »Ganz bestimmt. Aber ich glaube, wenn wir sorgfältig planen, können wir das Stück so proben, wie er es haben will, und es so aufführen, wie es sein sollte.« Edwyn nickte. »Wie ernst wird das werden, was glaubst du?« »Auf jeden Fall werde ich meine Stellung verlieren. Im schlimmsten Fall werde ich als Hexer verbrannt. Ich rechne mit irgendetwas dazwischen. Ich glaube wirklich, dass das Risiko für meine Musiker sehr viel geringer ist, aber ich kann es nicht versprechen.« 521 »Hmmpf. Nun, dann lass mal sehen. Ich will wissen, um was hier so ein Aufhebens gemacht wird.« Als Edwyn die erste Seite sah, wurde er schlagartig still, und er sagte nichts mehr, bis er das letzte Wort und die letzte Note gelesen hatte. Dann blickte er zu Leoff auf. »Die Heiligen mögen dich verfluchen, Leoff«, seufzte er. »Du hast gewusst, dass ich den Tod riskieren würde,
um das hier zu spielen.« »Ich hatte es gehofft«, erwiderte Leoff. »Jetzt lass uns hoffen, dass wir noch neunundzwanzig gleich gesinnte Seelen finden.« »Du wirst sie finden«, sagte Edwyn. »Ich helfe dir dabei.« Am Ende des Tages hatten sie acht weitere Mitspieler rekrutiert und ebenso viele wieder fortgeschickt. Der nächste Tag verlief besser, weil sich die Geschichte allmählich herumsprach und sich nur die wirklich Entschlossenen meldeten. Leoff hatte im Moment keine Angst, dass der Praifec davon erfahren würde - er vertraute jedem, den er eingeladen hatte, und die Gilde der Musiker war, was ihre Arbeit und ihre Mitglieder anging, grundsätzlich verschwiegen. Er war bereits im Begriff, für diesen Tag Schluss zu machen, als er ein neuerliches Klopfen an der Tür vernahm. Er öffnete, und dort stand Areana, diesmal ohne ihre Kinderfrau. »Hallo«, grüßte Leoff unsicher. Sie hielt den Kopf hoch erhoben. »Wenn Ihr die Rolle der Litha noch nicht besetzt habt«, sagte sie, »würde ich sie sehr gern singen.« »Aber Eure Kinderfrau ... Eure Eltern ...« »Ich habe ein bisschen eigenes Geld«, erwiderte sie. »Und ich habe mir in der Stadt ein Zimmer genommen. Ich kenne meine Eltern; sie werden es verstehen.« Leoff nickte. »Das ist eine wunderbare Neuigkeit«, sagte er. »Ich möchte nur ganz sicher sein, dass Ihr Euch über die Gefahr im Klaren seid, die Euch drohen könnte, wenn Ihr Euch mir bei diesem Unternehmen anschließt.« 522 »Ich verstehe, Cavaor«, versicherte sie. »Ich bin bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen, zu der man mich verurteilt.« »Ich hoffe, dass man Euch zu überhaupt nichts verurteilen wird«, entgegnete Leoff, »aber ich danke Euch für Euren Mut.« Er deutete mit einer Geste auf die Hammarharfe. »Fangen wir mit den Proben an?« »Es wäre mir ein Vergnügen«, antwortete sie. Und Leoffs sämtliche Zweifel verflogen - bis auf einen. 41. Kapitel Roderick Als Anne ihr Pferd herumwarf und es von der Straße fort in den Wald lenkte, fuhr ein Windstoß hindurch, ließ das tote Laub auferstehen und in einem wirbelnden Ballett Pirouetten drehen. Ein Chor aus kaum hörbaren Frauenstimmen begleitete die Blätter, dünn und ohne Tiefe, als sei der Gesang aus großer Höhe herabgefallen, habe beim Sturz alles eingebüßt und sei zerbrochen, sodass nichts mehr übrig war als eine der Luft aufgeprägte Erinnerung, und auch diese verwehte jetzt. Sie glaubte, ihren Namen zu hören, doch dann waren da nur noch das Stampfen von Träges Hufen und ihr Atem, der beinahe mehr um sie herumzuwallen als aus ihrem Inneren zu kommen schien. Die Baumstämme glitten vorbei, zogen sie in ihren Bann, einer nach dem anderen, Säulenreihen, die kein Ende zu nehmen schienen. Träge sprang über einen umgestürzten Stamm und geriet auf dem Abhang dahinter fast ins Stolpern, doch er fing sich, und dann wurde der Untergrund langsam wieder eben. In jenem kurzen Augenblick, als sie zu schweben schien, war es, als explodiere Sonnenlicht um sie herum und schmölze die Bäume zu grünem 523 Gras und dunstigen Bächen tief unter ihr, und sie saß wieder auf Windschnell und raste die Schleppe hinunter, voller Angst und doch selig vor Lebendigkeit. Einen Moment lang hielt sie das Bild fest, doch dann war es verschwunden, und sie begriff mit bleiernem Herzen, dass auch dies nur die Erinnerung an etwas unwiederbringlich Verlorenes war. Dieses Leben, diese Kindheit war für alle Zeit vergangen, und selbst wenn es ihr gelang, heimzukehren, würde es nicht das Zuhause sein, das sie kannte. Träge wieherte und strauchelte erneut, seine Beine knickten ein, und in einem Nebel aus goldenem Licht flog Anne nach vorn, durch die tanzenden Blätter und den fruchtbaren Regengeruch. Sie schlug auf dem Boden auf, prallte ab und hörte etwas zerbrechen, und Schmerzen wie naher Donner barsten in ihrem Schenkel. Sie fühlte, wie sie sich die Haut an Ellbogen und Unterarmen aufschürfte, als sie die Arme schützend um den Kopf schlang und schließlich mitten in dem Geruch von Erde, Blut und zerfetzten Wurzeln gegen einen Stumpf krachte und liegen blieb. Eine Weile vergaß sie, wo sie war, und betrachtete verwirrt die Äste über sich, fragte sich, was das wohl sein mochte, während etwas wie ein herannahender Trommler auf sie zuhämmerte. Sie erblickte ein Gesicht, das sie eigentlich hätte kennen sollen, doch sie konnte es nicht recht einordnen, ehe es genau wie der Wind und ihre Kindheit - verging. Etwas umspielte sie, wie die Zunge eines riesigen Hundes oder plätschernde Wellen am Strand, in ungleichmäßigem Rhythmus, einlullend. Anne versuchte die Augen zu öffnen, doch die Lider kamen ihr unendlich schwer vor, also schaute sie stattdessen durch sie hindurch und sah ihr Zimmer - nur war es nicht ihr Zimmer. Es ähnelte ihrem Zimmer, doch die Wände stürzten ein, und durch ein großes Loch dicht unter der Decke strömte rotes Licht herein, bei dessen bloßem Anblick sie Entsetzen verspürte, und ganz in der Nähe - aus
dem Augenwinkel - bemerkte sie, wie die Tür aufging und jemand hereintrat, der nicht hier sein sollte, den sie nicht 5M ansehen konnte, und plötzlich war ihr klar, dass sie gar nicht aufgewacht war, sondern immer noch in irgendeiner Schwarzen Mary des Erwachens gefangen war. Dann bemühte sie sich noch mehr, aufzuwachen, die Augen mit Gewalt zu öffnen, die Mauer des Schlafes zu durchbrechen und hindurchzuschreiten. Doch als sie das tat, war sie wieder in dem Zimmer, und das rote Licht war stärker, die Tür öffnete sich weiter, und der Schatten trat ein. Auf der Haut spürte sie tausend Stiche, als läge sie in einem Bad aus Skorpionen, und sie erwachte, und alles begann von neuem ... Sie setzte sich auf und hörte eine Stimme schreien; einen Augenblick später wurde ihr klar, dass es ihre eigene war. Ihre Brust hob und senkte sich krampfhaft, während sie fremde Betttücher umklammerte und betete, dass dies endlich das Ende des Schlafes sein möge und nicht ein weiterer Trick der Schwarzen Mary Dann fühlte sie die Schmerzen in ihrem Bein, wo der Pfeil sich hineingebohrt hatte, und sah sich, von neuer Panik erfasst, um. Sie war schon öfter aufgewacht und hatte nicht gewusst, wo sie war, hatte nichts wieder erkannt und dann allmählich begriffen, dass sie sich an einem bekannten Ort befand, der durch Traumreste fremd geworden war. Doch als sie in diesem Raum umherschaute, wurde er nicht zu etwas Vertrautem. Das Plätschern aus ihrem Traum erwies sich als das Feuer in dem ein paar Ellen entfernten Kamin. Schwere Vorhänge bedeckten die Fenster, sodass sie nicht erkennen konnte, ob es Tag oder Nacht war. Ein Wolfsfell lag auf dem Boden, und dicht beim Feuer standen ein Webstuhl und ein Hocker. Abgesehen davon gab es nur eine Tür, aus Holz und mit schweren Eisenbändern beschlagen. Anne warf die Bettdecke zurück. Sie trug einen bernsteinfarbenen Morgenmantel, in dessen Saum goldene Rosen gewirkt waren. Vorsichtig zog sie ihn hoch, bis sie ihr Bein sehen konnte, und stellte fest, dass es verbunden worden war. Sie fühlte sich sauber, als sei sie abgeschrubbt worden, und Fliederduft schien von ihr auszugehen. 525 Einen weiteren Augenblick lang lag sie da und versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war. Sie wusste noch, dass Träge gestürzt war, und dann kaum noch etwas, das sich von Traumbildern unterschied. Wer auch immer sie gefunden hatte, die hansischen Ritter konnten es nicht sein. Die hatten niemals Interesse daran gezeigt, sie gefangen zu nehmen, geschweige denn sie zu baden und ihre Wunden zu verbinden. Versuchsweise schwang sie die Beine aus dem Bett und stellte die Füße vorsichtig auf den Bettvorleger, der die Steinplatten des Bodens bedeckte. Als sie ihr Gewicht auf das verletzte Bein verlagerte, tat es weh, aber es war kein unerträglicher Schmerz, also humpelte sie zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Draußen senkte sich gerade die Abenddämmerung herab. Die Sonne war verschwunden, doch Wolken in königlichem Purpur, von Gold und Grünspan gesäumt, zogen sich über den östlichen Himmel. Leichter Regen fiel und trübte das dicke Fensterglas, das sich kalt anfühlte. Grasebenen oder Weiden erstreckten sich bis zu einem dunkelgrünen Dunst am Horizont, der vielleicht der Wald war; das Ganze ähnelte einem Bild, das ins Wasser getaucht worden war, als die Farben noch nass gewesen waren. Sie ließ den Vorhang zurückfallen und hinkte zur Tür. Wie sie beinahe erwartet hatte, war sie abgeschlossen. Seufzend drehte sie sich um, um den Rest des Raums in Augenschein zu nehmen - nur um angesichts einer jähen Bewegung am Rande ihres Blickfeldes zurückzufahren. Sie blickte unverwandt in diese Richtung und sah eine Frau, die sie anstarrte. Fast hätte sie schon den Mund geöffnet, um zu fragen, wer die andere sei, als Anne klar wurde, dass sie in einen großen Spiegel schaute. Ihr Spiegelbild war ausgezehrt und hohlwangig, und Blutergüsse schienen die Augen zu umgeben. Der dünne Flaum roten Haares sah seltsam und erschreckend aus. Ihre Sommersprossen waren durch lange Tage in der Sonne dunkler und größer geworden - aber mehr noch, ihr Gesicht hatte sich verändert. Es war älter gewor526 den, nicht nur im bildlichen Sinne, sondern tatsächlich. Selbst die Form der Knochen war anders - ihre Nase wirkte kleiner, und zum allerersten Mal sah sie etwas von ihrer Mutter in ihrem Antlitz. Wie lange war es her, seit sie sich im Spiegel gesehen hatte? Wie sehr konnte sich eine Frau zwischen sechzehn und siebzehn verändern? Und sie war jetzt siebzehn, obgleich sie ihren Geburtstag verpasst hatte. Sie war im Novmen geboren worden, am Achten. Der Tag war gekommen und dahingegangen, ohne dass sie es gewusst oder bis jetzt auch nur daran gedacht hätte. Es hätte ein Fest geben sollen, und Tanz und Kuchen. Stattdessen wusste sie nicht einmal mehr, wo sie an jenem Tag gewesen war, weil sie nicht wusste, welcher Tag heute war; sie wusste lediglich, dass der Novmen schon lange zurücklag. Die Julsonnenwende konnte nicht mehr fern sein - wenn nicht auch sie bei Nacht und Nebel vorübergegangen war. Sie konnte das, was aus ihr geworden war, nicht lange ansehen und suchte das Zimmer nach irgendetwas ab, das sich als Waffe verwenden ließe, doch das Einzige, was sie fand, war eine Spindel. Die nahm sie in die Hand und humpelte zum Bett zurück, als gerade irgendwo in der Nähe die Vesperglocke zu läuten begann. Noch vor dem nächsten Glockenschlag ließ das Knarren der Tür sie aufhorchen. Eine gebeugte kleine Frau in einem grauen Kleid trat ein. »Hoheit«, sagte sie leise und verbeugte sich. »Wie ich sehe, seid Ihr erwacht.«
»Wer seid Ihr?«, fragte Anne. »Wo bin ich?« »Mit Verlaub, mein Name ist Vespresern, Prinzessin Anne.« »Woher kennt Ihr mich?«, wollte Anne wissen. »Ich habe Euch bei Hofe gesehen, Hoheit. Selbst mit geschorenem Haar würde ich Euch erkennen. Kann ich Euch irgendetwas bringen?« »Sagt mir, wo ich bin und wie ich hierher gekommen bin.« »Mein Herr hat darum gebeten, das selbst erklären zu dürfen, Euer Hoheit. Er hat gesagt, ich soll ihn holen, wenn Ihr erwacht seid. Ich gehe ihn suchen.« 527 Sie wandte sich um, schloss die Tür hinter sich, und Anne hörte, wie ein Schlüssel herumgedreht wurde. Sie ging wieder zum Fenster hinüber und öffnete den Riegel. Die Luft draußen war feucht und kalt, doch es war nicht das Wetter, um das sie sich scherte, sondern eher die Frage, in was für einem Gebäude sie sich befand und wie weit es bis zum Boden war. Was sie sah, war nicht ermutigend. Graue Steinmauern erstreckten sich in beide Richtungen. Über sich konnte sie Wehrgänge erkennen und unter sich noch ein paar Fenster. Es ging vielleicht zwanzig Ellen tief hinunter, und dort unten war ein Graben voll widerlich aussehendem Wasser. Abgesehen von den schmalen Fenstersimsen konnte sie keinerlei Vorsprünge ausmachen. Wenn sie ihre Bettlaken aneinander knotete, dachte sie, könnte sie die Entfernung vielleicht um die Hälfte verringern, und das Wasser des Grabens könnte ihren Sturz abmildern, wenn es tief genug war. Sie schloss das Fenster und setzte sich aufs Bett, um nachzudenken. Ihr Bein machte ihr wirklich zu schaffen, und sie fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis eine solche Wunde heilte. Würde sie völlig ausheilen, oder würde sie für den Rest ihres Lebens hinken? Ungefähr einen Glockenschlag später hörte sie den Schlüssel erneut im Türschloss, und sie umklammerte die Spindel und wartete darauf, wer wohl hereinkommen würde. Ein Mann trat ins Zimmer, und sie erkannte ihn sofort. Tief im Innern hatte sie immer gewusst, dass sie ihn erkennen würde. »Nun ja«, sagte er, »ich habe dich schon einmal für einen Jungen gehalten und habe es wieder getan, als ich diese Haare gesehen habe.« »Roderick.« »Also, ich bin froh, dass du dich jetzt an mich erinnerst«, meinte er. »Nachdem ich dich auf der Straße getroffen habe, war ich mir nicht so sicher, ob du mich nicht ganz vergessen hast.« »Roderick«, wiederholte sie und suchte nach etwas Sinnvollem, was sie sagen könnte. Sein Ton wurde ein wenig nüchterner. »Du hast mich zu Tode erschreckt, weißt du das? Ich dachte, du wärst tot.« 528 »Dann bin ich im Schloss deines Vaters?«, fragte sie. »Ja, willkommen auf Dunmrogh.« »Ich hatte Freunde, dort im Wald. Wir sind überfallen worden.« »Ja, ich weiß - es tut mir Leid, sie sind alle umgekommen. Wegelagerer, nehme ich an. Wir hatten in letzter Zeit öfter Ärger mit solchen Burschen. Aber hör mal, Anne - es ist doch völlig unmöglich, dass du hier bist! Wie im Namen des heiligen Tarn ist das zugegangen?« Sie betrachtete sein Gesicht, das Gesicht, von dem sie so lange geträumt hatte. Während das ihre gealtert war, wirkten seine Züge jünger und nicht so vertraut, wie sie sein sollten. Ihr ging auf, dass sie ihn eigentlich nur ein paar Tage gekannt hatte, nicht einmal einen Monat. Sie war doch in ihn verliebt gewesen, oder etwa nicht? Es hatte sich so angefühlt. Jetzt jedoch, als sie ihn ansah, empfand sie nicht die überschäumende Freude, die sie erwartet hatte. Und nicht nur, weil sie wusste, dass er log. »Hör auf, Roderick«, sagte sie müde. »Bitte. Wenn ich dir jemals etwas bedeutet habe, dann lass das.« Er runzelte die Stirn. »Anne, ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, was du meinst.« »Ich meine meinen Brief«, entgegnete sie. »Den, den ich dir aus dem Konvent geschickt habe. Cazio hat ihn also doch überbringen lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wieso ich an ihm gezweifelt habe.« »Irgendwie kann ich dir nicht folgen, Prinzessin. Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen. Schließlich waren wir doch ... ich meine, ich dachte, du liebst mich.« Er machte einen Schritt vorwärts, doch sie hob die Hand. »Warte«, sagte sie. »Ich habe nicht vor, dir etwas zuleide zu tun, Anne«, beteuerte Roderick. »Fürwahr, ganz im Gegenteil.« »Ich bitte dich noch einmal, lüg mich nicht an«, erwiderte Anne. »Das nützt dir nichts. Ich weiß, dass du mich verraten hast. Ich bin von Männern, die mich töten wollen, durch die ganze Welt gejagt worden, aber als ich schließlich angefangen habe, sie zu ver529 folgen, wo sind sie da hingeritten? Hierher. Sie sind hier, nicht wahr?« Roderick starrte sie einen Augenblick lang an, dann schloss er die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Er wandte sich um und kam wieder auf sie zu. »Ich hatte keine Wahl, kannst du das verstehen? Meine Pflicht meiner Familie gegenüber - das steht immer an
erster Stelle. Vor dem König, vor dem Praifec, vor der Liebe.« »Es war kein Zufall, dass wir uns begegnet sind«, warf sie ihm vor. »Du hast nach mir gesucht, damals auf der Schleppe.« Er zögerte. »Ja«, sagte er schließlich. »Und mein Brief - du hast ihn ihnen gezeigt.« »Ja, meinem Vater. Und dann habe ich mich selbst gehasst - ich hasse mich immer noch für das, was du durchgemacht hast. Das Ganze hat als Farce angefangen, um dich dazu zu bringen, mir zu vertrauen. Aber irgendwie bin ich darin stecken geblieben. Weißt du, wie sehr ich all diese Monate von dir geträumt habe? Alles andere ist völlig verblasst, als ich gedacht habe, du wärst tot. Ich wollte selbst sterben. Und dann habe ich dich durch ein Wunder hier gefunden.« Er legte die rechte Hand an die Stirn. »Die Träume, Anne. Die Träume von dir, davon, dich in meinen Armen zu halten - ich kann nicht schlafen.« Rodericks Stimme bebte vor aufrichtiger Verzweiflung, und plötzlich fiel ihr der Tag ein, an dem sie ihm begegnet war. Sie und Austra waren in die Grabkammer von Genya Dare gegangen, unter dem Horz in EslendesSchattens, und sie hatten einen Fluch für Fastia auf ein Stück Bleifolie geschrieben und es in den Sarg gelegt, damit Genya es zu Cer bringen konnte, der Rächerin der Frauen. Und aus einer Laune heraus hatte sie dazugeschrieben: Und lasst Roderick von Dunmrogh sein Herz an mich verlieren. Lasst ihn nicht schlafen, ohne dass er von mir träumt. »Oh«, murmelte sie. Roderick fiel auf die Knie und griff so rasch nach ihrer Hand, dass sie keine Zeit hatte, sie zurückzuziehen. Er umklammerte sie verzweifelt. 53° »Niemand weiß, dass du hier bist, außer Vespresern, und sie wird nichts sagen, weil sie mich mehr liebt, als meine eigene Mutter es tut. Ich kann dich vor ihnen retten, Anne. Ich kann alles wieder gutmachen.« »Ach ja? Und wie, Roderick?«, fragte sie. »Kannst du mir Austra, Cazio und z'Acatto zurückgeben? Sie sind auch hier, nicht wahr?« Er nickte, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Sie werden ihnen irgendetwas antun, irgendetwas im Wald, das mit dem Alten Wurmschrein zu tun hat. Ich kann nichts dagegen machen, Anne. Du verstehst nicht - ich würde es tun, wenn ich könnte ... aber es ist zu spät.« »Wer sind sie?« »Ich bin mir nicht sicher, wirklich. Sie sind von überall her, obwohl viele der Ritter aus Hansa kommen. Sie dienen demselben Lord wie mein Vater. Ein Lord von großer Macht, aber ich habe seinen Namen nie gehört und weiß nicht, wo er lebt.« Er streckte die Hand aus, um ihr Gesicht zu streicheln. »Du musst sie vergessen, wenn du am Leben bleiben willst. Ich kann dich hier nicht ewig verstecken.« »Dann wirst du mir helfen zu fliehen?«, fragte Anne. »Was würde das nützen?«, erwiderte Roderick. »Sie würden dich nur erneut finden, und dann hättest du niemanden, der dich beschützt. Sie werden dich töten, und ich werde in einer Hölle leben. Ich kann nicht zulassen, dass das geschieht.« »Und wie sieht dann deine Lösung aus?«, wollte Anne wissen. »Du heiratest mich«, verkündete er. »Wenn du mich heiratest, bist du in Sicherheit.« Anne blinzelte völlig verblüfft. »Wie kommst du darauf ...?« Sie verbiss sich den Rest ihrer Antwort, die mit »Ich würde lieber durch den Strang sterben, als dich zu heiraten« geendet hätte. Einen Moment lang dachte sie nach und formulierte die Frage dann neu. »Wie kommst du darauf, dass ich als deine Gemahlin in Sicherheit wäre?« »Weil du dann niemals Königin in Eslen werden könntest«, ant531 wortete er. »Ja, so viel weiß ich. Sie wollen nicht, dass du Königin wirst. Wenn du meine Frau wärst, könntest du nicht Königin werden, laut dem Gesetz des Comven. Und mein Vater müsste dich als seine Schwiegertochter beschützen. Es ist die perfekte Lösung, siehst du das nicht?« »Und meine Freunde?« »Für sie gibt es keine Rettung mehr. Sie werden heute Nacht sterben.« »Heute Nacht?« »Ja. Und wir werden heiraten - während mein Vater fort ist, abgelenkt durch die Zeremonie im Wald. Ich habe einen Sacritor kommen lassen, um uns zu vereinen. Er wird die Eheschließung morgen früh bei der Kirche registrieren lassen, und dann stehen wir unter dem Schutz der Heiligen und meiner Familie.« »Das kommt sehr plötzlich«, sagte Anne. »Sehr plötzlich.« Roderick nickte heftig. »Ich weiß, ich weiß. Aber du musst deinem Herzen glauben, so wie ich dem meinen glaube. Wir sind füreinander bestimmt, Anne.« »Wenn das so ist«, erkundigte Anne sich steif, »wie konntest du mich dann verraten?« »Der Brief wurde meinem Vater ausgehändigt«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Anscheinend hatte er bereits vergessen, dass er zugegeben hatte, ihn seinem Vater selbst gegeben zu haben. »Er hat ihn geöffnet, ehe ich ihn zu Gesicht bekommen habe.« Er umklammerte ihre Hand, bis sie glaubte, ihre Finger würden gleich brechen, und Tränen traten ihm in die Augen. »Ich hätte ihnen nicht gesagt, wo du bist, meine Liebste. Ich hätte
nichts gesagt.« Anne schloss die Augen. Ihre Gedanken überschlugen sich, und plötzlich spürte sie seine Lippen auf den ihren. Sie fühlte Abscheu in sich aufwallen und wollte ihn fortstoßen, doch sie wusste, dass er ihre einzige Hoffnung war. Der Fluch hatte ihn um den Verstand gebracht, und seine wahnsinnige Liebe zu ihr war die einzige Waffe, die sie besaß. Also versuchte sie sich daran zu erinnern, wie sie geküsst hatte, 532 als sie es gewollt, als sie es ernst gemeint hatte, legte die Arme um ihn und erwiderte seinen Kuss. Er dauerte viel zu lange. Als er endlich die Zunge aus ihrem Mund nahm, blickte er liebevoll auf sie herab. »Siehst du? Du fühlst es auch.« »Ja, ich liebe dich, Roderick«, log sie. »Aber du darfst mich nie wieder verraten. Das musst du schwören. Ich könnte einen solchen Schmerz nicht noch einmal ertragen.« Sein Gesicht teilte sich vor Freude fast in zwei Teile. »Ich schwöre es, beim heiligen Tarn. Ich schwöre es, und möge er mich niederstrecken, wenn ich lüge.« »Dann lass uns heiraten«, sagte sie. »So schnell wie möglich. Wenn das, was du sagst, wahr ist, haben wir nur diese eine Chance.« Aufgeregt nickte er. »Der Sacritor ist im Dorf von Dunmrogh. Er erwartet uns einen Glockenschlag vor Mitternacht. Ich kümmere mich um die Vorbereitungen. Ruh du dich jetzt aus. Ich werde für dich sorgen. Du wirst glücklich sein, Anne - ich schwöre es bei meinem Leben.« Dann war er wieder verschwunden, und die Tür war erneut verschlossen, und Anne war wieder allein und wünschte sich, sie hätte Wasser und Seife, um seinen Geschmack und seinen Geruch abzuwaschen. TeilV Harmonie Im Jahre 2223 von Everon Zur Zeit des Julfestes Wihnaht, zur Mitte derjulzeit, ist die längste Nacht des Jahres. Um Mitternacht werden die Tore des Himmels aufgestoßen, und die Omen des kommenden Jahres tun sich kund. aus Der Almanach von Presson Manteo Sefta, die siebente Tonart, beruft sich auf den heiligen Santo, den heiligen Woth und den heiligen Seifans. Sie beschwört bittere Erinnerungen herauf, verlorene Liebe, den dahinscheidenden Sonnenuntergang. Sie löst Schwermut und Wahnsinn aus. Uthavo, die achte Tonart, beruft sich auf den heiligen Bright, die heilige Mery, den heiligen Abullo und den heiligen Sern. Sie beschwört die schöne Erinnerung herauf, den seligen ersten Kuss, die aufgehende Sonne. Sie löst Freude und Verzückung aus. aus Der Harmonium-Kodex von Elgin Widsel 42. Kapitel Das Lied in den Hügeln Leoff hielt inne, um sich die Augen zu reiben. Die Schriftzeichen auf dem Blatt Papier vor ihm hatten begonnen, ineinander zu verschwimmen; einzelne Noten verschmolzen zu gewundenen schwarzen Rinnsalen. Es ist nicht genug Zeit, dachte er verzweifelt. Ich habe nicht genug Zeit, um es richtig hinzubekommen. Aber er musste. Wenn er so weit über den Rand der Welt hinaustreten würde, musste es vollkommen sein. Und das war es auch - beinahe. Und doch wusste er, dass irgendetwas fehlte, etwas, das er nicht nur nicht richtig hinbekommen hatte, sondern das er überhaupt nicht hatte. Hilflos und erschöpft legte er den Kopf auf die Hammarharfe und ließ es zu, dass seine Augen sich schlössen, nur für einen Moment. Seine Gedanken entledigten sich ihrer Disziplin und begannen, wie Staubkörner in einem Sonnenstrahl herumzuschweben. Dann wurden aus den Staubkörnern Distelflocken, und er lag auf dem noch immer grünen Gras des Frühherbstes, unweit der reizenden kleinen Stadt Gleon Maelhen. In der Nacht zuvor hatte er einen purpurfarbenen Mond gesehen, ein echtes Wunder, das zu beobachten er bis tief in die Nacht aufgeblieben war. Jetzt erwog er, ein Nickerchen zu machen, bis er von den Hügeln her eine Melodie vernahm, gespielt auf einer Hirtenflöte. Sie schlug ihn in ihren Bann, weil sie so wunderschön und eindringlich war und doch unvollendet... »Fralet Ackenzal - oh, ich habe Euch gestört.« Leoff zuckte hoch wie ein Fisch am Haken und verstreute seine Notenblätter im ganzen Zimmer. Mit einem Aufwallen von Pa537 nik wurde ihm klar, dass er geschlafen hatte. Wenn der Praifec ihn so fand und sah, was er trieb ... Doch es war nicht der Praifec. Es war Lady Gramme. Stolpernd kam er auf die Beine. »Mylady -«, begann er überstürzt. »Das ist nicht nötig«, sagte sie. »Ich bin nur gekommen, um Euch zu danken.« »Dann ...« »Ja«, bestätigte sie. »Meine Männer haben Mery gefunden, genau wie Ihr gesagt habt. Und ich verspreche Euch, Eurem Freund ist kein Leid zugefügt worden.« Leoff dachte bei sich, dass er sich dessen nicht sicher sein konnte, ehe er Gilmer wieder gesehen hatte, doch es
hieß, dass die Männer des Regenten das Land nach dem kleinen Mädchen durchkämmten. Lady Gramme hatte rasch begriffen, was das bedeutete, und ihn angefleht, ihr zu sagen, wo Mery war. Er hatte nachgegeben, wohl wissend, dass er das Leben seines Freundes aufs Spiel setzte, doch er war der Ansicht gewesen, dass Gilmer und Mery von Lady Gramme weniger zu befürchten hatten als vom Regenten. War Mery erst wieder bei ihrer Mutter, so konnte der Prinz schwerlich behaupten, dass das Kind durch die Hand der Königinmutter ums Leben gekommen sei, und wenn Lady Gramme diskret vorging, würde er niemals erfahren, dass es Gilmer gewesen war, der auf sie aufgepasst hatte. »Ich würde sie gern sehen, wenn die Umstände es erlauben«, sagte er. »Die Umstände erlauben es just in diesem Moment«, erwiderte Lady Gramme. »Ich wollte nur zuerst mit Euch sprechen, allein. Ich möchte wissen, warum Ihr ein solches Risiko eingegangen seid, obwohl für Euch nichts dabei herausspringt, soweit ich es erkennen kann.« Leoff blinzelte. »Es ... es schien mir einfach das Richtige zu sein, Mylady« Sie starrte ihn an, dann stieß sie ein müdes Lachen aus, und ehe er etwas tun oder sagen konnte, bückte sie sich und küsste ihn 538 sanft auf die Lippen. Dann richtete sie sich wieder auf. »Mery ist draußen im Korridor. Ich schicke sie herein.« Wie betäubt wartete er und fragte sich, was gerade geschehen war. Mery rannte ihm geradewegs in die Arme, als er sie erblickte, ganz anders als damals, als sie sich in den Schränken versteckt hatte. »Wie war's bei Gilmer?«, erkundigte er sich. »Hat dir das Spaß gemacht?« »Er ist ganz schön mürrisch«, antwortete Mery, »aber er war wohl so nett zu mir, wie er nur konnte. Das eine Mal, da sind wir ins Dorf gegangen ...« Er hörte zu, als sie von einem Abenteuer berichtete, das sie erlebt hatte, doch ungeachtet der Tatsache, dass er überglücklich war, sie zu sehen, saß die Melodie erneut in seinem Kopf fest, und während sie erzählte, begann er, sie zu spielen; die fehlenden Töne setzten ihm zu wie ein lästiger Juckreiz, den er nicht lindern konnte. »Das ist hübsch«, sagte Mery »Darf ich das mal versuchen?« »Selbstverständlich«, erwiderte er. »Es ist nicht ganz fertig ...« Er lauschte hilflos, als sie die Melodie spielte - vollendet, gewiss, aber noch immer genauso unfertig wie seine eigene Version. »Das stimmt nicht ganz, nicht wahr?«, meinte Mery Er starrte sie an. »Nein, nicht ganz.« »Und wenn ... ?« Sie blickte zu ihm empor, legte dann die Hände auf die Tasten und drückte sie nieder. Leoff schnappte völlig überwältigt nach Luft. »Natürlich«, murmelte er. »Heiliger Oimo, natürlich.« »War das besser?«, erkundigte sich Mery »Das weißt du doch«, erwiderte er und zauste ihr das Haar. Sie nickte. Er streckte die Hand aus und berührte sanft die Tasten, dann tat er das, was sie getan hatte - anstatt die Töne einzeln als Melodie anzuschlagen, spielte er sie zusammen, als Akkord. »Das ist perfekt«, seufzte er, als der Wohlklang erstarb. »Jetzt ist es vollkommen.« 539 43. Kapitel Zulauf Cazio hustete und spuckte aus. Durch den Schmerz hindurch, der seinen Blick verschwimmen ließ, sah er Blutspritzer auf den Blättern erscheinen, als sein Kopf auf dem Boden aufschlug, und er empfand ein seltsames Gefühl der Schwerelosigkeit, sodass er einen Moment lang überlegte, ob er geköpft anstatt von einer Faust getroffen worden war. Er erwog kurz, einfach dort liegen zu bleiben, stattdessen jedoch setzte er sich mühsam und unter Schmerzen auf - nicht einfach, wenn einem Hände und Füße gefesselt waren. Wieder hob er den Blick, um den Mann zu betrachten, der ihn geschlagen hatte. Ohne den Helm, der sein Gesicht verbarg, sah der Ritter jung aus - nur ein paar Jahre älter als Cazio, vielleicht dreiundzwanzig oder so. Seine Augenfarbe lag irgendwo zwischen Grün und Braun, und sein Haar hatte die Farbe des Staubes des Tero Mefio - nicht das Kupferrot von Annes Haaren, sondern ein blasserer, schwächerer rötlicher Ton. »Ich entschuldige mich«, sagte Cazio und tastete mit der Zunge, ob seine Zähne noch heil waren. »Ich kann gar nicht begreifen, warum ich Euch einen ehrlosen, feigen Kastraten genannt habe. Wie dumm ich mir vorkomme, nachdem Ihr mich jetzt eines Besseren belehrt habt. Aber Taten sind wirkungsvoller als Worte, wie es so schön heißt, und nichts beweist Tapferkeit eindeutiger, als einen Mann zu schlagen, der gefesselt und waffenlos ist außer vielleicht der Mord an einer Frau.« Der Mann hockte sich neben ihn, packte ihn am Haar und zog seinen Kopf zurück. »Warum kannst du nicht den Mund halten?«, fragte er auf Vitellianisch. Er hatte einen starken Akzent. »Bei allen Ansu auf einmal, warum kannst du nicht lernen, den Mund zu halten?« Er blickte zu z'Acatto hinüber. »War er schon immer so?« 540 »Ja«, antwortete z'Acatto ungerührt. »Seit dem Tag seiner Geburt. Aber Ihr müsst zugeben, er hat nicht Unrecht.
Deshalb habt Ihr ihn ja geschlagen, weil es so lästig ist, wenn er Recht hat.« »Ich habe ihn geschlagen«, entgegnete der Mann, »weil ich ihm befohlen hatte, still zu sein.« »Dann steckt ihm einen Knebel in den Mund, und erspart uns allen etwas«, meinte z'Acatto. »Euch die Verlegenheit und uns die Schläge.« »Oder noch besser«, mischte Cazio sich ein und schob sein Gesicht an das seines Feindes heran, wenngleich ihn das einige Haare kostete, »warum bindet Ihr mich nicht los und gebt mir meinen Degen? Wie kommt es, dass Ihr Euch fürchtet, gegen mich zu kämpfen, obwohl Ihr doch nicht sterben könnt?« »Bist du ein Ritter?«, wollte der Mann wissen. »Das bin ich nicht«, erwiderte Cazio. »Aber ich bin Cazio Pachiomadio da Chiovattio und von hoher Geburt. Was für ein Vater hat Euch aufgezogen, dass Ihr nicht kämpft, wenn Ihr herausgefordert werdet?« »Mein Name ist Euric Wardhilmson, und mein Vater war Wardhilm Gauthson af Flozubaurg«, antwortete der Mann, »Ritter und Lord. Und sein Sohn hat es nicht nötig, irgendeinem heruntergekommenen Taugenichts wie dir die Gunst eines ehrenhaften Duells zu erweisen.« Er zog Cazios Kopf noch weiter zurück und ließ ihn dann los. »Und außerdem ist es meinen Männern und mir verboten, uns zu duellieren.« »Das ist ja sehr praktisch«, bemerkte Cazio. »Auch nicht praktischer, als hundscheit rechtzeitig zu bemerken, um darüber hinwegzusteigen«, gab der Ritter mit einem hässlichen Lächeln zurück. »Auf jeden Fall sieht es nicht gerade danach aus, als ob du Sir Aharyi in einem Duell besiegt hättest. Es hat mehr den Anschein, als hätte jemand Steine auf ihn herabgeworfen und ihm dann den Kopf abgeschlagen, als er am Boden lag.« »Das ist wohl der feine Herr in der vergoldeten Rüstung, damals beim Konvent der heiligen Cer? Der mit dem Mordblut der 54i heiligen Schwestern besudelt war? Der, der zusammen mit einem anderen auf mich losgegangen ist, und mit der Hilfe des Lords der Finsternis?« »Er war ein heiliger Mann«, verwahrte sich Euric. »Sprich nicht schlecht über ihn. Und wenn du es denn wissen musst, ich bin nicht von den Ansu gesegnet, wie er es war. Diese Ehre wird immer nur einem von uns zuteil, und Hrothwulf war der Auserwählte.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf einen weiteren von Cazios Häschern, einen Mann mit kohlschwarzem Haar, dabei jedoch so heller Haut, dass seine Wangen rosig waren wie die eines Babys. »Wohlan, schickt ihn her. Ich werde gegen ihn kämpfen - erneut, meine ich. Ich setze ihn ein zweites Mal auf seinen Hintern in den Dreck.« »Der Vorschlag des Alten mit dem Knebel fängt allmählich an, mir zu gefallen«, sagte Euric. »Ihr habt mich nicht geknebelt, seit ich Euer Gefangener bin«, entgegnete Cazio. »Ich glaube nicht, dass Ihr jetzt damit anfangen werdet.« Euric lächelte. »Das ist wahr. Es ist viel befriedigender, dir zu zeigen, wie kalt mich deine Worte lassen.« »Was wohl auch der Grund dafür ist, dass Ihr mich geschlagen habt«, pflichtete Cazio ihm bei. »Nein, das war nur zum Vergnügen«, entgegnete Euric. »Macht Euch doch nicht zum Narren, Junge«, ließ sich z'Acat-to vernehmen. »Ihr lasst ihn reden, weil Ihr hofft, dass er Euch so wütend macht, dass Ihr ihn losbindet. Ihr seid genauso versessen darauf, gegen ihn zu kämpfen, wie er gegen Euch kämpfen will.« »Nun«, gab Euric zu, »ich würde gern sehen, wie er glaubt, mich mit seiner kleinen Nähnadel da besiegen zu können, ja. Aber ich bin in heiligem Auftrag hier. Ich darf nicht an mich selbst denken, wenn meine Aufgabe Vorrang hat.« »Daran, zwei junge Mädchen durch die ganze Welt zu jagen, ist nichts Heiliges«, brummte z'Acatto. »Das ist erledigt«, entgegnete Euric, dessen Augenbrauen sich 542 überrascht hoben. »Wusstet Ihr das nicht? Wir haben sie gefunden, gleich nachdem wir euch erwischt haben. Tatsächlich glaubt Hrothwulf, ihr hättet sie getötet.« »Sie getötet?«, stieß Cazio hervor. »Wovon redet ihr eigentlich?« »Ihre Kehlen waren durchgeschnitten, bei beiden, gleich auf der anderen Seite des Hügels, wo wir euch geschnappt haben. Es haben schon Raben an ihren Leichen herumgepickt. So ist Auland auch verletzt worden.« Cazio starrte ihn an. »Was, der Kerl, der ein Auge verloren hat? Der, der an Blutvergiftung gestorben ist, noch ehe der Tag zur Neige gegangen war? Glaubt Ihr wirklich, ein Rabe hätte ihm das angetan?« »Ich habe es selbst gesehen«, erklärte Euric. Doch er sah merkwürdig aus, als zweifle er irgendwie an dem, was er sagte. »Obwohl ...« Er brach ab. »Nein. Ich habe sie gesehen. Ihre Köpfe waren fast abgetrennt.« »Ihr lügt«, sagte Cazio. Die Mädchen waren doch gerade erst über den Hügel gegangen, um dem Ruf der Natur zu folgen. Trotzdem sah er sie vor sich, tiefe Schnitte in ihren Kehlen, und plötzlich stieg eine Woge der Übelkeit in ihm hoch. »Ihr Hurensöhne«, fluchte er. »Ihr Nachkommen räudiger Köter. Ich bringe jeden Einzelnen von euch um.« »Nein«, erwiderte Euric. »Du wärst längst tot, wenn wir nicht einen Schwertkämpfer brauchen würden. Aber wenn du es gar so eilig hast, Ansu Halja zu begegnen, dann tut es wohl auch der Alte da. Sei versichert, du wirst
sterben, und es wird nicht angenehm werden, also nutze die Zeit, um zu dem Ansu zu beten, mit dem du sprichst.« Er warf Cazio eine Seilschlinge über den Kopf und zerrte ihn mit einem Ruck auf die Beine. Dann warf er das Seil über einen tief hängenden Ast und band es fest, sodass der Gefesselte sich nicht hinsetzen konnte, ohne sich zu strangulieren. Er ließ Cazio dort zurück, während dieser versuchte, sich neue Flüche auszudenken. 543 Am Nachmittag kamen weitere Männer angeritten; die meisten waren wie Wachsoldaten gekleidet, etliche jedoch trugen die Gewänder von Geistlichen. Das ließ kurz Hoffnung aufkeimen, doch es wurde rasch klar, dass sie den Rittern wohlgesonnen waren. Cazio hatte wenig anderes zu tun, als ihnen bei der Arbeit zuzusehen und sich Mühe zu geben, nicht einzuschlafen. Das Lager befand sich in der Nähe eines runden Hügels aus Erde und Steinen, Hügel, die auf Vitellianisch persi oder sedoi genannt wurden und auf denen oft Schreine gebaut worden waren. Diejenigen, die in heilige Orden eintraten, besuchten diese Schreine in einer bestimmten Reihenfolge, sagte man, um von den Lords gesegnet zu werden. Doch was immer hier auch vorging, es schien ausgesprochen unheilig zu sein. Auch die Neuankömmlinge hatten Gefangene dabei, Frauen und Kinder, und sie machten sich daran, einen Ring aus sieben Pfosten rund um den Hügel zu ziehen und dann das Unterholz zu roden. Andere begannen, einen Schrein auf der Kuppe des Hügels zu errichten. »Hast du eine Ahnung, was sie vorhaben, z'Acatto?«, fragte Cazio und betrachtete ihre Feinde, während diese ihren ameisengleichen Tätigkeiten nachgingen. »Eigentlich nicht«, antwortete der alte Mann. »Es ist schwer, ohne Wein zu denken.« »Für dich ist es ohne Wein sogar schwer, auf den Beinen zu stehen«, gab Cazio zurück. »So sollte es auch sein. Einem Mann sollte sein Wein nie verwehrt werden, schon gar nicht einem, der bald sterben wird.« Er wurde durch irgendeinen Aufruhr unterbrochen. In der Ferne wurde gebrüllt, und die Ritter saßen auf und ritten aus der Lichtung fort; die fünf wie Mönche gekleideten Männer folgten ihnen rasch. Vielleicht einen Glockenschlag später kehrten sie zurück und führten noch mehr Gefangene mit sich. Diesmal waren es alles Männer, einer in mittleren Jahren und drei jüngere; der Jüngste sah aus, als sei er kaum dreizehn. Alle waren verwundet, allerdings schien keiner schwer verletzt zu sein. Den älteren Mann fesselten sie genauso wie Cazio, nur einen 544 Perechi von ihm entfernt. Dann machten sie sich wieder an ihr Werk. Als keiner ihrer Feinde in der Nähe war, schaute der neue Gefangene zu Cazio hinüber. »Dann seid Ihr wohl die Vitellianer«, sagte er in Cazios Muttersprache. »Cazio und z'Acatto.« »Ihr kennt uns, Casnar?«, fragte Cazio. »Ja, wir haben zwei gemeinsame Freunde, Angehörige des schönen Geschlechts.« »Anne und -« »Psst!«, sagte der Mann. »Sprecht sehr leise. Ich glaube, das da sind alles Mamres-Mönche, aber manche gehören vielleicht auch zu Decmanus. Wenn dem so ist, können sie einen Schmetterlingsflügel hören.« »Aber sie sind am Leben und wohlauf?« »Soweit ich weiß. Mein Name ist Artore, und ich habe ihnen geholfen, Euch zu finden. Sieht so aus, als hätte ich meine Aufgabe zumindest teilweise erfüllt, obgleich ich es vorziehen würde, wenn die Umstände anders wären.« »Aber sie sind entkommen? Die Ritter haben sie nicht gesehen?« Artore zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Meine Söhne und ich haben sie aufgehalten, so lange wir konnten, aber diese Mönche sind tödliche Schützen. Sie wollten uns lebendig haben, sonst wären wir jetzt tot.« »Wie kann die Kirche an alldem hier beteiligt sein?«, flüsterte Cazio. »Das ergibt doch keinen Sinn.« »Alle Männer sind käuflich«, erklärte Artore. »Und zwar umso leichter, wenn sie sich einreden können, dass sie ein heiliges Werk verrichten. Aber ehrlich gesagt weiß ich auch nicht viel mehr darüber als Ihr. Meine Frau wäre diejenige, die Ihr fragen solltet.« Er sah niedergeschlagen aus. »Ich hätte sie gern noch ein letztes Mal gesehen.« »Wir werden irgendwie entkommen«, versprach Cazio. »Wartet nur ab, ich finde schon einen Weg.« 545 Doch während er an seinen unnachgiebigen Fesseln zerrte, konnte er sich noch immer nicht vorstellen, wie er das bewerkstelligen sollte. Neil saß auf seinem Pferd, die Hände auf dem Sattelhorn gekreuzt, und dachte bei sich, dass ihm der Anblick des Waldes, der dort vor ihm lag, nicht gefiel. Er kannte sich mit Wäldern ohnehin nicht besonders gut aus - auf Skern gab es keine, und außer den eher spärlichen Baumbeständen, an denen er auf seinem Weg nach Vitellio vorbeigekommen war, hatte er auch auf dem Festland noch nicht allzu viele gesehen. Einmal jedoch, als er ungefähr fünfzehn gewesen war, war er mit Sir Fail de Liery nach Norden gereist, nach Herilanz. Die Reise hatte als Gesandtschaftsmission begonnen, doch sie waren von Weihand-Freibeutern überfallen worden. Es war zu einer Seeschlacht gekommen, die sie gewonnen hatten, allerdings hatte ihr Schiff Schaden genommen, und so
hatten sie es an Land gezogen, um es zu reparieren. Hinter dem schmalen, felsigen Strand war nichts anderes als Bäume zu sehen gewesen, ein Urwald aus Kiefern, Fichten und Schwarz-Ceicheten, der Neil vorgekommen war wie eine riesige schwarze Höhle. Sich seinen Feinden auf offener Heide oder auf See gegenüberzusehen war eine Sache, aber an einem Ort zu kämpfen, der überall Verstecke bot, war etwas ganz anderes. Sie waren in den Wald gegangen, um nach einem guten Mast zu suchen, und waren mit der Hälfte ihrer Männer wieder herausgekommen, verfolgt von heulenden, tätowierten Wilden, die weder König noch Krone anerkannten. Dieser Wald sah auch so aus, nur noch schlimmer, denn während der in Herilanz aus geraden, glatten Stämmen bestanden hatte, waren diese hier knorrig und verdreht und miteinander verflochten wie ein gewaltiges Dornengestrüpp. Es war nicht schwer gewesen, den hansischen Rittern zu folgen. Zwischen Paldh und Teremene lag Ackerland, eine Gegend, wo die Menschen seltsame Dinge zu bemerken pflegten. Eine Gruppe fremder Ritter und ihre Mannen, die in großer Eile durchs 546 Land zogen und sich nach zwei Mädchen erkundigten, waren ein wenig ungewöhnlich. Obgleich er seinerseits fremd hier war, war es nicht schwer, die Leute zum Reden zu bringen, wenn er höflich war und ihnen etwas abkaufte. In der Nähe von Teremene war er an einer Biegung der Straße auf die Ritter gestoßen; sie waren auf dem Rückweg nach Paldh. Als er begriffen hatte, wer sie waren, war es bereits zu spät gewesen, sich zu verstecken. Stattdessen konnte er nur weiterreiten und hoffen, dass sie ihn nicht wieder erkennen würden. Das taten sie auch nicht, und die Mädchen waren nicht bei ihnen. Es blieb ihm nicht viel anderes übrig, als weiterzureiten. Entweder hatten sie Anne und Austra gefunden und getötet, oder sie hatten die Jagd aufgegeben. Letzteres schien unwahrscheinlich, und so war sein Herz schwer, als er nach Teremene hineinritt. Dort erfuhr er durch ein paar wohl platzierte Fragen und indem er dreimal so viel für einen Krug Bier bezahlte, wie dieser eigentlich hätte kosten sollen, dass ein paar von den Rittern - »die richtig unfreundlichen« - weiter nach Norden gezogen waren, und manche behaupteten sogar, sie würden Gefangene mitschleppen, zwei vitellianische Männer. Und jetzt, ein paar Tage später, hielt Neil vor einem dunklen Wald, auf einem Pferd, das er Sucher genannt hatte, und fragte sich, wie tief der Forst wohl war. »Nun denn, Sucher«, seufzte er, »schauen wir mal, was für Nachtwesen sich da drin herumtreiben, wie?« Er nahm die Zügel und ritt los, doch er war kaum mehr als ein paar Ellen weit gekommen, als etwas seinen Blick auf sich zog, ein goldenes Aufleuchten, und dann rannte irgendetwas zwischen den Bäumen davon. Hinter einer der alten Eichen hielt es an. Grimmig stieg er ab, zog sein Schwert und zuckte zusammen, weil die Waffe in seiner Hand so schlecht ausbalanciert war. Sucher war kein Schlachtross; er war sich nicht sicher, was geschehen würde, wenn er versuchte, zu Pferd zu kämpfen, schon gar nicht hier im Wald. Ein Kopf lugte um den Baumstamm herum, und er erhaschte 547 einen flüchtigen Blick auf ein vertrautes Gesicht. Dann verschwand der Kopf mit einem Ruck hinter dem Stamm. Er hörte einen unterdrückten Aufschrei, und dann laute Schritte, die sich durch den Wald entfernten. Austra. Hastig schob er sein Schwert wieder in die Scheide und rannte ihr nach. Er war verwirrt - ganz gewiss hatte sie ihn doch erkannt, oder? Sie versuchte nicht länger, sich vor ihm zu verstecken, sondern rannte, als seien alle Dämonen des Meeres hinter ihr her. »Austra!«, rief er und versuchte, nicht allzu laut zu brüllen, doch es schien sie nur dazu anzutreiben, ihre Anstrengungen zu verdoppeln. Nichtsdestotrotz war er der Schnellere, und hier, wo die Bäume mächtig und hoch waren, gab es nicht viel Unterholz. Sie war vielleicht zehn Ellen vor ihm, als ihr plötzlich ein Reiter in den Weg sprengte. Sie schrie auf und fiel auf die Knie. Der Mann trug eine Rüstung, jedoch keinen Helm. Er schwang ein Bein über den Hals der schwarzen Stute, die er ritt und schickte sich an abzusitzen, als er Neil erblickte. Dem Gepanzerten blieb keine Zeit aufzuschreien. Neil schoss wie ein Wurfspeer auf ihn zu und rammte ihn in Höhe seiner Hüfte. Immer noch auf dem Pferderücken, aber völlig aus dem Gleichgewicht, kippte der Mann aus dem Sattel und landete mit einem Scheppern und einem dumpfen Aufschlag auf der anderen Seite des Pferdes. Der Aufprall brachte Neils Sturmangriff zum Stehen und ließ ihn vor der Stute zu Boden gehen, also rollte er sich unter ihrem Bauch hindurch und zog sein Schwert. Es gelang dem anderen, rechtzeitig den in Stahl geschienten Arm zu heben, um den ersten Hieb abzuwehren, doch Neil hörte Knochen brechen. Er war sich sicher, dass dies einer der hansischen Soldaten war, wenn nicht gar einer von den Rittern. Ihm war klar, dass er nach den Regeln des Ehrenkodexes kämpfen sollte, doch bisher hatten diese Männer gezeigt, dass sie den Kodex missachteten. Er holte aus, um dem Mann den ungeschützten Kopf abzuschlagen, und jäh fiel ihm ein, dass er das Pferd ganz vergessen hat-
548 te. Schnell ließ er sich fallen und rollte sich weg, als Hufe durch die Luft wirbelten und genau dort auf den Boden stampften, wo er eben noch gewesen war. Er wich vor dem tobenden Tier zurück, und das verschaffte dem Ritter Zeit, wieder auf die Beine zu kommen. Er öffnete den Mund, und Neil begriff, dass er um Hilfe rufen wollte. Also tat er das Einzige, was er tun konnte - er warf das Schwert. Es überschlug sich und krachte dem Mann gegen Brust und Gesicht. Sein Schrei kam als Jaulen heraus, und Blut spritzte aus seiner zerschmetterten Nase. Neil stürzte sich auf ihn, duckte sich unter dem wilden Hieb hindurch, den der andere gegen seinen Kopf führte, rammte ihm die Faust gegen die Kehle und fühlte Knorpel knirschen. Der Ritter fiel wie eine vom Stecken geschnittene Vogelscheuche zu Boden. Nicht gewillt, es darauf ankommen zu lassen, hob Neil das Schwert des Mannes auf und enthauptete ihn. Er brauchte zwei Schläge dazu. Keuchend drehte er sich um und erblickte Austra, die sich, noch immer wimmernd, auf dem Boden zusammengerollt hatte. »Austra? Seid Ihr verletzt?«, fragte er. »Bleibt weg!«, stieß sie hervor. »Ihr seid einer von denen! Ihr müsst einer von ihnen sein.« »Wovon redet Ihr?« »Ich habe Euch doch sterben sehen!«, jammerte sie. »Oh.« Schlagartig begriff er. »Nein, Austra. Die Wunde war nicht so schlimm, und eine Lady hat mich von ihren Männern aus dem Wasser ziehen lassen. Ich wäre fast gestorben, ja, aber ich bin kein Nauschalk.« »Diesen Namen kenne ich nicht«, erwiderte sie. »Aber Cazio hat einmal einem den Kopf abgeschlagen, und er hat sich immer noch bewegt.« Jetzt sah sie zu ihm auf; ihre Augen schwammen in Tränen. Neil blickte zurück zu dem Mann, den er gerade geköpft hatte. Er schien sich nicht zu rühren. »Also, ich bin nicht so«, versicherte er. »Wenn man mir den Kopf abhackt, dann bin ich tot, das ver549 spreche ich Euch.« Er kniete nieder und ergriff ihre Schultern. »Austra«, sagte er sanft, »ich habe doch gegen sie gekämpft, wisst Ihr noch? Damit Ihr auf das Schiff gelangen konntet. Warum sollte ich das tun, wenn ich einer von ihnen wäre?« »Da ... da habt Ihr wohl Recht«, stammelte sie. »Aber der Schreck, wisst Ihr, zu viele Schrecken. Zu viel von alldem. Zu viel. Er empfand Mitleid mit dem Mädchen, doch er hatte keine Zeit, sich darauf einzulassen. »Austra«, fragte er freundlich, aber bestimmt, »wo ist Anne?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Austra verzagt. »Sie hätte bei Artore und seinen Söhnen sein müssen, und sie hätten eigentlich nach Eslen reiten sollen, aber dann habe ich gesehen, wie sie Artore ins Lager gebracht haben, und ich dachte, einer von den Mönchen hätte mich bestimmt gehört, obwohl ich hundert Ellen weit weg war -« »Austra, treiben sich noch mehr von diesen Kerlen hier im Wald herum?« Sie nickte. »Gut, dann lasst uns irgendwohin gehen, wo es sicherer ist, und dann erzählt Ihr mir alles, ja? Legt es Euch im Kopf zurecht, während wir reiten.« »Wir müssen Cazio retten«, murmelte sie. »Richtig. Wir werden alle retten, aber zuerst muss ich wissen, was hier vorgeht, und ich glaube nicht, dass es klug ist, wenn wir uns hier unterhalten. Kommt.« Im ritterlichen Zweikampf hätte Neil mit Fug und Recht Rüstung, Waffen und Pferd seines Gegners als Siegesbeute für sich beanspruchen können, und obgleich dieser Kampf nicht ganz nach ritterlichen Regeln ausgefochten worden war, war er der Ansicht, dass hier das Gleiche galt. Das Schwert des Burschen war ein recht schönes Stück, aus gutem Stahl und viel besser ausbalanciert und geschliffen als die Klinge, die er in Paldh erstanden hatte. In einem Anflug von Schwermut nannte er die neue Waffe Cuenslec, »Schwert des To55° ten Mannes«, und hoffte, dies möge keine Prophezeiung sein, die zwangsläufig immer wieder in Erfüllung ging. Die Brünne aus Kettengliedern passte ihm, wenn sie auch ein wenig zu weit war, ebenso der Brustpanzer und die Handschuhe. Die Beinschienen jedoch waren zu lang. Der Helm war am Pferd festgeschnallt, zusammen mit zwei Speeren, doch das Tier ließ ihn nicht heran. Tatsächlich stellte die Stute ein Problem dar. Wahrscheinlich würde sie ins Lager zurücklaufen, und die Gefährten des Toten würden merken, was ihrem Herrn zugestoßen war. Natürlich würden sie es so oder so erfahren, wenn er nicht wiederkam, doch später war in diesem Fall besser als früher. Trotzdem verspürte er keine Lust, das arme Tier zu töten. Stattdessen nahm er das Seil, mit dem er Sucher angebunden hatte, knüpfte es zu einer Schlinge, und nach ein paar Versuchen gelang es ihm, die Stute einzufangen. Dann band er das andere Ende des Seils an einen Baum. Solchermaßen neu ausgerüstet, kehrten er und Austra zu Sucher zurück und ritten wieder aus dem Wald hinaus und über einen kleinen Hügel hinweg, sodass man sie weder von der Straße noch vom Wald aus sehen konnte. Das erschien ihnen sicherer, als sich im Wald zu verstecken. Dort hörte er zu, als Austra ihre Geschichte erzählte
und die Szene beim Horz schilderte. »Ihr hättet Anne nicht verlassen dürfen«, meinte er. »Ich verstehe nicht, wie Ihr das sagen könnt, nachdem sie Euch hintergangen hat«, fauchte Austra. Dann machte sie ein betretenes Gesicht und fuhr fort: »Und außerdem war sie in Sicherheit, oder ich dachte, dass sie in Sicherheit wäre. Bei Cazio und z'Acatto war das nicht so.« »Ja, aber wie wolltet Ihr denn ganz allein mit diesen Rittern fertig werden?« »Ich dachte, ich könnte mich vielleicht an sie heranschleichen und ihre Fesseln durchschneiden«, erwiderte sie. »Aber bis jetzt bin ich nicht nahe genug herangekommen.« »Und Anne habt Ihr überhaupt nicht gesehen?« »Nein«, antwortete Austra. 551 »Glaubt Ihr, sie haben sie umgebracht?« »Ich weiß es nicht«, sagte Austra unglücklich. »Sie haben Artore und seine Söhne. Einen von ihnen müssen sie getötet haben; sie führten ein überzähliges Pferd mit sich. Aber ich habe gezählt, und es war kein Pferd für Anne dabei.« »Also glaubt Ihr, dass sie entkommen ist?« »Ich hoffe es«, erwiderte Austra. »Das ist alles meine Schuld. Sie wäre niemals hierher gekommen, wenn ich nicht gewesen wäre.« »Es hat keinen Sinn, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen«, beschwichtigte Neil. »Denkt darüber nach, was Ihr tun könnt, nicht über das, was Ihr hättet tun können.« Es verblüffte ihn, sich selbst diese Worte aussprechen zu hören, und es überraschte ihn sogar noch mehr, dass er sie tatsächlich ernst meinte - nicht nur, was Austra, sondern auch was ihn selbst betraf. Ja, er hatte versagt, inzwischen sogar mehrmals. Wahrscheinlich würde er wieder scheitern, doch was man als Mann zu tun hatte - was sein Vater ihn geheißen hätte -, war, es immer wieder zu versuchen. »Wenn Anne am Leben ist«, überlegte er laut, »dann ist sie auf der anderen Seite dieses Waldes. Auf der Straße können wir nicht hindurch, sonst lauern sie uns genauso auf wie Euren Freunden. Aber hindurch müssen wir wir müssen herausfinden, ob sie noch lebt.« »Aber Cazio -« »Es sind mindestens noch zwei Ritter übrig, einer davon ein Nauschalk. Wie viele Priester und Soldaten? Gegen wie viele Männer müsste ich insgesamt antreten?« »Manche von ihnen kommen und gehen«, antwortete sie. »Aber ich glaube, ungefähr fünf Mönche und fünfzehn Soldaten.« »Das sind zu viele«, sagte Neil. »Sie werden mich töten, und dann werden sie Euch töten, und dann Euren Cazio und z’Acatto, und wir werden der Königin - oder Anne - keinen guten Dienst erwiesen haben. Wir sind zuallererst ihnen verpflichtet, versteht Ihr das?« Austra senkte den Kopf. »Ja.« 552 »Und Ihr werdet nicht noch einmal versuchen davonzulaufen?« »Nein.« »Gut. Dann machen wir uns auf den Weg, solange es noch hell ist.« Austra nickte lediglich erneut, starrte jedoch weiter zu Boden. Neil hob mit dem Finger ihr Kinn an. »Ich gelobe es bei den Heiligen, auf die mein Volk schwört, wenn wir wissen, was mit Anne geschehen ist, werde ich für Eure Freunde tun, was ich kann.« »Danke«, sagte sie. »Wohlan. Brechen wir auf.« Er ritt abseits der Straße in den Wald und machte einen weiten Bogen, wobei er sich an der Sonne orientierte. Zu seiner Erleichterung dauerte es keinen Glockenschlag, bis er Licht durch die Bäume schimmern sah. Der Wald war anscheinend sehr lang, aber nicht besonders breit. Mittlerweile ging die Sonne unter, doch in dem trüben Licht konnte er ein Schloss erkennen - und ein wenig weiter entfernt ein Dorf. »Kennt Ihr diesen Ort?«, fragte er. Austra schüttelte den Kopf. »Nun denn«, sagte er, »fragen wir im Dorf.« Vorsichtig ritt Neil die Straße entlang, obgleich diese fast völlig verlassen war. Sie trafen nur zweimal auf jemanden; das erste Mal dort, wo die Straße sich in zwei Wege teilte, die zum Schloss und zum Dorf führten. Das einzige Licht kam von der Mondsichel, doch sie hörten das Rumpeln einer Kutsche, die vom Schloss heranrollte. Neil konnte nur einen Schatten ausmachen, doch er schätzte, dass sie noch ein paar hundert Ellen entfernt war. Er lenkte Sucher auf die Straße zum Dorf, und das Rattern der Kutsche verklang rasch hinter ihnen. Die zweite Begegnung fand am Rand des Dorfes statt, als er vier Reiter auf sich zukommen sah. Er spannte sich im Sattel an und legte die Hand auf Cuenslecs Heft. Den Umrissen nach zu urteilen, schienen sie keine Rüstungen zu tragen. »Wer da?«, bellte eine Männerstimme aus der Dunkelheit - in der Sprache des Königs. 553
Neil packte seine Waffe fester, denn obgleich ihm die Stimme bekannt vorkam, konnte er sie doch nicht einordnen. »Tut das weg, Aspar«, ließ sich eine andere Stimme vernehmen. »Könnt Ihr denn nicht sehen, wer das ist?« »Nicht in diesem Licht. Ich habe keine von den Heiligen gesegneten Sinne wie Ihr.« »Das ist ja ein glücklicher Zufall, Sir Neil«, sagte die hellere Stimme. »Ich nehme an, wir haben eine Menge zu besprechen.« 44. Kapitel 1 Zeremonie Abermals starrte Anne das Mädchen im Spiegel an und erkannte es sogar noch weniger wieder als beim letzten Mal, das erst ein paar Stunden zurücklag. Diesmal trug sie einen Brautschleier aus blassgoldenem Safnit, der selbst das bisschen Haarflaum verbarg, das ihr geblieben war. Das Kleid war elfenbeinfarben, mit engen, langen Ärmeln und Säumen in der gleichen Farbe wie der Schleier. Das Gesicht, das von all dieser Pracht umgeben war, wirkte verloren und fremd. Vespresern schien Gefallen an dem Ergebnis ihrer Bemühungen zu finden. »Es passt Euch, ohne dass viel daran geändert werden musste«, sagte sie. »Und das ist auch gut so, denn wir hatten keine Zeit zu verlieren. Mein Herr hat es schrecklich eilig.« Sie tätschelte Annes Arme. »Er liebt Euch so sehr, wisst Ihr? Ich habe noch nie erlebt, dass er sich gegen seinen Vater aufgelehnt hat, nicht einmal wegen der kleinsten Kleinigkeit. Ich hoffe, er hat Recht, was all das angeht.« Vespresern wartete; ganz offensichtlich hoffte sie auf eine Antwort. »Er ist stets in meinem Herzen und in meinen Gedanken«, sag554 te Anne schließlich. »Es ist mein höchstes Streben, ihm alles Glück zu bescheren, das er verdient.« Das zumindest meinte sie ernst. »Es kommt selten vor, dass jemand Eures Standes aus Liebe heiraten kann, Herzchen«, plapperte Vespresern. »Ihr wisst ja gar nicht, was für ein Glück Ihr habt.« Anne fiel wieder ein, dass Fastia ihr einst das Gleiche gesagt hatte, mehr als einmal - Fastia, die so unglücklich verheiratet gewesen war. Fastia, die früher mit ihr gespielt und Blumengirlanden für sie geflochten hatte, die sie im Streit zurückgelassen hatte, bei der sie sich niemals würde entschuldigen können. Fastia, jetzt Labsal für die Würmer. Anne hörte Schritte im Korridor. »Da kommt er«, verkündete Vespresern. »Seid Ihr bereit, Herzchen?« »Ja«, antwortete Anne. »Durchaus.« »Hier«, sagte die alte Frau, »wir hüllen Euch in diesen alten Wettermantel. Es sollte eigentlich niemand in der Nähe sein, der Euch erkennen könnte, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.« Anne stand still, als Vespresern den wollenen Umhang über ihrem Kleid drapierte. Es klopfte an der Tür. »Wer ist denn da?«, fragte die alte Dienerin - nicht gerade aufrichtig, wenn man ihre Bemerkung von eben bedachte. »Roderick«, kam die Antwort. »Ist sie so weit? Es ist Zeit.« »Sie ist bereit«, erwiderte Vespresern. Knarrend öffnete sich die Tür, und dort stand Roderick, stattlich anzuschauen in rostrotem Wams und weißen Beinkleidern. »Bei den Heiligen«, stieß er hervor und starrte sie an. »Am liebsten würde ich dich jetzt sofort in deinem Kleid sehen.« »Das bringt Unglück«, wehrte Anne ab. »Du bekommst es noch früh genug zu sehen.« »Ja«, lenkte er ein. »Ich fasse es nicht, dass ich so lange ohne dich gewesen bin, Anne. Jetzt erscheint mir sogar ein Glockenschlag zu lange, um ihn ohne einen Blick auf dein Gesicht auszuhalten.« »Ich habe dich auch vermisst«, erwiderte Anne. »Ich habe lan555 ge Nächte im Konvent damit zugebracht, zu überlegen, wo du wohl bist und was du gerade tust, und habe gebetet, dass du mich noch liebst.« »Ich kann ja gar nicht anders«, beteuerte er. »Die Heiligen haben dich in mein Herz geschrieben, und dort ist kein Platz für irgendjemand anderen.« Du weißt ja nicht, wie wahr du sprichst, dachte Anne. Wahrhaftig, das weißt du nicht. »Komm, lass uns gehen«, drängte Roderick. »Vespresern, geh du voraus. Wir nehmen die Dienstbotentreppe und schleichen uns durch die Küche und dann durch die hintere Pforte, wo die Ställe sind. Ich kenne den Posten, der dort Wache steht; er wird uns nicht verraten.« Er ergriff Annes Hand. »Deine Sorgen sind vorüber.« »Ja«, sagte Anne. »Das sehe ich.« Roderick kannte sein Schloss und sein Gesinde gut - sie begegneten fast niemandem, mit Ausnahme eines alten Mannes, der in der Küche Brot buk, und dem Wachposten, von dem Roderick gesprochen hatte. Der Bäcker schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Der Posten schlug Roderick freundschaftlich auf den Rücken und sagte irgendetwas auf Hornisch, das aufmunternd und vielleicht ein wenig frivol klang. Es kam ihr eigenartig vor - der Wachposten war Rodericks Freund, so wie sie und Austra Freundinnen waren. Wie konnte jemand, der so von Verrat durchdrungen, der so ganz und gar davon erfüllt war, von irgendjemandem geliebt werden? Vielleicht konnte man einen solchen Menschen in Wirklichkeit nicht lieben, nicht mit dem Herzen. Vielleicht
war das der wahre Grund dafür, dass Austra sie verlassen hatte - weil sie sie tief in ihrer Seele nicht mehr liebte, sie vielleicht sogar hasste. Nicht wegen irgendetwas Bestimmtem, das sie getan hatte, sondern weil es in Anne nichts mehr gab, was man lieben könnte. Doch genug davon. Es spielte keine Rolle mehr. Alles, worauf es jetzt ankam, war, dies hier zu Ende zu bringen, was für ein Ende es auch immer nehmen würde. 556 Dann waren sie allein in der Kutsche. Vespresern saß vorn beim Kutscher, in einen schweren Mantel gehüllt. Draußen verging das letzte Tageslicht, und Schatten krochen über den Boden. Der Mond war ein schmales Hörn, das den Horizont durchstieß. Noch eine Nacht, dann würde Neumond sein. »Küss mich, Roderick«, sagte Anne, nachdem die Kutsche ein Stück die Straße entlanggeholpert war. »Küss mich.« Er streckte die Arme nach ihr aus und zögerte dann. »Sollten wir nicht bis zur Zeremonie warten?« »Wir haben uns doch schon öfter geküsst«, wandte sie ein. »Ich kann nicht warten, es ist so lange her - lass mich nicht warten.« Es war keine Laterne in der Kutsche, und sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch sie spürte, wie seine Finger die Kontur ihres Unterkiefers nachzeichneten und dann sanft auf ihrem Hinterkopf ruhten, während seine Lippen die ihren berührten. Sie erinnerte sich an jenen Abend in Eslen-des-Schattens, wie seine Hände sie verbrannt hatten wie frisch aus der Esse gezogene Eisen, wie ihr Atem schneller gegangen war und ihr Herz wie rasend gepocht hatte, und wie sie ihn geliebt hatte - und einen winzigen Augenblick lang erinnerte sie sich wirklich und liebte ihn wahrhaftig wieder, so wie es nur ein Mädchen kann, das zum ersten Mal verliebt ist. Ihre Lippen lösten sich voneinander, doch sie zog ihn wieder an sich, legte beide Hände um seinen Kopf und küsste ihn mit all der Finsternis in ihrem Herzen, drängte sie in ihn hinein, füllte ihn durch seinen Mund damit, bis sie hervorquoll. Er stöhnte, doch er konnte sich nicht von ihr losmachen, während sie - vor ihrem geistigen Auge - sein Gesicht auslöschte. Dann schob sie ihn, noch immer sanft, von sich weg. Er begann zu zittern und zu schluchzen. »Ich ... Anne ... ah, ihr Heiligen!« Seine Stimme schwoll zu einem grässlichen Schrei an, und die Kutsche kam rumpelnd zum Stehen. »Du bist nichts, Roderick von Dunmrogh«, sagte sie. Sie öffnete den Schlag und trat hinaus in die Nacht, ohne auf die Proteste des 557 Kutschers und Vespreserns zu achten. Hinkend ging sie die Straße entlang in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zurück zum Wald, oder dorthin, wo der Wald ihrer Meinung nach sein musste. Sie hoffte, ihr Bein würde nicht erneut zu bluten anfangen. Als der Mond höher stieg, war sich Anne ihres Weges immer gewisser, und obgleich das Licht der schmalen Sichel verschwindend gering war, stellte sie fest, dass es mit jedem Schritt heller zu werden und die Schatten zu durchdringen schien. Eine Glocke schlug in der Ferne, und dann noch eine, und der Klang schien wie eine Brise vorüberzutreiben. Irgendwie war sie gleichzeitig ruhig und zornig. Geistesabwesend fragte sie sich, was genau sie Roderick wohl angetan hatte, doch es kümmerte sie nicht allzu sehr. Etwas Schlimmes, Unwiderrufliches, das war gewiss - sie konnte es in den Knochen spüren. Sie trat unter die Bäume, die ihre Äste nach ihr reckten, als der elfte Glockenschlag ertönte, und dort blieb sie stehen. Sie kniete auf der feuchten Erde nieder, schloss die Augen und schob die Welt weit von sich. Als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich in einem anderen Wald, doch es war immer noch Nacht, der Mond stand noch immer als Sichel am Himmel. Vor ihr stand eine Frau, die sie noch nie gesehen hatte. Sie trug eine Maske aus Elfenbein und ein schwarzes Kleid, auf dem Juwelen glitzerten. »Die vierte Glaubende«, sagte Anne. Die Frau neigte leicht den Kopf. »Du hast mich gerufen, und hier bin ich.« Sie hob den Kopf wieder. »Du solltest das nicht tun, Anne. Du bist frei - kehre nach Eslen zurück.« »Nein«, sagte Anne entschieden. »Ich bin es leid, zu fliehen. Ich werde nicht mehr davonlaufen.« Die Frau lächelte schwach. »Du fühlst, wie deine Macht erwacht, aber noch bist du nicht vollständig. Du bist noch nicht bereit für diese Prüfung, das verspreche ich dir.« »Dann werde ich sterben, und damit wird das alles ein Ende haben«, erwiderte Anne. 558 »Es wird nicht nur dein Ende sein, sondern das der Welt, wie wir sie kennen.« »Ich mache mir nicht besonders viel aus der Welt, wie wir sie kennen«, gab Anne ein wenig hochmütig zurück. Die Frau seufzte. »Warum bist du hierher gekommen?« »Um es Euch zu sagen. Ich denke, wenn Ihr Euch so sicher seid, dass ich am Leben bleiben muss, werdet Ihr mir helfen.« »Wir sind bereits dabei, dir zu helfen. Meine Schwestern und ich haben uns abgemüht, haben so viel ins Netz des Schicksals gewoben, wie wir es nur wagten. Wir haben diesen Augenblick vorausgesehen, und es gibt zwei Pfade. Der eine ist der Weg nach Hause, nach Eslen. Just in diesem Moment ist deine Mutter in einem Turm eingekerkert, und der Mann, der deinen Vater ermordet hat, sitzt auf dem Thron. Auch dort nähert sich ein Augenblick, und wenn du nicht da bist, um ihm zu begegnen, wird das Ergebnis schrecklicher sein, als du es dir
vorzustellen vermagst.« »Und der andere Pfad? Der, auf dem ich meinen Verfolgern gegenübertrete und meine Freunde befreie? Der, den ich einschlagen werde?« »Wir können nicht weiter sehen als bis zu diesem Moment«, flüsterte die Glaubende. »Und das ist sehr beängstigend.« »Aber Ihr sagt, Ihr habt diesen Moment vorausgesehen.« »Ja, nicht aber deine Entscheidung. Wir haben befürchtet, dass du den unvorhersehbaren Pfad wählen wirst, und haben getan, was wir konnten, um zu helfen. Ich glaube nicht, dass es genug sein wird.« »Es wird genug sein«, erwiderte Anne. »Oder Ihr werdet Euch eine andere Königin suchen.« Die Mönche hatten den ganzen Tag lang Holz zu einem riesigen Kegel aufgetürmt, doch bald nach Einbruch der Dunkelheit zündeten sie ihn an. Cazio sah zu, wie die Flammen zu dem Eichengeäst über ihnen emporzüngelten. »Glaubst du, sie werden uns verbrennen?«, fragte er z'Acatto. »Wenn sie das vorgehabt hätten, hätten sie uns oben auf die 559 Scheite gebunden. Nein, Junge, ich glaube, die haben etwas Interessanteres im Sinn.« Cazio nickte. »Ja. Etwas, das mit denen da zu tun hat.« Er meinte die sieben Pfosten, die die Mönche vor einiger Zeit eingerammt hatten, doch er meinte auch die neuere und irgendwie Besorgnis erregende Kleinigkeit, die sie erst vor wenigen Augenblicken hinzugefügt hatten - drei Henkersschlingen, die von einem niedrigen Ast herabhingen. »Du hast ja immer gesagt, dass ich mal in einer Schlinge ende«, sagte er zu dem alten Mann. »Stimmt«, pflichtete z'Acatto ihm bei. »Allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich dir dabei Gesellschaft leisten würde. Wo wir gerade davon reden, wie sieht es mit deinem Plan aus? Der, den du Artore versprochen hast?« »Die Grundzüge habe ich fertig«, antwortete Cazio. »Hauptsächlich fehlen mir noch Einzelheiten.« »Aha. Wie willst du dich deiner Fesseln entledigen?« »Das ist unglücklicherweise eine von den Einzelheiten.« »Überlege es dir, während ich ein wenig schlafe«, knurrte z'Acatto. Sie schwiegen eine Weile, während Cazio das Spiel des Feuerscheins betrachtete. Es schien, als sprängen aus Schatten gemachte Riesen von den Bäumen in die Lichtung und zögen sich dann wieder zurück - als machten sie kunstvolle Schritte, Beinarbeit, wie ein Dessrator es tun mochte. Sehnsüchtig blickte er zu Caspator hinüber, der bei seinen übrigen Habseligkeiten lag. Seine Fesseln lockerten sich erneut, doch wenn er sich auf seine Erfahrung verlassen konnte, würde gewiss bald jemand kommen und sie wieder festziehen. Cazio wurde langsam müde und döste schon fast, als es schließlich begann. Die Mönche führten Gefangene zu dem Kreis aus Pfählen und machten sie daran fest. Erst, als er die ersten Schreie hörte, begriff Cazio, dass sie sie nicht festbanden. »Oh, bei allen verdammten Lords, nein!«, stieß Cazio hervor und verdoppelte seine Bemühungen, die Stricke zu lösen. Hilflos 560 sah er zu, wie einem kleinen Mädchen, das nicht älter als fünf Jahre sein konnte, die Arme über den Kopf gezerrt und dort festgenagelt wurden. »Nein!«, schrie er. »Bei allem, was heilig ist, was tut ihr da?« »Sie wecken den Sedos«, flüsterte Artore. »Sie wecken den Wurm.« Er sah verängstigt aus, was bisher nicht der Fall gewesen war. »Wie können ...« Cazio brach ab, vom Grauen überwältigt. »Wie können Menschen so etwas tun?«, brachte er schließlich heraus. »Ich glaube, wir haben noch nicht das Schlimmste gesehen«, sagte Artore. »Und ich glaube, ich sollte mich jetzt lieber von Euch verabschieden.« Cazio sah jemanden in ihre Richtung kommen. Er wollte sich auf den in seine Robe gehüllten Mönch stürzen, doch das Seil zog sich um seinen Hals zusammen und riss ihn zurück. »Hört auf!«, schrie er, als der Mann Artores Seil durchschnitt. Artore war schneller, als er aussah. Er rammte dem Mönch den Kopf ins Gesicht. Der Mann fuhr zurück und bewegte sich dann blitzschnell, versetzte Artore einen Hieb in die Magengrube. Der Gefangene japste und sank auf die Knie, und der Mönch packte ihn in einem Würgegriff und zerrte ihn zu dem Pfahl. »Z'Acatto«, sagte Cazio, der plötzlich merkte, dass er rasch und heftig atmete. »Ja?« »Danke.« »Wofür?« »Für die Dessrata. Für alles.« Einen Moment lang sagte der Alte nichts. »Gern geschehen junge«, erwiderte er schließlich. »Ich hätte mein Leben auf schlechtere Weise herumbringen können. Ich bin froh, hier bei dir zu sein.« Ein Mönch kam auf z'Acatto zu. Euric kam zu Cazio herüber. »Werde bloß nicht zu gefühlsselig«, bemerkte Cazio. »Ich hole uns schon noch hier heraus, und dann wirst du
dir blöd vorkommen.« 561 Die Männer hatten sie fast erreicht. Cazio versuchte sich zu entspannen, damit er sich schnell bewegen konnte. Ihm würde nur dieser eine Augenblick bleiben, wenn das Seil erschlaffte, und er musste diesen Augenblick nutzen. Euric lächelte und versetzte ihm einen Faustschlag gegen den Kiefer. Cazio fühlte, wie seine Zähne gegeneinander schlugen, und plötzlich bekam er keine Luft mehr. Ebenso rasch war der Druck wieder verschwunden, und er stolperte vorwärts, von dem Ritter mitgezerrt, der ihm von hinten wie ein Ringkämpfer den Arm um den Hals gelegt hatte. »Dich kann ich noch nicht töten«, sagte Euric. »Du bist einer der Ehrengäste. Ich dachte, ich würde deinen Part übernehmen müssen, und ich war auch bereit dazu, aber dann haben wir dich gefunden.« »Was faselst du da, du dreckiger Bastard?«, fauchte Cazio. »Schwertkämpfer, Priester und Krone«, erwiderte der Ritter wenig hilfreich. »Und einer, der nicht sterben kann. Wir haben einen Priester und jemanden von königlichem Blut, allerdings weiß sie noch nichts davon, fürchte ich - und jetzt haben wir auch unseren Schwertkämpfer. Und was den Todlosen betrifft - nun, Hrothwulf kennst du ja bereits.« »Soll irgendetwas von alldem verständlich sein?«, fragte Cazio, als Euric ihn den Hügel hinaufschob, auf einen Block unter dem Galgenbaum stellte und ihm dann die Schlinge um den Hals legte. Ein anderer Mann brachte Caspator und rammte ihn mit der Spitze voran vor ihm in den Boden. Gierig starrte Cazio die Waffe an, so nahe und so unerreichbar. Jetzt hatte er einen guten Blick auf all die an die Pfosten genagelten Opfer. Er konnte im Licht des Feuers ihre Gesichter sehen. Z'Acatto hing bereits zwischen ihnen; Blut rieselte von seinen gekreuzten Handflächen. Er war keine sechs Perechi entfernt. Artore war auch da - und er hatte Recht gehabt, es wurde wirklich noch schlimmer. Gegen den Uhrzeigersinn schlitzten die Mönche ihren Gefangenen einem nach dem anderen sorgfältig den Leib auf und zerrten die Eingeweide heraus. Diese zogen sie bis 562 zum nächsten Pfahl und nagelten sie an die Arme des daran hängenden Opfers, dem sie dann ebenfalls den Bauch aufschnitten. Während dies geschah, stimmte ein Sacritor auf dem Hügel in einer Sprache, die Cazio noch nie gehört hatte, einen Sprechgesang an. Unterdessen betraten Neuankömmlinge die Lichtung; ein reich gekleideter Mann und eine Frau. Der Mann war hoch gewachsen, hatte herbe Gesichtszüge und einen ergrauenden Bart. Die Frau sah jünger aus, doch ihr Gesicht war schwer zu erkennen, zum Teil, weil sie gefesselt und geknebelt war. »Da ist ja unser königliches Opfer«, sagte eine Stimme gleich neben Cazio. Er drehte den Kopf und sah einen Mönch auf den Block neben dem seinen steigen und sich selbst gelassen die Schlinge um den Hals legen. »Das hätte ich wirklich nicht gedacht«, hörte Cazio sich wie aus weiter Ferne sagen. »Niemals. Ich habe Grausamkeit gesehen, und Bosheit, Mord und gleichgültige Zerstörung. Aber solch abartige Verderbtheit hätte ich mir in meinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können.« »Du verstehst das nicht«, erwiderte der Mönch leise. »Die Welt liegt im Sterben, Schwertkämpfer. Der Himmel zersplittert und wird bald einstürzen. Und wir werden sie retten. Du solltest es als Ehre betrachten.« »Wenn ich meinen Degen hätte«, sagte Cazio, »würde ich dir zeigen, was ich als Ehre betrachte.« Die Frau wurde auf den dritten Block gestellt. Ihre Augen waren wahnsinnig vor Angst. Cazio wandte sich wieder dem Pfahlkreis zu. Das Werk war zur Hälfte getan, und bald würde z’Acatto an der Reihe sein. Cazio konnte nichts tun - nur zuschauen. 563 45. Kapitel Khrwbh Khrwkh Cazio schloss die Augen, als der Mönch mit dem Messer zu z'Acatto trat, dann jedoch zwang er sich, sie wieder zu öffnen. Wenn zuzusehen, wie er starb, das Einzige war, was er für z'Acatto tun konnte, dann würde er es tun. Also biss er die Zähne zusammen und gelobte sich im Stillen, ihnen nicht den Gefallen zu tun, erneut die Beherrschung zu verlieren. Z'Acatto tat auf einmal etwas sehr Eigenartiges. Er riss beide Füße hoch, stieß die Beine waagrecht in die Luft und warf sie bis zur Höhe seines Kopfes empor - eine beeindruckende Darbietung für einen Mann seines Alters, was Kraft und Gelenkigkeit betraf. Dann schwang er die Beine mit einem Ruck wieder nach unten und schlug damit gegen den Pfahl. Sein Gesicht wirkte merkwürdig heiter, trotz der Schmerzen, die er empfinden musste. Die Nägel wurden durch seine Hände gerissen, als er sich durch die Wucht des Aufpralls nach vorn krümmte und zu Boden stürzte. Augenblicklich sprang er wieder auf und rammte dem Mönch die blutige Rechte gegen die Kehle. Der Mann ließ das Messer fallen, und z'Acatto hob es vom Boden auf und rannte auf Cazio zu. Fast alle anderen hatten den Blick auf den Beschwörer gerichtet, sodass sein Mestro bereits die Hälfte der Entfernung zurückgelegt hatte, ehe ein Warnruf ertönte. Der Mönch neben Cazio war nicht gefesselt, weil er sich freiwillig zur Verfügung gestellt hatte, und er hob rasch die Hände, um sich aus der Schlinge um seinen Hals zu befreien. Doch Cazio zwängte mit einem erstickten Aufschrei das Kinn unter seine Schlinge, riss die Beine hoch und versetzte ihm mit beiden Füßen einen Tritt. Allerdings zog sich dadurch das Seil um seinen Hals
augenblicklich zu, und plötzlich bekam er keine Luft mehr, als sowohl sein Block als auch der, auf dem der Mönch stand, umkippten. 564 Schwarze Schmetterlinge begannen vor seinen Augen herumzuflattern, als ihn das Seil wieder herumdrehte, und er sah z'Acatto, der sich vom Boden aufraffte. Der lange schwarze Schaft eines Pfeils ragte zitternd aus dem Rücken des Älteren, und er fluchte unablässig und einfallsreich. Während ein weiterer Pfeilhagel um ihn herum niederging, hastete er den Hügel hinauf. Er wurde abermals getroffen, diesmal in die Wade, doch er fiel nicht. Eine weitere Drehung, und Cazio erblickte den Mönch, der genauso dahing wie er selbst, jedoch beide Hände um das Seil geklammert hatte und mit einer versuchte, sich hochzuziehen, während er sich mit der anderen bemühte, den Knoten der Schlinge zu lockern. Z'Acatto verwehrte es ihm; er schlitzte dem Ordensmann mit einer schnellen Bewegung die Kehle auf und durchtrennte dann mit dem nächsten Schnitt das Seil, das nahe daran war, Cazio das Leben zu kosten. Nach Luft schnappend plumpste Cazio zu Boden. Er konnte z'Acatto nicht mehr sehen, doch er fühlte, wie sich seine Fesseln lösten, und mit einem heiseren Schrei kam er auf die Füße und riss Caspator aus dem Boden. Dann drehte er sich um und erblickte z'Acatto mit einem dritten Pfeil zwischen den Rippen. Der Atem des Alten ging in kurzen, keuchenden Stößen, und seine Augen wurden glasig. »Bleib unten, alter Mann«, wies Cazio ihn an. »Ich erledige das.« »Ja«, japste z'Acatto. »Großartige Idee.« Euric und zwei der Soldaten standen als Erste auf Cazios Liste. Sie waren ein paar Perechi entfernt und stürmten herbei, die Schiachterbeilschwerter gezückt. Cazio war ein wenig überrascht, dass man ihn nicht mit Pfeilen gespickt hatte wie z'Acatto, doch ein rascher Rundblick über die Lichtung zeigte ihm, dass die Bogenschützen ihre Waffen senkten, und er lächelte verzerrt, als ihm klar wurde, dass sie ihn lebendig haben wollten, damit sie ihn aufhängen konnten. Er ging in Positur und zog sich mit der freien Hand die Schlinge vom Hals. 565 Abgesehen von ihren Breitschwertern trugen die Männer alle Rüstungen, wenngleich keiner von ihnen einen Helm aufhatte. Cazio streckte seinen Degen entlang einer Linie vor, die auf Eurics Gesicht zielte. Der Ritter schlug nach seiner Klinge, doch mit einer raschen Fingerdrehung senkte Cazio die Spitze seines Rapiers unter der suchenden Klinge hindurch, änderte jäh ihre Ausrichtung und trat zur Seite. Eurics Schwung trug ihn an Cazio vorbei, als Caspators Spitze einen der Soldaten in die Kehle traf. Cazio sprang vorwärts und nach links, wobei er die Waffe als Hebel benutzte und den Mann herumdrehte, sodass der angehende Leichnam kurz zwischen Euric und den anderen Krieger geriet. Das verschaffte ihm die nötige Deckung, um die Klinge zurückzuziehen und wieder die Grundstellung einzunehmen. Der unglückliche Kämpfer stürzte zu Boden; Blut sprudelte aus dem Loch in seiner Luftröhre. »Ca dola dazo lamo«, verkündete Cazio seinen Gegnern. Der zweite Soldat drängte sich an Euric vorbei und hob die Hand zu einem Hieb; vielleicht hatte er vergessen, dass Cazio lange genug am Leben gelassen werden sollte, um zu hängen. Cazio konterte in die Attacke hinein, ein rascher, gerader Stoß, der den Mann an der Unterseite des Handgelenks traf. »Z'estatito«, erläuterte er, als der Mann ächzte und seine Waffe fallen ließ. Eurics Klinge zuckte in einer Abwärtsbewegung von rechts heran. Anscheinend zielte der Schlag auf sein Bein, deshalb fing Cazio ihn mit einer Außenparade ab und ließ einen Stoß ins Auge des Soldaten folgen, der noch immer dastand und verständnislos sein blutiges Handgelenk anstarrte. »Zopertuno sesso, compostro en truto.« Er duckte sich vor Eurics wildem Rückhandschlag, weil seine Klinge noch immer im Schädel des Toten steckte. Als er sie herausriss, stürzte sich Euric auf ihn, packte ihn am Genick und drosch den Knauf seines Breitschwerts in einem brutalen Schlag abwärts, der Cazios Nase galt. Es gelang Cazio, den Kopf wegzudrehen, sodass das Heft ihn nur seitlich streifte, doch auch das reichte aus, um die Welt zum Singen zu bringen. Er erwiderte die Attacke, in566 dem er Caspators Heft gegen Eurics Ohr schmetterte, und beide Männer gingen zu Boden. Cazio kam hastig auf die Beine, und Euric tat es ihm gleich. Aus dem Augenwinkel sah Cazio drei Mönche mit aberwitziger Geschwindigkeit auf sich zurennen und wusste, dass ihm nur ein Herzschlag blieb, um zu handeln. »Du entkommst uns nicht«, versprach Euric ihm. »Das versuche ich auch gar nicht«, entgegnete Cazio. Und damit - wie er es erst vor ein paar Tagen mit z'Acatto geübt hatte - warf er sich vorwärts wie einen Speer, den Körper fast parallel zum Boden. Eurics Augen weiteten sich, und er riss abwehrend sein Schwert hoch, allerdings viel zu spät. Caspators Spitze traf mit dem ganzen Schwung und dem vollen Gewicht von Cazios Körper Eurics Zähne. Sie zersplitterten, und der Stahl fuhr über die Zunge und durchs Gehirn. Euric blinzelte, ganz offensichtlich verdutzt über seinen Tod. »Z'ostato«, knurrte Cazio. Er hatte kaum wieder Boden unter den Füßen, als etwas sich von hinten auf ihn warf und ihn mit einem Würgegriff packte. Es fühlte sich an, als hätte er ein eisernes Joch um den Hals. Dann wurde er grob auf die
Beine gezerrt und sah sich umringt. Einer der Umstehenden war der Mann mit den feinen Gewändern. »Das war außergewöhnlich«, bemerkte er. »Zumindest können wir jetzt sicher sein, dass Ihr wahrhaftig ein Schwertkämpfer seid. Aber jetzt brauchen wir einen neuen Priester und jemand Neues von königlichem Blut. Meiner Gemahlin scheint ein Missgeschick zugestoßen zu sein.« Cazio blickte den Hügel hinauf und sah, dass die Frau irgendwie von ihrem Block gefallen war und sich erhängt hatte. Er hoffte, dass nicht er das bei seinem Kampf verursacht hatte. »Wir müssen Euch alle gleichzeitig hängen, Ihr versteht«, erläuterte der Mann. Cazio spuckte ihm ins Gesicht. »Ihr habt Eure Frau geopfert, Ihr tollwütiger Köter?« Ohne eine Regung zu zeigen, wischte der Mann sich das Ge567 sieht ab. »Oh, ich würde viel mehr opfern als das, um diesen Pfad der Schreine zum Leben zu erwecken«, sagte er. Dann lachte er. »Ich nehme an, das werde ich tatsächlich auch tun müssen - ich habe keine Zeit, meinen Sohn zu suchen, und ich bin hier wohl der Einzige von königlichem Geblüt.« »Nein«, rief eine vertraute Stimme. »Hier ist noch jemand von edlem Blut.« Alle drehten sich um, und Cazio sah Anne am Waldrand stehen. Ihre Stimme hob sich zu einem Befehlston, den er bei ihr noch nie gehört hatte. »Ich bin Anne Dare«, verkündete sie. »Tochter des Königs von Crothenien, Herzogin von Rovy. Ich befehle euch allen, die Waffen niederzulegen und diese Leute freizulassen, sonst, das schwöre ich bei der heiligen Cer der Rächerin, werdet ihr alle sterben.« Ein paar Herzschläge lang war es still auf der Lichtung, abgesehen vom Knistern des Feuers und dem Stöhnen der Sterbenden. Dann lachte der Edelmann neben Cazio bellend auf. »Ihr!«, sagte er. »Ich habe Euch überall gesucht, wisst Ihr das? Habe einen ganzen Konvent abgeschlachtet, um Euch zu finden. Meine Männer haben mir erzählt, Ihr wärt tot - und jetzt lauft Ihr mir geradewegs in die Arme. Unglaublich. Komm her, Mädchen, gib mir einen Kuss.« »Ihr werdet mich nicht verhöhnen«, sagte Anne ruhig. »Ich denke doch«, erwiderte der Mann. Gefasst trat Anne auf ihn zu. »Ihr seid Rodericks Vater«, sagte sie. Ein Teil von ihr bebte vor Furcht, doch dieser Teil schien zu versinken, schmolz dahin wie Schnee im Frühling. »Natürlich. Rodericks Vater und seine hansischen Ritter. Und warum habt Ihr mich durch die große, weite Welt gejagt, Herzog von Dunmrogh? Welche Furcht hat Euch dazu getrieben?« »Keine Furcht«, wehrte der Herzog ab. »Ich habe getan, was mein Lord befohlen hat.« »Welcher Lord ist das? Welcher Lord hat meinen Tod befohlen?« 568 »Wie töricht von Euch zu glauben, dass ich auch nur seinen Namen aussprechen werde«, sagte Dunmrogh. »Töricht ist der Mann, der nicht fragt, was sein Lord von einem einzelnen Mädchen zu befürchten hat«, fauchte Anne. Schlagartig fühlte sie das Krankhafte um sich herum, ein pulsierendes Fieber in der Erde selbst, und irgendetwas wälzte sich im Boden behäbig herum, öffnete ein Auge. Es war wie an jenem Tag mit Austra, in der Stadt der Toten, als sie den Rittern entkommen waren, aber stärker. Sie holte Atem und spürte, wie sie sich dabei immer weiter ausdehnte. »Er fürchtet nur eine Königin in Eslen«, sagte Dunmrogh. Plötzlich klang er ein winziges bisschen unsicher. »Nein«, flüsterte Anne. »Wie alle Männer fürchtet er die Finsternis des Neumonds.« Erneut holte sie Atem und spürte, wie er in ihrer Lunge schwarz und dick wie Öl wurde. »Hängt sie«, befahl Dunmrogh. Sie stieß den Atem aus ... und aus, fühlte, wie der Wurm sich durch ihre Füße aus der Erde erhob und durch sie hindurchströmte. Dunmrogh schrie auf wie ein verängstigtes Kleinkind, doch sie ließ es nicht bei ihm bewenden. Sie schickte es weiter, durch die Schar der Mönche, durch die gepanzerten Ritter, schauderte und hörte sich selbst lachen, als wäre sie von Sinnen. Dunmrogh krümmte sich und erbrach Blut. Ein paar der Mönche wollten sich auf sie stürzen, doch es war, als bewegten sie sich gegen einen Wind, der zu stark war, um dagegen anzukommen. Sie verschonte Cazio und den langsam vergehenden z'Acatto, doch jeder andere Mann war ihr Sklave, beugte sich ihrer Macht. Außer einem. Ein Mann ging trotzdem auf sie los; der Ritter, der Sir Neil verwundet hatte. Ihr Wille rauschte durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da, und der Wurm nahm ihn nicht zur Kenntnis. Er beschleunigte seine Schritte und zog dabei sein Schwert. Undeutlich bemerkte sie, wie Cazio versuchte, sich zu erheben und seine eigene Waffe zu ziehen. Dann drehte sich etwas in ihr, wurde weniger, und ihr war, als 569 fiele sie. Das Letzte, was sie sah, war der Ritter, der herbeistürmte, um ihr den Kopf abzuschlagen. Cazio sah Anne fallen, gerade als der Ritter in Reichweite kam. Er wusste nicht genau, was geschehen war, war sich nicht sicher, ob er es wissen wollte. Das Einzige, was er wusste, war, dass er frei war, dass er Caspator in der Hand hielt und dass er einen Feind vor sich hatte. Unglücklicherweise trug dieser einen Helm, und sein Schwert war jene seltsame glühende, flackernde Klinge, die er in z'Espino hatte Panzerstahl durchtrennen sehen.
Cazio stieß in den Abwärtshieb des Ritters hinein, parierte und attackierte mit derselben Bewegung, doch seine Klinge kratzte lediglich über den Stahl des Brustharnischs. Der Ritter riss die Klinge wieder hoch, versuchte Cazio von der Leiste bis zur Schulter zu spalten, doch der junge Vitellianer tanzte bereits zur Seite und drosch sein Rapierheft ins Visier des Ritters, versuchte es herunterzureißen. Sein Gegner fuhr herum, seine Waffe zischte ein drittes Mal, und obgleich es Cazio gelang, Caspator rechtzeitig zu heben, um seinem Hieb zu begegnen, traf dieser ihn mit voller Gewalt, genau auf dem stärksten Teil der Klinge, und seine Knie gaben unter der Wucht des Aufpralls nach. Der gepanzerte Fuß des Ritters fuhr hoch und versetzte ihm einen Tritt unters Kinn, und greller Blutgeruch barst in seiner Nase, als er flach auf dem Rücken landete. Der Ritter achtete nicht weiter auf ihn, sondern schritt wieder auf Annes ausgestreckt daliegende Gestalt zu. Cazio kam mühsam auf die Beine und wusste, dass er es niemals rechtzeitig schaffen würde. Dann klirrten zwei Pfeile in den Ritter hinein, und er taumelte. Cazio blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren und sah einen Mann zu Pferd, der auf sie zupreschte. Die Pfeile waren nicht von ihm abgeschossen worden - er hatte ein Schwert in der einen und einen hölzernen Schild in der anderen Hand. Sie stammten von einem weiteren Paar - einer zierli570 chen, mit einer Kapuze verhüllten Gestalt und einem hageren Mann in einem Lederharnisch. Cazio versuchte sich mit Caspators Hilfe hochzustemmen und bemerkte erschrocken, dass der dicke Teil der Klinge von der sonderbaren Waffe fast bis zur Mitte eingekerbt worden war. Caspator war aus Belbaina-Stahl geschmiedet, dem härtesten der Welt. Der Nauschalk beugte sich gerade zu Annes reglosem Körper hinab, als Aspars und Leshyas Pfeile ihn trafen. Sein Innehalten verschaffte Neil gerade genug Zeit, um ihn zu erreichen. Hart schlug er mit Cuenslec zu und fühlte den heftigen, befriedigenden Aufprall, der seinen Arm hinaufschoss. Er verstand nicht, warum die anderen Männer auf der Lichtung nicht ebenfalls kämpften oder zumindest auf den Beinen standen, doch er hatte nicht vor, diesbezüglich Fragen zu stellen. Ein paar von ihnen machten ohnehin Anstalten, sich zu erheben, und wenn sie das taten, würden er und seine neuen Gefährten sich einer gewaltigen Übermacht gegenübersehen. Sein Pferd scheute und bäumte sich auf, also stieg Neil rasch ab und trat dem Ritter gegenüber, als dieser sich wieder aufrichtete und die geheimnisvolle Klinge schwang. »Es heißt, Virgenya Dares Krieger hatten solche Waffen«, sagte Neil. »Todesklingen. Waffen für Helden, Waffen, um das Böse zu bekämpfen. Ich weiß nicht, wo Ihr das Schwert da herhabt, aber ich weiß sehr wohl, dass Ihr es nicht verdient, es zu führen.« Der Nauschalk schob sein Visier empor. Sein Gesicht war blass, mit rosigen Wangen, und seine Augen waren so grau wie Meereswogen. »Ihr«, murmelte er, fast wie in einem Traum. »Ich habe Euch doch schon einmal getötet, nicht wahr?« »Nur beinahe«, antwortete Neil. Er hob den Schild. »Aber beim heiligen Fren und der heiligen Fendve, diesmal sterbe entweder ich, oder Ihr tut es.« »Ich kann nicht sterben«, sagte der Mann. »Versteht Ihr? Ich kann nicht.« 571 »Vergebt mir, wenn ich Euch nicht beim Wort nehme, was das betrifft«, erwiderte Neil. Er hatte sich die ganze Zeit über näher herangeschoben, hatte die richtige Entfernung gesucht. Jetzt begann er den anderen langsam zu umkreisen, den Blick fest auf die Augen des Nauschalk geheftet. Ein rotes Feuer fing an, in seinem Leib aufzulodern, als die Raserei begann. Dann blinzelte der Nauschalk, und in diesem Moment griff Neil an; er sprang vor und schlug über den oberen Schildrand hinweg zu. Sein Feind antwortete mit einem Stoß mit gestrecktem Arm, der Neils Schild traf, der Instinkt eines guten Kämpfers, denn der Gegenstoß hätte Neil aufhalten und ihn dem Mann eine Schwertlänge weit vom Leib halten sollen. Doch die Todesklinge drang direkt über Neils Arm durch den Schild. Er musste seinen Schlag trotzdem abbremsen, um nicht mit dem Gesicht in das leuchtende Schwert zu rennen, doch er drehte den Schild abwärts, zog die feststeckende Todesklinge mit und schlug ein zweites Mal zu. Cuenslec klirrte gegen die Verbindung zwischen Halsberge und Schulterschutz, und Neil spürte, wie die Kettenglieder barsten. Das Visier klappte unter der Wucht des Schlages zu, und wieder hatte Neils Gegner kein Gesicht. Er ließ den Schild fallen, ehe der andere die tödliche Waffe durch seinen Arm treiben konnte, und holte zu einem neuerlichen Hieb aus, doch die Todesklinge zuckte zu schnell empor. Neil ließ die Attacke kommen, wich jedoch zurück, sodass sie ihn um Haaresbreite verfehlte. Dann setzte er seinerseits zum Gegenangriff an. Er war davon ausgegangen, dass der Ritter den Schwung seines Angriffs würde abfangen müssen, ehe er einen Rückhandschlag führen konnte, doch er hatte sich verrechnet. Die Waffe schien so gut wie nichts zu wiegen, denn hier kam die Rückhand, hieb genau in seine Attacke hinein. Nur indem er hastig zurücksprang, konnte er verhindern, dass ihm die Klinge den Leib aufriss. Neil atmete bereits schwer, denn er war von seinem letzten Kampf mit diesem Mann noch immer geschwächt. Der Nauschalk, der anscheinend überhaupt nicht müde war, drang auf ihn ein. 572 »Was geht hier vor, Stephen?«, fragte Aspar, während er Unhold zur Ruhe brachte und auf einen Mönch zielte.
Der Ordensmann hatte am Boden gelegen, als sie eingetroffen waren, und kam jetzt unsicher auf die Beine. Aspar ließ den Pfeil fliegen. Der Bursche sah seinen Tod nicht kommen; er bot ein fast regungsloses Ziel. Der Schaft traf ihn ins Herz, und er sank wieder auf die Knie. Rundum erhoben sich mehr und mehr von den anfangs reglosen Gestalten auf der Lichtung. Aspar zielte auf die lebhafteste. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Stephen. »Ich habe etwas gefühlt, als wir näher gekommen sind, etwas Starkes, aber jetzt ist es verschwunden.« »Möglicherweise haben sie die Anweisungen des Praifec nie erhalten«, sagte Leshya. »Vielleicht haben sie etwas falsch gemacht.« »Vielleicht«, räumte Aspar ein. »Aber was immer auch passiert ist, es scheint für uns von Vorteil zu sein. Stephen, Ihr und Winna holt die Prinzessin. Beeilt Euch,« Neils Zweikampf mit dem gepanzerten Ritter schien nicht allzu gut zu verlaufen. Das Schwert des Ritters flackerte wie das Messer, mit dem Desmond Spendlove Winna hatte umbringen wollen. Und der Praifec hatte es - wie er sich jetzt erinnerte - einbehalten, um es »zu untersuchen«. Er erschoss einen Mann und wählte ein neues Ziel aus, doch diesmal sah der Betreffende ihn rechtzeitig und wich dem Pfeil aus. Dann kam er auf sie zugerannt, schneller als eine Antilope. Zur Linken, auf der anderen Seite der Lichtung, sah Aspar noch einen weiteren. »Leshya, nehmt Ihr den Linken«, knurrte er. »Ja.« Aspar zielte sorgfältig und schoss erneut, doch der Mönch wirbelte, ohne anzuhalten, zur Seite, und das Geschoss streifte lediglich seinen Arm. Er kam rasch näher, und Aspar ging davon aus, dass er nur noch einen Schuss hatte. Er schoss aus fünf Ellen Entfernung, und trotzdem hätte der Mann dem Pfeil beinahe ausweichen können. Er traf ihn in den 573 Bauch, und er ächzte, als er mit seinem Schwert einen wilden Hieb gegen Aspar führte. Aspar warf Unhold herum und wich dem Schlag aus, dann gab er dem Tier die Sporen, um wieder genug Abstand zum Schießen zu bekommen, doch der Mönch stürmte weiter auf ihn los, viel zu schnell, sprang mit einem Satz durch die Luft. Es gelang Aspar, das Schwert mit seinem Bogen abzuwehren, doch die Wucht, mit der der Mann ihn ansprang, riss ihn aus dem Sattel. Aspar schaffte es, sich von dem anderen zu lösen und seinen Dolch zu ziehen, doch noch während er wieder auf die Beine kam, sah er bereits das Schwert auf sich zuzischen, ein wenig langsamer, als er es von den Kriegerpriestern gewohnt war. Ob das an der Bauchwunde lag oder an dem, was vor ihrem Eintreffen hier geschehen war, wusste er nicht zu sagen. Er konnte sich gerade noch unter dem Schlag wegducken, sprang vor, packte das Handgelenk seines Gegners und führte mit dem Dolch einen heftigen Hieb gegen die Innenseite seines Oberschenkels. Blut spritzte ihm ins Gesicht, und er wusste, dass die Klinge dort eingedrungen war, wo er es gewollt hatte. Dem Mönch jedoch war noch nicht klar, dass er tot war. Er packte Aspar am Haar und rammte ihm das Knie ins Gesicht, und als der Waldhüter in jähem Schmerz zurücktaumelte, schloss er die Hände um seinen Hals und begann zuzudrücken. Aspar stach ihm den Dolch in die Rippen und drehte die Waffe, doch er spürte, wie in seiner Kehle etwas knackte, und schwarze Sterne löschten die wahnsinnigen grünen Augen aus, die finster auf ihn herabstierten. Dann wich die Kraft aus den Fingern des Mannes, Blut strömte aus seinem Mund, und es gelang Aspar, ihn wegzustoßen. Gerade noch rechtzeitig, um einen weiteren Fratir zu erblicken, nur wenige Ellen entfernt, das Schwert zum Todesstoß erhoben. Der Nauschalk kam auf Neil zu, und dieser konnte nichts anderes tun, als den Hieben des anderen auszuweichen. Bei einem Duell in voller Rüstung ging es weniger darum, sich im Geschick mit dem 574 Schwert zu messen, als vielmehr darum, wer den besseren Panzer besaß. Ritter in voller Rüstung parierten eigentlich keine Streiche, sie steckten sie einfach ein und teilten ihrerseits Schläge aus. In diesem Fall jedoch wusste Neil aus Erfahrung, dass selbst die erstklassige Rüstung, die er in z'Espino getragen hatte, der glänzenden Todesklinge nicht gewachsen wäre. Und obgleich Neil den Großteil seines Lebens in Kettenhemd oder Lederharnisch gekämpft hatte - und daher mit der Kunst des Parierens bestens vertraut war -, wagte er es doch nicht, dies zu tun; nicht wenn jeder Schlag gegen seine Waffe aus herkömmlichem Stahl dieser Schaden zufügte. Er musste den Schlachtenwahn aus seinem Gehirn verbannen und nachdenken, auf eine gute Gelegenheit warten, ehe er völlig erschöpft war. Der Ritter stieß einen Schrei aus und sprang vorwärts, gerade als Neil klar wurde, dass er bis zum Hügel zurückgedrängt worden war. Er stolperte und sah fast träge, wie die leuchtende Klinge sich auf ihn herabsenkte und dann wusste er plötzlich genau, was er zu tun hatte. Er hob sein eigenes Schwert in einer hohen, direkten Parade, wobei er den Schlag mit der Schneide abfing statt mit der flachen Seite, mit der man normalerweise parierte. Die Wucht des Hiebes drosch sie auf seine Schulter
nieder, und die Todesklinge durchtrennte Cuenslec und drang tief in seinen Harnisch. Ohne auf die rasenden Schmerzen zu achten, ließ er seine Waffe los und packte die Schwertfaust des Ritters mit beiden Händen, drehte sich, sodass der Arm des anderen über seiner Schulter lag, und riss ihn mit einem Ruck nach unten. Die mit Gelenken versehene Rüstung verhinderte, dass der Knochen brach, doch das leuchtende Schwert fiel glitzernd zur Erde. Der Ritter versetzte Neil einen Faustschlag in die Nierengegend, und er spürte den Hieb durch den Kettenpanzer hindurch, doch er biss die Zähne zusammen, stemmte den Fuß als Hebel nach hinten gegen das Knie des Nauschalk und warf ihn zu Boden. Dann, noch ehe er auch nur Atem geholt hatte, ergriff er das Heft 575 der Todesklinge, hob die Waffe und rammte sie in die Bresche, die er bereits an der Schulter seines Feindes in dessen Rüstung geschlagen hatte. Der Nauschalk schrie auf, ein vollkommen unmenschlicher Laut. Keuchend hob Neil das Schwert noch einmal und trennte ihm mit einem wilden Hieb den Kopf vom Rumpf. Ein Pfeil surrte an Stephens Gesicht vorbei, als er die bewusstlose Prinzessin erreichte, doch er ignorierte ihn grimmig; er verließ sich darauf, dass Aspar und Leshya ihnen jegliche Angreifer vom Leib halten konnten, bis sie Anne in Sicherheit gebracht hatten. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte mehr Geschick im Umgang mit Waffen, als sein von den Heiligen berührtes Gedächtnis ihm von Zeit zu Zeit auf völlig aberwitzige Weise verlieh. »Cazio!«, schrie jemand, und Stephen sah, dass das andere Mädchen, Austra, Winna auf dem Fuße folgte. Der Mann, der sich neben der Prinzessin bemühte, auf die Beine zu kommen, blickte zu ihnen empor. »Austra, ne! Cuvertudo!«, brüllte er. Es war ein zeitgenössischer Dialekt, nicht die Sprache der Kirche, doch Stephen verstand ihn trotzdem. Doch die Warnung kam zu spät. Die übrig gebliebenen Mönche und Soldaten hatten sich von der geheimnisvollen Starre erholt, die sie befallen hatte. Sie sammelten sich hinter einem Mann, der die blaue Robe eines Sacritor trug. Stephen zählte acht Bogenschützen, alles Mönche des Mamres, und zehn bewaffnete und gepanzerte Männer, die auf sie zukamen. Aspar hob in sinnloser Abwehr die Arme und zuckte dann zusammen, als ein Pfeil den Mönch mit solcher Wucht in die Stirn traf, dass sein Kinn himmelwärts fuhr. Als er sich umdrehte, sah er, dass Leshya den Schuss aus weniger als zwei Ellen Entfernung abgegeben hatte. »Halt, oder ich schieße«, sagte sie trocken, als der Mönch wie eine gefällte Pappel zu Boden stürzte. 576 »Sceat«, brachte Aspar schwach heraus. Hastig kam er auf die Beine und griff sich seinen Bogen, nur um festzustellen, dass die Sehne gerissen war. Er sah, wie die Männer auf Stephen und die anderen losgingen. »Wir können immer noch entkommen«, sagte Leshya. »Irgendjemand muss erfahren, was hier geschehen ist.« »Um das zu berichten, reicht einer von uns beiden«, erwiderte Aspar. »Und ich würde sagen, das seid Ihr.« Er schwang sich auf Unholds Rücken. »Komm, Junge«, murmelte er. Neil nutzte das, was sich wie das letzte Quäntchen Kraft in seinem Körper anfühlte, um zu der kleinen Gruppe hinüberzueilen, die sich um Anne scharte. Zusammen mit Cazio stellte er sich direkt zwischen sie und die Angreifer. Cazio bedachte ihn mit einem schwachen Grinsen und sagte etwas, das recht fatalistisch klang. »Ihr habt Recht«, pflichtete Neil ihm bei, als sich die Bögen der Mönche auf sie richteten. »Wartet!«, rief der Sacritor. »Wir brauchen die Prinzessin und einen von den Schwertkämpfern lebend. Lasst sie uns, und der Rest von euch kann gehen.« Neil hörte Pferdehufe hinter sich, drehte sich um und sah Aspar heranreiten. Die Krieger kamen immer näher. Der junge Ritter hatte es nicht nötig, diesen lächerlichen Vorschlag mit einer Antwort zu beehren. Anscheinend hielt auch sonst niemand dies für angebracht. Er richtete den Blick auf die Bogenschützen und überlegte, ob er auch nur einen von ihnen erreichen könnte, ehe sie ihn töteten. Nach dem, was er von ihren Fähigkeiten gesehen hatte, wahrscheinlich nicht. »Ja«, sagte Aspar, als hätte er seine Gedanken belauscht. »Die Burschen sind gute Schützen. Aber sie werden nicht schlechter. Wir können sie uns genauso gut gleich vornehmen.« »Wartet«, sagte Stephen. »Ich höre Pferde, sehr viele, sie kommen hierher.« »Das ist wahrscheinlich nicht gerade gut für uns«, bemerkte Aspar. 577 Stephen schüttelte den Kopf. »Doch, ich denke schon.« Auch Aspar glaubte, Pferde zu hören, doch er hatte soeben etwas anderes bemerkt - einen Schatten, der sich am Rande der Lichtung zwischen den Bäumen bewegte. Als ein Pfeil plötzlich einen der Bogenschützen in den Nacken traf, wusste er, dass es Leshya war. Die übrigen Mönche fuhren wie ein Mann herum und schössen in den Wald. Mit einem Tritt setzte Aspar Unhold in Bewegung, entschlossen, die Ablenkung nach Kräften auszunutzen. Er hatte die Hälfte der Entfernung zwischen ihnen zurückgelegt, als die Männer zu schießen begannen. Aspar sah schwarze Schemen, und ein Schaft krachte hart gegen seinen Harnisch, bohrte sich durch seine Schulter und fuhr hinten wieder heraus. Vage wunderte er sich, was für einen Zug diese Burschen auf ihre Bogensehnen ausüben konnten. Noch schmerzte es allerdings nicht.
Ein zweiter Pfeil streifte seine Wange, hinterließ eine tiefe Schnittwunde und riss einen Teil seines Ohrs mit, und das schmerzte gewaltig. Dann schrie Unhold und bäumte sich auf, und Aspar schwebte einen Augenblick lang in der Luft, ehe er auf den Boden krachte. Stur stemmte er sich hoch und riss seine Wurfaxt heraus, wild entschlossen, wenigstens einen von ihnen zu töten, ehe sie ihn in ein Stachelschwein verwandelten. Doch sie achteten gar nicht mehr auf ihn. Ungefähr zwanzig Reiter kamen auf die Lichtung geprescht, bewaffnet und gepanzert, mit Ausnahme des Anführers, eines jungen Mannes in einem prächtigen roten Wams und weißen Beinkleidern. Er hatte ein Schwert gezogen. »Anne!«, schrie der Junge. »Anne!« Er konnte den Namen nur zweimal rufen, denn ein Pfeil traf ihn in die Brust, und er stürzte rücklings vom Pferd. Die Bogenschützen stoben mit von den Heiligen verliehener Geschwindigkeit auseinander und schössen weiter auf die Berittenen. Aspar suchte sich den am nächsten Stehenden aus und warf 578 seine Axt. Bevor seine Knie nachgaben, war ihm die tiefe Befriedigung vergönnt, zu sehen, wie sich die Waffe in den Schädel des Mannes grub. Als Aspar auf die Schützen losging, griffen Neil und Cazio die Schwertkämpfer an. Neil ging davon aus, dass es den Bogenschützen schwerer fallen würde, einen Schuss anzubringen, wenn er mitten im Handgemenge steckte. Wovon Cazio ausging, wusste er nicht genau, doch das war auch gleichgültig. Innerhalb weniger Atemzüge fochten sie Schulter an Schulter. Die Todesklinge war leicht und flink in seiner Hand, und er streckte vier Männer nieder, ehe die Übermacht ihn zu Boden zwang. Dann versetzte jemand ihm einen Schlag auf den Kopf, und eine Weile wurde es schwarz um ihn. Eine Männerstimme weckte ihn. Neil öffnete die Augen und erblickte einen Trupp berittener Männer. Der Anführer hatte sein Visier hochgeschoben und starrte auf ihn herab. Er sagte etwas, das Neil nicht verstand, und schaute sich mit fassungslosem Gesicht auf der Lichtung um. »Ich verstehe Euch nicht, Sir«, antwortete Neil in der Sprache des Königs. Hinter ihm stöhnte Anne. »Im Namen der Eier des heiligen Rooster, was geht hier vor?«, verlangte der Reiter zu wissen. Neil deutete auf das Wappen des Mannes. »Ihr seid ein Vasall Dunmroghs, Sir - Ihr solltet besser Bescheid wissen als ich.« Der Ritter schüttelte den Kopf. »Mein Herr, der junge Lord Dunmrogh, Sir Roderick - er hat uns hergeführt. Ich dachte, er wäre von Sinnen, als er uns hiervon erzählte, aber ... Sir, Ihr müsst verstehen, ich wusste nichts von diesen Ereignissen.« Er hob beide Hände, als wolle er irgendwie die an den Pfählen hängenden verstümmelten Leichen und das allgemeine Blutbad auf der Lichtung mit einschließen. Sein umherschweifender Blick fiel auf den Leichnam des Herzogs von Dunmrogh, und seine Augen wurden schmal. 579 »Sagt mir, was hier vorgefallen ist«, forderte er. »Ich habe Dunmrogh getötet«, ließ sich eine schwache Frauenstimme vernehmen. »Ich war es.« Neil drehte sich um und sah Anne, die wieder auf den Beinen stand, gestützt von Stephen und Winna. Ihr Blick fiel auf ihn, und ihr Mund öffnete sich. »Sir Neil?«, keuchte sie. Neil fiel auf ein Knie. »Euer Hoheit.« »Hoheit?«, wiederholte der Berittene. »Ja.« Anne wandte sich wieder zu ihm um. »Ich bin Anne, Tochter Williams des Zweiten, und noch vor Dunmrogh oder irgendeinem anderen Herrn schuldet Ihr mir Gefolgschaftstreue.« Neil lief es kalt über den Rücken - wie sehr sie sich in diesem Moment wie Königin Muriele anhörte. »Wie lautet Euer Name, Sir?«, fragte Anne. »Ich heiße Marcac MaypCavar«, antwortete der Gefragte. »Aber ich -« »Sir Marcac«, unterbrach ihn einer seiner Männer. »Das ist wirklich Prinzessin Anne. Ich habe sie bei Hofe gesehen. Und dieser Mann ist Neil MeqVren, der die Königin vor einem ihrer eigenen Handwerksmeister gerettet hat.« Noch immer ganz offensichtlich verwirrt, blickte Sir Marcac sich um. »Aber was ist hier los? Diese Leute da, was ist ihnen zugestoßen?« »Ich bin mir selbst nicht ganz sicher«, erwiderte Anne. »Aber ich brauche Eure Hilfe, Sir Marcac.« »Wie lautet Euer Befehl, Hoheit?« »Holt diese Leute von den Pfählen herunter und sorgt dafür, dass man sich ihrer annimmt«, sagte Anne. »Und nehmt jeden fest, der nicht an einen Pfosten genagelt ist oder zu meinem gegenwärtigen Gefolge gehört. Übernehmt Schloss Dunmrogh, setzt jeden Geistlichen fest, den Ihr dort vorfindet, und haltet das Schloss, bis Ihr Nachricht aus Eslen erhaltet.« »Gewiss, Euer Hoheit. Und was noch?« »Ich werde Pferde und Vorräte brauchen und so viele bewaffne580 te Männer, wie Ihr entbehren könnt«, antwortete sie. »Und bringt meine Verwundeten zu einem Wundarzt. Morgen bei Sonnenaufgang reite ich nach Eslen.«
46. Kapitel Der Kerzenhain Der Kerzenhain war kein Hain, und obgleich eine Unzahl von Laternen vorhanden war, gab es hier auch keine Kerzen. Als Leoff den Namen des großen Versammlungsplatzes von Eslen zum ersten Mal gehört hatte, hatte er gedacht, dass dieser in grauer Vorzeit so genannt worden sein musste, als Barden im flackernden Schein von Kienspänen unter heiligen Bäumen gesungen hatten, doch als er die Geschichte dieses Ortes nachgelesen hatte, war ihm rasch aufgegangen, wie töricht das war. Die erste Menschensprache, die in der Stadt gesprochen worden war, war die des Älteren Cavarum gewesen, danach folgte das Vittelianisch der Hegemonie, dann Almanisch, das im Laufe der Zeit von Lierisch und Hansisch abgelöst worden war, und zuletzt die Sprache des Königs. Areana nannte den fraglichen Ort in ihrer Muttersprache Caercehan und gab freimütig zu, dass sie keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Es sei bloß ein »alter Name«. Doch wo auch immer sein Ursprung lag, die Bezeichnung und die heraufbeschworenen Bilder einer vergangenen, einfacheren Zeit gefielen Leoff. Von der Bauweise her war der Kerzenhain eine seltsame Kreuzung aus den alten amptocombenus der Hegemonie, den hölzernen Bühnen, die die fahrenden Mimen auf den Marktplätzen errichteten, um ihre Possen vorzuführen, und den Kirchenemporen, wo der Chor sang oder in einzelnen Szenen das Leben der Heiligen darstellte. In das Grundgestein des Hügels gehauen, erhob er 581 sich in halbkreisförmigen Stufen; jede bildete eine lange, geschwungene Bank. Ein großer Balkon ragte aus der Mitte der untersten drei Ebenen hervor und bildete eine separate Plattform für die Angehörigen des Königshauses. Es gab zwei Bühnen - eine erhöhte aus Holz, mit einem Raum darunter und Falltüren, durch die Schauspieler und Requisiten auftauchen und wieder verschwinden konnten, und eine niedrigere aus Stein, wo die Musiker und Sänger ihren Platz hatten. Nach Kirchenbrauch wurde die obere Bühne Bitreis genannt, »Die Welt«, und die untere hieß Ambreis, »Das Jenseits«. Dies waren die beiden Welten, die der Praifec voneinander fern zu halten trachtete. Er würde eine herbe Enttäuschung erleben. Über beiden Bühnen erstreckte sich eine zu einer Halbkugel gewölbte Kuppeldecke, die mit Mond und Sternen bemalt war und entsprechend als »Der Himmel« bezeichnet wurde. Auch die königlichen Plätze waren überdacht. Der Rest der Zuschauer riskierte Schnee oder Regen. Heute Abend jedoch war der Himmel klar, und obgleich es kalt war, lag keine Feuchtigkeit in der Luft. Um den Kerzenhain herum - oberhalb der Sitzreihen, der Bühnen und sogar des »Himmels« - erstreckte sich weites grünes Gemeindeland, und seit dem Mittag war es zu einer Festwiese geworden. Leoff dachte bei sich, dass die ganze Stadt und viele aus dem Umland sich dort eingefunden haben mussten - Tausende von Menschen. Er selbst hatte an einem langen Tisch gesessen, an dessen einem Ende sich der Regent niedergelassen hatte, am anderen der Praifec. Zwischen ihnen hatten die Mitglieder des Comven, Herzöge, Greffte und Landwaerde Platz genommen. Er hatte sich entschuldigt und war früh hier heruntergekommen, um sich zu vergewissern, dass alles bereit war. Jetzt war dem so; die Sitze füllten sich mit Menschen, und die Luft vibrierte vom Gemurmel Tausender Stimmen. Seit seiner ersten Aufführung, als er sechs Jahre alt gewesen war, hatte er kein solches Zittern in den Gliedern und keine so heftige Unruhe im Leib verspürt. 582 Er blickte auf seine Musiker hinunter. »Ich weiß, dass ihr es könnt«, sagte er. »Ich vertraue auf euch alle. Ich hoffe nur, dass ich euer Vertrauen verdiene.« Edwyn hob den Bogen seiner Fiedel zum Gruß, doch die meisten hatten lediglich einen kurzen Blick für ihn übrig, denn sie studierten emsig ihre Partituren, die beinahe - aber nicht ganz - die waren, die sie geprobt hatten. Der Praifec hatte die Proben selbstverständlich überwacht und hatte das Stück genehmigt, weil Leoff es nach den lächerlichen Anweisungen des Kirchenoberen umgeschrieben hatte. Die Instrumentalpartien wurden als Einleitung zu dem gespielt, was die Sänger vortragen würden, und dann folgte der Gesang ohne Begleitung. Er hatte die Ergänzungen hinzugefügt, die der Praifec verlangte, und Teile dessen, was er ursprünglich geschrieben hatte, herausgenommen. Doch trotz alledem würde dies nicht die Aufführung des Praifec werden. Heute Abend würden Instrumente und Schauspieler zusammen singen, und die Tonarten, Dreiklänge und Akkorde würden alle geändert werden. Und wenn das, was Leoff glaubte, wahr war, dann würde der Praifec ihm nicht Einhalt gebieten können, nachdem die ersten Töne erklungen waren. Er blickte zur königlichen Loge empor. Natürlich war der Regent dort, und die meisten der Leute, die an seinem Tisch gesessen hatten. Doch es saßen noch zwei andere Gäste dort. Die eine war wunderschön und unverwechselbar - Königin Muriele. Im Geiste nannte er sie noch immer so, obwohl man ihr vor kurzem den Titel aberkannt hatte. Sie trug ein mit Seehundsfell abgesetztes Kleid aus schwarzem Esken, und weder Krone noch Diadem zierten ihr Haupt.
Die andere war eine Frau mit weichem kastanienbraunem Haar, eine Frau, von der Leoff glaubte, dass er sie schon ein paar Mal im Palast gesehen hatte. Ein Trupp der schwarz gekleideten Wachen des Regenten hatte um die beiden Frauen herum Aufstellung genommen. »Ich danke den Heiligen, Euer Majestät«, sagte er unhörbar, 583 »dass Ihr das hier hören werdet.« Er hoffte nur, dass sie ihn nicht verabscheute, weil er ihren Feinden geholfen hatte, sie zu verleumden. Robert Dare, der Regent, hob die Hand, um zu zeigen, dass er bereit war. Leoff vergewisserte sich, dass die Aufmerksamkeit der Musiker auf ihn gerichtet war, dann legte er die Finger auf die Tasten der Hammarharfe und spielte einen einzigen Ton. Das erste Flageolett griff ihn auf, dann die Bassvithulen, und schließlich alle Instrumente, während die Musiker sie stimmten. Als dies geschehen war, senkte sich wieder Schweigen herab. Mit zitternden Fingern streckte Leoff abermals die Hände nach der Hammarharfe aus. »Das soll Broogh sein«, flüsterte Muriele Alis zu, als die Musiker begannen, ihre Instrumente zu stimmen. »Eine sehr schöne Bühne«, bemerkte Alis. Das stimmte. Die Bühne stellte einen Marktplatz dar, in dessen Hintergrund ein Glockenturm aufragte. Zu Linken stand eine Schenke mit einem Schild, auf dem Paiter's Fatem stand. Die Schenke war auf geschickte Weise an einer Seite offen gelassen worden, sodass man sowohl die Fassade als auch das Innere sehen konnte. Ungefähr vier Ellen über der »Welt« war eine neue kleine Bühne errichtet worden, die eines der Zimmer im Obergeschoss des Hauses darstellen sollte. Auf der rechten Seite der großen Bühne war die berühmte Brücke zu sehen, nach der die Stadt benannt worden war. Sie überspannte einen überzeugend nachgemachten Kanal, dessen Rand getrocknete Blumen säumten, die bemalt worden waren, um frischen Blüten zu ähneln. Hinter all dem waren auf Leinwand die weiten grünen Felder und die Malenden von Neuland abgebildet. Muriele sah zu, wie ein junger Mann herauskam und sich auf den Rand des Brunnens mitten auf dem Platz setzte. Er trug wollene Kleidung in den gedeckten Farben der Landwaerde und die orangefarbene Schärpe eines Windschmieds, was darauf hin584 wies, dass er kürzlich als Mitglied dieser Gilde anerkannt worden war. Jetzt hatten die Musiker mit dem Stimmen aufgehört. »Verdammt viele Vithulen und Flöten«, brummte der Herzog von Shale irgendwo hinter ihr. »Ich verstehe nicht, wozu das alles nötig ist. Macht bestimmt einen schrecklichen Lärm.« Während Muriele zusah, hob Leoffs winzige Gestalt die Hände über die Hammarharfe und ließ sie fallen. Und ein Klang erhob sich, wie Muriele ihn sich niemals vorgestellt hatte, ein anschwellender Donner aus Musik, mit hellen, klaren Tönen, die sich zu den Sternen emporschwangen, und dunklem Bassdröhnen wie die tiefsten, geheimsten Regungen des Meeres. Er brach sich geradewegs Bahn in ihr Herz - es war, als wäre das Wichtigste gesagt worden, das es auf der ganzen Welt gab. Doch trotz der unermesslichen Schönheit und Macht dieses Akkordes war er irgendwie unvollendet - verlangte schmerzlich nach einer Auflösung -, und sie wusste, dass sie nicht ruhen, den Blick nicht abwenden, niemals Frieden finden konnte, bis sie seine Vollendung vernommen hatte. »Nein«, glaubte sie den Praifec sagen zu hören. Dann jedoch hörte sie nur noch die Musik. Leoff lächelte wild, als der erste Akkord das Halbrund des Kerzenhains erfüllte und in die Nacht hinausdrang, ein Akkord, den seit über tausend Jahren niemand mehr gespielt hatte, der Akkord, den Mery für ihn im Lied des Schäfers wiederentdeckt hatte. So viel zu Euren Wünschen, Praifec, dachte er. Der junge Bursche erhob sich von seinem Platz am Brunnen, und plötzlich schwebte seine Stimme gemeinsam mit den Instrumenten empor, wurde zu einem von ihnen. Er sang auf Almanisch, nicht in der Sprache des Königs, was nur einen winzigen Augenblick lang seltsam anmutete und dann vollkommen richtig klang. »Ih kann was is scaon«, sang er. 585 Ich weiß, was Schönheit ist Der Wind von Westen Das weite Grün Des Brachvogels Lied Und sie Und sie... Sein Name war Gilmer, und er sang vom Leben, von der Freude und von Litha Rungsdautar, die er liebte. Und während er das tat, kam ein Mädchen aus der Schenke, jung und schön. Als Muriele sie erblickte, wusste sie, dass dies Litha war, denn sie hatte »Haar wie die Sonne auf goldenem Weizen«, das der junge Bursche gerade beschrieben hatte. Und auch sie begann zu singen, eine völlig andere Melodie, obgleich diese sich vollendet mit der seinen verflocht. Noch hatten sie einander nicht bemerkt, doch ihre Lieder tanzten miteinander - denn Litha liebte ihn ebenso sehr wie er sie. Tatsächlich war dies der Tag, da sie vermählt werden sollten, wie Muriele erfuhr, als sie einander schließlich erblickten und ihr Duett zu einem einstimmigen Gesang wurde. Die Musik wurde rascher, verwandelte sich in eine lebhafte Weise, und sie begannen zu tanzen. Als die beiden Liebenden zu singen aufhörten, kam ein älterer Mann auf die Bühne, der sich als Lithas Vater erwies, ein Bootsbauer, und er sang ein Lied, das gleichzeitig komisch und zutiefst schwermütig war. »Ich verliere eine Tochter und bekomme Schulden dafür«, begann das Lied, und dann kam seine Gemahlin heraus, die ihn wegen seiner Knauserigkeit schalt, und auch diese beiden sangen ein Duett, just als das junge
Paar sein Lied erneut anstimmte, und plötzlich erklangen vier Stimmen in komplizierter Harmonie, die wie ein Buch alle Schritte der Liebe eröffnete, vom ersten Erröten über vielschichtiges Reifen bis zur letzten Umarmung. Muriele durchlebte in einem einzigen Moment, der ihr den Atem verschlug und sie erbeben ließ, ihre eigene Ehe. Der Aethil der Stadt gesellte sich als Nächster zu ihnen, Menschen aus der Stadt fanden sich zu einer Feier vor der Hochzeit ein, 586 und plötzlich brachte ein ganzer Chor dem Paar ein freudiges Ständchen. Es war ungemein reizend, und trotzdem, selbst als der erste Akt endete - mit dem Klang ferner Trompeten und damit, dass der Aethil sich wunderte, wer wohl noch zum Fest käme -, sehnte sich Muriele noch immer nach der Auflösung jenes ersten Akkords. Die Musik wurde leiser, erstarb jedoch nicht, als die Sänger die Bühne verließen. Eine einfache Melodie begann, in der die freudige Weise des Banketts widerhallte, jetzt jedoch in einer klagenden Tonart, einer vage beängstigenden Tonart. Als sie lauter wurde, breitete sich ein fast greifbares Gefühl der Beklemmung unter den Zuhörern aus. Muriele hätte am liebsten zu ihren Füßen hinuntergeschaut, um sich zu vergewissern, dass keine Spinnen an ihren Strümpfen heraufkrochen. Plötzlich war sie sich Roberts Gegenwart sehr deutlich bewusst. Der zweite Akt begann umgehend mit der Ankunft von Sir Remismund fram Wulthaurp; die Musik seines Kommens war so düster und gewalttätig - mit klagenden Sackpfeifen und drohenden Läufen auf den tiefen Saiten -, dass sie die Armlehnen ihres Stuhles umklammerte. Mit eigenartigem Entzücken bemerkte sie, dass der Mime, der Wulthaurp spielte, große Ähnlichkeit mit ihrem Schwager Robert hatte. Die Geschichte nahm erbarmungslos ihren Lauf, während aus dem Hochzeitsbankett eine Szene des Schreckens wurde. Die Requisiten auf der Bühne - die zuvor eindeutig als solche zu erkennen gewesen waren - wirkten jetzt absolut echt, als schwebe der Kerzenhain tatsächlich über der leeren Hülle Brooghs, als beobachteten sie heimlich die Geister der Stadt und wiederholten ihre Tragödie. Sir Remismund war ein Abtrünniger, aus Hansa vertrieben, der Beute und Lösegeld an sich raffte, wo immer er sie fand. Er erschlug den Aethil auf offener Straße, und seine Männer zogen plündernd durch die Stadt. Als Remismund Litha erblickte, machte er sich an sie heran, und als Gilmer Einspruch erhob, ließ er ihn 587 gefangen nehmen, um ihn bei Sonnenaufgang auf dem Platz hängen zu lassen. Remismund, der zu stolz war, um Litha mit Gewalt zu nehmen, zog sich zusammen mit seinen Schurken in die Schenke zurück, und das war das Ende des zweiten Akts. Und die Musik ging weiter, ohne Pause, zog sie alle unwiderruflich mit sich. Selbst Robert, der ganz gewiss begriff, was hier vorging, unternahm nichts, was mehr als erstaunlich war. Muriele dachte an ihr Gespräch mit dem Komponisten, darüber, warum die Kirche Kompositionen wie diese verbot, über die Macht bestimmter Wohlklänge und Tonfolgen. Und jetzt verstand sie. Er hatte sie alle verzaubert, oder nicht? Es war nicht einfach nur wie ein Zauberbann, es war tatsächlich einer. Und doch konnte es genauso wenig falsch sein, wie es falsch war, sich zu verlieben oder Schönheit zu ehren. Wenn der Komponist ein Hexer war, dann musste es so etwas wie gute Hexerei geben, denn in dem hier war nichts Böses. Der dritte Akt begann mit einem komischen Zwischenspiel, in dem einer von Remismunds Männern einer Schankmagd vergeblich den Hof machte. Dann traten Remismund und sein vertrautester Handlanger Razovil auf, Letzterer sollte einen Brief für ihn überbringen. Remismund diktierte die Nachricht, die an den König gerichtet war, schilderte in grauenhaften Einzelheiten, wie er die Deiche durchbrechen und Neuland ertränken würde, falls man ihm nicht ein fürstliches Lösegeld bezahlte. Razovil trug Gewänder, die der Robe eines Praifec ungemein ähnelten, und sein Bart erinnerte stark an Hespero. Er mahnte beständig Änderungen an dem Brief an, um den Forderungen ein freundlicheres Antlitz zu geben, behauptete, die Heiligen wären diesem Unterfangen gewogen und der Herrscher sei den Heiligen untenan. Es war erheiternd, dieses Hin und Her zwischen den beiden Männern, doch es war auch beunruhigend. Die Schankmagd, die sich versteckt hatte, als Remismund aufgetreten war, hörte den ganzen Plan mit an. Nach dieser Szene floh sie aus der Schenke, um Litha und ihrem Vater davon zu berich588 ten. Verstohlene Botschaften wurden ausgesandt, und die Bürger der Stadt versammelten sich heimlich, um zu entscheiden, was zu tun sei. Gerade als die Versammlung stattfinden sollte, erschien Razovil, der Litha suchte. Um zu verhindern, dass er ihre Verschwörung entdeckte, ging sie mit ihm zu einem Treffen mit Remismund, bei dem der Eroberer erneut um ihre Liebe warb und das bisher schönste Lied des ganzen Stückes sang. Mith aen Saela Unbindath thu thae thongen Afsa sarnbroon say wardath mean haert... Mit einem Blick Löst du die Bande Des Harnischs, der mein Herz schützt. Mit einem Wort
Ist meine Festung gefallen Und die Türme stürzen ein. Mit einem Kuss Würde ich dich zu meiner Königin machen Und von meinem üblen Treiben lassen. Trotz seiner bisherigen Taten klang er zutiefst aufrichtig, und Muriele dachte, dass sie sich vielleicht in Remismund getäuscht hatte. Hier stand ein Mann, kein Ungeheuer. Für seine früheren Handlungen musste es eine glaubhafte Erklärung geben, wenn er so ungekünstelt lieben und werben konnte. Litha sagte ihm, sie würde sein Ansinnen überdenken, und ging. Sobald sie verschwunden war, lachte Remismund hämisch und sang, verstohlen an Razovil gewandt: 589 Wie zart, wie bezaubernd arglos, leichtgläubig, töricht Eine Nacht der Liebe, und ich bin fertig mit ihr. Dann lachten er und sein Kumpan, der so große Ähnlichkeit mit einem Mann der Kirche hatte, herzlich miteinander, und die Musik wurde fröhlich - und irgendwie dämonisch. Damit endete der dritte Akt, und die Instrumente verstummten fast. Muriele stellte fest, dass sie sich zum ersten Mal, seit das Stück begonnen hatte, ein wenig erleichtert fühlte - dass sie sprechen konnte. Sie warf einen Blick zu Robert hinüber. »Ich finde die Aufführung wirklich wunderbar, Mylord«, sagte sie. »Vielen Dank, dass Ihr mir gestattet habt, ihr beizuwohnen.« Robert funkelte sie wütend an. »Ich glaube, Ihr habt meinen Komponisten falsch eingeschätzt«, fügte sie hinzu. Roberts Atem ging ein wenig mühsam, so als habe er versucht, etwas hochzuheben, das zu schwer war. »Es ist eine bedeutungslose Posse«, erwiderte er. »Ein albernes Auftrumpfen gespielter Tapferkeit.« »Nein«, behauptete Hespero, »es ist ein heimtückischer Akt der Hexerei.« »Wenn Ihr Hexerei sucht, liebwerter Praifec«, sagte Muriele, »braucht Ihr nicht weiter zu blicken als bis zu unserem teuren Regenten. Stecht ihn mit einer Klinge, und Ihr werdet sehen, dass er nicht blutet, jedenfalls nicht mit demselben Saft wie die Menschen. Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass Ihr recht wählerisch seid, wenn es darum geht, welche teuflischen Mächte Ihr verabscheut und an welche Ihr Euch anbiedert, Praifec Hespero.« »Still, Muriele«, fuhr Robert sie an. »Sei still, bevor ich dir die Zunge herausschneiden lasse.« »So wie Ihr dem Bewahrer die Zunge herausgeschnitten habt?« Robert seufzte und schnippte mit den Fingern, und plötzlich wurde ihr von hinten grob ein Knebel in den Mund geschoben. Nach dem ersten Schrecken ließ sie sich nicht dazu herab, sich zu wehren. Das war unter ihrer Würde. 590 Der Praifec schickte sich an, etwas zu sagen, und dann errichteten die Instrumente einen Turm aus Musik, um Litha willkommen zu heißen, die wieder auf der Bühne erschienen war. Das Mädchen stand bei dem Verlies, in dem Gilmer eingekerkert war, und von neuem tauschten die beiden ein Liebesgelöbnis. Gilmer erzählte ihr, er habe gehört, die Stadt werde sich um Mitternacht erheben. Er sprach von seiner Angst, dass sie alle umkommen würden, von seiner hilflosen Enttäuschung, weil er sich ihnen nicht anschließen konnte, und vor allem von dem Schmerz, dass er sie nie zum Weibe würde haben können. Er flehte sie an, aus der Stadt zu fliehen, ehe es zu spät war. Die Fiedeln und Vithulen erhoben seine Herzenspein in die Lüfte und boten sie den Sternen dar. Litha ließ ihr Lied auf das seine folgen, und plötzlich erkannte Muriele ein Echo der Melodie, die Ackenzal ihr vorgespielt hatte, als sie ihn zum ersten Mal aufgesucht hatte, jene Weise, die so unwillkommene und ungewohnte Tränen auf ihre Wangen gezaubert hatte. Jetzt brachten sie das quälende Gefühl mit sich, dass die letzte Note gleich kommen würde, der Wohlklang, der sie endlich von jenem ersten Akkord erlösen würde. Doch dann wurde die Melodie wieder fremd, während Litha Gilmer daran erinnerte, dass seine Pflicht auch die ihre war. Auf einmal sangen sie die »Hymne der heiligen Sabrina«, der Heiligen, die Neuland schützte, und tausend Stimmen fielen plötzlich in den Gesang des Paares ein, denn dies war ein Lied, das jeder der Zuhörer kannte. Es war ein gewaltiger Klang. Die Liebenden trennten sich, während die Hymne im Wind erstarb. Doch ehe sie von der Bühne abging, traf Litha die Schankmagd, die sie fragte, wohin sie ginge. »Zu meiner Hochzeit«, antwortete Litha, und dann war sie fort. Die verängstigte Schankmagd überbrachte Gilmer diese Neuigkeit, der voll Qual sang, während das Mädchen versuchte, ihn zu trösten. Dann, unbemerkt von den beiden, trat Litha erneut auf, gekleidet in ihr Hochzeitskleid aus silbrigem Safnitbrokat, geschneidert 59i mit dem ganzen Vermögen ihres Vaters. Während Gilmer weinte und dunkle Wolken sich in den tiefen Basssaiten zusammenballten, ging Litha zu Remismund. Sie traf zuerst auf Razovil, der sie verspottete, während er gleichzeitig etliche lüsterne Anspielungen machte. Dann ging sie die Treppe hinauf, stieg langsam und gemessen zu Remismunds Gemach empor.
Als er sie erblickte, kehrte Remismund erneut seine liebenswerte Fassade hervor, versicherte ihr, dass er ihr Freude und Reichtümer bescheren würde, und empfahl sich dann, um einen Wachposten aufzustellen, da er in Bälde beschäftigt sein würde. Als er dies sang, keuchte Muriele durch den Stofffetzen in ihrem Mund hindurch; sie spürte erneut Roberts Körper auf dem ihren, seine Hände, die sich unter ihr Nachthemd schoben. Ihr wurde übel, und sie fürchtete schon, sie würde sich in den Knebel übergeben, doch plötzlich streckte Alis die Hand aus und fasste die ihre mit festem Griff. Die schreckliche Erinnerung verblasste langsam. Litha war jetzt allein und starrte in die Nacht hinaus. Der elfte Glockenschlag erklang, und irgendwo in der Ferne war der schwache Chor der Stadtbewohner zu vernehmen, die sich für ihre aussichtslose Schlacht gegen Remismunds Männer versammelten. Dann begann auf den hohen Saiten etwas herabzuschweben, ein Vogel, der in vielen Schleifen zur Erde zurückkehrte, hier ein wenig emporstieg, doch stets tiefer sank, bis die Musik völlig erstarb. Dann, unbegleitet und zunächst kaum hörbar - begann Litha ihr letztes Lied. Wenn wiederkehrt des Tages Licht Mein Liebster, so bin ich davongeflogen ... Ihre Stimme war wie zu Klang gewordene Tränen, doch jetzt hörte Muriele es, den in der Verzweiflung verborgenen Triumph, die Hoffnung, die erst sterben konnte, wenn der Glaube an die Hoffnung starb. Es war die Melodie von damals, jene, die sie dazu bewogen hatte, das Stück in Auftrag zu geben. 592 Eine einzelne Flöte gesellte sich zu Lithas Solostimme, und dann eine Rohrflöte, und dann die Fiedeln mit ihrer rauschenden Glissando-Anmut. Es spielte keine Rolle mehr, was für Worte sie sang - es war nur die Furcht, die Trauer -, und als die Blasinstrumente und die Bassvithulen sich mit ihrer Stimme vereinigten, stiegen verzweifelter Mut und Entschlossenheit empor. Tränen strömten über Murieles Gesicht, als Remismund zurückkehrte. Litha stand am Fenster und drehte ihren Brautschleier in den Händen, und einen Moment lang schien es, als geriete die Musik ins Stocken, als habe Litha der Mut verlassen. Doch plötzlich hob sich ihre Stimme, klomm immer höher, während sich unter ihr die Musik zu einem Berg zusammenfand, wie das Fundament der ganzen Welt, und da, da war er, der vollkommene Akkord, der mit einem Schwall alles zurückbrachte, was vorher gewesen war, der Anfang begegnete seinem Ende, seiner Vollendung ... Seinem Triumph. Während sie sang, streckte Litha sich empor, um ihn zu küssen, schlang ihren Schleier um seinen Hals und stürzte sich aus dem Fenster. Überrumpelt, die Hände mit ihr beschäftigt, hatte Remismund keine Zeit, um zu handeln. Beide stürzten auf die Straße hinunter. Und obgleich Muriele sich erinnerte, dass die Bühne nicht sehr hoch war und dass wahrscheinlich eine Art Matratze verborgen unter dem Fenster lag, schien es ihr jetzt ganz und gar nicht so. Es schien, als fielen und fielen sie und fänden auf dem Kopfsteinpflaster tief unten den Tod. Und noch immer hing der Wohlklang in der Luft, Lithas Stimme, von den Instrumenten übernommen, wie um zu zeigen, dass selbst der Tod dieses Lied nicht verstummen lassen konnte. Ein Marsch begann dahinter, als die Leute aus der Stadt sich auf Remismunds Männer stürzten, die, durch seinen Tod entmutigt, entweder flohen oder umkamen. Und als sich schließlich Schweigen herabsenkte, hielt es lange an, bis irgendjemand losbrüllte - niemand von Bedeutung, nur ein Zuschauer hoch oben auf den Rängen. Doch es war ein prachtvoller, 593 triumphierender Schrei, und dann stimmte jemand ein, und dann kam das gesamte Publikum im Kerzenhain brüllend auf die Füße. Das hieß, alle außer Robert und Hespero. Leoff starrte die wie betäubt schweigende Menge an, dann schaute er zu dem Praifec empor, dessen wütender Blick jedem Basilnix zur Ehre gereicht hätte. Steif verbeugte sich Leoff und vernahm einen einzigen lauten Jubelruf. Dann schien das Publikum zu explodieren. Er wusste, dass dies der großartigste Augenblick seines Lebens war - ein Moment, wie er ihn niemals wieder erleben würde -, und empfand weniger Stolz als vielmehr die tiefste Zufriedenheit, die überhaupt vorstellbar war. Einen halben Glockenschlag später verspürte er sie noch immer, als - während er gerade seinen Musikern gratulierte und unter einem Kuss von Areana heftig errötete - die Wachen kamen. Roberts Männer zerrten Muriele und Alis unsanft durch die Menge und stießen sie in die Kutsche, die sie zu ihrem Kerker zurückbringen sollte. Doch auf dem ganzen Rückweg zum Schloss konnte Muriele es hören - das Volk, das die Hymne der Sabrina sang. Sie konnte nicht aufhören zu weinen, und als man ihr endlich den Knebel abnahm, sang sie mit. In dieser Nacht konnte sie die Menschen noch immer hören, durch ihre Fenster, und sie wusste, dass sich die Welt erneut von Grund auf verändert hatte - diesmal jedoch zum Besseren. Es fühlte sich - zum ersten Mal seit langer Zeit - wie ein Sieg an. In dieser Nacht schlief sie und träumte, und die Träume brachten keinen Schrecken, sondern Freude. 594 47. Kapitel Sonnenwende Aspar zuckte zusammen, als der Feldscher die Nadel ein letztes Mal durch seine Wange stach und dann den
Faden verknotete. »Fertig«, verkündete der alte Mann. »Ihr könnt bei beiden Wunden von Glück sagen. Die Schulter dürfte gut verheilen.« »Ich bin mir nicht sicher, ob man bei irgendeiner Wunde von Glück sagen kann«, entgegnete Aspar und stellte erleichtert fest, dass die Luft beim Sprechen nicht mehr durch seine Wange pfiff. »Durchaus, wenn ein einziger Fingerbreit weiter Euch den Tod hätte bringen können«, erwiderte der Wundarzt fröhlich. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe noch mehr Verwundete, um die ich mich kümmern muss.« »Was ist mit ihr?« Mit dem Kinn deutete Aspar dorthin, wo Leshya in Wolldecken gehüllt lag. Ihr regloses Gesicht war selbst für ihre Verhältnisse bleich. Der Heiler zuckte die Achseln. »Mit Sefry kenne ich mich nicht besonders gut aus«, sagte er. »Die Wunde war ziemlich schlimm, und ich habe getan, was meines Wissens nach zu tun war. Jetzt ist sie in den Händen der Heiligen.« Er klopfte Aspar auf die unverletzte Schulter. »Ihr solltet Euch lieber ausruhen, besonders, wenn Ihr töricht genug seid, morgen reiten zu wollen.« Aspar nickte und betrachtete noch immer die Sefry Der Ritt zum Schloss war eine Erinnerung, die er durch einen Nebel aus Blut und Schmerz vor sich sah. Doch Winna war bei ihm geblieben, hatte ihn im Sattel gehalten. Sie war eben erst auf einen Ruf der Prinzessin hin gegangen. Ihm war klar, dass Sir Neil und die Vitellianer ziemlich übel zugerichtet worden waren, doch Leshya hatte es mit Abstand am schlimmsten erwischt. Sie hatten sie mit einem Pfeil an einen Baum genagelt vorgefunden. 595 Er legte die Hände auf die Knie, stemmte sich hoch und ging hinüber, um im Kerzenlicht neben ihr zu stehen. Sein Schatten fiel auf ihr Gesicht, und sie regte sich. »Was -?«, keuchte sie, und ihre Lider öffneten sich flatternd. »Ruhig«, sagte Aspar. »Du bist verletzt. Erinnerst du dich?« Sie nickte. »Mir ist kalt.« Aspar schaute zum Kamin hinüber. Er schwitzte. »Ich dachte, du hättest dich abgesetzt.« »Ja«, murmelte sie und schloss die Augen. »Aber das konnte ich doch nicht machen, oder?« »Ich wüsste nicht, wieso nicht.« »Tatsächlich? Aber ... egal. Ich hab's nicht getan.« »Werlic. Danke.« Wieder nickte sie, und ihre Augen öffneten sich von neuem. Sie leuchteten wie violette Lampen. »Ich muss morgen mit ihnen gehen«, sagte er. »Nach Eslen.« »Gewiss«, antwortete sie. »Das weiß ich.« »Nun ja, die Sache ist die, du darfst nicht sterben, solange ich fort bin«, erklärte er. »Ich nehme keine Befehle von dir entgegen, Waldhüter«, erwiderte sie. »Aber bleib hier bei mir, bis du aufbrichst, ja?« Aspar nickte. »Ja.« Er ließ sich neben dem Bett auf dem Boden nieder und schlief bald darauf ein. Als er wieder erwachte, war es Morgen, und Winna rüttelte ihn sanft wach. »Es ist Zeit«, sagte sie. »Ja«, erwiderte Aspar. Er blickte zu Leshya hinüber. Sie atmete noch, und es sah so aus, als hätte ihr Gesicht ein bisschen mehr Farbe. »Ja.« Cazio träufelte ein wenig Wasser zwischen z'Acattos Lippen. Der Alte verzog im Schlaf das Gesicht und versuchte es auszuspucken. »Nun«, bemerkte Cazio, »das ist ein gutes Zeichen.« »Er muss trinken«, sagte der Heiler. »Er hat viel Blut verloren, und Blut wird aus Wasser gemacht.« Der hornische Feldscher 596 sprach Vitellianisch mit einem komischen Akzent, so als würde er singen. »Blut wird aus Wein gemacht«, widersprach z'Acatto und öffnete halb das eine Auge. »Der wahre Wein, der Wein des heiligen Fufiono, das ist es, was in unseren Adern fließt. Wasser ist das Zeug, in dem man Säuglinge ertränkt.« Der Wundarzt lächelte. »Ein wenig verwässerter Wein kann wohl nicht schaden«, meinte er. »Ich besorgen welchen.« »Wartet«, japste z'Acatto. »In welchem Land sind wir?« »Ihr befindet Euch in Hornladh und im Königreich Crothenien.« Z'Accatto zuckte zusammen. »Cazio«, sagte er, »weißt du, dass nördlich von Tero Galle noch nie genießbarer Wein gekeltert worden ist?« »Uns fällt es nicht schwer, unseren Wein zu trinken«, erwiderte der Heiler. »Bitte«, fuhr z'Acatto fort, »ich möchte nicht beleidigend sein, aber das beweist lediglich, dass Ihr keinen Geschmackssinn habt, zumindest keinen geschulten. Wie bin ich an diesen höllischen Ort geraten? Der letzte Trunk eines Mannes sollte ihn an alles erinnern, was in seinem Leben schön war, und ihn nicht in Tränen zu
Lord Ontro schicken.« »Zunächst einmal«, wandte der Heiler ein, »liegt Ihr nicht im Sterben, zumindest soweit ich das beurteilen kann.« »Nein?« Z'Acattos Brauen hoben sich überrascht. »Nein. Es wird zwar noch länger dauern, bis Ihr wieder zu Kräften kommt, aber ich habe Eure Blutungen gestillt, und keine Eurer Wunden sieht aus, als wäre sie entzündet.« »Mit anderen Worten, du bestehst hauptsächlich aus Knochen und Knorpel«, warf Cazio ein. »Wenn ich es nicht besser wüsste«, meinte der Feldscher, »würde ich sagen, wer immer auf Euch geschossen hat, war darauf aus, Euch zu verwunden und nicht zu töten. Da kein Mensch ein derart guter Schütze ist, denke ich, Ihr müsst Euch bei den Heiligen bedanken.« 597 »Ich werde dem heiligen Fufiono danken, wenn es hier vitellianischen Wein gibt«, erwiderte z'Acatto. »Und dem Mann, der ihn mir bringt, würde ich innig danken.« »Ich glaube, im Keller ist etwas galleanischer Barnice et Trave«, antwortete der Wundarzt. »Das wird genügen müssen.« »Hm«, sagte der Fechtmeister. »Das könnte gehen, bis mir etwas Besseres unterkommt.« Der Heiler verließ den Raum, und z'Acatto brummelte etwas vor sich hin; dann heftete er den Blick auf Cazio. »Ich sehe, wir sind beide noch am Leben.« »In der Tat«, sagte Cazio. »Obwohl mir nicht klar ist, wie das zugegangen ist.« »Du hast kaum einen Kratzer abbekommen.« Cazio blickte auf die zahllosen Verbände hinunter, die seinen Körper bedeckten. »Das stimmt«, gab er zu. »Alles nur dank der Übungen, die wir gemacht haben.« Dann erklärte er, so gut er konnte, die Ereignisse der vergangenen Nacht. »Also«, sagte der alte Degenfechter, als Cazio geendet hatte, »das sind Dinge, die ...«Er verstummte, und einen Moment lang sah es so aus, als schliefe er ein, doch dann wurde er wieder wach. »Wann fahren wir nach Hause?« »Ich dachte, du wärst derjenige gewesen, der gesagt hat, ich solle ausziehen und mir die Welt ansehen.« »Nun, wir haben eine Menge von der Welt gesehen«, erwiderte z'Acatto. »Jetzt ist es an der Zeit, eine Weile in der Sonne zu liegen und irgendetwas aus einem guten Jahrgang zu trinken, findest du nicht? Inzwischen ist es vielleicht sogar wieder sicher, nach Avella zurückzukehren, aber wenn nicht, würde uns die Gräfin bestimmt wieder aufnehmen.« Seine Augen wurden schmal, als er den Ausdruck auf Cazios Gesicht bemerkte. »Was ist?« »Nun ja«, erklärte Cazio, »wie sich herausgestellt hat, ist Anne Prinzessin von Crothenien.« »Was du nicht sagst«, schnaubte z'Acatto. »Weißt du nicht mehr, wie unglücklich die beiden Mädchen waren, als die Nachricht von König Williams Tod kam?« 598 »Ja, schon, aber ich dachte, sie wären bloß traurig, weil ihr Herrscher gestorben ist. Ich wusste nicht, dass er ihr Vater war.« Ihm fiel wieder ein, wie er damals, als er Anne zum ersten Mal begegnet war, seinen eigenen unbedeutenden Titel verschwiegen hatte, um sie zu einem günstigeren Zeitpunkt damit zu beeindrucken. Jetzt kam er sich deswegen albern vor, wie wegen so vieler Dinge. »Du hättest es mir ruhig sagen können«, knurrte er. »Wenn du dein eigenes Gehirn nicht benutzt, wird noch Mehlgrütze draus«, gab z'Acatto zurück. »Auf jeden Fall«, fuhr Cazio fort, »hat jemand ihr Königreich an sich gerissen und ihre Mutter gefangen genommen. Sie hat mich gebeten, mitzukommen und ihr zu helfen, das Reich zurückzufordern und ihre Mutter zu befreien.« »Nicht dein Land«, sagte z'Acatto, der plötzlich ernst geworden war. »Nicht deine Angelegenheit.« »Es kommt mir vor, als wäre es meine Angelegenheit«, erwiderte Cazio. »Ich bin so weit gekommen - ich glaube, ich werde es zu Ende bringen.« »Da gibt es nichts >zu Ende zu bringen<, Junge. Worauf du da zureitest, ist ein Krieg, und das ist etwas, das du nicht erleben möchtest, das versichere ich dir.« »Ich habe keine Angst vorm Krieg«, entgegnete Cazio. »Dann bist du ein Idiot«, fuhr der Fechtmeister ihn an. »Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, dass gegen einen Ritter zu kämpfen etwas ganz anderes ist als deine Mittagsduelle?« »Das weiß ich noch«, bestätigte Cazio. »Du hattest Recht, und dank deines Rats bin ich am Leben geblieben.« »Dann hör noch ein einziges Mal auf mich, auch wenn es das letzte Mal ist«, drängte z'Acatto. »Was immer du dir unter Krieg vorstellst, du irrst dich. Krieg ist grauenvoll, und tapfer zu sein hilft nichts. Es ist nicht das Schlimmste, in einem Krieg zu sterben, sondern einen zu durchleben.« Cazio hielt seinem Blick unbeirrt stand. »Ich glaube dir«, sagte er. »Und ich glaube, dass du aus Erfahrung sprichst, auch wenn du nicht darüber reden willst. Aber ich habe das Gefühl, dass dies 599 hier zu meiner Pflicht geworden ist, z'Acatto. Ich glaube, ich gehöre in diesen Kampf, und ich finde, ich sollte mir genug von deinem Respekt verdient haben, dass du nicht mehr denkst, ich würde immer noch Entscheidungen treffen wie ein Knabe. Vielleicht weiß ich nicht genau, in was ich da hineinmarschiere, aber meine Augen sind wirklich offen.«
Z'Acatto seufzte und nickte. »Du bist weiter gereist als die Meilen, die du zurückgelegt hast, Cazio«, sagte er schließlich. »Und du hast einiges gelernt. Ich sehe allmählich die Wesenszüge in dir zum Vorschein kommen, von denen ich schon immer gewusst habe, dass du sie besitzt. Aber hör in dieser Angelegenheit auf mich. Fahr mit mir nach Hause.« »Du kannst jetzt nicht reisen«, sagte Cazio, »aber wenn wir in Eslen alles in Ordnung gebracht haben, kannst du dort zu uns stoßen.« »Nein«, erwiderte der alte Mann. »Sobald ich reisen kann, kehre ich nach Vitellio zurück. Wenn du nach Norden ziehst, mitten in dieses Durcheinander hinein, dann ohne mich.« Cazio zog seine beschädigte Klinge und hob sie zum Salut. »Ich ehre dich, alter Mann. Was du gestern Nacht getan hast, war unglaublich. Solange ich lebe, werde ich das niemals vergessen.« »Du gehst also«, sagte z'Acatto tonlos. »Ich gehe.« »Dann geh. Keine schönen Worte mehr. Geh. Adzei.« »Adzei, Mestro«, erwiderte Cazio. Plötzlich hatte er schreckliche Angst, dass er weinen würde. Neil kniete vor Anne und bemühte sich, auf einem Knie das Gleichgewicht zu halten. Doch sein Körper, von Schmerzen und Erschöpfung geschwächt, ließ ihn im Stich, und er fiel um. Gerade noch rechtzeitig stützte er sich mit beiden Händen ab. »Macht es Euch bequem, Sir Neil«, sagte Prinzessin Anne. »Setzt Euch, bitte.« Er zögerte, dann erhob er sich und ließ sich auf die Bank sinken. Helle und dunkle Punkte tanzten vor seinen Augen. »Es tut 600 mir Leid, Euer Hoheit«, murmelte er undeutlich. »Ich bin bloß außer Atem.« Die Prinzessin nickte. »Ihr habt viel durchgemacht, Sir Neil«, bemerkte sie. »Und einiges davon meinetwegen. Ich habe Euch in z'Espino nicht getraut.« »Das ist mir klar, Euer Hoheit.« Sie legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und betrachtete ihn mit festem Blick. »Ich habe Euch Unrecht getan«, sagte sie. »Und Ihr wärt beinahe ums Leben gekommen. Aber ich hatte meine Gründe. Zweifelt Ihr daran?« Neil stellte fest, dass er das nicht tat. »Nein, Euer Majestät«, antwortete er. »Ich verstehe, in was für einer Lage Ihr wart. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen, Euch zu überzeugen.« »Ich bin nicht Königin, Sir Neil«, sagte sie leise. »Ihr solltet mich nicht mit >Majestät< anreden.« »Ich verstehe, Euer Hoheit.« Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich bin froh, dass Ihr überlebt habt, Sir Neil. Ich bin sehr froh.« Neil hörte die Entschuldigung darin - eine Entschuldigung ohne Schwäche. Eine sehr königliche Entschuldigung, die ihn ein wenig erschauern ließ. Ich diene jemand Würdigem, war der Gedanke, bei dem er sich ertappte. Er hatte Anne zuvor nicht gekannt, nicht richtig. Doch er wusste, dass sie nicht so gewesen war. Etwas Grundlegendes in ihr hatte sich verändert; sie war ein junges Mädchen gewesen. Jetzt war sie etwas sehr viel Stärkeres. »Ah, Cazio«, hörte er Anne sagen. Neil blickte auf und sah, dass sich der junge Vitellianer zu ihnen gesellt hatte. »Mi Regatura«, sagte Cazio ein wenig forsch. Dann jedoch, als bereite die Geste ihm Schmerzen, beugte er das Knie. Anne betrachtete ihn einen Augenblick, dann nickte sie und sagte etwas auf Vitellianisch. »Ich muss jetzt mit jemand anderem sprechen«, wandte sie sich an Neil. Neil machte das Segenszeichen, und Cazio vollführte eine ähn601 liehe Geste, dann erhoben sich beide. Als Anne davonging, sah der Vitellianer Neil an. »Ich reden Euer Sprache nicht gut«, sagte er mit unglaublich starkem Akzent. »Aber ich zuhören, nein? Ihr tapfer Mann. Ihr Bruder.« Er streckte ihm die Hand hin. Neil ergriff sie. »Es war eine Ehre, an Eurer Seite zu kämpfen.« »Sie ...« Der Vitellianer zeigte hinter Anne her, suchte mühsam nach Worten. »Nicht dieselbe«, brachte er schließlich zustande. »Nein«, hauchte Neil. »Jetzt ist sie eine Königin.« Anne blickte auf Rodericks Leichnam hinab. Vespresern hatte ihn bereits gewaschen und in ein Leichentuch gehüllt. Jetzt stand sie weinend da, während Anne und Austra zusahen. »Er ist tapfer gestorben«, sagte Anne. Vespresern drehte sich mit harten Augen zu ihr um. »Er ist für Euch gestorben«, erklärte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr es wert seid. Er hat Euch geliebt. Er war verrückt vor Liebe zu Euch.« Anne nickte, doch sie hatte nichts zu sagen. Kurz darauf ging sie, und Austra folgte ihr. Die beiden Frauen stiegen auf den Wehrgang hinauf, damit Anne den Wind spüren konnte. Die drohenden Regenwolken hatten sich längst verzogen, und Sterne funkelten am Nachthimmel. »Ich dachte, ich liebe ihn«, sagte Anne. »Und dann dachte ich, ich hasse ihn. Jetzt fühle ich eigentlich gar nichts mehr, außer Mitleid.« »Warum?«, fragte Austra. »Anne, sein Vater muss ihm befohlen haben, dir den Hof zu machen. Sie hatten die
ganze Zeit vor, dich zu töten, und Roderick war ein Werkzeug in diesem Plan.« »Ich weiß. Und wenn ich ihn nicht zur Liebe verflucht hätte, hätte er mich bestimmt selbst umgebracht. Aber ich habe ihn verflucht - sogar zweimal. Er ist für etwas gestorben, das er nicht verstanden hat. Wie das Pferd damals, weißt du noch? Das Pferd von Herzog Orien? Es hatte sich das Bein gebrochen, und wir haben uns auf dem Heuboden versteckt und gesehen, wie sie es getötet 602 haben. Man konnte es in seinen Augen sehen - es hat nicht verstanden, was mit ihm passiert.« »Da hast du wohl Recht.« »Seine Liebe war zuerst nur vorgetäuscht, dann war sie Hexerei. Meine war weder das eine noch das andere - sie war nur ein törichtes Spiel eines kleinen Mädchens. Auf wessen Schultern sollte dies alles also lasten?« »Du kannst das alles doch nicht nur dir vorwerfen.« »O doch, das kann ich«, erwiderte Anne. »Das muss ich. Ich war wieder dort, Austra. Ich habe die vierte Glaubende getroffen, und sie hat mir gesagt, dass meine Mutter eingesperrt und der Thron meines Vaters gestohlen worden ist. Deswegen brechen wir morgen von hier auf.« »Das kann nicht wahr sein«, sagte Austra. »Ich glaube es«, entgegnete Anne. »Erst bringen sie die Hälfte von uns um, und dann reißen sie unseren Thron an sich. Das scheint mir eine ziemlich logische Abfolge zu sein. Aber mich haben sie übersehen, und das werden sie bereuen.« Austra betrachtete sie lange. »Ich glaube, das werden sie wirklich bereuen«, sagte sie. Sie wollte noch etwas hinzufügen, schien jedoch einen Moment lang nicht die richtigen Worte zu finden. »Es tut mir Leid, dass ich dir nicht gehorcht habe«, murmelte sie schließlich. Anne sah sie offen an. »Austra, du bist wirklich und wahrhaftig der einzige Mensch, von dem ich sagen kann, dass ich ihn liebe. Das kann ich nicht einmal von meiner Mutter oder von Charles behaupten, nicht aufrichtig. Du bist der einzige Mensch, den ich lieb habe.« »Ich habe dich auch lieb, Anne.« »Aber du darfst mir gegenüber nie wieder ungehorsam sein«, fuhr Anne fort und ergriff Austras Hand. »Nie wieder. Vielleicht habe ich Recht und vielleicht auch nicht, und du kannst versuchen, mich zu überzeugen, wenn du glaubst, dass ich mich irre, aber wenn ich einmal gesprochen habe, dann ist mein Wort auch deins.« 603 »Weil du die Prinzessin bist und ich eine Dienerin bin?«, fragte Austra leise. »Ja«, antwortete Anne. Am nächsten Morgen brachen sie auf - Anne, Austra, Winna, Aspar, Neil, Cazio und zwanzig Reiter von Dunmrogh. Die Wolken waren zurückgekehrt, und gegen Mittag begann es zu schneien, der erste Schnee dieses Winters. Es war Sonnenwende; von jetzt an würden die Tage immer länger werden. Epilog Resacaratum Leoff blickte auf, als der Praifec die kleine Kammer betrat, die seit zwei Tagen sein Zuhause war. Viel hatte sie nicht zu bieten, diese Kammer - einen Tisch, ein paar Kerzen und kein Fenster. Natürlich war das auch gar nicht möglich, so tief unter der Erde. »Ihr seid ein sehr kluger Mann«, sagte der Praifec nach einem Moment des Schweigens. »Und viel versierter in Staatsangelegenheiten, als ich mir hätte träumen lassen.« »Ich habe Euch doch gesagt, dass es großartig werden würde«, erwiderte Leoff und gab sich alle Mühe, tapfer zu klingen. »O, ja, und das war es auch«, stimmte Hespero ihm zu. »Sogar ich war gerührt, wahrhaftig - gerührt wie von Hexerei.« »Es war Musik, keine Hexerei«, beharrte Leoff. »Alle Musik ist magisch. Ihr könnt keine künstliche Trennung « »O doch, das kann ich«, entgegnete der Praifec. »Und ich fürchte, der Rat der Praifecte teilt meine Ansicht. Leovigild Ackenzal, Ihr seid hiermit der Hexerei und des Hochverrats für schuldig befunden.« Er trat näher und legte Leoff die Hand auf die Schulter. Der Komponist bekam bei der Berührung eine Gänsehaut. »Nein, mein Freund«, sagte der Praifec in seinem onkelhaftesten Tonfall, »kostet Euren kleinen Triumph nur aus. Er wird für den Rest Eures Lebens reichen müssen.« Leoff reckte das Kinn in die Höhe. »Ich habe keine Angst davor, zu sterben.« Der Praifec zuckte die Schultern. »Ich werde Euch nicht töten«, sagte er. »Aber gleich werde ich diesen Raum verlassen, und Ihr 605 auch, und man wird Euch an einen Ort bringen.« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Fralet Ackenzal, kennt Ihr die Bedeutung des Wortes Resacaratum?« »Es bedeutet eine Neuweihung - etwas wieder heilig zu machen.« »Fürwahr. Die Welt ist zu einem unheiligen Ort geworden, Fralet Ackenzal, ich denke, darin seid Ihr meiner Meinung. Krieg droht allenthalben, grauenhafte Ungeheuer gehen um - nun, Ihr seid ja selbst einem begegnet,
nicht wahr?« »Ja«, sagte Leoff. »Ja. Die Welt bedarf einer Läuterung, und wenn diese Notwendigkeit besteht, so ist die Kirche zur Stelle. Es beginnt jetzt, in jedem Land, jedem Dorf, jedem Haus. Das Resacaratum hat begonnen. Und Ihr habt die Ehre, eines der ersten ... Beispiele zu sein.« »Was meint Ihr damit?«, fragte Leoff. Seine Nackenhaare stellten sich auf. »Ihr werdet einer Lustration unterzogen, Fralet - geläutert. Ich fürchte, der Prozess könnte möglicherweise schmerzhaft sein, aber Erlösung hat fast immer ihren Preis.« Er drückte Leoffs Schulter freundlich und ging. Und wie er es versprochen hatte, kam jemand und brachte den Komponisten an einen Ort. Er versuchte tapfer zu sein, doch Leoff war nicht für Schmerzen geschaffen, und nach einer Weile schrie er, weinte und flehte, dass es aufhören möge. Doch es hörte nicht auf. Danksagung Besonderer Dank gebührt Terry Brooks für seine Hilfe und seine Unterstützung. Gedankt sei auch Elizabeth Haydon, Melanie Rawn, Katherine Kurtz, Robin Hobb, John Maddox Roberts und Charles de Lint für ihre freundlichen Worte über den Dornenkönig. Vielen Dank meinen Lesern: T Karen Anderson, Nancy Baker, Kris Boldis, Marshai Hibnes, Chris Hodgkins, Lanelle Keyes, Eugenia Mansfield, Charlie Sheffer und Nancy Vega. Mein Dank gilt auch Jack Simmons, Ph. D., für seine Hilfe bei nautischen Fragen; jegliche Fehler auf diesem Gebiet stammen nicht von ihm. Und wie immer danke ich meinem Lektor Steve Saffel, der Cheflektorin Betsy Mitchell und der Verlagsleiterin Nancy Delia. Vielen Dank an Eliani Torres dafür, dass er durch meine Tipp- und sonstigen Fehler gewatet ist, und ebenso an Lektoratsassistent Keith Clayton für die gewaltige Menge harter Arbeit. Kirk Caldwell danke ich für noch mehr wunderschöne Karten, Stephen Youll für die Umschlaggestaltung und Dave Stevenson dafür, dass er all das zusammengebastelt hat. Herzlichen Dank an Colleen Lindsay und Christine Cabello dafür, dass sie mich dort draußen etabliert haben, im Cyberspace und in drei Dimensionen. Colleen, es tut mir Leid, dass ich einen völlig intakten Assistant ruiniert habe, wenn auch nur für ein oder zwei Tage. Mark Maguire sei für die Herstellungsleitung gedankt. Über den Teich geht mein Dank an Stefanie Bierworth und Peter Lavery, nicht nur dafür, dieses Buch in England veröffentlicht 607 zu haben, sondern auch für ihre Gastfreundschaft - besonders Peter, der mich als Hausgast ertragen hat. Ich danke Dave Gross für seine unablässige Unterstützung und dafür, dass er Trauzeuge bei meiner letzten Hochzeit war. Und ein verspätetes Dankeschön an Jacques Chambon, der meine ersten auf Französisch erschienenen Bücher lektoriert hat. Die Welt ist ein öderer Ort ohne dich, Jacques.