Freder van Holk Die Rache Tibets
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus,...
6 downloads
231 Views
892KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Freder van Holk Die Rache Tibets
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1979 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 49) 3 01 96 29, Telex 02161024
Printed in Germany
April 1979
Scan by Tigerliebe 03/2006
Bearbeitet von Brrazo
1. Durch Samarkand rannte ein Mann. Man sah es an seiner Kleidung und am Schnitt seines Gesichtes, das er ein Usbeke war. Er rannte, als hätte er in den Ketten des Altai An lauf genommen und wollte erst weit draußen in den Steppen haltmachen. Seine Arme winkelten in kur zen, harten Stößen hin und her, seine Füße hämmer ten die unregelmäßigen Steine, und der Kopf schien den Körper nach vorn zu reißen, so gierig und scharf war er in den Wind gestreckt. Die Augen blickten starr nach vorn. Nur dann und wann, wenn die Straßen von einer anderen gekreuzt wurden, huschte sein Blick zur Seite. Der Mann hatte Angst! Sie flackerte in seinen Augen. Sie war es, die ihn so hetzte. Er jagte nach einem Ziel, das ihm Schutz und Sicherheit bieten konnte. Das wußte jeder, der ihm zufällig ins Gesicht blickte. Doch das tat kaum jemand. Die Gläubigen an den Moscheen hatten Besseres zu tun, als sich nach ihm umzusehen. Sie ließen sich in ihrer Andacht nicht stören. Und die bunte Menge, die sich um die lockenden Schätze der Basare dräng te, fand erst recht keine Aufmerksamkeit für ihn. Al lenfalls bemerkte einer der Perser oder Chinesen, die 5
aus alter Gewohnheit ihre Augen nach allen Rich tungen offen hielten, den rennenden Mann. Der Usbeke rannte und rannte. Sein Atem ging hart und keuchend, seine Rippen schmerzten, und seine Augen verschleierten sich. Er rannte um sein Leben. An blühenden Obstgärten vorbei, an weitgestreck ten Schulen und prachtvollen Moscheen, an den star ren Denkmälern des großen Timur, durch breite Straßen mit wunderbar schattigen Laubbäumen und durch enge Gassen mit lachenden, schreienden und feilschenden Menschen. Nur einmal stoppte er, und dabei brach er fast zu sammen. Das war, als er aus einer der Gassen in eine breite re Straße einbiegen wollte. Im gleichen Augenblick kam ein Wagen in schneller Fahrt vorbei. Er passier te in zehn Meter Entfernung und hielt nicht an, aber der Usbeke benahm sich, als wäre er gegen eine Wand gestoßen. Er warf sich mit einem Schrei des Entsetzens zurück und sank in die Knie. Sein ganzer Körper zitterte sekundenlang. Dann wandte er sich um und hetzte in der anderen Richtung weiter. Er rannte in den Tod hinein! Als er um die Ecke bog und damit die Straße er reichte, die zum Distriktsgebäude führte, kamen von irgendwoher zwei matte, dumpfe Schläge. Der Usbe ke zuckte hoch, taumelte mit einbrechenden Knien 6
einige Schritte weiter, drehte sich halb auf die Seite und stürzte. Er blieb reglos am Rand des Fahrwegs liegen. Die Straße war wenig belebt. Die Nähe des Di striktkommissars machte die Luft unangenehm für alle Leute, die sich nicht für Russen hielten, sondern für Usbeken, Kirgisen, Parten Perser, Tadschiken oder was sonst noch alles. Hier wehte einiges von der scharfen Taschkenter Luft, bei der man sich leicht erkälten konnte. Wer es sich leisten konnte, mied dieses Viertel. Die ersten Menschen, die sich dem Gestürzten nä herten, waren ein hünenhafter Neger und ein Junge mit rötlich-blondem Haar, sommersprossigem Ge sicht und schmächtigem, aber sehnigem Körper, der neben dem Neger wie eine Filigranfigur wirkte. Sie bogen aus einer anderen Nebenstraße auf die Haupt straße ein und kamen an dem Liegenden vorbei. Hal Mervin wies mit der Hand. »Aha, da liegt ja einer. Ich sagte dir doch gleich, daß das zwei Schüsse durch einen Schalldämpfer hindurch waren. Komm, beeilen wir uns. Vielleicht ist ihm noch zu helfen.« Nimba blieb stehen. »Machen wir lieber kehrt. Wir hängen sonst in ei ner Sache drin, die uns nur Unannehmlichkeiten bringt. Sun Koh hat ausdrücklich gesagt, wir sollten alles vermeiden, was…« Hal winkte ab. 7
»Er hat bestimmt nicht gemeint, daß wir jemand verbluten lassen sollen. Was ist denn schon dabei? Sonst scheint sich ja niemand um den Mann zu kümmern.« Nimba gab nach. Der Usbeke lebte noch, als sie sich über ihn beug ten, aber sie sahen, daß keine Hoffnung mehr für ihn bestand. Wahrscheinlich dauerte es nur noch Minu ten. So konnten sie nicht mehr für ihn tun, als ihn bequemer zu legen. Der Mann schlug unter einem tiefen Stöhnen die Augen auf. Sein Blick flackerte über die beiden Ge sichter. Sein Arm zuckte. »Ruhig liegen bleiben«, riet Hal auf Englisch, ob gleich er nicht damit rechnete, daß ihn der Usbeke verstehen konnte. »Du bereitest dir nur Schmerzen, mein Freund.« Überraschenderweise verstand ihn der Usbeke. Er formte englische Worte, ungeschickt, doch verständ lich. »Sie haben – mich erwischt. Ich wollte…« Er keuchte einige Male, wobei blutiger Schaum über seine Lippen drang. Dann streckte er seine rech te Hand hoch, die zur Faust geballt war. »Da – nehmen – viel wert. Vorsicht vor Reattle – und Kiang-schan…« Dann war es aus. Bevor die beiden noch recht be griffen hatten, was er wollte, fiel die Hand wieder 8
herab. Der Körper bäumte sich auf und streckte sich. Der Usbeke war tot. Seine Hand hatte sich im Fallen geöffnet und ei nen zusammengeknüllten Zettel freigegeben. Jetzt verstanden sie, daß er ihnen den Zettel hatte geben wollen. Hal nahm ihn auf und glättete ihn. Es war ein al tertümlich wirkendes Stück Pergament mit irgend welchen krausen Schriftzeichen darauf, die ebenso gut Trittspuren von Vögeln wie menschliche Schrift zeichen sein konnten. »Vielleicht ist es wirklich etwas wert?« »Vermutlich mindestens ein Menschenleben.« »Das ist manchmal nicht viel. Übrigens kommt dort die Polizei. Paß auf, versteck den Zettel unter diesen Stein.« Hal ließ das Papier fallen. Eine der Steinplatten dicht neben dem Toten lag nicht fest auf. Das kam daher, daß eine Kante schräg nach unten wegge sprungen war. In den Hohlraum preßte Hal den Zet tel hinein. Das erledigte er unauffällig mit Hilfe sei ner beiden Fußspitzen. »Wenn du ihn eingesteckt hättest, wäre es genau so gut gewesen«, bemängelte Nimba. »Du mußt im mer Theater spielen.« Hal grinste. »Was du nicht sagst! Und wenn es dem Polizisten einfällt, uns zu durchsuchen, werden wir wegen Lei 9
chenfledderei festgehalten.« »Hm, auch wieder richtig«, gab Nimba zu. »Die tun wirklich so, als wollten sie uns mitnehmen.« In der Tat kamen die zwei Dutzend Polizisten in drohender Haltung auf sie zugestürmt und schlössen einen Kreis um sie herum. Der Offizier, der sie be fehligte, verzichtete auf jegliche Höflichkeit und er klärte barsch: »Sie haben den Mann erschossen, Sie sind verhaftet.« »Was wimmert er?« fragte Hal, aber Nimba hob die Schultern, denn er kannte sich in der russischen Sprache auch nicht aus. Wenigstens das schien der Offizier jedoch zu begreifen. Er ging auf Englisch über. »Sie sind Ausländer? Sie sprechen Englisch?« »Geraten«, bestätigte Hal erleichtert. »Der Mann hier ist auf offener Straße erschossen worden.« »Ich sehe es.« Der Russe nickte unfreundlich. »Und ich weiß auch, wer ihn erschossen hat. Kom men Sie mit.« Hal schüttelte energisch den Kopf. »Danke, wir haben etwas anderes vor. Wenn Sie etwas von uns wissen wollen, fragen Sie gleich.« Der Offizier verzog die Lippen. »Na schön, mein Junge, dann erzähle einmal, war um ihr den Mann erschossen habt.« Hal zog die Brauen zusammen. »Erstens bin ich nicht Ihr Junge, und zweitens ha 10
ben wir ihn nicht erschossen. Wir kennen ihn über haupt nicht. Wir sahen ihn nur am Weg liegen.« »Kleiner Mann, großes Maul!« »Großer Mann, kleines Gehirn!« »Werde nicht frech, Bursche!« warnte der Offizier drohend. »Warum habt ihr den Usbeken erschos sen?« Hal wandte sich schulterzuckend ab. »Sag du’s ihm noch mal, Nimba. Mir glaubt er’s nicht. Der Mann hat nicht genügend Grütze im Kopf, um sich auszurechnen, daß wir hier nicht auf ihn ge wartet hätten, wenn wir den Mord begangen hätten.« »Verdammt!« fluchte der Russe und griff nach Hal, aber der riesige Neger machte eine so drohende Bewegung, daß er doch lieber darauf verzichtete, Hal anzufassen. »Wir haben den Mann nicht erschossen«, erklärte Nimba mit Nachdruck. »Wir hörten nur die Schüs se.« »Hörten Sie?« höhnte der Russe. »Und Sie den ken, daß ich Ihnen das glaube? Sie sind die einzigen, die sich in der Nähe befanden.« »Der Mörder hatte Zeit genug, um zu verschwin den.« »Sie tragen Waffen?« »Ja.« »Geben Sie her. Ich will sehen, ob Sie geschossen haben.« 11
Nimba griff nach seiner Pistole, ließ die Hand mit ten in der Bewegung aber wieder sinken. Sein Ge sicht hatte etwas Farbe verloren. Hal sah es. Er wollte sich eigentlich nur vergewis sern, ob Nimba wirklich bereit war, seine Pistole aus der Hand zu geben, oder ob er es für besser hielt, ei nen Kampf zu entfesseln. Jetzt merkte er, daß etwas nicht stimmte. »Was ist, Nimba?« Der Neger hob resigniert die Schultern. »Ich habe doch gestern meine Pistole …« »Au verflucht!« »Wir kommen in die Patsche.« »Na, dann gute Nacht, Liebling.« Hal wußte jetzt, was Nimba viel zu spät eingefal len war. Und ringsherum standen zwei Dutzend Poli zisten mit entsicherten Waffen. »Na?« drängte der Offizier. Nimba reichte ihm seine Pistole. »Ich habe gestern damit geschossen und sie noch nicht gereinigt seitdem. Es fehlen zwei Schuß.« »Ausgerechnet!« triumphierte der Russe. »Und jetzt will ich Ihnen einmal erzählen, wann Sie ge schossen haben, nämlich…« »Gestern!« unterbrach Hal scharf. »Ich war Zeuge. Lassen Sie durch einen Sachverständigen feststellen, daß die Pistole vor mindestens vierundzwanzig Stun den benutzt wurde.« 12
Der Offizier prüfte die Waffe und grinste. »Ich bin selbst Sachverständiger, mein Kleiner. Und ich kann beschwören, daß die Pistole erst vor wenigen Minuten benutzt wurde. Ich werde euch eu re Frechheiten abgewöhnen.« »Schuft!« »In der Zelle dürft ihr noch mehr schimpfen. Vor wärts!« Da war nichts zu machen. Nimba und Hal fügten sich wohl oder über dem Befehl und ließen sich unter strenger Aufsicht in das Distriktsgebäude einliefern. Auf den zweihundert Metern bis dahin führte Hal Mervin ein Selbstgespräch, das erst abbrach, als er mit einem kräftigen Stoß in eine Zelle befördert wur de. Weder Hal Mervin noch Nimba ahnten, daß sie ganz aus Versehen in eine abenteuerliche Angele genheit hineingeraten waren, deren Anfänge örtlich wie zeitlich weit zurücklagen. Ein Zufall hatte sie in den Wirbel hineingesogen, und dabei wußten sie nicht einmal, daß sich Timurs Grab in Samarkand befand. Und noch weniger wußten sie von den Ge heimnissen, die den schlichten Marmorblock über der Asche des großen Eroberers umgaben. * Grauer, nebliger Tag über London. 13
In einem nahezu ausgeräumten Zimmer der Lion Street saß Serge Stepano auf einer Kiste und betrach tete nachdenklich ein Kästchen, das er in seinen Hän den hielt. Unglaublich, was seine Großmutter da al les aufbewahrt hatte. Große und kleine Andenken und ein Haufen Krempel, mit dem nun Schluß ge macht werden mußte. Wozu sollte er die große Woh nung halten. Die Großmutter war jetzt tot, und es hatte keinen Sinn, an Sentimentalitäten zu hängen. Das Zeug mußte fort. Der Auktionator würde es ver steigern und hoffentlich etwas Geld herausschlagen. Im Deckel des Kästchens befand sich auf der In nenseite ein Bild. Es war ein Miniaturporträt, und zwar so gut gemalt, daß es Serge Stepano leid tat, es auch wegzugeben. Er zog sein Taschenmesser heraus und führte einige Schnitte an der Fassung des Bildes entlang, so daß es sich ablöste. Hinter dem Bild befand sich eine flache Vertie fung. In ihr lag ein zusammengefaltetes Pergament, das mit unverständlichen Schriftzeichen bedeckt war. Er hielt es interessiert gegen das Licht. Dabei ent deckte er, daß es sich um den Teil eines größeren Blattes handelte, von dem es einst abgerissen worden war. Ein Liebesbrief? Oder eine Chronik der jungen Frau, die auf dem Porträt dargestellt worden war? Wer weiß, wie lange das Pergament schon hinter dem Bild verborgen war. 14
Er steckte es zusammen mit dem Bild in seine Brieftasche. Vielleicht erfuhr er gelegentlich, was die Schriftzeichen bedeuteten. Sicher würde es ganz in teressant sein, einiges über die Verstorbene zu erfah ren. Serge Stepano hatte in den nächsten Tagen mehr zu tun, als sich um alte Geschichten zu kümmern, Er vergaß Bild und Pergament. Eine Woche später traf er in einem Café zufällig einen Mann, den er flüchtig von früher her kannte. Jim Reattle nannte er sich. Er hatte sich in vielen Ländern herumgetrieben, vor allem in Asien und Rußland. Er trat stets gewandt und elegant auf, aber sein Gesicht erinnerte trotzdem immer an eine Kreu zung von Fuchs und Wolf. Beim Anblick dieses Jim Reattle dachte Serge Stepano wieder an das Blatt in seiner Brieftasche. »Hallo, Mr. Reattle«, meinte er deshalb, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Ich habe da eine Kleinig keit, bei der Sie mir behilflich sein könnten. Sie be herrschen doch verschiedene asiatische Sprachen?« »Um was handelt es sich?« fragte Reattle vorsich tig. »Ein Stück Papier, das ich hinter einem alten Bild entdeckte. Hübsch, nicht?« »Sehr hübsch«, anerkannte Reattle. »Was ist es wert?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht viel.« 15
»Sagen Sie das nicht. Das Bildchen könnte Ihnen einige hundert Pfund bringen, wenn Sie es an den richtigen Mann geben.« Stepano reichte ihm den Zettel. »Das wäre fein. Und das ist der Zettel. Können Sie das lesen?« Jim Reattle prüfte das Geschriebene und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber dazu reicht es nicht. Sieht aus wie Usbekisch, aber ich will mich nicht darauf fest legen. Die Schrift ist alt, und die Schriftzeichen ha ben sich im Laufe der Jahrhunderte merklich geän dert.« »Schade.« »Reattle zuckte mit den Schultern. Nun, wird nicht wichtig sein. Aber wenn Sie gern erfahren möchten, was auf dem Blatt steht, können Sie es mir ja mitgeben. Ich kenne einen Mann, der sich auf solche alten Schriften versteht. Vielleicht schafft er es.« »Das wäre schön.« Stepano freute sich. Sie unterhielten sich noch über dies und jenes, dann trennten sie sich. Einige Tage später stand Jim Reattle in der Dach kammer eines schmierigen Vorstadthauses. An ei nem Tisch, um den herum sich Stöße von Büchern häuften, saß ein eisgraues Männchen mit faltigem Gesicht und einem riesigen, haarlosen Schädel. Er 16
war in einen zerschlissenen Schlafrock eingehüllt, aus dem der unsaubere, dünne Hals wie eine Säule des Elends herausragte. Der Mann trug eine Brille mit starken Gläsern, durch die hindurch er auf den Besucher blickte, der sich in lässiger Haltung gegen die Tischkante stützte. »Es ist Usbekisch«, sagte er mit heiserer Stimme, »aber eine usbekische Schrift, die vor dreihundert Jahren und mehr verwendet wurde. Es war nicht leicht, das zu übersetzen. Viel Arbeit! Sehr viel Ar beit!« »Ich habe nicht verlangt, daß Sie für mich umsonst arbeiten«, erwiderte Reattle. »Jammern Sie mir nicht die Ohren voll, sondern sagen Sie mir lieber, ob die Übersetzung gelungen ist.« »Sie ist gelungen. Und sehr interessant! Wirklich interessant! Ich habe hier alles aufgeschrieben.« »Geben Sie her!« Jim Reattle nahm das Blatt an sich und las: »… ra te ich dir dringend, mit einigen zuverlässigen Leuten nach Marakanda zu reiten.« »Marakanda? Was ist das für ein Nest?« Der Alte kicherte. »Samarkand heißt es heute. Samarkand oder Se raf-schan. Sie kennen es sicher.« »Sicher«, sagte Jim Reattle und las weiter: »Du wirst dort am Rande der Stadt das Grab Timurs fin den. Es ist ein einfacher Marmorblock, über den man 17
ein Schloß gebaut hat. Unter diesem Marmorblock liegt die Asche des Eisernen. Das weiß jedes Kind. Unbekannt ist jedoch, daß auch die Schätze des Ero berers dort versteckt wurden. Sie waren nach seinem Tode verschwunden. Nur wenige Vertraute wußten, wohin man sie gebracht hatte. Einer von ihnen hat sein Wissen seinen Kindern weitergegeben. Von sei nem letzten Nachkommen, mit dem ich zusammen kämpfte, habe ich davon erfahren. Er gab mir den Wortlaut der Überlieferung, die ich dir hier wieder hole: Unter Timurs Grabstein liegen Timurs Schätze. Der Herr Asiens wacht über sie, im Tode noch furchtbar, wie er im Leben gewesen ist. Niemand soll die Schätze heben. Wer das Siegel aufbricht, ist des Todes. Unter Timurs Grabstein liegen Timurs Schät ze. Der Weg zu ihnen führt in die Erde. Furchtbar wird Timur den strafen, der seinen Grabstein hebt. – Das ist der Wortlaut. Der Mann lächelte, als er ihn mir verriet. Es scheint ein Geheimnis darin zu stek ken. Es gibt aber kein Geheimnis, das nicht ein paar entschlossene Leute lösen können. Ich bin zu alt, um noch die weite, abenteuerliche Reise nach Marakan da zu unternehmen. Versuche du dein Glück.« Der Text war zu Ende. Jim Reattle wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Hm, interessant, in der Tat interessant! Schade, daß der damalige Empfänger dieses Schreibens uns 18
schon zuvorgekommen ist, sonst würde es sich loh nen, dem alten Timur einmal auf den Leib zu rük ken.« Der Alte am Tisch hüstelte. »Wer sagt Ihnen, daß der Mann nach Samarkand geritten ist? Wenn ich jung wäre, würde ich es versu chen.« »Wenn ich alt wäre, würde ich auch dumme Rat schläge geben«, meinte Jim Reattle grinsend und warf eine Pfundnote auf den Tisch. Dann lief er grußlos hinaus. Serge Stepano hörte und sah nichts wieder von Jim Reattle. Das belastete ihn nicht, da er in diesen Ta gen einige Tausend Pfund in der Pferdelotterie ge wann. Darüber vergaß er Jim Reattle ebenso wie das Pergament. Es war wieder reiner Zufall, daß er abermals mit Jim Reattle zusammentraf. Das geschah im Büro ei ner Schiffahrtsgesellschaft. Jim Reattle war nicht er freut, ihn zu sehen, beherrschte sich jedoch genü gend. Und er war froh darüber, denn Serge Stepano hielt mit seinem glücklichen Ereignis nicht hinter dem Berg und erzählte von seinem Gewinn. Später fragte er auch nach dem Pergament, aber ohne sich etwas davon zu versprechen. Jim Reattle setzte eine geheimnisvolle Miene auf, denn er war sich inzwischen schlüssig geworden, was sich mit diesem jungen Mann anstellen ließ. 19
»Sie werden staunen«, orakelte er. »Ich habe die Übersetzung schon einige Tage in der Tasche, aber ich konnte Sie nicht finden. Kommen Sie, wir wollen einen Schluck trinken.« Serge Stepano nahm die Einladung an und lernte die Übersetzung kennen. Er lachte, nachdem er gele sen hatte, aber Jim Reattle blieb bei seiner geheim nisvollen Miene. »Ihnen geht es genau so wie mir«, sagte er bedeu tungsvoll. »Ich hielt die Angelegenheit auch für längst erledigt. Aber ich habe mich inzwischen er kundigt. Seit dem Tode Timurs ist sein Grabstein nie wieder angerührt worden. Wenn sich irgendwer an ihm vergriffen hätte, wäre das bekannt geworden. Wissen Sie, was das bedeutet?« Serge Stepano wurde nachdenklich. »Sie meinen, daß demnach die Schätze, von denen hier die Rede ist, noch unter dem Grab liegen?« »Genau das meine ich«, betonte Reattle. »Und ich hätte nicht übel Lust, dort unten in Turkestan nach dem Rechten zu sehen. Ich habe so eine Ahnung, daß es sich lohnen könnte. Mir fehlen nur noch Ihre Er laubnis und ein unternehmungslustiger Partner. Hät ten Sie nicht Lust? Schließlich haben Sie ja das erste Recht darauf.« Serge Stepano wäre kein junger Mann gewesen, wenn ihn das Abenteuer nicht gereizt hätte. Er brach te zwar verschiedene Einwände vor, aber Reattle 20
konnte sie widerlegen, so daß sie schließlich be schlossen, gemeinsam den Geheimnissen Timurs nachzuspüren. Für Jim Reattle war das eine günstige Gelegenheit, denn nichts war für sein Unternehmen notwendiger als Geld und ein junger Mann, der bereit war, es aus zugeben. Es dauerte eine Weile, bevor sie aus London abrei sten. Bis dahin trieb Reattle noch zwei Männer auf, die zwar seinem Geschmack entsprachen, aber nicht dem Stepanos. Es waren Buck und Landers, zwei Kerle, die nach Unterwelt rochen. Wahrscheinlich fehlte es ihnen nicht an Mut und Verwegenheit, aber sie sahen ganz danach aus, als hätten sie ihre Tugen den schon oft bei Taten angewendet, die nicht mit den Gesetzen in Einklang standen. Stepano fühlte sich unbehaglich, als er die beiden kennenlernte, aber er enthielt sich der Kritik. Reattle, der sich selbstverständlich als Leiter des Unterneh mens aufspielte, hätte ihn wohl nur ausgelacht. Die Reise nach Taschkent wurde nicht gerade zur Vergnügungsreise. Sie mußten trotz aller sorgfältigen Vorbereitungen über Intourist eine Reihe lästiger Schwierigkeiten überwinden. Wenn Reattle nicht ge radezu ein Naturtalent dafür besessen hätte, Men schen zu behandeln und Hindernisse zu umgehen, wären sie wohl nie nach Taschkent gekommen oder wären in einem russischen Gefängnis gelandet. 21
In Taschkent stießen abermals zwei Männer zu der Expedition. Jim Reattle kannte sie von früher und hatte seine Pläne auf ihre Mitarbeit aufgebaut. Der eine war ein Chinese und hieß Kiang-schan. Der zweite war ein Usbeke und hieß Kodscha. Stepano fand den Chinesen höchst unsympathisch, während Jim Reattle mit ihm geradezu befreundet war. Hier in Taschkent gab es bereits den ersten Streit. Kodscha hörte offenbar zum erstenmal von den Plänen Reattles, denn er wehrte sofort ab, als das Ge spräch auf sie kam. »Das ist ausgeschlossen. Timurs Grab ist heilig. Wer sich an ihm vergreift, wird sterben. Es ist glatter Selbstmord. Außerdem glaube ich nicht, daß dort Schätze liegen.« Jim Reattle hielt ihm das Pergament unter die Na se. »Hier steht das Gegenteil. Gut, es kann eine Pleite werden, aber versucht wird es auf jeden Fall.« »Laßt die Finger davon«, warnte Kodscha. »Ti murs Grab darf nicht geöffnet werden. Kehrt wieder um.« Jim Reattle zog die Brauen zusammen. »Ich denke nicht daran. Wir fahren nach Samar kand und damit basta. Und du wirst bestimmt nicht das Geld ausschlagen, das du dir bei dieser Gelegen heit verdienen kannst.« Der Usbeke schwieg dazu. 22
Jim Reattle machte dem Chinesen später Vorwür fe, weil er Kodscha mitgebracht hatte, aber Kiang schan verteidigte sich geschickt. »Ich mußte ihn mitbringen. Kodscha bewacht das Grab Timurs. Ohne ihn können wir niemals ungestört arbeiten. Wir brauchen einen Mann, der uns an Ort und Stelle den Rücken deckt.« Jim Reattle sah das ein, aber er gab auch unver blümt zu verstehen, daß er an dem einen Narren Ste pano genug habe und daß man mit romantischen Träumereien keinen Schatz heben könne. Der zweite Streit ergab sich, als das Gespräch auf die Teilung der Beute kam. Wieder war es der Usbe ke, der sich auflehnte. Er sollte sich mit einem Zwanzigstel begnügen. Das war ihm zu wenig, und er machte ernstlich Anstalten, sich zurückzuziehen. Daraufhin billigte ihm Jim Reattle ein Zehntel zu. Dann waren sie in Samarkand. Kiang-schan besaß hier ein kleines Haus, in dem er mit wenigen Dienern wohnte, wenn ihn seine Ge schäfte in die Stadt führten. Dieses Haus stellte er den anderen zur Verfügung. Es besaß genügend Räume, so daß alle untergebracht werden konnten. Das Mobiliar war allerdings behelfsmäßig. Sie begannen gleich in der ersten Nacht mit ihrer Arbeit. Das Ziel war nahe, und sie wollten sich über zeugen, ob sich die Mühe gelohnt hatte. Kodscha empfing sie an dem hohen, mit kostbaren 23
Verzierungen geschmückten Tor. Seine Miene war finster. Er verneigte sich kurz und ging ihnen dann stumm voran zur Grabmoschee, zum Mausoleum des großen Eroberers. Es lag inmitten eines dichten Laubhaines, durch dessen seltene Lücken die Mond strahlen ein geheimnisvolles Märchenlicht warfen. Die Abenteurer hatten kein Auge für die herrli chen Formen des Doms, der sich über der Grabstätte Timurs wölbte. Sie sahen ebensowenig die riesigen steinernen Stalaktiten, die sich in den Ecken zusam mendrängten, wie den Lapisfries mit den neunund neunzig Namen Allahs, der in Manneshöhe herum lief. Sie erfaßten nicht den Zauber, der über dem of fenen Gitterwerk der Fenster, durch die der Mond schien, lag. Sie kümmerten sich nicht um die zahlrei chen weißen Steine, unter denen die vielen Verwand ten und Frauen Tamerlans ruhten. Ihre Augen suchten nur den dunklen Marmor block. Einfach und schlicht lag er dort. Nichts verriet, daß unter ihm die Überreste eines der kühnsten und rücksichtslosesten aller Eroberer lagen. Der Usbeke lehnte sich teilnahmslos an die Pforte. Die anderen gruppierten sich zunächst schweigend um den Block, bis Jim Reattle sagte: »Also los, das Herumstehen nützt uns nichts. Wir wollen mal sehen, ob wir das Ding anheben können.« Sie versuchten, den Block anzuheben, aber sie ga 24
ben es bald auf. Er rührte sich nicht von der Stelle. »Wir brauchen Brecheisen«, murrte Landers. Sie drückten zunächst gegen die Breitseite, jedoch ohne Erfolg. Dann versuchten sie es an einer der Längsseiten, und diesmal schien der Block nach zugeben. Er wich nur eine Kleinigkeit, aber sicher wäre noch mehr daraus geworden, wenn sie nicht gestört worden wären. Kodscha drehte sich zu ihnen um und zischte: »Verschwindet! Die Wachkontrolle kommt. Sie darf euch hier nicht sehen.« Er eilte voraus. Den anderen blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. An einer kleinen Pforte, die auf der anderen Seite des Hains ins Freie führte, drängte Kodscha noch einmal: »Verschwindet so schnell wie möglich für den Fall, daß ihnen doch etwas aufgefal len ist. Kommt morgen wieder, da braucht ihr keine Stö rung zu befürchten.« Sie gaben es für diese Nacht auf. Sie waren nicht zum Ziel gekommen, aber der Versuch barg doch schon einige Verheißungen. Gegen Mittag des nächsten Tages betrat Kodscha das Haus des Chinesen. Niemand bemerkte sein Kommen. So geschah es, daß er plötzlich vor einer nur angelehnten Tür stand, hinter der sich Jim Reatt le und Kiang-schan in gedämpftem, aber noch gut hörbaren Tonfall unterhielten. 25
»… traue dem Kerl nicht«, sagte Reattle eben. »Ich habe den Eindruck, daß er uns gestern nacht überlistet hat. Der Halunke bringt es fertig, den Stein allein beiseite zu schieben und uns um den Schatz zu prellen.« »Er müßte die Kraft von fünf Männern haben«, beruhigte der Chinese. »Richtig ist allerdings, daß er nicht gern bei der Sache ist. Diese Usbeken sind alle abergläubisch.« Jim Reattle lachte kurz auf. »Wenn sie genügend Geld verdienen, verlieren sie ihren Aberglauben.« Kiang-schan hüstelte. »Kodscha glaubt nicht, daß er genug verdient. Er ist mit dem, was wir ihm zugebilligt haben, nicht zu frieden. Vielleicht fürchtet er auch, noch weniger zu erhalten, wenn es soweit ist.« »Das kann leichter eintreten, als er denkt«, knurrte Reattle. »Unter uns gesagt – ich habe keine Lust, mit solchen Narren wie Kodscha oder Stepano zu teilen. Wenn es soweit ist, gibt es noch andere Möglichkei ten, eine Rechnung zu begleichen.« »Kluge Worte«, murmelte der Chinese, »aber un vorsichtige Worte. Sie dürfen sich nichts anmerken lassen. Vorläufig brauchen wir Kodscha noch.« Da öffnete der Usbeke die Tür und trat über die Schwelle. Kiang-schan hatte sich schnell gefaßt und lächelte 26
höflich. Jim Reattle jedoch konnte sich nicht so schnell zurechtfinden und wurde in seiner Verwir rung grob. »Was fällt dir ein, hier hereinzukommen? Du hast gelauscht?« »Sicher«, bestätigte der Usbeke verächtlich. »Ihr habt laut genug gesprochen. Und wenn ich euch rich tig verstanden habe, soll ich erledigt werden, sobald der Schatz gefunden ist?« Kiang-schan griff mit einer sanften, beschwichti genden Handbewegung ein. »Vollkommenes Mißverständnis, lieber Freund. Du legst bösen Sinn in unsere guten Worte. Nicht du wirst erledigt sein, wenn der Schatz gehoben ist, sondern deine Arbeit. Du wirst dich als reicher Mann zurückziehen können.« Kodscha lachte bitter auf. »Deine glatte Zunge ist bekannt, Kiang-schan. Ich weiß, was ich gehört habe. Ermorden wollt ihr mich, damit ihr euch die Beute allein teilen könnt. Und der junge Russe soll ebenfalls dran glauben. Aber ihr werdet euch täuschen. Ich verzichte auf meinen An teil. Ich verzichte auf den Schatz. Aber ihr sollt auch nichts davon haben. Ich gehe zur Distriktverwaltung und melde die Sache.« »Wage es nicht!« fuhr Reattle auf. »Voreilige, törichte Worte«, murmelte der Chinese kummervoll, während in seinen Augen ein gefährli 27
ches Licht aufblitzte. In diesem Augenblick bemerkte Kodscha auf dem Tisch das Pergament. Im nächsten Augenblick hatte er es in seiner Hand. »Damit werde ich den Kommissar aufsuchen.« Er rannte hinaus. Er rannte, aber dabei fiel ihm ein, daß er denkbar töricht gehandelt hatte. Der Weg zum Distriktsge bäude war weit, und Kiang-schan gehörte nicht zu den Männern, die einen Feind ungehindert an sein Ziel kommen lassen. Und dieser Reattle war kaum weniger gefährlich. Diese beiden würden alles auf bieten, um ihn abzufangen, denn nicht nur der Schatz stand auf dem Spiel, sondern auch ihre Freiheit und ihr Leben. So rannte er, so schnell er konnte. Er besaß zwar einen Vorsprung, aber Kiang-schan verfügte über einen Wagen. Und es hatte keinen Zweck, sich in einem der Häuser und Basare zu verstecken. Kiang schan gehörte zu den geheimen Mächtigen und wür de dank seiner Verbindung doch bald erfahren, wo er sich verborgen hielt. Er rannte und rannte, bis matt und kaum hörbar die beiden Schüsse fielen, die ihm die Lunge zerrissen und ihn an den Wegrand warfen.
28
2.
In der Stunde, in der Kodscha starb, saß Sun Koh in einer umrankten Laube dem Perser Mehfed gegen über. Mehfed war sehr alt. Sein Haar und sein dich ter, langer Bart glänzten silberweiß. Er sah ehrwür dig aus, obgleich sein Kaftan bescheiden und fast ärmlich war. Die beiden Männer unterhielten sich ernst und nachdenklich. Sie sprachen über Dinge, die fernab von allen greifbaren Ereignissen des Tages lagen. Sie sprachen über Gott und die Ewigkeit. Die Zeit verging. Als Sun Koh wieder einmal nach der Uhr blickte, waren Nimba und Hal bereits eine halbe Stunde überfällig. Dem Greis entging der feine Schimmer des Un muts auf dem Gesicht Sun Kohs nicht. »Drängt Sie die Zeit?« fragte er. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Nein, aber meine Begleiter sollten bereits zurück sein. Ich bin in Sorge, daß sie in der Stadt ein Unheil anrichten könnten.« Mehfed lächelte gütig. »So schlägt die Welle des einen Menschen in den anderen über. Die beiden werden sich in den Basaren verzögert haben. Sicher kommen sie bald zurück. Wenn es Ihnen recht ist, zeige ich Ihnen inzwischen 29
Timurs Grab, wie ich vorhin versprach.« Sun Koh nickte. Sie gingen nebeneinander zu dem nicht weit entfernten Mausoleum, das in tiefem Frie den zwischen den schattenspendenden Bäumen lag. Nach langem Betrachten standen sie vor dem dunklen Marmorblock. »Das ist das Grab Timurs des Eisernen«, sagte Mehfed. »Er trägt viele Namen. Man nennt ihn auch Timur-Beng oder Tamerlan oder Timur-Leng, aber kein Name enthüllt das Geheimnis dieses Mannes so sehr wie der letzte. Timur-Leng – der lahme Timur! Er war lahm, und alles, was er tat, war im Grunde genommen weiter nichts als die Rache an einer Na tur, die ihn verkrüppelt hatte und die Rache an den Menschen, die ihre gesunden Glieder besaßen.« »Minderwertigkeitskomplexe und Rachsucht ma chen noch niemand groß, Mehfed«, mahnte Sun Koh sanft. »Und soviel ich weiß, war Timur einer der gro ßen Herrscher Asiens.« »Er war der größte neben Dschingis-Khan«, gab Mehfed zu. »Als er im Jahre 1336 in Sebz in der Pro vinz Kesch geboren wurde, ahnte niemand, daß er jahr zehntelang die Geschichte Asiens bestimmen sollte. Aber bereits mit vierunddreißig Jahren hatte er sich ganz Zentralasien, Persien und Indien unterwor fen und eines der größten Reiche gegründet. Später stieß er sogar gegen das Türkenreich vor und nahm beispielsweise im Jahre 1402 den Sultan Bajazet I. 30
bei Angora gefangen. Aber 1405 starb er. Er war ein großer Feldherr, aber zugleich ein blutdürstiger Ti ger. Niemals hat ein Herrscher grausamer regiert als er, niemals ist ein Eroberer rücksichtsloser vorge gangen. Allein in Ispáhan hat er siebzigtausend Per ser auf einmal töten lassen. Und doch ist nichts wei ter von ihm geblieben als etwas Asche.« Sun Koh strich mit der Hand über den Marmor block. »Seine Ruhestätte ist jedenfalls eines großen Kö nigs würdig.« Mehfed nickte. »Ja, und auch sein Leben wäre es wohl gewesen, wenn er nicht immer den Schimpfnamen Timur-Leng im Ohr gehört hätte. Der Eiserne war in Wahrheit schwach genug, den Spott seiner Feinde zu fürchten. Und das ist nicht der einzige Fall in der Weltge schichte, in dem eine körperliche Mißbildung mitbe stimmend auf die Geschicke der Völker einwirkt.« Sun Koh antwortete nicht. Seine Gedanken waren abgelenkt. Der tiefe Frieden am Grab Timurs beru higte ihn nicht, sondern ließ ihn die innere Unruhe noch stärker bewußt werden. Irgend etwas war mit Hal und Nimba nicht in Ordnung. »Verzeihen Sie«, bat er schließlich. »Ich bin in Sorge um meine Leute. Sie sind immer noch nicht zurück. Ich muß nachforschen, was mit ihnen ge schehen ist.« 31
Er verabschiedete sich und machte sich auf den Weg in die Stadt. Zwei Stunden lang suchte er vergeblich. Von Nimba und Hal war nichts zu sehen. In den Basaren waren sie nicht zu entdecken. Er begann zu fragen, aber die Leute konnten ihm keine Auskunft geben, obgleich die beiden sicher nicht leicht zu übersehen waren. Endlich traf er einen Mann, dem die beiden aufge fallen waren. Er konnte allerdings nur die Richtung zeigen, in der sich die beiden entfernt hatten. Etwas später erhielt er endlich eine bessere Aus kunft. Sie war niederschmetternd genug. »Ein Neger mit einem jungen Mann?« vergewis serte sich der Tadschike, mit dem er sprach. »Ja, ich habe die beiden gesehen, aber…« »Aber?« »Sehr bös, sehr bös. Sie sind verhaftet worden.« »Verhaftet?« »Ja. Sie gingen zwischen vielen Polizisten zum Distriktsgebäude.« »Warum? Was ist geschehen?« Der Tadschike hob die Schultern und zog ein ver legenes Gesicht. »Ein toter Usbeke lag auf der Straße. Die beiden gingen an ihn heran und beugten sich über ihn. Dann kam der Kommissar. Man wird sagen, daß sie ihn getötet haben.« 32
»Ich denke, der Usbeke lag schon tot auf der Stra ße?« »Wenn der Kommissar sagt, daß ihn die beiden er schossen haben, dann haben sie ihn eben erschos sen.« »Und wenn du als Zeuge auftreten würdest?« »Wie kann ein Tadschike gegen einen Kommissar als Zeuge auftreten?« Sun Koh begriff, drückte dem Mann eine Münze in die Hand und ging in das Distriktsgebäude. Es kostete ihn einige Mühe, bei dem zuständigen Kommissar vorgelassen zu werden, aber endlich stand er doch in dem Arbeitszimmer des Mannes, der in Samarkand kaum weniger gefürchtet wurde wie einst Timur in Marakanda. »Sie wünschen?« erkundigte sich der Kommissar fro stig, während Sun Koh an den Schreibtisch herantrat. »Sie haben meine beiden Begleiter verhaftet. War um?« »Ihre beiden Begleiter? Nicht, daß ich wüßte.« »Ein Neger und ein junger Engländer.« »Ach so?« Der Kommissar stellte sich überrascht. »Diese beiden haben wir allerdings in Gewahrsam genommen. Das sind Ihre Begleiter? Nun, da haben Sie ja feine Vögel in Ihrer Gesellschaft.« »Sie können sich derartige Bemerkungen sparen«, sagte Sun Koh kalt. »Warum haben Sie die beiden verhaftet?« 33
»Wegen Mordes!« »Eine schwere Anklage. Auf welche Beweise stützt sich Ihr Verdacht?« Der Kommissar lehnte sich in seinem Sessel zu rück und spielte mit seinem Bleistift. Er fühlte sich jetzt offensichtlich überlegen. »Verdacht ist nicht der richtige Ausdruck. Es han delt sich um eine Gewißheit. Dieser Neger hat sein Opfer aus geringer Entfernung niedergeschossen. Wir haben seine Pistole geprüft. Aus ihr wurden zwei Schüsse abgegeben, und der Usbeke wurde durch zwei Schüsse getötet.« »Die beiden Schüsse wurden gestern in meiner Gegenwart abgefeuert«, parierte Sun Koh. »Ich kann das bezeugen. Der Neger hatte keine Zeit, seine Waf fe zu reinigen. Auch das kann ich bezeugen.« »Nichts ist leichter als ein Meineid.« »Das sollten Sie berücksichtigen«, konterte Sun Koh scharf. »Darf ich die beiden sprechen?« Der andere lächelte hämisch. »Das kann ich Ihnen leider nicht erlauben. Mir scheint die Gefahr der Verdunkelung gegeben.« »Sie halten meine Leute zu Unrecht fest.« »Die Entscheidung über Recht oder Unrecht wol len Sie mir überlassen. Es steht Ihnen frei, nach Taschkent zu fahren und sich dort zu beschweren.« »Wie lange wollen Sie die beiden festhalten?« »Auf Mord stehen bei uns mindestens fünfund 34
zwanzig Jahre Zwangsarbeit.« Sun Koh sah ein, daß im Augenblick alle weiteren Bemühungen scheitern mußten. Er verließ das Distriktsgebäude mit unangeneh men Gedanken. Nimba und Hal saßen in einer Pat sche, aus der man sie nicht so leicht wieder heraus holen konnte. Wenn es zu einem gerichtlichen Ver fahren kam, so mußte man klipp und klar ihre Un schuld beweisen, wenn man sie vor einer langen Freiheitsstrafe bewahren wollte. Und das würde schwerfallen oder ganz unmöglich sein. Offenbar gab es nur eine Möglichkeit, nämlich die beiden gewaltsam aus der Zelle herauszuholen und schnellstens das Land zu verlassen. An der Stelle, an der das Blut des Usbeken in die Erde gesickert war, blieb er stehen. Zwei Schüsse aus dem Hinterhalt… Irgendwer mußte sie abgefeuert haben. Aber wer? Sein forschender Blick blieb an der Steinkante hängen, unter die Hal das Pergament geschoben hatte. Gleich darauf hielt er es in der Hand und überflog es. Er kannte die Schriftzeichen nicht, aber sein unge wöhnlich fein entwickeltes Einführungsvermögen ließ ihn Bruchstücke erfassen. Er nahm das Blatt mit. Später saß er wieder dem greisen Perser gegenüber und beobachtete dessen Miene. Mehfed nahm sich Zeit. Er prüfte lange, bevor er zögernd die Übersetzung 35
des Geschriebenen gab. Sun Koh fühlte sich erleichtert. »Jetzt habe ich wenigstens das Motiv zu diesem Mord. Man fahndet nach den Schätzen Timurs. Des halb mußte der Usbeke sterben.« »Das Pergament kann schon längere Zeit unter je nem Stein gelegen haben«, warnte der Greis. »Kaum möglich. Die Erde war frisch zusammen geschoben. Das Papier lag nicht länger als einige Stunden dort. Wahrscheinlich hat es der Sterbende darunter verborgen, damit es nicht in die Hände sei nes Mörders fällt.« Mehfed wiegte bedächtig sein Haupt. »Mag sein, aber was nützt Ihnen das?« »Nun, vielleicht viel oder gar alles. Ich werde den Mann, der den Mord beging, an Timurs Grab oder in seiner Nähe wiederfinden. Wenn ich ihn fange, wird er bezeugen müssen, daß meine Begleiter unschuldig sind.« »Und wenn er schweigt?« Sun Koh lächelte schwach. »Er wird sprechen.« Mehfed seufzte. »Jugend ist gewaltsam. Hoffentlich nützt es Ihnen etwas. Die Behörden lassen niemand gern frei, den sie einmal haben.« »Das war auch mein Eindruck«, bestätigte Sun Koh. »Der Kommissar war reichlich unfreundlich. 36
Aber wenn es nicht anders geht, werde ich meine Freunde auch mit List oder Gewalt herausholen.« Der Greis schüttelte den Kopf. »Hüten Sie Ihre eigene Freiheit.« »Gewiß. Übrigens, ist an diesem Bericht über die Schätze in Timurs Grab etwas Wahres?« Mehfed strich sich bedächtig den Bart. »Seit Jahrhunderten wird gemunkelt, daß unter dem Marmorblock die Schätze Timurs liegen sollen, aber es ist wohl mehr die geschäftige, blühende Phantasie des Volkes, die solche Geschichten erfin det. Niemand weiß Genaues, und niemand hat ge wagt, nachzuforschen. Nur ein respektloser Auslän der könnte das tun. Das Volk würde ihn dafür töten. Timur lebt zwar als der Schreckliche, aber auch als der Große fort. Es gibt eine alte Chronik des Baghi nats, in dem die Verwunderung darüber ausgedrückt wird, daß die Juwelen und Schmuckstücke, die Ti mur aus Indien mitbrachte, nicht wieder aufgefunden wurden. Das ist meines Wissens der einzige Anhalt, der den Inhalt des Pergaments stützen könnte.« »Drückt sich der Schreiber dieser Zeilen nicht recht merkwürdig aus?« »Wieso?« wunderte sich der Greis. »Nun, der Text der Überlieferung widerspricht sich gewissermaßen. Da heißt es klipp und klar, daß die Schätze unter dem Grabstein liegen und daß der Weg zu ihnen in die Erde hineinführt. Vor allem 37
wird nachdrücklich verboten, das Siegel aufzubre chen und den Grabstein zu heben. Ich finde das merkwürdig. Entweder soll das Schreiben einen Weg zu den Schätzen zeigen oder es soll das Grab vor Entweihung schützen. Hier geschieht jedoch beides, wenn nicht…« »Wenn nicht…?« »Ich weiß nicht«, sagte Sun Koh. »Es ist ja auch nicht so wichtig. Mir würde es genügen, wenn ich bei Timurs Grab die Leute finden würde, für die meine beiden Begleiter in Haft sitzen. Ich werde aber wohl oder übel auf sie warten müssen. Bei Tag wer den sie ja wohl kaum etwas unternehmen, dafür um so sicherer bei Nacht.« »Das Grab wird bewacht.« »Das braucht kein Hindernis zu sein.« »Nein«, räumte Mehfed ein. »Ich will Ihnen einen Plan zeigen, von dem aus Sie die Grabstätte beo bachten können.« So gingen sie zum zweitenmal an diesem Tag zu Timurs Grab hinüber. * Zwei Uhr nachts. Fünf Männer schlichen sich an das Mausoleum heran. Vorsichtig drückten sie sich an dem Pfeiler vorbei, an dem Kodscha sie in der vergangenen 38
Nacht empfangen hatte. Nun standen sie um den dunklen Blick herum. Mit einer Stimme, die in der Stille unnatürlich laut klang, munterte Jim Reattle auf: »Also los, wir wol len ihn alle zusammen von dieser Seite aus weg schieben. Stemmt euch richtig ein. Los!« Der Atem der Männer wurde hörbar. Sie hatten Erfolg. Der mächtige Marmorblock glitt langsam, aber zusehends in seiner Längsachse weg. Das war im Grunde genommen recht merkwürdig. Man hatte den Eindruck, daß der Grabstein in die Betonplatten eingebettet war, so daß er sie eigentlich erst hätte wegschieben müssen. Nun ließ er sich je doch glatt über sie hinwegschieben, als ob es sich nur um eine aufgelegte Grabplatte handelte. Andererseits war jedoch die Öffnung, die sich jetzt zeigte, unge fähr einen Meter tief, und die gleiche Tiefe zeigte auch die jetzt sichtbare Schmalwand des Steins. Sun Koh, der die Vorgänge aus einigem Abstand aufmerksam verfolgte, beschäftigte sich intensiv mit dieser Feststellung. Irgend etwas stimmte nicht. Es sah ganz so aus, als wäre der Block in der oberen Hälfte bis auf ein Reststück flach durchschnitten. Der Boden unter den Platten war hohl und nahm den un teren Teil des Blocks auf, die Steinplatten schoben sich in die Schnittfuge, und das obere Deckstück glitt nur scheinbar auf der Oberfläche entlang. Dann muß te der Block aber auf Rollen oder sehr glatter Unter 39
lage ruhen, sonst wäre es diesen Männern nicht mög lich gewesen, ihn wegzuschieben. Oder war der Block etwa hohl? Sun Koh hörte plötzlich wieder die Stimme Meh feds: »Unter Timurs Grabstein liegen Timurs Schät ze.« Hm, das wäre immerhin eine mögliche Deutung. Die fünf Männer an Timurs Grab dachten weniger nach als Sun Koh. Sie knieten am Rand der rechtek kigen Öffnung. Ihre Lampen warfen helles Licht hinunter. »Verdammt!« fluchte Reattle. »Das Grab ist leer.« »Leer!« bestätigte Buck. »Teufel, dann war alles umsonst?« »Leer?« murrten auch die anderen. Serge Stepano sprang hinunter und leuchtete die Wände genau ab. »Ha, sehen Sie hier, Reattle. Wir brauchen noch nicht alle Hoffnung aufzugeben.« Reattle sprang ebenfalls hinunter. An der Schmal wand des Blocks befand sich eine knopfartige Erhö hung, die kunstvoll verziert war. Er versuchte, den Knopf zu drehen oder zu ziehen. »Eine Art Griff vielleicht?« Stepano hatte weiter mit Erfolg herumgeleuchtet. »Hier ist ein anderer«, meldete er und wies auf ei nen ähnlich geformten Knopf, der vertieft in der Sei tenwand lag. Er versuchte, ihn zu bewegen. 40
»Rührt sich nicht.« In diesem Augenblick zuckte Reattle zurück. »Nanu, was ist denn…?« Er vollendete seinen Satz nicht. Stepano konnte ihn noch nicht einmal auffangen, so schnell brach er zusammen. »Ist ihm schlecht geworden?« fragte Landers arg los. »Ich weiß nicht«, erwiderte Stepano. »Möglich, daß er – barmherziger Himmel…« Er brach ebenfalls zusammen. Die drei Männer am Rand der Grube waren so be stürzt, daß sie eine ganze Weile stumm auf die leblo sen Körper starrten. Endlich räusperte sich Landers und murmelte heiser: »Verflucht, hier scheint etwas nicht in Ordnung zu sein. Die beiden hat es er wischt.« »Holt sie heraus!« befahl Kiang-schan gleichgültig und trat einen Schritt zurück. »Holt sie heraus?« knurrte Buck bösartig. »Greif gefälligst selbst mit zu, Tschink. Hast wohl Angst, daß du dich überanstrengst? Faß an, Landers.« Sie bückten sich und hoben nacheinander die bei den Körper aus dem Loch heraus. Sie legten sie auf die Bodenplatten. Die Untersuchung nützte nichts mehr. Reattle und Stepano waren tot. »Keine Verletzung«, sagte Kiang-schan, der sich 41
wenigstens an der Untersuchung beteiligt hatte. »Tot sind sie trotzdem«, brummte Buck. »Und er zähle mir nicht, daß sie an Herzschlag gestorben sind.« Der Chinese grinste. Sein Gesicht wirkte dabei fahl und gelblich wie ein Totenkopf. »Kein Herzschlag. Gase können es aber auch nicht gewesen sein, sonst hätten wir auch etwas gespürt. Also Gift.« »Der Knopf?« »Ja.« Landers nickte. »Das wird es sein. An den Knöpfen ist etwas, vielleicht Spitzen oder Stacheln, die vergiftet sind. Ich werde mich jedenfalls hüten, die Dinger anzufassen.« »Dann sind wir uns einig«, meinte Buck trocken. Kiang-schan schüttelte den Kopf. »Ihr wollt doch nicht etwa die Sache so dicht vor dem Ziel aufgeben? Wahrscheinlich muß man nur einen der Knöpfe herausziehen oder hineindrücken, um den Schatz zu finden.« Buck zuckte mit den Schultern. »Dann zieh oder drücke, Chinamann. Wir helfen dir dann beim Ausräumen. Wenn du dir einbildest, daß wir die Dummen für dich spielen, hast du dich geschnitten.« Der Chinese hüstelte. »Man nennt die Engländer im allgemeinen tapfere Leute.« 42
»Sag lieber nicht, daß wir Feiglinge sind«, warnte Landers. »Du kannst auch einmal etwas riskieren. Steig hinunter und versuch’ dein Glück.« Kiang-schan fürchtete wohl, daß die beiden streit süchtigen Engländer einfach aufgeben oder sich ernstlich an ihm reiben würden. Er entschloß sich daher, etwas zu tun, was sonst seiner Natur völlig zuwiderlief, nämlich selbst etwas aufs Spiel zu set zen. Er sprang in die Öffnung hinein, zog ein großes Tuch aus der Tasche, wickelte es um seine Hand und ging so den Knöpfen zuleibe. Die beiden Engländer warteten gespannt darauf, daß er umfallen würde. Er fiel nicht um. Das mehrfach über einander ge legte Tuch schützte ihn vor den feinen, mit Gift ge tränkten Spitzen, die in den Verzierungen saßen. Nun folgten auch Buck und Landers. Sie unter suchten zu dritt die Knöpfe, von denen sie insgesamt vier, an jeder Seite einen, entdeckten. Die Knöpfe ließen sich weder drehen noch drük ken noch ziehen. Nichts verriet, daß sie mit irgendei nem Mechanismus in Verbindung standen. An keiner Stelle und auf keine Weise gaben sie einen weiteren Zugang zu dem gesuchten Schatz frei. Schließlich stiegen die drei Männer wieder nach oben. »Wir sind hereingefallen«, stellte Landers mür risch fest. »Wenn hier Schätze gelegen haben, dann 43
hat man sie schon weggeholt. Das einzige, was hier noch zu holen ist, ist der Tod. Schade um die lange Reise.« »Sehr bedauerlich«, stimmte Kiang-schan höflich zu, »sehr bedauerlich, aber leider nicht zu ändern. Jedes Geschäft hat sein Risiko.« »Schlechtes Geschäft!« brummte Buck. »Wenn es wenigstens nicht noch drei Tote gegeben hätte. Reattle ist erledigt, Stepano ist erledigt, und den Us beken habt ihr gestern auch ganz zwecklos umgelegt. Du hättest ihn ruhig zu seinem Kommissar laufen und alles erzählen lassen sollen. Wir wären dann heute auch nicht ärmer.« »Aber ihr würdet im Gefängnis sitzen«, wehrte der Chinese ab. »Außerdem hat Reattle geschossen, nicht ich.« »Das kannst du deinen Urahnen erzählen«, erwi derte Landers grob. »Reattle hat mir erzählt, wer ge schossen hat, und er hatte keinen Anlaß, mich zu be lügen. Aber schön, wir brauchen uns deswegen nicht herumzustreiten. Etwas anderes ist es mit dem Fahr geld nach Hause. Wie steht es damit, Gelber?« Kiang-schan schob beide Hände in seine Taschen. »Das klingt wie eine Forderung an mich. Was geht mich euer Fahrgeld an?« »Sehr viel«, meinte Buck bedeutungsvoll. »Deine Freude, uns los zu sein, wird vermutlich größer sein als der Schmerz über das Reisegeld, das du uns 44
spendieren mußt. Du könntest uns sonst von einer unangenehmen Seite kennenlernen.« Kiang-schan hüstelte. »Hm, nur nicht gleich drohen, meine Freunde. Selbstverständlich werdet ihr euer Fahrgeld bekom men – für die weiteste Fahrt, die ich kenne.« Bei diesen Worten zog Kiang-schan einen Dolch und stach blitzschnell nach den beiden Männern. Sie reagierten zu langsam. Bevor sie zurückweichen und nach ihren Pistolen greifen konnten, hatte der Chine se schon gehandelt. Die beiden Männer brachen äch zend zusammen. Kiang-schan huschte davon. Gleich darauf war er im Dunkel der Büsche und Bäume verschwunden. Es hatte keinen Zweck, ihn zu verfolgen. Sun Koh ging jetzt in die stille Halle hinein. Ein offenes Grab und vier Tote. Ein schauerliches Bild. Aber Sun Koh hatte starke Nerven. Er untersuchte die beiden Engländer und stellte fest, daß ihnen nicht mehr zu helfen war. Dann sprang er in die Graböff nung hinunter. Das Rätsel dieses Grabes interessierte ihn, und am stärksten interessierte er sich für die Knöpfe. Es war gänzlich sinnlos, vergiftete Knöpfe an den Wänden eines Grabes anzubringen, wenn es möglich war, den Schatz auszuräumen, ohne sie zu berühren. Gerade diese vergifteten Knöpfe besagten eindeutig, daß der Schatz noch verborgen war. Es waren wundervoll gearbeitete, runde Stein 45
knöpfe von fast zehn Zentimeter Durchmesser. Die Arabesken auf ihnen waren so geschlungen, daß man den Eindruck eines steinernen Siegels gewinnen konnte. – »Wer das Siegel aufbricht, ist des Todes!« – Sun Koh verzichtete darauf, die gleichen Versuche anzustellen wie die anderen. Er versuchte etwas an deres. Nachdem er seine Hände sorgfältig umwickelt hatte, griff er nach den beiden Knöpfen, die an den Längsseiten gegenüberlagen. Wenn etwa zwei Knöp fe miteinander in Verbindung standen, dann konnten es nur diese sein, denn nur sie hatten ihre Lage un verändert beibehalten. Er drückte gleichzeitig die beiden gegenüberlie genden Knöpfe. Kein Ergebnis. Jetzt zog er. Da kippte der Boden unter seinen Füßen weg. Der Boden der Graböffnung wurde durch eine ein zige Platte gebildet, die genau unter den Knöpfen in einer Achse drehbar war. Die eine Längshälfte ging nach oben, die andere senkte sich in die Tiefe. Sun Koh schwang sich nach oben und zog den oberen Teil der Platte herum, bis sie senkrecht stand und er die Öffnung, die sich unter ihr befand, über sehen konnte. Sie war knapp zwei Meter tief und nicht viel größer als die Graböffnung selbst. Die eine Längswand fehlte. Dort schien der Weg 46
weiterzuführen. Sun Koh sicherte die Platte vor dem Umkippen, indem er sein Messer in den Spalt zwischen Platte und Grabfassung stieß. Dann sprang er hinunter. Tatsächlich, die Öffnung erweiterte sich unten nach der anderen Seite. Es war nicht viel, kaum mehr als die doppelte Größe der Graböffnung. Dann stieg der Boden jäh ab. Die Öffnung wurde zu einem ge krümmten Schlauch, der über das Niveau der kip penden Platte hinausführte und nach seinem ganzen Verlauf gegen den vorderen Teil des verschobenen Grabsteins stoßen mußte. Sun Koh zwängte sich in den Schlund hinein und kroch ein Stück vorwärts. Ganz stimmte seine Ver mutung nicht, denn schon nach einem Meter erwei terte sich die Öffnung zu einem immerhin so geräu migen Loch, daß er sich hineinhocken konnte. Das Loch war ringsum mit Platten verkleidet, aber nur auf einer Seite befand sich eine schwarze, glänzende Marmorfläche. Das war der Grabstein, ein Stück von seinem un terirdischen Teil. In der Mitte des Marmorstücks lag innerhalb einer Vertiefung wieder einer dieser siegelartigen Knöpfe. Als ihn Sun Koh nach einigen Versuchen schließ lich drehen konnte, sprang eine bis dahin nicht sicht bare Fuge auf, und ein quadratisches Marmorstück wich aus seiner Fassung. 47
Der Grabstein war hohl. Das weiße Licht der Lampe sprühte tausendfältig in einem Gewirr blitzender Edelsteine auf. Der Schatz Timurs! Er lag, wie der Bericht sagte, unter dem Grab des Eroberers, fast unerträglich funkelnd und leuchtend. Sun Koh prüfte flüchtig. Der Schatz bestand in der Hauptsache aus Schmuckstücken in altertümlichen Formen, die mit riesigen Edelsteinen aller Art förm lich überladen waren. Es war ein Schatz, der eines großen und rücksichtslosen Eroberers würdig war. Hier lagen viele Millionen, wenn nicht Milliarden. Ein hartes Schnappen schreckte Sun Koh auf. Was war das? Er lauschte. Einen Augenblick lang glaubte er, über seinem Kopf Schritte zu hören, aber es konnte auch eine Täuschung gewesen sein. Jedenfalls war er nicht der Mann, sich damit zufrieden zu geben. Er kroch zu rück. Eine peinliche Überraschung erwartete ihn. Die kippende Platte war geschlossen. Dafür gab es nur eine Erklärung, nämlich daß sich oben jemand befand, der das Messer aus dem Spalt gezogen und die Platte in ihre ursprüngliche Lage ge bracht hatte. Sun Koh wußte es noch nicht, aber er ahnte, daß Kiang-schan umgekehrt war. Tatsächlich hatte der 48
Chinese, während er durch die Büsche schlich, den gleichen Einfall gehabt wie Sun Koh. Er war zurückgekommen, um zu versuchen, ob er nicht durch eine gleichzeitige Inanspruchnahme mehrerer Knöpfe zum Ziel kommen könnte. Er hatte die gekippte Platte gefunden, dazu das Messer im Spalt und den Mann im Grab. Kiang-schan war ein kluger Mann, aber die Ereig nisse dieser Nacht hatten ihn doch so stark mitge nommen, daß er einen entscheidenden Fehler beging. Anstatt Sun Koh anzugreifen und sich den Zugang zum Schatz freizumachen, kippte er die Platte ein. Er nahm damit den Unbekannten gefangen, beraubte sich aber selbst der Möglichkeit, in die Tiefe zu ge hen. Es fiel ihm ein, als es bereits zu spät war. Er konn te den Block nicht wieder in seine ursprüngliche La ge schieben, und er konnte die vier Leichen nicht be seitigen. Damit wurde es unvermeidbar, daß man spätestens am Morgen die Veränderungen entdecken würde und entsprechend handelte. Zähneknirschend erkannte er, daß ihm nur noch eine einzige Chance blieb, nämlich seine Diener heranzuholen und noch in der gleichen Nacht zu versuchen, seinen Fehler wieder gutzumachen. Wenn seine Leute bewaffnet bereitstanden, konnte er es wagen, die kippende Plat te wieder zu öffnen und dem Mann in der Tiefe zu Leibe zu gehen. 49
Sun Koh stemmte sich von unten gegen die Platte, aber sie gab nicht nach. Die Verschlußbolzen, die sie sicherten, waren zu stark. Seine Situation wurde ihm schnell klar. Die stickig werdende Luft verriet ihm, wo die größte Gefahr lag. Er würde ersticken. Und wenn er durchhielt und man ihn am Morgen von oben her befreite, gab es ebenfalls eine Katastrophe. Er mußte sich schon selbst den Weg in die Freiheit suchen, und das so schnell wie möglich. Die schwächste Stelle seines Gefängnisses schien ihm in den Platten zu liegen, die weiter oben die kleine Höhle abdeckten. Er kroch folgerichtig wieder hinauf. An dieser Stelle konnte die Decke über ihm nicht sehr stark sein, und da sie aus Platten bestand, gab es hier vielleicht eine Möglichkeit durchzubre chen. Nebenbei bot die kleine Höhle den Vorzug, daß er sich richtig einstemmen und alle Kräfte ein setzen konnte. Das tat er dann auch. Er hockte sich so ein, daß er wie eine zusammengedrückte Feder mit den Schul tern unter den Deckplatten kniete. Dann preßte er sich hoch. Die erste Anstrengung verursachte nur ein hartes Knacken an verschiedenen Stellen und ein feines Rieseln von Staub. Der zweite Einsatz seiner riesigen, stählernen Kraft ließ die Decke brechen und wölbte sie ein 50
Stück hoch. Beim drittenmal brach der angespannte Körper nach oben durch. Eine gezackte Öffnung gab den Weg frei. Sun Koh stand mit halbem Leib in der Grabhalle Timurs. Von Kiang-schan oder einem anderen Menschen war nichts zu sehen. Sun Koh atmete einige Male tief ein und aus, bis die Anstrengung abgeklungen war. Er war glimpflich davongekommen. Dieses Abenteuer hätte auch böse auslaufen können. Während er sich entspannte, dachte er nach. Ti murs Geheimnis war nun für alle Zeit enthüllt. Die Leute, die spätestens am Morgen kommen würden, brauchten keinen Wegweiser mehr, um den Schatz zu finden. Schade darum! Er entschloß sich, wenigstens einen Teil des Schatzes mitzunehmen. Für den Staat, der neben dem Finder allein noch Anspruch erheben konnte, blieb genug übrig. Er öffnete den Marmorblock zum zweitenmal und holte sich aus der Fülle die schönsten Stücke heraus. Da seine Taschen nicht viel faßten, zog er seine Jak ke aus, packte einen ganzen Haufen in sie hinein und faßte die Zipfel zu einem Bündel zusammen. Nachdem er den Block wieder verschlossen hatte, verließ er das Mausoleum. Mehfed, der greise Perser, war erstaunt, als ihn 51
Sun Koh in den frühen Morgenstunden aufsuchte. Er wollte fragen, aber Sun Koh fing ihn rechtzeitig ab. »Es gehört zu den Tugenden des Weisen, zur rech ten Zeit nicht zu fragen, Mehfed. Das erspart Kum mer und Sorgen. Haben Sie einen Leinensack da?« Mehfed nickte und holte eines der Säckchen, die ihm zur Aufbewahrung von Früchten dienten. »Nun wenden Sie Ihre Augen ab«, bat Sun Koh, als er zurückkam, und Mehfed gehorchte auch jetzt ohne Widerspruch. Sun Koh brachte die Schmuck stücke und Edelsteine in dem Säckchen unter. »Sie können sich jetzt wieder umdrehen. Zeigen Sie mir aber bitte eine Stelle, an der ich diesen Sack unterbringen kann, ohne daß zufällige Besucher ihn bemerken.« Mehfed wies stumm unter die einfache Bettstatt. Sun Koh schob den Sack darunter. »Wenn Ihre Neugier größer ist als Ihre Weisheit, Mehfed, können Sie nachsehen, was sich in dem Säckchen befindet. Es ist aber besser, wenn Sie nichts gesehen haben und nichts wissen, nicht ein mal, daß ich Sie mitten in der Nacht besucht habe.« Mehfed nickte. »Ich werde vergessen, daß Sie heute nacht bei mir waren. Aber ich hoffe später einmal zu erfahren, was ich jetzt nicht wissen darf.« »Das will ich gern versprechen«, sagte Sun Koh lächelnd und verabschiedete sich. 52
*
»Junge, Junge!« murmelte Hal düster, als er das Es sen sah, das ihm der Wächter hingestellt hatte. »Das ist ein Fraß! Ich möchte nur wissen, wie sehr sich der Koch angestrengt hat, um eine derartige Schweinerei zusammenzubringen. Dabei könnte ich ausgewach senes Nashorn jetzt vor einem Abendessen mit sechs Gängen sitzen.« Hal verzichtete und klopfte lieber gegen die Tür. Als das nichts half, nahm er den Stiefelabsatz zu Hil fe. Das alarmierte den Wächter, der das Essen ge bracht hatte. Er öffnete die Tür einen Spalt und sagte etwas, das Hal nicht verstand, aber sicher kein liebe voller Zuspruch war. Hal wies auf die Schüssel. »Der Koch hat sein Spülwasser geschickt. Habt ihr nichts Besseres zu essen da?« Da der Wächter nur mürrisch etwas brummte, hielt Hal ihm eine Pfundnote unter die Nase und zeigte auf seinen Mund. »Da – Tuttifrutti – essen…« Ein Grinsen erschien auf dem Gesicht des Wärters. Er nahm den Schein, nickte und verschwand. Die Zeit verging. Hal rechnete schon damit, das Geld hinausgewor fen zu haben, aber da kam zu seiner freudigen Über 53
raschung der Wärter zurück und brachte einen gan zen Korb voll ausgezeichneter Lebensmittel, vor al lem Fleisch, Obst und Brot. Sogar die Zigaretten hat te er nicht vergessen. Diese überließ ihm Hal freilich. Der Wärter hatte an dem Einkauf möglicherweise nicht schlecht verdient. Er war jetzt jedenfalls recht freundlich und zutraulich. Als ihm Hal einen zweiten Schein überreichte, auf die Wand deutete und die Körpermaße Nimbas andeutete, begriff er schnell und zeigte sich gern bereit, auch Nimba mit der glei chen Portion zu versorgen. Hal hätte gern gewußt, wann man ihn verhören würde, aber das konnte er dem Wärter nicht ver ständlich machen. Und der Kommissar hatte sich noch nicht sehen lassen, obgleich es bereits Abend war. Hal wurde erst am nächsten Morgen zum Verhör geführt. Es fand im Arbeitszimmer des Kommissars statt. Außer diesem war nur noch ein Schreiber an wesend und dieser verstand offenbar kein Wort Eng lisch. Der Kommissar diktierte ihm jedenfalls alles in Russisch in die Maschine. »Also warum habt ihr den Usbeken erschossen?« begann der Kommissar barsch mit seinem Verhör. »Ich rate dir gleich, mich nicht unnötig aufzuhalten. Die Sache ist klar genug. Das Verhör erfolgt nur der Form wegen. Nun antwortet.« Hal holte vorsichtshalber tief Luft, um nicht gleich 54
die Fassung zu verlieren. »Nur der Form wegen? Sie sind ja originell. Wir haben den Mann nämlich nicht erschossen.« Der Russe nickte finster. »So, so, ihr habt ihn nicht erschossen. Und frech bist du auch noch. Na schön.« Er wandte sich an den Schreiber und diktierte ihm einige russische Sätze, die möglicherweise genau das Gegenteil von dem enthielten, was Hal gesagt hatte. Dann wandte er sich wieder wohlwollender an Hal. »Also nun sei mal hübsch vernünftig, Söhnchen. Genau genommen bist du ja unbeteiligt. Du hast nicht geschossen. Ich bin deshalb nicht abgeneigt, dich auf freien Fuß zu setzen, wenn du die Wahrheit sagst. Also erzähle mir einmal, warum der Neger diesen Mann erschossen hat.« Hal verzog verächtlich die Lippen. »Wenn Sie sich einbilden, daß ich meinen Kame raden beschuldige, um selbst frei zu kommen, haben Sie sich schwer geschnitten. Er ist genau so unschul dig wie ich.« Der Kommissar zuckte mit den Schultern. »Du willst also nicht? Na schön. Wenn ihr beide denkt, daß ihr mit dem Gerede von eurer Unschuld weiterkommt, habt ihr euch ebenfalls schwer ge schnitten. Denk an mich, Söhnchen, wenn dir der Richter zehn Jahre Zwangsarbeit aufbrummt.« Er diktierte dem Schreiber wieder. Nach einer 55
Weile zog er das Blatt aus der Maschine. Der Kom missar schob es Hal hin. »So, nun unterschreibe. Hier an diese Stelle mußt du deinen Namen setzen.« Hal zwinkerte. »Und darf ich erfahren, was ich da unterschreiben soll?« »Das ist das Protokoll dieses Verhörs. Deine Aus sagen sind aufgenommen worden. Hier ist Schreib zeug. Schreibe deinen vollen Namen, so ist es Vor schrift.« Hal grinste. »Sie halten mich für sehr dumm, nicht? Legen Sie den Halter nur getrost wieder hin. Das ist Russisch. Was weiß ich, was Sie Ihrem Schreiber diktiert ha ben? Möglicherweise steht hier sogar, daß ich mich zu dem Mord bekenne. Nein, nichts zu machen.« Der Kommissar schlug mit der Faust auf die Tischplatte. »Willst du etwa behaupten, daß ich Protokolle fäl sche?« »Ich behaupte gar nichts, aber ich unterschreibe auch nicht, was ich nicht lesen kann.« »Du wirst sofort unterschreiben.« »Ich unterschreibe nicht«, wiederholte Hal ent schieden. Der Kommissar sah plötzlich tückisch aus. »Nun, wir werden sehen, ob du unterschreibst oder 56
nicht. Wenn du erst einmal drei Tage lang gesessen hast, wirst du schon anders über die Angelegenheit denken. So gut ist das Essen in der Zelle nicht, Söhn chen.« Hal dachte an den Freßkorb, den der Wächter he rangebracht hatte, und grinste in sich hinein. In die ser Gegend schienen die Vorgesetzten auch nicht immer zu wissen, was ihre Untergebenen anstellten. »Nicht so schlimm«, beruhigte er. »Im Vertrauen gesagt – ich bin Hungerkünstler.« »Raus!« brüllte der Kommissar, worauf zwei Poli zisten erschienen und den Häftling in die Mitte nah men. Hal hatte nichts dagegen einzuwenden, denn seiner Berechnung nach mußte jetzt in seiner Zelle bereits das bestellte Frühstück auf ihn warten. Eine Berechnung, die sich als richtig erwies. * Sun Koh hatte sich einige Stunden schlafen gelegt. In der Nacht konnte er ohnehin nichts mehr unterneh men, und am nächsten Tag würde es einiges zu tun geben. Am Morgen wußte er plötzlich, daß er in dieser Nacht einen Fehler begangen hatte. Es war verkehrt gewesen, den Großteil des Schatzes im Grab zu las sen, anstatt ihn wegzubringen, solange noch die Ge legenheit dazu bestanden hatte. 57
Seine Ahnung wurde bestätigt, als er zum Mauso leum ging. Er erreichte es nicht, denn Mehfed fing ihn ab. Der Greis, der sonst das Gebaren eines Wei sen hatte, war jetzt offensichtlich erregt und barst fast vor Mitteilungsbedürfnis. »Timurs Grab wurde heute nacht geöffnet. Der Wächter ist verschwunden. Dafür liegen vier Tote in der Halle, vier Fremde. Der Grabstein wurde wegge schoben. Die Platten neben ihm sind aufgesprengt. Der Grabstein geht in die Tiefe weiter und ist innen hohl. Man hat ihn geöffnet vorgefunden. Manche Leute sagen, daß in ihm Schätze verborgen gewesen sein müssen.« Sun Koh horchte auf. »Hat man nichts gefunden?« »Nein, nicht das Geringste.« Da wußte Sun Koh, daß jener Unbekannte, der ihn eingesperrt hatte, zurückgekommen war und das Grab ausgeräumt hatte. Und wer konnte dieser Un bekannte schon sein als jener Chinese, der die beiden Männer niedergestochen hatte? »Ist das Säckchen noch vorhanden, das ich unter das Bett schob?« fragte Sun Koh. »Ich habe es nicht angerührt.« Mehfed hatte sicher allerlei Fragen auf dem Her zen, aber Sun Koh hielt es immer noch für besser, ihn nicht einzuweihen. Er ließ sich das Säckchen aushändigen und verließ Mehfed. 58
Die nächste Aufgabe war klar. Nimba und Hal mußten aus dem Gefängnis herausgeholt werden. Für eine gewaltsame Befreiung lagen die Verhältnisse denkbar ungünstig. Das Distriktgebäude wurde gut bewacht, und die Gitter vor den Fenstern sahen recht massiv aus. Es war besser, erst einmal den friedli chen Weg zu gehen. Der Kommissar ließ Sun Koh warten. Er war auch alles andere als freundlich, als er ihn endlich emp fing. »Was wollen Sie schon wieder?« »Meine Leute abholen«, erwiderte Sun Koh gelas sen. »Da können Sie jahrelang warten.« »Sehr unwahrscheinlich. Haben Sie die beiden schon verhört?« »Ja – und sie haben beide den Mord eingestan den.« »Noch unwahrscheinlicher. Darf ich das Protokoll sehen?« »Das ist Amtsgeheimnis«, wehrte der Kommissar ab. »Aber ich will es Ihnen vorlesen: Der Unter zeichnete bekennt hiermit, den Mord an dem Tem pelwächter Kodscha begangen zu haben und …« Sun Koh beugte sich vor und zog ihm das Blatt aus der Hand. »Moment! Ah, Sie wollen bluffen? Das ist Rus sisch, und meine Leute beherrschen die russische 59
Sprache nicht. Die Unterschrift fehlt außerdem.« Der Kommissar blickte ihn wütend und drohend an. »Das ist eine Unverschämtheit, die Sie mir büßen werden. Was fällt Ihnen ein, mir das Protokoll aus der Hand zu reißen? Ihre Leute haben gestanden und damit basta. Die Unterschrift werden sie schon noch daruntersetzen. Kommen Sie in einigen Tagen wie der, dann können Sie die Unterschrift nachprüfen.« Sun Koh legte das Blatt zurück. »Ich verstehe. Sie wollen die beiden zwingen. Es gibt verschiedene Mittel, um einen Menschen gegen seinen Willen zu einer Unterschrift zu veranlassen.« »Hüten Sie Ihre Zunge!« schäumte der Russe. »Ich werde Sie wegen Beleidigung ebenfalls in Haft neh men.« Sun Koh fixierte ihn. »Sie sind sehr unternehmungslustig, nicht wahr?« Der Kommissar starrte zurück, zog aber unmerk lich den Kopf ein. Dann blickte er an Sun Koh vor bei. Irgend etwas an diesem Fremden war ihm nicht geheuer. Er besaß immerhin eine Aufenthalts- und Reise-Erlaubnis, die nicht häufig erteilt wurde. Viel leicht steckte sogar noch mehr dahinter, als er bisher Vermutet hatte. Wenn ein Mann so sicher und so überlegen auftrat, mußte er eine gute Rückendeckung besitzen. Vielleicht war es gefährlich, ihm zu nahe zu treten? 60
»Sie – Sie wagen sehr viel«, murmelte er nach ei ner Pause mehr neugierig als drohend. »Ich wage nichts«, erwiderte Sun Koh trocken. »Das scheint mir eher bei Ihnen der Fall zu sein. Wie gesagt – Sie sind sehr unternehmungslustig. Es ist merkwürdig, daß die kleinen Beamten immer sehr schnell zu kleinen Göttern mit eigenen Gesetzen werden, wenn sie genügend weit von der Regierung entfernt sind. Ich glaube nicht, daß die Regierung begeistert sein würde, wenn sie wüßte, welchen Ge brauch Sie von Ihrem Amt machen.« Der Kommissar kniff die Augen zusammen. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie …« »Ich bin in keiner amtlichen Eigenschaft hier«, un terbrach Sun Koh. »Mir liegt nur daran, meine Leute freizubekommen, die von Ihnen sinnlos verdächtigt werden. Sie tun gut daran, sie wieder freizulassen.« »Jetzt bluffen Sie«, meinte der Kommissar mür risch. »Was wollen Sie tun, wenn ich mich weige re?« »Nun, ich könnte Sie zwingen.« »Wodurch?« Sun Koh brachte mit einer spielerischen Bewe gung seine Waffe zum Vorschein und richtete sie auf den Kommissar. »Hierdurch zum Beispiel. Wie wäre es mit Ihrem Leben gegen die Freiheit meiner beiden Leute?« Ein Feigling war der Kommissar nicht gerade. Er 61
erschrak nur leicht, und dann erschien auf seinem Gesicht die Genugtuung. »Aha, das habe ich mir doch gleich gedacht. Alles Schwindel! Ich werde Sie hängen lassen.« Sun Koh blieb freundlich. »Vielleicht später einmal, aber heute noch nicht. Sie werden jetzt klingeln und Auftrag geben, meine beiden Leute vorzuführen. Handeln Sie genau so, als ob Sie es aus freiem Willen täten. Ein Wort oder eine Bewegung, die Ihre Leute mißtrauisch macht, kostet Sie Ihr Leben. Es wird Sie interessieren, daß diese Waffe sehr leise schießt und es ermöglicht, Sie und noch einige andere in diesem Raum zu erschießen, ohne das ganze Haus zu alarmieren.« Der Kommissar starrte ihn an. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Und Sie wollen mir vorwerfen, daß ich unterneh mungslustig bin? Solche Tricks haben Sie wohl von diesen amerikanischen Gangstern gelernt?« »Möglich. Vielleicht lassen Sie sich einmal auf In formationsreise in die Staaten schicken. Klingeln Sie nach meinen Leuten.« Der Kommissar fuhr sich noch einmal mit der Zunge über die Lippen. »Nein. Ich weiß, wann ich verloren habe, aber ich werde Ihre Leute trotzdem nicht holen lassen, denn anschließend werden Sie mich ohnehin erschießen, um sicher zu entkommen.« 62
»Diesen Trick müssen Sie in Rußland gelernt ha ben«, konterte Sun Koh. »Ich verspreche Ihnen, daß Sie unbehelligt bleiben, wenn Sie meine Leute frei lassen. Im übrigen werden Sie noch gebraucht. Sie sollen uns nämlich durch das Haus hindurch und an den Wachen vorbei bis auf die Straße begleiten, und dazu eignet sich ein Toter schlecht. Auf der Straße aber nützt uns Ihr Tod nichts mehr.« Der Kommissar dachte darüber nach, warf einen unbehaglichen Blick auf die Pistolenmündung, schielte in das Gesicht Sun Kohs und nickte schließ lich. »Gut, ich füge mich der Gewalt.« Er hatte sich natürlich die Situation überlegt. Von seinem Gesichtspunkt aus nutzte es den dreien gar nichts, die Straße zu erreichen. Er konnte die ganze Stadt alarmieren und würde sie schnell wieder in sei ner Hand haben. Und dann konnte seine Rache be ginnen. Ein Polizist trat auf das Klingelzeichen hin ein. Er erhielt den Befehl, Nimba und Hal vorzuführen. Der Polizist ging ab, ohne daß ihn etwas aufgefallen wä re. »Ausgezeichnet!« lobte Sun Koh. »Es ist ein Ver gnügen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.« »Für mich nicht«, knurrte der Kommissar. Endlich ging die Tür wieder auf. Hal trat schimp fend ein. 63
»Noch nicht einmal in Ruhe essen kann man hier. Wenn – Sir…« Er unterbrach sich schnell und trat beiseite, als ihm Sun Koh ein Zeichen gab. Dann erschien Nimba. Der Kommissar schickte den Polizisten weg und erhob sich. »Also kommen Sie.« Er ging voraus. Sun Koh und seine beiden Beglei ter folgten ihm. Niemand hielt sie auf. Die Wachen traten beiseite. Unangefochten erreichten sie die Straße. Der Kommissar blieb stehen. »Nun?« »Sie sind ein tapferer Mann«, anerkannte Sun Koh. »Und Sie sind klug genug, um eine Situation realistisch zu sehen. Das sollte belohnt werden. Ich fürchte, Sie beabsichtigen, uns zu jagen, sobald Sie aus dem Bereich meiner Waffe heraus sind.« »Sie bringen mich auf einen ausgezeichneten Ein fall«, spottete der Kommissar. »So ausgezeichnet ist er nun auch wieder nicht«, entgegnete Sun Koh lächelnd. »Oder sagen wir – ei nige meiner Bekannten in Moskau würden ihn nicht ganz so ausgezeichnet finden wie Sie. Würden Sie bitte einmal dieses Schreiben lesen?« Er zog eine vielgestempelte Urkunde aus der Ta sche und hielt sie dem Kommissar unter die Augen. Dieser blickte hinein und trat dann erschrocken einen Schritt zurück. 64
»Das ist doch ein Schutzbrief des Ministeriums des…« »Eben.« »Ja aber – aber – warum zeigten Sie mir das nicht gleich? Ich hätte doch niemals… Warum zwangen Sie mich erst mit der Pistole?« »Ich wollte Ihren Mut bewundern«, sagte Sun Koh leichthin. »Geschossen hätte ich ohnehin nicht. Le ben Sie wohl.« Er ging, begleitet von Nimba und Hal. Der all mächtige Kommissar von Samarkand lehnte an der Türecke und blickte benommen hinter ihnen her.
65
66
3.
Es gibt Länder, die für den Europäer hinter dem Mond liegen. Da ist zum Beispiel Thian-schan-nan-lu. Noch nie gehört, obgleich es keine fünftausend Ki lometer von Berlin entfernt liegt und größer als Frankreich ist? Thian-schan-nan-lu ist möglicherweise unter dem Namen Ostturkestan bekannter. Dieses Ostturkestan liegt östlich des Pamir zwi schen den Ketten des Karakorum und des Tien schan, stellt also ein mächtiges Hochbecken dar, das sich nach Osten zur Wüste Gobi öffnet. Ein großer Teil ist Wüste. Die Takla-Makan beginnt bei Jarkand und zieht sich bis zum Lopnor hin. Ein fernes, fremdes Land, in dem es sich ganz gut leben läßt, vor allem in den nördlichen und südlichen Gebirgsrändern, die durch künstliche Bewässerung zu fruchtbaren Landschaften aufgeschlossen wurden. Manche Städte liegen geradezu paradiesisch inmitten einer blühenden Umgebung und sind mit einem zwar etwas schroffen, aber sonst sehr verträglichen Hoch gebirgsklima gesegnet. Die Stadt Kothan, in deren Nähe einst Sven Hedin eine ganze Reihe Ruinen aus der Gandhara-Zeit ent deckte, zieht sich am Kothan Darja entlang nach Sü 67
den. Sie bietet keine westlichen Schönheiten, aber wenn man in die ersten Ausläufer des Hochgebirges hinaufsteigt und dort inmitten einer begnadeten Na tur ein fast palastartiges Gebäude entdeckt, bekommt man vielleicht doch Lust, dort zu wohnen. So ähnlich ging es wenigstens den beiden Män nern, die am Morgen in Kothan aufgebrochen waren und nun zwei Stunden später den Gebäudekomplex mit den weißen Wänden und den zahlreichen Dä chern vor sich auftauchen sahen. »Endlich!« rief einer der beiden Männer, in dem man unschwer den sunnitischen Türken erkannte. »Nicht schlecht«, anerkannte sein Begleiter, ein Russe. »Diese gelben Burschen wissen zu leben. Da bei stellt sich der Kerl immer an, als hätte er nichts zu beißen. Lebt hier wie ein Fürst. Da hätte er uns auch abholen lassen können.« Mezar zuckte mit den Schultern. »Das tut er nie. Übrigens, sei lieber vorsichtig, wenn du über Kiang-schan sprichst. Es könnte dir schlecht bekommen. Kiang-schan verfügt über viele und weitreichende Beziehungen.« Ilski winkte gereizt ab. »Ach was, ich sage ihm meine Meinung ins Ge sicht, wenn es sein muß. Es fühlt sich wohl als eine Art König, was? Na schön, dann soll er sich aber an ständig benehmen. Komm.« Der Sunnite schloß sich an, warnte jedoch aber 68
mals: »Sei vorsichtig. Der Chinese ist ziemlich emp findlich. Und ich glaube nicht, daß er so etwas wie ein Gewissen hat. Sag nicht mehr, als unbedingt nö tig ist.« »Schon gut«, brummte Ilski. Sie schritten durch das reichgeschmückte Tor und betraten die Steinplatten, die zu dem portalähnlichen Eingang des Haupthauses führten. Je näher sie ka men, desto lauter wurde die Musik, die durch die Wände drang. »Radio?« fragte Ilski. »Was sonst? Er hat einen sehr guten Apparat. Ich vermute, er besitzt dazu auch noch einen Sender, und beides zusammen benutzt er gewöhnlich nicht dazu, um Musik zu hören.« Zwei Diener kamen ihnen entgegen, begrüßten sie mit tiefen Verneigungen und führten sie in eine Art Vorhalle, die künstlerisch ausgestattet war. Sie mußten eine halbe Stunde warten, bevor sich Kiang-schan herabließ, sie zu empfangen. Er saß auf einer mit Kissen gepolsterten Erhöhung, die fast wie ein Thronsessel aussah. Feierlich und reglos wie eine Statue saß er da. Sein seidenes Gewand war kostbar bestickt. Das Gesicht wirkte nicht besonders würdig. Kiang-schan gefiel sich in der Rolle eines würde vollen Mandarins. Er hatte schon längst vergessen, daß er ein Mischling war und aus dem dunkelsten Viertel Kantons stammte. Er wollte ein chinesischer 69
Würdenträger von der Sorte sein, die schon vor fünf zig Jahren ausgestorben war. Als die beiden Besu cher ihn erreicht hatten, verbeugte er sich und bot ihnen dann höflich Platz an. Diener eilten herbei und stellten Erfrischungen asiatischer und europäischer Herkunft auf den niedrigen Tisch. Und dann gingen die Redewendungen hin und her. Niemand versteht es besser, ein Nichts in lange, blühende Phrasen zu kleiden als ein klassischer Chi nese. Er bringt es notfalls fertig, die einfachste Ange legenheit so gründlich mit Redensarten zu umranken, daß schließlich niemand mehr weiß, um was es sich handelt. Kiang-schan war ein Meister in dieser Kunst. Er brachte seine beiden Besucher zur Verzweiflung. Sie mußten jedoch mitspielen, weil die Gefahr bestand, daß sich Kiang-schan tödlich beleidigt fühlte. Aber dann, etwa eine Stunde später, fiel plötzlich die Maske vom Gesicht Kiang-schans. Er wurde von einer Minute zur anderen sachlich, knapp und scharf, als ob er nie leeres Zeug geredet hätte. »Eine Viertelmillion?« »Genau«, bestätigte Ilski. »Unter dem lohnt sich das Geschäft nicht für mich.« Kiang-schan kniff die Augen zusammen. »Und dann sollen die Papiere auch noch in Jangi schahr sein? Ich kaufe nichts, was ich nicht zuvor ge prüft habe.« 70
Der Russe hob die Schultern. »Und ich gebe nichts aus den Händen, wofür ich noch keine Bezahlung habe.« Der Chinese lachte lautlos. »Welch kluger Mann! Aber es wäre doch sehr be quem, wenn Sie die Papiere zur Hand hätten und ich sie gleich prüfen könnte.« Ilski grinste und parierte spöttisch: »Sehr bequem, gewiß. Es fragt sich nur, für wen. Ich habe die Ab sicht, lebend zurückzukehren.« Mezar wurde blaß, aber Kiang-schan schien vor der Kühnheit seines Besuchers eher begeistert zu sein. »Gut gesagt!« lobte er sanft. »Sie scheinen zu fürchten, daß ich Ihnen die Papiere mit Gewalt ab nehme? Wie kann man nur so schlecht von seinen Mitmenschen denken!« »Manche halten Schlechtigkeit für Tüchtigkeit.« »Ich nicht«, behauptet der Chinese kühler. »Also sprechen wir vom Geschäft. Die Papiere, die Sie mir anbieten, sind wohl kaum viel wert, und …« »Millionen!« »Für mich nicht. Ich würde sie Ihnen allenfalls ab nehmen, um Ihnen einen persönlichen Gefallen zu erweisen.« Ilski lachte unhöflich auf. »Persönlichen Gefallen ist gut. Sie machen mir nichts vor, alter Freund.« 71
Der Sunnite zertrat ihm fast den Fuß, aber der Chi nese zeigte sich auch jetzt nicht beleidigt, wenn viel leicht seine Stimme auch noch einen Schein kühler klang. »Persönlicher Gefallen«, beharrte er. »Ich müßte die Papiere aber vorher sehen. Wie hatten Sie sich denn den Austausch gedacht?« Der Russe wies auf Mezar. »Dazu habe ich diesen Mann mitgebracht, der ja wohl einer Ihrer Agenten ist. Er hat die Originalpa piere gesehen und kann Ihnen bezeugen, daß Sie sich in meinem Besitz befinden. Er wird sie in Jangi schahr gegen die Übergabe des Geldes erhalten.« Kiang-schan überlegte eine Weile, dann sagte er gelassen: »Ihr Mißtrauen ist groß, aber ich will auf Ihre Bedingungen eingehen, wenn mir Mezar bestä tigt, daß die Papiere vorhanden und echt sind. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich zunächst mit ihm spreche. Vielleicht ist es Ihnen recht, inzwischen meinen Park anzusehen?« Der Russe nickte und erhob sich. »Schön, ich werde mich umsehen. Wenn Sie so weit sind, lassen Sie mich wieder rufen.« Er ging durch eine Tür hinaus, die direkt in den Garten führte. Die Anlagen, die Kiang-schan hier oben geschaffen hatte, waren wirklich sehenswert. Sie kopierten erfolgreich jene puppenhaften Paradie se, die sich die vornehmen Chinesen einst in der Zeit 72
der großen Dynastien geschaffen hatten. Ilski war kaum dreißig Meter vom Haus entfernt, als er schleichende Schritte hinter sich hörte. Bevor er sich noch umgewandt hatte, umklammerten bereits fremde Hände seinen Hals, während ihm die Beine unter dem Leib weggezogen wurden. Er stürzte und wollte schreien, aber irgendwer hielt ihm den Mund zu. Er sah fünf Leute über sich, alles Chinesen. Drei von ihnen hielten ihn so fest, daß er sich nicht rühren konnte. Die beiden anderen leerten seine Taschen aus und durchsuchten ihn gründlich. Vielleicht vermute ten sie irgendwo Banknoten, denn sie schnitten sogar das Futter seiner Kleidung auf und prüften seine Schuhe mit spitzen Nadeln. Dreißig Meter vom Haus entfernt wurde er mit al ler Sorgfalt durchsucht und ausgeplündert. Das dau erte mindestens eine Viertelstunde. Dann ver schwanden die Räuber so spurlos hinter den Bü schen, wie sie gekommen waren. Ilski war fast nackt und blieb nicht am Boden lie gen. Er brauchte jedoch einige Zeit, um sich wieder einigermaßen anzuziehen. Jetzt schrie er um Hilfe, und der Erfolg war großartig. Aus dem Haus strömte eine ganze Horde Diener heraus und umringte ihn. Als er etwas später das Haus betrat, kam ihm Kiang-schan so würdig wie zuvor entgegen. »Was ist geschehen? Ich hörte Ihre Stimme.« 73
»Ausgeraubt hat man mich!« polterte Ilski wütend heraus. »In Ihrem Garten ausgeraubt, dreißig Meter vom Haus! Man hat mir sogar das Hemd auf dem Leib zerschnitten.« Der Chinese schüttelte kummervoll den Kopf. »Schrecklich, schrecklich. Diese Gegend ist wirk lich unsicher. Ich werde die Räuber verfolgen lassen. Meine Diener werden sofort…« »Sparen Sie sich das«, unterbrach der Russe grob. »Ich bin nicht so dumm, wie Sie denken. Außerdem hat man mir nichts Wichtiges geraubt.« »Sehr erfreulich, sehr erfreulich«, murmelte Kiang-schan, ohne besonders erfreut auszusehen. »Haben Sie mit Mezar gesprochen?« »Gewiß. Das ist schon alles in Ordnung. Ich mußte ihn jedoch mit einem Auftrag wegschicken. Sie wer den ihn morgen in Kathan treffen. Bis dahin müssen Sie sich gedulden.« Ilski stutzte. Das plötzliche Verschwinden des Sunniten kam ihm nicht geheuer vor. Er wollte je doch noch keinen Verdacht aussprechen. So begnüg te er sich, unwillig zu murren: »Das paßt mir nicht. Ich möchte wissen, was ich in Kothan soll.« Der Chinese lächelte fuchsig. »Oh, das Schicksal will, daß Sie Ihr Vermögen noch vermehren. Ich zahle Ihnen zwanzigtausend für einen kleinen Dienst, den Sie mir in Kothan erweisen können.« 74
Ilski hob die Brauen. »Einen kleinen Dienst? Wieso?« »Sie sprechen doch Englisch?« »Das allerdings. Ich habe lange in England ge lebt.« Kiang-schan lächelte entzückt. »Wie beneidenswert Sie sind. Sie beherrschen die Sprache der Welt. Ich wäre glücklich, das ebenfalls zu können.« Das war eine unverschämte Lüge, aber Ilski wußte das nicht. Er blieb deshalb gleichgültig. »Brauchen Sie mich etwa als Dolmetscher?« Kiang-schan wehrte liebenswürdig ab. »Wie könnte ich es wagen, Ihre Dienste so zu miß brauchen? Nein, die Angelegenheit ist viel wichtiger. Ich brauche nicht nur einen sprachgewandten, son dern auch einen klugen Mann.« »Hm, also schießen Sie los.« Kiang-schan beugte sich vertraulich vor. »Mezar erzählte mir von einem Fremden, den er in Kothan gesehen hat. Es soll ein Engländer sein. Er kam mit einem Flugzeug und hat zwei Diener bei sich. Ist das richtig?« »Genau«, bestätigte Ilski. »Wir sahen die Maschi ne landen und die drei in die Stadt hineingehen. Wir richteten es so ein, daß wir dicht an ihnen vorbeigin gen. Sie sprachen Englisch.« »Ah, also doch. Nun, ich würde gern erfahren, 75
warum diese Fremden nach Kothan gekommen sind. Ich kann mich nicht selbst darum kümmern, weil ich die Sprache nicht verstehe, aber ich zahle Ihnen zwanzigtausend, wenn Sie meine Neugier befriedi gen können.« Ilski musterte ihn mißtrauisch. Schließlich sagte er: »Nun, das Geld will ich Ihnen gern abnehmen. Weiß der Teufel, was Sie vorhaben, aber ich werde mich um die Fremden kümmern und Ihnen Bescheid bringen.« Das war ein Entschluß, an dem Kiang-schan sicht lich seine Freude hatte. Er händigte Ilski einen nicht unbeträchtlichen Vorschuß aus, umrankte ihn mit höflichen Redensarten und gab sogar seinem verehr ten Besucher zwei Diener zu seinem Schutz mit. Ilski war zeit seines Lebens ein schlechter Kerl gewesen und hatte manche Gaunerei auf dem Gewis sen, trotzdem besaß er ein harmloses Gemüt. Er ahn te gerade, daß der Überfall ein Werk des Chinesen gewesen war, um festzustellen, ob er nicht vielleicht doch die Papiere bei sich trug. Dafür besaß er aber nicht die leiseste Ahnung, daß Mezar zur Zeit des Überfalls einer peinlichen Befragung ausgesetzt worden war und jetzt bereits nicht mehr lebte. Er ahnte auch nicht, daß Kiang-schan nun über seinen großen Bluff unterrichtet war und bereits wußte, daß die angebotenen Papiere überhaupt nicht existierten. So war ihm denn auch nicht klar, daß die beiden 76
Diener nicht seine Beschützer, sondern seine Wäch ter waren. Und am wenigsten ging ihm auf, daß jener Fremde, den er in Kothan aushorchen sollte, ihm vor läufig das Leben gerettet hatte. Denn Kiang-schan brauchte tatsächlich einen Mann, der für ihn diesen Fremden, der von Samarkand kam und ausgerechnet nach Kothan geflogen war, auf Herz und Nieren prüfte. Kiang-schan war zu klug, um das in der Nähe seines ständigen Wohnsitzes persönlich zu tun. Wenn der Fremde jener Mann von Samarkand war, dann war es besser, ihm nicht über den Weg zu lau fen und vielleicht von ihm erkannt zu werden. Also ging Ilski nach Kothan – ein Gauner, der un wissend am Gängelseil eines größeren Verbrechers lief und sich so ungefähr das Gegenteil einbildete. Ilski ging nach Kothan, um Sun Koh auszuhor chen. * Etwas abseits von der Brücke, die über den KothanDarja führte, stand Sun Kohs Flugzeug. Er erregte höchste Verwunderung der Kirgisen, Mongolen und Chinesen, die zu Hunderten in einem weiten Umkreis herumstanden. Im Augenblick konzentrierte sich das Interesse auf den Kampf, der sich vor dem Flugzeug abspielte. Genau genommen kämpfte nur Hal Mervin. Sein 77
schmales, sommersprossiges Gesicht glühte vor Ei fer, und seine Fäuste zuckten unaufhörlich gegen den Neger an, der sich mit sparsamen Paraden begnügte. »Unsaubere Gerade!« tadelte er jetzt. »Machen wir Schluß für heute. Du wirst müde.« Hal trat einen Schritt zurück und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Du bist der geborene Sandsack!« stöhnte er. »An dir kann man sich die Knöchel aufschlagen, ohne daß du überhaupt etwas merkst.« Nimba grinste gutmütig. »Kann schon sein, Kleiner. Schließlich kannst du nicht damit rechnen, daß ein Fliegengewicht ein Schwergewicht umwirft.« »Wenigstens nicht mit den Händen«, stichelte Hal. »Wenn’s nach dem Köpfchen ginge, sähe die Sache schon ein bißchen anders aus.« »Schon gut«, beschwichtigte Nimba. »Ich glaube dir schon, daß du im Kopf härter verpackt bist.« »Wieso?« Hal horchte auf. »Willst du dich etwa mit mir streiten?« Nimba schüttelte den Kopf. »Das hat Sun Koh streng verboten. Eigentlich schade, denn deine Sommersprossen sieht man be sonders schön, wenn du dich aufregst, aber…« »Sommersprossen?« Hal ärgerte sich. »Du mußt glatt was im Auge haben. Spiel lieber wieder den wil den Mann, sonst werden die Leute hier zudringlich.« 78
Nimba nickte und ging mit drohenden Bewegun gen und wilden Lauten auf die Neugierigen zu, die sich inzwischen her angeschoben hatten. Wenig später hatte sich der Ring wieder bedeutend erweitert. Der schwarze Riese war den Neugierigen nicht geheuer. Ilski ließ sich weniger beeindrucken als die Ein wohner von Kothan. Er drängte sich durch die Men schen hindurch, die auf der Brücke standen, und ging geradewegs auf das Flugzeug zu. Die beiden an der Maschine entdeckten ihn bald. Hal stieß den Neger an. »Dort kommt ein Wichtigtuer. Sieht ganz danach aus, als wollte er uns in den ersten fünf Minuten Brüderschaft anbieten. Verschwinde! Ich werde vor läufig den Empfangschef spielen. Und benimm dich anständig, wenn du allein bist und ich nicht auf dich aufpasse.« Nimba grinste, stieg in die Kabine hinauf und zog die Tür hinter sich zu. Ilski kam heran. Er stellte sich ganz auf vertrauli che Jovialität und freundschaftliches Wohlwollen ein. »Hallo!« rief er schon aus zehn Meter Entfernung. »Das nenne ich eine Überraschung. Endlich wieder einmal anständige Gesichter zwischen diesen schief äugigen Halunken. Ist dein Freund zu sprechen, Freundchen?« 79
»Hallo!« Hal reagierte mit der gleichen Begeiste rung. »Das nenne auch ich eine Überraschung. Wie geht’s alter Gauner?« »Wieso?« stutzte Ilski. »Kennen wir uns etwa?« »Kennen wir uns etwa nicht?« Hal grinste. »Du er innerst mich an einen Mann, der bei einer Gerichts verhandlung wegen Mordes fünfundzwanzig Jahre aufgebrummt bekam. Und wenn ich dir so bekannt vorkam, dann muß es doch eigentlich stimmen, nicht?« Ilski schluckte. »Hm, vielleicht ist es doch ein Irrtum. Eigentlich wollte ich nur sagen, daß ich froh bin, endlich wieder einmal ein anständiges Gesicht zu sehen.« »Geht mir genau so.« Hal nickte. »Haben Sie nicht zufällig auch eins für mich? Auf die Dauer fällt es lästig, wenn man immer in den Spiegel blicken muß, um einmal ein anständiges Gesicht zu sehen. Na, egal. Wollen Sie betteln?« »Wieso betteln?« »Nun, Sie sehen wie ein reisender Handwerksbur sche aus«, erwiderte Hal trocken. »Und was tun schon reisende Handwerksburschen? Kleine Unterstützung gefällig, he? Aber immerzu, kommen Sie nur mit Ih rem Vers heraus. Ich bin nicht so, wie Sie denken.« Ilski ahnte nur unbestimmt die Größe der Beleidi gung und bemühte sich vergeblich, mit seinem Ge genspieler Tritt zu fassen. 80
»Handwerksbursche?« wiederholte er verwirrt. »Sie müssen sich verkennen. Ich denke nicht daran zu betteln. Ich habe mehr Geld als Sie.« »Na, na, nur nicht gleich angeben. Und wo fehlt es sonst?« Ilski riß sich gewaltsam in die vorgenommene Jo vialität zurück. »Nichts fehlt, nichts. Kann man denn nicht einmal jemand im Vorbeigehen guten Tag sagen? Schließlich sind wir die einzigen Europäer in dieser Gegend.« »Hm, auch wieder richtig«, gab Hal zu. »Wissen Sie, man wird eben leicht mißtrauisch, wenn man soviel Verantwortung hat wie unsereiner.« Ilski hat den Eindruck, daß jetzt das Eis gebrochen war. Er nickte voll Verständnis und Mitgefühl. »Kann ich vollkommen verstehen. Sicher haben Sie wichtige Dinge zu erledigen.« Hal nickte bedeutungsvoll zurück. »Und ob! Gleich am frühen Morgen geht’s los. Schuhe putzen, Kaffee kochen, Brot rösten. Hat Sie etwas gebissen?« »Nein, nein«, beschwichtigte Ilski hastig. »Ich dachte nur – also so wichtig ist ja das alles nun auch wieder nicht.« »Na, dann können Sie ja mal meinem Boß Schuhe vorsetzen, die nicht richtig geputzt sind.« »Hm, na ja, aber ich meine, deswegen fliegt man doch nicht extra nach Kothan?« 81
»Das natürlich nicht. In London gibt es sogar viel bessere Schuhputzer als hier. Falls Sie etwa gedacht haben, daß wir wegen der hiesigen Schuhputzer …« »Nein, nein, selbstverständlich nicht. Ich wunderte mich bloß, daß Sie ausgerechnet nach Kothan ge kommen sind.« »Tja, was sollten wir machen?« Hal seufzte. »Wir haben lange genug in London herumgesessen und darauf gewartet, daß dieses Kothan nach London kommt. Aber Sie werden es glauben oder nicht – es kam nicht. Noch nicht einmal im Fernsehen haben sie es gebracht, obgleich die sonst jeden Dreck brin gen. Da blieb uns dann eben nichts übrig, als hierherzufliegen. Interessieren Sie sich zufällig da für, warum wir hierhergekommen sind?« »Das nicht, das natürlich nicht!« wehrte Ilski ver wirrt ab. »Ich bin nicht so neugierig, daß ich andere Leute aushorche. Wer seine Geheimnisse hat, soll sie von mir aus für sich behalten.« »Das ist ein schöner Grundsatz«, lobte Hal. »Aber mit unseren Geheimnissen ist es nicht weit her. Gott ja, einem Chinesen würde ich natürlich nicht gerade etwas davon erzählen, aber unter uns Europäern kann man ruhig darüber sprechen. Die Europäer sind alles so feine Leute. Wir sind ja auch bloß wegen der Edelsteine hergekommen.« »Edelsteine?« Ilski horchte auf. »Na ja, Diamanten, Smaragden, Rubine und wie 82
das ganze Zeug heißt. Ich verstehe ja nichts davon, aber manche Leute machen einen Haufen Geschrei darum.« »Ein Schatz?« »Wieso ein Schatz, mein Schatz?« wunderte sich Hal. »Halten Sie uns etwa für Schatzgräber? Nee, da sind Sie ins falsche Kapitel geraten. Kaufen wollen wir die Steine. Pinke-pinke, wenn Sie verstehen, was ich meine. Bares Geld!« »Ach?« Ilski ließ sein Gehirn auf Hochtouren laufen. Ir gendwie kam ihm die Sache nicht recht geheuer vor, aber andererseits war er noch nie vor einer Spekula tion zurückgeschreckt. »Sie wollen mich hoffentlich nicht zum Narren halten?« sagte er mißtrauisch. »Ich kenne diese Ge gend. Hier gibt es keine Edelsteine zu kaufen.« Hal kniff das linke Auge zusammen. »Auch nicht bei Kiang-schan?« Die Frage warf Ilski fast um. Was wußte dieser Junge von Kiang-schan? Und wie kamen diese Leute auf den Einfall, bei Kiang-schan Edelsteine kaufen zu wollen? Und… Ein ganzer Berg von Fragen wälzte sich plötzlich auf ihn, mit dem er nicht fertig werden konnte. Er rettete sich lieber in die Fortführung des Gesprächs. »Kiang-schan? Hm, ich kenne Kiang-schan, aber ich glaube nicht, daß er Edelsteine zu verkaufen hat.« 83
»Er hat«, beharrte Hal. »Die Frage ist nur, ob er sie verkaufen will. Aber mein Boß wird ihn schon dazu bringen. Er ist nämlich Sammler und gibt viel Geld für solche Dinge aus, besonders wenn eine Ge schichte daran hängt. Na, und die Steine Kiang schans haben ihre Geschichte.« »Ach?« »Sicher. Es handelt sich nämlich um die Edelstei ne, die Timur gehörten. Er hat sie mit in sein Grab in Samarkand genommen, aber dort hat sie jemand vor ein paar Tagen herausgeholt.« »Tatsächlich?« Ilski spekulierte noch schneller. Der Schatz Ti murs! Gerüchte kommen schneller durch die Welt als Zeitungen, und selbst die Wüste trägt sie weiter. Ilski hatte schon davon gehört, daß das Grab Timurs in Samarkand erbrochen worden war. Und wenn der Schatz Timurs existiert hatte – Kiang-schan besaß ein Flugzeug und konnte vor einigen Tagen leicht in Samarkand gewesen sein … »Tatsächlich«, bestätigte Hal. »Und wissen Sie, wer sie herausgeholt hat?« »Kiang-schan?« »Geraten. Und nun will sie mein Boß von ihm kaufen.« »Sie sind wohl viel wert – diese Steine?« »Na ja, es geht. Vielleicht ein paar Millionen.« Ilski wurde plötzlich heiser. 84
»Ein paar Millionen? Ihr Boß ist wohl sehr reich?« Hal zuckte lässig mit den Schultern. »Gott, reich – was heißt hier reich? Mit seinen paar hundert Milliarden kann man ihn nicht gerade reich nennen. Aber er steht sich nicht schlecht. Für Essen und Trinken und ein paar Kleinigkeiten reicht es schon. Wenn er einen Barscheck über zehn Mil lionen ausstellt, nimmt ihn jede Bank der Welt. Aber reich würde ich ihn deswegen doch nicht nennen.« »Immerhin, immerhin«, murmelte Ilski, während sein Gehirn fleißig arbeitete. »Zehn Millionen? Das kann nicht jeder. Er ist wohl oben im Flugzeug?« »Nein, spazieren gegangen. Ah, dort kommt er eben über die Brücke.« Ilski drehte sich neugierig um. Tatsächlich, dort kam der Mann, den Ilski schon am Tag zuvor gese hen hatte. »Ich werde ihm entgegengehen«, murmelte er und hastete los. Sun Koh hielt an, als Ilski auf ihn zutrat. »Sie wünschen?« Ilski hatte seinen Plan fertig. Er entschied sich, di rekt auf sein Ziel zuzugehen. Diese Engländer liebten klare Geschäfte. »Auf ein Wort«, brachte er heraus. »Ich hörte zu fällig von Ihrem – äh, Diener, daß Sie die Edelsteine Timurs von Kiang-schan kaufen wollen. Ich kenne Kiang-schan sehr gut. Er ist – hm, mein bester 85
Freund. Er ist selbst Sammler und wird auf Ihr An gebot kaum eingehen, aber wenn Sie mich beteiligen, werde ich ihm zureden und Ihnen die Steine beschaf fen.« Sun Koh musterte den Russen mit Blicken, die Ilski die Knie merkwürdig weich werden ließen. »Sie möchten sich gegen eine Provision als Ver mittler einschieben, wenn ich Sie richtig verstehe?« Ilski verbeugte sich wie nie in seinem Leben. »Gewiß, das meinte ich. Ich würde mit zehn Pro zent der Kaufsumme zufrieden sein. Sie müssen be denken, daß es ausschließlich meinen Bemühungen zu verdanken ist, wenn…« »Sie können zehn Prozent bekommen«, fing Sun Koh ab. »Wissen Sie denn überhaupt, ob Kiang schan die Edelsteine Timurs aus dem Grab in Samar kand besitzt?« Ilski wußte gar nichts, aber er log dreist. »Selbstverständlich. Ich habe sie selbst gesehen. Herrliche Steine, wunderbare Steine! Kiang-schan wird sie nicht gern hergeben. Aber vielleicht – wenn Sie genug bieten…« »Fünf Millionen!« »Fünf Millionen?« schnappte Ilski und verbeugte sich abermals. »Ich werde mich sofort mit Kiang schan in Verbindung setzen.« »Tun Sie das«, riet Sun Koh trocken. »Sagen Sie ihm, daß ich Timurs Steine haben möchte. Wenn er 86
Sie fragt, wer ich bin, dann sagen Sie ihm, daß ich der Mann unter dem Stein bin, der zuerst die Schätze Timurs sah. Kiang-schan wird dann schneller begrei fen.« Ilski verbeugte sich zum drittenmal. »Ich werde alles genau ausrichten. Kiang-schan wird sicher…« Er verzichtete auf mehr. Sun Koh war bereits wei tergegangen. Ilski blieb noch lange am gleichen Platz stehen. Er sah wunderbare Möglichkeiten und fühlte sich groß artig, obgleich er eben diesem Fremden gegenüber einen Teil seiner gewohnten Selbstsicherheit vermißt hatte. Er sah bereits Millionen in seiner Tasche. * Kiang-schan empfing ihn höflich wie eine Katze, die sich unmerklich zusammenzieht, um ihre Maus anzu springen. »Sie hatten Erfolg?« Ilski lächelte selbstgefällig. »Was sonst, Kiang-schan? Ich habe mit dem Mann und mit seinen Leuten gesprochen.« »Und?« »Der Mann ist. Ihretwegen nach Kothan gekom men.« Ein schneller Blitz schoß aus den Augen des 87
Chinesen zu ihm hinüber. »Meinetwegen?« Ilski grinste hämisch. »Oh, Sie brauchen nicht zu erschrecken. Er will Ihnen nur etwas abkaufen.« Kiang-schan schnappte mit den Fingern, eine un bewußte Bewegung, die bei ihm höchste innere Spannung verriet. Der Tonfall seiner Stimme blieb jedoch gleichgültig. »Abkaufen? Er hat Sie zum Narren gehalten.« Der Russe lachte überlegen. »Der Fremde sah nicht danach aus, als ob er mich zum Narren halten wollte. Außerdem müßte er sich dazu jemand anderen aussuchen. Also, um es kurz zu machen: Es handelt sich um ein paar Millionen, und er hat mich als Vermittler beauftragt. Wie steht es mit meiner Provision?« Kiang-schan verzog geringschätzig die Lippen. »Werden Sie nicht auch noch rätselhaft, mein Freund«, sagte er sanft. »Ich habe nichts zu verkau fen und sehe auch keinen Anlaß, Ihnen eine Provisi on zu geben.« Ilski betrachtete wohlgefällig seine Fingerspitzen. »Sie sind ein gerissener Fuchs, Kiang-schan. Sie stellen sich, als ob Sie nichts zu beißen hätten, aber Sie schwimmen im Geld. Ich denke, zwanzig Prozent wäre die richtige Provision, nicht?« »Geschwätz!« »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Wann haben 88
Sie übrigens die Edelsteine aus Timurs Grab heraus geholt?« Der Schuß saß. Kiang-schan zuckte mit einer fah rigen Bewegung zusammen. Sein Gesicht wurde noch gelblicher und fahler. »Timurs Edelsteine?« fragte er nach einer langen Pause tonlos. »Was habe ich damit zu tun?« »Wahrscheinlich gar nichts!« höhnte Ilski. »Der Fremde ist aber trotzdem nach Kothan gekommen, um die Steine von Ihnen zu kaufen. Verdammt ge schickt von Ihnen, das Grab in Samarkand auszu nehmen, aber offenbar doch nicht so geschickt, daß nicht andere davon erfahren haben.« Kiang-schans Augen waren zu engen Schlitzen zu sammengezogen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich höre zum erstenmal von den Edelsteinen Timurs.« »Kleiner Schäker! Das können Sie mir nicht er zählen. Der Fremde war seiner Sache ganz sicher.« »Ach? Und er will die Steine kaufen?« »Sicher. Und Sie werden verkaufen müssen.« »Warum?« »Warum? Nun, er ist der Mann unter dem Stein, falls Ihnen das etwas sagt.« Kiang-schan preßte seine Finger so fest gegenein ander, daß die Gelenke knackten. Er legte wieder ei ne große Pause ein, bevor er antwortete. »Ihre Reden werden immer rätselhafter. Ich weiß 89
nichts von den Edelsteinen Timurs und kenne auch keinen Mann unter dem Stein.« Ilski wurde vertraulicher und redete ihm gut zu. »Wozu diese Flausen, Kiang-schan? Für mich steht fest, daß Sie die Steine haben. Und Sie werden das Geschäft machen, sonst schicke ich Ihnen die Regierung auf den Hals. Es wird ein verdammt gutes Geschäft für Sie, Kiang-schan. Aber Sie können es nicht ohne mich erledigen, weil Sie sich nicht mit dem Fremden verständigen können. Sie werden mich also beteiligen müssen. Wenn Sie – sagen wir vier Millionen bekommen und geben mir davon eine Mil lion ab, ist das ein großartiges Geschäft für Sie. Wie ich Sie kenne, haben Sie noch keinen Pfennig für die Steine ausgegeben.« Der Chinese starrte ihn stumm an. Er schwieg lan ge. »Sie wissen viel und fordern viel«, sagte er end lich. »Also gut, ich habe die Steine. Wollen Sie sie sehen?« Ilski nickte. Kiang-schan schlug gegen den Gong, der neben ihm stand. Ein Diener erschien. Kiang-schan sagte einige Worte in einem Dialekt, den Ilski nicht verstand. Der Diener verschwand. Wenige Minuten später trat er wieder ein. Er brachte einen Kasten, den er Kiang-schan übergab. Kiang-schan ließ den Deckel aufspringen. Schim 90
mernde und funkelnde Schmuckstücke wurden sicht bar. Ilski beugte sich gierig vor. »Timurs Schatz?« »Nur ein kleiner Teil von ihm. Herrliche Steine, nicht wahr?« »Wunderbar!« seufzte Ilski heiser. Kiang-schan lächelte hämisch. »Ja, und viel zu schön für Ihre schmutzigen Hän de.« Ilski blickte erstaunt auf, aber bevor er noch be griff, packten ihn starke Hände von hinten und bogen ihm die Arme auf den Rücken. »Was – verdammt – was soll das?« Kiang-schan lächelte wie eine satte Katze. »Wer Timurs Steine sah, hat das Ziel seines Le bens erreicht. Ich wünsche Ihnen eine sanfte Ruhe, Ilski.« Da verstand Ilski. Er brüllte auf und versuchte, sich von den Dienern loszureißen, aber seine Bemü hungen hatten keinen Erfolg. Die Diener schleiften ihn hinaus, und niemand kümmerte sich um sein To ben und Schreien.
91
4.
»Eigentlich ist es doch Unsinn, daß wir hier so lange warten«, überlegte Hal laut. »Wir könnten doch dem Chinesen schon längst auf den Nähten sein.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Es ist nur scheinbar ein Fehler, Hal. Kiang-schan könnte so gut auf der Hut sein, daß er uns entwischt, wenn wir direkt angreifen. Außerdem haben wir noch keine Sicherheit dafür, daß er den Schatz wirk lich besitzt und hier verborgen hält. Es hat gewisse Vorteile, dem Gegner einen Zug aufzuzwingen.« »Sie wollen ihn veranlassen, von sich aus zu han deln?« »So ungefähr. Dieser Vermittler wird ihn unter Druck setzen! Und vielleicht reicht das auch aus, um Kiang-schan zu einer Dummheit zu veranlassen.« »Hm, also ich würde ihn jedenfalls einfach bei der Binde nehmen und ihm die Pistole auf die Brust set zen.« »Das können wir immer noch tun«, meinte Sun Koh. »Etwas Neues, Nimba?« Der Neger hob den Blick von der Scheibe, auf der das Haus Kiang-schans wie eine ständige ablaufende Flugzeug-Aufnahme zu sehen war. »Nichts, Sir. Der Russe ist nicht wieder herausge kommen.« 92
»Ein Chinese kommt von der Brücke her«, melde te Hal. Der Chinese kam auf die Maschine zu und machte einige Meter vor den Männern seinen Kotau. »Mein Herr Kiang-schan läßt dem sehr alten, mächtigen Herrn im Flugzeug sagen, daß er ihn um die Ehre bittet, in seiner bescheidenen, schmutzigen Hütte sein Gast zu sein.« Sun Koh überlegte nicht lange. »Sage deinem Herrn, daß ich seiner Einladung noch heute Folge leisten werde.« Der Chinese verbeugte sich und ging. »Wollen wir wirklich zu dem Chinesen ins Haus?« fragte Nimba bedenklich. Sun Koh winkte ab. »Wir? Davon ist keine Rede. Ich gehe allein.« Hal schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht machen, Sir. Und diploma tisch ist es auch nicht. Der Chinese will Sie ausschal ten, das ist doch klar. Er wird Ihnen etwas in den Kaffee schütten. Oder er hetzt seine ganze Meute auf Sie.« »Nicht in den Kaffee«, sagte Sun Koh lächelnd. »Ein Chinese bietet gewöhnlich Tee an. Aber ich glaube nicht einmal, daß er es mit Gift versuchen wird. Kiang-schan wird im Augenblick nur neugierig sein und erfahren wollen, mit wem er es zu tun hat. Wahrscheinlich wird er dann versuchen, mich fest 93
zuhalten. Ich bezweifle jedoch, daß er dazu genü gend Leute besitzt. Der gefährliche Punkt ist hier bei euch. Er wird wohl kaum mich angreifen und euch hier in Ruhe lassen. Nach menschlichem Ermessen muß er sogar seine Leute zunächst auf euch hetzen, damit ihr nicht eingreifen oder gar die Behörden ver ständigen könnt. Ihr müßt also gut aufpassen.« »Sowieso«, versprachen Nimba und Hal. * Zwei Stunden später saß Sun Koh Kiang-schan ge genüber. Der Chinese verzichtete auf den müßigen Zauber des Zeremoniells. Vielleicht war seine Neugier doch zu groß. Nachdem die Diener den Tee hereingetragen hatten, ging er ohne viel Umschweife auf die Sache ein. »Ich freue mich sehr, daß Sie mein bescheidenes Haus beehren«, versicherte er. »Man sieht so selten Fremde in diesem Land, und als ich von Ihnen hörte, hatte ich den Wunsch, Sie bei mir zu sehen und mich mit Ihnen zu unterhalten.« »Unsere Wünsche begegnen sich vollkommen«, erwiderte Sun Koh mit kühler Verbindlichkeit. »Ich möchte mich auch mit Ihnen unterhalten. Als wir uns zum erstenmal begegneten, lagen ja die Verhältnisse leider so, daß keine Zeit für eine Unterhaltung blieb.« 94
Kiang-schan zog die dünnen, weißlichen Brauen hoch und ließ damit keinen Zweifel, daß er erstaunt sein wollte. »Verzeihung, aber das ist eine überraschende Be merkung, die mich in Erstaunen setzt. Ich wußte nicht, daß ich schon einmal die Ehre hatte, Ihnen zu begegnen.« Sun Kohs Gesicht blieb unbewegt. Auch seine Stimme verriet keine Anteilnahme. Er hätte ebenso gut von den gleichgültigsten Dingen der Welt spre chen können. »Auch Ihre Bemerkungen überraschen mich. Hat Ihnen der Russe nicht ausgerichtet, was ich ihm auf trug?« Kiang-schan schüttelte leicht den Kopf. »Ein Russe? Ich kenne keinen Russen, der mir et was über Sie berichtet hat.« »Wie merkwürdig! Ich sah ihn in Ihr Haus hinein gehen. Er ist nicht wieder herausgekommen. Ich wußte nicht, daß Ihr Haus auch von Leuten besucht wird, die Sie nicht kennen.« »Sie sahen ihn zu mir kommen?« wunderte sich Kiang-schan höflich. »Wie wäre das möglich? Sie waren um diese Zeit zwei Stunden von meinem Haus entfernt.« »Ah, aber immerhin wissen Sie offenbar genau, zu welcher Zeit er nicht zu Ihnen gekommen ist.« Kiang-schans Hand öffnete und schloß sich me 95
chanisch. Damit verriet er seine innere Erregung. Er wußte, daß er sich eine Blöße gegeben hatte. Er ver suchte jedoch auszuweichen. »Oh, eine Ungenauigkeit des Ausdrucks. Ich meinte, wenn er zu mir gekommen wäre, so hätten Sie ihn zu keiner Zeit sehen können.« »Sie sind technisch etwas rückständig«, antwortete Sun Koh sachlich. »Es gibt heute Möglichkeiten, den Weg eines Mannes zu verfolgen, auch wenn er einige Stunden entfernt ist. Vielleicht besitze ich aber auch nur besonders gute Augen. Ich erinnere mich an eine Nacht in Samarkand. Fünf Männer standen in der dunklen Grabhalle Timurs. Sie glaubten, allein zu sein, aber sie wurden von mir belauscht. Sie ver schoben den Grabstein Timurs und – aber darüber brauche ich Ihnen wohl nichts zu sagen, denn Sie waren einer dieser Männer, Kiang-schan.« »Welche Verwechslung!« protestierte Kiang schan behutsam, denn auf diesen Angriff hatte er sich vorbereitet. »Ich war nie am Grabe Timurs.« »Jim Reattle wird das Gegenteil bezeugen.« »Reattle ist tot und…« Er brach ab. Sein Gesicht wurde finster und gehässig. Er wußte, daß er sich die zweite und entscheidende Blöße gegeben hatte. Sun Koh lächelte freundlich. Er verzichtete auf je des überflüssige Wort. Kiang-schan schenkte ihm noch einen haßvollen Blick, dann warf er sich innerlich herum. Sein Ge 96
sicht hellte sich wieder auf. »Also gut, ich will es nicht leugnen. Ich weiß von dieser Angelegenheit. Ich war einer jener Männer.« »Der einzige, der am Leben blieb.« »Was kann ich für die Torheit der anderen?« »Zwei von ihnen wurden erstochen.« »Ich handelte in Notwehr. Sie griffen mich an.« Sun Koh fixierte ihn kalt. »Es war ein Doppelmord, nichts anderes. Wir wol len uns damit jedoch nicht aufhalten. Kommen wir zur Sache. Sie haben wohl begriffen, daß ich alle Vorgänge beobachtete und dann den Zugang zum Grab entdeckte. Sie schlossen die Platte über mir – unbegreiflicherweise.« »Leider«, entschlüpfte es Kiang-schan. Sun Koh nickte. »Eine große Torheit, denn Sie befanden sich in der günstigen Stellung. Sie rechneten offenbar damit, daß ich ersticken würde. Glücklicherweise gelang es mir jedoch, mich zu befreien. Ich nahm einen kleinen Teil vom Schatz Timurs mit. Den Rest holten Sie später, nachdem ich mich entfernt hatte. Sind wir uns soweit einig?« »Gewiß«, bestätigte Kiang-schan höflich. »Ich weiß nur nicht, was Sie mit diesen Erinnerungen an vergangene Dinge beabsichtigen?« »Ich habe den Schatz Timurs gefunden und bean spruche ihn als mein Eigentum. Sie nahmen mein Ei 97
gentum weg, als Sie den Schatz entführten.« »Darüber könnte man sich streiten. Der Schatz ist herrenloses Gut.« »Er gehört dem Entdecker, und ich erwarte, daß Sie ihn mir herausgeben.« Kiang-schan lächelte dünn und mit einer Spur von Hohn. »So einfach, nicht wahr? Sie sind ein reicher Mann, wie ich hörte?« »Vielleicht?« »Wieviel würden Ihnen die Steine wert sein?« »Sie sind bereits mein Eigentum.« »Und wenn sie es nicht wären? Jener Russe sprach von vier Millionen?« »Der Schatz Timurs könnte auch das Zehnfache wert sein.« Kiang-schan lächelte jetzt mit deutlichem Hohn. »Wie bescheiden ich doch bin. Ich werde mich schon zufrieden geben, wenn Sie mir fünf Millionen Lösegeld zahlen.« »Lösegeld?« wunderte sich Sun Koh mit allem Nachdruck. »Lösegeld!« bestätigte Kiang-schan hämisch. »Sie werden fünf Millionen zahlen, um Ihr Leben und Ih re Freiheit zu retten. Wenn Sie mir einen Barscheck über diesen Betrag ausstellen, dürfen Sie dieses Haus wieder verlassen. Im anderen Fall müßte ich Sie um die Ehre bitten, weiterhin mein Gast zu bleiben.« 98
Sun Koh zuckte nicht mit der Wimper, obgleich er die Geräusche in seinem Rücken genau verfolgte. »Wie romantisch, Kiang-schan. Lösegeld? – Viel leicht habe ich nichts dagegen, längere Zeit Ihr Gast zu sein?« »Oh, Sie werden keinen Wert darauf legen. Ihre Nahrung wird Entsetzen und Ihr Getränk Verzweif lung sein. Ich habe geschickte Diener, die das Leben zur Hölle machen können.« Sun Koh nickte. »Interessant, wirklich interessant. Wollen Sie also jetzt mein Eigentum herausgeben oder nicht?« »Narr!« zischte Kiang-schan. »Schade«, erwiderte Sun Koh höflich und erhob sich. Im nächsten Augenblick warfen sich genau nach Programm ein halbes Dutzend Diener von hinten auf ihn. Sie wußten nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Sun Koh war herum, bevor noch einer von ihnen richtig zugegriffen hatte. Seine Faust schwirrte wie ein stählerner Hammer und knackte einige Unterkie fer, während die andere in eine Herzgrube hinein fuhr, dann einen Schädel traf und dann eine Leber. Wenig später lagen sechs Männer stöhnend und zum Teil besinnungslos am Boden, ohne zu begrei fen, was mit ihnen geschehen war. Kiang-schan faßte es auch nicht, aber er handelte 99
trotzdem. Er riß plötzlich die Pistole heraus. »Hände hoch!« Sun Koh blickte sich nicht erst nach ihm um, da er wußte, wo sich Kiang-schan befand. Er warf sich zur Seite, federte über den Boden und sprang wieder hoch. Ein Schuß krachte, aber gleichzeitig ruckte Kiang schans Arm nach oben, so daß die Pistole wegflog. »Nicht schnell genug, Kiang-schan«, sagte Sun Koh grimmig und nahm den Chinesen beim Kragen. »Wollen Sie mir jetzt den Schatz Timurs herausge ben?« Kiang-schan lag noch halb auf der Seite und schielte tückisch zu Sun Koh hinauf. »Das – das werden Sie mir büßen. Ich …« Sun Koh riß ihn hoch. »Erzählen Sie mir das später. Jetzt zeigen Sie mir, wo der Schatz versteckt ist.« Im nächsten Augenblick warf er Kiang-schan ge gen die Wand. – Er brauchte beide Hände zum Kampf. Durch die beiden Türen stürzten jetzt noch zwei Dutzend Männer herein, offenbar alles, was zu Kiang-schan gehörte. Ein wütender Schrei Kiang-schans hetzte zum Kampf. Die Diener, von denen verschiedene mit Messer bewaffnet waren, griffen an. Sun Kohs Stellung war insofern günstig, als ihm die Wand Rückendeckung bot. Er konnte deshalb die 100
Leute herankommen lassen. Erst als sie nach ihm griffen und auf ihn einstachen, schmetterten seine Fäuste los. Sie nahmen verwirrt Abstand. Wieder hetzte ein Schrei Kiang-schans. Jetzt flog das erste Messer durch die Luft. Es zitterte dicht neben Sun Kohs Ohr in die Wand. Das ging zu weit. Sun Koh hatte keine Lust, sich von diesen Messern an die Wand spießen zu lassen. Seine Hände zuckten zurück und brachten die Pisto len hoch. »Verschwindet!« befahl er auf Chinesisch. Zwei Messer flogen als Antwort, denen er eben noch ausweichen konnte. Dann schoß er. Die Pistolen knatterten wie ein Maschinengewehr los. Sun Koh wollte nicht unnötig Blut vergießen und schonte die Männer vor sich, aber trotzdem waren im Handumdrehen ungefähr die Hälfte nicht mehr fähig, ein Messer in der Hand zu halten. Die Meute prallte entsetzt zurück. »Verschwindet!« befahl Sun Koh wieder, und jetzt half auch kein Schrei Kiang-schans mehr. Die Diener flüchteten, so schnell sie konnten. Sun Koh stand allein zwischen denen, die am Bo den lagen. Kiang-schan war ebenfalls verschwunden. Sun Koh machte sich auf die Suche. 101
Das war ein Fehler. Während er in den unübersichtlichen Räumen des fremden Hauses nach Kiang-schan suchte, konnte dieser seine Flucht vorbereiten. Es kam ihm zugute, daß sich der Schatz Timurs immer noch in seinem Flugzeug befand. Als Sun Koh schließlich ein verdächtiges Ge räusch hörte und ins Freie trat, sah er hinter einem der Nebengebäude ein Flugzeug aufsteigen. Das Flugzeug Kiang-schans. * Hal Mervin wedelte abschiednehmend vor der Seh scheibe hin und her, wobei er belustigt murmelte: »Leb wohl, mein Schatz, leb wohl. Es hat nicht sol len sein, und so weiter. Leider wurden wir plötzlich abberufen.« Er wandte sich an Sun Koh und erklärte: »Wir sind gerade zur richtigen Zeit gestartet, Sir. Wenn ich nicht irre, haben sie dort unten sogar die Feuerwehr aufgeboten, um uns zu fangen. Schade um den Spaß.« »Ost«, befahl Sun Koh den Kurs. Die Maschine wirbelte kopfüber, kurbelte durch einige Loopings und ging auf Kurs. »Drosseln«, befahl Sun Koh. »Haben Sie den Chinesen, Sir?« 102
»Ja. Vermutlich fliegt er nach Keria. Wir werden Distanz halten, damit er uns nicht entdeckt. Was war denn übrigens bei euch los?« »Eigentlich gar nichts«, gab Hal Auskunft. »Eine halbe Stunde vor Ihrer Ankunft drängten haufenwei se Chinesen heran. Sie spielten die Neugierigen. Nimba machte sein Theater, aber sie grinsten nur und rückten näher. – Daraufhin stellten wir die elektri sche Spritze an. Sie zuckten wie die Hampelmänner und liefen dann davon.« »Hoffentlich habt ihr niemand getötet?« »Nein. Die schwächste Ladung genügte. Wir hät ten getrost dort bleiben können. Jetzt bilden sie sich natürlich ein, daß wir ausgerissen sind.« »Wir mußten weg, zumal auch die Behörden ka men. Wir hätten kämpfen oder uns einsperren lassen müssen. Ich bin davon überzeugt, daß sich ein Dut zend Leute gefunden hätten, die mich des Einbruchs und des Mordes bezichtigt hätten.« Hal nickte verständnisvoll. »Ja, ja, den Behörden geht man am besten aus dem Weg, selbst in dieser gottverlassenen Gegend.« Eine Fallböe rüttelte an der Maschine. »Steigen!« befahl Sun Koh. »Wir haben sonst dau ernd Fallwind über uns. Kiang-schan hat zu tun. Sein Pilot versteht sich aufs Fliegen, falls er nicht selbst am Steuer sitzt.« »Er hat eine gute Maschine.« 103
Die Zeit verging. »Er fliegt über Keria hinaus«, stellte Sun Koh fest. »Dort unten kommt schon die Stadt.« »Sieht genau so aus wie Kothan«, bemängelte Hal. »Wie heißt der Fluß, Sir?« »Keria-Darja.« Hal rümpfte die Nase. »Hm, diese Leute hier machen sich’s leicht. Jeder Fluß heißt Darja, und sie hängen nur immer eine Stadt vor.« »In England wird auch jeder Fluß ,River’ ge nannt«, erinnerte Nimba. Der Flug ging weiter. Die Landschaft gewann mehr und mehr Wüstencharakter. Rechts schnitt der scharfe Kamm des westlichen Kuen-lun in den Himmel. »Einen Strich Nordost, Nimba. Er will vielleicht nach Tschertschen.« »Tschertschen am Tschertschen-Darja?« fragte Hal. »Ja.« »Habe ich mir doch gedacht. Das gute alte Tschertschen!« »Kiang-schan landet hier auch nicht«, sagte Sun Koh später. »Also zur nächsten Station.« »Jenseits von Tschertschen gibt es keinen größe ren Ort mehr. Er müßte dann schon noch tausend Ki 104
lometer weiter bis Satschou fliegen, aber das würde dann ein Nachtflug werden. Ich bezweifle auch, daß er soviel Treibstoff im Tank hat.« Eine Stunde später erschien in der Wüste voraus ein schmutzig-grüner Fleck, der sich immer mehr ausbreitete. »Der See Lop-nor«, erklärte Sun Koh. »See?« Sun Koh wies nach unten. »Siehst du den Flußlauf?« »Ja.« »Das ist der Tarim, der durch das ganze nördliche Ostturkestan hindurchfließt und nicht nur seine eige nen Wasser, sondern auch die zahlreichen Neben flüsse bringt. Dieser große Fluß mündet in kein Meer, sondern in einen Binnensee von nicht mehr als zehn Kilometer Durchmesser. Der See kann die stän dig zufließenden Wassermengen nicht fassen, so daß sich diese weit ins Land hinein ergießen, und zwar über ein Gebiet von rund zwanzigtausend Quadratki lometer. Sie verwandeln es in eine riesige Sumpf landschaft, in deren Mitte der kleine See völlig un zugänglich und einsam liegt. Wir werden ihn bald zu Gesicht bekommen. Kiang-schan scheint tiefer zu gehen.« Er beobachtete eine Weile und teilte dann mit: »Er hält auf den See zu. Drosseln und langsamer herun ter, Nimba.« 105
Der See kam in Sicht, wenig später auch die Insel, die wie eine Klippe aus dem Wasser herausstieg. »Reicht gerade für einen Schrebergarten«, mur melte Hal. »Die Entfernung täuscht. Die Insel ist mindestens zweihundert Meter lang und fünfzig breit. Siehst du das Haus?« »Ja. Alter Kasten, nicht?« »Ziemlich mittelalterlich, aber noch recht stabil. Schon mehr Burg als Haus. Das wird das Ziel Kiang schans sein. Stoppen, Nimba.« Die Maschine verlor an Fahrt und blieb mit schwirrenden Flügelschaufeln in der Luft hängen. Sun Koh sah das Flugzeug des Chinesen auf der Insel landen. Mit einer Knopfdrehung verschoben sich die Maßstäbe. Statt der großen Wasserfläche war jetzt nur mehr der Ausschnitt zu sehen, in dem Kiang-schan aus dem Flugzeug herausstieg. Er blick te nicht zum Himmel und ahnte ganz sicher nicht, daß ihn Sun Kohs Augen auf seinem Weg zu dem einsamen Felsenkastell verfolgten. »Stell’ den Automaten ein, Nimba. Wir bleiben vorläufig hier. Wir wollen nicht erst Gefahr laufen. Kiang-schan zu warnen, sondern die Dunkelheit ab warten.« »Und dann landen?« »Ja. Inzwischen kannst du dich um das Abendes sen kümmern.« 106
Nimba tat nichts lieber als das, aber trotzdem trennte er sich nur zögernd von den Instrumenten. Es war ihm immer ein bißchen unheimlich, die große Maschine so völlig dem Automaten zu überlassen. Obgleich alles dafür sprach, daß dieser zuverlässiger als ein Mensch war, blieb es für Nimba etwas ge spenstisch, daß sie sich frei im Flugzeug bewegen konnten, ohne sich um den maschinellen Teil küm mern zu müssen. Insgeheim fürchtete er immer eine Katastrophe und schielte nach dem Pilotensitz hin und vergewisserte sich, daß er ihn in kürzester Frist erreichen konnte. Hal hatte andere Interessen. »Wie kommt denn das Haus auf die Insel, Sir?« erkundigte er sich. Sun Koh hob die Schultern. »Vermutlich wurde es aus Steinen gebaut, die auf der Insel zu finden waren. Freilich braucht das nicht unbedingt der Fall zu sein. Das Haus ist möglicher weise einige Jahrhunderte alt, und vor Jahrhunderten kann hier vieles anders ausgesehen haben. Vielleicht hat damals der See noch nicht existiert, und der Ta rim ist als Fluß vorbeigeflossen.« »Das Essen, Sir«, meldete Nimba. Eine Stunde später war es Nacht. Das Flugzeug sank langsam auf die Insel nieder. Da es senkrecht landen konnte, bot es keine Schwie rigkeiten, dich an das Haus heranzukommen. 107
Sun Koh ging auch diesmal allein zu Kiang-schan. Die Voraussetzungen waren wesentlich günstiger. Der Chinese fühlte sich zwar zweifellos sicher, aber im Haus konnten sich nur wenige Leute befinden, so daß er kaum die Möglichkeit besaß, wieder auszu weichen. Die Tür des Hauses war nicht verschlossen, eben sowenig eine weitere Tür, so daß Sun Koh ungehört in den Raum gelangen konnte, der erleuchtet war und in dem sich vermutlich Kiang-schan aufhielt. Kiang-schan befand sich beim Essen. Vor ihm standen ein Dutzend Schüsselchen, aus denen er mit Hilfe von zwei Stäbchen die Speisen entnahm. Er war in diese Beschäftigung so vertieft, daß er erst aufblickte, als Sun Koh schon die Schwel le hinter sich hatte. Dann wurde er zur Statue. Seine linke Hand fiel auf das Tischchen herunter und kippte eine Schüssel um, so daß sie ihren Inhalt auf die prächtig eingelegte Tischplatte entleerte. Die rechte Hand blieb in halber Höhe schweben. Das Stäbchen zwischen Mittelfinger und Zeigefinger zit terte leicht. Der Unterkiefer klappte etwas herab und blieb dann unbeweglich wie das ganze Gesicht. Nur die Augen wurden langsam größer, um sich dann bis auf einen schmalen Schlitz zu schließen. Ewigkeiten schienen zu vergehen, und doch waren es nur Sekunden, während Sun Koh an der Tür ste 108
hen blieb. Dann schritt er auf Kiang-schan zu und sagte höflich, wenn auch mit beißender Ironie: »Lei der war es mir nicht möglich, mich von Ihnen in Kothan zu verabschieden und Ihnen für die erwiesene Gastfreundschaft zu danken. Ich bin gekommen, das nachzuholen.« Kiang-schan schloß den Mund, ließ den rechten Arm sinken und begann, mechanisch seine linke Hand zu säubern. Heiser, aber leidlich beherrscht erwiderte er: »Sie – Sie haben mich überrascht. Ich freue mich jedoch, Sie hier zu sehen. Ich habe es schon sehr bedauert, daß unsere Unterhaltung in Kothan so unsanft unterbrochen wurde. Hoffentlich findet diese räuberische Bande, die mein Haus über fiel, ihre verdiente Strafe.« »Das ist auch eine Leseart. Ich war bisher der Mei nung, daß ich von Ihren eigenen Leuten überfallen wurde.« Kiang-schan hob protestierend beide Hände. »Ich bin untröstlich, daß Sie mich so verkennen. Es waren nicht meine Leute, sondern irgendwelche fremden Räuber. Kothan ist eine unsichere Gegend, und manche Leute vermuten bei mir Reichtümer.« »Ah, und deshalb flohen Sie so hastig?« Der Chinese brachte sogar eine kummervolle Mie ne zustande. »Sie werden mich für feig halten, aber ich muß ge stehen, daß ich tatsächlich Angst hatte. Es ging um 109
mein Leben. Deshalb zog ich es vor, mich in Sicher heit zu bringen. Hätte ich freilich geahnt, daß ich da durch bei Ihnen in einen so abscheulichen Verdacht gerate, hätte ich lieber mein Leben diesen Räubern geopfert.« Sun Koh nickte belustigt. »Sie sind der abgefeimteste Heuchler, den ich je kennengelernt habe, Kiang-schan. Lassen wir diese Ausflüchte. Sie wissen, warum ich gekommen bin?« »Oh, Sie wollten sich für meine Gastfreundschaft bedanken, wie Sie selbst erwähnten«, sagte Kiang schan unschuldig. »Das auch, zumal sie mir fast ans Leben gegangen ist. Nebenbei haben Sie jedoch kaum vergessen, daß Sie mir den Schatz Timurs aushändigen sollen. Au ßerdem werden Sie mir ein schriftliches Geständnis geben, daß jener Usbeke in Samarkand auf Ihre Ver anlassung hin starb und daß meine beiden Leute an seinem Tod unschuldig sind.« Kiang-schan hüstelte. »Sie fordern unbekannte Dinge von mir. Ich besit ze den Schatz Timurs nicht, und ich weiß nichts von einem Usbeken.« Sun Koh trat einen Schritt näher. »Ihre Ausflüchte sind nutzlos und unsinnig, Kiang-schan. Ich hörte selbst am Grabe Timurs, wie Sie über den Tod des Usbeken sprachen. Und ich sah, wie Sie mit Ihrem Piloten zusammen den Schatz 110
Timurs in dieses Haus trugen.« In den Augen des Chinesen blitzte es kurz auf. »Sie waren schon auf der Insel, als ich ankam?« »Nein, aber ich sagte Ihnen wohl schon bereits, daß ich einen Apparat besitze, mit dem man in die Ferne sehen kann.« Kiang-schan legte die Fingerspitzen gegeneinan der. »Ich verstehe. Trotzdem irren Sie sich. In den Säckchen befanden sich Lebensmittel.« »Ach?« »Sie können sich mit Ihren eigenen Augen über zeugen. Ich lasse Ihnen die Säcke gern herbringen.« »Wozu die Mühe? Zeigen Sie mir, wo die Säcke liegen?« Kiang-schan zögerte, nickte dann aber. »Gut, ich will Sie führen.« Er stand auf und ging durch die Tür, die sich in der Nähe seines Sitzplatzes befand. Sun Koh folgte ihm dicht auf den Fersen. Sie gingen durch einen Gang, der von einer Ampel matt erhellt wurde. Elektrizität gab es hier offensicht lich nicht. Am Ende des Ganges führte eine Treppe hinunter. Sie endete vor einer festen Tür. Kiang-schan war auffallend gesprächig. »Sie sollen sich überzeugen, daß kein Grund vor liegt, gewaltsam gegen mich vorzugehen. Ich bin ein friedlicher und harmloser Mensch. Ich fürchte zwar 111
Ihre Drohungen nicht, aber ich hasse Mißverständ nisse, und wenn es in meinen Möglichkeiten liegt…« Er redete und redete – doch Sun Koh ließ ihn er zählen, obgleich es klar war, daß er auf diese Weise seine Leute alarmieren wollte. Irgendwann mußte die Auseinandersetzung mit diesen Leuten kommen. Sie kam, bevor sie noch die Tür ganz erreicht hat ten. Sun Koh hörte einen leichten Schritt und ein me tallisches Klicken hinter sich. Sehen konnte er nie mand. Das Licht war zu schwach, und der Mann im Hintergrund achtete auf Deckung. Aber dann kam das harte Schnappen einer Sicherung. Sun Koh warf sich zur Seite und entging dadurch dem Geschoß, das ihm zugedacht war. Im nächsten Bruchteil der Sekunde schoß Sun Koh zurück. Ein dumpfer Aufschrei meldete den Treffer. Was eben noch ein kaum sichtbarer Schatten gewe sen war, entpuppte sich jetzt als Mensch. Sun Koh war mit zwei Sätzen wieder am oberen Ende der Treppe. Dort lag der Pilot Kiang-schans, stöhnte und tastete nach seiner Schulter. Sun Koh winkte Kiang-schan, dessen Gesicht in dem schwachen Licht wie eine gelbe Maske im Dun kel schwebte. »Kommen Sie herauf.« Zögernd kam der Chinese nach oben. Das Gehen schien ihm schwer zu fallen. Sein Gesicht kämpfte 112
um einen passenden Ausdruck. »Verzeihung«, murmelte er, als er oben ange kommen war, »ich bin zu Tode erschrocken. Wieder so ein verfluchter Räuber. Er wollte mich erschie ßen.« »Mich«, berichtigte Sun Koh. »Und wenn ich nicht irre, ist das Ihr Pilot.« Kiang-schan seufzte verzweifelt. »Sie haben leider recht. Dieser Schuft! Dieser Schuft! Ich bezahle ihm ein Vermögen für seine Dienste, und zum Dank dafür versucht er, mich zu ermorden.« »Mich«, berichtigte Sun Koh abermals. »Was sind sonst noch für Leute im Haus?« Kiang-schan ging jetzt auf die wehleidige Tour. »Nur der Hausverwalter und seine Frau. Sie sind beide alt.« »Rufen Sie beide herbei.« Kiang-schan verzichtete auf Widerspruch und rief zwei Namen. Der Hausverwalter, ein dürrer Greis von ungefähr siebzig Jahren, kam angeschlürft. Seine Frau folgte. Diese beiden konnten nicht gefährlich werden. Sun Koh befahl ihnen, sich um den Ver wundeten zu kümmern. Dann wandte er sich wieder an Kiang-schan. »Wollen Sie mir immer noch die falschen Säcke zeigen?« Kiang-schan seufzte. 113
»Wie könnte ich wagen, Ihnen auch nur noch ei nen Schritt in diesem Haus zuzumuten? – Wenn Sie mir die Ehre geben wollen, eine Tasse Tee mit mir zu trinken …?« »Ich werde Tee trinken, während Sie Ihr Geständ nis schreiben«, erwiderte Sun Koh kühl und ging mit Kiang-schan zurück, nachdem dieser den Hausver walter beauftragt hatte, Tee zu servieren. Dann saßen sie sich an dem niedrigen Tisch ge genüber. Sun Koh beobachtete den Chinesen. Er durchschaute ihn nicht ganz. Kiang-schan gehörte zu diesen seltenen Exemplaren, die sieben Häute besit zen und zäh genug sind, um jede einzelne erbittert zu verteidigen. Seinem Charakter nach mußte er eine viel bedeutendere Rolle spielen, als Sun Koh ihm bisher zugetraut hatte. »Begreifen Sie, daß Ihnen kein Ausweg bleibt, Kiang-schan«, redete er ihm sachlich zu. »Sie haben meine Leute in Verdacht gebracht, und Sie werden sie entlasten. Sie werden also jetzt Ihr Geständnis schreiben.« »Ich werde nichts schreiben«, erwiderte Kiang schan feindselig und kreuzte die Arme über der Brust. »Ach?« Die Augen des Chinesen schlossen sich unter dem forschenden Blick. Es war wirklich nicht leicht, zu erraten, was hinter dieser gelben Stirn vorging. 114
Kiang-schan war im Augenblick ohne jede Hilfe, und er war bestimmt klug genug, um das selbst zu erken nen. Er war so hilflos, daß jede Gewaltanwendung schon übertrieben gewesen wäre. Der Hausverwalter brachte den Tee. Kiang-schan schenkte ein und bat Sun Koh höflich zu trinken. Sun Koh sah ihm aufmerksam auf die Finger. Er rechnete mit einem Vergiftungsversuch. Kiang-schan machte jedoch keine verdächtige Bewegung, und da der Tee für beide Tassen aus der gleichen Kanne kam, konnte allenfalls Gift schon in den winzigen Täßchen gewesen sein. Für alle Fälle tauschte er also die beiden Tassen aus und bat den Chinesen eben falls höflich zu trinken. Kiang-Schan grinste und trank. Daraufhin trank Sun Koh ebenfalls. Dann kam er wieder zur Sache. »Also, wollen Sie nun schreiben, Kiang-schan?« Der Chinese beugte sich vor. »Nun gut, ich werde Ihren Wunsch erfüllen, wenn Sie mir den Schatz Timurs lassen.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Nein.« »Wenigstens die Hälfte?« »Nichts«, entschied Sun Koh nachdrücklich. »Und nun schreiben Sie Ihr Geständnis, sonst zwingen Sie mich zur Anwendung von Gewalt.« Kiang-schan seufzte und erhob sich. »Ich werde mich Ihren Wünschen fügen. Sie brin 115
gen mich um den Lohn meiner ganzen Mühe und machen mich zum armen Mann.« »Ich hoffe, daß mich das nicht allzusehr beunru higt.« Kiang-schan ging einige Schritte seitwärts zu einer Art Schreibsekretär. Er öffnete ihn, nahm einen Bo gen gelblich getöntes Papier heraus und begann zu schreiben. Er benutzte dazu einen hochmodernen Füllhalter. Minuten vergingen, bevor er zu dem Tischchen zurückkehrte. Er hielt das Blatt noch eine Weile in der Hand und blies darauf, um die Schrift besser zum Trocknen zu bringen. Dann reichte er es über den Tisch hinweg. Sun Koh überflog es. Es enthielt ein klares Schuldbekenntnis Kiang-schans und gleichzeitig die Versicherung, daß die beiden Begleiter Sun Kohs an dem Mord unschuldig waren. »Genügt Ihnen das?« erkundigte er sich nun ver bindlich. »Das genügt«, bestätigte Sun Koh. »Und nun wol len Sie mir den Schatz aushändigen.« »Ich muß Ihnen wohl oder übel auch diesen Wunsch erfüllen«, erwiderte Kiang-schan geschmei dig. »Ich bedauere jedoch sehr, daß Sie meine Gast freundschaft so wenig achten und mich so bald wie der verlassen wollen.« Er hob bei diesen Worten seine Teetasse und 116
trank. Sun Koh griff mechanisch ebenfalls nach sei ner Tasse und führte sie zum Mund. Peng! Ein Schuß knallte. Das Fenster klirrte. Sun Koh sah, daß er nur noch den Henkel der Tasse in der Hand hielt. Die Tasse selbst lag zersplittert am Bo den. Vom Fenster her kam Hals helle Stimme: »Hof fentlich habe ich Sie nicht erschreckt, Sir. Der Kerl hat den Tee vergiftet.« Sun Koh sprang auf. Er brauchte nur in das ver zerrte Gesicht des Chinesen zu blicken, um zu wis sen, daß Hal die Wahrheit gesprochen hatte. »Komm herein!« Hal schwang sich ins Zimmer. Gleichzeitig trat Nimba durch die Tür ein. »Hat’s geklappt, Hal?« »Selbstverständlich«, antwortete Hal selbstbe wußt. »Ein Glück, daß wir neugierig waren und uns die Sache ansahen.« Sun Koh nickte ihm zu. »Das war allerdings ein Glück, denn ich habe nicht gemerkt, wie der Tee vergiftet wurde. Wann ist das geschehen?« »Als er Ihnen das Blatt über den Tisch reichte, hat te er offenbar zwischen den Fingern eine Pille, die durch das Blatt verborgen wurde. Er ließ sie so ge schickt fallen, daß Sie nichts davon merkten. Ich hat 117
te aber schon gesehen, wie er sie aus dem Schreibse kretär herausholte.« »Und dann hast du dir natürlich die dramatische Art der Rettung ausgedacht«, meinte Sun Koh lä chelnd. »Es wäre einfacher gewesen, du hättest mir Bescheid gesagt.« »Na ja, schließlich muß der Mensch seinen Spaß haben«, sagte Hal grinsend. »Will er etwa den Schatz immer noch nicht herausrücken?« Kiang-schan wollte jetzt schon. Er hatte seine letz te Reserve vertan und wußte, daß er ganz auf die Nachsicht Sun Kohs angewiesen war. Wahrschein lich fühlte er sich nicht einmal mehr sicher, ob er mit dem Leben davonkommen würde. Er führte Sun Koh ohne weiteren Widerstand zu den Säcken, in denen er den Schatz Timurs auf die Insel gebracht hatte. Nimba trug sie zum Flugzeug. Allmählich regte sich in Kiang-schan sogar wieder Hoffnung. Er bat Sun Koh, ihn mit ins Flugzeug zu nehmen und ihn in der nächsten Stadt abzusetzen. »Dringende Geschäfte!« murmelte er demütig. »Ich werde mich in eine Ecke setzen und nicht stö ren. Ich bin ein armer Mann, und wenn ich nicht meine Termine halte…« »Ihr Flugzeug steht draußen.« »Ich kann nicht fliegen.« »Dann werden Sie Zeit haben, sich zu bessern, bis Ihr Pilot wieder gesund geworden ist.« 118
Kiang-schan warf ihm einen Blick voll Haß zu, beugte sich aber schnell wieder tiefer, um diesen Blick zu verbergen, und jammerte noch kleinlauter: »Ich würde Ihnen den Flug bezahlen. Ich, muß drin gend nach Lhassa. Unaufschiebbare Geschäfte! Man wartet in Lhassa bereits auf mich.« »Lhassa wird ohne Sie glücklicher sein«, ent schied Sun Koh kühl und ließ Kiang-schan stehen.
119
5.
»Donnerwetter! Donnerwetter!« staunte Hal ergrif fen. »Diesen Zusammenklang von Farben ist wunder voll«, sagte Sun Koh neben ihm. Seine Augen schweiften zurück zu der graugelben Hochebene, die sich bis zum Horizont hinzog, gin gen über die grünen Matten, die sie ablösten, über den dichten Kranz von Bäumen hinüber zu dem ge waltigen Massiv des himmelanstrebenden Palastes mit seinen leuchtenden goldenen Dächern, die wie die Sonne glänzte. Aus der Mitte der majestätischen Fronten stieg ein sechsstöckiger Doppelbau in hoch roter Farbe über das Ganze auf und schien den tief blauen Himmel, der sich über Lhassa wölbte, zu be rühren. Es waren großartige Farben, die hier zusam menklangen. »Mir imponiert mehr die Größe«, meinte Hal. »Der Palast ist doch gut seine dreihundert Meter lang, nicht?« »Ungefähr, und dabei bis hundertzwanzig Meter über der Stadt.« »Allerhand! Und dort drin wohnt nun der Dalai Lama?« »In dem rotgestrichenen Palastteil. Im Potala selbst – die Gläubigen nennen diese ganze Residenz 120
Potala – wohnen außer dem Dalai Lama eine Unzahl Priester.« »Die mit den roten Röcken?« Sun Koh nickte nur. Sie blickten beide weiter auf den gewaltigsten Palast der Erde, auf einen Riesen bau, der kein Gegenstück besitzt. Nur noch New York hatte mit seinen Wolkenkratzern Ähnliches zu bieten, wenn auch nicht in der Waagerechten, son dern in der Senkrechten. Um die beiden herum flutete das Leben von Lhas sa, der religiösen und kulturellen Hauptstadt von Ti bet. »Siehst du die drei Männer dort?« fragte Sun Koh Hal. Die drei, die er meinte, zogen sich so hastig in eine Seitengasse zurück, als hätten sie seine Bemerkung gehört. Hal konnte eben noch einen Blick auf sie werfen. Er stieß vor Überraschung einen Pfiff aus. »Donnerwetter, der eine kommt mir aber bekannt vor. Diese Chinesen sind schwer zu unterscheiden, aber…« »Kiang-schan«, bestätigte Sun Koh. »Sein Pilot muß doch schneller mit seiner Verletzung zurechtge kommen sein, als wir dachten. Wir werden von nun an vorsichtig sein müssen. – Kiang-schan hat uns erkannt.« »Frohe Ostern!« murmelte Hal, ohne besonders beeindruckt zu sein. »Wenn es ihn juckt, werden wir 121
ihn kratzen. Können wir uns übrigens den Dalai La ma nicht einmal ansehen, Sir?« Sun Koh schüttelte leicht den Kopf. »Den gleichen Wunsch haben schon viele gehabt, aber er wurde nur selten erfüllt. Der Dalai Lama gilt als lebende Verkörperung Buddhas und darf eigent lich nur von wenigen Oberpriestern gesehen werden. Er lebt vollkommen einsam und abgeschlossen von der Welt und von der Menschheit dort oben in sei nem Palast.« Sie passierten im langsamen Dahingehen eine Ne benstraße. Hal entdeckte etwa fünfzig Meter entfernt einen rotgekleideten Priester und sagte hastig: »So einen Rotmantel möchte ich mir einmal aus der Nähe ansehen. Ich komme gleich wieder.« »Vorsichtig!« warnte Sun Koh. »Benimm dich un auffällig. Ich werde hier warten.« Hal beeilte sich. Sun Koh betrachtete inzwischen müßig die Lehmhäuser, deren schmutzige Verwahr losung in schreiendem Gegensatz zur Majestät des Potala stand. Nach Minuten schreckte ihn wildes Geschrei hoch. Es drang aus der Gasse, in die Hal hineingelaufen war. Hal! Sun Koh warf sich herum und lief die wenigen Schritte zur Mündung der Gasse zurück. Sie war bereits voller Menschen. Von allen Seiten 122
und aus allen Hütten strömten sie schreiend und ru fend heran und verstopften die Gasse, so daß sich Sun Koh nicht mehr hindurchdrängen konnte. Besorgt reckte er sich. Irgend etwas ging am anderen Ende vor, aber es war nichts Genaues festzustellen. Nur viel Toben und Schreien. Doch jetzt ließen sich einzelne Rufe unter scheiden. »Schlagt ihn tot! Zertretet ihn!« Dann kam ein heller, verzweifelter Ruf: »Sir!« Gleich darauf knallte eine kurze Serie von Schüs sen. Hals Waffe! Hal befand sich in Not, und sie war im Handum drehen über ihn gekommen. Hal war an den Priester herangegangen und hatte ihn mit vorsichtigem Inter esse gemustert. Dann war ein Mann an den Priester herangetreten und hatte ihm etwas zugeflüstert. Der Priester hatte sich daraufhin nach Hal umgewandt, ihn gemustert und war dann herangekommen, das blanke Mißtrauen im Gesicht. »Wer bist du?« fragte er. Das reichte schon. Hal konnte und durfte nicht antworten. Er erriet den Sinn der Frage, aber er hätte den Priester allenfalls auf Englisch informieren kön nen. »Wer bist du?« wiederholte der Priester schärfer. Hal schwitzte und zog in seiner Not das blödeste 123
Gesicht, das er zusammenbringen konnte. Gleichzei tig stieß er einen Laut aus, der keiner Übersetzung bedurfte. »Hä?« Der Priester hatte schon zuviel Verdacht ge schöpft. Er packte Hal an der Schulter und wischte ihm mit der Hand über das Gesicht, so daß ein Teil der Farbe kleben blieb und Hals helle Haut zum Vor schein kam. Da war bei Hal Feierabend. »Na gute Nacht!« seufzte er, gab dem Priester ei nen Stoß und lief los. Er kam nicht weit. Mit dem Schrei des Priesters warfen sich einige Männer auf ihn, die geradezu darauf gewartet haben mußten. Hal wehrte sich mit Fausthieben ab und sprang zur anderen Seite, aber da füllte sich die Gas se blitzartig mit einer schreienden und tobenden Menge, die ihn von allen Seiten einschloß, auf ihn eindrängte und offensichtlich den Wunsch hegte, ihn bei lebendigem Leib zu zerreißen. Hal ging an die nächste Wand zurück. »Gib dich gefangen!« riet ihm der Priester, aber Hal verstand die Sprache nicht und teilte weiterhin Schläge aus. Freilich verhinderte selbst sein heller Optimismus nicht die Einsicht, daß seine Lage sehr bedenklich war. Seine einzige Hoffnung galt Sun Koh, der sich ja in der Nähe befand. 124
Wieder drängten sie zu Dutzenden gegen ihn an. Da schrie er. Und gleich darauf konnte er sich nicht mehr an ders helfen, als seine Waffe zu ziehen und zu schie ßen. Das verschaffte ihm für eine kleine Weile im Halbkreis herum leeren Raum, aber die Pause dauer te nicht lange, denn hinter den sich Stauenden dräng ten Hunderte von Neugierigen, die wohl nicht einmal wußten, was los war. Die Menge brandete wieder gegen ihn an und be grub ihn. Sun Koh brach wie ein stählerner Keil in die schiebende Menge ein, aber es nützte ihm nicht viel. Er durfte nicht seine volle Gewalt gebrauchen, um die Leute nicht stutzig zu machen. Es dauerte des halb für ihn unendlich lange Zeit, bevor er sich bis an das andere Ende der Gasse durchgedrängt hatte. Nichts verriet mehr, was geschehen war. Nur aus dem Mund der Umstehenden hörte er, was sich ereignet hatte. Ein Fremder, ein Ungläubiger, war in Stücke ge rissen worden! Sun Koh war unbeschreiblich zumute, als er die Unterhaltung um sich herum hörte. Er fand Blut, soweit die Lachen nicht zertreten waren, aber die Blutspuren liefen in einem Halbkreis und konnten wohl kaum von dem Jungen stammen, 125
der an der Wand gestanden hatte. Von Hal war nichts geblieben. Die Starre im Gesicht Sun Kohs löste sich etwas. So restlos konnte ein Zerfleischter kaum verschwin den. In der Tür des angrenzenden Hauses stand ein Mann und informierte eine Gruppe von Zuhörern noch einmal über die Ereignisse. Und plötzlich sagte er etwas, das Sun Koh aufhorchen ließ. »Nein, sie haben ihn nicht getötet. Der Priester wies die Männer zurück. Der Ungläubige sei ein Ge fangener des Dalai Lama und müßte lebendig vor Gericht gestellt werden. Da mußten die Männer von ihm ablassen und ihn fortführen.« »Diese verfluchten Ungläubigen!« sagte jemand in der Runde. Der Erzähler zog eine geheimnisvolle Miene. »Oh, nicht weil er ein Ungläubiger ist. Wir haben hier schon zu viele in der Stadt gehabt. Ich kann mir schon denken, warum er vor das Gericht der Priester gestellt werden soll. Wenn man so alles erzählen könnte…« »Stell dich nicht so an«, drängte einer der Zuhörer. Aber der Mann an der Haustür schüttelte den Kopf und sagte noch geheimnisvoller: »Mehr sage ich nicht. Macht euch doch selbst Gedanken darüber, warum seit heute die Wachen verdreifacht sind und niemand mehr aus der Stadt herausgelassen wird, 126
ohne gründlich untersucht zu werden. Oder vielleicht denkt ihr darüber nach, warum der Jo-kang heute ge sperrt ist. Vielleicht fällt euch dann ein, warum der Ungläubige am Leben bleiben sollte?« Hal lebte also noch. Er befand sich in der Gewalt der Priester oder des Dalai Lama. Und die Gefan gennahme stand im Zusammenhang mit den Ereig nissen, in denen der Jo-kang eine Rolle spielte. Hal lebte. Trotzdem sah es sehr, sehr böse aus. * Sun Koh wanderte durch die Straßen zum Jo-kang. Der Jo-kang war ein Tempel, der im allgemeinen den Tibetanern als ebenso heilig galt wie der Potala. Jener Erzähler in der Gasse hatte recht gehabt. Die schweren Tore des Jo-kang waren verschlossen. Sun Koh hielt sich eine Weile bei den Pilgern und den müßigen Einwohnern auf und lauschte ihren Ge sprächen. Später wanderte er um den Tempel herum und suchte nach einem anderen Eingang. Er fand endlich eine Stelle, die ihm passend er schien. Er schwang sich im Schutz der leeren Fassa de auf die Mauer hinauf. Oben angelangt, blickte er in einen der Tempelhöfe. Dort herrschte ein merk würdiges Durcheinander. Offenbar war es Sitte, die Opfergeschenke einfach zu stapeln, denn dort stan den in bunter Unordnung zahlreiche kleine und große 127
Buddha-Statuen, Opfergefäße und Butterlampen. Insgesamt wirkte der Hof ungepflegt, schmutzig und düster. Die Wände der anstehenden Gebäude waren zum Teil beschädigt. Die kleinen Kapellen wirkten unfreundlich und kalt. Die Wandmalereien waren abgeblättert und verschmiert. Sun Koh betrachtete alles in Ruhe, dann schwang er sich vorsichtig hinunter und eilte an der Wand ei nes Gebäudes entlang. Er wollte eben einen gewölbten Durchgang passie ren, als er näherkommende Schritte und Stimmen hörte. Er warf sich schnell nieder, preßte sich in die Ecke und deckte sich durch eine der zahlreichen Sta tuen. Zwei Priester schritten in geringer Entfernung vor bei. »Es lohnt sich kaum noch«, sagte der eine. »Die Nacht ist gleich da, und die Pilger sitzen bereits in den Gasthäusern.« »Es ist nun einmal befohlen, das Tor für die Nacht zu öffnen. Für die Nacht, nicht für den Tag.« »Hm, ich kann mir schon denken, warum«, mur melte der andere leise. »Aber ich sage dir, es ist zwecklos. Den einen hat man gefangen, aber die an deren sind über alle Berge.« »Hat man den Türkis und die anderen Steine bei ihm gefunden?« »Was weiß ich? Wenn man sie gefunden hätte, 128
wären sie wohl schon wieder bei uns im Tempel. Die Leute werden wahnsinnig, wenn sie das geschändete Heiligtum sehen. – Man sollte es nicht dazu kommen lassen. Es ist und bleibt eine Torheit, den Tempel wieder zu öffnen. Die Verbrecher, die ihn beraubt haben, kommen bestimmt nicht wieder.« »Bist du sicher, daß der Tempel deshalb geöffnet werden soll? Ich könnte mir denken, daß …« Die Stimmen verloren sich. Sun Koh wartete eine Weile, bis er annehmen konnte, daß die Priester ihre Pflicht getan hatten. Dann erhob er sich und schritt gelassen zwischen den Gebäuden hin. Er überquerte etwas später einen Hof, der von Ga lerien und Kolonnaden eingeschlossen wurde. Auf der Gegenseite befand sich hinter dem Säulengang eine fensterlose Mauer, die nur eine Tür besaß. Sun Koh trat ein. Er blieb gebannt stehen. Er stand in der Kapelle, in der die goldene Riesen statue des Buddha aufbewahrt wurde. Sun Koh trat langsam näher. Er konnte jetzt Einzelheiten unterscheiden. Das Standbild ruhte auf einem Thron, über dem ein von silbernen Drachen getragener, edelsteinbesetzter Baldachin schwebte. Der Prunk des Standbildes wirkte selbst bei diesem matten Licht fast schmer zend. Hals und Brust waren mit kostbaren Halsketten 129
geschmückt. Auf dem Kopf saß eine Krone, deren Wert selbst Sun Koh nicht zu schätzen wagte. Das Mittelblatt der Krone erregte die besondere Aufmerksamkeit Sun Kohs. Es war leer. Hier mußte jedoch wie auf den seitlichen Blättern der Krone ein Edelstein gesessen haben. Ein Stein, nicht mehrere! Aber was mußte das für ein Stein gewesen sein? – Nach der leeren Stelle mußte er eine Länge von sieb zehn und achtzehn Zentimetern und eine Breite von ungefähr neun Zentimeter besessen haben. Das forschende Auge Sun Kohs entdeckte jetzt noch andere Hinweise darauf, daß sich jemand an der Statue vergriffen hatte. Aus den Staubspuren allein schon ließ sich ablesen, daß sie gewöhnlich mehr Halsketten getragen hatte. Sun Koh wandte den Kopf und lauschte. Schritte! Er trat zurück und drückte sich in die dunkle Ni sche neben dem Eingang, in der ihn die tiefen Schat ten verbargen. Drei Männer traten nacheinander ein. Einer von ihnen kam ihm selbst im Halbdunkel be kannt vor. Kiang-schan! Die drei Männer bewegten sich wie Pilger. Sie kamen mit scheuen, leisen Schritten und warfen sich 130
zu Boden. Ihre Augen gingen jedoch wachsam prü fend im Heiligtum hin und her. Eine Weile lagen sie in der üblichen Stellung, dann zischte eine Stimme: »Alles in Ordnung. Los!« Wieder Kiang-schan! Jetzt drehte er den Kopf und blickte nach dem Eingang, um sich zu vergewissern, daß niemand kam. Dann erhob er sich und zog sich langsam in den Hintergrund zurück. Die beiden an deren sprangen schon bei seiner Aufforderung auf und eilten auf das Standbild zu. Sie rissen ihm die Ketten vom Hals und hieben mit Hämmern, die sie aus ihrer Kleidung zogen, auf die edelsteinbesetzten Kronenblätter ein. Was sie herunterholten, packten sie in Säcken, die sei bei sich trugen. Ein leiser Pfiff. Die Kerzen flackerten, als hätte sich eine Tür ge öffnet und als wäre damit Zugluft entstanden. Die beiden Räuber ließen von ihrer Arbeit ab und haste ten in den Hintergrund. Viel Zeit war nicht verflossen. Die Männer muß ten sich vorher alles genau überlegt haben und mit dem Tatort völlig vertraut sein. Für Sun Koh wurde es jetzt höchste Zeit einzugrei fen. Er brauchte diese Männer, um Hals Unschuld zu beweisen. Er sprang aus der Nische heraus. »Halt!« Einer der Flüchtenden wandte sich um, ohne ste hen zu bleiben. Und er schoß, ohne zu überlegen 131
oder genauer hinzusehen. – Die Kugel klatschte ir gendwo gegen die Mauer. Sun Koh schoß zurück. Einer der Männer stieß ei nen sonderbaren Laut aus, stolperte über die Altar stufen, brach zusammen und blieb liegen. Die beiden anderen hielten sich nicht auf, sondern verschwanden lautlos im Dunkel. Sekunden später beugte sich Sun Koh über den Gestürzten. Der Mann war tot, obgleich Sun Koh ihn nur hatte verwunden wollen. Zwischen Schuß und Treffer war eine kleine Zeitspanne vergangen, in der der Flüchtende eben eine Stufe höher geschnellt war. Dadurch hatte die Kugel Sun Kohs nicht seine Schul ter, sondern sein Herz erreicht. Das war Pech. Ein toter Mann spricht nicht mehr und kann keine Wahrheit bezeugen. Die beiden anderen waren bereits verschwunden. Die Steintür, die sie durchgelassen hatte, lag wieder in ihren Angeln, und Sun Koh konnte den Mecha nismus nicht schnell genug finden. Dabei war es höchste Zeit für ihn, ebenfalls zu verschwinden. Er sprang mit weiten, lautlosen Schritten zum Ausgang und erreichte ihn eben, als vier Pilger die Kapelle betreten wollten. Es gelang ihm noch recht zeitig, seine Bewegung zu hemmen. Er schritt an den Männern mit gesenktem Kopf vorbei, als käme er eben von seiner Andacht. 132
Dann beschleunigte er seine Schritte und schlän gelte sich zwischen den Buddha-Statuen hindurch. Als aus dem Tempel die ersten Schreie herausdran gen, hatte er bereits die jenseitige Ecke des Hofes erreicht. Er verschwand hinter der Mauer, eilte an der Wand entlang und erreichte einen anderen Tempel hof, passierte den Durchgang zum nächsten Hof und erreichte ungesehen das verfallene Lehmhaus, aus dem er gekommen war. Er erreichte gerade den Osteingang, als dort der Sturm losbrach. Das Gerücht von den Ereignissen war inzwischen aus dem Tempelbezirk herausge drungen, hatte sich blitzschnell verbreitet und peitschte die Menge auf, die sich immer dichter am Tor drängte. Sun Kohs Augen gingen über die zahl reichen Gesichter hin. Vielleicht konnte er die beiden entdecken, denen die Flucht gelungen war. Es würde Kiang-schan ähnlich sehen, sich dreist unter die Menge zu mischen. Er suchte jedoch vergeblich. Er konnte die beiden, nach denen er fahndete, nicht entdecken. Schließlich verzichtete er darauf, die Suche fortzu setzen. Die Nacht war schon weit vorgeschritten. Es wurde Zeit, sich um Hal zu kümmern.
133
6.
Sun Koh wußte, daß er alles auf eine Karte setzte, wenn er ins Potala eindrang. Die Priester würden ihn sicher töten, wenn sie ihn entdeckten. Die Nacht lag pechschwarz über der gewaltigen Residenz, als Sun Koh sein verwegenes Abenteuer begann. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß ihn niemand beobachtete, drang er in eins der verfallenen Lehm häuser am Fuße des Palastes ein. Er zog sich an den stehengebliebenen Pfeilern hoch und schwang sich auf die erste Stufe der gewaltigen, steil aufsteigenden Stützmauer, die wie die Rippe eines riesigen Untiers den Berg hinauf gegen die weiße Front stieg. Schon schnellte er sich auf die nächste Stufe hinauf, die vier Meter über ihm lag. Dann folgte der dritte Sprung, dann der vierte und so weiter. Achtzehn Stufen dieser Art überwand Sun Koh. Er war nichts als ein Schatten, der ruckend nach oben glitt. Dann stand er hoch über der Stadt unmittelbar vor der aufsteigenden weißen Front des Palastes, die noch zwanzig Meter senkrecht nach oben stieg. Seine Augen spähten nach einer Öffnung. Es gab zahlrei che Fenster in dieser Front, aber das allernächste lag zwei Meter höher und fast vier Meter seitwärts. Es ließ sich nur durch Springen oder Klettern erreichen. 134
Sun Koh entschied sich zu klettern. Er schnitt mit dem Messer seine Zehe frei. Dann begann er, sich mit Fingern und Zehen in die Unebenheiten der Wand zu verklammern, die sich nach oben zu leicht verjüngte. Sun Koh arbeitete sich mit äußerster Behutsamkeit voran. Hinter dem Fenster, das er erreichen wollte, konnte sich ein Mensch befinden, den er nicht alar mieren durfte. Abgesehen davon wäre ein Sturz aus dieser Höhe auf die Stadt hinunter wohl tödlich ver laufen. Er nahm sich Zeit, und die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Endlich konnte seine Hand in die Fensteröffnung hineingreifen, und endlich konnte er seinen Körper nachziehen. Aufatmend stand er in dem schwarzen Raum. Er lauschte, nahm aber keinen fremden Atem wahr. Dann wagte er es, einen feinen Lichtpfeil aus der Lampe herausschießen zu lassen. Der Raum war leer. Die Spinnweben hingen in Schleiern von den Decken herunter. Eine Tür war nicht vorhanden. Die Türöffnung führte direkt auf den Gang hinaus. Der Gang paßte zu dem Raum. Er sah genau so aus, als hätte sich seit Jahrzehnten kein Mensch mehr in ihm verlaufen. Sun Koh schritt lautlos voran. Er passierte rechts und links Dutzende von Kammern, die alle aufs Haar der ersten glichen und alle keine Türen besaßen. 135
Endlich fand er eine Treppe. Der eine Lauf führte nach oben, der andere nach unten. Nach unten? Sun Koh stutzte. Er war in der untersten Fensterreihe ein gedrungen. Weiter unten befanden sich keine Öff nungen in der Palastfront. Trotzdem führte hier eine Treppe hinunter. Dort unten mußte es also lichtlose Kammern geben. – Gefängnisse? Sun Koh stieg trotzdem nach oben. Er erreichte einen neuen Gang, der breiter und höher war. Er be saß statt der unzähligen Türöffnungen ebensoviel Türen. Im übrigen machte er jedoch den gleichen Eindruck von Unbewohntheit und Verwahrlosung wie der untere Gang. Menschen waren auch hier nicht zu entdecken. Sun Koh stieg noch weiter hinauf. Der dritte dieser imponierend langen Gänge unter schied sich von den anderen dadurch, daß er offen sichtlich häufig von Menschen benutzt wurde. Trotz dem wirkte er ebenfalls abstoßend und schmutzig. Sun Koh fand das befremdend. Er hatte sich das In nere der Potala doch wesentlich anders vorgestellt. Von dem, was den Jo-kang auszeichnete, war hier nichts wahrzunehmen. Hier gab es keine Schätze und keinen Schmuck, keine Statuen und keine mild bren nenden Lampen. Das scharfe Licht der Taschenlam pe zeigte nur Vernachlässigung und Schmutz. Der Gang war bewohnt. Hinter den Türen regte sich hier und dort etwas. 136
Sun Koh verließ den sicheren Schutz des Treppen hauses und drang in den Gang ein. Er verließ sich auf die Dunkelheit. Wenn wirklich jemand kam, so muß te dieser eine Butterlampe bei sich tragen, sich also selbst anzeigen. Das Licht würde zwar dann den Gang erhellen, aber Sun Koh hoffte, schnell genug eine Zuflucht finden zu können. Er lauschte bald an dieser, bald an jener Tür. Doch die Menschen schienen hinter den Türen zu schlafen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihn das Glück be günstigte. Eine der Türen wurde geöffnet. Ein Priester trat heraus. Seine linke Hand hielt eine Butterlampe, de ren Schein sich schnell in der Dunkelheit verlor. Sein Gewand glühte wie dunkles Blut auf. Sun Koh wollte gerade zurückgleiten, aber der Priester ging nach der entgegengesetzten Richtung. Nachdem er eine Reihe von Türen unbeachtet gelas sen hatte, öffnete er eine Tür und trat ein. Ein Zuruf durch die offene Tür verriet, daß sich bereits jemand in diesem Raum befand. Sun Koh beeilte sich, an jene Tür zu kommen. Tatsächlich – zwei Stimmen drangen durch sie hin durch. »Hast du ihn gesehen?« fragte die eine. »Wen?« »Den Ungläubigen. Du wolltest doch Ma-Tsiang fragen, ob du dir den Verbrecher ansehen darfst?« 137
»Ich habe ihn gesehen. Er ist noch jung. Nur diese Fremden können so jung sein und doch schon solche Verbrechen begehen.« »Was wird mit ihm?« »Der Dalai Lama will ihn heute nacht sehen. Mor gen wird er dann nach den Vorschriften getötet.« »Der Dalai Lama will ihn sehen? Hast du dich nicht geirrt?« »Sicher nicht.« »Aber – wenn der Blick eines Fremden auf den Heiligen fällt…« »Er wird nicht mehr darüber sprechen können.« »Wir alle wissen davon.« Der andere hüstelte. »Vielleicht sollen wir wissen, daß die Gottheit durch die Blicke eines Fremden angetastet wurde?« »Du meinst?« »Du verstehst sehr gut, was ich meine. Der Dalai Lama ist bereits vierundzwanzig Jähe alt und neigt dazu, eigene Wünsche zu haben. Für einige Leute ist das unbequem. Es ist seit vielen Jahrhunderten ange nehmer, einen Säugling als neuen Dalai Lama zu wählen und in seinem Namen zu regieren, bis er ei nen eigenen Willen besitzt. Und die Heiligen sind noch immer gestorben, als sie einen eigenen Willen hatten, und sie wurden durch einen neuen Dalai La ma ersetzt, der noch ein Säugling war.« »Sprich leiser!« zischte die andere Stimme. Sun 138
Koh zog sich zurück. Er wußte zwar immer noch nicht, wo Hal fest gehalten wurde, aber das Gespräch hatte ihm doch einen wichtigen Hinweis gegeben. Hal sollte noch in dieser Nacht dem Dalai Lama vorgeführt werden. Dieser aber wohnte in dem roten Mittelgebäude. Dort mußte Sun Koh versuchen, Hal abzufangen. Die Zeit war bereits vorgeschritten. Und es dauerte ziemlich lange, bevor Sun Koh den Zugang zum ro ten Mittelpalast gefunden hatte. Er geriet verschiedene Male in den Hof, der die Gebäude miteinander verband, aber dieser war erhellt und so bewacht, daß er lieber darauf verzichtete, ihn zu benutzen. Er entdeckte endlich, daß der seitliche Abschluß, den er für ein Randgebäude gehalten hatte, eine mehrstöckige Passage war, die den Hauptpalast mit den Priesterwohnungen verband. Leider befanden sich auch in ihm Wachen. Sun Koh beobachtete sie eine Weile, dann zog er sich zurück und stieg auf das goldene Dach des Frontpalastes hinauf. Von hier aus bot sich ein groß artiger Blick auf das nächtliche Lhassa und seine Umgebung, aber Sun Koh nahm sich keine Zeit, ihn zu genießen. Das Dach des Verbindungshauses inter essierte ihn ungleich stärker. Es lag ein Stück tiefer, aber es war leicht zu errei chen. Sun Koh hängte sich an die vorspringende Traufe und ließ sich fallen. Dann lauschte er, wäh 139
rend er flach angepreßt auf dem Dach lag. Da nichts darauf hindeutete, daß man ihn bemerkt hatte, wand er sich über das glatte Dach vorwärts. Er blieb dabei unten, um sich nicht gegen den Hinter grund abzuheben. Unbehelligt erreichte er die roten Mauern. Dies mal bereitete der Einstieg keine Schwierigkeiten, denn seine Hände erreichten die Sohlbank eines Fen sters. Er stieg mit aller Behutsamkeit ein. Dann stand er in einer Kammer, die zwar mit einer Tür versehen war, sonst aber genau jener glich, in die er zuerst eingestiegen war. Auch der Gang, den Sun Koh anschließend betrat, wirkte wie ein Duplikat. Menschen, die in solcher Umgebung dauernd lebten, mußten entweder die größten Banausen oder die größten Weisen sein. Sun Koh schüttelte sich angesichts der Verwahrlo sung und machte sich auf den Weg. Er fand die nach oben führende Treppe und stieg sie vorsichtig hinauf. In diesem Palast herrschte tödliche Stille, die sich wie ein weicher Sack voll Watte auf die Sinne legte. Man horte sich selbst. Unheimlich, diese Stille! Erst im fünften Stockwerk meldete der Instinkt Sun Kohs die Anwesenheit von Menschen. Irgendwo hinter den vielen Türen regte sich das Leben. Nach Minuten hatte Sun Koh die richtige Tür er mittelt. Er preßte eben sein Ohr an sie, als er hörte, 140
wie sich der Mensch dort drin erhob und durch den Raum ging. Er trat schnell einige Schritte zurück. Aber da ging die Tür schon auf. Eine Butterlampe erschien, an de ren Band Edelsteine aufglühten, dahinter ein purpur ner Rock… Sun Koh entschied sich blitzschnell. In der unmit telbaren Nähe gab es kein Versteck, und der Heraus tretende stand so, daß er ihn bemerken mußte, wenn er nicht gerade blind war. Andererseits gab es kein Anzeichen dafür, daß sich noch ein Dritter in der Nähe befand. Er huschte mit zwei Sprüngen wieder an die Tür heran und hielt dem heraustretenden Priester die Pi stole vor die Augen. »Keinen Laut, sonst schieße ich.« Der Priester zuckte zusammen und stand dann reg los. Seine Beherrschung war erstaunlich. »Was wünschen Sie?« fragte er ruhig und leise. Sun Koh wies mit dem Kopf in den Raum hinein. »Gehen Sie hinein.« Der Priester gehorchte widerspruchslos und ging in den Raum zurück. Sun Koh folgte ihm auf den Fersen. Einige Butterlampen erhellten den Raum mit ih rem weichen Licht. Er war überraschend groß, besaß fast die Ausmaße eines kleines Saals und schien eine Art Studierraum zu sein. An den Wänden befanden 141
sich Regale, in denen Pergamentrollen lagen, deren Geruch den Raum erfüllten. Das Gesicht des Priesters war schmal. Die Bak kenknochen traten kräftig heraus. Die Lippen lagen blutleer aufeinander. Jetzt wies er sogar mit einer Andeutung von Höf lichkeit auf die Schemel, die an dem großen Tisch standen. Sun Koh verzichtete jedoch. »Danke. Ich habe keine Zeit, mich aufzuhalten. Sie werden mir einige Fragen beantworten müssen. Ich verlasse Sie dann wieder, wenn ich Sie auch um meiner Sicherheit willen fesseln muß. Sonst wird Ih nen nichts geschehen, wenn Sie mir die Auskünfte geben, die ich benötige.« »Ich fürchte nicht, daß mir etwas zustoßen könn te«, antwortete der Priester gelassen. Sun Koh fixierte ihn und lächelte kalt. »Sie würden es lernen, sich zu fürchten.« Eine Spur von Neugier erschien im Gesicht des Priesters. »Man lernt selten das, was man bereits überwun den hat. Aber sagen Sie trotzdem, warum Sie hier eingedrungen sind und was Sie von mir wissen wol len.« »Gestern nacht wurde das Standbild Buddhas im Tempel Jo-kang beraubt. Die Täter entkamen uner kannt. Heute mittag wurde mein Begleiter, ein junger Engländer, wegen dieser Tat gefangen genommen 142
und hierher geführt. Vermutlich verriet er sich zufäl lig durch seine Sprache als Fremder und kam deshalb in Verdacht. Doch er ist völlig unschuldig.« »Das sagen Sie«, erwiderte der Priester. »Der Tempel wurde vor wenigen Stunden zum zweitenmal beraubt. Zu dieser Zeit wurde mein Be gleiter schon hier festgehalten. Das sollte zeigen, daß er mit dem Raub nichts zu tun hat.« Die Lippen des Priesters verzogen sich eine Klei nigkeit. »Das ist eine törichte Beweisführung, denn es feh len ihr alle Voraussetzungen eines Beweises. Im üb rigen ist es nicht nötig, Schuld oder Unschuld zu be weisen. Jeder, gegen den auch nur der geringste Ver dacht entsteht, wird durch das Gericht der Priester verurteilt und getötet.« »Warum das?« seufzte Sun Koh. »Wird ein sol cher Diebstahl als Tempelschändung und religiöses Vergehen bestraft? Selbst für Tibet wäre es unge wöhnlich, jede normale Gerichtsbarkeit auszuschal ten und einen Verdächtigen ohne Beweis zum Tode zu verurteilen.« »Es ist beschlossen worden«, teilte der Priester ausdruckslos mit. »Tibet ist seit Jahren von einer Räuberbande heimgesucht. Sie plündert die einsamen Klöster, schreckt aber auch nicht davor zurück, den Tempel Jo-kang zu berauben. Wir konnten die Räu ber bisher nicht fangen. Es sind nicht viele, und sie 143
sind sehr geschickt. Sicher ist jedoch, daß es sich nicht um Tibetaner handelt, sondern um Fremde, um Männer, die Englisch sprechen. Sie tauchen plötzlich irgendwo auf und verschwinden wieder spurlos. Vermutlich benutzen sie ein Flugzeug. Ist dabei ir gend etwas, daß auf Ihren Begleiter oder Sie nicht zutrifft?« »Wir sind keine Räuber.« »Kamen Sie, um mir das zu sagen?« »Ich kam, um meinen Begleiter aus dem Gefäng nis herauszuholen.« »In diesem Haus gibt es keine Gefängnisse.« »Vielleicht jedoch nebenan«, erwiderte Sun Koh. »Ich hörte, daß der Gefangene vor den Dalai Lama geführt werden soll. Der Dalai Lama wohnt in die sem Haus.« »Ich verstehe. Und was erwarten Sie von mir?« »Sie sollen mir sagen, wo sich die Räume des Da lai Lama befinden und auf welchem Weg der Junge dorthin geführt wird.« Wieder verzogen sich die Lippen des Priesters ei ne Kleinigkeit. »Der Dalai Lama wohnt hier.« »Sie sind der Dalai Lama?« »Ja.« Sun Koh lächelte grimmig. »Ausgezeichnet. Ich kann also hier warten. Wann wird der Gefangene zu Ihnen gebracht?« 144
»Er war bereits hier.« Sun Koh schaute ihn forschend an. Das konnte auch eine Lüge sein. Leider verriet das verschlossene Gesicht vor ihm nichts. »Er war bereits hier?« sagte er nachdenklich. »Nun gut, dann muß ich meinen Plan ändern. Wenn ich ihn hier nicht befreien kann, muß ich ihn aus sei nem Gefängnis herausholen.« »Warum?« Das war keine naive Frage. Hinter ihr stand viel mehr das tiefe Erstaunen eines Mannes, für den die Handlungsweise des anderen nicht verständlich war. Sun Koh begriff es und antwortete deshalb ganz sachlich. »Er ist unschuldig und soll deshalb nicht sterben.« »Wer unschuldig stirbt, kürzt die Bahn seiner Wandlung ab und geht schneller ins Nirwana ein.« Sun Koh zuckte mit den Schultern. »Das ist Ihr Glaube. Mein Glaube ist anders. Der Junge soll jedenfalls nicht sterben. Lassen Sie ihn frei. Es liegt in Ihrer Macht, einen Unschuldigen frei zulassen.« Der Dalai Lama deutete ein Kopf schütteln an. »Selbst wenn er unschuldig wäre, müßte er ster ben.« »Warum?« »Er hat mich gesehen.« »Er wird es vergessen.« 145
»Das ändert nichts.« Sun Kohs Brauen zogen sich drohend zusammen. »Das ist Geschwätz. Sie wollen nicht.« »Ich darf nicht. Unsere Vorschriften sind streng.« »Nun gut, dann nehmen Sie an, daß ich in meinem Land ebenso heilig bin wie Sie, und daß nach unse ren Vorschriften ebenfalls jeder Ungläubige sterben muß, der mich gesehen hat. Sie haben mich gesehen und müssen deshalb sterben. Ihr Tod ist unabänder lich, es sei denn, daß wir Ihr Leben gegen das meines Begleiters austauschen.« Auf den Lippen des Dalai Lama erschien eine Spur von Lächeln. »Ich verstehe. Es macht keinen Unterschied, ob Vorschriften existieren oder gerade erfunden wer den.« »Und?« »Ich bin bereit, den Tausch anzunehmen«, sagte der Dalai Lama. Sun Koh atmete auf. »Das ist vernünftig. Ich frage mich jedoch, wie Sie ihn arrangieren wollen, ohne daß mein Leben und das meines Begleiters gefährdet wird.« Der Dalai Lama blickte ausdruckslos vor sich hin. Er hätte ebensogut über das Seelenleben einer Fliege nachdenken können. »Es ist nicht leicht, einen Gefangenen aus dem Po tala herauszubringen. Meine Befehle gelten nicht 146
immer. Sie müssen auch damit rechnen, daß die Prie ster sie mißverstehen und Sie trotzdem festhalten.« »Eben das befürchte ich.« Der Dalai Lama trainierte wieder auf Standbild. Es dauerte eine ganze Weile, bevor er sagte: »Es ist bes ser, wenn ich keine Befehle gebe und wenn niemand von Ihrer Anwesenheit erfährt. Wenn Sie in den Pa last unbemerkt hineinkommen, werden Sie ihn zu sammen mit dem Gefangenen auch wieder unbe merkt verlassen können.« »Möglich. Wo befindet sich mein Begleiter?« »Der Gefangene befindet sich im Haus der Prie ster«, sagte der Dalai Lama. »Das ist das Haus, das sich auf dieser Seite meines Hauses befindet. Es ent hält im untersten Geschoß einige verschlossene Kammern. Ich kann Ihnen nur nicht sagen, in wel cher von ihnen er verwahrt wird. Das müssen Sie schon selbst herausfinden.« »Wie gelange ich dorthin?« »Es gibt eine Verbindung zwischen den beiden Häusern. Sie liegt zwei Geschosse tiefer und beginnt am Ende des Ganges. Dieser biegt dort ab und setzt sich ein Stück innerhalb der Zwischenmauer fort, bis er auf den Gang des Priesterhauses mündet.« »Welche Wachen?« »Keine auf dem beschriebenen Weg. Die Wachen stehen erst an den unteren Ausgängen des Priester hauses. Ich muß es Ihnen überlassen durch sie hin 147
durchzukommen.« »Gut, das will ich übernehmen. Ich hoffe jedoch, daß Ihre Angaben richtig sind. Ich würde Sie sonst zur Verantwortung ziehen.« »Meine Angaben sind richtig«, parierte der Dalai Lama gleichgültig. Sun Kohs Augen gingen noch einmal forschend über das Gesicht des Priesters. Es war von der glei chen ruhigen Starrheit wie zu Anfang und verriet nichts. Es ließ sich nicht sagen, was hinter dieser Maske vor sich ging. Es war ein Risiko, mit ihm einen Handel abzu schließen, aber das Risiko mußte wohl gewagt wer den. Sun Koh verneigte sich. »Es wird mir eine unvergeßliche Erinnerung sein, mit dem Dalai Lama unter vier Augen gesprochen zu haben. Leben Sie wohl.« Der Dalai Lama verneigte sich ebenfalls. Sun Koh ging hinaus. Zwei Stockwerke tiefer entdeckte er tatsächlich am Ende des Ganges den Knick, von dem der Dalai Lama gesprochen hatte. Das beruhigte, denn es be wies, daß sich der Dalai Lama an die Wahrheit gehalten hatte. Im übrigen blieb das Haus ruhig. Er hielt also auch sein Versprechen, keinen Alarm zu schlagen. Nach einigen Metern bog der Gang in die ur 148
sprüngliche Richtung ein und knickte dann abermals um. Jetzt kam das Stück, das in der Mauer zwischen den beiden Gebäuden verlief. Sun Koh sah auf der anderen Seite bereits wieder die Mündung des Hauptgangs, als plötzlich der Bo den unter seinen Füßen wich. Fast in der ganzen Breite des Ganges senkten sich auf eine Länge von mehreren Metern die Platten, mit denen der Fußbo den belegt war. Das kam so plötzlich und Sun Koh war so wenig darauf vorbereitet, daß er den entscheidenden Au genblick verpaßte. Trotz seiner schnellen Reaktions fähigkeit gelang es ihm nicht mehr, die Oberkante der Fallgrube zu fassen und sich festzuhalten. Er griff nur noch in die Seitenwände, und sie waren zu glatt, um einen Halt zu bieten. Er stürzte. Fünf Meter. Zehn Meter. Dann schlug sein Körper hart auf. Kurze Zeit lag Sun Koh leicht benommen, dann richtete er sich auf. Das Licht seiner Lampe glitt über die Wände eines Gefängnisses. Deshalb also war der Dalai Lama so bereitwillig gewesen. Er hatte gewußt, was dem Eindringling wi derfahren würde. »Immerhin – er war nicht allwissend.«
149
*
Nimba lag behaglich auf dem Rücken, die Atme un ter dem Kopf verschränkt. Er genoß die träumerische Ruhe. Gelegentlich blinzelte er zu dem weißen Gip fel des Nien-tschien-tangla hinüber. Sun Koh und Hal befanden sich nun schon seit zwei Tagen in Lhassa. Wer weiß, wann sie zurück kamen. Plötzlich ruckte er auf und schüttelte den Kopf. Er lauschte, setzte sich vollends auf, schüttelte abermals den Kopf und griff dann hastig in seine Ta sche. Die Sprechdose! Im nächsten Augenblick hatte er sie am Ohr und meldete sich. Weit aus der Ferne sprach Sun Koh. Zwischen dem riesigen Neger in der nächtlichen Einsamkeit des Gebirges und dem schlanken Jüng ling in seinem steinernen Grab flogen die Worte hin und her. Das Gespräch dauerte lange. Endlich schloß Nimba ab. »Alles verstanden, Sir. Ich fliege sofort.« Minuten später hob sich die Maschine vom Boden ab. Eine halbe Stunde später schwebte der metallische Vogel über dem Potala. Langsam und völlig ge räuschlos senkte er sich auf das höchste Dach des 150
ganzen Palastes nieder, auf das Dach des roten Mit telgebäudes. Sun Koh hatte ihm eine genaue Beschreibung ge geben, so daß er ohne Schwierigkeit das tieferliegen de Geschoß erreichte, in dem der Dalai Lama wohn te. Er fand ihn nicht in dem großen Raum, in dem Sun Koh mit ihm verhandelt hatte, wohl aber in ei nem der Nebenräume. Er schlief. Nimba drang in das Schlafzimmer ein und leuchte te mit seiner Lampe den schlafenden Priester an. Dieser schreckte unter dem hellen Licht hoch. Nimba ließ ihm keine Möglichkeit, Alarm zu schlagen. Als jener die Augen öffnete, stand er schon dicht neben ihm und drohte: »Keinen Laut, sonst…« Der Dalai Lama machte eine abwehrende Bewe gung und fragte: »Was wollen Sie? Wer sind Sie? Wie kommen Sie…« Nimba verstand ihn auch nicht, und er legte nicht den geringsten Wert darauf, daß der Dala Lama ins Sprechen kam. Da er das dem Priester ohnehin nicht erklären konnte, tippte er ihn mit seiner Faust leicht gegen die Schläfe. Das genügte. Der Kopf des Dalai Lama sank zur Seite, und der Dalai Lama vergaß vorläufig alle Weisheiten und Erleuchtungen seiner Religion ebenso wie die kleinen Nöte des Daseins. Nimba warf sich den Bewußtlosen über die Schul ter und setzte seinen Weg fort. 151
Ohne einem Menschen zu begegnen oder irgendwie gestört zu werden, erreichte er das Gangstück in der Mauer, unter dem Sun Koh begraben lag. Nun aber begannen seine Schwierigkeiten. Die Falltür gab an keiner Stelle nach. Ein Mecha nismus war nicht zu entdecken. Ein Gespräch mit Sun Koh, das wieder mit Hilfe der Sprechdosen geführt wurde, verständigte ihn. »Suche jetzt nicht weiter«, ordnete Sun Koh an. »Hole zunächst Hal heraus. Das ist das Wichtigste. Wenn einmal der Tag anbricht, dürfte es schwer fal len, an ihn heranzukommen. Hast du ihn aber in dei nem Schutz, so werden sie ihm so leicht nichts anha ben können. Sollte ich nicht inzwischen frei kom men, kann der Dalai Lama dir dann den Mechanis mus immer noch zeigen.« »Soll ich ihn mitnehmen?« »Nimm ihn mit. In letzter Not kann er immer noch als Deckung dienen. Versuche also, Hal zu finden. Ich denke, daß die Angaben des Dalai Lama über sein Gefängnis richtig gewesen sind.« »Gut, Sir«, sagte Nimba und zog mit seiner wert vollen Last weiter. Endlich stand er im untersten Geschoß. Es war kinderleicht, die richtige Tür zu finden. Der Boden war so dick mit Staub bedeckt, daß sich die Schritte darauf abzeichneten. Und von der Treppe aus lief eine frische, viel begangene Spur direkt auf eine der 152
schweren Holztüren zu. Nimba klopfte vorsichtig an und rief dann: »Hal?« »Hä?« kam es schlaftrunken von innen. »Was ist denn? Wer ist draußen?« »Der Weihnachtsmann«, brummte Nimba. Er hörte, wie Hal aufsprang und zur Tür kam. »Nimba?« »Ja. Ich werde dich gleich herausholen.« Nimba schob die beiden Riegel zurück, packte dann das Schloß mit beiden Händen und riß es mit einem einzigen Ruck herunter. Hal war frei. Nachdem er Nimba dankbar die Hand gedrückt hatte, beugte er sich über die am Boden liegende Ge stalt. Der Anblick nahm ihm fast den Atem. »Mensch!« flüsterte er. »Das ist doch die große Heiligkeit. Wo hast du denn den geschnappt?« »Auch aus dem Schlaf geholt«, erklärte Nimba. »Wo ist Sun Koh?« Nimba warf den Priester wieder über seine Schul ter. »Er ist in ein Loch gefallen, als er dich herausho len wollte. Der Kerl hier hat ihm eine Falle gestellt. Ich konnte sie noch nicht öffnen, aber ich denke, wir werden es schon schaffen.« »Werden wir«, bestätigte Hal. Sie wanderten gemeinsam durch Gänge und über 153
Treppen zurück, bis sie wieder die Stelle erreicht hat ten, unter der Sun Koh gefangen war. Sie suchten erneut nach dem Mechanismus, aber sie konnten ihn auch jetzt nicht finden. Allmählich kam der Dalai Lama wieder zu sich. Er stierte höchst unphilosophisch, als er erkannte, in welcher Gesellschaft er sich befand und in welchen Teil seines Palastes er geraten war. Nimba nahm ihn wie ein kleines Kind vor sich hin, wies mit dem Finger nach unten, hielt ihm seine rie sige Faust unter die Nase und sagte grollend: »Du wirst uns jetzt schleunigst verraten, wie man dieses Versteck öffnet, sonst gebe ich dir einen Schlag, daß du dich für ein Wandgemälde hältst. Raus mit der Sprache, gelber Mann, sonst geht es dir dreckig.« Der Dalai Lama hatte seine ausdruckslose Gelas senheit wiedergefunden. Er schüttelte nur den Kopf. Daraufhin schüttelte Nimba den Dalai Lama. Da er ihn vorn an seinem Schlafrock hielt, ging der Schlaf rock dabei in Fetzen, so daß der Dalai Lama erheb lich an äußerer Würde verlor. Dafür wurde er menschlicher, und Hal bemerkte spitz: »Pfui Teufel, der könnte sich auch mal wieder baden.« Nimba packte den Dalai Lama jetzt beim Arm und schüttelte weiter. »Wo ist der Mechanismus? Wie öffnet sich die Falle?« Hal legte ihm die Hand auf den Arm. 154
»Das hat keinen Zweck, Nimba. Er versteht dich nicht.« »Er will mich nicht verstehen.« »Gib mir deine Sprechdose. Ich will mit Sun Koh sprechen.« »Wo hast du denn deine?« fragte Nimba, während er in die Tasche griff. »Die haben sie mir abgenommen. Wenn ich sie gehabt hätte, hätte ich mich schon längst mit Sun Koh in Verbindung gesetzt. Das war doch gerade das Schlimmste, daß ich keine Ahnung hatte, ob er wuß te, was passiert war.« Sun Koh meldete sich, und Hal berichtete über die Situation. »Das werden wir gleich haben«, beruhigte Sun Koh. »Ich spreche dir die Sätze tibetanisch vor, und du sprichst sie nach Gehör nach.« Die umgekehrte Dolmetscherei begann. Doch das half nicht viel. »Öffne den Boden!« befahl Hal. Der Dalai Lama starrte ihn finster und verschlos sen an. Seine Augen waren nicht viel mehr als schmale Schlitze. Er sah jetzt nicht weise, sondern eher verschlagen aus. »Öffne den Boden«, bedeutete ihm Hal abermals. Der Dalai Lama schielte nach rechts und nach links, als suchte er nach einem Fluchtweg. Die Auf merksamkeit der beiden nahm ihm aber jede Hoff 155
nung. Er nickte schließlich und bedeutete Hal und Nimba, ein Stück zurückzutreten. Er selbst ging ebenfalls zurück, trat aber dicht an die Wand. Er überzeugte sich, daß die beiden dort standen, wo er sie hingewiesen hatte, dann tastete seine Hand an der Wand entlang. Sie beobachteten ihn sehr aufmerksam, weil sie er fahren wollten, wo sich der Mechanismus befand. Darüber vernachlässigten sie sich selbst. Plötzlich wich der Boden unter ihnen. Es war nicht das gleiche Stück Boden, das unter Sun Koh gewi chen war. Zwei Fallgruben lagen dicht nebeneinan der. Als ihre Füße den Halt verloren, verzerrte sich das Gesicht des Dalai Lama zu einem dünnen, höhni schen Lächeln. Er selbst stand auf einem schmalen Sims, der dicht an der Wand entlang lief. Den beiden erging es ganz ähnlich wie Sun Koh. Das Loch war zu groß, und der Sturz kam zu schnell. Immerhin zeigte Hal, wie kurz seine Reaktionszeit war. Im Augenblick, da der Boden unter ihm wich, stieß er sich von Nimba ab. – Die Bodenplatten ga ben keinen Halt mehr, wohl aber die massige Figur des Negers. Es reichte aus, um ein Stück wegzufe dern und im Sprung den einen Knöchel des Dalai Lama zu erwischen. Der Priester, der selbst nicht viel festen Boden unter sich hatte, verlor sofort den Halt. Seine Beine knickten ein, sein Körper rutschte schräg 156
gegen die Wand, und dann sauste er hinter Hal her in die schwarze Tiefe. Nach sechs Metern schlugen die Körper auf. Den Dalai Lama traf es am schlechtesten. »Glücklich gelandet!« knurrte Nimba. »Dagegen hilft Ruhe am besten. Laß ihn liegen. Wir müssen erst einmal aus dem Loch heraus.« Hal schielte nach oben. »Fang an, Großer. Ich komme nach.« Sie musterten ihre Umgebung. Die Wände stiegen sechs Meter hoch. Sie waren senkrecht, glatt und oh ne Halt. Tröstlich wirkte, daß die Öffnung über den Köpfen geblieben war. Die Bodenplatten hatten sich nicht wieder geschlossen. Es dauerte nicht lange, da ertönten oben im Gang Schritte. Ein Ausruf drückte Erstaunen aus, dann wurde in der Öffnung ein Kopf sichtbar. Hal und Nimba verhielten sich still. Der Mann dort oben konnte nur ein Priester sein, war also ein Feind. Dieser konnte in der tiefen Dunkelheit bestimmt nichts sehen. Er murmelte nach einer Weile etwas vor sich hin und verschwand. »In einigen Minuten haben wir den ganzen Verein auf dem Hals«, prophezeite Hal. Sie konnten Sun Koh gerade noch verständigen, dann erschienen auch schon auf beiden Seiten der 157
Öffnung Köpfe, die neugierig in die Tiefe starrten. »Achtung, auffangen!« schrie Hal auf Tibetanisch, wie er es eben von Sun Koh gehört hatte. Gleichzeitig warf Nimba das Seil, das er bisher über die Schulter getragen hatte, nach oben. Es fuhr in die Neugierigen hinein und verfing sich irgendwie zwischen ihnen. Wahrscheinlich griffen sie unwill kürlich zu. Das Seil straffte sich jedenfalls. Hal hing schon daran und kletterte mit affenartiger Geschwindigkeit nach oben. Er kam bis auf zwei Meter an die Oberkante heran. Dann brachte jemand Licht in den Gang, und der Schein einer Butterlampe fiel auf ihn. Er schaffte noch einen Meter mehr, dann schrien aber die Prie ster in Verwunderung und Empörung auf und ließen das Seil los, als wäre es eine giftige Schlange. Die Priester waren nun doch neugierig. Sie ließen mit Hilfe eines Stocks und einer Schnur eine Lampe herunter, deren Schein die Wände gelblich aufhellte. Sie brachten sie weit genug herunter, so daß sie den Dalai Lama erkennen konnten. Oben setzte eine er regte Debatte ein. Hal und Nimba ließen sich ebenfalls sehen. Jetzt rief einer der Priester herunter, aber sie ver standen nicht, was er sagte. Der Sprecher der Priester versuchte es wiederholt, aber es kam keine Unterhaltung zustande. Dann ver schwanden oben die Köpfe, obgleich die sonstigen 158
Geräusche verrieten, daß sich noch mehr Menschen im Gang bewegten. Plötzlich riß Nimba den Jungen an die Wand zu rück. »Achtung, Gewehrläufe!« Hal drückte sich schleunigst gegen die Wand. Die Läufe hatten nicht die richtige Richtung, aber die Helden dahinter schossen trotzdem ins Dunkle hin ein. Wahrscheinlich hofften sie, sich einschießen zu können. Eine ganze Salve schmetterte mit ohrenbetäuben dem Krach in die Fallgrube hinein. Hal und Nimba antworteten eine Winzigkeit spä ter. Sie besaßen gegen den hellen Gang gute Ziele, und auf so geringe Entfernung war es unmöglich, nicht zu treffen. Die Leute oben schossen nicht wieder. Viele Sekunden lang herrschte tödliche Stille. Dann gingen viele Stimmen wild durcheinander. Noch etwas später wurden die Ränder der Grube frei. Auch die Gewehrläufe verschwanden. Der Plattenboden schwenkte mit hartem Knirschen in die Öffnung ein und verschloß sie. Aus! Sie befanden sich nun alle drei in einer praktisch aussichtslosen Lage. Es blieb ihnen nichts übrig, als abzuwarten, was geschehen würde. 159
Die Stunden vergingen. Der Dalai Lama erwachte aus seiner Betäubung. Er begriff wohl, ohne erst zu fragen. Er schleppte sich an die Seitenwand und hockte sich dort nieder, offensichtlich geneigt, sich mit seinem Schicksal ab zufinden. Stunde um Stunde verging. Sie schliefen ein und wurden wieder munter, ohne daß sich etwas verän dert hatte. »Also so geht das nicht!« sagte Hal gereizt. »Wir müssen hier heraus!« »Erst können«, knurrte Nimba verdrossen. »Es gibt keinen Weg.« Hal wies nach oben. »Dann müssen wir uns eben einen schaffen. Wir haben unsere Messer. Wenn ich mich auf dich stelle, sind wir schon ungefähr drei Meter hoch. Vielleicht kann ich eine brauchbare Stufe aus dem Stein he raushauen.« Nimba überlegte sich das, dann stand er auf und leuchtete die Wand ab. »Hm, das könnte gehen«, gab er zu. »Das ist noch lange kein Eisenbeton, sondern Fels mit Lehm ge bunden. Mit dem Messer müßte sich allerlei machen lassen.« »Also los.« Nimba wollte Hal eben auf die Schultern nehmen, als sich oben knirschend die Plattendecke öffnete. 160
Sie sprangen zurück und griffen nach ihren Pistolen. Im nächsten Augenblick schrien sie vor Freude auf. »Sir!« Dann angelten sie nach dem Seil, das Sun Koh he runterwarf. Minuten später standen sie mit dem Dalai Lama, den Nimba auf den Rücken genommen hatte, oben im Gang. Seine Heiligkeit blieb auf den eigenen Bei nen, fühlte sich aber bestimmt nicht wohl. Er senkte sogar den Kopf, als ihn Sun Kohs Blick traf. »Sir, wie haben Sie es geschafft?« fragte Hal neu gierig. »Zwischen den Steinen ließen sich Fugen auskrat zen«, sagte Sun Koh gleichgültig. »Es war mühsam, aber nicht unmöglich, nach oben zu kommen.« »Gott sei Dank!« murmelten seine beiden Beglei ter. »Vorwärts!« befahl Sun Koh. »Wir müssen vor al lem feststellen, ob sich das Flugzeug noch auf dem Dach befindet. Nimm den Dalai Lama mit.« Sie wanderten durch die Gänge und über die Trep pen, ohne aufgehalten zu werden. Der Potala lag schon wieder im Schlaf, nachdem ein Tag vergangen war. Sie fanden das Flugzeug unversehrt auf dem Dach. Der Potala lag wie ein schwarzer, toter Block, als sich das Flugzeug in die Luft hob. Der Dalai Lama blieb als einsamer Schatten zurück. Die dunklen 161
Mauern und die kahlen Fensterausschnitte verrieten nichts von den Leidenschaften der Priester, die dort unten in den Räumen hockten. Die Stadt Lhassa, von der hier und dort nur ein verlorenes Licht zu sehen war, duckte sich wie in Anbetung vor den gewaltigen Mauern.
162
7.
Tschak-Sam ist eins der schmierigsten Drecknester der Welt. Der Schmutz und die Verwahrlosung ha ben dort einen geradezu unglaublichen Grad erreicht. Trotzdem ist der Ort einer der wichtigsten Knoten punkte des Verkehrs von Tibet, so wie er es schon vor fünfhundert Jahren war, als Tang-Tong die große Brücke an eisernen Ketten aufhängen ließ. Hier kreu zen sich die Wege. Sie führen entweder nordwärts zu dem sechzig Kilometer entfernten Lhassa oder ost wärts nach Schigatse, der politischen und wirtschaftlichen Hauptstadt des Landes. Dalai Lama und Taschi Lama sind seit Jahrhun derten Rivalen. Es gibt Spannungen zwischen ihnen, die gelegentlich so deutlich offenbar werden, daß der Taschi Lama als politischer Gegenspieler des Dalai Lama auftritt. Durch die Gassen von Taschi-Lhumpo, deren Häuser von den vergoldeten Dächern prachtstrotzender Tempel überragt wurden, schritt Sun Koh. Neben ihm ging wie gewöhnlich Hal Mervin. An einem kleinen Platz, der sich an einer Straßen ecke ausbuchtete, gesellten sie sich zu einer Schar Männer, die im Halbkreis auf der Erde hockten. Im Mittelpunkt saß an der Wand ein Mann, dessen Klei dung auf einen Bettler und dessen Gesicht auf einen 163
Asketen schließen ließ. Er war einer der halbpriester lichen Erzähler, wie man sie häufig in orientalischen Ländern trifft. Hal Mervin sah zu Sun Koh auf und bemerkte, daß dieser mit angespannter Aufmerksamkeit in eine be stimmte Richtung blickte. Er folgte ihr und entdeckte ein Gesicht, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Er wagte jedoch nicht zu fragen, um sich nicht durch seine Sprache zu verraten. Seine Geduld wurde auf keine lange Probe ge stellt. Das schmutzige Gesicht wandte sich ab. Gleich darauf schritt Sun Koh weiter. Als er aus der Runde herauswar, sagte er leise zu Hal: »Einer der Männer, die in Lhassa den Jo-kang beraubten. Er ge hört zu Kiang-schan.« Hal stieß einen leisen Pfiff aus. Sun Koh bedeutete ihm mit einer Geste, zu schweigen. Sie waren eben in eine Pilgerschar hi neingeraten, die man besser nicht durch die englische Sprache rebellisch machte. Außerdem brauchte Sun Koh jetzt seine Aufmerksamkeit, um den Mann, dem er folgte, nicht aus den Augen zu verlieren. Der Mann wollte offenbar verschwinden. Obgleich er sich ruhig und unauffällig bewegte, ging aus sei nem gelegentlichen plötzlichen Umwenden und aus seiner Art, um die Ecken zu gehen doch hervor, daß er von der Verfolgung wußte. Sun Koh war nicht so leicht abzuschütteln. 164
Nach einer halben Stunde hatte es der Mann satt. Er lehnte sich an die Wand eines Hauses, kreuzte die Arme über der Brust und stellte sich unbeteiligt. Sun Koh blieb vor ihm stehen und musterte auf merksam das Gesicht des Mannes, der ihn mit wü tenden Augen anstarrte. »Es ist vernünftig von Ihnen, endlich eine Unter haltung möglich zu machen«, sagte Sun Koh. Der Fremde reagierte mit einer heftigen Bewegung. »Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu sprechen hätten«, erwiderte er ärgerlich in fließendem Tibeta nisch. »Was fällt Ihnen überhaupt ein, mich zu ver folgen?« »Ich wollte mit Ihnen sprechen«, antwortete Sun Koh gelassen. »Übrigens können wir uns auch eng lisch unterhalten, aber wir nehmen wohl besser Rück sicht auf unsere Umgebung. Sie sind kein Tibetaner.« Der andere versteifte sich merklich. »Ach? Und Sie?« »Auch nicht.« »Und woher wollen Sie wissen, daß ich kein Tibe taner bin?« »Aus Lhassa.« »Ach?« Der Mann schwieg eine Weile, dann sagte er grimmig: »Also doch! Sie sind dieser Fremde, von dem – hm, also der Mann aus Lhassa? Sie sind uns von dort gefolgt?« »Ja.« 165
»Und was wollen Sie?« Sun Koh machte eine Geste mit seiner Hand. »Gehen wir ein Stück die Gasse hinunter. Dort kann man uns weniger belauschen.« Der Mann widersprach nicht. Er schloß sich schweigend an. Erst als sie am toten Ende der Gasse angekommen waren, nahm er wieder einen Anlauf und fragte schroff: »Also was wollen Sie?« Sun Koh fixierte ihn. »Sie haben den Jo-kang in Lhassa beraubt.« »Das müßten Sie beweisen.« »Ich lege keinen Wert darauf. Mir genügt, was ich sah.« »Was Sie sahen? Sie sind also wirklich der Mann, der…« Sun Koh nickte. »Sprechen Sie es getrost aus. Ich sah die drei Männer, die den Jo-kang beraubten. Den einen woll te ich aufhalten, aber unglücklicherweise traf ich ihn tödlich.« Das Gesicht des anderen verzerrte sich. »Das werde ich eines Tages auch sagen, wenn mir das gleiche Unglück Ihnen gegenüber passiert ist. Der Mann, den Sie erschossen haben, war mein be ster Freund.« »Ihr Fehler, sich mit einem Tempelräuber zu be freunden«, parierte Sun Koh kalt. »Verdammt!« 166
»Es ist besser, wir bleiben sachlich. Ich befand mich in einer Zwangslage. Die Priester hatten diesen Jungen eingefangen und beschuldigten ihn, an jenem Raub beteiligt zu sein. Ich mußte versuchen, einen von Ihnen zu stellen.« »Märchen! Sie haben ja den Jungen trotzdem frei bekommen. Ich denke, Ihnen geht es mehr um Ihren Anteil.« »Ich will keinen Anteil.« »Sondern?« »Sie sollen zurückgeben, was Sie geraubt haben.« Der andere grinste höhnisch. »Ach nee? Zurückgeben? Verdammt bescheiden, nicht? Wir haben die Mühe und die Gefahr gehabt, und Sie wollen die ganze Beute einstecken. Sie wol len mir doch nicht im Ernst erzählen, daß Sie das Zeug an die Priester zurückgeben möchten.« Das Gesicht Sun Kohs wurde strenger. »Sie haben vergessen, daß es noch Menschen gibt, die nicht von ihrem Schlag sind. Ich will keinen An teil an Ihrer Beute, sondern ich verlange, daß Sie al les Geraubte an die Tempel und Klöster zurückgeben und Ihre Pläne für Taschi-Lhumpo fallen lassen.« »Sie sind verrückt!« »Es ist besser, wenn Sie das nicht glauben. Falls Sie nicht tun, was ich Ihnen sage, werde ich Ihnen dazwischenfunken. Und das könnte unangenehm für Sie werden.« 167
Der andere wurde merklich härter und kälter. »Drohungen? Sie halten uns wohl für harmlose Anfänger, was? Wir nehmen es mit ganz Tibet auf, und dann sollen wir plötzlich vor Ihrem Geschwätz ausreißen? Sie haben eine Ahnung! – Ich will Ihnen etwas sagen, Landsmann: Lassen Sie sich nicht wie der blicken, sonst könnte Ihnen leicht etwas Mensch liches widerfahren.« Sun Koh nickte unbeeindruckt. »Lassen Sie sich noch einmal warnen. Sie arbeiten für Kiang-schan. Kiang-schan ist nicht der Mann, der seine Beute seinen Gehilfen überläßt.« »Sie müssen uns wirklich für Anfänger halten«, wunderte sich der andere. »Natürlich ist Kiang-schan ein ausgepichter Gauner, aber wir wissen es. Wir wissen es, verstehen Sie, und haben uns entspre chend eingerichtet. Ich denke nicht, daß er auf den Einfall kommt, uns zu prellen.« »Ich warne Sie trotzdem.« »Ich bin gerührt«, knurrte der andere. Damit ging er die Gasse hinauf. * Sun Koh und Hal wanderten wieder nebeneinander durch die Straßen zu dem Platz, an dem ein ver schwenderisch mit Gold und Edelsteinen ge schmücktes Dach den Grabtempel des ersten Taschi 168
Lama anzeigte. Je näher sie dem Tempel kamen, um so dichter drängten sich die Scharen der Pilger, durch deren ehrfurchtsvoll gebildete Gassen sich hier und dort Priester bewegten. Endlich standen sie im Innenraum des Tempels. In seiner Mitte erhob sich der Sarkophag als stufenför miger Aufbau von rund sechs Meter Breite, Länge und Höhe. Auf der höchsten Stufe stand der goldene Sarg des ersten Taschi Lama. Er war über und über mit kostbaren Edelsteinen, hauptsächlich Türkisen, bedeckt, die selbst im matten Licht der zahlreichen goldenen Lämpchen, die auf den Stufen standen, in märchenhafter Pracht aufstrahlten. Zu rauben gab es hier mehr als genug. Sun Koh und Hal hielten sich an die vorgeschrie benen Zeremonien. Sie kümmerten sich zunächst nicht darum, als im Hintergrund ein dumpfes Mur meln aufsprang und sich langsam zum Sarg vor schob, vor dem sie eben knieten. Und dann gellte im Hintergrund ein Schrei auf: »Schlagt sie tot, die Ungläubigen! Schlagt sie tot!« Sun Koh zuckte zusammen. War das nicht die Stimme Kiang-schans? Plötzlich erkannte er, daß all diese Unruhe, das drängende Geschiebe und das zunehmende Toben ihm und Hal galten. Fragen schwirrten durch die Menge. »Die beiden dort vorn, der Mann und der Junge. 169
Sie sind Fremde, Ungläubige, die das Heiligtum be rauben wollen.« Sun Koh reckte sich. Für einen Augenblick ent deckte er weit hinten das höhnische Gesicht Kiang schans. Sun Koh schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Das ist ein Irrtum«, sagte er laut auf Tibetanisch. »Ich sehe niemand außer mir, der mit einem Knaben zu sammensteht. Wer wagt es, ohne Not die Ruhe dieses heiligen Ortes zu stören und mich als Fremden zu beschimpfen? Er soll vortreten und mir die Lüge ins Gesicht sagen. Vielleicht ist er es selbst, der die Sprache unserer Heimat nicht so gut spricht wie ich.« Die Spannung in den Gesichtern lockerte sich et was. Hier und dort wurden Zweifel laut. »Er spricht unsere Sprache.« »Ich sah ihn alle Gebete einhalten.« »Er ist kein Fremder.« »Er ist ein Fremder«, hetzte es von hinten. »Unse re Sprache kann jeder lernen.« »Der Junge soll sprechen«, hetzte ein anderer. »Er kennt unsere Sprache überhaupt nicht.« Die Augen schwenkten erwartungsvoll zu Hal her um. Hal schwieg sich selbstverständlich aus. Sun Koh sprang für ihn ein. »Nur Toren verlangen Unmögliches«, rief er. »Der Junge ist stumm von Geburt an. Wie sollte er da 170
sprechen können?« Wieder gingen Unsicherheit und Zweifel von vorn nach hinten, und wieder brandete es zurück. »Sie lügen. Die beiden sind Ungläubige. Wißt ihr noch nicht, daß der heilige Buddha im Tempel Jo kang in Lhassa beraubt wurde? Fragt sie, ob sie da von nicht mehr wissen als andere. Fragte sie, woher sie kommen.« Die Frage wiederholte sich auf allen Gesichtern, aber Sun Koh ging nicht auf sie ein. Er gab Hal ein Zeichen und sagte laut: »Komm, verlassen wir den heiligen Ort, an dem uns verwehrt wird, in Ruhe zu beten.« Die Nächststehenden wichen zur Seite und bilde ten eine Gasse, als er unbekümmert auf sie zuschritt. Fast sah es aus, als sollte der Bluff gelingen. Da stellte sich ein jüngerer Pilger den beiden in den Weg und sagte herausfordernd: »Warum antwor tet ihr nicht?« Sun Koh blickte ihn drohend an und sagte: »Geh aus dem Weg. Ich bin nicht gekommen, um Narren Rede und Antwort zu stehen.« Die Nächstehenden schwiegen und wichen weiter zurück. Wieder kam aus dem Hintergrund das Mur ren und dazu die hetzende Stimme Kiang-schans: »Er wagte es nicht zu antworten. Schlagt sie tot!« Jetzt drückte die Menge von hinten nach, so daß sich der schmale Keil, in dem Sun Koh und Hal 171
standen, verengte. Der junge Tibetaner wurde wieder mutiger. »Also sagt, woher ihr kommt.« »Aus Lhassa«, antwortete Sun Koh kalt. »Ah, er gesteht! Er hat gestanden! Er hat den Tempel beraubt!« schwirrten die Stimmen durchein ander. »Ihr irrt euch«, wehrte Sun Koh ab. »Wann soll denn der Tempel Jo-kang beraubt worden sein?« »Er stellt sich unwissend!« höhnte ein Unsichtba rer. »Dabei ist es erst vor drei Tagen geschehen.« Sun Koh lächelte. »Vor drei Tagen? Ist einer von euch schon einmal in drei Tagen von Lhassa nach Taschi-Lhumpo ge wandert?« Die Menge stutzte, denn das Argument zählte für Sun Koh. Aber da gellte schon der neue Angriff. »Wie er heuchelt! Er ist nicht umsonst ein Frem der. Ein Flugzeug hat ihn hierhergebracht. Er will nun auch diesen Tempel berauben. – Schlagt ihn tot!« Die Situation wurde immer kritischer. Sun Koh hatte versucht, sich einen Durchgang mit Gewalt zu verschaffen, aber es bestand einfach keine Aussicht auf Erfolg. Die Menschen im Umkreis wagten zwar noch nicht anzugreifen. Von hinten aber schoben und drängte es immer stärker, drohten bereits Fäuste und Waffen und brandete die kampfeswütige Stimme, die 172
die Köpfe erhitzte und die Masse berauschte. Jetzt brach der Bann. Ein schiebender Druck pflanzte sich wie eine Welle durch die Pilger. Die Menge warf sich aufschreiend gegen Sun Koh. Sun Koh beugte sich hastig zu Hal nieder. »Nicht schießen. Warte auf den äußersten Not fall.« Sun Koh versuchte, sich mit der Kraft seiner Fäu ste eine Gasse zu schaffen oder wenigstens die An greifer zurückzuscheuen. Er packte den ersten, der mit erhobenem Arm auf ihn eindrang, riß ihn hoch und warf ihn gegen die Köpfe der Angreifer, so daß eine ganze Gruppe von ihnen taumelte und stürzte. Schon hatte er den nächsten gefaßt und warf ihn ebenfalls gegen die Menge. Hal ging gleichzeitig wie ein Rammbock in den Kampf. Da knallte ein Schuß. Ein zweiter folgte. Jetzt wirbelte die Hand Sun Kohs mit der Pistole hoch. Er wußte, daß er sich damit endgültig verriet, aber er konnte sich nicht einfach aus dem Hinter grund abschießen lassen. Er schoß, aber er wußte im gleichen Moment, daß er sein Ziel verfehlte. Kiang-schan reagierte schnell genug und duckte sich hinter die Rücken der Tibeta ner. Und fast gleichzeitig kam schon ein dritter Schuß von hinten. Kiang-schan war nicht allein, son dern hatte jemand von der Bande bei sich. 173
Es wurde höchste Zeit, daß sich Sun Koh wieder um die anbrandende Menge kümmerte. Er wandte sich flüchtig zu Hal. »Schießen, Hal. Sieh zu, daß du die Leute triffst, die nach uns schießen.« Hal sprang einen Schritt zurück, und Sun Koh nahm seinen Kampf wieder auf, wobei er sich mög lichst in Deckung hielt. Wieder packte er die An drängenden und schmetterte sie gegen die anderen. Das gab ihm Spielraum. Jetzt nahm er einen der Männer bei den Schultern und schleuderte ihn im Kreis herum, so daß er mit seinen Füßen wie eine mähende Sichel Raum schaffte, bevor er fortfliegend ein neues Loch in die Menge riß. Hal schoß. Doch es ließ sich nicht sagen, ob er ge troffen hatte. Die Situation war aussichtslos. Sie war so aus sichtslos, daß Sun Koh nach einem Ausweg hinter sich suchte. Sein Blick fiel auf eine Tür seitlich hinter dem Sarkophag. Er entdeckte sie nur, weil sie eben geöff net wurde. Ein Priester erschien in ihrem Rahmen. Sun Koh ließ sich dadurch nicht abschrecken. »Zurück!« rief er Hal zu, riß ihn herum und lief mit ihm zusammen auf die Tür zu. Er war ent schlossen, den Priester beiseitezuschieben und dort durchzubrechen. Er hatte ihn noch nicht erreicht, als der Priester mit 174
einer hoheitsvollen Geste die Hand hob und mit einer ruhigen, sanften Stimme sagte: »Ihr braucht euch nicht zu beeilen. Der Weg steht euch offen.« Es war, als hätte die ganze tobende Menge diese Worte gehört. Der Lärm im Tempel brach schlagartig ab. Die eben noch drängende Menge stand wie er starrt und blickte erschreckt auf den Priester. Auch Sun Koh blieb stehen und verneigte sich. »Danke. Der Weg aus diesem Tempel ist für uns zugleich der Weg zum Leben.« Der Lama, dessen zerfurchtes Gesicht auf ein ho hes Alter hindeutete, nickte leicht. »Ihr habt gekämpft, wie ich noch nie einen Mann kämpfen sah. Tretet ein, euch wird nichts gesche hen.« Sun Koh und Hal betraten einen Gang, der sich be reits nach wenigen Metern zu einer Art Wohngemach erweiterte. Hinter ihnen verschloß der Lama die Tür. Dann folgte er in den Raum, in den die Geräusche der Außenwelt nur sehr gedämpft eindrangen. Er betrachtete seine Besucher noch einmal, dann deutete er mit einladender Geste auf einige Schemel. »Setzt euch und betrachtet euch als meine Gäste.« Sun Koh prüfte forschend das kluge, vergeistigte Gesicht und erwiderte behutsam: »Wir wollen eure Ruhe nicht stören. Wir bedauern, den Frieden des Tempels beeinträchtigt zu haben. Erlaubt, daß wir euch verlassen.« 175
Der Greis lächelte mild. »Hastet nicht. Es besteht keine Gefahr, daß ich euch ebenfalls verdächtige, den Tempel berauben zu wollen.« »Trotzdem wäre es vermessen von uns, eure Güte weiterhin in Anspruch nehmen zu wollen.« Das Lächeln des Lama vertiefte sich. »Ihr seid nicht vermessener, als ihr ohnehin schon wart.« »Ihr wißt, daß wir Fremde sind?« »Ja.« »Und trotzdem habt Ihr uns Schutz gewährt?« Der Tibetaner wies abermals auf die Schemel, und diesmal folgten Sun Koh und Hal seiner stummen Aufforderung. Der Priester setzte sich ebenfalls und sagte mit freundlicher Würde: »Ihr seid ein Fremder und kein Buddhist, aber ich halte mich an das Wort des großen Konfuzius ›Zwischen den vier Weltmee ren sind alle Edlen verwandt‹. Die Menge kennt im mer nur ein Wort und ein Bild, aber der Weise blickt tiefer in die Vergangenheit wie in die Zukunft. Wer in der großen, schweigenden Dunkelheit still gewe sen ist und in ihr geforscht hat, der weiß, daß alle Ströme des Lebens einer Quelle entspringen.« Sun Koh deutete eine Verneigung an. »Ihr gebt mir neuen Grund, mich zu entschuldi gen. Bisher hielt ich die Priester von Tibet mehr für buddhistisch als für weise. Ich dachte nicht, dieses 176
Wort von Konfuzius jemals aus dem Munde eines Lama zu hören.« »Und ich dachte nicht, daß es euch bekannt sein könnte. Bisher hörte ich nur, daß ihr Verbrecher ver folgt.« »Ihr hörtet von uns?« Der Greis nickte. »Ein Land hat manchmal tausend Ohren und Au gen. Unsere Tempel und Klöster werden seit Jahren geplündert. Allmählich sind auch die Schlafenden wach geworden. Es ist nötig, diese Verbrecher zu richten. Gehört ihr zur Polizei eurer Heimat?« »Nein. Jene Verbrecher schoben uns etwas zu, das sie begangen hatten, deshalb kümmerte ich mich um sie.« »Und wer seid Ihr?« »Ich heiße Sun Koh. Man sagt, daß ich ein Nach komme aus dem Königsgeschlecht jener atlantischen Völker bin, die einst auf dem Erdteil Atlantis wohn ten.« Der Tibetaner streckte sich. Sein Gesicht verriet deutlich innere Erregung. »Ein Nachkomme jener Atlanter, die einst die Er de beherrschten?« »Habt Ihr auch davon gehört?« wunderte sich Sun Koh. »Gehört? Unsere ältesten Schriften berichten dar über. Wißt Ihr nicht, daß Atlantis die Erde beherrsch 177
te und zahlreichen Völkern die Grundlagen ihrer Kultur gab?« »Unsere Gelehrten bestreiten es.« »Eure Gelehrten!« sagte der Greis mit freundlicher Geringschätzung und nahm eine dünne goldene Scheibe vom Tisch, auf der einige Linien eingeritzt waren – eine senkrechte Linie, aus dessen oberem Drittel an jeder Seite ein Schrägstrich nach oben wies. »Hier habt Ihr ein Beispiel. Was bedeutet die ses Zeichen?« »Die aufsteigende Jahreszeit, also den Frühling.« »Richtig – und Ihr findet dieses Zeichen bei den Chinesen des Lojang wie bei den Türken des Jenis sej, bei den Indianern Nordamerikas wie in den ein samen Gegenden Norwegens, auf dem Stirnband des sibirischen Schamanen oder als Dreizackzeichen des griechischen Gottes Neptun oder als Teufelsgabel bei den christlichen Völkern. Es wäre mehr als Zufall, wenn Dutzende verschiedener Völker in den ver schiedensten Erdteilen zufällig das gleiche Symbol gefunden hätten. Aber sie haben es eben nicht gefun den oder erfunden, sondern von den Atlantern über nommen. So trefft Ihr überall auf der Erde wieder auf die uralten Weisheiten und Erkenntnisse jener Atlan ter, ohne daß die Lebenden noch wissen, woher sie stammen. Wir leben noch immer vom Nachlaß jener Kultur.« Sun Koh lächelte schwach. 178
»Ich weiß, aber die Menschen wissen es eben nicht.« Der Priester lächelte zurück. »Die Menschen glauben gern, daß die Menschheit nur so lange existiert, wie sie selbst leben.« Er wandte den Kopf. Im Hintergrund des Raumes wurde eine Tür geöffnet. Ein jüngerer Priester er schien. Er stutzte, als er die friedliche Szene sah, dann verbeugte er sich. »Verzeiht, ich war in Sorge. Ich hörte, daß Fremde eingedrungen wären, und …« Der Greis winkte mit einer kleinen Handbewegung ab. »Sie sind meine Gäste.« Der andere verneigte sich und verschwand wieder. Der Faden des Gesprächs war jedoch gerissen. Sun Koh war nicht böse darüber. Der Übergang aus dem tobenden Lärm des Kampfes in die Stille dieser Klause war doch reichlich schroff gewesen. Neben bei fiel es gar nicht leicht, den grüblerischen Gedan kengängen des Priesters zu folgen, denn sie um schrieben vielfach den Kern des Gesprächs und wa ren mit Begriffen durchsetzt, die einen bestimmten, nur dem Priester bekannten philosophischen Gehalt besaßen. Der Greis schien zu fühlen, daß es Sun Koh wei terdrängte. Er erhob sich und sagte freundlich: »Ihr seid unruhig, und auch meine eigenen Leute scheinen voller Unruhe zu sein. Ich will euch deshalb nicht 179
länger aufhalten. Folgt mir.« Sie gingen durch die Tür, durch die der jüngere Priester eingetreten war. Hinter ihr befand sich ein langer Gang. Dann öffnete der Greis eine Pforte, die ins Freie führte. Er verneigte sich. »Lebt wohl.« »Lebt wohl!« erwiderte Sun Koh und Hal respekt voll und verneigte sich ebenfalls. Dann traten sie hinaus.
180
8.
Nimba richtete sich auf und wischte sich über die Augen. »Blöde Sucherei!« murmelte er vor sich hin. »Wenn das noch ein paar Stunden so weitergeht, kann ich bloß noch mit meinen Hühneraugen sehen, falls ich mir welche anschaffe.« Er schloß die Augen, um das Flimmern wegzube kommen, das ihn seit einiger Zeit störte. Es war eine Anstrengung, dauernd in die Scheibe des Fernsehers zu blicken und das Gelände abzusu chen. Er hängte sich von neuem über die Scheibe. Seine Hände griffen zu den Drehknöpfen. Das Panorama rollte langsam im Fernseher weiter. Nimba hatte auf hunderte Meter Höhe eingestellt und bekam dadurch das Bild der Landschaft so, als ob er sie in dieser Höhe überfliegen würde. Er sah deutlich die Einzelheiten des Geländes, die dichten Waldbe stände, die aufwärtsstoßenden Felshänge, gelegent lich strömendes Wasser. Wie ein Film rollte das Panorama ab. Das Blickfeld war nicht gerade klein, aber trotz dem stand Nimba vor einer Aufgabe, vor der es ihm allmählich zu grausen begann. Das Gelände, das für die Suche in Frage kam, war vergleichsweise unge 181
heuer groß. Das, was er suchte, konnte sich zwei, aber auch fünfzig Kilometer von Taschi-Lhumpo entfernt befinden, wenn auch die Wahrscheinlichkeit bestand, daß die Entfernung geringer als zwanzig Kilometer war. Dieses Gebiet mußte er aus geringer Höhe absuchen. Es war so gut wie sicher, daß die Bande über einen guten Schlupfwinkel verfügte und ihr Flugzeug in Deckung gebracht hatte. Unter sol chen Umständen nützte kein Adlerauge von oben, sondern er mußte eben das Gelände aus geringer Hö he absuchen. Eine halbe Stunde später entdeckte er das Flug zeug. Es stand auf einem Felsenplateau, das nur von der einen Seite her zugänglich war und nach unten durch Wald abgeschirmt wurde. Sie hatten es dicht an die Felswand und damit in den Windschatten ge bracht. Nimba drehte einen Knopf. Die Umrisse der Land schaft verzerrten sich. Dann erschien das Flugzeug so deutlich, als ob Nimba nur zwanzig Meter darüber schwebte. Er prüfte sorgfältig alle Einzelheiten. Die Maschi ne gehörte zu den modernsten Typen und war zwei fellos die gleiche, in der Kiang-schan von Kothan aus geflüchtet war. Jetzt stieg ein Mann aus dem Flugzeug. Er trug eu ropäische Kleidung und war sicher ein Europäer oder Amerikaner. Sein Gesicht war hager und scharf. Er 182
lief eine Weile müßig herum und setzte sich schließ lich in einen schattigen Winkel. Nimba prüfte den Weg, der zu dem Felsen hinauf führte. Besondere Schwierigkeiten bot er nicht, ob gleich er steil war und über Geröllmassen führte. Erst dann kümmerte er sich darum, in welcher Ge gend sich das Flugzeug Kiang-schans befand. Als ihm das aufgegangen war, kratzte er sich bedenklich am Kopf. Bis zu jener Felsplatte hinüber waren es in der Luftlinie immerhin achtzehn Kilometer. Das bedeu tete bei dem unwegsamen Gelände im günstigsten Falle mindestens sechs Stunden Fußmarsch. Mit dem Flugzeug wäre es Momentsache gewesen, aber Nim ba besaß strenge Anweisung, das Flugzeug an Ort und Stelle zu lassen. Also marschierte er bei Morgengrauen des näch sten Tages los, nachdem er das Flugzeug ordnungs gemäß gesichert hatte. Der Weg war genau so, wie er sich ihn vorgestellt hatte, zum Teil pfadlos, zum Teil mit Hindernissen gespickt. Es war Mittag, als er aus dem Waldstreifen he raustrat und vor sich die kahl aufsteigende Wand mit dem vorspringenden Plateau sah. Er kletterte über das Geröll aufwärts, ohne sich um den Lärm der ab rollenden Steine zu kümmern. Der Wächter dort oben sollte ihn hören. Da rief er schon von oben herunter. Er sprach 183
amerikanisch. Sein Tonfall verriet, wie überrascht er war. »Hallo, wer ist denn das? He, wohin? Hol mich der Teufel, wenn das nicht ein Nigger ist, der da den Berg heraufgekraxelt kommt!« Nimba nahm sich vor, ihm den »Nigger« heimzu zahlen, kümmerte sich aber sonst nicht um die Zuru fe und turnte weiter hinauf. »Stehenbleiben!« warnte der Amerikaner scharf. »Noch einen Schritt, und ich jage dir eine Kugel in den Leib, mein Freund. Willst du etwa zu mir?« »Ja!« rief Nimba zurück und stieg weiter, denn er wollte so dicht wie möglich an den Mann herankom men. Der andere hob die Hand. »Stehenbleiben, verdammt noch mal, oder…« Nimba blieb nun doch stehen und rief hinauf: »Was ist denn los? Warum fuchteln Sie so mit Ihrer Waffe herum? Stecken Sie das Ding weg.« »Später«, klang es spöttisch zurück. »Was willst du?« »Ich soll etwas bestellen.« »Dann bestelle, los!« »Tut mir leid, die Entfernung ist mir zu groß. Der Arzt hat mir verboten, meine Stimme so anzustren gen.« »Dann scher’ dich zum Teufel.« Nimba grinste. 184
Er setzte sich auf einen der Felsblöcke und stellte sich, als ob ihm an weiter nichts gelegen wäre, als seine müden Glieder zu strecken. Nach einer Weile rief der Amerikaner wieder von oben herunter: »Hallo, wer hat dich eigentlich hier hergeschickt?« Nimba blickte hinauf. »Hm, den Namen hat er mir nicht gesagt. Er hat mir nur den Weg beschrieben und mir gesagt, daß hier oben ein Flugzeug stehen soll. Und dem Mann, der das Flugzeug bewacht, soll ich etwas ausrichten. Ich kann Ihnen aber einen Namen sagen, wenn Sie einen brauchen.« »Nämlich?« »Kiang-schan.« »Ach?« Der Amerikaner überlegte sich die Angelegenheit eine ganze Weile. Schließlich sah er ein, daß er den Boten nicht einfach wieder wegschicken konnte. »Also komm herauf!« rief er herunter. Nimba stieg nun gemächlich weiter hinauf, bis er den Rand des Plateaus erreicht hatte. Dort empfing ihn der Amerikaner mit der Waffe in der Hand. Nimba blickte sich suchend um. »Wo ist denn das Flugzeug? Aha, dort steht es ja. Dann sind Sie also der Mann, dem ich meine Bestel lung ausrichten soll?« »Sieht so aus«, knurrte der andere mißtrauisch. 185
»Und wer bist du?« »Neugierig, Bruder?« fragte Nimba grinsend. »Lieber nicht. Ich kann dir aber später einmal meine Lebensgeschichte erzählen.« »Du wirst mir doch verdammt viel erzählen müs sen«, parierte der Amerikaner unfreundlich. »Also zunächst – was sollst du mir bestellen?« »Hm, ich komme von einem Mann, der wie ein Tibetaner aussieht, aber dafür zu gut Englisch spricht. Du sollst mir die Steine aushändigen.« Der andere prallte förmlich zurück. »Was?« »Genau das und weiter nichts.« Der Amerikaner musterte ihn noch mißtrauischer. »Was für Steine?« Nimba zuckte mit den Schultern. »Hat er mir nicht gesagt. Er meint, du wüßtest Be scheid.« »Ach? Und was hast du mit Kiang-schan zu tun?« »Ich nicht, aber der Tibetaner, der Englisch spricht. Ich soll dir noch ausrichten, Kiang-schan wäre ein Gauner, und die Steine müßten vor ihm in Sicherheit gebracht werden.« Der Amerikaner starrte ihn an. »Verrückt!« murmelte er nach einer Weile. »Kom plett verrückt. Entweder hält mich hier jemand für einen Idioten, oder – zum Teufel noch mal, ich denke nicht daran, dir die Steine zu geben.« 186
»Deine Sache, Bruder.« Nimba blieb gleichmütig. »Ich habe jedenfalls meine Bestellung ausgerichtet.« »Sieht nach einem ganz dummen Trick aus«, über legte der andere halblaut weiter. »Ich verstehe nur nicht – woher kannst du wissen, daß ich hier mit dem Flugzeug … Hast du etwas Schriftliches bei dir?« »So idiotisch sah der englische Tibetaner nun auch wieder nicht aus«, sagte Nimba grinsend. »Also wie ist das – bekomme ich das Zeug oder nicht?« »Nein!« fauchte der andere kalt. »Scher’ dich zum Teufel. Übrigens – was sollen das denn für Steine sein?« »Hat er nicht gesagt.« »So? Na, also dann geh nur wieder zurück zu dem Mann, der dich geschickt hat, und bestelle ihm, er soll selbst kommen.« »Darüber wird er sich freuen. Also gut, mir soll’s egal sein. Aber hoffentlich hast du wenigstens einen Schluck Wasser für mich. Ich bin ziemlich durstig.« »Wasser kannst du haben«, genehmigte der Ame rikaner mürrisch. »Dort ist eine Quelle. Schlag dir den Bauch voll und verschwinde.« »Schon dabei«, brummte Nimba, während er lang sam heranging. »Hast wohl nur Angst, daß ich mit den Edelsteinen türme?« Der Amerikaner zuckte sofort wieder mit seiner Waffe hoch. »Edelsteine? Wie kommst du auf Edelsteine?« 187
Nimba grinste ihn breit an. »So idiotisch bin ich nun wieder nicht, um mir nicht ein bißchen was zu denken. Kieselsteine wer den es ja wohl nicht gerade sein, he? Man erzählt sich da, daß ein paar Fremde allerhand aus dem Jo kang in Lhassa herausgeholt haben. Der große Türkis aus dem Mittelfeld der Buddhakrone soll allein schon ein paar Millionen wert sein.« »Verdammt!« Die Augen des Mannes blickten jetzt fast verstört. Er riß sich aber wieder zusammen. »Verdammt, was soll diese Faselei?« »Nicht sehr höflich, nicht?« knurrte Nimba. »Ich fasele überhaupt nicht. Und ich bin auch nicht dafür, daß mir jemand ständig eine Pistole vor die Nase hält.« Er sprang auf, während er noch redete, und seine Faust traf genau auf den Punkt. Die Hand des Ameri kaners ruckte hoch. Seine Waffe flog im Bogen weg und schlug auf dem Felsen auf. Nimba hatte ge schickt die wenigen Sekunden ausgenutzt, in denen die Neuigkeiten den anderen überrumpelt hatten. »Teufel noch mal, du…« Er griff an. Das bewies, daß er Mut im Leibe hatte, rasch reagierte und sich als guter Boxer fühlte. Er ahnte nicht, wie haushoch ihm Nimba überlegen war. Nimba hielt sich auch nicht lange mit ihm auf. Er ließ ihn anlaufen, durchbrach mit einem harten 188
Schlag seine Deckung und landete einen Schlag, der den Gegner wie einen ausblasenden Luftballon zu sammenfallen ließ. Nimba lud ihn auf und trug ihn zum Flugzeug. Dort fand er einige brauchbare Stricke, mit denen er ihn zusammenschnüren konnte. Dann machte er sich auf die Schatzsuche. Er fand das Raubgut in einer Nische der Zwi schenwand, die noch nicht einmal verschlossen war. Das wichtigste Stück war der sechzehn Zentimeter lange und neun Zentimeter breite Türkis, der noch vor Tagen in der Buddhakrone von Lhassa gesessen hatte. Was er sonst noch fand, bedeutete noch einmal ein Vermögen. Anschließend machte er sich mit dem Flugzeug vertraut. Es stand startbereit und war völlig in Ord nung. Den Typ kannte er noch aus seiner Londoner Zeit. Er hatte keine Bedenken, mit der Maschine zu starten. Nachdem er sich soweit vergewissert hatte, verließ er das Flugzeug wieder. Der Gefesselte hatte inzwi schen sein Bewußtsein wiedererlangt. Aus seinen Augen sprachen keine Segenswünsche. Nimba beugte sich über ihn und grinste. »Na, wieder munter? Hübscher Knall, nicht, aber du hättest eben genauer hinsehen sollen, gegen wen du anläufst, Bruder.« Der Amerikaner schluckte. 189
»Ich hätte genauer hinsehen sollen, als du den Berg heraufkamst. Dein Leben war ein Dreck wert.« »Wie jetzt das deine.« »Du willst mich fertigmachen?« Nimba hob die Schultern und zog eine Miene, als müßte er sich das ernsthaft überlegen. Schließlich brummte er: »Von mir aus kannst du dein Leben weiter genießen. Ich frage mich bloß, was ich mit dir anfange. – Das Flugzeug nehme ich natürlich mit.« »Verdammt, du kannst fliegen?« »Klar. Dachtest du, ich tipple zu Fuß durch Ti bet?« »Teufel noch mal!« »Häßlich, nicht? Also die Frage ist, ob du hier bleiben willst oder ob ich dich mitnehmen soll. Im ersten Fall bringe ich dich zu den hiesigen Behörden. Im andern kannst du von mir aus anstellen, was du willst. Du wirst eben nur das Tippeln lernen müs sen.« »Ich bleibe hier«, entschied sich der andere finster. »Ist mir recht. Du stellst dich dort an den Fels block. Falls du dich rührst, bevor ich weg bin, benut ze ich dich als Zielscheibe. Ich kann ebensogut schießen wie boxen. Alles klar?« »Geh zur Hölle!« fluchte der Amerikaner. Nimba löste die Stricke. Der Amerikaner stellte sich auf die Füße und ging stumm zu dem Felsblock hinüber. 190
Wenige Minuten später startete Nimba. Er ging auf hohe Touren. Die Maschine sackte in den Ab grund, konnte aber gleichzeitig abgefangen werden und schoß dann aufwärts. * Sun Koh und Hal Mervin wanderten langsam durch die schmutzigen Gassen von Taschi-Lhumpo, auf die sich eben die Nacht senkte. Der Lärm des Tages ver ebbte. Schatten waren es, die plötzlich aus einer schma len Quergasse heraus auftauchten. In der nächsten Sekunde waren sie freilich schon harte Wirklichkeit. »Vorsicht mit Ihren Bewegungen!« sagte eine kal te Stimme hinter ihnen, und dann war es schon zu spät, um etwas zu unternehmen. Sun Koh spürte die Mündung einer Pistole in sei nem Rücken und beherrschte sich. Gegen die Pistole gab es kein Argument, und die fremde Stimme hatte energisch genug geklungen. Hal war um keinen Deut besser dran. Auch hinter ihm befand sich ein Mann, der ihm den Lauf einer Waffe in den Rücken bohrte. Wohl oder übel gingen sie vor den Pistolen her in den dunklen Torweg hinein. Hal zog ahnungsvoll den Kopf ein. Sun Koh spürte, wie sich die Pistole von seinem 191
Rücken löste. Er wirbelte sofort herum. Schon zu spät. Der bleigefüllte Totschläger traf ihn hart am Kopf. Hal kam nicht besser davon. Die beiden Männer beugten sich über sie. »Erledigt«, brummte der eine. »Hoffentlich war es nicht zu hart.« »Die Sorte ist zäh«, knurrte der andere. »Gib die Stricke her.« Sie banden ihre Opfer mit größter Sorgfalt, dann schleppten sie sie weiter in den Hintergrund und zo gen sie über schwarze Stufen in die Tiefe. Hal erwachte nach einigen Stunden aus seiner Be täubung. Er war der erste. Sun Koh lag noch re gungslos. Wahrscheinlich war Hal nicht so hart ge troffen worden. Sein Erwachen blieb nicht unbemerkt. Der Mann mit der scharfen Stimme beugte sich über ihn. »Aha, die kleine Ratte ist schon munter.« Hal zwinkerte einige Male, fand sich in die Welt zurück und quittierte die Kränkung. »Ratte? Dann sind Sie ein Rattenpinscher. Was fällt Ihnen ein, uns niederzuschlagen?« »Höhere Eingebung.« Der Mann grinste. »Wie heißt du?« »Glatt vergessen. Und wie heißt du?« »Auch vergessen. Bist du immer so frech?« »Nur, wenn mir einer die Hände bindet. Was soll 192
der Quatsch?« »Ihr beide seid mir zu gefährlich«, sagte der Mann nüchtern. »Seid ihr von der Polizei?« »Auch glatt vergessen«, höhnte Hal. »Vielleicht arbeitet mein Gedächtnis besser, wenn ich nicht mehr gefesselt bin.« »Es gibt noch andere Mittel, um das Gedächtnis zu stärken«, warnte der andere. »Also was ist mit euch? Zur Polizei gehört ihr nicht. Die Polizei schickt keine Kinder los.« »Laß dir deinen Kinderglauben nicht nehmen«, stichelte Hal gereizt. »Hierzulande kann man schon als Säugling Dalai Lama werden. Ich bin eine Wie dergeburt.« Der andere verschluckte einiges. Den Rest brachte er heraus. »Was du bist, werde ich dir gelegentlich noch er zählen. Dazu brauche ich aber Zeit. Warum seid ihr hinter uns her?« »Aus Sehnsucht.« »Verdammt, dir scheint eine Tracht Prügel zu feh len.« »Sir, diese Bemerkung läßt sich nur mit Blut ab waschen.« »Verrückt! Hast du einen Drehwurm im Kopf?« »Nee, aber einen Gangster in der Nähe.« »Pest!« Damit war für eine Weile Ruhe. Der Räuber über 193
legte vermutlich, wie er mit Hal zurechtkommen konnte. Hal hatte Zeit, sich umzusehen. Gegen dieses Loch, in dem sie sich befanden, war eine normale Gefängniszelle sicher die reinste Luxuskabine. Ringsherum standen wie durch ein Wunder vier Lehmwände, die eigentlich schon längst hätten ein fallen müssen, so bröcklig und verwittert sahen sie aus. Auffallend war auch die Kühle und die tiefe Stille. Vielleicht befand sich dieses Kellerloch ein gutes Stück unter dem Erdboden. Doch Genaues ließ sich nicht sagen. Nachdem Hal seine Umgebung gemustert hatte, sah er sich noch einmal den Mann an, dessen Gesicht von gelblichen Schein einer Butterlampe angeleuch tet wurde. Jetzt trat der zweite Mann ein. Sein Gesicht war erheblich weicher und deutete eine gewisse Gutmü tigkeit an. »Schon munter?« fragte er. »Was gibt er von sich, Jim?« »Frechheiten«, knurrte Jim. »Ist oben alles in Ord nung, Stan?« »Sicher.« »Gut, hier wird es nicht mehr lange dauern. Der andere scheint auch schon zu sich zu kommen. Also hör zu, Baby, wir wollen uns vernünftig unterhalten. Wie seid ihr hierhergekommen?« 194
»Zu Fuß, Opa.« »Quatsch! Ihr wart vor drei Tagen noch in Lhassa. Zu Fuß könnt ihr es nicht geschafft haben. Eisenbah nen gibt es hier nicht, also kommt nur ein Auto oder ein Flugzeug in Frage.« »Trittroller auch noch«, schlug Hal vor. »Hat dir Kiang-schan nicht erzählt, daß wir ein Flugzeug be sitzen?« »Ein Flugzeug?« »Ganz was Neues, nicht? Der gute Kiang-schan wollte wohl nicht, daß ihr in die Hosen macht?« »Verdammte Giftkröte!« fluchte Jim. »Was willst du mit Kiang-schan? Das ist auch so einer, der sich für schlauer hält als wir.« Sun Koh hatte inzwischen seine Besinnung wie dergefunden und wälzte sich herum. »Er ist schlauer als Sie«, sagte er trocken. »Sie ar beiten doch für ihn, nicht wahr?« »Mit ihm«, berichtigte Stan von oben herunter. »Das dachte schon mancher, der heute nicht mehr lebt!« »Mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenhei ten ein«, warnte Jim scharf. »Wir werden mit Kiang schan schon fertig. Die Frage ist, was wir mit Ihnen anstellen. Wir müssen Sie hier still legen, damit Sie uns heute nacht nicht in die Quere kommen. Wir wissen aber nicht, ob wir zurückkommen und Sie befreien können.« 195
»Immerhin eine anständige Überlegung«, aner kannte Sun Koh. »Wir sind keine Gangster, sondern Abenteurer.« »Vielleicht. Kiang-schan ist auf jeden Fall kein Abenteurer, sondern ein Gangster. Ein chinesischer Gangster, falls Sie sich etwas dabei denken können. Trennen Sie sich schleunigst von ihm. Und verzich ten Sie lieber auf Ihre hiesigen Pläne.« Jim grinste. »Morgen, verehrter Herr, morgen. Morgen werden wir sogar fromm. Heute müssen wir den Kahlköpfen erst noch ein paar Kleinigkeiten abnehmen. Und Sie können ja inzwischen beten, daß wir dann noch Zeit genug haben, Sie aus diesem Loch herauszulassen. Komm Stan.« Die beiden Männer entfernten sich. »Schöne Gegend!« seufzte Hal, als die Schritte verklungen waren. »Wie fühlen Sie sich, Sir?« »Nicht schlecht«, beruhigte Sun Koh. »Bist du schon lange bei Bewußtsein?« »Nur ein paar Minuten, gerade lange genug, um diesem Jim ein paar Worte ins Poesiealbum zu flü stern. Teufel noch mal, die haben uns ganz schön fest gebunden.« »Wir müssen uns trotzdem befreien. Sie wollen noch heute nacht den Tempel plündern. Wenn wir nicht rechtzeitig eingreifen, gelingt es ihnen wie in Lhassa, und der Verdacht fällt auf uns.« 196
»Wenn ich nur ein Messer hätte. Oder wenigstens eine scharfe Mauerkante.« Sun Koh schwieg kurze Zeit, dann sagte er: »Die Lampe.« Die Butterlampe stand noch immer auf dem Tisch. Sun Koh kam schnell auf die Füße, obgleich sie gefesselt waren. Bei der Zähigkeit und Gelenkigkeit seines Körpers war das kein Kunststück. Unange nehm war jedoch, daß man ihm die Arme auf dem Rücken zusammengeschnürt hatte. Das zwang ihn, von rückwärts an den wackligen Tisch heranzugehen und seine Hände über die Flamme zu halten. Es dauerte eine ganze Weile, bevor der Strick an einer Stelle genügend durchgesengt war und sich lockerte. Nachdem Sun Koh noch an einer zweiten Stelle angesetzt hatte, konnte er den Rest durch seine Kraft heruntersprengen. Eine halbe Stunde nach dem Weggang der beiden Verbrecher besaßen Sun Koh und Hal wieder den vollen Gebrauch ihrer Glieder. »Die werden sich wundern, wenn wir ihnen auf den Hals kommen. Aber Ihre Hände sehen übel aus, Sir«, sagte Hal. Sun Koh winkte ab. »Das vergeht schon wieder. Komm, wir müssen uns beeilen. Die Leute haben Vorsprung.« Hastig, aber doch mit einiger Vorsicht eilten sie nach oben, über eine Treppe, die schon mehr als bau 197
fällig war. Eine halbe Stunde später schlichen sie geräuschlos an der Mauer entlang über den mondbeschienenen Tempelhof zum eigentlichen Eingang des Tempels. Sun Koh wollte die Räuber dort abfangen, entdeckte aber, daß das Tempeltor nicht verschlossen war. Es konnte leicht sein, daß Kiang-schan mit seiner Bande bereits an der Arbeit war. Er drückte langsam die Tür weiter auf und blickte durch den Spalt in den Tempel hinein. Dort brannten ruhig und gleichmäßig die Butterlampen. Der Sarko phag gleißte und schimmerte majestätisch. Über ihm wachte die Statue des ersten Pangtschen. Tiefe Stille lag über dem Raum. Alles schien unberührt zu sein. Sun Koh wollte sich eben wieder zurückziehen, als er ein leises Stöhnen vernahm. Es klang wie das schmerzhafte Winseln eines schlafenden Hundes während eines Alptraums. Oder wie die letzten Seufzer eines Sterbenden. Da gab Sun Koh Hal ein Zeichen, ihm zu folgen, und trat in den Tempel ein. Seine Blicke gingen su chend durch den Raum. Links vom Sarkophag, dicht an der Wand, ent deckte er einen dunklen Klumpen. Ein zusammengekrümmter Mensch. Ein Priester. Der Mann lag in den letzten Zügen. Ein Schuß hat te seine Lunge zerrissen. 198
Was war hier vorgefallen? War Kiang-schan mit seinen Gehilfen doch schon hier gewesen? Irgendwer hatte geschossen. Aber war dieser Schuß, der ein Menschenleben gefordert hatte, nicht gehört worden? Das konnte nicht möglich sein. Und waren die Räu ber dann wirklich unbehelligt mit ihrer Beute davon gekommen? Beute? Sun Koh musterte noch einmal prüfend die Grabstätte. Ja, einiges hatte sich verändert. Einige der Gefäße waren verschoben worden, und an den Perlenketten der Statue waren menschliche Hände gewesen. – Andererseits machte das Ganze nicht den Eindruck, als fehlte etwas. Und Kiang-schan war be stimmt nicht der Mann, der nur einige unauffällige Andenken mitnahm, wenn er einmal zum Zug kam. Merkwürdig! Wenig später entdeckte Sun Koh schwache Blut spuren, die sich über den Boden hinzogen. »Hier scheint es einen Kampf gegeben zu haben«, flüsterte er Hal zu. »Das Blut dort.« »Hier ist noch mehr. Und hier ist etwas geschleift worden.« Sie folgten langsam den Spuren. Sie führten zu je ner Tür, durch die sie am Nachmittag der aufgehetz ten Menge entronnen waren. Sie lauschten. Keine Geräusche hinter der Tür. Sun Koh öffnete die Tür, betrat den Gang und dann den Raum, in dem er sich mit dem Priester un 199
terhalten hatte. Das Gemach atmete die gleiche Stille wie der Tempel selbst. Die Spuren endeten hier. Nichts verriet mehr, was sich abgespielt hatte. Die nächste Tür, durch die sie am Nachmittag auch schon einmal gegangen waren, ließ sich auch öffnen. Vorsichtig drangen sie in den Gang hinein. Dann erstarrten sie. Irgendwo hinter den Mauern gellte ein grauenhaf ter, langgezogener Schrei auf. So schrie ein Mensch unter einem unerträglichen Schmerz und unter To desangst. Der Schrei erstarb in einem Wimmern. Dann herrschte wieder lähmende Stille. »Was war das?« hauchte Hal. »Vielleicht sind sie in eine Falle gegangen«, flü sterte Sun Koh. Gleich darauf gellte wieder der entsetzliche Schrei auf und ebbte langsam ab. Er wies Sun Koh die Richtung. Wenige Meter vor ihnen zweigte ein Gang ab, der an einer Tür endete. Hinter der Tür bewegten sich Menschen. Sun Koh öffnete sie langsam. Zunächst sah es aus, als wäre er in eine späte An dacht geraten. Einige Dutzend Priester hockten in mehreren Reihen hintereinander auf dem Boden des mittelgroßen Raums. Eine Kleinigkeit später entdeck te er, daß es sich nicht um eine Andacht handelte. 200
Auf der linken Seite lagen zu Bündel zusammen geschnürt zwei Männer. Jim und Stan, die beiden, die Sun Koh und Hal gefesselt zurückgelassen hat ten. Das Gesicht des einen war eine hagere Maske, das Gesicht des anderen vor Grauen verzerrt. Hier wie dort lag in den Augen Verzweiflung. Die Augen starrten auf einen Dritten, der nackt an einem Brett hing. Sein Gesicht war gegen das Holz gepreßt, sein Rücken dem Raum zugewandt. Sun Koh erkannte ihn trotzdem. Kiang-schan! Sein Rücken sah grausig aus. Von oben bis unten liefen zwei lange etwa drei Zentimeter breite, blutige Streifen. Und eben schwang ein Priester ein blitzendes Messer, um einen dritten Streifen zu schneiden. Sie marterten Kiang-schan zu Tode. Die Rache Tibets! Da griff Sun Koh ein. Kiang-schan war ein Schwerverbrecher und hatte wohl Strafe verdient, aber er wollte wenigstens nicht die beiden anderen der tödlichen Folter überlassen. »Halt!« rief er in den Raum hinein. »Hände weg von dem Mann!« Die Köpfe fuhren jäh herum. Der folternde Prie ster ließ das Messer sinken und blickte ebenfalls zur Tür. Kein Laut durchbrach die Stille. »Ihr habt kein Recht, diese Männer so zu mar 201
tern«, sagte Sun Koh. »Stellt sie vor ein Gericht und bestraft sie, aber nicht mit der Folter. Vergeßt nicht, daß ihr Priester seid.« Immer noch blieb es still. Dann reckte sich der Priester mit dem Messer. Auch er sprach drohend: »Wer gab euch das Recht, hier einzudringen und die Vollziehung unseres Urteils zu stören? Diese Männer vergriffen sich an unseren Heiligtümern und ermor deten einen von uns.« »Dann bestraft sie mit dem Tode, aber nicht mit der Qual.« Der Priester lachte höhnisch auf. »Ihr verlaßt euch zu sehr auf den Schutz des Ta schi Lama. Vergeßt nicht, daß ihr selbst Frevler seid.« Sun Koh zog seine Waffe. »Bindet diese Männer los!« Der Priester lachte nur, rief den anderen ein Wort zu, hob blitzschnell den Arm und stieß das Messer tief in den Rücken Kiang-schans hinein. Im gleichen Augenblick wurde es dunkel. Die Prie ster hatten die Lampen mit einem Schlag gelöscht. Sun Koh schoß, aber er war nicht mehr sicher, ob er getroffen hatte. »Hilfe!« gellte ein verzweifelter Schrei auf. Dann brodelte die Unruhe in der tiefen Dunkelheit durcheinander. Schatten bewegten sich. Ein Mann stöhnte. 202
Als der Schein der Taschenlampe in den Raum fiel, war der Raum schon fast leer. Die letzten Prie ster huschten eben durch die jenseitige Tür. Kiang-schan hing reglos am Folterbrett. Er war tot. Die beiden Abenteurer lagen immer noch zusam mengekrümmt am Boden. Sie atmeten jedoch nicht mehr. Die Dolche der Priester hatten sie noch getrof fen. Zu helfen war ihnen nicht mehr. Tibet hatte sich gerächt, und dieser schnelle Tod war wohl das gewesen, was diese Männer verdient hatten. Minuten später verließen Sun Koh und Hal den Tempel. Sie hielten sich auch in den Gassen von Ta schi-Lhumpo nicht mehr auf, sondern verließen un verzüglich die Stadt. Nimba nahm sie mit dem Flugzeug auf. Während er zu seinem Standplatz zurückflog, an dem er das Flugzeug Kiang-schans gelassen hatte, berichtete er von seinen Erlebnissen. Sun Koh hörte ihm beifällig, aber auch ohne Be geisterung zu. Etwas später sagte er nachdenklich: »Gut, daß du die Steine hast, aber es wäre besser ge wesen, dem Mann das Flugzeug zu lassen. Sie wer den ihn jagen und dann zu Tode foltern. Das möchte ich nicht, obgleich er ein Verbrecher ist. Es genügt, daß die anderen bezahlen mußten. Bring ihm das Flugzeug zurück. Du kannst mitfliegen, Hal. Erzähle 203
ihm, was du gesehen hast. Vielleicht lernt er etwas daraus.« Nimba hielt sich stumm an die Anweisung. Sie fanden den Amerikaner noch auf dem Plateau. Er hatte sich noch nicht entschließen können, die fast aussichtslose Wanderung durch das Hochland zu be ginnen, sondern darauf gewartet, daß seine Freunde zurückkommen würden. Er wurde sehr nachdenklich, als Hal ihm berichte te. Er war innerlich hart genug, aber Hal verstand zu erzählen, wenn es not tat. Er malte die nächtliche Szene im Tempelgebäude so schaurig aus, daß es auch für einen harten Gangster reichte. Als Hal ge endet hatte, quittierte der Amerikaner mit einer Kette von halblauten Flüchen, aber man konnte heraushö ren, daß es ihn nicht nur an der Oberfläche getroffen hatte. Noch mehr schien es ihn zu treffen, als ihm auf ging, daß ihm das Flugzeug zur Verfügung stand. »Wieso?« fragte er mißtrauisch. »Sie wollen mir. das Flugzeug lassen? Was ist das für ein verdammter Trick?« »Kein Trick«, beruhigte Hal ihn. »Wir haben nichts dagegen, wenn Sie gehängt werden, aber diese Folterei geht uns zu weit. Und das Flugzeug würde doch nur hier in der Gegend herumstehen. Sie sollen Ihre Chance haben.« Der Mann atmete so vorsichtig, als hätte er Angst, 204
eine Seifenblase wegzublasen. »Ich soll wirklich – verdammt will ich sein, wenn ich das glaube. So etwas gibt es doch gar nicht.« »Manchmal schon«, erwiderte Hal. »Von uns aus können Sie aber auch hier bleiben und Radieschen züchten.« Der Amerikaner stieg in das Flugzeug hinein, als wollte er es nie wieder verlassen. Nimba flog sie zu rück. Als er nach der Landung den Steuerknüppel freimachte, mußte er den Amerikaner zweimal auf fordern, sich zu bedienen. Dann rutschte er freilich schleunigst in den Pilotensitz. »Verdammt will ich sein, aber ich dachte nicht, daß es ernst gemeint ist«, murmelte er, während er sich anschnallte. »Das rettet mir das Leben, und mit der Maschine läßt sich etwas anfangen. Ich weiß bloß nicht – hm, wenn Sie jemals nach New York kommen und einen Mann wie mich brauchen soll ten …« »Brauchen wir nicht«, wehrte Hal ab. »Wir ver kehren nicht mit Gangstern, sondern nur mit anstän digen Leuten.« Der Amerikaner grinste schwach. »Geben Sie es noch nicht auf. Vielleicht gehöre ich dann zur besseren Sorte. Manchmal wirft es ei nen um, wenn man besser behandelt wird, als man es verdient hat. Also wenn Sie mal nach New York kommen sollten …« 205
»Sehen Sie zu, daß Sie erst einmal hinkommen«, unterbrach Hal abermals und kletterte hinaus. »Guten Rutsch!« »Verdammt will ich sein…«, murmelte der Ame rikaner fassungslos. Zwei Minuten später startete er, als ob der Teufel selbst hinter ihm her wäre. Sun Koh flog nach Lhassa zurück und übergab dem ersten Priester, den er am Rand der Stadt traf, die geraubten Steine und Schmucksachen. Noch am gleichen Tag verließ er mit seinen Be gleitern Tibet, und sie nahmen nichts mit als die Er innerung an tiefe Weisheit, gefühllose Grausamkeit und viel, viel Schmutz. ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
206
Als nächstes SUN KOH Taschenbuch Band 16 erscheint:
Freder van Holk
Die goldene Kassette
Eine goldene Kassette verschwindet aus einem Museum und taucht Tausende von Kilometern entfernt zwischen Ruinen von Mayabauten wie der auf. Sun Koh findet sie, aber über Nacht wird sie von mehreren Leuten als Eigentum be ansprucht und zugleich als gestohlen gemeldet. Auf der düsteren Insel des Unheils wird es un heimlich, doch die Katastrophe wird erst eintre ten, wenn die Kassette geöffnet wird. Einer weiß es, aber dieser eine schweigt. Er kommt erst ins Reden, als er erfährt, daß die Katastrophe sein eigenes Fleisch und Blut treffen muß. Sun Koh greift ein, aber Gier und Haß sorgen gemeinsam dafür, daß die Kassette geöffnet wird, die in Wirklichkeit eine Höllenmaschine ist. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.