Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Das Große Schiff brachte ...
24 downloads
558 Views
535KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Das Große Schiff brachte sie von der Erde ins ferne System der vierzig Planeten, die zusammen mit ihren zahlreichen Satelliten die Sonne Fornax umlaufen. Und dort begann das grausame Spiel der Illusionen. Cliff McLane und seine ORION-Crew kämpften und bestanden den Test, den die Dara, die Bewohner des Fornax-Systems, ihnen aufzwangen. Jetzt haben die Dara w e i t e r e Überraschungen für die terranischen Raumfahrer bereit. Cliff McLane und seine Gefährten werden einer neuen Prüfung unterzogen, in der es um alles geht. Es ist der »Test der Sternengötter«.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Vom gleichen Autor erschienen bisher folgende Raumschiff-Orion-Romane: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 23
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15) Verschollen im All (O 17) Safari im Kosmos (O 18) Die unsichtbaren Herrscher (O 19) Der stählerne Mond (O 20) Staatsfeind Nummer Eins (O 21) Der Mann aus der Vergangenheit (O 22) Entführt in die Unendlichkeit (O 23)
HANS KNEIFEL
RAUMSCHIFF ORION
DIE PHANTASTISCHEN PLANETEN Zukunftsroman Deutsche Erstveröffentlichung
E-Book by »Menolly«
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag nach Ideen zur großen Fernsehserie RAUMPATROUILLE, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH, geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1970 by Arthur Moewig-Verlag Printed in Germany 1970 Titelfoto: Bavaria-Atelier GmbH. Umschlag: Ott & Heidmann design Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Bandes enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer.
1 Mario de Monti, Chefkybernetiker und Erster Offizier der ORION VIII, war in einer mörderisch schlechten Laune. Er kauerte in dem Sessel mit der geschwungenen Rückenlehne und betrachtete das Programmierpult der mächtigen und geheimnisvollen Kybernetik des Großen Schiffes, als wäre diese Maschine sein persönlicher Gegner. In gewisser Weise war dies auch der Fall – und zudem spielte dieser Gegner noch ein sehr unfaires Spiel. Die riesige Metallkugel, mit deren Hilfe man die Extraterrestrier – oder Frogs oder Uraceel – aus dem System der vierzig Illusionswelten vertrieben hatte, raste zurück, in genau eben dieses System. An Bord waren, neben einer reichlich mißgelaunten ORION-Crew, neun Dara. Sie haßten die Menschen und alles, was mit ihnen zusammenhing. Obwohl nur die Mannschaft des irdischen Raumschiffes den Feind hatte vertreiben können, war sie als Söldnertruppe dadurch nicht sympathischer geworden. Nur noch einige Stunden trennten das Große Schiff vom vierten Planeten des Riesensystems, vom Planeten Braun mit seinen vier Monden. Mario stand auf, und in seinem Hirn begann sich ein reichlich kühner Plan zu bilden. »Ich muß Cliff sprechen!« murmelte de Monti. Er spannte seine breiten Schultern unter dem leichten Hemd und strich über sein blondes Haar, das seit dem Start von der Erde beträchtlich gewachsen war. Helga und Ishmee fanden, Mario sei dadurch zu einem unerhört gutaussehenden Mann geworden; als ob er dies nicht schon immer gewesen war.
Mario warf den Programmiersegmenten einen scheelen Blick zu und klopfte mit den Fingerspitzen einen schnellen Wirbel auf der Sessellehne. Dann verließ er den kleinen Nebenraum innerhalb der Steuerzentrale des Schiffes. Auf einem Schirm mit einer farbigen Analogprojektion war noch immer, oder schon wieder, das Multisystem zu sehen: Vierzig Planeten und hundertneunzehn Monde. Mario durchquerte den dreieckigen Raum, in dem sich vier Dara aufhielten. Sie würdigten ihn keines Blickes, und Mario blieb stehen. Er ärgerte sich. Und ehe er seine eigenen Magengeschwüre provozierte, reagierte er seinen Ärger lieber ab. Er wurde sarkastisch. »Nun, ihr Helden«, fragte er lauernd, »euch scheint der erbarmungslose Kampf gegen die eigene Unzulänglichkeit ziemlich erschöpft zu haben?« Beol, der Lenker des riesigen Sternenschiffes, machte den Fehler und gab eine Antwort. »Ihr seid wohl noch stolz darauf, daß ihr uns gezwungen habt, gegen unsere Natur zu sündigen, wie?« fragte er. Mario, dessen Fähigkeiten, mit Hilfe von klar formulierten Wunschvorstellungen die Materie zu verändern, in den letzten Wochen stark gestiegen waren, empfing durch diese Kynuroy-Vorstellung einen starken, deutlichen Gedankenstrom. Er drückte gelinden Haß und eine fast greifbare Ablehnung aus. »Einigermaßen, ja«, sagte er leichthin. »Schließlich verdankt ihr uns euer Leben und die Existenz eurer Planeten, Freund Beol.« »Das mag richtig sein«, sagte Aymat giftig. »Aber wir werden euch nie verzeihen können, daß ihr uns
mit Waffengewalt gezwungen habt, zu kämpfen.« Mario grinste und zuckte die Schultern. »Von mir aus«, sagte er laut, »euch ist nicht zu helfen. Ihr seid möglicherweise unsere Ahnen, aber die Altersverkalkung scheint bei euch seit einigen Jahrtausenden heftig in Gang zu sein.« Er ließ die Dara stehen beziehungsweise sitzen und ging weiter ins Schiff hinein. Nachdem er einen breiten Korridor hinter sich gebracht hatte, stand er vor der geschlossenen Tür von Cliffs Kabine. Er dachte einen lilafarbenen Wecker, der neben Cliff auf der Schreibplatte stand und heftig läutete. Cliff dachte ein Schild an der Klinke, an dem Herein stand – in Cliffs Handschrift. Mario trat ein und setzte sich. Cliff fragte ruhig: »Sicher hast du die Gelegenheit nicht versäumt, dich mit den geistigen Vegetariern dort draußen anzulegen, nicht wahr?« »Ich habe sie nicht versäumt«, erwiderte Mario. »Aber mir ist ein Plan erschienen wie eine Sonne.« »Auch Sonnen gehen unter«, erwiderte Cliff. »Welcher Plan?« Mario deutete auf den laufenden Bildschirm, der die Eindrücke wiedergab, die durch die durchsichtige Stahlwand beobachtet werden konnten. Jetzt war es noch der Farbwirbel des Überraumes, in Kürze würde es die Sonne des Multisystems sein. »Sobald unsere schlechtgelaunten Freunde von Bord sind werde ich ein zweitesmal versuchen, das Große Schiff auf Kurs zu bringen.« »Zurück zur Erde?« fragte Cliff leise und ungläubig.
»Dorthin«, sagte Mario. Sie sahen sich an und versuchten, die Möglichkeiten der Aktion und deren Erfolge gegeneinander abzuwägen. Damals, als Mario mit viel Arbeit und viel Glück versucht hatte, das riesige Generationenschiff aus dem Weltall auf Kurs zu bringen, war es ihm geglückt. Aber ob jetzt, da sämtliche Speicher aktiviert waren und das Schiff unter der geistigen Kontrolle der Dara stand, dieser Versuch glücken würde, war sehr fraglich. Beide Männer hatten durch den langen Aufenthalt in diesem rätselhaften System gewonnen; sie trafen ihre Entscheidungen schneller und sachgerechter. Bishayr war die restlose Aktivierung aller im menschlichen Verstand verborgenen Möglichkeiten – so faßten es wenigstens die sechs Mitglieder der Crew auf –, aber niemand von ihnen war in dieser Technik so vollkommen wie beispielsweise ein Dara. »Das wird zumindest ein spannender Versuch, Mario«, gab Cliff zu bedenken. Mario lehnte sich zurück, schlug seine langen Beine übereinander und hob die Hand. »Soll ich das Bandgerät einschalten? Ist es ein historisch wertvolles Dokument?« Mario verzog das Gesicht. »Nichts, was wir tun, liebster Kommandant«, knurrte er, »ist historisch wertvoll. Auch deine Versuche, den Kosmos zu einigen, sind es nicht. Abgesehen davon... lassen wir das jetzt; ich möchte nicht deine Intimsphäre verletzen. Denke darüber nach – so du es kannst. Wir kamen hierher, tappten eine Weile im Dunkeln und sahen einige Lichtschimmer vor uns. Wir sollten allmählich für eine Aktion reifgemacht werden, die
mit der Vertreibung der Uraceel endete. Diese Aktion fand statt, und die Uraceel haben sogar ihre Sternkarten verbrannt. Sie werden niemals zurückkehren, weder zu uns auf die Erde noch hierher. Also ist unsere Aufgabe erfüllt. Wie sehr wir uns beliebt gemacht haben – weil wir den Notwendigkeiten gehorchten! – hast du ebenso gesehen wie jeder von uns. Was, so frage ich dich, hält uns noch in diesem verrückten System der vierzig Illusionswelten?« Cliff lächelte traurig und antwortete: »Der Wille der Dara, Mario.« »Ist es der Wille der Dara, daß wir hier nacheinander die restlichen achtunddreißig Planeten absuchen, nach und nach, in einer jahrelangen Odyssee?« Cliff zuckte die Schultern, und als Mario seinen Kommandanten ansah, merkte er, daß McLane einige neue Falten in seinem Gesicht hatte. Er sah plötzlich auf eine nicht genau zu schildernde Weise älter aus und reifer. »Vielleicht wollen sie es, Mario?« Mario schlug mit der Faust auf die Sessellehne. »Auf alle Fälle werden wir das ausprobieren. In einigen Stunden gehen die Dara von Bord. Dann versuche ich das gleiche, was mir schon einmal geglückt ist. Bist du einverstanden?« Cliff nickte. »Ja«, sagte er dann nach einigen Sekunden der Überlegung. »Wir können es immerhin versuchen. Wie stehen die anderen dazu?« Mario breitete die Arme aus. »Ich habe sie noch nicht gefragt, weil ich den Segen des großen Meisters zuerst erflehen wollte. Deinen Segen habe ich, also werde ich jetzt Wahlpropaganda
treiben. Ich rechne mir einen einstimmigen Vertrauensbeweis aus.« Cliff sagte trocken: »Viel Glück!« Mario stand auf und verließ das Zimmer. Er nahm, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, das Schild, das Cliff gedacht hatte, und drehte es um. Dort standen jetzt die Worte: Nicht stören! Kommandant meditiert! Mario de Monti traf Helga und Ishmee bei dem Versuch an, mit Hilfe der von den terranischen Forschern und Wissenschaftlern zurückgelassenen Nahrungsmittel und Haushaltsgeräte ein passables Essen herzustellen. Der Ausdruck ›Kochen‹ ließ sich bei dieser Art Arbeit nicht mehr rechtfertigen. »Guten Appetit!« sagte Mario. »Was haltet ihr davon, das nächste Frühstück wieder unter den Strahlen der guten alten irdischen Sonne einzunehmen?« Helga wandte sich überrascht um und ließ beinahe eine Tube mit Sahnekonzentrat fallen. »Höre ich recht? Hat uns Cornst verabschiedet?« »Du meinst diesen silberäugigen Herrn, mit dem Cliff über Sein und Werden diskutiert hat?« »Genau den meine ich«, bestätigte die braunhaarige Funkerin. »Nein, das nicht«, sagte Mario und konnte an Ishmees Blicken sehen, daß sie die Natur seiner Gedanken sehr genau erkannt hatte. »Seiner Meinung nach sollten wir versuchen«, meinte das schwarzhaarige Mädchen leise, »mit Hilfe des Großen Schiffes die Erde zu erreichen oder wenigstens einen Punkt innerhalb der NeunhundertParsek-Raumkugel.«
»Ich verstehe«, meinte Helga und schaltete den Mikrowellenherd ab. »Ob die Dara damit einverstanden sein werden?« Ihre Zweifel waren berechtigt. »Unsere Aufgabe, die Vertreibung der Uraceel aus dem System der Dara, ist beendet. Was sollten wir sonst noch hier?« fragte Mario. »Aber sie versprachen doch, daß wir als Mittler zwischen den Dara und der Erde fungieren sollten«, sagte Ishmee. »Ob das nicht nur ein zusätzlicher Ansporn gewesen ist?« fragte der Kybernetiker zurück. Ishmee nickte. »Der beste Versuch, genau das herauszufinden, ist der Vorschlag von Mario«, sagte sie überzeugt. »Ich bin dafür.« Mario steckte einen Finger in eine Flüssigkeit, die man als Suppe bezeichnen konnte, und zog ihn schnell wieder heraus. »Ich versuche es!« sagte er nachdrücklich. Er ging langsam an den Platz zurück, an dem er die letzten Stunden gesessen hatte, und versuchte, in Gedanken alle die Handgriffe nachzuvollziehen, die damals zu einer Kursänderung des Schiffes geführt hatten. In den folgenden Stunden erlebte er mit, wie die riesige Kugel des Schiffsgiganten aus dem Überraum in das normale dreidimensionale Kontinuum zurückfiel. Er sah den leeren Raum zwischen den beiden Galaxien, sah das verwirrende, beängstigende Bild des nahen Fornax-Systems; einen feuerradförmigen Sternenschleier sah die Sonne und auf dem kleinen Schirm die vierzig Planeten und das Gewimmel der hundertneunzehn Monde. Einer der ursprünglich
einhundertzwanzig Monde fehlte – er war mit der Flotte der Uraceel weit in den Fornax-Nebel transportiert worden. Und plötzlich, als das Schiff in einer weiten Kurve über die Bahn des vierten Planeten raste, waren die Dara von Bord verschwunden, als habe sie es nie gegeben. Noch immer gehorchte das Schiff den gespeicherten Befehlen von Sueel oder Aymat. Mario streckte die Hand aus und drückte die Taste Löschen. Minuten später stand das Große Schiff bewegungslos, wie ein stabiler Satellit, über dem fünften Planeten. Es war der Planet Grün – und der Mond Grün VII fehlte. Mario beschlich ein ungutes Gefühl, als er versuchte, die mächtigen kybernetischen Maschinen des Schiffes auf Erdkurs zu programmieren. Aber er hatte während der Angriffe auf den siebenten Mond sehr genau aufgepaßt. * »Vielleicht haben wir Glück«, sagte Mario leise. Neben ihm stand Atan Shubashi und kontrollierte die Schaltungen des Kybernetikers. »Warum eigentlich diese Eile?« fragte Atan. »Das kann ich dir genau erklären«, antwortete Mario de Monti. »Übereinstimmend herrscht unter uns die Meinung, daß diese vierzig Illusionsplaneten eine ständige Herausforderung an unseren Verstand darstellen. Es ist so, als sollten Steinzeitmenschen binnen Tagen in Menschen der Basis 104 verwandelt werden.«
Atan nickte und sagte betroffen: »Also bin ich doch nicht allein mit dieser Ansicht. Ich habe genau die gleichen Gedanken, aber ich zögerte, sie euch mitzuteilen. Sie erschienen mir etwas vermessen.« Mario ließ ein neues Informationsband einfädeln und übertragen. »Nichts, was sich gegen unseren Verstand richtet, ist vermessen... aus diesem Grund wollen wir versuchen zu fliehen. Eine Flucht ist es, ja. Aber in diesem Fall ist der strategische Rückzug gleichzeitig der beste Angriff. Sehen wir weiter.« Sie arbeiteten eine Stunde lang. Nacheinander erschienen Cliff, Ishmee, Helga und Hasso Sigbjörnson in dem Raum. Sie hatten gespürt, daß eine Veränderung unmittelbar bevorstand. Immer mehr Teile der Kybernetik arbeiteten, und schließlich, nach einem langen Blick auf die Uhr nickte Mario. »Mehr kann ich nicht tun«, sagte er heiser vor Anstrengung. »Wenn ich jetzt diese Leitung freigebe, müßte das Schiff beschleunigen.« »Schade«, sagte Cliff fast bedauernd. »Wir hätten hier noch soviel interessante Dinge erleben können.« Hasso murmelte: »Interessante Dinge, die uns den Hals kosten konnten: Los, Mario, drücke deinen Schalter hinein. Der lange Weg zur Erde beginnt.« Mario drehte den Kopf und blickte Cliff fragend an. Der Kommandant nickte und sagte: »Start!« Marios Finger senkten sich. Ein viereckiger, großer
Knopf schnappte mit einem hörbaren Ruck ein. Summend begannen sich Maschinen zu bewegen, aber die automatischen Kursgeräte reagierten nicht. Atan machte einen Satz und stellte sich vor die Hauptanzeigentafel. »Höhere Energiegabe, mehr Energiefluß, aber keine erkennbare Lageveränderung«, meldete er aufgeregt. »Verdammt!« knurrte Cliff. »Was ist da los?« Und plötzlich wußten sie, daß sie verloren hatten. Im Sessel vor der Steuerung saß ein Dara. Er sagte laut und deutlich in der Sprache der Terraner: »Ihr bemüht euch vergebens, Freunde!« Cliff wirbelte herum und erwartete einen Sekundenbruchteil lang, Cornst dort sitzen zu sehen. Der Kommandant beherrschte sich augenblicklich wieder, aber seine geballten Fäuste bewiesen den Grad seiner Erregung. Die anderen fünf Personen starrten den Ankömmling schweigend an. Ihre Augen zeigten, wie aufgeregt und gleichzeitig hilflos sie waren. »Wer bist du?« fragte Cliff mit gefährlicher Ruhe. Der Mann, in eine enge, schwarze Hose und ein hemdartiges, dunkelrotes Kleidungsstück gehüllt, lächelte entschuldigend. Er war braungebrannt und besaß einen muskulösen Oberkörper. Um das rechte Handgelenk trug er etwas, das wie mehrere Windungen einer stählernen Kette mit winzigen Gliedern aussah. »Ich bin Khoisan«, sagte er. Seine Stimme war dunkel und kraftvoll. »Warum hat sich einer eurer Technologen eingeschaltet?« erkundigte sich Cliff. »Weil eure Zeit in diesem System noch nicht vorbei
ist«, sagte Khoisan gleichmütig. Jetzt fragte Ishmee erstaunlich gefaßt: »Was berechtigt euch eigentlich, willkürlich über uns zu verfügen? Wir wurden gegen unseren Willen über eine Million Lichtjahre weit durch den Raum gezerrt, wurden in eine Auseinandersetzung gezwungen, die nicht unser Kampf ist, und wenn wir freiwillig auf eure Versprechungen, nämlich auf den sogenannten Lohn, verzichten und zurückfliegen wollen, dann unterbrecht ihr den Countdown... was soll das eigentlich alles?« »Und obendrein müssen wir uns noch von neun der schlechtesten Kämpfer, die wir jemals erlebt haben, beleidigen und hassen lassen!« warf Hasso laut ein. Atan schrie: »Ganz zu schweigen davon, daß sie von uns gezwungen werden mußten, für ihre eigene Existenz zu kämpfen!« Khoisan saß da, als ginge ihn das alles nichts an. Er lächelte kurz und deutete dann auf Cliff McLane. »Du bist McLane, der Verantwortliche?« fragte er. »Ich bin McLane«, erwiderte Cliff sarkastisch, »aber gegenwärtig bin ich nicht einmal für meine Laune verantwortlich. Was willst du?« »Wir haben euch versprochen, daß ihr die Mittler zwischen uns, euren Vorfahren, einer sehr alten und sehr erfahrenen...« Hasso Sigbjörnson unterbrach: »... so sehr erfahren seid ihr auch wieder nicht! Ihr hättet sonst genau wissen müssen, wie und in welcher Form unser Aufenthalt hier ablaufen würde. Ich empfehle euch sehr, euch hier nicht als Halbgötter
aufzuspielen. Ihr könnt Illusionen erstellen, aber schon dann, wenn ihr um euer Leben kämpfen sollt, versagt ihr kläglich!« Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, sagte der Dara: »Ihr solltet die Mittler zwischen einer alten Rasse und deren späten Söhnen werden. Dazu sind gewisse Voraussetzungen nötig. Abgesehen von Kynuroy, das immer nur ein Zwischenstadium sein kann, müßt ihr euch verändern. In eurem Innern muß eine grundlegende Änderung durchgeführt werden, und diese Änderung ist nur hier und durch eine Reihe von Maßnahmen möglich, die wir für richtig halten. Seit einigen Jahrtausenden beobachtet das Große Schiff als unser Fernauge die Evolution der ausgesetzten Gruppen. Ihr seid bisher die einzige Gruppe, die die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit mitbringt. Aus diesem für beide Rassen sehr eigennützigen Grund bestimmen wir, was geschieht.« Cliff sagte fassungslos: »Wäret ihr gegen die Uraceel mit der gleichen Entschlossenheit vorgegangen, dann hätten sie sich bis zum Andromedanebel zurückgezogen – und zwar fluchtartig!« Ruhig erwiderte Khoisan: »Es sind noch immer einige Uraceel-Schiffe in diesem System.« »Dank der Fallen werden sie sicher ungefährlich bleiben wie bisher«, konterte der Kommandant. »Was geschieht also jetzt?« Khoisan stand auf. »Ihr solltet eure Erkundungsflüge in diesem System fortsetzen. Solange, bis wir uns davon über-
zeugt haben, daß ihr fähig und würdig seid, die Verbindung zwischen Dara und Terranern aufzunehmen.« Helga fragte schnell: »Wie lange wird dies dauern?« Der Dara musterte sie nachdenklich. Er nahm, das war deutlich zu erkennen, eine genaue Musterung vor und schätzte sie ein. Dann wiegte er seinen Kopf und sagte: »Ich habe bereits von Cornst erfahren und von dem Mädchen ohne Namen, mit dem du gesprochen hast«, er wies auf Hasso, »daß ihr sehr schnell begreift und daß ihr ziemlich genau wißt, wo Bishayr zu suchen ist. Es hängt von euch ab – nur dauernder Kontakt mit uns – mittelbarer Kontakt natürlich – ist entscheidend. Ihr werdet es in kurzer Zeit wissen.« Er schaute kurz auf die Analogprojektion, in der die Planeten und ihre Monde umeinander wirbelten, dann meinte er, als habe er etwas vergessen: »Und wenn ihr alles begriffen habt, wenn ihr reif seid, dann werdet ihr auch erkennen, daß uns Dara keine andere Wahl geblieben ist, als entsprechend energisch zu sein. Ihr werdet überhaupt viel begreifen in dieser Zeit!« Er lächelte Helga und Ishmee an, nickte Cliff zu und verschwand. Hasso murmelte nachdenklich: »Das System der geistigen Verheißung!« Cliff zuckte die Schultern. »Ich habe es, wenn auch nicht sehr deutlich, so doch immerhin, geahnt«, führte er aus. »Marios Versuch in allen Ehren – ich hätte mich sehr gefreut, wenn er Erfolg gehabt hätte. Auch ich möchte wieder
zurück, und unter den geschilderten Umständen führt der Weg zur Erde über eine Odyssee durch dieses System. Je schneller wir sein werden, desto schneller kommen wir wieder zurück. Worauf warten wir noch? Fangen wir an, suchen wir weiter... auch wenn wir nicht genau wissen, was wir eigentlich suchen. Bekanntlich findet derjenige, der sucht.« Atan sagte aufgebracht: »Was findet er? Farbige Planeten mit exotischen Oberflächen?« Cliff schüttelte den Kopf und sagte ernst: »Freunde! Uns bleibt keine andere Wahl. Wir werden diesen gewaltigen Umweg beschreiten, gleichgültig, wohin er uns führt. Die Dara wollen uns zu Botschaftern machen.« »Ein gewaltiger Fortschritt! Von Söldnern zu Botschaftern!« sagte Ishmee zornig. Cliff fuhr fort: »Und da sie uns brauchen, werden sie nicht zulassen, daß wir umkommen. Wir kennen den ersten Planeten leidlich gut – Planet Gelb. Wir kennen den vierten Braun. Und wir sollten jetzt den grünen Planeten kennenlernen. Eine Frage noch: Gehen wir gemeinsam oder einzeln?« Fünf Stimmen bewiesen ihm, daß man auf keinen Fall getrennt vorgehen sollte. »Also gut«, sagte er. »Hier unten, durch die durchsichtige Wand klar erkennbar, liegt der grüne Planet. Hier werden wir sicher auch grünes Gras und grüne Bäume finden. Wir essen, suchen unsere Ausrüstung zusammen und starten mit der ORION nach unten.« Sie verließen zögernd die Steuerung des Schiffes, die jetzt für sie zu einem Raum voller nutzlosen tech-
nischen Gerümpels geworden war. Während Mario de Monti in sein Abteil ging, um die Ausrüstung zusammenzustellen, dachte er daran, wie stark der Haß und die Ablehnung gewesen waren, die ihm die Dara entgegengebracht hatten. Er begann sich etwas zu fürchten. Selbst wenn ihm die Milliarden Dara versicherten, daß man die sechs Menschen als Botschafter brauchte, so fürchtete er doch die koordinierten Kynuroy-Fähigkeiten der neun Männer. Sie konnten einen Planeten in eine Hölle verwandeln. In eine Hölle aus Wirklichkeit und Illusionen. In eine Hölle von Wahrscheinlichkeiten und unglaublich perfektem Terror, in der die Hirne der sechs Terraner schutzlos waren. Überlebten sie es? »Verdammt!« sagte Mario de Monti laut und lud die Gasdruckwaffe durch, ehe er sie in die Schutzhülle steckte. »Aber es gibt keine Alternative. Wir müssen gehorchen – oder wir sterben hier im Großen Schiff.« Die lange, rätselhafte Odyssee durch das Multiplanetensystem ging weiter. * Bisher hatte gerade die Crew dieses Schiffes nicht gerade wenig Erlebnisse gehabt. Nacheinander hatten sie die Natur ungewohnter Planeten bezwungen, hatten Unsterbliche gejagt, hatten mehr gesehen als alle anderen Sterblichen und waren reiche Leute geworden. Sie hatten schnell, überlegt und umsichtig
gehandelt und hatten auch die größten Risiken nicht gescheut. Sie waren gerissen und ziemlich klug, was ihre Position in dem bekannten Teil ihres räumlich beschränkten Universums betraf. Aber sie waren bisher stets mit wirklich faßbaren Dingen konfrontiert worden. Mit Erlebnissen, die sich durch Nachdenken, Logik und etwas Intuition erklären ließen. Nicht so hier. Als der Zentrallift zum letztenmal Grund berührt hatte und die beiden Crewmitglieder ausgestiegen waren, befand sich das sechsköpfige Team auf einer grünen Welt. Sie hatten sich hier wieder ein Gebiet dieses annähernd erdgleichen Planeten ausgewählt, das unter der Morgensonne lag. Cliff hob die Hand und deutete dann auf die ORION, die bewegungslos zehn Meter über dem Boden schwebte. Der elliptische Schatten war weit im Westen. Sie standen am Rand einer gewaltigen Steppe, die sich bis zum Horizont erstreckte. Dicht neben der ORION standen die beiden ausgeschleusten LANCETS. »Bitte zuhören!« sagte der Kommandant. Alle Köpfe drehten sich in seine Richtung. »Sowohl an Bord der beiden Beiboote als in einer Gürteltasche eines jeden von uns befinden sich kleine Fernsteuerungen, die den Zentrallift herunterholen. Ich sichere das Schiff ab, nachdem wir gestartet sind. Sollte es notwendig werden, dann kann jeder von uns mit der ORION eingreifen oder sich retten – hoffen wir, daß es nicht so weit kommt.« »Verstanden.« Hasso zog die Handschuhe fester und warf einen langen Blick nach Süden.
»Mario, Helga und ich fliegen nach Süden, dann später nach Westen weiter«, sagte er deutlich. »Nehmt ihr den Gegenkurs?« Der Kommandant nickte dem Ingenieur zu. »Einverstanden Wann und wo treffen wir uns?« Ishmee schob den Ärmel der Expeditionsjacke zurück und schlug vor: »Kurz nach Anbruch der Dunkelheit wieder hier? Mit Bordgeräten können wir die Peilstrahlen der ORION sehr gut anmessen. Das ist besser als ein Leuchtturm.« »Gut«, sagte Hasso entschlossen. »Wir starten!« Sie stapften durch das taufeuchte, kniehohe Gras auf die Beiboote zu. Einige Minuten später startete zuerst die LANCET mit Hasso, Mario und Helga an Bord, dann hob das zweite kugelförmige Beiboot ab. In ihm waren Cliff, Ishmee und Atan Shubashi. Die halbrunden Fenster der Beiboote warfen die Strahlen der flach einfallenden Sonne zurück; es war, als erhebe sich ein flammendes Energiebündel. Einer der beiden Blitze schwebte lautlos nach Norden, der andere nach Süden. Eine Stunde verging. »Eine grüne Ebene«, sagte Mario fast träumerisch. »Man könnte meinen, wir wären auf der Erde.« Helga lächelte etwas wehmütig. »Nur keine voreiligen Schlüsse«, sagte sie. »Denke daran, daß wir uns hier beträchtlich weit von den australischen Ebenen entfernt befinden.« Hasso schaute durch eines der halbkugeligen Fenster hinaus. »Bis auf Einzelheiten in der Flora könnte man wirklich glauben, auf der Erde zu sein.«
In fünfzig Metern Höhe schwebte der kugelförmige Apparat mit ausgefahrenen Landebeinen über die Ebene. Die Gräser waren ähnlich wie die der Erde, aber sie trugen lanzenförmige, scharfe Spitzen. Durch das Grasmeer zogen sich breite Spuren wie von großen Tieren hin. Über der Ebene stand ein dunkelblauer Himmel, und nicht eine einzige Wolke war zu sehen. Nichts bewegte sich – eine lebendige Landschaft, ohne Zweifel, aber bisher hatten die drei Menschen nichts gesehen außer dem hohen Gras. Der Flug ging weiter. Hasso sah kurz zu Mario hinüber, der an der Steuerung saß, und sagte: »Hast du bemerkt, was ich bemerkt habe, Mario?« Mario grinste knapp und antwortete: »Ganz ohne Zweifel – aber was hast du bemerkt?« »Ich sah während des Anflugs, daß die Landschaft dieses Kontinents mosaikartig erscheint. Von oben betrachtet wie ein riesiges System verschiedener Landschaftsformen, die sorgfältig getrennt sind. Diese Ebene ist an einer Seite vom Meer, an der nördlichen Seite von einem Gebirge, im Westen von einer Hochebene und im Osten von einem Sumpfdelta begrenzt. Alle diese Teile sind, wenn ich richtig beobachtet habe, durch Waldstreifen voneinander getrennt.« Helga nickte zustimmend. »Jetzt, wo du es sagst, weiß ich es wieder. Etwas hat mich an dieser Landschaft gestört; jetzt fällt mir ein, was es war. Genau abgegrenzte Bezirke, deutlich voneinander getrennt. Ob das eine Bedeutung hat?« Hasso erinnerte sich an die wachsende Stadt aus Glas und sagte leise:
»Auf diesen Illusionswelten ist nichts bedeutungslos. Vielleicht leben hier verschiedene Dara in verschiedenen Bereichen... wir werden es irgendwann sehen. Und ich glaube nicht, daß sie sich vor uns verstecken.« Mario schien dieser ruhigen Landschaft nichts abgewinnen zu können. »Obwohl sie allen Grund dazu hätten. Südwesten, dort drüben... ich kann eine Holzkonstruktion erkennen. Ich steuere darauf zu, ja?« Helga und Hasso drehten sich herum und starrten hinaus. »Natürlich«, sagte Hasso gepreßt, »Holzkonstruktion?« »Ja«, sagte Mario und beschleunigte die LANCET. »Sieht aus wie ein hölzernes Tor. So ähnlich wie ein Göttertor der frühen japanischen Kultur.« »Phantastisch«, meinte Helga ironisch. »Das Tor ist der Anfang. Was wird für uns dahinter sein?« »Offene Fragen«, erwiderte Hasso. Aus dem hohen, grünen Teppich der endlosen Gräser ragte, als sie näherkamen, ein System aus weißgestrichenen Balken. Vier senkrechte Balken, etwa zwanzig Meter hoch, von denen zwei Paare im Abstand von ungefähr acht Metern nebeneinander standen. Zwei leicht geschwungene Balken befanden sich in fünfzehn Metern quer zwischen den paarig aufgestellten Säulen. In den untersten Balken waren einige Buchstaben oder Zeichen eingeschnitten, die man mit schwarzer Farbe gestrichen hatte. Das Tor sah nicht neu aus, trug aber auch nicht die Spuren des Verwitterns. Mario sagte kurz:
»Ich lande daneben, ja?« »Natürlich«, antwortete Hasso. »Wir werden vergleichende Studien treiben.« Grinsend flog Mario einen engen Kreis um das Tor, das völlig übergangslos aus der Ebene aufragte. Dann setzte er vorsichtig die LANCET ab. Die drei Terraner kletterten langsam die Leiter herunter und sahen sich um. Die Sonne stand höher, und die Hitze des Tages machte sich bemerkbar. Hasso setzte sich die dunkle Brille auf und ging langsam durch das hohe Gras auf das Tor zu. »Wohl kaum vergleichende Studien«, sagte er. »Die Göttertore der Japaner waren schwerlich aus Plastik.« »Höre ich recht?« erkundigte sich Mario mit einem sardonischen Grinsen. »Kunststoffe auch im VierzigPlaneten-System?« »Nichts ist mehr echt!« beklagte sich Helga. Sie schauten angestrengt nach oben und versuchten, die Zeichen zu erkennen und zu lesen. Es war umsonst. Es waren Buchstaben oder Ziffern, die keiner irdischen Schrift entstammten. Einige Minuten lang blieben sie so stehen und starrten hinauf, bis ihnen die Augen schmerzten. »Echt ist nur die Dekoration – wir sind wirklich auf dem fünften Planeten. Grün!« Sie sahen sich an, dann bemerkten sie die Spuren. Sicher hatten sie die Eindrücke im Gras übersehen, weil sie sofort nach dem Aussteigen auf die Schriftzüge geschaut hatten. »Ich werde verrückt!« sagte Mario respektlos. Er deutete nach unten, und sie sahen genau, was er meinte. Zwischen beiden Torpfosten begannen die Spuren, und die Richtung der geknickten Halme be-
wies deutlich, daß die Spuren vom Tor wegführten. Die drei Menschen sahen sich kurz an, und alle drei hatten sie denselben Gedanken. »Gefahr!« sagte Hasso leise und scharf. »Verdammt!« flüsterte Mario und versuchte Kynuroy anzuwenden. Er dachte ein stählernes Gitter, das den Raum zwischen den beiden Balkenpaaren versperrte. »Die Spuren, die übrigens schon alt sind«, sagte Hasso und richtete sich langsam wieder auf, »führen aus dem Tor hinaus. Möglicherweise ist jemand...« Neben ihnen ertönte plötzlich ein langgezogener, gellender Schrei. Mario fuhr herum. Das stählerne Gitter löste sich auf, und durch das Tor galoppierten in einem rasenden Galopp Reiter heraus. Sie saßen auf pferdeähnlichen Tieren, die eine Haut wie feuerrotes, glänzendes Leder hatten. Die Reiter waren absolut humanoid – sie glichen ein bißchen den hunnischen Reitern des frühen terranischen Mittelalters. Eine Kavalkade von ihnen ritt, ohne die drei Terraner zu beachten, durch das Tor und verteilte sich fächerförmig über die nähere Umgebung. Helga flüsterte entsetzt: »Andere Reiter... dort hinten... dort... überall!« Sie drehten sich um und erkannten, daß plötzlich die Steppe bevölkert war. Es schien unmöglich, aber so war es: Während des Anfluges mußten sie die Reiter glatt übersehen haben. Ein weiter Kreis von etwa zweihundert Punkten bildete sich rund um die LANCET. Zweihundert jener exotischen Reiter. »Was soll das bedeuten?« fragte das Mädchen entgeistert. »Das Tor ist real. Das Stahlgitter war es nicht.
Sind diese wilden Reiter real?« »Sie sind real!« sagte Hasso. Mario hielt seine Gasdruckwaffe entsichert in der Hand und war unentschlossen, ob er sich in Richtung auf die LANCET bewegen oder stehenbleiben sollte. Er zog letzteres vor. Staunend und regungslos erlebten die drei Terraner ein merkwürdiges Schauspiel mit. Rasend schnell näherten sich die Punkte, wurden größer – es waren, wie vermutet, Reiter. Mehr als zweihundert Berittene, vor denen auf den Sätteln kleine, pelzige Tiere lagen. Der Kreis wurde enger und dichter, und die Steppe hallte wider von den Geräuschen der Hufe und von den gellenden Schreien der Reiter. Die etwa dreißig Berittenen, die sich zuerst an den Terranern vorbeibewegt hatten, stellten sich in einem offenen Halbkreis auf, vermutlich, um die Jäger zu begrüßen. Ein unverständliches Stimmengewirr erhob sich. »Sie reiten zurück«, sagte Helga. »Zurück in ein Land hinter dem Tor.« Einer der Reiter riß seinen Speer hoch, an dessen Spitze eine Art aufgefasertes Seil flatterte. Mit einem lauten, hellen Schrei lenkte er sein Reittier in einen engen Kreis, galoppierte auf das Plastiktor zu und verschwand darin. Es war, als verschwinde er in einem Spiegel. »Weg!« sagte Mario. Andere Reiter folgten. Sie drängten sich aneinander, stießen spitze Schreie aus und galoppierten auf die Balkensperre zu. Verschwanden einfach. Hinter ihnen kamen die Jäger. Eine letzte Gruppe bildete sich – und als die letzten Reiter an ihnen vorbeirasten,
zischte eine Schlinge durch die Luft. Sie schlang sich um Marios Oberkörper, Mario riß die Oberarme hoch, aber es war zu spät. Das Seil straffte sich, und Mario wurde herumgerissen. Er mußte rennen, um nicht zu fallen, und innerhalb einiger Sekunden wurde er durch die beiden Torpfosten gerissen. Er verschwand. Der kreischende Schrei des letzten Reiters war alles, was Hasso und Helga noch hörten. Dann war die Steppe wieder ausgestorben wie vorher.
2 Der knapp hundertachtzig Zentimeter große, breitschultrige Mann lief schwer atmend neben dem letzten der ungefähr zweihundertfünfzig Reiter einher. Das Lasso hatte sich um seine Schultern gespannt und schnürte ihm den Atem ab, und der Reiter zügelte sein merkwürdiges Reittier etwas. Die Umgebung, merkte Mario de Monti, hatte sich nicht verändert – immer noch die Steppe. Als er sich aber umdrehte und zurückschaute, sah er nur das weiße Holztor. Hasso, Helga und die LANCET waren verschwunden. Mario konzentrierte sich scharf und versuchte, durch Kynuroy die Schlinge abzustreifen. Er schaffte es nicht, denn jedesmal, wenn sie sich lockerte, bewirkte ein harter Zug, daß sich das Seil wieder straffte. Der Reiter holte das Seil ein und blieb dicht neben Mario. Er beugte sich aus dem Sattel und fragte laut: »Du bist Mario, nicht wahr?« Mario schaute verblüfft auf und nickte. Seine Lungen arbeiteten in harten, keuchenden Stößen. »Ja. Wer seid ihr? Illusionen?« Der Reiter sagte mit unverkennbarem Stolz: »Wir sind eines der fünftausend frühen Völker.« »Was?« Das Pferd mit der dunkelrot-ledernen Haut wurde schneller, und der Reiter gab keine Antwort mehr. Vor Mario tauchten aus der Steppe halbkugelige Bauwerke auf, etwa fünf Meter hoch und demnach etwa zehn Meter durchmessend. Sie schienen aus weißem Leder zu bestehen und aus einem Gerüst von
Stangen. Ein vierfach hintereinander gestaffelter Halbkreis, in dessen Mitte das kleinere Abbild eines Tores aus dem gleichen Material stand. Einige Feuer loderten, und die Rauchsäulen stiegen fast senkrecht in den Himmel des Vormittags hoch. Mario de Monti und sein Reiter liefen und galoppierten geradeaus, in das Zentrum des Halbkreises hinein. Neben einem offenen Hütteneingang stand ein schlanker, großer Mann, der seine Artgenossen um einen Kopf überragte. Er betrachtete schweigend und zurückhaltend die beiden Näherkommenden. Die anderen Reiter verteilten sich mit ihren Beutetieren auf die einzelnen Hütten, und die gellenden Schreie wurden weniger. Die Schlinge löste sich, das Tier wurde auf der Hinterhand herumgerissen und schnaubte auf, dann entfernte sich der Reiter. Erschöpft ging Mario auf den schlanken Mann zu. »Du bist Mario – du kommst von den Sternen?« fragte der Mann und zog nachdenklich an den Spitzen seines dünnen Bartes. »Ja«, sagte Mario und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann öffnete er die Säume des Hemdes. »Was soll das alles hier?« Die beiden Männer sahen sich schweigend an. Mario wußte, daß ihn nur das am Anfang der Reise entwickelte Konzept davor bewahren konnte, wahnsinnig zu werden. Er mußte diese Einstellung gegenüber allem, was er sah und erlebte, bewahren: Naiv, aber nicht unkritisch betrachten und versuchen, Schlüsse zu ziehen. Auf keinen Fall zu tief in die Sache hineingehen. Er war hier offensichtlich im Zentrum einer weiteren, merkwürdigen Kulturform dieses Planeten gelandet, und die nächsten Worte des
Anführers schienen jeden Zweifel auszuräumen. »Wir wurden von den neun Männern, die euch gut kennen, verständigt. Wir sollen euch holen und zu dem Mann bringen.« Diese neun Männer – das konnten nur Beol, Aymat und die anderen sein, die ihren Haß auf die Söldner bis hierher projiziert hatten. Aber was bedeutete dieser Hinweis? Mario fragte laut: »Zu wem?« »Zu dem Mann!« Mario fragte, während er sich prüfend umsah: »Wer ist der Mann?« »Es ist der, den du kennenlernen sollst. Zuerst werden wir durch das weite Gerade reiten, dann zu der Festung kommen, schließlich in die Stadt. Und dort, in der Schule der Reiter, wirst du den Mann treffen.« Mario dachte einen Schemel und setzte sich; merkwürdig, daß Kynuroy hier einmal zufriedenstellend funktionierte und dann wieder nicht. Langsam begann er unsicher zu werden. Was ging draußen, vor dem Tor zu einer anderen Welt, vor? Was geschah mit Helga und Hasso und den anderen? Was sollte das alles hier bedeuten? Er wußte, daß die nächste Zeit an ihn und seinen Verstand größte Anforderungen stellen würde. »Wer bist du?« fragte er scharf. Er tastete nach dem Kolben der Gasdruckwaffe. »Ich bin ein Dara der frühen Völker. Ich bin Teil eines Verfahrens, das du jetzt noch nicht verstehst.« Mario nickte. Das war wenigstens eine einigermaßen glaubhafte Erwiderung. Er fragte weiter: »Wie heißt du?«
»Ich bin Der-die-Steppe-besiegt. Und das ist mein kleines Volk. Eines der frühen Völker. Wir leben, wenn es gewünscht wird, und wir sind nicht, wenn wir nicht gebraucht werden.« »Also eine Illusion wie alles andere?« fragte Mario begierig. »Nein. Keine Illusion. Wie du gemerkt hast, sind wir wirklich. Aber wir haben keine Zeit. Kannst du reiten?« Mario sagte: »Ich habe es noch nicht versucht, aber ich zweifle nicht daran, daß ich es hervorragend beherrsche. Wo ist ein Pferd?« Der-die-Steppe-besiegt lachte kurz. »Wir reiten zusammen zu dem Mann. Wenn die Sonne ganz oben steht.« Mario streckte seine langen Beine aus, und die Absätze seiner Stiefel zogen zwei tiefe Furchen in den zertrampelten Boden. Die Szene hatte etwas außerordentlich Befremdliches; als wäre Mario Mittelpunkt eines plastischen Filmes. Aber während der kurzen Unterhaltung hatte er mehrmals den Versuch gemacht, mit Hilfe von Kynuroy Männer oder Pferde wegzudenken. Sie waren geblieben – sehr wirklich und sehr eindringlich. »Was sollen wir dort?« fragte Mario und überlegte, welcher Sinn hinter allem stecken konnte, gab es aber schnell wieder auf, als er sich die Prämisse der ersten Tage ins Gedächtnis zurückrief. »Der Mann will mit dir sprechen, so wie er mit uns spricht.« Mario musterte eindringlich den Anführer des frühen Volkes.
»Worüber?« Der andere zuckte die Schultern. »Ich bin mit zwei Freunden und einem Flugapparat gekommen«, sagte der Kybernetiker hartnäckig. »Was geschieht mit ihnen?« »Sie werden von einem anderen Volk geholt«, versprach Der-die-Steppe-besiegt. »Sie erleben das gleiche wie ich?« Von links näherte sich den beiden Personen einer der Reiter; ein wild zurechtgemachter Krieger mit Lanze, Bogen und Köcher, in einer ledernen Kleidung und mit einem finsteren, entschlossenen Gesichtsausdruck. Sein Bart war schwarz und nach unten gekrümmt. »Nicht das gleiche, aber etwas Ähnliches«, sagte der Anführer. Er wandte sich dem Reiter zu. »Ja?« »Männer und Tiere stehen bereit. Der Mann hat schon einmal gerufen!« »Es ist gut«, sagte der Anführer. »Wie viele sind wir?« Der Krieger deutete geringschätzig auf Mario de Monti, der versuchte, sich jede Einzelheit des eindringlichen Wachtraums genau einzuprägen. Er hörte die Rufe und die Unterhaltungen, die Schreie der Tiere, er roch den Rauch der Feuer und den Duft von Braten, und hin und wieder sah er zwischen den kuppelförmigen weißen Hütten die Gestalt einer jungen Frau oder eines Mädchens. »Mit diesem Wanderer hier zehn«, sagte der Reiter. Mario schaute in die dunklen Augen des Reiters und sagte langsam: »Ich bin nicht nur ein guter Wanderer, sondern
auch ein Mann, dessen Fäuste schneller sind als der Blitz über der Steppe, du krummbeiniger Pferdeknecht. Geh mir aus der Sonne, sonst fröstelt es mich!« Der Reiter wollte sich auf ihn stürzen, besann sich aber im letzten Moment und ging achselzuckend davon. Er verschwand hinter den runden Hütten. Mario schaute unauffällig an sich herunter und stellte fest, daß sowohl die Magazine als auch das Funksprechgerät noch vorhanden waren. Er schaltete das Armbandgerät ein und hob den linken Arm an. »Hier de Monti«, sagte er deutlich. »Ich rufe Helga oder Hasso!« Das Gerät war eingeschaltet, und er drehte den winzigen Knopf des Lautstärkereglers bis zum Anschlag. Keine Antwort. »Du bist in einer anderen Welt, wo weder deine Gedanken noch deine Maschine einen Weg hinaus finden werden!« »Das beruhigt mich!« sagte Mario trocken und schaltete das Funkgerät wieder aus. Er war allein in jener merkwürdigen Welt hinter dem Tor aus Kunststoff. Und er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte und wer dieser Mann war, der ihn zu sprechen wünschte. * In der Kette der zehn Reiter war Mario der vierte. Sie stoben in einer Geschwindigkeit über die Ebene, die höher war, als Mario geschätzt hatte. Die Reittiere, durchaus pferdeähnlich, aber mit einer ledernen Haut
wie Nashörner ausgerüstet, rannten dahin, als hätten sie keine Lungen. Mario glaubte, mindestens hundert Stundenkilometer schnell zu sein. Der-die-Steppebesiegt ritt vorn, und der lange Pferdeschweif an seiner Lanze flatterte im Wind. Die letzten Hütten verschwanden am Horizont. Jetzt waren sie auf einer riesigen, mathematisch flachen Ebene allein. Nur die trommelnden Geräusche der Hufe waren zu hören und die hellen Rufe, mit denen sich die Reiter verständigten. Nach welchen Merkmalen sie sich orientierten, war Mario schleierhaft, aber als er sich umdrehte und nach den Spuren im hohen Gras schaute, sah er erstaunt eine Gerade. »Wie lange reiten wir, Anführer?« schrie er. Das Tier unter ihm rannte dahin wie ein Rennpferd. Das Reiten war weniger anstrengend, als er gedacht hatte, denn der Sattel war groß und ausreichend gepolstert. »Bis zur Dunkelheit!« brüllte Der-die-Steppebesiegt zurück. Es ging weiter. Stundenlang, immer geradeaus. Wie winzige Insekten, die sich über eine gewaltige Tischplatte bewegten, so rasten die zehn Reiter hintereinander her, immer dem Ratternden Schweif nach, der an der Lanze des Anführers befestigt war. Es gab weder Insekten, die sie belästigten, noch sah Mario ein einziges Tier. Er versuchte, während er ritt, verschiedene Theorien zu entwickeln und fand, daß er, verglichen mit Cliffs ersten Erlebnissen auf dem Illusionsplaneten und mit dem Überfall der Illusionen auf dem Planeten Gelb, im Augenblick in einer sehr angenehmen Situation war.
»Aber das«, murmelte er fatalistisch, »kann sich schließlich hier jede Sekunde ändern.« Der-die-Steppe-besiegt schrie fragend zurück, durch das Trommeln der vierzig Hufe: »Was hast du gesagt?« Mario grinste breit und ließ die Zügel locker. »Ich sagte eben, daß es Zeit wird, daß etwas Unangenehmes passiert. Ein Steppenbrand etwa.« Der Anführer streckte die Hand hoch und schrie: »Darauf wirst du nicht lange zu warten haben, Mario. Wir nähern uns den Gräben.« »Wie schön«, antwortete der Terraner. »Womit sind diese Gräben gefüllt? Mit Säure oder mit flüssigem Glas?« »In den Gräben sind die Shen!« sagte der Anführer. Mit der hochgehaltenen Hand gab er ein kompliziertes Zeichen, worauf sich die neun folgenden Reiter, unter ihnen auch Mario, zu einer Linie auseinanderzogen. Zwischen zwei Tieren war ein Abstand von zwanzig Metern. »Was sind die Shen?« schrie Mario aus vollen Kräften. »Warte und sieh!« gab der Anführer zurück und faßte seine Lanze fester. Mitten im gestreckten Galopp nahmen die anderen Reiter die langen, fast zwei Meter großen Bögen von den Schultern und rückten die Köcher zurecht. Mario nahm die Gasdruckwaffe aus der Tasche und entsicherte sie. Er war verwirrt – waren es Tiere, Ungeheuer, Naturerscheinungen oder irgendwelche anderen unangenehmen Überraschungen? Und plötzlich änderte sich für ihn die Szene. Er hatte den schwächsten Punkt seiner Überlegungen
und Behelfstheorien erreicht. Blitzschnell erkannte er seine wirkliche Situation: Er war allein. Er war ein unsicherer Fremdkörper in einer Welt, von der nicht feststellbar war, wie real sie wirklich sein konnte. War man wirklich tot, wenn man in diese Welt hinter dem Balkentor starb? Es war für ihn der gleiche Schock, den er vor rund zwanzig Jahren empfunden hatte, als er nach einer Reparatur außenbords im All schwebte – mit ausgefallenem Helmfunkgerät. Allein und gefährlich in einer Umwelt, die nicht die seine war. Als er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, wußte er, daß er Angst hatte. Wie konnte er es schaffen, zu überleben und trotzdem nicht wahnsinnig zu werden? Er wußte es nicht. »Vorsicht!« schrie der Anführer. »Wir sind da.« In der gleichen Sekunde spaltete ein furchtbarer Schrei die Stille. Hundert Meter vor ihnen tauchten aus dem hohen Gras drei Köpfe auf. Sie schienen riesigen Sauriern oder saurierähnlichen Ungeheuern zu gehören: Hörner, spitze Zähne, aufgerissener Rachen und riesige Augen unter hornigen Lidern. »Das sehe ich!« knurrte Mario sarkastisch. Dann erkannte er, daß diese Tiere, selbst wenn sie zu den Gefahren dieser Steppe zu rechnen waren, diesmal ein Höchstmaß an Gefährlichkeit erreichen würden. Denn sie wurden, Illusionen oder nicht, von den haßerfüllten Gedanken der neun Dara gesteuert. Der Beweis wurde eine Sekunde später geführt, als sich eines der Tiere zielsicher aus dem Graben erhob, zur vollen Größe aufrichtete und laut trompetend auf Mario zuraste. Es war etwas größer als ein Planiergerät.
»Ich helfe dir!« schrie einer der Reiter. Mario lenkte sein Pferd mit einer Hand auf das Untier zu. Kurz vor dem Tier riß er das Pferd herum und feuerte zwei Schüsse ab. Sie prallten heulend von der Panzerung des Tieres ab, und auch der Gigant machte eine blitzschnelle Wendung und schlug mit seinem fünfzehn Meter langen, peitschenähnlichen Schwanz nach Mario. Der Schwanz pfiff dicht über Marios Kopf dahin, und der Knall betäubte ihn fast. Sein Pferd stieg scheuend hoch, und der Shen kam näher. Er bewegte sich auf vier Raubtierbeinen mit langen Klauen. Die anderen Reiter, so erkannte der Terraner mit einem blitzschnellen Seitenblick, teilten sich in die Aufgabe, die Bestien abzuschütteln – sie verwirrten die Tiere, indem sie sich nach verschiedenen Richtungen zurückzogen. Mario zwang sein Pferd zu Boden und ritt wieder auf die Bestie zu, zielte diesmal auf die Augen oder in den Raben. Schreiend und heulend kam der Shen näher. Mario bewegte sich auf einer schrägen Linie, der Shen griff auf einer Geraden an. Er sprang nach dem Reiter, peitschte seinen Schwanz nach Mario und trompetete laut. Dann schien ein Schuß getroffen zu haben, aber die Gasdrucknadel reichte nicht für einen Körper, in dem ein Hektoliter Blut kreiste. Nur die Bewegungen des Tieres wurden langsamer. Der zweite Reiter griff an. Er raste an Mario vorbei, direkt auf das Tier zu und richtete seinen Bogen auf das Auge des Shen. Als er an dem Punkt eines großen Kreises angelangt war, der dem Shen am nächsten war, schoß er. Heulend schoß der Pfeil vorwärts und bohrte sich in einen Augenwinkel des Tieres.
Gleichzeitig feuerte Mario. Zwei Narkosenadeln trafen. Eine ins Auge, die andere in den Rachen. Das Tier schüttelte den Kopf, und gleichzeitig schlug ein zweiter Pfeil ein. Dann senkte sich der mächtige Hals, und als das Tier zusammenbrach, krachten und klirrten die Panzerplatten des Saurierähnlichen. »Schnell! Weg!« brüllte der andere Reiter und jagte dicht an Mario vorbei. Mario setzte die Sporen ein, und sein Tier machte einen Satz nach vorn, der ihn beinahe aus dem Sattel riß. »Die Gräben!« Er ritt gegen die Sonne. Vorbei an dem Kadaver eines anderen Shen, durch das verwüstete Gras und auf den Grabenrand zu. Das Pferd erkannte den Graben, spannte seine Muskeln, und Mario stand in den Steigbügeln auf. Mit einem mächtigen Satz sprang das Tier über den Graben, kam auf und galoppierte schnaubend und keuchend weiter. Der zweite Graben wirbelte Mario wieder durch, aber er konnte sich festhalten. Nach einem dritten Sprung, der ihn fast aus dem Sattel riß, war wieder die freie Fläche erreicht. Nur das Schreien des letzten lebenden Shen war hinter ihnen, als sich die zehn Reiter wieder sammelten und weiterritten. Das Riesentier senkte den Schädel bis dicht über den Boden und rannte ihnen nach, aber die Pferde schienen schneller zu sein. »Bist du verletzt?« fragte schreiend der Anführer. »Nein!« gab der Terraner zurück. Langsam vergrößerte sich der Abstand zwischen dem Raubtier und den zehn Reitern. Sie schwenkten
wieder in ihren alten Kurs ein und formierten sich zu einer Linie. Wieder führte der Weg an der Sonne vorbei – und irgendwo in der Ferne, wie eine Fata Morgana, erhoben sich hohe, schlanke Gebäude. Mario trieb sein Tier an, brach aus der Reihe aus und galoppierte neben dem Anführer dahin. »Wie lange noch?« fragte er etwas leiser. »Bis zur Dunkelheit.« Mario deutete nach vorn, auf den weißen, säulenförmigen Schimmer am Horizont. »Was ist das dort vorn?« Der-die-Steppe-besiegt sagte: »Das ist die Festung. Wir werden dort kurz anhalten.« Mario fragte sarkastisch: »Wozu anhalten? Wir sind doch erst tausend Kilometer geritten!« Der Anführer erläuterte, ohne im geringsten angestrengt zu wirken: »Diese Festung dort ist ein Teil der Grenze gegen das andere frühe Volk. Sie führen ab und zu Krieg gegen uns von der Ebene. Und der Mann hilft uns, sie wieder zu vertreiben.« »Er wohnt in der Festung?« fragte Mario mißtrauisch. Langsam wurden mehr Einzelheiten deutlich. Übergangslos erhob sich auf einem Berg oder einer künstlichen Aufschüttung, die wie ein angeschnittener stumpfer Kegel wirkte, ein Bauwerk, das an eine irdische Burg erinnerte. Der Schildwall wurde deutlich, und darauf schien sich ein Bild oder ein Wappen zu befinden. Alle Mauern, auch die Dächer und die Aufbauten, waren von einem auffallenden Weiß, das
über der grünen Steppe wie Schnee glänzte. Die Sonne stand noch nicht sehr tief im Nachmittag. »Nein. Er wohnt in der Schule, in der Karawanserei«, gab der Anführer zur Antwort. »Er weiß jetzt, daß wir kommen – daß du kommst.« Marios Grinsen war breit aber unecht. »Wahrscheinlich hat er meine freundlichen Gedanken gespürt«, meinte er ironisch. »Mich würde es nicht wundern, wenn Cliff McLane dieser Mann wäre.« Die Antwort des Anführers trug dazu bei, seine Furchtgefühle zu vergrößern. »Nein. McLane ist es sicherlich nicht.« Der rasende Galopp ging weiter, als wären die Tiere Roboter. Aber auch darüber hatte sich Mario bereits Gedanken gemacht und war zu dem unumstößlichen Schluß gekommen, daß es lebende Wesen waren. So echt, wie ein Tier nur sein konnte. Und auf keinen Fall eine Illusion. Aber dies wiederum paßte nicht in seine Theorie über die Natur aller Vorkommnisse dieser Planetenoberfläche. Er fiel wieder zurück und nahm seinen Platz in der Reihe ein. Eine halbe Stunde später wurden die Tiere langsamer. Die Festung erhob sich vor ihnen in den Himmel. »Unbezahlbar!« sagte Mario dumpf. »Mario de Monti im Märchenland.« Es war eine überdimensionale Spielzeugburg. Sie stand auf einem grün bewachsenen, mit riesigen Bäumen bedeckten stumpfen Kegel. Senkrecht wuchsen fugenlose Rundmauern aus dem grünen Kegel hervor, gekrönt von Zinnen und Vorsprüngen, Erkern und Schießscharten. Menschen waren auf den
Mauern zu sehen, eine Zugbrücke bewegte sich knarrend, und wieder beschlich Mario der Eindruck, als befände er sich in einem unvorstellbar genauen und plastischen Film. Wollte man ihm hier etwas zeigen? Als die zehn Männer langsam an das Bauwerk mit den beiden dicken, runden Türmen heranritten, die den spiraligen Zufahrtsweg zum Zugbrückentor flankierten, traten farbenprächtig gekleidete Wachen daraus hervor und richteten langläufige Vorderlader auf die Ankommenden. Wenige Sekunden später erkannte Mario auch das Bild auf dem riesigen, kantigen Schildwall: es war eine allegorische Darstellung des Sternenhimmels, eines Planeten, der halb von der Sonne ausgeleuchtet wurde – und des Großen Schiffes, das auf den Planeten zuschwebte. Er versuchte, den Eindruck zu verarbeiten, aber ein lauter Ruf störte ihn. »Halt! Wer seid Ihr?« Der Anführer schwenkte seine Lanze und schrie zurück: »Der-die-Steppe-besiegt und seine Männer... mit einem Freund, den der Mann dringend erwartet.« Die Wache schrie zurück: »Willkommen! Auch wir wissen von Mario, dem Mann von den Sternen. Er wird in der Karawanserei erwartet.« Mario de Monti schwang sich mit schmerzenden Gliedern aus dem Sattel und führte sein Tier an die Futterstelle. Dort band er es fest. Wasser und getrocknetes Steppengras waren reichlich vorhanden, und hinter dem Anführer kamen die Reiter in eines der beiden Wachhäuser. Die Wache sagte:
»Ihr sollt schnell weiterreiten. Der Mann sagte uns, wir sollten euch einen kräftigen Trunk kredenzen!« In Marios Erinnerungen schwangen diese Sätze nach. Erstens, weil sie in Terranisch gesprochen worden waren, zweitens, weil ihre Diktion ihn an einen Text erinnerte, den er vor langer Zeit gelesen hatte. Sprach man nicht irgendwann auf Terra in dieser gestelzten Form? Er nahm einen Becher aus glänzendem Metall entgegen, der randvoll war. Das Getränk roch süß und berauschend, nach Früchten oder deren Aroma. Er setzte ihn an und trank ihn aus. Einer der Wächter sagte dröhnend: »Ein Trank voll süßer Labe!« Die Reiter lachten laut. Die Flüssigkeit roch und schmeckte gut. Sie verscheuchte die Müdigkeit aus seinem Körper und machte seinen Verstand wieder klar. Noch immer wartete er auf das Wunder, das die Dara versprochen hatten – daß sämtliche vorhandenen Zellen des Hirnes im Rahmen der Bishayr-Schulung zusammenwirken sollten. Er merkte zwar, daß sein Verstand immer besser funktionierte, aber ständig wurde er mit neuen Vorstellungen, bizarren Illusionen und unwahrscheinlichen Vorkommnissen überschüttet. Zahllose Impulse h ämmerten pausenlos gegen den Verstand. Unwahrscheinlichkeiten machten jeden Ansatz einer vernünftigen Umwelttheorie zunichte, ehe er ausgereift war. Einer der Wächter blieb vor Mario stehen und betrachtete ihn abschätzend. »Du siehst zwar dem Manne ähnlich, aber es ist besser als du«, sagte er mit ruhigem Spott. Mario hielt ihm den leeren Becher entgegen und knurrte:
»Auffüllen, du Buntspecht!« Der Wächter grinste ihn an und schaute dem Anführer fragend ins Gesicht. »Er sieht so aus, als könne er dich unter die Bank trinken«, sagte der Reiter und winkte seinen Männern. »Einen halben Becher!« entschied Mario und trank ihn aus. »Los, wir reiten weiter. Wir müssen bis zur Dunkelheit an der Stadt vorbei und in die Karawanserei!« sagte Der-die-Steppe-besiegt laut. »Auf die Pferde!« Sie gingen wieder nach draußen in das grelle Licht der Nachmittagssonne. Mario warf einen langen Blick auf die Burg und fand alle seine Eindrücke bestätigt. Die Märchenburg mit ihren Zinnen und dem auffallenden Bild am Schildwall beherrschte die Ebene, aber bereits von hier aus sah Mario am Horizont das Gebirge, das sie schon während des Anflugs als natürliche Grenze dieses Landstrichs identifiziert hatten. Die Reiter kletterten in die Sättel, rissen die Pferde vom Futter weg und rückten die Waffen zurecht, stießen anfeuernde Rufe aus. Auch Mario setzte seinen Raumfahrerstiefel in den Steigbügel, hielt sich am runden Knauf des Sattelhorns fest und schwang sich auf das Tier. »Weiter!« rief einer der Männer. »Danke für den Trank!« sagte der Anführer, und die kleine Kavalkade donnerte zwischen den Mauern der Türme wieder hervor und ritt in die Richtung, die sie bisher eingeschlagen hatten. Irgendwo zwischen Bergen und Ebene befanden sich die erwähnte Stadt und die Karawanserei.
Die Pferde gingen gleichmäßig, und das rasende Tempo der letzten Stunden wurde innerhalb kurzer Zeit wieder erreicht. Während die Bergkette am Horizont wuchs, verschmolzen die phantastischen Formen der Burg mit dem Himmel, wurden dünner und verschwanden schließlich ganz. Knapp eine Stunde später schob sich eine ähnlich bizarre, unglaubliche Kulisse vor den Reitern hoch. Mario fragte: »Das ist die Stadt?« Der Anführer drehte sich im Sattel und rief: »Ja. Eine Stadt, die nichts für uns Nomaden ist, aber die Bewohner sind auch von unserem frühen Volk.« Mario nickte. »Was bedeutet dieses ›frühe Volk?‹« fragte er laut und sah zu, wie Türme, Masten und einzelne hohe Bäume sich ins Blickfeld schoben. »Wir sind Dara«, erklärte ein Reiter. »Aber wir sind anders als die Dara der anderen neununddreißig Welten. Wir sind älter und jünger zugleich – als Rasse.« »Ich verstehe nichts«, sagte Mario. Der Anführer knurrte: »Das ist auch unnötig. Am Ende deiner langen Reise wirst du alles verstehen.« Mario sah den Rauch aus vielen Kaminen und glaubte sich deutlich vorstellen zu können, wie die Menschen dort in der runden Stadt aussahen. »Wann und wo ist das Ende dieser Irrfahrt?« Der Anführer zuckte nur die breiten Schultern und sagte mürrisch: »Das weiß ich nicht – es ist auch unwichtig.«
Mario sah jetzt die Sandfahnen unter den Hufen der Pferde; sie ritten jetzt eine leicht gekrümmte Sandstraße entlang. Dieser Pfad führte auf das Stadttor zu. Das Tor war offen. Vor der schätzungsweise fünfzig Meter hohen Stadtmauer standen einige kümmerliche Hütten, und Mario sah eine große Menschenmenge. Die Stadt war ein weiteres Ziel, eine Etappe auf der langen Irrfahrt der Terraner durch dieses System. »Mario?« De Monti trieb sein Pferd an und ritt scharf bis an die Seite des hochgewachsenen Anführers. »Was gibt es? Neue Shen?« »Nein. Wir bleiben nicht in der Stadt. Wir reiten nur durch und am anderen Ende wieder hinaus.« Sarkastisch erkundigte sich Mario: »Hoffentlich müssen wir keine Besichtigungsgebühren zahlen. Wird es Kämpfe geben?« »Nein.« Die Gruppe wurde von einigen Wachen aufgehalten, die neugierig den Terraner anschauten. Die Männer sprachen miteinander, und dann wurde die Durchfahrt zwischen den bulligen Türmen freigegeben. Auch hier waren die Mauern wieder wie aus einem Guß; nicht eine einzige Mauerfuge war zu erkennen, viel weniger die Spuren des Alters. Eine schmale, gewundene Straße führte durch die Stadt. Die Hufe schlugen krachende Wirbel auf dem Kopfsteinpflaster. Kleine, fette Tiere rannten quiekend herum viele Menschen bevölkerten den engen Zwischenraum zwischen den Hausfronten, und für eine mittelalterliche Stadtsiedlung erschien alles viel zu sauber, zu statistenhaft... Mario mußte wieder
einmal an einen Film denken, in dessen Mittelpunkt er sich befand. »Schneller!« schrie jemand hinter ihm. Die kurzen Eindrücke lösten einander in rasender Folge ab. Kleine Fenster, offene Türen, aus denen die Gerüche verschiedener Speisen schlugen, die Stimmen von Kindern, Erwachsenen und Greisen. Das Hufgetrappel, Rufe und Signale aus einem unbekannten Horninstrument. Der-die-Steppe-besiegt trieb sein Pferd rücksichtslos durch die Menschenmenge, und als sie an einen kleinen Platz kamen, konnte Mario wieder frei atmen. Einige Bäume umstanden eine runde Fläche, in deren Mitte ein steinerner Brunnen stand und lustig sprudelte. Daneben befand sich eine steinerne Säule, etwa fünf Meter hoch, an deren Vorderseite ein rechteckiges Podest angebracht war. Zuerst glaubte Mario, ein Standbild zu sehen, aber dann erkannte er, daß es sich um eine lebende Person handelte. Ein Mädchen. Sie war mit schweren Ketten einen Meter über den Köpfen der Menge an den Stein gefesselt. Mario hielt sein Tier an. »Kein Aufenthalt, weiter!« schrie der Anführer und riß am Zügel von Marios Tier. Mario starrte das Mädchen an und wußte, daß ihm alle seine Sinne einen grauenhaften Streich spielten. »Halt!« sagte er und ließ die Handkante auf den Arm des Anführers heruntersausen. Dann riß er sich los, setzte die Sporen ein und trieb das Pferd bis unter die Säule. Er fluchte, als er genau erkannte, was er bisher nur vermutet hatte. Helga Legrelle! Mario rief heiser:
»Helga – wie kommst du dort hinauf?« In der gleichen Sekunde wußte er, wie albern diese Frage wirken mußte. Aber er spürte auch, daß sich zwei Reiter an seine Seite preßten. Einer riß die Gasdruckwaffe aus der Schutzhülle, der andere zerrte am Kopfzügel des Pferdes. Sie drängten mit Gewalt Mario aus der Nähe der Säule weg. Mario wehrte sich, aber seine Hiebe wurden von einer unsichtbaren Kraft gestoppt, ehe sie trafen. Er versuchte es verzweifelt mit Kynuroy-Maßnahmen, aber auch sie versagten, weil sich gleichzeitig zwei Männer auf die Abwehr konzentrierten, während er allein angreifen mußte. Er wandte seinen Kopf nicht von dem Mädchen, und als sie ihn mit sich zerrten, schrie er laut: »Helga! Ich komme zurück!« Über dem Klappern der Hufe und den Schreien der Reiter hörte er schwach ihre Stimme. »Reite, Mario. Schnell... weg von hier!« Dann gab er es auf. Die zehn Reiter hetzten ihre Tiere weiter durch die Stadt. Ein System schmaler, halsbrecherischer Gassen und Stufen nahm sie auf, und die Pferde schleuderten rücksichtslos die Passanten zur Seite. Flüche und Verwünschungen – alle in Terranisch – wurden laut. Mario saß im Sattel, leicht zusammengesackt, und begriff abermals nicht, was alles zu bedeuten hatte. Helga Legrelle! Sie mußte kurz nach ihm von einem der frühen Völker oder einer Gruppe gefangengenommen worden sein. Ihn hatte man in das Lager der nomadisierenden Steppenbewohner gebracht, Helga war in die Stadt geschleppt worden. Wo aber war Hasso? Befand er sich auch in dieser Welt hinter dem eigen-
tümlichen Torbogen? Warum, bei allen Galaxien, hatte man Helga öffentlich an den Schandpfahl der Stadt gekettet? Was hatte man mit ihr vor? Über einen sandigen Straßenstreifen voller Dreck und Fahrspuren galoppierten die zehn Pferde, deren Kraft unerschöpflich schien, durch das kleinere Stadttor wieder hinaus. Hinter ihnen stand, wie ein Ball über einer flachen Linie, die riesenhafte rostrote Sonne am Horizont. Und in weiter Ferne, vor einem der Berge geradeaus, sah Mario den Rauchfaden der Karawanserei. Endlich ließ man die Zügel los. »Gib her!« sagte Mario scharf und streckte die Hand aus. Der Reiter streckte ihm zögernd die Gasdruckwaffe entgegen und fiel dann wieder auf seinen Platz der Reihe zurück. Mario stob entschlossen nach vorn und blieb mit dem Anführer auf gleicher Höhe. »Der-die-Steppe-besiegt!« sagte er deutlich. Als ihn der Mann ansah, mußte er den offenen Ärger und die Wut in Marios Gesicht deutlich erkennen. Trotzdem veränderte sich kein Muskel seines Gesichtes. »Ja?« »Dieses Mädchen«, sagte Mario. »Sie kam mit mir von den Sternen. Warum war sie dort an diese Säule gekettet?« Der Anführer zögerte ein wenig, während der Ritt mit ungehinderter Schnelligkeit weiterging. »Sie mußte angekettet werden. So, wie ein einzelner Regentropfen dem Stein nichts anhaben kann, aber ebenso, wie der dauernde Regen von Jahrhunderten den Stein auswäscht, ihn aushöhlt und ihm ei-
ne ganz andere, unerwartete Form gibt, so muß sie auch geläutert werden.« »Welch ein horrender Unsinn!« sagte Mario. »Läuterung durch öffentliche Ausstellung!« »So ist es. Nicht die Form ist entscheidend, sondern der Vorgang. Man hätte sie auch an eine kupferne Platte schmieden können.« Mario schüttelte den Kopf und sagte: »Entführt, durch die Steppe gejagt, von Raubtieren angegriffen, an einen Pfahl gekettet... was wird eigentlich noch mit uns passieren? Wir kommen hierher als Fremdlinge und erleben Dinge, die völlig unglaublich sind.« Das Lächeln des Anführers war bedeutungslos. »Das alles ist notwendig. Viele Tropfen...« Mario schrie erbittert: »Ich weiß! Viele Tropfen höhlen den Stein! Sind wir denn nichts anderes als psychologische Versuchstiere dieser arroganten Dara... da fällt mir etwas ein: Die Dara können nicht kämpfen. Ihr seid Dara. Ich selbst habe euch gut kämpfen sehen – wo ist hier die Logik?« Der-die-Steppe-besiegt grinste hinterhältig und antwortete mit ausdrucksvoller Gelassenheit: »Du mußt wissen, daß wir nicht wirklich kämpfen, Mario von den Sternen.« Mario starrte ihn fassungslos an, schüttelte den Kopf und hielt sein Tier an. Er richtete sich ein wenig im Sattel auf, beschattete die Augen mit der Hand und sah zornig zurück. Als er seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, sah er die Stadt. Und in der nächsten Sekunde war sie verschwunden.
Mario keuchte auf. »Die... die Stadt!« rief er. Der Anführer ritt heran und zügelte neben ihm sein Pferd. Die Sonne rief schimmernde Reflexe auf dem roten Leder der Haut hervor. »Die Stadt?« erkundigte sich der Mann, als sei er über Marios Schrecken zuhöchst erstaunt. »Sie ist verschwunden!« sagte Mario und starrte auf die Stelle, an der eben noch die weiße Ringmauer gestanden hatte. »Alle Dinge verschwinden einmal«, sagte Der-dieSteppe-besiegt erklärend. »Auch du wirst eines Tages verschwinden, Mann von den Sternen.« »Hoffentlich bald!« stöhnte Mario auf. Er spürte deutlich, wie seine Beherrschung und zugleich der Glaube an die feste Unterscheidbarkeit von Traum, Illusion und Wirklichkeit ihn verließen. Totale Desorientierung wäre dann die Folge und Wahnsinn. Er wehrte sich mit allen zu Gebote stehenden Kräften dagegen, wahnsinnig zu werden. Panik nahm von ihm Besitz. Er sah rote Schleier vor seinen Augen und merkte nicht mehr, wie zwei der Nomaden in die Zügel griffen und ihn die letzten fünfhundert Meter bis zu den vier langgestreckten, in einem geschlossenen Viereck angeordneten Gebäuden führten. Die Karawanserei war erreicht. Schweigend vollzogen sich die nächsten Ereignisse. Man hob Mario aus dem Sattel, trug ihn, der halb besinnungslos war, durch Gruppen schweigender Menschen. Man trug ihn einige Stufen hinauf, durch einen kleinen Korridor zwischen weißgekalkten Lehmwänden und legte ihn endlich auf eine schmale, harte Pritsche in einer kleinen Kammer. Das Fenster,
acht Handflächen groß, war mit einem dicken Eisenstab versehen. Mario de Monti schlief ein – und der Schlaf rettete seinen Verstand.
3 Er befand sich in jener merkwürdigen Zwischenzone des Geistes, zwischen Schlafen und Wachen. Langsam kam er zu sich, und das Gefühl sagte ihm, daß sein Hirn klar sein würde, wenn er restlos aufgewacht wäre. Er blinzelte. Über sich erkannte er eine unregelmäßig verputzte und weißgekalkte Decke, nicht viel größer als drei Quadratmeter. Sein Blick glitt abwärts, die weiße Mauer herunter und bis zum Fenster. Ein Viereck, durch einen massiven, rostigen Eisenstab halbiert. Schließlich sah er das dicke Brett, das sich von Wand zu Wand spannte, dicht unter dem Fenster. Die Gegenstände auf der Platte erkannte er nur beim zweiten Hinsehen – es waren seine Kleider, die Stiefel und oben darauf der Gurt mit der Waffe. Mario blinzelte verwirrt und versuchte herauszufinden, wo er sich befand – ehe er die Wahrheit erkannte. Sein letzter Eindruck war gewesen, daß er sich beim Anblick der verschwindenden Stadt mit dem Mut der Verzweiflung gewehrt hatte, wahnsinnig zu werden. »Rekonstruktion!« murmelte er, um festzustellen, ob er noch sprechen konnte. Hinter dem Fenster sah er den blauen Himmel über dem grünen Planeten. Also befand er sich an einem Ort über der Planetenoberfläche. Von der Stadt aus wollten die zehn Steppenbewohner die Karawanserei erreichen. War diese kleine Zelle, in der er auf einer harten, aber nicht unbequemen Pritsche lag, ein Teil dieser langgestreckten Bauwerke? Noch wußte er es nicht. Mario spannte
seine Muskeln und fühlte die Erschöpfung; die Muskeln schmerzten aber weit weniger, als er nach einem Tag schnellsten Reitens erwartet hätte. War dies hier die Karawanserei, dann wartete hier der Mann auf ihn. »Der Mann... welcher Mann?« fragte sich Mario laut. Er setzte sich auf, stellte die Füße auf den Boden, den eine Matte aus geflochtenem Gras bedeckte. Dann erinnerte er sich weiter. Noch waren sie alle keine Meister des Kynuroy, und sie verwendeten diese Fähigkeit nicht automatisch, sondern immer nur gezielt. Mario stand auf und ging zum Fenster, sah auf seine Kleidung herunter und drehte sich um. Der Raum war fast leer. Fast! Die lange, schmale Pritsche, eine Brettertür und auf dieser Tür eine primitive, aber erstaunlich exakte Zeichnung. Sie schilderte offensichtlich ein biologisches Schema. Mario atmete tief ein und aus und hörte die Geräusche, die von draußen hereindrangen. Das Scharren von Tieren, Schritte, Kommandos und das rhythmische Hämmern auf Eisen. Er merkte voller Staunen, wie langsam die Funktionen seiner Sinne zurückkehrten. »Nichts geht über Hygiene!« murmelte er und dachte eine Dusche aus Plexiglas. Sie entstand mitten im Raum, um ihn herum. Von oben strömte warmes Wasser mit einem aromatisch riechenden Reinigungsmittel. Das Wasser wurde langsam heißer und kühlte sich dann ebenso langsam ab. Ein Luftwirbel trocknete Mario, und der Mann fühlte, wie auch die Symptome des körperlichen Wohlbehagens zurückkamen. Er zog sich sorgfältig
an. Als er die Waffe umschnallte, studierte er das Schema an der Zellentür und knurrte überrascht: »Bei Sankt McLane! Ein Schema der VierfruchtAckerbewirtschaftung!« In einfachen Zeichnungen war die sachgerechte Bestellung des Bodens geschildert. Ein durchaus mittelalterliches Bild, das jedem auf den zweiten Blick voll verständlich war. Mario de Monti bückte sich unter dem Balken, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Er sah sich einem schmalen Korridor gegenüber, dessen Wände weiß und schmucklos waren. Aber an schweren eisernen Krampen, die man in die Mauer geschlagen hatte, hingen Geräte des täglichen Gebrauchs – aber nicht die des Raumfahrtzeitalters, sondern die einer mittelalterlichen Kultur. Spindeln, Schwerter, Haumesser, Ackergeräte und kleine Bilder, in leuchtenden Farben auf Holz gemalt. Mario nickte und fand einen Teil seiner Vermutungen bestätigt. »Eine ›Manessische Handschrift‹ des Planeten Grün!« sagte er und ging in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Zehn Meter weiter stand er in einem hölzernen Kreuzgang. Eine Seite bildete die Innenwand, die andere Seite ging auf einen großen Innenhof hinaus. Diese Seite bestand aus einer Reihe hölzerner Säulen, die aus vier Balken bestanden. Sie waren mit Eisenbändern und schweren Nägeln zusammengehalten. Mario lehnte sich schwer gegen die Wand und schaute schweigend auf das Treiben im Hof hinaus. Wieder ein Mosaiksteinchen! Der Hof war voller Leben. Menschen in einfacher
Kleidung gingen umher. Tiere wurden beschlagen oder gesattelt. Reiter kamen und gingen. Es stank nach Horn und nach schwelendem Holz. In einer Ekke hieb ein rußgeschwärzter Schmied unaufhörlich auf weißglühendes Eisen. Dies hier war eine Oase des Planeten, in der jemand einen Demonstrationsversuch großen Ausmaßes unternahm. Wieder einmal kam Mario der Gedanke, daß er Mittelpunkt eines Geschehens war. Warum aber? Warum gerade er... und was sollte ihm gezeigt werden? Als er sich von der Wand abstieß und auf einen Mann zuging, der eines der lederhäutigen Pferde zäumte und sattelte, ahnte der Chefkybernetiker der ORION VIII, daß er dem Geheimnis auf der Spur war. »Ich bin der Mann von den Sternen«, sagte er zu dem Reiter. »Mich erwartet der Mann, der mir ähnlich sieht.« Der Reiter lächelte offen und deutete auf zwei weißgestrichene Säulen an der dem Tor gegenüberliegenden Seite des Hofes. »Dort wartet er auf dich, der Mann!« sagte er. »Du bist verwirrt, nicht wahr?« Mario schnappte sarkastisch zurück: »Wie kommst du auf diese Idee? Ich weiß alles, durchschaue alles und fühle mich sehr wohl!« Er nickte dem Reiter zu und hörte, als er durch die Tiere und die Männer ging, hinter sich das Lachen. Zweihundert Meter weit entfernt waren einige Stufen, und Mario de Monti ging sie hinauf. Aus einer offenen Tür kam ein sehr hübsches Mädchen heraus und lächelte ihn an. »Du wirst hungrig sein, Mario?« fragte sie leichthin.
Mario musterte sie genau, denn sie hielt spielend jeden Vergleich mit den Assistentinnen und Technikerinnen der Basis 104 aus. »In der Tat«, sagte er. »Hörst du das Grollen meines Magens?« Sie deutete auf die Tür, durch die sie eben gekommen war. »Dahinter wartet der Mann. Er wird mit dir zusammen essen.« Mario fragte grinsend zurück: »Hast du gekocht, schönes Kind?« »Nein«, sagte sie. »Ich habe das Essen gedacht.« »Auch davon kann man satt werden«, sagte Mario und dachte an eine Mondscheinnacht, in der er mit dem Mädchen Hand in Hand durch das kniehohe Gras der Steppe spazierte. Das Mädchen wurde rot, kicherte verwirrt und ging schnell davon. Noch immer grinsend stieß Mario die Tür auf und sah sich einem großen, gut gedeckten Tisch gegenüber. Hinter dem Tisch stand ein Mann. Der Mann. Er sagte: »Willkommen, Mario de Monti.« Er streckte Mario eine kräftige, schmale Hand entgegen. »Danke«, erwiderte der Erste Offizier. »Ich bin immerhin relativ hungrig. Aber wesentlich mehr als die schönste Tasse Kaffee würde mich eine lange, umfassende Erklärung interessieren.« »Solange du nach einer Erklärung fragst, darf ich sie dir nicht geben«, sagte er. »Aber vielleicht funktioniert dein Verstand besser, wenn du gegessen hast. Nimm Platz!« »Das einzige, das ich hier risikolos nehmen kann!«
antwortete Mario und setzte sich. Die beiden Männer betrachteten sich schweigend und abwartend. Etwas wie ein bewaffneter Friede herrschte zwischen ihnen. Mario sah einen schlanken Mann unbestimmbaren Alters, einige Zentimeter größer als er selbst. Ein schmaler, gutgeschnittener Schädel, blaue, durchdringende Augen und ein sorgfältig frisierter dunkelblonder Haarschopf. Die Augen schienen sehr alt und klug zu sein, als hätten sie die zehn Jahrtausende seit der Aussendung des Großen Schiffes mitangesehen. Weshalb dachte Mario gerade jetzt an diese Zeitspanne und an das Schiff? Er sah zu, wie der Mann die Becher vollschüttete mit einem heißen, dunkelbraunen Getränk, das aber nicht nach Kaffee roch. Mario eröffnete das Duell. »Die Fälschung unterscheidet sich vom Original dadurch, daß sie wesentlich echter aussieht. Du siehst sehr echt aus – bist du auch eine der Fälschungen dieses verwirrenden Planeten?« Der Mann lachte kurz und bediente sich selbst. »Auf eine Weise, die du leider noch nicht verstehst, bin ich eine Fälschung. Aber gleichzeitig bin ich auch sehr echt.« Mario aß und trank, und zwischendurch fragte er bissig: »Wer sich selbst betrügt, muß ein guter Verlierer sein. Du bist hier, wenn ich es recht bedenke, um diesem armen, unwissenden Volk die Segnungen einer frühen Kultur zu bringen – frühe Kulturen für frühe Völker. Ist das richtig?« Plötzlich wußte er, woran ihn dieser Mann erinnerte. Aber er behielt dieses Wissen noch für sich Und gleichzeitig vermerkte er mit Befriedigung, wie
gut sein Verstand funktionierte. Alles wurde heller, klarer, überschaubarer. »Nein, das ist unrichtig!« sagte der Mann. »Wie heißt du eigentlich?« wich Mario aus und legte eine doppelt fingerdicke Scheibe kalten Bratens zwischen zwei Brotscheiben. »Ich bin namenlos, gleichzeitig habe ich viele Namen.« Mario wußte, daß seine Überlegung richtig gewesen war, und er fragte in das gespannte Schweigen hinein: »Du sollst hier also als Teil einer riesigen, für sechs Terraner in sechs verschiedenen Formen existierenden Kultur einen Versuch demonstrieren. Du schilderst im Augenblick mir, wie du – auf irgendeiner Welt, die ich nicht zu kennen brauche – die Kultur beeinflußt hast.« Der Mann nickte zustimmend und sagte nicht ohne Zufriedenheit: »Da du ganz allein auf diese Überlegung gekommen bist, kann ich dir verraten, daß du hundertprozentig recht hast. Aber dies ist nur ein Teilgebiet.« Mario machte eine umfassende Geste und verkündete: »Wo viel Licht ist, sind auch viele Motten. Wir sechs von der ORION sollen hier in einem großartgelegten Versuch deutlich bewiesen bekommen, daß die Dara seit vielen Jahrtausenden die Kulturen beeinflussen – auf vielen Planeten, in vielen Bezirken des Alls. Richtig?« Der Mann sagte: »Dein Verstand lodert wie ein Vulkan in der Nacht, Mario Du hast abermals recht. Was aber bedeuten die Motten?«
Mario sagte sarkastisch: »Es sind die kulturhungrigen Individuen, die sich an dich und deinesgleichen hängen. Ich zum Beispiel. Wie ist das mit der Vierfruchtwirtschaft...? Ich habe da einen Blumenkasten auf der Terrasse meiner Wohnung...« Der Mann winkte ab. »Ich habe zu verschiedenen Zeiten verschiedene Namen gehabt, Mario. Ich habe in vielen Kulturen gearbeitet und mit vielen Impulsen diese Kulturen langsam hochgebracht.« »Was eine außergewöhnlich lobenswerte Sache war« sagte der Kybernetiker. »Aber warum wählt man den umständlichsten aller nur denkbaren Wege, um gerade uns von der ORION zu zeigen, warm, wie und wo das geschah?« Der Fremde sagte kühl: »Jeder Diplomat braucht eine Ausbildung, Mario!« Marios Lachen war ausgesprochen ironisch: »Ihr haltet uns offensichtlich für bemerkenswert leere Hohlköpfe, wie?« »Keineswegs.« Mario schüttelte den Kopf. »Mann!« sagte er mit falscher Bewunderung. »Ihr alle seid großartig – ich liebe euch wegen dieser Eigenschaften. Ihr importiert Söldner, laßt einen Kampf für euch ausfechten, versprecht Botschaftereigenschaften und beginnt mit einem riesigen Aufwand eine Schulung, die auch ein wesentlich Blöderer als ich als übertrieben empfinden würde. Könnte man das Ganze nicht in leicht faßlicher Vortragsform bringen? Das würde Mühe, Ärger und jede Menge Aufwand sparen helfen. Außerdem gibt es auf diesem grünen
Planeten keine oder nur wenig hübsche Mädchen. Und keinen Alkohol.« »Das ließe sich beschaffen, ist aber nicht notwendig. Auch Frustration gehört zum Programm.« Mario runzelte die Stirn. »Ich verstand ›Programm‹! Habe ich richtig gehört?« »Du hast. Theaterstücke haben einen zeitlich begrenzten Wert, etwa wie Philosophien oder Unterhaltungsromane. Wenn sie ausgedient haben, sollten sie verschwinden. Wie...« Wieder begriff Mario ein winziges Stückchen. Geistige Millimeterarbeit, dachte er bei sich. »Wie die Stadt!« »Ja.« »Ich fasse zusammen«, sagte Mario. »Ich höre mit Begierde zu«, sagte der Mann lächelnd. »Seit dem Moment, an dem wir sechs Terraner den Planeten betreten haben, werden wir von einer Mischung aus Wirklichkeit und Illusion überflutet. Wir sollen erkennen, daß die Dara zu allen Zeiten einer aufstrebenden Kultur mit kulturellen und zivilisatorischen Impulsen halfen. Richtig?« Mario lehnte sich zurück und streckte seine langen Beine aus. Er fühlte, wie das Leder der Stiefel sich bewegte. Der Mann nickte; ein Zeichen, daß der Gedankengang bisher richtig gewesen war. Mario fuhr fort: »Dabei ist es zunächst gleichgültig, an welchen Stellen des Universums diese Hilfe stattfand. Ebenfalls unwichtig ist, wie oft, wann und in welcher Form eingegriffen worden ist. Die Prämisse, daß kein
Dara kämpfen kann, gilt und gilt gleichermaßen nicht – denn die Kämpfe auf diesem grünen, dem fünften Planeten, sind auch nicht echt. Schemen kämpfen gegen Schatten, Illusionen lassen sich von Gedankenbildern verfolgen. Richtig, Namenloser?« Die Antwort war: »Es ist bemerkenswert, wie schnell du begriffen hast. Bisher ist alles richtig.« Mario sah aus dem Fenster hinaus, das ohne Glas war. Dort draußen herrschte der normale Tagesablauf einer Karawanserei, in der Menschen, Gespräche, Ideen und Waren ausgetauscht wurden. »Bei dieser kosmischen Schau, die wir über uns ergehen lassen müssen, sind zwei Perspektiven besonders wichtig. Erstens überschneiden sich die Wege der Illusionen – ich beispielsweise sah Helga Legrelle an den Schandpfahl jener komischen Stadt gekettet. Wenn ich weiter reisen werde, entdecke ich sicher Cliff McLane in den Krallen eines Adlers oder als Rudersklaven in einer Galeere. Zweitens: Mit dieser Schau verbunden ist die schrittweise Erweiterung unseres Verstandespotentials. Wir haben als Fremdwort für diese überflüssige Methode das Wort Bishayr kennengelernt. Wir lernen, indem wir erleben. Die harte Schule des Lebens. Ist es so?« »Ja. Warum ist Bishayr überflüssig?« Zum erstenmal sah Mario den Fremden fassungslos und unsicher. Er wartete einige Sekunden mit der Antwort. Dann sagte er mit Bestimmtheit und todernstem Gesicht: »Wer viel denkt, denkt viel Unsinn.«
Der andere schüttelte den Kopf und sagte beschwörend: »Wer noch mehr denkt, kann Unsinn von wertvollen Gedanken trennen.« Mario sagte bissig: »Mir würde es schon genügen, wenn die arroganten Dara Bill von Unbill trennen würden. Unbill erleide ich im Augenblick sehr viel!« »Diese Unbill ist nicht zu vergleichen mit den Schönheiten des vollkommenen Bishayr!« sagte der Mann. »Dereinst werde ich über deinen Wahlspruch nachdenken«, sagte Mario. »Wieviel Jahre werden wir barbarischen Erdenmenschen brauchen, um diese hervorragenden Dara-Fähigkeiten voll zu beherrschen?« »Je nach Anlage verschieden«, sagte der Mann. »Wie lange? Jahre oder Tage?« »Das weiß ich nicht«, wurde Mario geantwortet. »Ich kann es wirklich nicht sagen. Ihr seid die erste und vermutlich einzige Rasse, die hierherkommen durfte.« Mario begann schallend zu lachen und wußte nicht, was er mehr wünschte: Diesem Dara den Becher an den Kopf zu werfen oder in Ehrfurcht vor soviel Arroganz zu verstummen. Er entschied sich für einen Mittelwert und sagte ernsthaft: »Ist es nicht merkwürdig, daß gerade die Weisen eine solch große Menge Unfug reden, und die Dummen mitunter irrsinnig aufregende Wahrheiten verkünden, die von großer natürlicher Einsicht zeugen? Was du sagst, mein dunkelblonder Freund, ist natürlich stark kritisierbar – das weißt du?«
Der Mann nickte schwer und murmelte traurig: »Jetzt verstehe ich auch, warum euch die neun Dara vom anderen Planeten so wenig schätzen.« Mario stöhnte auf: »Die Untertreibung des Jahres!« »Ihr bringt«, sagte der Mann, »alles mit, was wir von euch erwarteten und erhofften. Zugleich ist ein gewisses barbarisches Element nicht zu verkennen. Ihr habt das Gehorchen nicht gelernt.« Marios gute Laune wuchs ständig. Er deutete auf seine Brust und sagte scharf: »Als altgediente, gerissene Raumfahrer haben wir lernen müssen, wie wenig die philosophischen Tugenden in Augenblicken der Gefahr taugen. In gewisser Weise müssen wir barbarisch und hart sein, sonst wären wir nicht so erfolgreich gewesen – im Sinne Raummarschall Wamslers und der Erde. Ihr müßt uns schon, mit kleinen Einschränkungen natürlich, nehmen, wie wir sind, Teuerster!« Der Fremde lächelte amüsiert. »Ihr werdet in den nächsten Tagen und Wochen alle eure Fähigkeiten beweisen müssen«, versprach der Mann. »Dann nämlich, wenn Zeupter mit euch gesprochen hat.« Mario stand auf, warf seine Jacke über einen Sessel und fragte über die Schulter zurückgewandt: »Wer ist Zeupter?« »Einer der ältesten Dara in diesem System, einer der klügsten überhaupt.« »Ich verstehe – eine Konkurrenz für unseren Kommandanten«, sagte Mario. »Wo finde ich Zeupter?« »Du wirst ihn finden«, sagte der Mann.
»Und überhaupt... dieses ergiebige Frühstück war ganz nett, und ich bedanke mich sehr herzlich und so – aber wie geht es weiter?« Der Mann deutete nach draußen und sagte leise: »Dort draußen ist für dich ein Reittier bereitgestellt. Du wirst es besteigen und davonreiten. Dann, irgendwann, wirst du Zeupter sprechen oder treffen.« »Longten?« schlug Mario vor. »Ihr werdet longten!« versprach der Mann. »In welche Richtung muß ich reiten, um diesen geheimnisvollen Zeupter zu finden?« fragte Mario alarmiert. Er witterte neue illusionistische Abenteuer von der gleichen Sorte wie bisher. »Wohin immer du auch reitest, Mario de Monti, überall ist Zeupter.« »Wie schön. Das heißt: Händedruck und voller Galopp?« »Ja.« Die beiden Männer gingen nebeneinander auf die Tür zu und blieben neben den weißen Säulen stehen. Ein unbestimmbares Gefühl ergriff den Raumfahrer, als er an die Tage dachte, die vor ihm lagen. Er fürchtete um seinen Verstand, wenn weiterhin sich Wirklichkeiten und Illusionen, gegen die er machtlos war, abwechselten. Das Mädchen kam näher, und Mario legte brüderlich einen Arm um ihre Schultern. »Möchtest du mit mir reiten – in die unermeßlichen aufregenden Abenteuer des fünften Planeten?« fragte er scherzhaft. Zu seiner Verwunderung flüsterte sie in sein Ohr: »Ich möchte schon, Mario, aber ich kann nicht. Als Angehörige eines frühen Volkes bin ich gebunden.« »Schade«, sagte Mario. »Wir hätten uns bestimmt
gut unterhalten.« »Zeupter wird euch allen erklären, was er ist, was ihr seid und was ihr werden sollt. Aber er ist nur eine weitere Station in eurer Odyssee. Allerdings eine wichtige Station. Es hängt alles von euch ab.« Der Mann sah Mario ins Gesicht, und der Raumfahrer erschauerte vor dem Blick der uralten Augen. »Lebe wohl!« sagte der Mann. Mario ergriff die Hand des schlanken Mannes. »Danke für alles«, sagte er. »Wie ist das mit dem Mädchen hier... kann sie nicht mitreiten? Wir würden uns sicher nicht langweilen.« Der Händedruck verstärkte sich. »Leider nicht«, sagte der Fremde. »Falle nicht aus dem Sattel!« Er löste seine Hand aus der Marios, lächelte wie um Verzeihung bittend, und genau im gleichen Moment verschwand die gesamte Karawanserei. Dort, wo sie gestanden hatte, sah Mario nur die endlose Ebene, die unter der Morgensonne lag. Vor ihm, etwa hundertfünfzig Meter weit, stand ein gesatteltes Pferd. Das Mädchen aus seinem Arm war ebenfalls verschwunden, und Marios Hand sank kraftlos herunter. »Wer Vorurteile revidieren will«, murmelte Mario verblüfft, »hatte niemals welche. Es ist offensichtlich unmöglich, auf diesem Planeten nicht verblüfft zu werden. Und außerdem kann ich sogar mein Reiseziel selbst wählen – Zeupter ist überall!« Kopfschüttelnd ging er zehn Meter zurück und hob seine Jacke auf, die von dem Sessel gefallen war, als dieser sich mit der Karawanserei zugleich auflöste und verschwand. Mario nahm die Jacke über den
Arm und ging mit schnellen Schritten auf das Reittier zu, das gemütlich an dem Steppengras mit den messerscharfen Spitzen fraß. Weit und breit war nicht einmal ein Baum zu sehen – nur das Gebirge geradeaus. Mario erreichte das Pferd, schnallte die Jacke fest, nachdem er die dunkle Brille aus der Tasche genommen und aufgesetzt hatte. Dann stieg er in den Sattel. Der einzige Mensch, mit dem er sich unterhalten konnte, war er selbst. »Gebirge, Mario... wie gefällt dir ein Gebirge?« fragte er sich und gab sich die Antwort: »Gar nicht. Man muß immer klettern. Ich würde an deiner Stelle nicht ins Gebirge reiten.« »Ich verstehe. Die Steppe?« »Die Steppe«, sagte Mario zu Mario, »ist auch schon bekannt und hat keinen Abenteuerquotienten mehr. Erinnere dich!« »Woran?« Mario setzte vorsichtig die Sporen ein und ritt an. Das Pferd mit der kühlen lederartigen Haut wurde schneller. »Beispielsweise an den riesigen Binnensee, den du während des Anflugs beobachtet hast. Das wäre etwas, nicht wahr?« Mario nickte sich zu und lenkte das Tier in die Richtung, wo die letzten Ausläufer des Gebirges mit der Ebene verschmolzen. Dahinter lag, ebenfalls als streng umrissene Geländeform, die Seelandschaft. Das Tier wurde schneller und schneller und ging in den fliegenden Galopp über, den Mario so gut in der Erinnerung hatte. Die einzigen Geräusche waren die trommelnden
Hufschläge und hin und wieder ein Schnauben oder Prusten des Tieres. Eine Stunde, zwei Stunden... * Mario fand, daß es schlimmere Beschäftigungen gab als einen solchen Ritt durch ein leeres Land. Er fühlte den Wind, der seinen Schweiß trocknete, roch das Gras und die Ausdünstungen des Pferdekörpers, sah die Sonne steigen und einige weiße Wolken am Himmel. Rechts neben ihm gingen die ersten Hänge des Gebirges in die Ebene über, und ständig wechselte das Bild der Berge dahinter. »Inzwischen weiß ich mehr!« sagte Mario laut. Die Worte gingen im Trommeln der Hufe unter. Er wußte, daß er nur einen Schlüssel zu finden brauchte, um dieses gigantische Museum des Planeten betreten und verlassen zu können, wann und an welchen Stellen auch immer. Hier führten die Dara mit Hilfe von sehr stabilen Illusionen ein grandioses Schauspiel auf. Es waren sämtliche geschichtlichen Epochen auf sämtlichen Planeten mit humanoiden Wesen dargestellt – stets allerdings an den Schnittpunkten, an denen die Dara mit Hilfe des Großen Schiffes kulturelle Anstöße gegeben hatten. Ob es die blonden, blauäugigen Männer waren, die auf Terra als Inkagötter bekannt waren, die vielen anderen mythischen Gestalten, deren Eingreifen man wichtige kulturelle Impulse zu verdanken hatte – alles ging von den Dara aus. »Und das auf zahlreichen Planeten, und nur teilweise mit Erfolg!« sagte Mario verwundert. Diese
Überwachung war also nicht lückenlos gewesen. Durch die pausenlose Beschäftigung und die Verwirrung, die sie ständig empfanden, hatten die Sechs von der ORION bisher nicht die Ruhe gehabt, sich zu überlegen, was sie wirklich miterlebten. Sie wurden von den Ahnen des Menschengeschlechtes geholt. Sie führten einen Kampf gegen eine entartete Bruderrasse. Sie erlebten mit, wie die zivilisatorische und kulturelle Hilfe geleistet worden war... Erlebnisse, die in der Lage waren, ein Weltbild umzustürzen, und zwar das der historischen Wissenschaften der Erde und der extraterrestrischen Planetenkolonien. Kamen sie einmal wieder zur Erde, würden alle ihre Beobachtungen gesammelt werden und konnten die Wissenschaft umstürzen. Aber – würde man ihnen glauben? »Das wird ein Spaß!« sagte Mario. Er lachte und ritt weiter. Drei Stunden später hatte er die Ausläufer des Gebirges hinter sich gelassen und sah vor sich hinter einem breiten Waldgürtel den riesigen See aufblitzen. Die Sonne stand jetzt genau über ihm; es wurde heißer. Das Pferd hatte sein Tempo nicht zurückgenommen und jagte den dunkelgrünen Wäldern entgegen. * Der Waldstreifen war, wie bisher alles auf der Planetenoberfläche, von einer fast zu perfekten Künstlichkeit. Etwa zehn Kilometer durchmaß der Streifen; er bestand aus kegelförmigen Bäumen, die wie die Ele-
mente eines Barockgartens wirkten. Verschieden groß, mit Stämmen wechselnder Durchmesser und mit Kronen, deren Formen nur zwischen den verschiedenen Kegelformen abwechselten, spitzer oder flacher. Zwischen den Stämmen erstreckte sich ein dicker, hellgrüner Moosteppich. Es war – wieder einmal! – wie in einem Zauberwald, einer märchenhaften Umgebung. Mario zügelte das Pferd und ritt in einem leichten Trab zwischen die ersten Bäume hinein. Hinter den Stämmen sah er den Wasserspiegel; der Waldboden fiel ganz leicht schräg ab. »Ich vermisse einen neuen Angriff der neun Dara«, sagte Mario zu sich. Eine rätselhafte Stille umgab ihn. Sie kannten den ersten Planeten, den vierten und jetzt den fünften. Das waren drei von vierzig Welten. Es war nicht auszudenken, was die anderen Planeten noch alles an Überraschungen bereithielten. Mario erinnerte sich mit einem unguten Gefühl an seinen Fluchtversuch – die ORION-Crew würde solange in diesem System bleiben müssen, wie es die Dara für richtig erachteten. Zeupter war eine weitere Station der Irrfahrt. Wer aber war Zeupter? »Auch das wird sich herausstellen!« tröstete sich Mario de Monti. Er überließ die Zügel dem Pferd; das Tier suchte sich den kürzesten Weg durch den Hochwald. Mario würde es nicht gewundert haben, wenn hier ein riesiger Drache aufgetaucht wäre und ihn in die Rolle eines Siegfried gezwungen hätte. Aber eine halbe Stunde später stand das Pferd auf einem Streifen weißen Kies, der um das Seeufer lag. »Bezaubernd!« kommentierte der Erste Offizier.
Der See war wie ein riesiger, kostbarer Edelstein. Entlang des Ufers stießen Landzungen ins Wasser vor. Überall gab es winzige Inseln voller Bäume, hinter denen Bauwerke in weißen Steinen und Glas zu sehen waren. Das Wasser war nur wenig bewegt; zwischen den Inseln sah Mario die leicht gekräuselte Oberfläche. Bizarre Formen winziger Wellen erschienen darauf. Vogelschreie waren zu hören und das Plätschern, mit dem das Wasser über die Kiesel schlug. »Jetzt bleibt noch die Suche nach Zeupter«, sagte Mario laut. Seine Stimme erschreckte ihn fast ein wenig. Die Stille um ihn herum war für ihn nicht mehr voller Gefahren, sondern gespenstisch, erwartungsvoll und nervenzerstörend. Wo fand er diesen legendären Zeupter? »Ein See, viele Inseln... ich kann ihn nur auf einer Insel finden!« sagte er und setzte die Sporen ein. Das Pferd galoppierte am Ufer entlang, und unter den harten Hufen wurde der feine weiße Kies hochgewirbelt und prasselte wieder zurück. Mario wandte sich im Sattel nach links und spähte auf das Wasser hinaus. Es lag wie ein großer Spiegel neben ihm; das Sonnenlicht brach sich und erfüllte die kleinen Inseln mit einer betäubenden Helligkeit. Mario ritt aufs Geradewohl in diese Richtung – mit der gleichen Zuversicht hätte er auch nach links reiten können. Schließlich entdeckte er die Landzunge. »Sieh an – es fehlt nur noch ein Hinweisschild.« Mario grinste und hielt sein Pferd an. Dann wandte er Kynuroy an und zauberte an den Stamm eines Baumes ein gelbes, schwarz beschriftetes Schild, auf
dem Zeupter stand und dessen Spitze nach links deutete. Ein Wall führte vom Ufer weg in den See hinaus, etwa zwei Kilometer weit. An seinem Ende befand sich eine runde Insel mit Felsen, Bäumen und einem flachen, weißen Bauwerk, das zwischen den Stämmen hindurchschimmerte. Mario glaubte, undeutlich eine sich bewegende Gestalt zu sehen, aber vermutlich täuschte er sich. »Vamolos, Rosinante!« sagte er und schlug auf die Schenkel des Pferdes. Das Tier fegte durch die Bäume, über den Kies und hinauf auf den Wall. Eine schnurgerade Baumreihe des gleichen Typs wuchs neben dem schmalen Pfad, der sich bis zur Insel erstreckte. Es war nicht mehr als ein schmaler Sandstreifen. Mario sah die Insel näherkommen und wußte, daß hier eine wichtige Entscheidung getroffen werden würde. Wichtig für ihn, für seine Freunde und für diese ganze, verwickelte Geschichte. Er ritt bis an das Ende des Verbindungsdammes und hielt dann plötzlich an. Vorsichtig musterte er die Gegend, aber auch hier waren das Wellengeplätscher und das Vogelgezwitscher die einzigen Geräusche. Niemand war zu sehen, weder jemand von der ORION-Crew noch der versprochene Zeupter. »Weiter!« brummte er. Zehn Minuten später sah er genau, was er bisher nur schemenhaft wahrgenommen oder geahnt hatte. Diese Insel war bevölkert. Etwa zwanzig Meter oberhalb seines Standortes war ein Gebäude in die Landschaft gestellt worden. Flach und langgestreckt, aus jenem fugenlosen Baustoff, aus Glas und wehenden Vorhängen. Eine breite
weiße Treppe führte hinauf, zweckmäßig und schmucklos, aber von vollendeter zeitloser Eleganz. Säulen stützten ein Vordach ab, und rechts am Ende der Treppe stand ein junges Mädchen und schaute zu Mario herunter. Er winkte zaghaft und rief: »Wohnt hier Herr Zeupter?« Er bekam zur Antwort: »Er wartet auf euch. Du bist der erste! Komm zu mir!« Mario grinste, gab dem Pferd die Sporen und ritt klappernd die lange Treppe hinauf. Er fühlte sich wie ein angreifender Samurai.
4 Der erste Schwung trug Pferd und Reiter die untere Hälfte der weißen Freitreppe hinauf. Dann blieb das Tier unwillig stehen. Mario de Monti setzte die Sporen ein, riß am Zügel und rief ein scharfes Kommando. Widerwillig kletterte das Pferd weiter, und wenige Minuten später hielt Mario zwischen den stützenden, schlanken Säulen an. Er ließ die Zügel los und schwang sich aus dem Sattel, dann fragte er atemlos: »Bin ich hier richtig, Schönste?« Sie maß ihn von oben bis unten und erwiderte leise: »Ja. Nur war dein Auftritt etwas sehr großartig.« Mario klopfte dem Pferd auf den Hals und wandte seine Kynuroy-Fähigkeiten an. Das Tier verschwand unmittelbar, und nur eine Wolke des stechenden Schweißgeruches blieb als einziges Zeichen in der Luft zurück. »Für großartige Auftritte bin ich Spezialist«, gab Mario zur Antwort und schaute seinerseits das Mädchen sehr genau an. Auch sie paßte in das Schema, das sie bisher festgestellt hatten: Sie war von einer alterslosen Schönheit, souverän, schlank und irgendwie unwirklich. Aber sie schien ebensowenig Illusion zu sein wie der Mann in der Karawanserei, wie alles andere hier. Ein weiterer Teil eines großangelegten Demonstrationsversuches. »Zeupter will dich begrüßen«, sagte das Mädchen. Sie trug ein Kleid, das Mario von fern an die Statuen griechischer Göttinnen erinnerte. Schwarzes Haar fiel bis auf die Schultern.
»Wo sind meine Freunde?« fragte er zurück. »Sie werden kommen«, versprach das Mädchen. »Bist du hungrig, durstig, müde... willst du dich erfrischen?« Mario schüttelte den Kopf und sah sich um. Er glaubte sich auf eine winzige Insel im östlichen Teil des Mittelmeeres versetzt. Die Sonne brannte auf den stillen See, die riesigen, alten Bäume warfen dunkle Schatten, aus allen Richtungen ertönten Tierstimmen – trotzdem schien die Landschaft von einer Lähmung befallen zu sein. Außer dem weißen, glaserfüllten Bau gab es keine Zeichen einer Bearbeitung der Natur durch Menschen. Außer ihm und dem Mädchen war hier niemand. Weit unter ihm lag der Strand der Insel mit den winzigen Buchten, dem Kies und dem Sand, den langen Baumreihen und dem Steg, der Insel und Ufer verband. Zu idyllisch, zu künstlich, zu unwirklich, dachte er und zog langsam und bedächtig die dünnen Handschuhe aus. »Was will Zeupter von uns allen?« fragte er und bewunderte die bloße Schulter des Mädchens. »Er wird es euch sagen, sobald alle sechs Menschen von den Sternen eingetroffen sind«, erhielt er zur Antwort. »Wir erwarten sie jetzt bald.« »Ich schließe mich dieser Erwartung an«, sagte Mario mit einem breiten Grinsen. »In der Zwischenzeit würde ich gern meinen Körper etwas kultivieren; mein Verstand ist ohnehin im Augenblick in einer ungewöhnlichen Verfassung.« Beim Grinsen merkte er, daß die Sonne in den vergangenen Tagen seine Haut verbrannt hatte. Er ließ seine Augen über das Mädchen gleiten und versicherte, immer noch mit demselben breiten Grinsen:
»Und wenn ich dich so betrachte, schönste Gefährtin des Zeupter, dann gerät mein Verstand in eine noch ungewöhnlichere Verfassung.« Sie deutete auf die Glasfront des Bauwerks und meinte: »Das Treffen mit Zeupter ist zu ernst, als daß du dich von einer flüchtigen Erscheinung beeindrucken lassen dürftest.« Mario versicherte glaubwürdig: »Gerade in Zeiten größter geistiger Anspannung tut es gut, in die zärtlichen Augen eines schönen, lieben Menschen zu blicken. Finde ich hier Duschen, Massagen und kleinere alkoholische Erfrischungen?« »Nein«, sagte sie. »Aber niemand wird dein Kynuroy beeinträchtigen.« Mario ging neben ihr auf die Glaswand zu. »Wohlan denn«, sagte er gutgelaunt, »bringen wir uns also in die richtige Verfassung, dem großen, rätselhaften Zeupter gegenüberzutreten!« Eine halbe Stunde lang brauchte er, um sich zu reinigen, sich umzuziehen und etwas zu essen. Dann kam er, ein großes, volles Glas in der Hand, wieder auf die Terrasse hinaus. Dort saß auf einer gläsernen Bank das Mädchen und starrte auf einen bestimmten Punkt des gegenüberliegenden Ufers. Sie schien etwas oder jemand zu erwarten. Mario blieb eine Weile hinter ihr stehen, betrachtete gedankenverloren den schlanken Nacken des Mädchens und setzte sich schließlich neben sie. »Worauf oder auf wen wartest du?« fragte er und hob das Glas. »Ich erwarte den ersten deiner Freunde.« Als Mario in die Richtung schaute, in die ihr ausge-
streckter Arm deutete, sah er ein Bild, das gleichermaßen grotesk, spannend und verwirrend war. Zwischen den Bäumen des Ufers, die von wütenden Stößen erschüttert wurden, schien ein riesiges Tier heranzukommen. Ein Saurier. »Ich kam mit einem schlichten Pferd aus rotem Leder«, murmelte Mario. »Aber wer ist es, der auf einer Saurierherde reitet?« Er setzte das Glas ab, dachte ein schweres Fernrohr und hielt es an die Augen. Als einige Sekunden später sich die ersten Büsche teilten und ein etwa fünfzehn Meter großes und mindestens dreißig Meter langes Ungetüm über den Kies preschte, erkannte Mario denjenigen, der dicht hinter dem Kopf zwischen den dreikantigen Hornplatten saß. Es war Cliff Allistair McLane. »Der große Cliff! Er reitet einen Dinosaurus!« Es war keine der Formen, die sie alle vom Planeten Range III her kannten, aber eine verwandte Abart. Aussehen und Farben waren verschieden, und Mario lehnte sich beruhigt zurück, um das Schauspiel in allen Teilen richtig genießen zu können. Er wunderte sich nur sekundenlang darüber, daß er diesen verwirrenden Illusionen noch etwas Komisches abgewinnen konnte. An der Spitze eines keilförmigen Zuges von menschenähnlichen Gestalten raste der Saurier ins Wasser hinein. Es war ein riesiges Tier mit langem Hals und langem Schwanz von durchgehend gelber Farbe, und zwar genau dem Farbton, in dem man die irdischen Erdbewegungsmaschinen lackierte, damit sie hervorragend sichtbar waren. Die Hornplatten, die in sechs-
eckigen, dreieckigen und quadratischen Formen Rükken, Brust und die Wirbelsäule panzerten, waren schreiend rot. Das Tier selbst, ein Vierfüßler, hatte einen furchterregenden Kopf, der mit zwei gekrümmten Hörnern verziert war. Zwei Meter hinter dem Gehörn saß Cliff McLane, in eine Art Pantherfell gehüllt. In einem doppelt handbreiten Gurt steckten steinzeitliche Waffen. Schreiend und brüllend und waffenschwingend stürzten sich etwa einhundert Neandertaler-ähnliche Urmenschen ins Wasser, und hinter dem Saurier, der wie ein Dampfboot wirkte, schwammen sie auf die Insel zu, direkt auf eine zweite Treppe, die im Wasser endete. »Bezaubernd!« sagte Mario und trank ergriffen einen großen Schluck. »Cliff hat es offensichtlich in die Steinzeit-Variante eines der frühen Völker verschlagen!« Das Mädchen legte behutsam ihre Hand auf Marios Arm und sagte: »Jeder von euch ist in einer anderen Kultur gelandet und hat dort das gleiche Erlebnis gehabt.« Mario nickte und erwiderte: »Also traf auch Cliff mit einem Mann zusammen, vermutlich blond und blauäugig?« »Nein. In diesem Volk dort war es eine Frau.« Mario lachte kurz und sah das Bild; keilförmig breiteten sich die Wellen aus, und die Köpfe und Oberkörper der Urmenschen waren sichtbar. Das riesige Tier zerschnitt das Wasser wie ein Eisbrecher. Eine hohe Bugwelle wurde erzeugt, und unaufhaltsam kam der Saurier mit Cliff näher. Mario griff wieder nach dem Instrument und schob die einzelnen Teile auseinander, spähte hindurch.
»Eine Steinzeit-Blondine also!« Im Objektiv war jetzt der Oberkörper des Kommandanten. Cliff trug einen breiten Bart, ein Stirnband aus weichgegerbtem Leder und die plumpen Waffen der beginnenden Steinzeit. Allerdings kannte Mario keine einzelne Steinzeit, in der Menschen und Saurier zusammengetroffen waren. »Du drückst es sehr respektlos aus!« sagte das Mädchen. Mario brummte: »Ich habe keine andere Wahl. Würde ich mir jede einzelne Illusion, die mich seit der Landung auf dem Planeten schikaniert, ernst nehmen, wäre ich jetzt wahnsinnig. Und, glaube mir, ich bin als Paranoiker halb so reizvoll wie jetzt, als entspannter, gutaussehender Offizier!« Das Mädchen sagte, ohne auf seinen Einwand einzugehen: »Es wird Zeit, daß die Dramatik geringer wird.« Nur noch fünfzig Meter war der furchtbare Saurierkopf von der untersten Treppenstufe entfernt. Jetzt schrie das Tier auf, und es klang wie ein Nebelhorn, kombiniert mit einem Raumschiffsmotor im Probelauf. Dann verschwanden einzelne Steinzeitmenschen im Wasser; zuerst einer, der dem jenseitigen Seeufer am nächsten war, dann eine ganze Gruppe. Schließlich verschwanden auch diejenigen, die sich an der rissigen Saurierhaut festhielten und unmittelbar neben Cliff schwammen. Der Saurier erreichte die Treppe, tauchte röhrend aus dem Wasser auf und stemmte seine säulenartigen Klauen auf das weiße Material. Wasser lief an den Flanken herunter, und an den Ecken der hornigen Panzerplatten hingen lange,
dunkelgrüne Wassergewächse. »Ein wirkungsvoller Auftritt, Kommandant!« knurrte Mario. »Viel besser als meiner. Aber dafür war ich der erste hier!« Cliff hob einen kurzen Speer und hieb damit dem Saurier über die Stirn. Das Tier schlug mit dem Schwanz auf das Wasser. Es gab eine meterhohe Welle, die stäubend und klatschend gegen den Strand schlug. Dann senkte die Echse den Schädel und legte ihn flach, wie ein Krokodil, auf die Treppenstufen. Cliff schwang sich aus seinem natürlichen Knochensattel, tätschelte dem Tier das Maul und drehte sich dann um. »Hierher, Cliff!« schrie Mario. »Einen Moment!« rief Cliff zurück. »Ich muß nur noch die Lokomotive verschwinden lassen.« Der Saurier löste sich in Nichts auf. Das Wasser strömte schlagartig in den gewaltigen Hohlraum zurück, und begleitet von einer hochschießenden Fontäne, kletterte Cliff die Treppe hinauf. Er sah wirklich wie ein Neandertaler aus, nur etwas kultivierter. Mario betrachtete seinen Freund und Vorgesetzten einigermaßen interessiert. Er hatte plötzlich keine Schwierigkeiten mehr, sich die Ankunft der anderen vier Freunde vorstellen zu können – sie würden sich vermutlich in wesentlich groteskerer Umgebung hier einfinden. Cliff stand jetzt schweratmend vor Mario. »Willkommen!« sagte Mario. »Ehe du anfängst, mir zu berichten, was du alles gesehen und erlebt hast, schlage ich vor, du frischst dein Make-up etwas auf.« Sie schüttelten sich lange und ausdauernd die Hände.
»Das hier«, sagte Mario und deutete zuerst auf Cliff, dann auf das schwarzhaarige Mädchen, »ist Kommandant McLane, und das ist Miß Müller. Ihren wahren Namen weiß ich nicht.« Cliff verbeugte sich artig und begrüßte das Mädchen. Sie warf Mario einen langen Blick zu und erwiderte feierlich: »Ich bin Oltayr, die Partnerin von Zeupter.« »Aha«, sagte Mario und deutete nach hinten. »Du wirst inzwischen wissen wie man sich wieder in einen Menschen verwandelt, Kommandant, ja? Zwar siehst du auf eine archaische Weise großartig aus, aber ich ziehe doch die Borduniform oder etwas Ähnliches vor.« Cliff kratzte sich unter seinem farbigen Fell und warf achtlos ein Steinbeil ins Gebüsch. »Im Vertrauen«, sagte er. »Ich auch, Mario!« Er verschwand durch ein Loch in der Glasfront, das sich hinter ihm wieder schloß. Als der Vogelschwarm in der Luft auftauchte, befanden sich drei Menschen auf der Terrasse; Cliff, Mario und Oltayr. Aber das, was sie für einen Schwarm Vögel gehalten hatten, waren keine... Mario mißtraute seinen Augen. Cliff hielt das altertümliche Fernrohr ans Auge und sagte gepreßt: »Avihominiden!« »O Rätsel der humanistischen Bildung!« jammerte Mario laut. »Avihominiden! Was ist das dort in der Luft?« »Fliegende Menschen, Mario.« Mario riß Cliff das Fernrohr aus den Händen und spähte hindurch.
»Tatsächlich!« sagte er, trotz seiner Überlegungen von eben total verblüfft. »Es sind wirklich Ornithanthropen.« Er sah einen Schwarm von etwa fünfundzwanzig pechschwarzen Menschen, die sowohl Arme als auch Schwingen hatten. Die Flügel ähnelten Adlerflügeln und waren ebenfalls von schwarzer Farbe, nur die Schwungfedern schimmerten heller. Ein Zug, leicht halbkreisförmig ausgerichtet, näherte sich in etwa zweihundert Metern Höhe der Insel. Mario sah von einem der Flügelmenschen zum anderen und erkannte genau in der Mitte der Formation einen besonders kräftigen Flügelmenschen, der jemanden in den Armen trug. »Deine Liebste kommt per Luftpost!« sagte Mario respektlos zu Cliff. »Wie?« Mario gab Cliff das Instrument und wiederholte: »Diese Avihominiden bringen Ishmee. Via airmail!« Cliff stöhnte auf. »Zu Land, zu Wasser und durch die Luft... die ORION-Crew ist wirklich im Augenblick der Mittelpunkt sehr merkwürdiger Erscheinungen. Jetzt bringen sie unsere Freundinnen schon auf den Flügeln des Windes daher.« Mario sagte zweifelnd: »Ich glaube nicht, daß Ishmee in der Lage sein wird, eine Punktlandung per Fallschirm durchzuführen.« Schweigend schauten sie in den Himmel. Die halbmondförmige Anordnung der fünfundzwanzig schwarzen Flugmenschen näherte sich sehr
schnell. Nach wenigen Sekunden konnten die drei Wartenden das Geräusch der Schwingen hören; ein auf- und abschwellendes Sausen in der Luft. Die Flügelmenschen waren weder kleiner noch größer als der Durchschnitt der Dara hier; aber der Anführer, der Ishmee trug, als sei sie ein leichtes Kind, schien größer und muskulöser zu sein. »Jetzt brauchst du mir nur noch zu erklären«, sagte Mario und wandte sich an das Mädchen, das ebenso aufmerksam wie sie beide dem Schwarm entgegensah, »daß es auch einen blonden Mann gab, der den Avihominiden das Fliegen beibrachte.« »Nein«, sagte Oltayr leise. »Aber auf einem der Planeten entwickelten sich die ausgesetzten Dara zu Vogelmenschen. Jemand von uns brachte ihnen zwar nicht das Fliegen bei, aber er lehrte sie, diese Fähigkeit in ihre Kultur zu integrieren.« Mario murmelte: »Er wird ihnen unter anderem auch den Sturzflug beigebracht haben, zu dem sich der Anführer gerade anschickt.« »So war es.« Während nacheinander die einzelnen Flügelmenschen verschwanden wie jede der bisher erschienenen Illusionen, schwebte der Anführer mit Ishmee in den Armen in einem gewagten Manöver tiefer. Der Flügelmensch kippte über die rechte Schwinge ab, raste im Sturzflug auf die Terrasse zu und richtete sich, heftig mit den Flügeln schlagend und die Beine ausstreckend, dicht über den Köpfen der drei Menschen auf. Ein starker Luftzug umwehte sie sekundenlang, dann senkte sich der Anführer vor Mario auf den weißen Belag und federte den Sturz mit den Knien
ab. Er ließ Ishmee aus den Armen gleiten. »Das frühe Volk der Flügelmenschen grüßt euch!« sagte er. »Und hier ist die Frau von den Sternen.« Cliff breitete die Arme aus und umarmte das Mädchen. Sie trug noch den Anzug, den sie nach dem Aussteigen aus der LANCET getragen hatte. Sie schüttelte den Kopf, wie um eine böse Erinnerung loszuwerden, und sagte atemlos: »Ich habe Dinge erlebt, Cliff... ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« Cliff sah über ihre Schulter Mario an, dann wanderte sein Blick auf den schwarzen Flügelmenschen, der sich wortlos abgewandt hatte und sich mit einem schnellen Anlauf über der abfallenden Treppe in die Luft warf und nach einem bogenförmig nach unten führenden Flug immer höher schraubte. Dann sagte der Kommandant: »Du hast etwa das erlebt, was auch uns gezeigt wurde. Aber in einer anderen Form und einer anderen Umgebung. Jetzt ist alles vorbei – eine wichtige Station ist erreicht worden. Wo ist eigentlich Zeupter?« fragte er das Mädchen neben Mario. »Er wird kommen, wenn er es für richtig hält!« war die Antwort. Ishmee wurde von Cliff ins Innere gebracht, und als sich eine halbe Stunde später das nächste Ereignis abzeichnete, waren es schon drei Crew-Mitglieder, die auf die anderen drei Freunde warteten. * Der gesamte Rumpf knarrte und knisterte, wenn sich das Schiff bewegte. Aber die breiten Streifen aus
Dichtungsseilen und Gummi, die sich zwischen den einzelnen Platten aus Eisenblech befanden, ließen kein Wasser eindringen. Das Schiff war mit dreißig Männern besetzt, die von Kopf bis Fuß in Kettenhemden aus schwarzen Eisendrähten gehüllt waren Sie spähten geradeaus, als gelte es, einen tödlichen Feind auszumachen. Atan Shubashi fuhr jetzt den vierten Tag mit diesem Schiff – der Hafen lag weit hinter ihnen. Vor das Loch in den Felsen hatten sich jetzt wieder die Eisentore geschoben, und das frühe Volk der Seefahrer hatte sich in die Kavernen der Uferfelsen zurückgezogen. »Steuermann!« schrie der Ausguck. Atan nahm seinen tropfenförmigen Helm ab, steckte die nadelfeine Spitze in eine Lochhalterung neben sich und sah hinauf. Dort, im Korb des eisernen Rohrmastes, winkte der Ausguck. »Was gibt es?« rief er durch das Stampfen, Zischen und Brodeln der schweren Maschine. »Insel in Sicht. Sollen wir die Harpunen klarmachen?« »Nein!« schrie Atan laut. »Wir treffen dort auf Freunde!« Der Ausguck rief zurück: »Wir Seefahrer haben keine Freunde, Fremder!« Atan gab zurück: »Bedauerlich für euch, gut für mich. Wir halten Kurs auf die Insel!« Das Schiff, ein vierzig Meter langes Drachenboot, befand sich in ausgezeichnetem Zustand. Der gekrümmte Träger, der von der Spitze des Buges bis zum Ende des Hecks ging, war nur die Stütze. Der Körper des Schiffes bestand aus zugeschnittenem und
genietetem Blech; lauter verschieden geformte Blechplatten waren mit doppelten Nietenreihen aneinander befestigt und mit Werg und Gummi abgedichtet. Ein langes Eisenrohr ragte mittschiffs auf. Ein Heizkessel, der allein das halbe Schiff ausfüllte, war mit Wasser gefüllt und stand unter Druck. Atan hatte einen Wert von etwa dreißig Atmosphären ausgerechnet. Atan näherte seinen Mund dem gekrümmten Trichter des Sprachrohres und rief: »Erzeuger des weißen Dampfes!« Der Heizer gab laut zurück: »Herr der Wellen?« »Halte volle Kraft in der Maschine, Freund!« »Weshalb? Brauchen wir die Dampfkatapulte?« Atan brüllte verärgert: »Nein! Wir werden nicht angegriffen, wir greifen nicht an, und wir werden auch nicht kämpfen. Dies ist eine Fahrt, um mich zu meinen Freunden zu bringen!« »Du bist ein Spielverderber!« schrie der Heizer. »Schon möglich«, sagte Atan etwas leiser. »Aber ich freue mich auf das Ende der Fahrt.« Der Kessel erzeugte hochgespannten Dampf, der durch eine Anzahl von Düsen über dem Heck das Schiff verließ. Zwar kondensierte der Dampf augenblicklich, wenn er das Wasser berührte, aber er verlieh dem Schiff immerhin eine beträchtliche Geschwindigkeit. Mit Hilfe einiger drehbarer Dampfdüsen wurde gesteuert, und zwar nach dem Prinzip der Raketen im freien Raum – Dampf wurde dort ausgeblasen, wo man bremsen mußte. Bewegte man das Schiff nach Steuerbord, dann wurde an Backbord
Dampf ins Wasser geleitet. Atan wunderte sich noch immer über den relativ hohen Wirkungsgrad des Antriebs; er hätte es nicht für möglich gehalten. Die Seefahrer waren ein hartes, freudloses Volk. Sie hausten in lichtarmen Höhlen über der Brandung, befanden sich in einem unaufhörlichen Kampf gegen die karge Natur und die Stämme der benachbarten Zone, einem riesigen, sumpfigen Stromdelta. Alle Kulturen, die von ihnen hervorgebracht worden waren, dienten der Verteidigung und dem Kampf. Und Atan Shubashi war von ihnen mitgenommen worden, als er versuchte, einen Felsen zu erklettern. Er wollte sich nach seinen Freunden umsehen. Und jetzt, am Ende seiner kleinen privaten Odyssee, sah er die Insel. Sie befand sich einen Kilometer voraus. Der Maschinist schrie durch die Sprechanlage: »Wo sollen wir anlegen?« Atan spähte durch das hochwertige Scherenfernrohr, das auf der winzigen Brücke festgemacht war. »Am Fuß der Treppe!« sagte er. »Und jedem von euch, der es wagt, das Geschütz zu besetzen, schieße ich eine Lähmnadel in die Rippen!« Er schloß und öffnete Hähne, und langsam schwenkte das Drachenschiff auf einen neuen Kurs ein. Der scharfgeschliffene Bug spaltete das Wasser, und die Wellen die gegen die eisernen Flanken des Schiffes schlugen, vermischten sich mit dem Zischen des austretenden Dampfes knapp oberhalb der Wasserlinie, mit dem Brodeln des Wassers im Kessel und mit dem Heulen der Flammen zu einem Geräusch das seit Tagen selbst den Schlaf Atans erfüllte. Er regulierte den Antrieb, und als die Treppe herankam, wurde das Schiff langsamer.
Die Bewaffneten spähten hinauf zu dem weißen Bauwerk und erkannten die Menschen. »Die dort oben – sie schießen auf uns?« fragte der Ausguck laut. »Sie warten auf mich!« brüllte Atan. Seit Antritt der Fahrt hatte er nur zwei Themen diskutiert: Der gewaltige Zeupter und die Möglichkeit, angegriffen zu werden, zu kämpfen, sich zu verteidigen. Jetzt näherte sich das Ende der Fahrt, und die Seefahrer waren enttäuscht darüber, daß sie noch lebten. Atan schaute abermals durch das Glas. Er fühlte die Vibrationen des schweren Schiffskörpers, aber das Bild blieb klar, wenn auch ein wenig verwackelt. Dort oben standen Cliff in einer merkwürdigen, weißen Kleidung, Mario im normalen Aufzug und Ishmee. Neben den drei Freunden saß auf einer gläsernen Bank ein schönes Mädchen mit schwarzen Haaren. »Sie sind da!« sagte Atan leise. »Wenn auch Helga und Hasso fehlen.« Das Schiff schob sich seitwärts an die Treppe heran. Die Männer handelten blitzschnell. Während der Wind eine Wolke aus Dampf undichter Leitungen und Rauch aus dem schlanken, rostigen Schornstein an Land blies, klappte eine Kaperleiter nach außen und schlug wuchtig auf die Steine der Treppe. »Steuermann geht von Bord!« Dieser Schrei und ein langgezogenes, schauriges Heulen des Dampfventils begleiteten Atan, der eine kurze Leiter herunterstieg und die Gangway betrat. Er winkte zuerst nach oben, dann hob er beide Arme und winkte den Besatzungsmitgliedern zu.
»Gute Fahrt allerseits!« sagte er. »Ich werde euch und eure rauhe, aber herzliche Art nie vergessen!« Dann lief er schnell die Gangway herunter, vier oder fünf Stufen aufwärts und sah zu, wie das Schiff zischend und rauchend wendete und wieder in die Richtung auf das andere, weit entfernte Ufer zufuhr. Etwa fünfzig Meter von der Treppe entfernt verschwand es, und Atan machte sich daran, die wohl hundertzwanzig Stufen bis zur Terrasse hinaufzuklettern. »Endlich!« sagte er. »Endlich werden wir die Wahrheit erfahren! Aber ich sehe diesen Zeupter nicht!« Er wurde stürmisch empfangen und begann sofort aufgeregt zu berichten, aber die langgezogenen Töne aus Hörnern, die dumpfen Lieder und der Schritt einer marschierenden Kolonne zogen die Aufmerksamkeit von Cliff, Mario, Ishmee und Oltayr auf sich. Über den Damm, der Ufer und Insel verband, näherte sich eine feierliche Prozession. »Was ist denn das schon wieder?« fragte de Monti. Cliff konterte lachend: »Die Dara lassen sich in ihrem Bemühen, uns das gesamte Spektrum ihrer Hilfestellung gegenüber sich entwickelnden Kulturen zu zeigen, schon etwas einfallen. Dort kommt jemand, der bei einem frühen Volke höchste Verehrung gefunden hat. Jemand, der ihnen geistig überlegen war... nicht solch ein alberner Saurierbändiger wie ich.« Ishmee warf ein: »Oder wie ich – ich habe den Fliegenden nur ein Luftballett zeigen können. Alles wirkt sehr drastisch, aber dahinter steckt viel Ernst.«
Der Zug kam näher. Es waren nicht weniger als zweihundertfünfzig Menschen, die sich in Dreierreihen nebeneinander bewegten. Es war eine feierliche, langsame Prozession. Die vordersten Menschen, dunkelblau gekleidet, trugen Fackeln und lange Lanzen, an denen wappengeschmückte Wimpel hingen. Dahinter kam eine Gruppe von fünfzehn Männern, herkulischen Gestalten, die in lange, aufwärts gebogene zeremonielle Hörner stießen. Es war ein Ton wie Saurierschrei und Schiffssirene gemischt. Dahinter gingen in feierlichem Schritt etwa neunzig Menschen, deren Münder weit offenstanden und sich in rhythmischen Abständen schlossen wie die Mäuler von luftschnappenden Fröschen Sie sangen. Eine Melodie, die nur aus Konsonanten zu bestehen schien. Ein ungeheures Summen, hin und wieder von einem lauten Schrei unterbrochen, begleitete das Brummen der Hörner. Eine mysteriöse, hallende Musik. Dann kamen die Sänftenträger. »Immer wieder dieser Ingenieur!« sagte Cliff. Mario rief verwundert: »Kommt dort Hasso?« »So scheint es. Wenigstens erkenne ich in dem gläsernen Kasten, von ungefähr zwanzig Männern getragen, unseren Freund, den Bordmechaniker!« Zwei lange Stangen wurden durch eine Plattform gehalten. Auf dieser Platte stand ein würfelförmiger Kasten mit gläsernen Wänden. Auf einer Glasplatte saß Hasso, unverkennbar in einen weißen Mantel gehüllt. Er schien sich zu einem Oberpriester aufgeschwungen zu haben oder zu einem Zauberer. »Was tragen sie hinter ihm her?«
Cliff spähte angestrengt durch das Fernrohr und sagte nach einer Weile: »Das Zeichen seiner Würde... nein: es sind Geräte, die sich bewegen. Maschinen oder etwas Ähnliches.« »Unfaßbar, welche Erlebnisse wir haben«, sagte Ishmee. »Cliff sollte darüber ein Buch schreiben.« Nach einigen Sekunden korrigierte sie sich selbst. »Cliff könnte dieses Buch nicht schreiben – dies sollte vielmehr ich tun. Denn unser Kommandant müßte notgedrungen unehrlich werden. Ehrlichkeit aber ist eine ausschließliche Eigenschaft der Turceed.« Cliff legte seinen Arm um ihre Schultern und sagte gutmütig: »Freiheit anscheinend auch!« Dann sahen sie in atemlosen Staunen, wie der Zug näherkam, wie sich die verschiedenen Gruppen über die lange Treppe aufwärts bewegten und wie die Träger die gläserne Sänfte heraufschleppten. Sobald eine Reihe der Ankömmlinge die Terrasse erreicht hatte, verschwanden die Menschen. Sie alle hatten einen ungewöhnlich ernsten Gesichtsausdruck, als wären sie Zeugen einer einmaligen Preisverleihung, Gäste eines Begräbnisses oder Gerichtsvollzieher in Ausbildung, wie Atan kommentierte. Schließlich kam Hasso. Er saß, würdevoll und steif, in dem gläsernen Kasten. Einer der Männer, die blitzende und glänzende Gegenstände trugen, bewegte einen Hebel, und ein Bolzen schwirrte durch die Luft. Er schlug mit einem schmetternden Geräusch in die Glaswand, und plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Lärm. Alle Glasflächen lösten sich in lange, scharfkantige Splitter auf und fielen zu Boden, rutschten klirrend und ber-
stend über die Stufen herunter Hasso sprang von der Plattform, warf seinen langen Mantel ab und wurde laut und stürmisch begrüßt. »Ehe dieser Umzug hier vorbei ist«, sagte Atan vorlaut. »Hast du ihnen die Segnungen einer ORIONKultur vermittelt?« Hasso sagte mit einem unschuldigen Lächeln: »Nein. Das, was sie tragen, ist ein Perpetuum mobile. Ich habe es für sie konstruiert. Und dann montierten sie es auseinander und schleppten es hinter mir her, wohin ich auch immer ging.« Ishmee sagte laut: »Du lügst, Hasso!« Hasso schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Dieses ewig bewegliche Modell, das ich baute, funktionierte außergewöhnlich gut. Ich führte nur einmal Energie zu, und als sie es demontierten, bewegte es sich noch immer.« Cliff fragte kopfschüttelnd: »Welche Energie, Hasso?« Er sah zu, wie sich mehr und mehr Teile, von ernsten Männern getragen, der Terrasse näherten und verschwanden. Da die Hornbläser und Sänger die ersten waren, die sich aufgelöst hatten, konnte man sich jetzt wieder unterhalten, ohne die Stimmbänder zu strapazieren. »Tierische Energie!« Die Teile sahen so aus, als ob sie einem gigantischen Laufrad entstammten. »Welches Tier?« »Nun«, sagte Hasso. »Ich konstruierte einen unsichtbaren Hund und hängte ihm einen unsichtbaren Fleischbrocken vor die Nase. Er bewegte das Perpe-
tuum sehr mobil, als sie es auseinandernahmen.« »Unsichtbarer Hund?« fragte das Mädchen, das sie noch immer auf Zeupter warten ließ. »Du meinst, du hast mit Hilfe von Spiegeln den Hund unsichtbar gemacht?« Hasso senkte bekümmert den Kopf und gestand: »So oder ähnlich war es. Jedenfalls wurde ich als der Wunderbare von den Sternen immerhin einige Tage lang verehrt wie ein Fürst oder ein Raumschiffkommandant.« Cliff brach in ein schrilles Lachen aus, als er die Konsequenzen dieses Vergleichs durchdachte. In dieses sein Lachen mischte sich das Geräusch von vielen beschlagenen Hufen und das Klirren von Eisen. Es hörte sich an, als bewege sich ein Zug von schwergepanzerten Reitern auf die Terrasse zu. Aber niemand war zu sehen. »Was ist das?« fragte Ishmee. »Niemand hier!« Mario erklärte mit ausgebreiteten Armen: »Da bis auf unsere dunkelbraune Funkerin alle Mitglieder unserer Crew inzwischen hier eingetroffen sind, wird es Helga mit Konvoi sein.« Er erinnerte sich betroffen daran, daß er sie in Ketten am Schandpfahl der Stadt gesehen hatte. Und dann geschah das unglaublichste Ereignis dieser Stunden. Aus den Büschen neben der Terrasse brachen sechzehn Männer. Man sah ihre Gesichter nicht, aber man konnte erkennen, was sie vorhatten. Die Werkzeuge und die Balken in ihren Händen sprachen eine deutliche Sprache. »Sechzehn Männer... was bauen sie?« flüsterte Ishmee.
»Zweifellos keine Hütte«, sagte Hasso. Die Männer, die schwer bewaffnet waren und von eisernen Rüstungen starrten, richteten die Balken aus, schlugen stählerne Zapfen durch eingebrannte Löcher und steckten schwere Muttern darauf. Ein Gebilde aus vierkantigen Balken entstand binnen kurzer Zeit. Zwei Meter Kantenlänge der Bodenkonstruktion, vier Meter hoch. Die dunkel gekleideten Männer warfen ein langes Seil über die oberen Balken, schwangen sich auf ihre schwarzen Pferde und galoppierten davon, schnell und entschlossen. Sie hatten während der gesamten Zeit kein einziges Wort gesprochen. »Keine Hütte, eher ein Galgen«, murmelte Hasso und sah die zweite Gruppe, die über die freie Fläche galoppierte. Zehn Reiter zwischen ihnen ein ungesatteltes Pferd, auf das Helga Legrelle gebunden war. Sie trug ein langes, schwarzes Hemd, knöchellang, und die Fußgelenke waren unter dem Bauch des Pferdes mit einer schweren Kette gefesselt, ebenso die Handgelenke. Cliff stürzte vor, aber Mario riß ihn am Arm zurück. »Helga!« rief Cliff. »Zurück, Cliff!« Die Reiter sprangen aus den Sätteln, lösten die Ketten und hoben Helga Legrelle vom Pferd. Dann gingen sie mit entschlossenen Schritten, die funkelnden Schwerter in den Händen, auf den Galgen zu. Zwischen ihnen lag das Mädchen mit geschlossenen Augen; sie schien niemanden zu sehen. Die Reiter führten sie bis unter das Balkenkreuz und zogen die Henkersschlinge herunter.
»Sie wollen Helga aufhängen!« sagte Atan fassungslos und war unfähig, sich zu bewegen. Die Schnelligkeit und Entschlossenheit, mit der die Männer handelten, war verblüffend. Sie steckten bis zum Hals in schwarzen, eisernen Helmen; man sah nur die dunklen Augen. Sie legten die Schlinge um Helgas Hals, und plötzlich war der Spuk verschwunden. Helga stand da und öffnete langsam die Augen. »Ihr seid... da?« fragte sie. »Ja. Und du bist in Sicherheit!« sagte Atan beruhigend und brachte sie ins Haus. Nicht ganz eine halbe Stunde später saßen sie endlich Zeupter gegenüber. Ein Raum, von der Sonne des frühen Abends erfüllt. Acht große, weiße Sessel umstanden eine schwebende Platte von fünf Metern Durchmesser, auf der Speisen und Getränke standen. Neben dem schwarzhaarigen Mädchen saß Zeupter, und niemand sprach. Die Versammelten erholten sich schnell von den verwirrenden Erlebnissen der letzten Stunden und sahen einander in die Gesichter – die vertrauten Gesichtszüge schienen auf einmal ernster und gefaßter, reifer zu sein. Endlich begann Zeupter zu sprechen. »Zuerst möchte ich euch alle begrüßen«, sagte er. »Ich versichere euch, ich bin wirklich. Ebenso wie Cornst, das Kind und alle anderen Einzelpersonen, die ihr bisher getroffen habt. Was euch alle hierher geführt hat, werdet ihr inzwischen erkannt haben. Kennt ihr den Schlüssel?« Mario antwortete als erster. »Wir haben den Schlüssel, aber wir kennen die Stellen noch nicht genau, an denen wir dieses riesige
Museum betreten können. Aber das ist unwichtig – wer bist du, Zeupter?« Zeupter, ein altersloser Mann, ähnlich gekleidet und auch ähnlich aussehend wie Cornst, deutete auf Cliff und antwortete: »Ich bin einer der letzten Menschen – oder Dara –, die das Große Schiff erbaut und ausgeschickt haben. Ich bin Zeupter, der seit Jahrtausenden durch die Augen des Schiffes alle diese Kulturen, die ihr kennengelernt habt, und noch viele andere mehr beobachtet hat. Ich habe auch die Männer und Frauen delegiert, die kulturelle und zivilisatorische Anstöße gegeben haben. Und ich war es, der euch holen ließ.« Cliff murmelte protestierend: »Wir haben uns durch den halben Planeten gewühlt, um endlich zu hören, daß du für alles verantwortlich bist, Zeupter. Was gab dir eigentlich das Recht dazu?« Zeupter lächelte ironisch und sagte: »Ihr kamt hierher, weil die Sorge und die Verantwortung für eure und unsere Rasse es notwendig werden ließen. Wenn du so willst... die Terraner sind selbst daran schuld, daß ihr alle hierher gebracht wurdet.« Hasso Sigbjörnson stand auf und stellte sich hinter seinen Sessel. »Das wirst du uns jetzt genau erklären müssen, Zeupter«, sagte er langsam. »Denn wir haben uns nicht all den Anstrengungen des Körpers und den noch höheren des Verstandes unterworfen nur um des Kynuroy willen. Du wirst uns sagen, welcher Sinn hinter allem steht.« Die beiden Männer starrten sich schweigend an. Es
war wie ein stummes Duell. Dann versicherte Zeupter: »Ich werde euch alles sagen, was ihr wissen wollt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Stellt die Fragen.« Und das Mädchen neben ihm schloß: »Ihr werdet alle Antworten bekommen, Terraner.« Eine erwartungsvolle Stille senkte sich über die kleine Gruppe der Menschen. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne badeten den Raum, in dem sich nur die gedachten Gegenstände und die zwei Parteien befanden, in ein Rot von düsterem Glanz. Es war die Farbe geronnenen Blutes oder verlöschender Glut. Endlich räusperte sich Cliff. Er fragte.
5 Zeupter, ein Mann mit dunkelroten Augen und goldfarbenem Haar, trug eine locker geschnittene weiße Jacke, mäßig enge weiße Hosen und entsprechend kurze Stiefel aus weißem Leder. Sein einziger Schmuck war ein handbreites Armband, das er rechts trug. Sein Gesicht war voller Linien, aber ihnen fehlte die Härte von Alterslinien, die Wirkung von echten Runzeln und Falten. Alles an Zeupter schien sorgfältig konserviert zu sein – aber es nahm ihm nichts von seiner unglaublichen Autorität und Überzeugungskraft. Diesmal merkten die sechs Terraner, daß die Situation keine Zweifel offenließ. Es war sehr ernst. Das Licht im Raum nahm ab, und die düstere Rotglut schuf eine zusätzliche Bedrohung. »Wir haben inzwischen klar erkannt, daß alle unsere Erlebnisse nichts anderes als Filme, Schauspiele oder lebende Museumsszenen waren, in denen uns gezeigt wurde, wo, wie und wann die Dara ihre jungen Kulturen – eben die frühen Völker – kulturell und zivilisatorisch beeinflußt haben. Hätten wir den Schlüssel für dieses gigantische Museum, könnten wir vergangene Erdkulturen direkt studieren. Ist das richtig, Zeupter?« fragte Cliff McLane ernst. »Das ist genau richtig. Wenn ihr ein zweitesmal hierher kommt, werdet ihr den Schlüssel besitzen und anwenden können«, erwiderte der alte Dara mit seiner Baßstimme. »Weiterhin«, warf Hasso Sigbjörnson ein, »haben wir gemerkt, daß durch die dauernde und tiefe Beeinflussung aller Anpassungsgemeinschaften, also der
kontrollierbaren Bezirke dieser vierzig Planeten, unsere Kynuroy-Fähigkeiten zugenommen haben. Sie genügen uns natürlich, wenn sie auch durch Einwirkung von mehreren anderen Individuen neutralisiert werden können. Lag auch das in der Absicht der Dara, die uns mit dem Großen Schiff hierhergeholt haben?« Wieder nickte dieser unfaßbar alte Mann und sagte deutlich: »Richtig, Hasso. Genau das ist es, was wir wollten. Stets dann, wenn ihr die Planeten besuchen werdet, seid ihr bereits vollkommene Mitglieder unserer Gemeinschaften. Aber ich muß euch darauf hinweisen, daß sich Kynuroy auf die vierzig Planeten und das Schiff beschränkt – auf der Erde würdet ihr sonst als Wunderwesen bestaunt werden. Es hängt damit zusammen, daß die Anpassungsgemeinschaften nicht örtlich verändert oder transportiert werden können.« »Wir verstehen«, meinte Ishmee umfassend. »Bisher hast du kein einzigesmal die Unwahrheit gesagt, Zeupter. Wie geht es weiter?« Atan Shubashi murmelte: »Stichwort Bishayr.« Cliff griff diesen Hinweis sofort auf und wandte sich wieder an Zeupter. »Ihr verspracht, uns nach dem Kampf gegen die Uraceel, die wir als Frogs kennen, eine Belohnung. Die Belohnung sollte am Schluß einer langen Wanderung stehen, und sie ist wohl identisch mit Bishayr, das wir während dieser Wanderung suchten. Wir alle haben den deutlichen Eindruck, daß unsere Wanderung lange genug gedauert hat... wo ist Bishayr?« Zeupter lächelte zurückhaltend und etwas sarka-
stisch, dann führte er aus: »Eure Wanderung ist noch nicht zu Ende, Freunde. Was ihr jetzt vor euch habt, ist die Schlußprüfung. Ihr sollt zeigen, ob ihr würdig seid, die Botschafter zwischen den Sternen zu werden.« Mario stöhnte und knurrte: »Schon wieder eine Prüfung? Was soll das... wozu ist das gut?« »Ihr werdet Bishayr in den nächsten Wochen auf eurem Heimatplaneten dringend brauchen. Ich sage nur dringend; in Wirklichkeit hängt ungeheuer viel von dieser Fähigkeit ab. Aber diese Fähigkeit kann nur von wirklich integeren Menschen richtig angewendet werden.« Cliff fragte scharf: »Wir sind nicht integer?« »Noch nicht. Uns fehlt ein großer, unerschütterlicher Beweis für diese ›Tugend‹. Versteht uns bitte recht: Wir haben wenig Interesse daran, euch zu schikanieren oder nach Art alter Sagen schwersten Prüfungen zu unterwerfen. Aber wir müssen unsere Botschafter mehr als sorgfältig aussuchen, denn die beste Waffe ist in den Händen von Unwürdigen zugleich die größte Gefahr. Wir wollen weder die Erde und ihre Neunhundert-Parsek-Raumkugel noch das Planetensystem der vierzig Welten in Gefahr bringen. Ihr werdet, wenn die letzte Prüfung bestanden ist, Bishayr beherrschen wie wir – sogar noch besser, denn euer Verstand hat nicht alle die Belastungen einer uralten Kultur, wie wir sie hinter uns haben. Aber ihr werdet Bishayr nur dann beherrschen können, wenn ihr würdig seid, Botschafter zu werden. Aber – ihr werdet erst dann Botschafter, wenn wir
überzeugt sind, in euch sechs Terranern würdige und verläßliche Freunde gefunden zu haben. Durch den erfolgreichen Kampf habt ihr euch sicher sehr qualifiziert. Aber Kampf allein ist keine Versicherung für uns; Kampf ist destruktiv.« Helga strich den Stoff ihrer weißen Kynuroyhose glatt und sagte erbittert: »Immerhin haben wir den Kampf nicht für uns, sondern ausschließlich für euch gekämpft.« Zeupter lächelte sie an, dann fragte er: »Bist du sicher, Helga, daß es nur für uns war?« Helga zuckte die Schultern und erinnerte sich schaudernd der Gerichtsverhandlung, in der sie angeklagt worden war, mit Hilfe ihrer Stellung als Mensch von den Sternen die Sklaverei über dieses frühe Volk bringen zu wollen. Dann sagte sie leiser: »Nein, ich bin nicht mehr ganz sicher.« Über dem Tisch entstand genau in dem Augenblick, als die Sonne inmitten flammender Wolkenbänke unterging, eine Lichtkugel, die in dem sonst leeren Raum des Bauwerks eine runde Lichtzone schuf. Plötzlich schien die Tischrunde an Bedeutung zu gewinnen. Sie verwandelte sich in eine Gemeinschaft von Wesen, die an demselben Problem interessiert waren – es gab nicht mehr die zwei Parteien, die in Opposition standen. In diese Stille hinein sagte der alte Dara: »Ich kann euch die letzte Probe nicht ersparen. Ihr müßt sie über euch ergehen lassen, aber ihr braucht nicht passiv zu bleiben, sondern könnt euch aktiv beteiligen, könnt denken und handeln. Wenn ihr den richtigen Weg geht, sind alle Probleme schlagartig gelöst.
Diese Probe wird eure innerste Substanz deutlich werden lassen. Ihr werdet so handeln, wie ihr es gewohnt seid. Ihr werdet keinerlei Hilfestellung von außen bekommen, sondern seid eure eigenen Herren. Ihr werdet alles vergessen – vorübergehend – und ganz von vorn anfangen müssen. Man wird euch auf eine Weise entgegenkommen, die euch verblüffen wird. Es ist die letzte Prüfung für euch. Von ihrem Ausgang hängt es ab, ob ihr als Unwissende, als einfache Raumfahrer, zur Erde zurückkehrt – oder aber als Botschafter zwischen den Planeten.« Cliff fragte heiser: »Welcher Art ist diese Prüfung?« Er wandte sich mit einer unausgesprochenen Frage an Ishmee. »Ich kann, darf und werde nichts sagen«, erwiderte Zeupter ernst. »Ihr seid auf euch allein gestellt, das ist alles.« »Können wir mit unseren einfachen, primitiven Mitteln diese Aufgabe lösen?« erkundigte sich Atan Shubashi. »Vollständig!« versicherte Zeupter. »Wann beginnt diese Prüfung?« fragte Helga Legrelle ängstlich. Zeupter lächelte das Mädchen beruhigend an und sagte: »Nachdem ihr ausgeschlafen habt. Hier ist schon alles bereitgestellt worden – nach diesem aufregenden Abenteuer habt ihr eine Erholung mehr als verdient. Ich werde euch jetzt verlassen. Und... ich wünsche euch alles Glück. Ich bin über-
zeugt, ihr werdet es schaffen. Nach der Prüfung treffen wir uns wieder.« Hasso fragte schnell: »Gleichgültig, wie wir abgeschnitten haben? Auch dann, wenn wir das Klassenziel nicht erreicht haben sollten?« Zeupter nickte ernst. »Auch dann«, sagte er. »Ich lasse das Mädchen hier. Solltet ihr eine Frage haben; sie ist autorisiert, sie zu beantworten.« Zeupter stand auf, hob grüßend die Hand und war verschwunden. »Dieser Mann scheint vertrauenswürdig zu sein«, sagte Atan. Seinem Gesichtsausdruck war nicht zu entnehmen, wie er diese Feststellung meinte. »Würdest du eine gebrauchte LANCET von ihm kaufen, Hasso?« Hasso beschäftigte sich bereits mit den nächsten Stunden. Er gähnte ausgiebig und murmelte: »Selbstverständlich. Aber ich würde Cliff nicht damit fliegen lassen, Freund Atan Shubashi, Erfinder der kompaßlosen Navigation. Und jetzt... ich bin müde. Hundemüde, erledigt.« Sie waren für diesen Tag zu erschöpft, um noch die einzelnen Erlebnisse diskutieren zu wollen. Im hinteren Bereich des riesigen Bauwerks waren sechs luxuriös eingerichtete Schlafabteile durch Kynuroy entstanden, und eine Stunde später schlief die gesamte ORION-Crew. * Über der Insel erschien der zweigeteilte Himmel.
Auf der einen Seite die Kulisse des Fornax-Systems, dazwischen ein breiter, fast leerer Streifen, auf der anderen Seite des Firmaments die Feuerspirale der heimatlichen Milchstraße. Die sechs restlichen Monde dieses grünen Planeten – einer war mit den letzten Uraceel oder Extraterrestriern im Zentrum des Fornax-Systems abgesetzt worden – begannen ihre verschiedenen Wege durch die Nacht. Die sechs Terraner schliefen. Cliff McLane, der auf seiner Wanderung vom Landeplatz der LANCET in eine frühe Steinzeitkultur geraten war. Dort, dem wirklichen Geschehen vor zehntausenden Jahren auf einem anderen Planeten, nicht der Erde entsprechend, hatte er gezähmte Saurier angetroffen und einen Dara, der die Primitiven lehrte, statt Stein Metalle zu benutzen. Das Gas, das plötzlich im Raum stand, traf Cliff unvorbereitet und völlig überraschend; sein Schlaf wurde tiefer, und er träumte von Wamsler und einem genau umrissenen Auftrag. Er merkte nicht, wie sich alles veränderte. Die Umgebung – sie befanden sich zu dritt wieder in dem kugelförmigen Beiboot der ORION VIII. Die Situation – sie trugen die bequeme, gewohnte Bordkleidung. Die Aktion – die beiden LANCETS starteten und erreichten die ORION. Die Koordinaten – die ORION schlug, vom Autopiloten gesteuert, einen Landekurs ein. Weder Cliff noch Ishmee, weder Hasso noch die anderen hatten Anlaß, zu zweifeln oder nachzudenken. Wamsler hatte ihnen den Befehl gegeben, auf diesem Planeten innerhalb der Raumkugel mit neunhundert Parsek Durchmesser zu landen und den Planeten zu erkun-
den. Die sechs Menschen wachten auf – und alles war normal. Sie wußten es nicht besser... * »Kommandant an Astrogator«, sagte Cliff halblaut. »Lassen sich Einzelheiten einer Besiedlung ausmachen?« Der silberne Diskus schwebte mit normaler Geschwindigkeit auf die Oberfläche des Planeten nieder. Diese Welt, im Raumkubus Zehn/Ost 893, besaß zwei Polkalotten von strahlend weißer Farbe, war mit einem gewaltigen Ozean bedeckt, in dem nur ein einziger Kontinent zu erkennen war. Eine riesige, annähernd runde Landmasse mit einer Masse vorgelagerter Inseln. »Ja«, sagte Shubashi eifrig. »Diesmal wird es kein Routineflug, Kommandant. Ich habe eine Siedlung ausgemacht – etwa mitten in dem runden Kontinent.« Die Funkerin schaltete sich in die Bordkommunikation ein und erklärte leise: »Und eine Menge Funksignale. Ich nehme aber an, daß es sich um eine Maschinenkommunikation handelt.« »Keine Schiffe, Flugzeuge, Raumschiffe oder derlei technische Dinge?« erkundigte sich Mario, der den Kurs überwachte und die Anflugdaten von den Schirmen seines Komputerpultes ablas. »Bisher nichts!« sagten Cliff und Atan gleichzeitig. Die ORION VIII, das modernste Schiff der Flotte, ging tiefer, aber die Insassen ließen in ihrer Wachsamkeit nicht nach. Seit dem Tod des letzten Un-
sterblichen – der nun dieses Prädikat schwerlich verdiente – waren und blieben Cliff und seine fünf Freunde mißtrauisch. »Warten wir weiter«, sagte Cliff. »Unser Landeziel ist jedenfalls diese Siedlung. Sind wir, im Fall einer bösen Überraschung, startklar? Ich frage unseren Bordingenieur.« Hasso sagte von seinem Sichtschirm, schräg über Cliffs Kommandantensessel, mit seiner beruhigenden Stimme: »Wir können notfalls einen fabelhaften Schnellstart abwickeln, Kommandant!« Cliff grinste und sagte: »Das beruhigt uns!« Er betrachtete das farbige, dreidimensionale Bild auf dem runden Zentralschirm. Langsam wichen die Grenzen des Erdteils nach außen; die Inseln der verschiedenen Größenordnungen wurden undeutlich und verschwanden unter den Wolken. Über dem gesamten Kontinent war es Tag – er nahm rund ein Viertel der Strecke des Äquatorumfanges ein. »Wie groß ist dieses runde Ding dort unten?« fragte Ishmee respektlos. »Durchmesser etwa neuntausend Kilometer«, antwortete Atan mit der Geschwindigkeit eines Elektronenrechners. »Nicht groß, aber nach der Menge der Funksignale zu urteilen, ziemlich belebt, Freunde!« sagte die Funkerin. »Ich habe hier auf allen gebräuchlichen Wellenlängen eine Menge von Impulsen. Allerdings verstehe ich keinen davon.« Mario murmelte: »Vielleicht eine Kultur der Dherrani, die in größe-
rem Umfang als die Aashap und die Turceed überlebt hat.« Cliff sagte nachdenklich und gedehnt: »Das ist durchaus möglich, Mario. Wir sollten uns auf eine interessante Zeit vorbereiten.« Er konnte nicht ahnen, daß genau diese Änderung auf sehr spezielle Weise ihre Situation traf – es würde wirklich eine interessante Zeit werden. Nach der Landung. Die ORION ging tiefer, durchstieß eine dünne Wolkendecke und sah unter sich das Land, das alle Merkmale des Gewohnten trug: Flüsse, Berge, Gebirgsketten und Ebenen. Und winzige Reflexe bewiesen, daß im Zentrum dieser Landschaft eine Stadt gebaut worden war. Atan fuhr die Linsensätze aus und spiegelte eine Vergrößerung auf den zentralen Sichtschirm. »Achtung!« sagte der Astrogator. »Donnerwetter!« rief Mario verblüfft. »Du wolltest sagen, daß dies eine ziemlich ausgedehnte Millionenstadt sei, nicht wahr?« fragte der Kommandant. »In der Tat«, murmelte Mario. »So oder ähnlich wollte ich es formulieren.« Auf dem Schirm war die Siedlung deutlich zu sehen. Sie bot sicher einer Million oder mehr Menschen – oder anderen Wesen – Wohnraum. Ihre Ausläufer befanden sich entlang schimmernder Straßen auf Hügelkämmen oder in Tälern oder entlang des breiten Flußlaufes. Ein unregelmäßiges Rund, von dem ebenfalls unregelmäßig strahlenförmige Wohngebäude abzweigten. Mindestens fünfzig Kilometer Durchmesser, von den Spitzen der äußersten Stadtbezirke gemessen.
Cliff sagte: »Keineswegs eine untypische Bauweise. Ich könnte mir denken, daß diese Wesen dort unten humanoid sind.« »Und wieder dieses leidige Sprachproblem«, sagte Helga. »Wir können zwar alle inzwischen die Sprache unseres bezaubernden Gastes«, sie deutete auf Ishmee, »aber kaum können wir erwarten, daß aus diesem Grund dort unten dieselbe Sprache verwendet wird.« Mario konterte: »Zumindest eine ähnliche, wenn dies eine Dherrani-Kultur ist.« »Warum regen wir uns eigentlich jetzt schon darüber auf?« fragte Hasso beruhigend aus dem Maschinenraum. »Warten wir doch einfach erst die Landung ab.« Ishmee lächelte ihn dankbar an und sagte entschlossen. »Es ist eine Freude, dich an Bord zu haben, Hasso. Du hast völlig recht – in zehn Minuten wissen wir mehr.« Die Vergrößerung, auf deren Zentrum das Schiff sich hin bewegte, zeigte ihnen, daß der Diskus bemerkt worden war. Cliff sah nach der Flughöhe, die sich ständig verringert hatte. Sie betrug jetzt eintausendeinhundert Meter. Cliff ordnete ruhig an: »Vergrößerung weg, Atan. Bitte die Totale.« »Verstanden.« Die Besatzung bemerkte auf den kleinen Nebenschirmen an den verschiedenen Plätzen, daß sich im Stadtzentrum die Menschen sammelten. Sie strömten
aus allen Straßen, über Rampen und Treppen und aus großen, langgestreckten Gebäuden auf einen großen, freien Platz zu. Dort standen in konzentrischen Kreisen mehrere Reihen von riesigen Bäumen. »Humanoid, durchaus menschlich!« stellte Hasso fest. »Also doch eine Dherrani-Kultur!« murmelte der Astrogator. Das Schiff schwebte tiefer und blieb dann genau über dem Zentrum des runden Baumkreises stehen. Wie ein Pfeil in die Mitte der Scheibe sank das Schiff abwärts, bis es zehn Meter über dem Boden von den Antigravpolstern aufgefangen wurde. Cliff schaltete die Systeme ab und wandte sich dann an seine Mannschaft. »Wie wir unschwer erkennen können«, sagte er bedächtig, »scheint unser Erscheinen eine Art begeisterten Volksauflauf hervorgerufen zu haben. Das bedeutet, daß sie ankommenden Raumfahrern gegenüber freundlich sein werden – die Bordkleidung genügt, aber ich empfehle, die Gasdruckwaffe umzuschnallen.« »Ein weiser Entschluß, Kommandant!« sagte Mario. »Und sicherlich ein total überflüssiger«, sagte die Turceed. »Ich kann die Gedanken der Menschen dort draußen feststellen. Sie sind ausnahmslos freundlich, begeistert, erwartungsvoll – aber nicht feindlich.« »Gut. Einverstanden – trotzdem die Waffen.« Mario fragte: »Wer geht zuerst hinaus?« Cliff grinste ihn verständnisvoll an und sagte laut: »Da du der Schönste von uns allen bist, würde ich
vorschlagen, daß Helga und du zuerst dem Zentrallift entsteigen wie weiland Aphrodite und Apoll den Wellen?« Mario salutierte knapp, grinste zurück und zog Helga zum kleinen Lift, der ihn nach unten bringen sollte. Während sich die runde Tür schloß, knurrte Atan von seinem Pult her: »Mir ist nicht bekannt, daß Apoll den Wellen entstiegen sein sollte. Welchen Wellen, glaubst du, ist er entstiegen?« Cliff schnallte sich die Waffe um und erklärte: »Vermutlich den Ultrakurzwellen, Atan.« »Banause!« stöhnte der Astrogator. Cliff und Ishmee studierten mit wissenschaftlichem Interesse das Bild auf dem Zentralbildschirm und sahen die merkwürdige Kleidung der Menschen, sahen die echte Freude in den Gesichtern. Da sämtliche Werte von Oberflächenschwerkraft und Luftzusammensetzung nur um Hundertstel von denen der Erde abwichen, war ein Betreten dieses Planeten ungefährlich. Schließlich nahm Cliff die Hand des schwarzhaarigen Mädchens mit den goldfarbenen Augen und sagte leise: »Gehen wir?« »Ja«, sagte sie ironisch. »Wo der Lift dich hinführt, da will auch ich hingehen.« Während sie darauf warteten, daß sich die äußere Schleusentür öffnete, knurrte der Kommandant mürrisch: »Ich bin ungewöhnlich erfreut, eine zumindest literarisch hochgebildete Mannschaft mit mir zu haben. Wir werden als Schöpfer vieler interstellarer Zitate in die Geschichte der Raumfahrt eingehen.«
Dann sahen sie sich einer riesigen Menschenmenge gegenüber. * Vor dem untersten Segment des Liftes, dessen Boden die glasharte Fläche des Platzes berührte, standen die sechs Raumfahrer. Sie befanden sich im Schatten des Raumschiffes, denn es war kurz nach dem höchsten Sonnenstand. Zwischen der mehrfachen Baumreihe und dem Schiff drängten sich die Menschen. Sie waren – das konnte auf den ersten Blick festgestellt werden – aufgeregt. Einige Sekunden später unterschieden die sechs Terraner weitere Einzelheiten. Die Kleidung. Sie war eine Mischung zwischen absoluter Moderne und Antike; eine faszinierende Mischung, besonders, was die Kleidung der Frauen betraf. Ein ungeheurer Jubel, der die Trommelfelle erschütterte, erfüllte die Luft, die Menschen schrien, winkten, rissen die Arme hoch. Cliff unterschied zu seiner maßlosen Verwunderung verschiedene Ausdrücke. »Da sind sie...!« »Die Götter... endlich!« »Sie kommen von den Sternen!« »Bringt sie in den Palast der Götter!« »Schnell! Der Volksvertreter!« Cliff sah überrascht das Mädchen neben sich an. »Sie sprechen Turceed!« stellte es laut fest, um sich verständlich zu machen. Mario drehte sich um und sagte aufgeregt: »Wieder ein Problem weniger. Ich dachte gerade an die Schwierigkeiten, wenn ich einer Dame ein delikates Problem erläutern müßte!«
»Das ausgerechnet ist jetzt wichtig!« grollte Atan. »Benimm dich anständig, Junge, ja?« Jetzt kam eine Gruppe auf die Raumfahrer zu. Sechs Mädchen mit dunkelgrünen Kränzen in den Händen und ein würdig aussehender Mann mit alten, erfahrenen Augen. Sie sonderten sich von der brüllenden und winkenden Menge ab und blieben vor Cliff und seinen Männern stehen. Der Mann betrachtete nacheinander die Gesichter der vier Männer, sah dann Mario de Monti lange an und fiel unvermittelt vor Mario auf die Knie. Der Kybernetiker drehte sich um und sah Cliff ratlos an. Cliff sagte auf terranisch: »Er hält dich für den Chef... und ich werde nichts tun, ihm diesen Glauben zu nehmen. Trage den Lorbeer, trage Verantwortung, denke und handle wie ein Fürst, edler de Monti!« Er grinste Mario an und trat dann zurück, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen. Mario faßte den Mann an den Schultern und sagte in Turceed: »Stehe auf – ich bin kein Gott!« Der Mann drehte den Kopf, lächelte verzückt und stammelte laut: »Diese Bescheidenheit! Sie beweist mir erst, daß ihr wirklich die versprochenen Götter von den Sternen seid. Seit zehntausend Jahren warten wir auf euch!« Hasso und Atan wechselten einen schnellen, überraschten Blick. »Nun gut«, bekannte Mario widerwillig. »Wir sind von den Sternen, und ihr erwartet uns. Danke für den herzlichen Empfang!« Der Mann stand in einer einzigen, gleitenden Be-
wegung auf, drehte sich um und nahm einen Kranz aus den Fingern des jungen Mädchens. Er näherte sich feierlich dem Chefkybernetiker und setzte ihm den Lorbeerkranz auf. Während er sich genähert hatte, war der rasende Jubel der Menge verstummt. In dem Moment, da der Kranz an Marios Ohren Halt fand und der ältere Mann einen Schritt zurückging und sich abermals zu Boden warf, begann die Menge wieder zu rasen. Mario zerrte wütend an dem Kranz, aber er bekam von Hasso einen Rippenstoß, der ihn taumeln ließ. »Unterstehe dich, das Ding abzunehmen!« knurrte der Bordingenieur »Diese Geste kann die freundlichen Menschen zu rasenden Bestien werden lassen. Es wird sich alles erklären lassen. Mitspielen, Fürst!« »Fürst« Mario de Monti zuckte die Schultern, rückte vorsichtig den Kranz zurecht und hob dann den Mann auf. »Ich danke dir«, sagte er. »Warum diese Freude?« Der Mann sah ihn mit unverhohlenem Ernst an und erklärte laut: »Wir warten auf euch, seit wir wissen. Und nun seid ihr gekommen und werdet uns gegen die Barbaren helfen, werdet uns den Bau von Raumschiffen lehren und mit uns zu den Sternen fliegen. Alles ist bereit... dort oben, euer Palast. Er wird seit zehntausend Jahren für euch geschmückt, jeden Tag.« Während Mario verblüfft schwieg und die Menge ihn achtungsvoll bestaunte, setzte der Volksvertreter allen anderen Mitgliedern der Crew ebenfalls Lorbeerkränze auf. Der Jubel nahm kein Ende mehr. »Was soll das? Sie haben uns tatsächlich erwartet, bezeichnen uns als Götter von den Sternen und set-
zen uns Lorbeerkränze auf. Wo hinein sind wir hier geraten?« fragte Atan entgeistert. Cliff fühlte sich ebenfalls in diesem Schmuck nicht wohl, aber er erwiderte leise: »Wir werden es in kurzer Zeit geklärt haben, Atan. Jetzt noch nicht. Verhalten wir uns passiv und abwartend.« »Verstanden.« In der Menschenmenge öffnete sich jetzt eine breite Gasse. Sie führte schnurgerade vom Mittelpunkt des Platzes zwischen den Bäumen hindurch und auf ein langes, dreistöckiges Gebäude zu, das am Rand des Platzes lag. Der würdevolle Mann deutete auf die lange, schräge Rampe aus weißen Steinen und sagte ehrfürchtig: »Dort ist der Sitz der Götter. Dort ist alles vorbereitet – seit vielen Jahren warten wir auf diesen Augenblick. Folgt uns bitte!« Sie gingen durch die lebende Mauer. Gesichter starrten sie an, voller Erwartung und Freude. Es war alles echt; den sechs Terranern schlug erwartungsvolle Spannung entgegen. Sie waren jetzt, zehn Minuten nach der Landung des Schiffes, zu Herrschern über diese Stadt und wahrscheinlich auch über das Umland gemacht worden. Durch einen Zufall waren sie Teil einer Legende geworden, die ihnen eine unfaßbar große Macht in die Hände gegeben hatte. Aber gleichzeitig merkte Mario de Monti noch etwas anderes. »Cliff?« fragte er. Cliff winkte mit einem Lächeln ab. »Du bist der Chef«, sagte er. »Fürst Mario!« Mario knurrte, nur für Cliff hörbar, zurück:
»Wähle niemals einen Fürst, wenn du nicht regiert werden willst.« Cliff wußte zwar nicht, was Mario damit meinte, aber er tröstete sich damit, daß er es in Kürze erfahren würde. Die Menschen hier schienen sich nicht nur über die Ankunft der Götter gefreut zu haben, sondern in der langen Wartezeit hatten sie sicher versucht, sich zu unterhalten. Cliff sah wenige Kinder, und an Marios Gesicht merkte er, daß es dem Freund nicht anders erging – ein Zeichen für eine Kultur bereits jenseits der vollen Blüte. Einige der Menschen wirkten, soweit dies von dem Gang entlang des Menschenspaliers zu merken war, betrunken oder leicht angetrunken. Andere wieder machten den Eindruck von leicht Süchtigen. Schweigend und nach allen Seiten verlegen lächelnd gingen die sechs Terraner, an ihrer Spitze der Volksvertreter, bis zum Fuß der langen Rampe. Dann blieben sie stehen. Der Mann sagte: »Wir bestimmen jedes Jahr diejenigen, die die Ehre haben werden, den Göttern zu dienen. Sie werden euch den Hauch eines leisesten Wunsches von den Augen und den Lippen ablesen.« Mario wollte protestieren, aber Hasso zischte ihn an: »Von ihnen können wir alles erfahren, du Witzbold! Kein Widerstand.« Er lächelte den Anführer gewinnend an. »Wir erwarten diese... Diener«, sagte Mario deutlich, aber mit sichtlichem Unbehagen. Er hatte die Rolle des herablassenden göttlichen Fürsten offenbar nicht in seinem Repertoire; jedenfalls konnte er mit dieser Rolle bei den Technikerinnen der Basis 104
nichts anfangen. Der Mann klatschte dreimal in die Hände. Aus der Masse der Umstehenden lösten sich vier ausgesucht schöne, junge Mädchen, deren Alter um die Zwanzig herum lag. Sie hätten, bis auf winzige Unterschiede, eineiige Vierlinge sein können. Die beiden jungen Männer, die sich jetzt neben Helga und Ishmee stellten und sich demütig verbeugten, waren wie Zwillinge. Sie spielten keine Komödie – Ehrfurcht und Begeisterung waren vollkommen ernst. »Sie werden euch alles zeigen«, sagte der Mann. »Ihr werdet müde sein von der langen Reise von den Sternen. Geht bitte in euren Palast!« Er warf sich wieder zu Boden, und die vier Männer wurden von den Dienerinnen an den Händen die Rampe hinaufgezogen. Der Jubel der Volksmassen wurde erst leiser, als sich die schweren, reichverzierten Portale schlossen. Mario wandte sich an das Mädchen, das seine Hand nicht loslassen wollte. »Berichte uns etwas über diesen Palast, Mädchen«, bat er. »Wie heißt du eigentlich?« Sie erwiderte stolz: »Ich bin die Dienerin Vahid.« »Wo sind wir, Vahid?« fragte Mario. Das Mädchen machte eine umfassende Bewegung und deutete dann zur Decke. Die Crew stand in einer viereckigen Halle, die mit schlanken, kannelierten Säulen abgestützt war. Alles schien mindestens weißer, goldgeäderter Marmor zu sein. Zwei Meter über dem Boden umlief die vier Wände ein hundertachtzig Zentimeter hoher Fries, der den Bau der Stadt Kämpfe mit bootfahrenden und reitenden Wilden und of-
fensichtlich Kapitel aus der Kultur dieses Planeten schilderte Deutlich sah Mario zwei schlanke, auffallend gekleidete Männer, deren Kleidung die Eigenheiten von Raumfahreruniformen hatte. Vahid sagte laut und mit getragener Stimme: »Wir sind in eurem Heim, dem Palast der Götter. Wir haben hier für jeden von euch zehn Räume eingerichtet. Hier befindet sich alles, war ihr braucht, und jeder Wunsch von euch wird erfüllt. Ihr seid die Herrscher über diese Welt. Und wir sind eure Diener.« »Schön, schön«, sagte der Kybernetiker. »Was erwartet ihr von uns?« Vahid meinte unbekümmert: »Nichts weiter, als daß ihr uns regiert, uns sagt, was wir zu tun haben. Seit dem Tag, an dem euer Kommen angekündigt worden ist, haben wir uns ein wenig gelangweilt und allerlei Spiele ersonnen, die uns die Langeweile vertrieben haben. Jetzt aber werden wir wissen, was wir zu tun haben.« Vorausgesetzt, dachte Hasso grimmig, wir, die Götter, wissen selbst, was wir zu tun haben. »Darüber später mehr«, sagte Mario und rang sich zu einem Entschluß durch. »Ich bitte, uns die Räume zu zeigen, in denen wir leben sollen.« Vahid zog an seiner Hand. »Mit mir, Herr... dorthin.« Sie ging mit Mario zu einer gläsernen Fläche in der Wand. Geräuschlos verschwand die Tür zur Seite, eine luxuriöse Liftkabine wurde sichtbar, die sich sofort in Bewegung setzte und mit Vahid und Mario zwei Stockwerke weiter oben wieder hielt. Die anderen fünf Terraner wurden in fünf verschiedene Richtun-
gen geführt. Mario sah sich nach wenigen Schritten auf einem unglaublich kostbaren Teppich einem Raum gegenüber in dem er Ziellandungen mit der LANCET hätte durchführen können. Edle Metalle, wertvoll scheinendes Holz, vorbildlich konstruierte Möbelstücke und ein halbdurchsichtiger Vorhang vor einer Säulenreihe waren die ersten Eindrücke. Hier hatte wirklich ein leerer Palast auf die Götter oder Fürsten gewartet. Das Mädchen fragte unsicher: »Bist du, Fürst Mario, mit unserer Einrichtung zufrieden?« Mario nickte und murmelte: »Ja. Um diese Eindrücke richtig verarbeiten zu können, brauche ich ein riesiges Glas voller hochprozentigen Alkohols. Ich kann nicht anders – aber ich bin fassungslos.« »Eine Sekunde.« Das Mädchen ging schnell bis zu einem langen, schwarzen Möbelstück und drückte einige Knöpfe, die aus purem Gold zu sein schienen. Platten öffneten sich, Fächer glitten geräuschlos nach oben, und ein riesiges Sortiment von verschiedenfarbigen Getränken in kostbar aussehenden Flaschen und gewaltige Gläser, aus denen man Saurier tränken konnte, wurden sichtbar. »Wieviel, Fürst?« Mario erkannte im Gesichtsausdruck des Mädchens, daß sie wirklich bestrebt war, alles so richtig, schnell und angenehm wie möglich zu machen. Mario hob vier Finger hoch und sagte: »Das größte Glas, so hoch eingießen, wie diese Finger breit sind.«
Sekunden später erfüllte ein betäubender Geruch den riesigen Raum. Mario ging langsam zu der Säulenreihe, bewegte den schweren Stoff zur Seite und sah direkt hinunter auf den Platz mit den mehrfach gestaffelten Baumreihen. Dort verlief sich langsam die Menschenmasse, aber kleinere und größere Gruppen blieben zusammen und besprachen aufgeregt das epochale Ereignis. Vahid stand neben Mario und hielt ihm das Glas entgegen, als sei es der Staatsschatz. »Bitte!« sagte sie leise. Mario nahm das Glas, roch daran und wurde fast betäubt. Er probierte einen kleinen Schluck und merkte, daß dieses Getränk die Krönung aller Destillierversuche darstellte. Es roch wie teurer Cognac, schmeckte wie eine Art Supersekt und berauschte wie reiner Äther. Mario nahm einen zweiten, größeren Schluck und spürte, wie sich seine Sinne aufschlossen. Er war plötzlich geneigt, den eben erlebten Vorgang als Teil eines planetaren, nicht endenden Vergnügens zu betrachten. »Schmeckt erlesen!« stellte er fest. Vahid fragte flüsternd: »Hast du sonst noch einen Wunsch, Mario?« Mario grinste verlegen, nahm seinen Lorbeerkranz ab und suchte nach einem Platz, an dem er ihn deponieren konnte. Schließlich fand er eine Statue, die ein sehr reizvolles Mädchen darstellte, die in anmutiger Haltung einen Stern in der Hand trug. Mario legte der Statue den Kranz um den Hals. »Keinen Wunsch sonst, Mario?« fragte Vahid ein zweitesmal. »Natürlich«, sagte Mario leise. »Ich möchte erstens
dieses Glas austrinken, mich zweitens in die Sonne setzen und drittens über alles nachdenken. Während dieser angenehmen Tätigkeiten darfst du auf meinen Knien sitzen und den Ausdruck der Verliebtheit in meinen Augen studieren.« Sie nickte begeistert und flüsterte: »Das ist genau das, was wir von unseren Göttern erwartet haben.« Einige Minuten später saß Mario in einem phantastischen Kleidungsstück unter einem Sonnensegel. Er saß ausgestreckt in einem geschwungenen Sessel, hatte neben sich ein niedriges Tischchen mit Alkohol, Eis und kleinen Leckereien. Vahid saß auf seinen Knien und starrte ihn an, als sei sie hypnotisiert. Mario hob das Glas und trank weiter; er mußte versuchen, seine Lage klar zu durchdenken. Aber mit diesem langen, entscheidenden Zug begann das Verhängnis für die ORION-Crew. Denn die fünf anderen Terraner befanden sich in einer ähnlichen Situation wie Mario. Die Götter ruhten sich aus.
6 Am ersten Tag hatten die Menschen dieses Planeten nicht viel von den Herrschern, deren Ankunft sie seit langem ersehnt hatten. Cliff und Mario waren, noch ehe sie einige klare Gedanken hatten fassen können, betrunken. Und zwar von einer Menge Alkohol, die in der Basis 104, im Starlight-Casino, dem Barkeeper nur ein verbittertes Grinsen abgerungen hätte. Noch nie waren Mario und Cliff von einer derart kleinen Menge Alkohol in einen derart tiefen Rausch versetzt worden. Dabei wußten sie nicht, daß sie berauscht waren. Vahid lag in Marios Arm, und der Kybernetiker ließ sich von der leisen, angenehmen Stimme des Mädchens die Geschichte dieses Volkes erzählen. Er erkannte, daß sie hier in einer Welt gelandet waren, die alles im Überfluß besaß – nur eines nicht: Sorgen. Die Stadt beherbergte zwei Millionen Menschen aller Altersstufen. Es war die einzige Siedlung dieses Kontinents und somit des Planeten. Hier arbeiteten riesige Robotmaschinen die alles besorgten – von der Straßenreinigung bis zur Produktion von Lebensmitteln. Eine weitere Million Menschen lebte an den Rändern des Kontinents. Vahid flüsterte: »Es sind Barbaren, Mario. Fürchterliche Menschen, ungewaschen, nüchtern und pragmatisch, Jäger, Fischer und Reiter. Hin und wieder greifen sie die Stadt an und werden dann von den automatischen Barrie-
ren zurückgetrieben. Einmal waren sie so wie wir... geistreich, lustig, unbeschwert und verspielt. Denn der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt.« »Wie wahr!« murmelte Mario und spielte wieder mit der weichen Strähne ihres Haars. »Erzähle weiter!« Vahid berichtete vom Leben in der Stadt, von den raffinierten Vergnügungen und von den Spielen. Erstaunlich, fand Mario, wie der Mangel an Moral – und zwar eines breiten Spektrums dessen, was man auf der Erde als Moral identifizierte – dieses Volk geprägt hatte. Es waren reizende, nette, oberflächliche und spielerische Menschen. Wie Kinder. Sie schlugen niemanden tot, beraubten keinen und kannten auch sonst einen langen Katalog derjenigen Dinge nicht, zu deren Bekämpfung die Kommunen der Erde und der GSD einen großen Polizistenstab brauchten. Hier war die Moral darauf eingerichtet, jeden zu erfreuen und niemand zu schaden, zu verletzen... der Stein der Weisen schien ausgegraben worden zu sein. Eine sympathische Rasse. Der Alkohol hielt Mario in einem Zustand, in dem er alles das, was er hörte, gutheißen mußte. Gleichzeitig sehnte er sich danach, in einem Zustand zu bleiben, der demjenigen glich, in dem er sich jetzt befand. »Ich fühle mich wohl!« stellte er fest und küßte das Mädchen Vahid. Sie beteiligte sich mit großer Bereitwilligkeit und ebensolcher Kunstfertigkeit an diesem Spiel. Mario war verblüfft und entzückt. Endlich ein Planet, auf dem sich die Landung gelohnt hatte. »Ich bin neugierig, wie es Cliff jetzt geht«, sagte er und streichelte über die makellose Haut des Mädchens.
»Talate wird ihn ebenso bedienen wie ich!« versicherte Vahid lachend. Sie hatte vollkommen recht. Schlimmer oder besser, je nach Betrachtungsweise, erging es dem Mädchen Ishmee 8431. Sie wurde von einem Gedankenstrom betäubt. Dieser Strom bestand aus winzigen Impulsen von zwei Millionen Individuen, die an nichts anderes dachten als an die neue Zeit, die jetzt hereinbrechen würde. Ein ungeheuer großes Spiel voller Lust, Scherz und Heiterkeit würde unter den sechs neuen Göttern ausbrechen. Wie eine Flut stiegen diese Gedanken und lähmten Ishmees Überzeugung. Um dem wütenden Ansturm zu entgehen, richtete sie sich auf und sagte: »Shamsey?« Der ungewöhnlich gutaussehende junge Mann lächelte sie unterwürfig an und fragte leise: »Herrin?« Ishmee umklammerte seinen Kopf und sagte stöhnend: »Mir... mir ist nicht besonders gut. Zu viele Gedanken um mich herum. Hast du etwas zu trinken hier?« Sie lag in der Nähe des breiten Fenstervorhanges und fühlte, wie die Nervenanspannung zunahm. Sie litt. Sie hatte niemals jene halbe telepathische Begabung als einen Vorteil betrachtet; manchmal half es, den Charakter der Gedanken anderer erkennen zu können, ehe die Gedanken in Sprache umformuliert wurden. Aber meistens waren sowohl die Gedanken als auch die Sätze, sowie die daraus resultierenden Handlungen nicht die wahre Freude. Hier aber war die Situation radikal anders. Die gesamte Stadt be-
fand sich im Stadium eines Erwachsenen-Kindergartens. Zwei Millionen Menschen waren in einem latenten und akuten Zustand, der an einen wirbelnden, farbenfunkelnden Jahrmarkt der Gedanken erinnerte. Sie alle waren völlig haltlos und lebten nur für die Vergnügungen. Da waren Spiele, wie beispielsweise die Jagden auf die Barbaren am Rand des Kontinents. Es war eine grausame Hetzjagd, wie auf ein schnelles, raffiniertes Wild. Die Waffen und das Vorgehen waren ebenfalls von einer kindlich grausamen Raffinesse. Da waren die verschiedenen Genußgifte. Sie wurden getrunken oder geraucht, in Form von Bädern oder von Gas eingenommen. Sie erzeugten eine Euphorie, die Sehnsucht und Gier nach weiterer Euphorie erzeugte... sonst nichts. Da waren die wenigen Schranken zwischen den zwei Millionen Vergnügungssüchtigen. Jeder liebte jeden. Ein Planet der ununterbrochenen Verliebtheit, der tändelnden Spiele, die nutzloser nicht mehr sein konnten und mit einer heiteren Hingabe gespielt wurden, die bereits in Gedanken das Mädchen verwirrten. »Hier«, sagte der junge Mann mit den bezaubernden Augen. In einer eleganten, tänzerischen Bewegung reichte er Ishmee ein langstieliges Glas, das mit kostbaren Blumenmustern eingelegt war. »Was ist das?« fragte sie. »Lethe!« sagte er und lächelte. »Kein Nektar?« »Nein«, sagte Shamsey. »Oder willst du lieber Ambrosia?« »Danke. Lethe genügt mir.«
Ishmee nahm vorsichtig einen winzigen Schluck, war sofort begeistert und sog den betäubenden Geruch des Getränkes ein. Es schmeckte wie alle guten alkoholischen Getränke Terras zusammen, nur besser und... gänzlich anders. Ein zweiter, längerer Schluck. Auch Ishmee war gefangen. Sie wußte genau, daß der erste Schluck weitere Wünsche eröffnen würde. Der Zustand des leichten Schwebens, in dem sie sich befand, hielt an und würde nicht abreißen, wenn sie nur hin und wieder etwas aß, um nicht von Kräften zu kommen und etwas trank, um nicht in die nüchterne, harte Wirklichkeit abzugleiten. Denn das war gefährlich. Man konnte zu denken beginnen, und Spiele, bei denen man denken mußte, waren keine echten Spiele mehr. Und keine guten Spiele. »Du hast schöne Augen«, sagte sie zu dem jungen Mann. Er lächelte überaus gewinnend. »Ich weiß«, sagte er. »Herrin, um dich zu bedienen, muß alles, auch die kleinste Einzelheit an mir vollkommen sein.« »Wie schön«, sagte Ishmee und lächelte. Jetzt war sie eins mit den Gedanken der gewaltigen verspielten Menschenmasse. Sie fühlte sich wohl und beschloß, sich niemals wieder der Gefahr der Wirklichkeit auszusetzen. »Das wünschen wir!« sagte der junge Mann ernst und nachdrücklich. »Wie kann ich dir sonst dienen?« Ishmee sah ihn aus goldfarbenen Augen an. »Komm her«, sagte sie und deutete auf einen Platz unter ihrer Liege. »Ich möchte dein Haar streicheln. Und du berichtest mir in der Zeit, was ihr von uns
Göttern erwartet. Ein Fest?« Er nickte und kauerte sich zu ihren Füßen nieder. »Ja, ein Fest. Ein langes, ausdauerndes Fest, in dem die ganze Stadt sich wohlfühlen soll. Ein Fest, dessen Leitung die Götter haben.« Ishmee nickte. »Wie ich es dachte – ein göttliches Fest.« Die Hälfte der Crew war bereits in den Fängen dieses Planeten gefangen. Wie in den Krallen eines Raubvogels, der sie in ein unbekanntes Territorium entführte. Der Alkohol machte sie willenlos mit einer Ausnahme: Sie hatten den festen, deutlichen Willen, sich gehen zu lassen. Sie wollten nichts anderes mehr. Nur Cliff McLane kam der Wahrheit näher. Gefährlich näher. Fast zu nahe. »Talate«, sagte er zu seiner Dienerin, die ihm in den weichen Abendmantel half. »Herr?« fragte das Mädchen mit dem lodernden Haar und den violetten Augen. »Ich bemerke eben – und der Alkohol verstärkt diese Meinung –, daß du ein ausnehmend liebenswürdiges und liebenswertes Geschöpf bist.« Sie sagte in halbem Ernst: »Daran ist nichts Ungewöhnliches, Allistair. Ich bin das zweitschönste und zweitklügste Mädchen dieses Kontinents. Der einzige Zweck, den ich erfüllen kann, ist der, dir zu dienen.« Cliff lächelte versonnen und dachte an das gewaltige Fest, das morgen mittag beginnen sollte. Er sagte: »Wie ist das mit den Barbaren, gegen die ihr kämpft, mit denen zusammen ihr die Jagden veranstaltet?« Talate fragte zögernd:
»Bist du sicher, daß du das hören möchtest?« »Ganz sicher.« Cliff setzte sich an den Tisch der robotgesteuert durch eine der verborgenen Klappen ins Zimmer gerollt war. In eines der vielen Zimmer. Dieses hier war der herrscherliche Schlafraum. Das dominierende Möbel war eine Kugelkalotte von neun Metern Durchmesser, die, mit der Öffnung nach oben, im Zentrum des Zimmers stand. Sie war innen gefüttert und stellte ein riesiges Bett dar. Einige Raumschiffbesatzungen konnten darin schlafen, ohne daß einer des anderen Schnarchen hörte. Cliff und das Mädchen saßen sich an dem Tisch gegenüber. Über einer purpurnen Decke mit Platinstickerei standen die Teller, Schalen, Schüsseln und Behälter eines raffinierten Essens aus mindestens zwölf Gängen, Vorspeisen und Desserts nicht eingerechnet. In seiner ganzen Karriere hatte der Kommandant nur ein einzigesmal einen solchen Tisch gesehen und erlebt. Das war vor zweieinhalb Jahren gewesen, als es der am wenigsten begabte Raumkadett aus seiner Gruppe endlich geschafft hatte, die Tochter eines märchenhaft reichen ExportImport-Kaufmanns zu heiraten; Cliff war der Trauzeuge gewesen. Mit einem häßlichen Grinsen erinnerte er sich der frustrierenden Wirkung, die dieser Vorgang auf ihn ausgeübt hatte. Vermutlich kam sein Anti-Ehekomplex daher. »Wir sind vor vielen Jahren... niemand weiß mehr, wann das war, denn das gehört zur unangenehmen Vergangenheit... ein Volk gewesen, das gearbeitet haben soll. Vielleicht stimmt das auch«, sagte Talate nachdenklich, »denn wer sollte sonst diese Stadt und die vielen Maschinen gebaut haben.«
Cliff schenkte sich ein Glas halbvoll und hob es an. Das Licht brach sich im Alkohol wie in einem geschliffenen dunklen Bernstein. Wie in Ishmees Augen. Wo war Ishmee... wo spielte sie? Mit wem? Gleichgültig. Er hatte kein Recht, ihr vorzuschreiben, mit wem sie welche Spiele spielen sollte oder durfte. »Ja, weiter...«, sagte er lächelnd. Talate war wirklich bezaubernd. »Vielleicht haben wir gearbeitet, vielleicht nicht. Jedenfalls haben uns die Barbaren immer wieder aus den Spielen gerissen und gezwungen, zu arbeiten, nachzudenken. Wir wurden ärgerlich, wenn sie es taten. Wir wehrten uns, aber sie nahmen immer wieder jemanden mit und schleppten ihn davon, in ihre Barbarei. Und schließlich bauten wir die Sperren.« »Sperren?« »Ja. Hin und wieder brechen sie zusammen, und dann dringen die Barbaren in die Stadt ein. Sie töten niemanden, aber sie belästigen uns sehr. Sie wollen, daß wir denken und arbeiten.« »Das ist nicht richtig von ihnen«, stellte Cliff fest. Talate strahlte ihn an. »Nein, nicht wahr? Und deshalb veranstalten wir hin und wieder Jagden auf sie. Sie werden gehetzt, bis sie versprechen, uns nicht wieder zu belästigen. Es ist ein nettes Spiel, aber auch nicht mehr neu.« Wie durch zauberhafte, dünne Nebelschwaden erkannte Cliff das Problem dieses einzigen Kontinentes. Vor vielen Jahrhunderten oder Jahrtausenden waren alle Menschen hier eine einzige Rasse gewesen. Sie baute an der Stadt, erfand die Maschinen, setzte sie wirkungsvoll ein und begann dann unmerklich, sich im Warten auf die versprochene Wiederkehr der
Dherrani zu langweilen. Zwei Gruppen spalteten sich, eben falls in einem sehr langwierigen Prozeß, voneinander ab. Nicht nur in der Lebensauffassung, sondern auch territorial. Es entstanden zwei Schichten – die Städter und die Barbaren. Cliff fragte schwach: »Talate... als wir landeten hat uns dieser Volksvertreter gesagt, er würde sich freuen, weil wir euch den Bau von Raumschiffen zeigen könnten. Wozu, abgesehen von der Sternenfahrt, braucht ihr Raumschiffe?« Talate lachte unbekümmert und erwiderte: »Ach – es ist nicht wichtig.« »Ich denke doch«, sagte Cliff. »In wenigen Jahrzehnten wird dieser Kontinent im Meer versunken sein. Aber bis dahin ist es noch lange Zeit.« Ihre Sorglosigkeit war keinesfalls gespielt, das merkte Cliff trotz seines Zustandes. Er wunderte sich über sich selbst. Er merkte daß er in einem schönen, leichten Rausch gefangen war, konnte sich aber kein Leben außerhalb dieses Rausches vorstellen. Alles war wunderbar leicht und unkompliziert, und auch die Tatsache daß dieser Kontinent im Meer versinken würde, beunruhigte ihn nicht sonderlich. Es war noch eine Menge Zeit bis dahin, und inzwischen konnte sich vieles ändern. »Ja, lange Zeit. Warum versinkt der Kontinent?« fragte er trotzdem. »Weil irgend etwas unter ihm nachgibt. Jedes Jahr versinken einige Zentimeter mehr ins Wasser«, sagte das Mädchen und sah Cliff schmachtend an. »Das bedeutet, daß der Kontinent immer kleiner wird. Ei-
nes Tages wird es nur noch die Stadt geben, und alle Barbaren sind ertrunken.« Sie lachte glücklich. Cliff überlegte: Es gab also zwei Schichten, die berechtigtes Interesse haben sollten, diesen Planeten zu verlassen. Die Barbaren hatten den Umstand sicher klar erkannt, aber es half ihnen wenig, weil die Stadt sämtliche wissenschaftlichen Unterlagen und Produktionsmittel kontrollierte. Und den Stadtbewohnern war es gleichgültig, was geschah. Sie wollten nur ihre Ruhe haben und ungehindert spielen können. »Morgen gibt es ein langes, lustiges Fest!« sagte Cliff. »Und nachher werden wir uns um die Schiffe kümmern und um die anderen Dinge.« Das Mädchen lächelte ihn immer noch an und sagte: »Das alles hat Zeit. Möchtest du nichts mehr trinken?« Cliff hielt ihr das Glas entgegen. »Ja. Schütte das Glas halbvoll, Talate.« Aus einem nichterfindlichen Grund begann er schon jetzt, sich auf das Fest zu freuen. Besonders aber freute ihn die Aussicht auf die Jagd, die die Stadtbewohner auf die Barbaren unternehmen würden. Die lange Nacht brach herein. * Die sechs Terraner trafen nach einem langen Frühstück am späten Vormittag auf der Plattform zusammen. Die Plattform befand sich am oberen Ende der
Rampe, die vom Palast hinunter zur Stadt führte. Alle Mitglieder der ORION-Crew waren in leichte, silbern funkelnde Gewänder gekleidet und mit Schmuckstücken behängt. Sie befanden sich zwar noch immer oder schon wieder in jenem leichten Zustand der Berauschtheit aber sie wußten genau, was sie taten, wo sie waren und was sie erwartete. Mario de Monti, das Mädchen Vahid im Arm, sagte mit einer fürstlichen Handbewegung: »Zwei Millionen Menschen feiern unseretwegen ein Fest, meine Freunde! Gehen wir hinunter in die Stadt, feiern wir mit.« Inzwischen war es ihm gelungen, den Charakter des jungen Mädchens zu durchleuchten; eine Fähigkeit, die er vorher nicht besessen zu haben glaubte. Vahid war harmlos, freundlich entgegenkommend und von dem geistigen Tiefgang einer Wasserpfütze. Er behauptete jetzt dasselbe von allen anderen Stadtbewohnern, aber er wußte nicht, wie er zu dieser Sicherheit der Klassifizierung kam. Vahid widersprach. »Nein«, sagte sie laut und lachte unbekümmert. »Es werden sechs Wagen kommen und uns abholen. Wir haben heute nachmittag eine Jagd arrangiert, um euch die Barbaren zu zeigen.« »Auch gut«, sagte Hasso. Er sah sich um. Die sechs Terraner bildeten unverkennbar eine Einheit inmitten der Planetarier, aber trotzdem waren sie nicht mehr das gewohnte Team. Schon allein dadurch, daß neben jedem der Männer ein ungewöhnlich hübsches Mädchen stand und neben Helga und Ishmee ein nicht weniger gutaussehender junger Mann, wurden sie voneinander isoliert. Schlagartig
war das Zusammengehörigkeitsgefühl verschwunden und hatte einer Unverbindlichkeit Platz gemacht, die zwar nicht bösartig, aber deutlich ausgeprägt war. Die Stadt und der Alkohol, die Spiele und dieser dauernde Ferienzustand hielten die sechs Menschen in ihrem Griff. Hasso lachte, schwenkte sein halbleeres Glas und sagte: »Ich freue mich schon auf die Jagd. Wo sind die Wagen?« Arba, seine Begleiterin, sagte halblaut: »Die Wagen werden zuerst geschmückt, dann fahren sie die breiteste Straße entlang und holen uns ab. Bis zu den Energieschranken werden wir durch die Stadt fahren und uns mit den anderen freuen.« Atan erkundigte sich ohne spürbares Interesse: »Wie geht dieses Jagen vor sich?« Seine Begleiterin erklärte: »Das soll eine der Überraschungen sein, die wir für unsere Herrscher vorbereitet haben.« Hasso Sigbjörnson zuckte mit den Schultern. Der Tag versprach schön zu werden. Über den weißen Bauten der Stadt spannte sich ein stahlblauer Himmel, über den weiße Wolken segelten. Aus der Stadt und ihren Straßen und Plätzen kam ein freudig erregtes Murmeln, als ob ein riesiger Bienenschwarm sich zwischen den Bauten bewegte. Mario de Monti hatte sekundenlang das deutliche Gefühl einer herannahenden Gefahr, aber diese Überlegungen wurden wieder verweht. Er dachte kurz nach... war es richtig, was sie hier taten? Oder vielmehr: War es ihrem Wesen entsprechend, sich nur passiv zu verhalten und nicht die Rolle auszufüllen, die man ihnen zugedacht hatte? Allerdings nicht in der Art dieses
Völkchens hier, sondern mit der Entschlossenheit der ORION-Crew? Er dachte nicht länger darüber nach, denn er sah den ersten Geländewagen vom Platz auf die Rampe zufahren. »Dort unten, Helga!« sagte er. »Der erste Wagen kommt.« Mit langen Girlanden aus riesigen, vielfarbigen Blumen dekoriert, bog der erste von sechs großen, hochbordigen Wagen auf die Rampe. Er kletterte summend mit seinen großen Rädern die Schrägfläche hoch, fuhr eine enge Kurve auf der Plattform und blieb stehen. Der Jubel aus der Stadt nahm zu, und aus allen Richtungen strömten die Menschen auf den Platz Musik war zu hören; wilde, bacchantische Klänge, die aus allen Richtungen kamen. »Ein hervorragender Jagdwagen!« stellte Atan Shubashi sachkundig fest. »Ein Wagen für Herrscher!« sagte Vahid und öffnete eine der Türen. Es war eine offene Schale mit vier Paaren von Doppelreifen und zwei riesigen Vorderrädern, die lenkbar waren. Felgen Speichen und Radnaben waren vergoldet, sämtliche anderen Blechteile schienen versilbert oder verchromt zu sein. In jedem Fahrzeug befanden sich zwei Sitze und ein hochlehniger Pilotensessel. Ein zweites junges Mädchen saß im ersten Wagen und winkte. Vahid deutete auf Mario und sagte: »Du bist der Fürst – steige ein, Mario-Liebling!« Mario schwang sich ins Innere, setzte sich und sah zu, wie sich Vahid neben ihm in die Polster fallen ließ. Der Wagen ruckte an, beschleunigte und fuhr schnell die Rampe wieder hinunter.
Nacheinander stiegen die anderen der Crew ein, und der triumphale Zug durch die Stadt begann. Die Musik hallte, Blumen flogen, die Menschen tanzten und tranken, küßten sich, nahmen Rauschgifte ein, und ein gigantischer Tumult brach los. Langsam bahnten sich die sechs Wagen eine Gasse durch das Gewimmel. Sie verließen den zentralen Platz, fuhren durch eine lange und breite Straße, wandten sich nach links und nach rechts, und eine Stunde später hatten sie die Stadtgrenze erreicht. Vor einer Wand aus einer Materie, die wie grünliches Glas wirkte, hielten die sechs funkelnden Wagen an. Sie bildeten eine Reihe, und die Fahrerin des ersten Wagens drehte ihren Sessel um und wandte sich an Mario de Monti. »Für euch wird das Fest jetzt außerhalb der Stadt fortgesetzt. Wir werden sehen, daß die Barbaren fliehen, wenn sie diese Wagen bemerken. Wir jagen sie dann... das wird ein Spaß werden.« Mario legte seinen Arm um Vahids Schultern und fragte laut: »Worauf warten wir noch?« Das Mädchen am Steuer nickte und drückte einen Schalter. Die Barriere öffnete sich, die grünlichen Strahlenbalken verschwanden. In breiter Linie durchfuhren die sechs Wagen die beiden Säulen und rasten fächerförmig auseinander. Hinter ihnen stabilisierte sich die Strahlensperre wieder. »Schneller!« schrie Vahid. Eine rasende wilde Fahrt über flaches Land fing an. Es war fast wie ein Ritt auf einem dahinrasenden Elefanten. Hinter ihnen blieben die Bauwerke der Stadt zurück, die riesigen automatischen Anlagen, in denen
Früchte angebaut wurden und verschiedene Gemüsesorten; die Felder mit den Schlachttieren und die meist unterirdisch gebauten Fabriken und Energiewerke verschwanden am Horizont. Die Wagen rasten entlang eines flachen Uferstreifens dahin, umfuhren Bäume und Buschgruppen und näherten sich unmerklich dem fernen Rand des Kontinents – viereinhalbtausend Kilometer entfernt. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, sahen die sechs Terraner die erste Gruppe der Barbaren. * Sie näherten sich auf absolut geradem Weg einem Hügel. Als dunkle Silhouette zeichnete sich auf der Spitze des Hügels ein Reiter ab, der einen mächtigen Bogen trug Der Wagen, in dem Mario de Monti saß, nahm den Hügel, als sei es eine winzige Erhebung und raste schleudernd und mit durchdrehenden Reifen auf den Reiter zu. Die Girlanden waren längst abgerissen worden und hingen entlang des Weges an den dornigen Ranken exotischer Pflanzen, die riesigen Blumen, die von den Städtern in den Wagen geworfen worden waren, verwelkten, und Mario warf hin und wieder eine ins Gras. »Ein Barbar!« schrie die Fahrerin auf. Das Mädchen drückte auf einen Knopf, und der Wagen gab ein urweltliches Gebrüll von sich. Nacheinander antworteten fünf andere Signale. »Ihm nach!« rief Vahid fröhlich. Der Reiter sah die Wagen kommen. Sie waren sichelförmig auseinandergezogen und fuhren auf den
Hügelkamm hinauf, nahmen eine Steigung von dreißig Prozent, als wäre es ein Ebene. Vahid nahm einen Gegenstand, der wie ein bizarres Gewehr aussah, aus einer Halterung und setzte sich ein Zielfernrohr auf. »Ihr schießt auf die Barbaren?« erkundigte sich Mario verblüfft. Die Wirkung des Alkohols, zugleich auch das Fehlen der Stimmung in der Stadt und die Umgebung, unmanipulierte Natur, bewirkten in Marios Überlegungen einen unmerklichen Wandel. Er sah alles eine Spur klarer, aber er konnte sich noch nicht von der Wirkung der vergangenen Stunden lösen. »Ja. Aber wir töten sie nicht. Wir jagen sie nur. Jagen ist bei uns Selbstzweck«, erwiderte das Mädchen. Der Reiter stob jetzt in einem rücksichtslosen Galopp den Hügel hinunter, und Marios Wagen setzte sich an die Spitze der Verfolger. Mannshohes Gras, kleine Büsche und trockene Äste, Steinbrocken und Sandflächen... alles wurde überwunden, niedergewalzt, überklettert. Der schwere, hochbordige Wagen, dessen Teile in der Sonne tausend Reflexe hervorriefen, schleuderte dem Reiter nach. »Wehren sie sich nicht?« fragte Mario. »Nein«, sagte Vahid. »Dazu haben sie keine Zeit.« Die Jagd ging ungehindert weiter. Mit den Signalen der lautstarken Hörner verständigten sich die Jäger untereinander. Ein Keil aus sechs Fahrzeugen bog ins kleine Tal ein, verfolgte den einzelnen Reiter, der ein halsbrecherisches Tempo einschlug, als wären Furien hinter ihm her. In gewisser Weise, fand Hasso Sigbjörnson, der angegurtet in seinem Sessel kauerte und die Jagd spannend und unterhaltend fand, stimmte dies auch – es waren Fu-
rien ganz besonderer Art. Eine halbe Stunde lang... Schließlich entdeckten sie das Lager der Barbaren. Der Reiter stob zwischen die spitzen Zelte hinein, schrie etwas, und Panik brach los. Wieder erklangen die jaulenden Signale der Hörner. Die Wagen setzten sich voneinander ab und bildeten zwei Gruppen zu je drei Stück. Sie umkreisten das Lager in beiden Richtungen, und die Begleiter oder Begleiterinnen der Götter standen auf und hoben die Gewehre an die Schultern. Vahid hatte den ersten Schuß. Sie feuerte, und mitten in einer Gruppe von Männern, die ihre Pferde sattelten, detonierte eine winzige Bombe. Schlagartig breitete sich ein rosarotes Gas aus und bildete in eineinhalb Metern Höhe über dem Erdboden Schwaden. Die Männer atmeten das Gas ein, hielten in ihrer fieberhaften, hastigen Arbeit inne und warfen sich dann auf den Boden. Mario hörte zu seiner Verwunderung, daß sie zu lachen anfingen. Lachgas? Diesmal schien es wirklich ein Gas zu sein, das nicht Bewußtlosigkeit, sondern einen starken, unwiderstehlichen Lachreiz auslöste. Interessiert beugte sich der Herrscher nach vorn und sah, daß die Wagen wild kurvend, mit eingeschalteten Hörnern und ununterbrochen in die Menge schießend das Lager umfuhren. Einmal bekam Mario auch einen Hauch des Gases in die Nase, und ein Gelächter brach aus seiner Kehle. »Ich... kann... nicht mehr!« keuchte er. »Das ist wirklich... hahaha... komisch.« Er merkte nicht einmal, daß die Situation keinesfalls etwas Komisches hatte, sondern zutiefst zynisch
war. Für die Stadtbewohner war diese Jagd ein Spaß, aber jeden normalen Menschen mußten diese Vorgänge abstoßen. Aber er konnte nicht aus der Fessel des Verstandes heraus. Wieder krachten Schüsse. Tiere flohen in panischem Schrecken. Kinder wälzten sich im Gras und stießen helles, meckerndes Gelächter und kurze, spitze Schreie aus. Die Männer, wie Nomaden gekleidet, groß, schlank und gepflegt, hielten sich die Seiten und lachten, bis ihnen der Schweiß auf den Gesichtern stand. Die Mädchen und Frauen kreischten, kicherten, wimmerten und lachten – die Zelte begannen zu beben. Es war eine Szene, die ihresgleichen suchte; ein Chaos des Gelächters. Staub wirbelte hoch, das Gas breitete sich aus und füllte den Raum zwischen den Zelten aus, die kleinen Blitze der Explosionen zuckten, die Hörner der Jagdwagen heulten auf, und pausenlos krachten die Schüsse. Sechs Wagen fuhren in beiden Richtungen um das Lager, krachten um ein Haar zusammen, wichen schnell aus und entfernten sich nach einer Stunde endlich vom Lager. Die sechs Terraner, ihre Begleiter und die Fahrer keuchten und konnten nicht mehr atmen... ihnen taten die Seiten weh. Achtzehn Personen hatten sich beinahe ›krank‹ gelacht. »Zurück in die Stadt!« sagte Mario atemlos. »Und dort geht das Fest weiter. Heute nacht werden wir einen Gang durch die Stadt unternehmen, der euch alles zeigen wird, alles... wie wir spielen, was wir tun und worüber wir uns freuen.« Während der Wagen an der Spitze der kleinen Kolonne wendete und die Richtung auf die Stadt zu ein-
schlug, lehnte sich Mario de Monti zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Eine Frage«, murmelte er, »ist etwas von diesem verdammten Alkohol an Bord dieses fulminanten Wagens?« Vahid lächelte und erwiderte: »Wo viel Sonne ist, ist auch viel Nektar und Lethe.« »Dann«, sagte Mario und warf eine verwelkende weiße Blüte im hohen Bogen aus dem Wagen, »fülle einen Becher damit und reiche ihn mir, damit ich mich vom Lachen erholen kann.« So oder ähnlich war es auch in den übrigen fünf Fahrzeugen. Die Wagen rasten zurück in die Stadt und ließen zweihundertfünfzig Kilometer hinter sich ein Lager der Barbaren, in dem die restlos erschöpften Menschen um Luft rangen. Das Lachen hatte sie besiegt, aber als sie die Schäden zwischen den Zelten sahen, war ihnen nicht mehr nach Lachen zumute. Langsam, im Schein der untergehenden Sonne, gerieten sie wieder in den Bann ihres bisherigen Lebens, das gar nicht so lustig war, und begannen aufzuräumen. Die Männer verfluchten die Stadtbewohner und schworen Rache. Jemand von ihnen schrie: »Eines weiß ich... wenn wir in die Stadt eindringen, dann wird es nichts zum Lachen geben.« Fluchend und schreiend stimmten die Barbaren mit ein. Sie hatten genügend Gründe dazu. Sie wußten von den Fischern und den Küstenbewohnern, daß jedes Jahr mehr und mehr Land von der Brandung verschlungen wurde. Tiefer und tiefer
sank der riesige Teller des Kontinents. Und in den Archiven der Stadt lagen die Baupläne für Schiffe, mit denen man diesen Planeten verlassen konnte. Drei Millionen Menschen waren mit wenigen Schiffen wegzuschaffen – aber die Energiebarrieren vereitelten jeden Versuch, in die Stadt einzudringen. Inzwischen... Die Wagen erreichten die Barriere, ein Schalter wurde gedrückt, und Mario de Monti sah aufmerksam zu, wie die Barriere verschwand. Ein riesiger Ring solcher Wacheinrichtungen umzog die weitausgedehnte Stadt und machte sie sicher gegen die Horden der Barbaren. Aber die tödliche Situation des gesamten Volkes, die einzig und allein von diesen Barrieren abhing, erkannte Mario noch immer nicht. Wieder hatte ihn der Alkohol in den Klauen. Betrunken, lachend und glücklich kamen die sechs Terraner in der Stadt an. Und die Stadt hatte sich verwandelt. Sie bestand jetzt aus Lichtern, aus rötlichen Schatten und aus Girlanden, die sich quer über die Straßen spannten. Eine ungeheure Menschenmenge war unterwegs, plauderte und spielte, umarmte sich. Mario, Cliff, Hasso und Atan wurden von dem Strudel verschlungen, und nur wenig später auch Helga und Ishmee. Sie verschwanden in den Menschengruppen, tanzten und wurden gefeiert, mußten von der Jagd erzählen und bekamen viel Alkohol – jenen, der nicht betranken machte, sondern die Gedanken und Überlegungen und vor allem die Reaktionen dem großen Fest anpaßte. Stundenlang trieben die Mitglieder der ORION-Crew wie Blätter in einem Strudel dahin.
Es wurde später und später. Die Feiernden ermüdeten, zogen sich zurück und träumten. Sie schwebten auf den eingebildeten Wolken, von Rauschgiften erzeugt. Sie lachten sich in den Schlaf und priesen die neuen Herrscher, die genau das wollten, was den Menschen Freude bereitete. Es war ein langes, erschöpfendes und schönes Fest gewesen, das früh, noch vor Sonnenaufgang, endete. Cliff erreichte seine Gemächer nur mit Hilfe seiner Begleiterin und versank in einen tiefen Schlaf, der mehr einer Bewußtlosigkeit ähnelte. Seine Träume waren farbig, leicht und unproblematisch, und sie riefen den deutlichen Wunsch hervor, daß es immer so und nicht anders weitergehen möge. Hasso keuchte die Rampe hinauf, und ein sicherer Instinkt ließ ihn seinen Raum finden. Dort wartete bereits das Mädchen das ihn unterwegs verloren hatte und deswegen bekümmert war. Ishmee und Helga wurden in Sänften in den Palast gebracht. Nur Atan Shubashi war nicht zu finden. Er saß in der breiten Gabelung eines der Bäume am Platzrand und schlief. Er träumte, er sei ein großer, bunter Vogel. Wie er auf den Baum hinaufgekommen war, wußte niemand zu sagen. Und während die Männer und Mädchen schliefen, während sich die Stadt von dem Fest erholte, fraß das Meer wieder einige Zentimeter von den Rändern des Kontinents weg.
7 Mario de Monti, Erster Offizier und Chefkybernetiker der ORION VIII, wachte auf. Was noch nie geschehen war, traf jetzt ein – unmittelbar nach dem Aufwachen war Mario hellwach. So klar waren seine Gedanken nach dem Aufwachen noch nie gewesen; wenigstens konnte er sich nicht mehr erinnern. Er blinzelte im Sonnenlicht, sah sich dann um und schwang die Beine zur Seite. Diese gewohnheitsmäßige Bewegung war hier sinnlos. Inmitten der Schlafschale lag Vahid und bot einen mehr als nur reizvollen Anblick. Nichts interessierte Mario jetzt weniger. Er atmete mehrmals durch und murmelte: »Verdammt!« Er erinnerte sich plötzlich der Minuten, die zwischen der Ankunft auf diesem Planeten und dem ersten nachhaltigen Kontakt mit der verderblichen Kultur gelegen waren. Der Auftrag, der schon nach einigen Stunden hätte klar umrissen sein können, war nicht ausgeführt worden. Es waren nicht einmal Ansätze vorhanden. Mario betrachtete das Mädchen, das neben ihm schlief. »Typisch für die ganze Stadt!« sagte er leise. Sie lag da, unschuldig und mit geschlossenen Augen. Mario sah mit einem einzigen Blick bis hinunter auf den Grund ihres Wesens. Sie war ebenso grausam oder ebenso unschuldig wie ein Kind. Das Leben war bisher in einer normativen Prägung verlaufen und hatte zwei Millionen Menschen erzogen. Jahrhunderte oder Jahrtausende hatte diese Erziehung immer
wieder das gleiche Ergebnis hervorgebracht. Angesichts dieser Umstände grenzte es an ein echtes Wunder, daß die Stadtkultur nicht vollkommen verwildert war. Mario stand auf und ging über die federnden Polster bis zum Rand der Schlafschale und schwang sich hinaus. Er fand das Bad und duschte heiß und kalt, dann spürte er wie sein altes Ich wieder zurückkam. Es kam zwar auf leisen Sohlen und sehr langsam, aber er wurde wieder zu dem alten Mario, der Teil eines entschlossen handelnden Teams war. »Wartet nur!« brummte er unter den eisigen Fäden der Dusche. Er suchte seine Bordkleidung, schnallte sich entschlossen die Gasdruckwaffe um, die von einem spielenden Handwerker inzwischen zu einem kostbaren Prunkstück umgestaltet worden war – sie funkelte von Gold, Silber und riesigen Edelsteinen. Mario steckte die Waffe, nachdem er die Funktionen durchgetestet hatte, kopfschüttelnd in die Tasche zurück. »Große Vorhaben erfordern einen gesättigten Kämpfer!« sagte er zu sich und suchte das Speisezimmer auf. Dort aß er schweigend und schnell. Überall sah er die Flaschen und die prunkvollen Gläser, aber jetzt ließen sie ihn völlig unberührt. »Vahid...«, murmelte er. »Sie wird es nicht verstehen.« Aber das, was er vorhatte, würde niemand in dieser Stadt verstehen können. Er nickte grimmig und stand auf.
»Handle fürstlich, Fürst Mario!« sagte er zu sich selbst und ging hinaus in das leere Treppenhaus. Er rannte schnell, immer zwei Stufen zugleich nehmend, die Treppe hinunter und kam in die Halle. Dort stieß er auf ein junges Mädchen, das die kleinen weißen Roboter beaufsichtigte, die die Halle säuberten. Mario blieb vor ihr stehen. »Herrscher?« fragte sie. Mario starrte sie an. »Wir sind gestern...« »Vorgestern, Fürst Mario!« verbesserte das Mädchen leise. »Vorgestern!« Also hatte er sich wirklich ausgiebig erholt. »Ich bin vorgestern mit einem Jagdwagen hinausgefahren und habe Barbaren gejagt. Wo finde ich diesen Wagen?« Das Mädchen sagte: »Wann brauchst du ihn, Mario?« »Sofort«, sagte er nachdrücklich. Das Mädchen lächelte ihn an und ging zu einer der Glasplatten in der Wand. Sie schob die Platte zur Seite, aktivierte einen Bildschirm und sprach mit jemandem, den Mario nicht kannte. Dann beendete sie das Gespräch und drehte sich um. »Der Jagdwagen wird gleich kommen, Fürst. Und zwar mit Ssanja als Fahrer.« Mario ging neben dem Mädchen langsam, aber mit mühsam unterdrückter Eile auf den prächtigen Ausgang zu. »Was ist Besonderes an Ssanja?« Sie funkelte ihn mit großen Augen an. »Ssanja ist die beste Fahrerin in der Stadt. Es ist
unglaublich, wie geschickt sie fahren kann.« Mario nickte grimmig und knurrte: »Sie wird ihre Kunst unter Beweis stellen müssen.« »Für die Jagd?« fragte das Mädchen und ging mit Mario hinaus in den nachmittäglichen Schatten am oberen Ende der Rampe. Mario versicherte kalt: »Für eine Jagd, an die sich diese Stadt noch lange Jahre erinnern wird. Das kann ich dir glaubhaft versichern!« Er ließ sie stehen und bemerkte kurz ihren verwunderten, kindlichen Ausdruck, mit dem sie ihm nachstarrte. Dann hörte er das kräftige Brummen, mit dem der schnelle Jagdwagen über den leeren Platz fegte und die Steigung zur Rampe nahm. Zwei Meter neben dem Herrscher von den Sternen hielt der Wagen an. Ein ausgesucht schönes Mädchen mit einem goldenen Pilotenhelm lächelte Mario an und öffnete die Tür. Mario stieg ein. »Du wünschest eine Fahrt, Mario?« fragte Ssanja. Mario deutete nach Süden. »Und zwar eine halsbrecherisch schnelle Fahrt dorthin. Ich bin ganz wild darauf, Barbaren zu finden. Hole die letzten Kraftreserven aus diesem fürstlichen Ding hier heraus.« »Für dich tue ich alles!« versicherte sie. »Dann starte jetzt!« sagte Mario und schnallte sich fest. Mit durchdrehenden, wild aufkreischenden Räderpaaren schoß der Wagen davon und fegte die lange Rampe hinunter. Mit schätzungsweise hundertfünfzig Stundenkilometern bog er in die erste Kurve ein
und umrundete den Platz. Hinter dem Fahrzeug wirbelte eine langgezogene, dünne Staubfahne hoch. Im Staub flogen die verdorrten Blütenblätter des vergangenen Festes hoch. Das Horn schrie auf, und die Menschen sprangen glücklich lachend, zur Seite, als Ssanja wie eine Irrsinnige die Straßen entlangjagte, Kurven schnitt und sich benahm, als wäre sie im freien Weltraum, in dem es keine Ecken gab. Zwanzig Minuten später fühlte Mario die vier g der negativen Beschleunigung, als der Wagen mit blockierten Rädern zum Halten kam. Vor ihm spannte sich die Energieschranke. Ssanja fragte: »Noch ein Glas, bevor wir ins Unbekannte hinausfahren, Mario?« Mario knurrte wütend: »Kein Glas. Wir fahren weiter. Und wenn du nicht willst, daß ich dich am Steuer ablöse, dann fahre so schnell, wie du noch niemals gefahren bist.« Sie sagte, während sie die Schranke ferngesteuert beseitigte: »Ich habe auch noch niemals einen echten Herrscher von den Sternen in meinem Jagdwagen gehabt.« Der Wagen beschleunigte erneut. Zwei Stunden fuhren sie nahezu geradeaus. Mario war zeit seines Lebens weder besonders todesmutig gewesen noch besonders feige. Er traute sich mancherlei zu, und er wußte, was er konnte. Aber eine Fahrt dieser Art würde er vermutlich bis zu seinem Lebensende nicht wieder erleben. Er hing in den breiten Gurten und genoß auf höchst zwiespältige Weise die Fahrt. Der Wagen raste durch kleine Was-
serpfützen und verschwand sekundenlang im Nebel der hochgewirbelten Wassermenge. Er schleuderte wie wahnsinnig durch Sand, brach mit zweihundert Stundenkilometern Geschwindigkeit durch Buschwerk, daß die Aste und Blätter flogen. Er fuhr eine breite Spur durch das Gras der versteppten Gebiete. Diese hundertzwanzig Minuten waren ausgefüllt mit Fahrkünsten in Vollendung. Der Wagen sprang zehn Meter weit, krachte in die Federn zurück, raste weiter und umrundete einen Hügel, fegte durch ein Tal und bohrte sich in einen morschen Baumstamm, der in einer Wolke von kleinen, braunen Splittern aufgelöst wurde. Das Mädchen am Steuer kreischte vor Freude und schrie: »Schnell genug, Herrscher?« Mario brüllte zurück: »Du fährst wie eine Göttin, Ssanja!« »Nein, ich fahre einen Gott!« Mario brummte laut: »Das ist noch die Frage, Mädchen. Dort vorn... ist das ein Feuer der Barbaren?« »Ja.« »Lenke den Wagen direkt darauf zu. Kein Horn, keine Scheinwerfer – erschrecke die Barbaren nicht.« Der Wagen fuhr eine weit ausgeschwungene Kurve, wurde langsamer und bremste noch mehr ab, als sie die spitzen Zelte einer großen Rotte nomadisierender Jäger erkannten. Ssanja wurde unsicher, das zeigte sich in ihrem Fahrstil. Trotzdem gehorchte sie dem Befehl des Herrschers und kam so bis auf zweihundert Meter an das Lager heran, ehe sie von den Barbaren bemerkt wurde. »Nimm das Gewehr«, sagte sie ängstlich. »Sie se-
hen uns.« Mario zog mit einer schnellen Bewegung die Gasdruckwaffe aus dem Gürtel und entsicherte sie. Der Wagen schwenkte in eine Kurve ein, und der Kybernetiker löste die Sicherheitsgurte, beugte sich vor und griff mit der linken Hand in die Steuerung. Der Wagen fuhr jetzt zwischen zwei Zeltreihen auf das Feuer zu. Überall tauchten Nomaden mit ihren wehenden Kopfziertüchern auf und richteten gespannte Bögen auf die zwei Gestalten. Blitzschnell fragte Mario: »Sprechen die Barbaren unsere Sprache?« Widerwillig bekannte das Mädchen: »Ja, aber sie betonen sie nicht richtig.« Mario grinste und erwiderte: »Das ist natürlich schlimm. Anhalten!« Sie standen jetzt zehn Mannslängen vom Feuer entfernt. Die Überraschung war ganz auf seiten der Nomaden, denn sie hatten noch niemals einen der prunkvollen Jagdwagen erlebt, der langsam auf das Lager zugerollt und vor dem Feuer stehengeblieben war. Dies war eine absolute Neuigkeit. Auch die Kleidung des blonden, grünäugigen Mannes war anders als der gewohnte, farbige Aufzug der Stadtmenschen – nur das Mädchen war bekannt. Ssanja zitterte jetzt vor Angst; dies war alles andere als Teil eines lustigen, harmlosen Spieles. Mario stand im Wagen auf, drehte sich langsam einmal um seine Achse und rief: »Nomaden – ich bin von den Sternen gekommen Ich bin einer der Götter, die euch seit langer Zeit versprochen worden sind und auf die ihr wartet. Unglücklicherweise landete unser Sternenschiff in der Stadt, und ich lernte den falschen Teil des Planeten kennen.«
Das Mädchen schrie auf: »Mario, hinter dir!« Mario duckte sich, wirbelte herum und richtete die Waffe aus Gleichzeitig heulte ein Pfeil dicht über seinen Kopf hinweg und bohrte sich krachend in eine Zeltstange. Mario erkannte den Schützen, der gerade den Bogen senkte, und feuerte. Die Lähmungsnadel drang in die Schulter des Nomaden, und der Mann sackte langsam zusammen und fiel ins Gras. Mario schrie: »Er ist nicht tot, sondern nur eingeschläfert! Er wird in wenigen Stunden wieder aufwachen. Aber ihr seht meine göttliche Waffe. Ich bin zu euch gekommen, weil ich mit eurer Hilfe die Sternenschiffe bauen werde.« Ein lautes Geschrei antwortete ihm. Er hatte gewonnen. Ein älterer Mann mit kühnen, scharfen Gesichtszügen trat auf ihn zu und sah zu Mario auf. »Es ist wahr – du mußt einer der lang versprochenen Götter sein. Warum habt ihr so viel Jahrtausende gebraucht, um uns zu finden?« Mario grinste unfürstlich und erklärte schnell: »Eben deshalb, weil wir lange nach euch suchten. Auch wir können nicht alles. Aber jetzt werden wir binnen weniger Jahre die Schiffe bauen können, und eure Rasse wird den todgeweihten Planeten verlassen können. Aber vorher haben wir alle noch eine Aufgabe.« Der Mann nickte, während Ssanja mit kreideweißem Gesicht vor der Steuerung kauerte. Zum erstenmal in ihrem Leben spürte sie den würgenden Griff der Furcht. Furcht vor dem Unbekannten in der nächsten
Zukunft. Aber sie brauchte nicht lange zu warten, um genau z u erfahren, was Mario von den Nomaden verlangte. Sie merkte selbst jetzt noch, daß die Entschlußkraft, die von diesem schlanken Mann ausstrahlte, unverkennbar göttlichen Ursprung haben mußte. »Welche Aufgabe?« Die Nomaden bildeten jetzt einen dichten Kreis um den Wagen. Die Sonne berührte den Horizont, und bald würde es dunkel werden. Das hatte nur zur Folge, daß es in der Nacht ein wenig kühler werden würde; der Erdteil lag in der Nähe des Äquators. »Ich brauche alle Nomaden. Ich werde euch die Barrieren öffnen, die bisher die Stadt geschützt haben. Ihr werdet mir helfen, die zwei Millionen der Stadtbevölkerung zur Arbeit anzutreiben. Zuerst werden wir die Herstellung von Alkohol drosseln, sämtliche gefährlichen Rauschgifte verbieten und die Vorräte vernichten, dann werden wir nach genauen Plänen Schiffe bauen. Dazu brauche ich jede einzelne Hand dieses Planeten. Viele werden arbeiten, einige werden konstruieren, und niemand wird herrschen. Aber... ich und ihr, wir sind zu wenige. Ihr Männer! Ihr werdet jetzt eure Pferde satteln und zu allen Nachbarstämmen reiten. Sagt ihnen, daß übermorgen früh sämtliche Barrieren fallen werden. Sofort danach werden die Nomaden in die Stadt eindringen und die Stadt besetzen. Ich will spätestens übermorgen nachmittag alle Anführer im Palast haben. Das ist es. Unser Ziel ist nähergerückt – die Sterne warten auf uns.«
Der Mann fragte: »Aber was werden die Stadtmenschen tun? Sie lassen es sich sicher nicht gefallen, daß wir in die Stadt kommen und mit ihnen zusammen arbeiten.« Mario versicherte: »Sie werden zunächst derart gelähmt sein, daß sie nichts unternehmen und nicht an Gegenwehr denken. Bis sie sich entschließen etwas zu tun, haben wir viele Dinge getan. Vergeßt nicht – sechs Götter von den Sternen helfen euch. Wir werden binnen Stunden die Stadt beherrschen.« »Gut«, sagte der Nomade. »Wir tun, was du verlangst. Los, auf die Pferde! Schnell! Unsere Träume und Erwartungen werden Wahrheit!« Zwanzig Minuten später war Mario de Monti der einzige Mann in dieser Zeltsiedlung. Achtzig andere Männer sprengten mit verhängten Zügeln nach allen Richtungen in den sinkenden Abend hinein. Mario steckte die Waffe ein, dann setzte er sich und schaute Ssanja ins Gesicht. Sie flüsterte tonlos: »Was hast du getan, Mario?« Mario lächelte sie an, wie man ein kleines Kind anlächelt um es zu beruhigen. »Ich habe nur getan, was seit Jahrtausenden nötig war. Ich habe angefangen, eure Rasse zu retten.« »Aber... die Stadt ist nicht verloren, oder?« »Nein. Es werden für uns alle einige unangenehme und arbeitsreiche Jahre anbrechen. Außerdem werden wir von unserer Heimat Unterstützung holen; Marschall Wamsler wird mit Freuden eine zweite Umsiedlungsaktion starten. Aber die Zeiten der dauernden Feste sind endgültig vorbei.«
Er war optimistisch, aber er gründete diesen Optimismus auf Sachkenntnis. Er würde einmal die Stadt umrunden und die Sperren beseitigen, dann mußte er zum Palast rasen und seine fünf Freunde aus der Fessel dieser künstlichen Euphorie befreien. Anschließend würden sie die Maschinen unter Kontrolle bringen. »Vorbei?« »Ja, vorbei. Der Ernst des Lebens beginnt für die Stadt. Der Ausgleich wird herbeigeführt. Den Nomaden ging es bisher schlechter als notwendig, und den Stadtbewohnern ging es unverantwortlich gut. Ich werde den Kompromiß zwischen den beiden Extremen schließen.« Das Mädchen schaltete den Motor wieder ein, wendete vorsichtig und fuhr den Jagdwagen ein kleines Stück vom Lager der Nomaden weg. Dann schaltete sie die Maschinen ab, löste ihre Gurte und drehte den Fahrersitz um. Sie sah Mario ängstlich in die Augen. Ssanja fragte: »Was geschieht jetzt, Mario?« Mario schlug die Beine übereinander und ergriff dann ihre Hände. »Wir warten eine Weile. Morgen gegen Mittag fahren wir los, dann öffnen wir den Barbaren die Stadttore. Wir werden zweimal hier im Wagen übernachten müssen, dort am Feuer oder vielleicht in einem Zelt. Was schlägst du vor?« Sie zuckte die Schultern. »Der Jagdwagen ist dafür eingerichtet, mehreren Personen kurze Zeit als Wohnraum zu dienen. Ich möchte in deinem Schutz schlafen, Mario.« Das mußte Mario natürlich einsehen.
Mit vergnügtem Grinsen sah er zu, wie sich ein Verdeck auffaltete, wie sich die Sessel auseinanderklappten und wie ein breiter Schlitz in einem Teil des Armaturenbretts Fertiggerichte ausgab. Als auch zwei Gläser und eine Flasche erschienen, roch Mario am Flaschenhals, grinste noch mehr und schleuderte die Flasche im hohen Bogen ins Lagerfeuer der Barbaren. Dort brannte der Alkohol mit bläulichen, unruhigen Flammen. Die Nacht verlief ohne aufregende Zwischenfälle. * Der Angriff verlief in drei Wellen. Nachdem kurz nach Sonnenaufgang Mario de Monti einem riesigen Heer berittener Barbaren vier Barrieren im Süden der Stadt geöffnet hatte, preschte zuerst die Reiterei hindurch. Dann folgten die kämpfenden Fußtruppen, schließlich die Frauen, Kinder und der Troß. Eine Horde schreiender, schneller Reiter galoppierte, fünf Heersäulen mit je zehntausend Mann, ins Zentrum der Stadt hinein. Die fünfte Truppe kam aus dem Südosten. Der Wagen mit Ssanja am Steuer raste durch die leere Stadt, kam am gegenüberliegenden Ende an, und auch dort löste Mario die Barrieren auf. Eine lange Lagebesprechung mit rund einhundert Anführern war dem Überfall vorangegangen. Angriff? Er war als Angriff gedacht worden, aber Mario hatte die Nomaden bei allen sichtbaren und unsichtbaren Göttern schwören lassen, daß es keinen einzigen Verwundeten geben durfte. Wenn man allerdings
Entsetzen, Furcht, Frustration und Verblüffung als Verletzungen bezeichnete, dann waren die schreienden Reiter in den leeren, gepflegten Straßen tatsächlich die Boten einer blutigen Schlacht. Sie bildeten Brückenköpfe. Von zahllosen Punkten aus operierten sie. Sie drangen in die Wohnungen ein, verkündeten lautstark eine neue Zeit und konfiszierten die Alkoholvorräte und die Rauschgifte, betrachteten fassungslos den aufwendigen Prunk und die weichen Möbel und verschwanden wieder. Hinter sich ließen sie eine Masse vor Schreck und Erstaunen starrer Stadtbewohner. Nachdem Mario auch im Norden die Sperren beseitigt hatte, streichelte er die Wange des Mädchens und sagte leise: »Fahre mich schnell zum Palast.« Sie wendete und fuhr vor den Reiterkolonnen her auf den zentralen Platz zu, über dem noch immer als stählernes Wahrzeichen des kosmischen Besuches die ORION VIII schwebte. »Was willst du im Palast?« »Erstens«, erwiderte er behutsam, »will ich dir Gelegenheit geben, die Schrecken des Operettenkrieges nicht mitzuerleben, wenigstens noch nicht sofort und in ganzer Härte; man muß gut zu seinen Fahrern sein.« Der Wagen hielt endlich auf der Plattform vor dem Palasttor. Mario half Ssanja aus dem Jagdwagen, der inzwischen von oben bis unten dreckbespritzt und gar nicht mehr göttlich strahlend war. »Zweitens?« fragte sie. Mario erkannte, daß sie sich, ebenso wie ein Kind, sehr schnell in die veränderte Lage eingefügt hatte.
Aber sie wußte noch nicht alles – sie kannte die vergleichsweise rigorose Tatkraft der Crew noch nicht. »Zweitens werde ich meine fünf Freunde wecken müssen. Ich schwöre es dir; das wird eines der schlimmsten Erwachen in der Geschichte der bemannten terranischen Raumfahrt werden.« Er lachte schallend auf, ergriff die Hand Ssanjas und zog das Mädchen mit sich. Schwungvoll flogen die Torflügel des Palasttores auseinander, und Mario lief auf den Lift zu, der ihn in die Räume von Cliff brachte. Vor der Tür stoppte Mario. »Mädchen«, sagte er nachdenklich, »ich will dir den Herrscherglauben nicht ganz wegnehmen; einige Illusionen sollte man bis an sein Lebensende nicht verlieren. Du solltest jetzt dorthin gehen, wo ich gemeinhin zu ruhen pflege, und dich verstecken. Hier werden dich keine Barbaren aufstöbern, und außerdem ist Cliff kurz nach dem Aufstehen kein segensreicher Anblick. Geh jetzt.« Sie gehorchte, und Mario stieß die Tür auf. Das erste Zimmer... »Leer!« sagte er und lief weiter. Er kam durch drei Zimmer, eines prächtiger als das andere, aber nicht zu vergleichen mit seiner Zimmerflucht... schließlich hatte man ihn, Mario de Monti, als Herrscher über die Untergötter verehrt. Schließlich fand er Cliff. Der Kommandant hielt glasigen Blickes ein großes, halbgefülltes Glas gegen das Sonnenlicht und bot in seinem weißen Morgenmantel einen durchaus normalen Eindruck. Er drehte sich um, als er Geräusche hörte und erkannte Mario. »Freund Mario«, sagte er. »Ich nehme gerade mei-
nen Morgentrunk ein.« Mario lachte schallend, ging auf Cliff zu, bog dessen Arm herum und nahm ihm das Glas weg. Er suchte kurz und kippte dann den Inhalt, etwa einen halben Liter, in den kostbaren Erdtopf einer exotischen Blume. Begeistert blühte das Gewächs auf, erzitterte und verwelkte kurz darauf. »Hoffnungslos besoffen, dieses Grünzeug!« knurrte Mario und grinste Cliff an. »Was...?« begann der Kommandant. »Neue Zeiten, Cliff!« schrie Mario begeistert und schlug Cliff krachend auf die Schulter. »Die Tage im Suff und die Spiele sind vorbei. Die Barbaren kommen!« Er verbesserte sich sofort und rief: »Genauer: Sie sind schon da.« Cliff starrte ihn an und sagte leise, fast traurig: »Was soll das, Mario? Bist du plötzlich wahnsinnig geworden?« »Nein«, konterte Mario. »Nur nüchtern.« Er zog die Gasdruckwaffe und richtete den Lauf auf Cliffs Bauch. »Mein Freund«, sagte er fröhlich, aber mit unbedingter Autorität, »wir sind bekanntlich hier gelandet, nicht um uns in den lustigen Lebensrhythmus der Planetarier einlullen zu lassen, sondern um für T.R.A.V. neue Welten und interessante Punkte im Kosmos zu entdecken. Wamsler ruft uns! Villa blickt auf uns herab. Jetzt werden wir nach einigen Tagen des Nichtstuns handeln. Schnell, präzise und unwiderruflich. Los!« Cliff wimmerte leise: »Was bedeutet das?«
»Wenn du nicht binnen einer Stunde vollkommen angezogen – und zwar den Borddreß! – hier unten im Versammlungssaal erscheinst, dann werde ich dich an den Sattel eines galoppierenden Nomaden binden und solange um den Platz jagen, bis du sämtliche dumme Ideen ausgeschwitzt hast. Unter die Dusche! Kein Alkohol! Keine dummen Gedanken!« Zehn Minuten später hatte er den halbautomatischen Wasserhahn beschädigt und Cliff in die Duschkabine gesperrt. Cliff stand unter den eisigen Strahlen, fror und zitterte, aber auch er kam langsam von der Wirkung des Alkohols weg. Mario vergewisserte sich, daß Cliff in der Halle wartete, und rannte weiter, die Waffe in der Hand. Der erste kleine Sieg war errungen worden. Der zweite war Hasso Sigbjörnson. Mario fand Hasso ein Stockwerk weiter oben, wo unter einer riesigen Glasplatte sich ein Becken voll parfümierten, warmen Wassers befand. Hasso und seine Begleiterin schwammen darin herum, aber keineswegs im olympiareifen Stil. Sie schienen das Wasser als neues Medium für Spielereien entdeckt zu haben. Mario dachte radikal, suchte einige Zeit und entdeckte dann das Abflußventil. Er drehte es bis zum Anschlag auf, und als er mit Helga Legrelle im Schlepp wieder zurückkam, war das Becken bereits halb leer. Mario drehte die Kaltwasserzufuhr weit auf und warf Helga rücksichtslos ins Wasser. Eine halbe Stunde später hatte er mit viel Arbeit die beiden davon überzeugt, daß sie nicht Teil einer Idylle, sondern Raumfahrer mit Aufgaben waren. Cliff, Mario, Hasso und Helga halfen gegen Mittag auch den beiden letzten Mitgliedern der Crew, näm-
lich dem Astrogator und Ishmee, zurückzufinden zur unangenehmen, aber typisch terranischen Pflichterfüllung. Als die ersten Unterführer der Nomaden eintrafen, stand die Crew bereit. Mario feuerte einen Schuß in die Decke der Versammlungshalle ab und erklärte laut: »Wir haben gesiegt. Berichtet, Männer!« Die Unterführer berichteten ihm in kurzen Zügen, daß sie die Stadt unter Kontrolle hatten. Sie waren nur einmal in einen Kampf verwickelt worden, nämlich als sie durch eines der Blumenbeete geritten waren. Daraufhin hatten sich Hunderte von Stadtbewohnern aufgerafft und hatten die Nomaden mit langstieligen Blüten angegriffen. »Zuerst müssen wir die Maschinen umprogrammieren«, rief Mario. »Atan, Hasso... das ist eure Aufgabe.« Einer der Nomaden sagte: »Wir haben ein Gebäude gefunden, in dem sich viele Hunderttausende von Schaltern und Knöpfen befinden.« Mario deutete hinaus und rief: »Das ist es. Stellt sofort die Alkoholproduktion ab, vernichtet alle Rauschgifte und programmiert meinetwegen statt Lethe Kaffee oder Colagetränke. Das wird die Stadtleute ein wenig aufmuntern.« Atan, Hasso und einige Barbaren liefen hinaus. Sekunden später bewiesen rasende Hufschläge, daß sie in die Schaltstation ritten. Die Planung ging weiter. *
Atan Shubashi ritt hart an Hasso Sigbjörnson heran, schlug Hasso kurz gegen die Schulter und fragte: »Ich fühle mich, als sei ich eben erst aus einem bunten Traum aufgewacht.« Die kleine Kavalkade aus dreißig Männern zu Pferde sprengte die Hauptstraße entlang und bog in einen grünen, von Bäumen und Blumen erfüllten Innenhof ein. »So und nicht anders ist es, Atan«, sagte Hasso. »Wir waren hochgradig gefährdet. Der kleinste Anstoß hat jetzt entschieden.« Sie schwangen sich aus den Sätteln und liefen, die Nomaden hinter sich, auf das Portal zu. »Ja, und zwar der Anstoß, den Mario gab. Wir haben es gerade noch geschafft.« Die Tür ging auf, und die Männer sahen sich einem riesigen, flachen Raum voller Schaltpulte gegenüber. Es sah aus wie eine Reihe von Eingabeelementen aus der Steuerkanzel der ORION. »Hier, der zentrale Komputer«, sagte Atan. Hasso lachte kurz und verzweifelt auf. »Ehe wir eine einzige Schaltung durchführen können, müssen wir erst herausfinden, wie diese Anlage funktioniert.« Sie schilderten den Nomaden, was sie suchten, und zweiunddreißig Männer schwärmten aus, um ein Hauptpult zu finden oder ein Schema, nach dem die automatischen Maschinen bedient und umprogrammiert werden konnten. Hier liefen sämtliche Drähte zusammen, hier konnte über das Schicksal der zwei Millionen Stadtbewohner entschieden werden. Aber die Entscheidung durch Umprogrammierung durfte nicht explosionsartig, sondern mußte behutsam vor
sich gehen. Eine Stunde später rief Hasso Sigbjörnson laut: »Atan!« Der kleine Astrogator kam herbeigerannt und schwenkte freudig ein breites Band auf einer dicken Rolle. »Ja?« »Wir brauchen nicht zu programmieren«, sagte Hasso und deutete auf den Kommandostand, den er in einer kleinen, gesicherten Kammer entdeckt hatte. »Wir können den Komputern direkt die Befehle vorsprechen. Hier ist die Schaltstation.« Atan schaltete ein Bandgerät ein und wechselte die Spulen aus. »Und ich habe ein Band entdeckt, auf dem deutlich Bauprogramm für Sternenschiffe steht.« Hasso fuhr herum. »Wie?« »Ja! Wir können sogar dabei auf die Hilfe von Maschinen rechnen. Allerdings wird eine große Menge Handarbeit bleiben.« Der Bordingenieur nickte beifällig und versicherte dann grimmig: »Schließlich haben wir rund drei Millionen von Hilfsarbeitern in dieser Siedlung, die Nomaden eingerechnet.« Dann schaltete er die Wechselsprechanlage ein und sagte deutlich: »Ich will mit dem zentralen Komputer sprechen. Stichwort: Neues Konzept der Stadtverwaltung und der Menschenführung.« Ein Summton, dann fuhren aus einer halbdurchsichtigen Elementenwand Linsen, Mikrophone und
Lautsprecher hervor. Sie gruppierten sich um den weißhaarigen, schlanken Mann, und eine gut modulierte Maschinenstimme erwiderte: »Ich höre.« Hasso sagte scharf akzentuiert: »Ab jetzt wird, abgesehen von den für klinische Zwecke benötigten Mengen, keinerlei Alkohol mehr hergestellt. Ich wiederhole: Die Herstellung von Alkohol ist, mit eben geschilderter Ausnahme, ab sofort einzustellen. Die Rohmaterialien werden, soweit zu v erwenden, für Raketentreibstoffe bereitgehalten. V erstanden?« Der Komputer erwiderte mit seiner schleppenden Stimme: »Verstanden. Das betreffende Programm wird gestrichen.« Atan Shubashi dechiffrierte inzwischen das aufgefundene Band und sah, daß es zwar in der Lage war, Raumschiffe beziehungsweise fast alle der benötigten Bauteile herzustellen, aber die Maschinen fehlten, das schien die Arbeit der ORION-Crew zu werden. »Weiter!« sagte Hasso Sigbjörnson scharf. »Es wird ab sofort keinerlei Rauschgift mehr hergestellt. Die Mengen, die noch in den Vorräten enthalten sind, werden auf chemischem Weg auf andere Produkte verteilt oder umstrukturiert. Ab sofort keinerlei Rauschgifte, Drogen, bewußtseinserweiternde Getränke oder halluzinogene Produkte mehr!« »Verstanden!« sagte der Komputer. Während das Band auslief und Hasso weitere Befehle verkündete, während die mächtige kybernetische Maschine ihre Programme änderte, neue aufnahm und ganze Blöcke löschte, wurden Unruhe und
Verzweiflung unter den Stadtbewohnern größer und tiefer. Sie merkten langsam, daß die alten Zeiten unwiderruflich vorbei waren. Sie erhielten keinen Alkohol mehr, und die Glückseligkeitsdrogen aller Art wurden auch nicht mehr ausgegeben. Das aber waren erst die vordringlichsten Maßnahmen. Hasso fragte den Astrogator: »Wie sieht es aus? Können wir Schiffe bauen?« Atan schien bereits gerechnet zu haben, denn seine Antwort kam schnell, und seine Stimme klang begeistert. »Natürlich. Um jeweils zehntausend Menschen zu transportieren, brauchen wir dreihundert Schiffe. Wenn wir den hier geschilderten Typ bauen, dann haben wir so gut wie alle Bauteile bereits vorgezeichnet – bis auf die Maschinen.« Hasso grinste breit. »Das würde bedeuten, daß zehntausend Menschen gleichzeitig für den Bau eines Schiffes eingesetzt werden können. Und die ORION-Crew wird die Baupläne für Maschinen zeichnen – Mario de Monti, unser Fürst, wird die Maschinen so programmieren, daß sie die Teile herstellen.« Er wandte sich wieder an die Zentralkybernetik. »Was hast du vor?« fragte der Astrogator neugierig. Hasso deutete hinaus in den Garten und sagte entschlossen: »Ich frage die Maschinen, wo ein genügend großer Platz ist, auf dem wir dreihundert Sternenschiffe auf Kiel legen können.« Anerkennend bewegte Shubashi seinen Kopf, dann hörte er zu, wie Hasso mit der Maschine sprach.
8 Kommandant Cliff McLane deutete nach Süden, blinzelte etwas in der Sonne und sagte dann einige Worte zu dem Ingenieur, der innerhalb einer einzigen Woche begriffen hatte, worum es ging... er war vor sechs Tagen an der Spitze seiner Männer in die Stadt eingeritten. »Wann sind die Baugerüste vollzählig aufgestellt?« Unter ihnen erstreckten sich die zwanzig Reihen von je fünfzehn Anlagen, die aus Beton, Stahlkonstruktionen und den Versorgungsgleisen bestanden. Jede dieser Anlagen würde ein Schiff aufnehmen. »In vier Tagen sind die Maschinen fertig mit der Produktion.« Der Kommandoturm überragte das gewaltige flache Feld, auf dem die Raumschiffe entstehen sollten. Von allen Teilen der äußeren Stadtbezirke liefen hier die Gleise zusammen. Auf diesen Gleisen schafften die Maschinen der Stadt die Einzelteile herbei. »Ausgezeichnet!« meinte Cliff und sah Mario etwas schuldbewußt an. »Und wie verhalten sich die als Bauarbeiter eingeteilten Stadtbewohner?« Der Nomaden-Ingenieur lachte stoßweise auf; dieses Thema schien ihm zu behagen. »Sie verhalten sich ausgesprochen schizophren«, sagte er. »Wie kann ich das verstehen?« fragte Mario de Monti zurück. »Sie sehen und erleben, daß die Arbeit ihnen Blasen an den zarten Händen verursacht. Gleichzeitig dämmert es ihnen, daß nur der schnell und konse-
quent vorangetriebene Bau dieser Schiffe unsere Rasse retten kann – aber sie sind trotzdem noch in ihrer alten Umgebung und ihren Spielen verhaftet. Ihnen diese einschränkende Verhaltensform abzugewöhnen dürfte noch lange dauern.« Mario nickte und fragte: »Aber... sie arbeiten doch willig, oder etwa nicht?« Er deutete nach unten, wo die langen Baukolonnen der Stadtmenschen umherliefen und von den Nomaden beaufsichtigt und an die Arbeit getrieben wurden. Die Maschinen der Stadt hatten schnell etwa eineinhalb Millionen Overalls erzeugt, und die Städter glichen sich jetzt wie eine Ameise der anderen. »Willig – ja. Aber einer von uns muß neben ihnen stehen und ihnen versichern, wie notwendig die Arbeit ist. Sie leiden unter Konzentrationsschwäche und mangelndem Leistungsbewußtsein. Außerdem sind sie wie große Kinder.« »Gut«, meinte der Kommandant zögernd. »In vier Tagen werden also die ersten Bauteile der Schiffszellen angeliefert.« Der Ingenieur erwiderte pflichtbewußt: »Jawohl. Und wir werden sie zusammenschweißen. Notfalls treibe ich die Stadtbewohner mit Pfeilschüssen an die Arbeit. Das, was wir jetzt tun, hätten wir schon vor Jahrtausenden unternehmen können.« Er schwang sich in den primitiven Lift und fuhr nach unten, um die Arbeiten weiter zu beaufsichtigen. Die Nomaden hatten sich schlagartig und mit großer Wirksamkeit den Plänen der ORIONMannschaft unterstellt – in einem halben Jahr würden sich hier dreihundert kugelförmige Schiffe zeigen. Mario de Monti stützte sich schwer auf das Geländer
und meinte leise: »Nun, Cliff, du staunst wohl nicht mehr?« Cliff schüttelte ernst den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wir haben – und auch dieser Kontinent hat – Glück gehabt. Noch ein oder zwei Tage mehr in diesem endlosen Rausch, und wir wären hier geblieben und von Wamsler für verschollen erklärt worden.« Nachdem sich der enge Zusammenhalt der Mannschaft vorübergehend gelockert hatte, merkten sie jetzt, daß sie einige schwere Fehler gemacht hatten. Sie versuchten, jeder auf seine besondere Art, den alten Zustand wiederherzustellen. »So oder so ähnlich wäre es gelaufen«, bestätigte Mario. »Glücklicherweise bin ich im richtigen Moment aufgewacht.« Cliff starrte Mario ins Gesicht und fragte leise: »Woran hast du eigentlich gemerkt, daß wir im Begriff waren, restlos zu vergammeln?« Mario zuckte die Schultern und erwiderte: »Es war nur eine winzige Kleinigkeit, die ich im nüchternen Zustand sah, aber unter der Wirkung dieses verdammten Alkohols ständig übersehen hatte.« »Welche Kleinigkeit?« Mario grinste und sagte: »Vahid.« Cliff zog die Stirn ungläubig in Falten und fragte verwirrt: »Das Mädchen? Deine Begleiterin?« »Ja. Ich sah sie, wie sie neben mir lag und schlief. Und ich war nüchtern. Ich merkte plötzlich, daß wir es hier mit Kindern zu tun haben. Und da es keineswegs zum guten, strahlenden Bild unserer Mann-
schaft gehört, Kindergärtner zu sein, erschrak ich plötzlich. Der Rest war Selbsterkenntnis.« »Selbsterkenntnis, soso!« »Allerdings. Mehr Arbeit hatte ich mit euch. Euch aus dem Halbschlaf zu reißen, war die Hauptarbeit. Und... da ist noch etwas. Wir sollten es einmal mit Freund Hasso besprechen. Ich habe den Verdacht, daß wir noch immer in einer Art verwirrter Trance arbeiten.« Cliff setzte sich auf einen glänzenden Stahlträger und schaute auf. »Das meinst du nicht im Ernst, Mario?« Der Chefkybernetiker, der sämtliche Produktionsprogramme durchgearbeitet hatte, lächelte nicht, als er sagte: »Doch! Ich meine es sehr ernst. Der Zuwachs meiner Weisheit läßt sich genau an der zurückgegangenen Alkoholmenge messen. Erstens: Wir finden hier einen Planeten, geraten in Taumel und vergessen völlig, mit welchem Auftrag uns Wamsler losgeschickt hat. Zweitens: Wir arbeiten wie die Besessenen, um dieses Volk hier zu retten. Dabei kommt uns nicht einmal die Idee, wir könnten vielleicht bei T.R.A.V. nachfragen und um Hilfe bitten, wie wir es bei Kublai-Krim damals taten, als wir Ishmees Turceed umsiedelten. Drittens: Ich war gestern im Schiff.« In Marios Stimme klang eine geringe Menge Panik mit. Cliff merkte diesen Unterton, richtete sich gerade auf und fragte heiser: »Ja, und?«
Marios Lächeln war etwas verzweifelt. »Ich habe weder einen Logbucheintrag entdeckt noch eine Notiz, noch irgendeinen anderen Hinweis darauf daß Wamsler weiß, wo wir sind. Ich versuchte, ihn von unserem Fund zu verständigen. Was meinst du, was passiert ist?« Cliff zuckte die Schultern, aber sein Gefühl des deutlichen Unbehagens nahm plötzlich zu. »Keine Ahnung!« erwiderte er leise. Mario lachte kurz. »Ich schaltete das Funkgerät ein, stimmte die Wellenlänge ab und versuchte, die Erde zu erreichen notfalls über Relais und EOS IV. Nichts. Ich hatte die Geräusche der Statik, aber nicht die Spur eines Signals. Das läßt nur zwei Möglichkeiten zu.« Jetzt hätte Cliff seinen Monatssold für einen Schluck des gefährlichen Alkohols gegeben. Er fragte flüsternd: »Welche?« Er wußte sie ebensogut wie Mario, aber er wollte seine Überlegungen vom Ersten Offizier bestätigt wissen. »Entweder sind wir in einer Gegend des Weltalls, in der jeder Funkkontakt mit der Erde unmöglich ist, oder aber... die Erde ist zerstört.« Sie sahen sich an und schwiegen. Cliff gab sich einen Ruck und deutete auf den Lift. »Fahren wir hinunter und versuchen wir, das Problem mit den anderen zu besprechen. Alles, was du sagst, ist richtig. Ich habe nicht daran gedacht. Wo sind wir, was tun wir?« Eine Viertelstunde später trafen sie mit Hasso, Atan, Helga und Ishmee im Palast zusammen. Das
riesige Gebäude hatte sich inzwischen in einen gewaltigen Arbeitsplatz verwandelt, in dem es ähnlich aussah wie in bestimmten Bezirken der Basis 104. Die ORION-Besatzung traf sich in einem der Zimmer, die Mario de Monti bewohnte. Dieser Raum war zu einer Art Kommandozentrale ausgebaut worden; voller Nachrichtengeräte, Zeichentische und Pläne. An einer Wand hing das riesige Komputerdiagramm, nach dem die Raumschiffteile hergestellt wurden. Die Stille, in der sich die sechs Personen gegenübersaßen, hatte etwas Beklemmendes. Ishmee eröffnete die Diskussion. »Ich spüre die Art eurer Gedanken«, sagte sie und legte die Fingerspitzen an die Schläfen. »Du spürst vermutlich keinerlei besonders optimistische Gedanken, Liebling«, sagte Cliff. Sie sah ihn an und nickte. »Eure Gedanken sind voll beginnender Panik. Ich kenne auch lange genug, um zu wissen, woher die Panik kommt.« Atan brummte ungläubig: »Da bin ich aber gespannt. Man sollte zwar die geheimsten Wünsche einer Frau von ihren geschlossenen Augen ablesen, aber daß der Grund unserer Panik in unseren Gedanken erkennbar sein soll... ich bin da ziemlich skeptisch.« »Warte«, sagte Ishmee leise. »Ihr alle denkt, nein, wir alle denken, daß dieses Erlebnis zu unwirklich ist, als daß es ernst sein könnte. Die Dimensionen sind zu groß, die Widerstände zu klein, die Änderung ist zu schnell vor sich gegangen. Wir haben keine Schwierigkeiten... das ist es. Ihr tut etwas und könnt gleichzeitig nicht daran glauben, daß es wirklich getan
wird. Aber schließlich hat keiner von uns den kleinsten Grund, an irgend etwas zu zweifeln.« Cliff lehnte sich zurück und schaute zwischen den zurückgezogenen schweren Vorhängen hinaus in den unverändert strahlenden Himmel. Die Sonne, die Bläue des Himmels, die wenigen Wolken und eine Wärme, die keineswegs erdrückend wirkte – sie waren Bestandteile dieses Planeten und hatten die Menschen geprägt. Es war schwer, den Stadtbewohnern ihre glückliche Einstellung zum Leben nehmen zu wollen – aber sie würden sie mit dem Tod bezahlen müssen. Wenn nicht Mario in der entscheidenden Sekunde den richtigen Gedanken gehabt hätte. »Nein«, sagte Cliff. »Wir haben keinen Grund, uns Vorwürfe machen zu müssen. Wir haben nichts getan, um den Stadtbewohnern den Glauben, wir wären Götter von den Sternen, zu nehmen. Aber wir haben diesen Vorteil auch nicht angewandt, um uns persönlich zu bereichern.« Helga murmelte verdrossen: »Außer einigen Tagen, in denen wir dem Laster des immerwährenden Urlaubs zu verfallen drohten.« »Das zählt nicht«, sagte Hasso. »Wir haben gehandelt.« Es schien eine kurze Zeit lang, als müßten sie sich für Dinge entschuldigen, die keiner Entschuldigung bedurften. Da sie sich gegenseitig so gut kannten, wie sich eine Gruppe dieser Art kennen konnte, war der Versuch zweimal sinnlos. Schließlich meinte die Funkerin halblaut: »Wir haben gehandelt und niemanden geschädigt, haben keinen persönlichen Vorteil aus unserem Han-
deln gezogen und werden diesem Planeten helfen.« Ishmee fuhr fort: »Auch wenn es auf Kosten der Seelenruhe gehen sollte.« »Nicht zuletzt unserer eigenen«, meinte der Astrogator. »Aber was soll diese Gerichtsverhandlung, Freunde?« »Richtig. Arbeiten wir weiter!« Cliff stand auf und ging an das breite Fenster, durch das die warme Luft des Mittags hereingeweht wurde. »Ja«, sagte er nachdenklich. »Arbeiten wir weiter. Trotz allem glaube ich, daß wir einen entscheidenden Umstand übersehen haben.« Er wußte genau, daß seine fünf Freunde das gleiche empfanden wie er. Irgendwo in ihren Überlegungen, in den Gedanken und Ahnungen lag etwas, das sie vergessen und bisher nicht beachtet hatten. Ein Schlüssel, der dort versteckt war und mit dem alles aufgeschlossen werden konnte. Ein Geheimnis, das sie unsichtbar mit sich herumschleppten. Etwas, das alles, was sie bisher hier auf diesem runden Kontinent erlebt und getan hatten, entweder hundertprozentig sinnvoll werden ließ oder – absolut sinnlos. »Ich weiß es«, sagte Mario düster. »Wir haben etwas vergessen.« Helga erhob sich, einem inneren Zwang folgend, und stellte sich neben den Kommandanten. »Aber wir haben vergessen, was wir vergessen haben«, meinte sie bekümmert. Plötzlich brüllte Mario los: »Bei der ORION! Wir stehen hier wie Schüler, kla-
gen uns an und entschuldigen uns, haben endlich etwas Sinnvolles unternommen und sind jetzt plötzlich unsicher.« Atan sagte mit gespielter Gehässigkeit: »Er brüllt. Also weiß er nicht mehr weiter.« Cliff und Helga hatten sich herumgedreht und sahen die anderen drei Terraner an. Mario ging ebenfalls zum Fenster und runzelte die Stirn, dann sagte er: »Entschuldigt, aber ich halte es nicht mehr aus.« »Schon gut«, meinte Cliff. »Niemand versteht dich besser als ich.« Schweigend betrachteten sie den Teil der Stadt, die unter ihnen lag. Es gab nur wenige harte Schatten; alle Gebäude lagen unter der sengenden Sonne des Mittags. Die Rampe war leer, irgendwo im Schatten der Bäume waren einige Pferde der Nomaden angebunden. Von Barbaren bewacht und angefeuert, trugen Stadtbewohner die Inneneinrichtung eines Konstruktionsbüros in einer langen Schlange zu einem Wagen und verluden sie; ihre Stimmen schienen durch Licht und Sonne gedämpft zu werden. Das Gefühl des Unbehagens, das seit einem halben Tag die sechs Terraner erfüllte, wurde stärker. Wie eine tikkende Zeitbombe, fand der Kommandant. Sein Blick ging hinunter auf den Platz, über dem die ORION schwebte; ein diskusförmiger, funkelnder Gegenstand, fremd und irgendwie unheimlich. Cliff schrak zusammen, als er den harten Knall hörte. »Wer schießt da?« fragte Atan und stürzte zum Fenster. Er bedeckte die Augen mit der Hand und spähte umher.
Mario flüsterte heiser: »Das war kein Schuß. Nirgends ist Rauch zu sehen. Das war der Knall, mit dem ein Flugkörper die Schallgrenze durchstößt, und zwar in umgekehrtem Verhältnis, von Überschall zu unterschallschneller Fahrt.« Helga sagte mit Nachdruck: »Du phantasierst! Wer sollte hier umherfliegen?« Atan murmelte: »Die Sache wird immer unheimlicher.« Cliff zog die Schultern hoch und stand unbehaglich da, starrte hinunter auf die weißen Bauten der Stadt und dann, blinzelnd, hinauf in den Himmel. Die Sache wurde wirklich unheimlicher, denn auch andere hatten den Knall gehört – Menschen liefen in die Sonne hinaus und starrten nach oben. Dann sah die Crew, wie die Menschen winkten. Überflüssigerweise stellte Mario fest: »Sie winken!« »Vermutlich neuen Göttern«, erwiderte Cliff lakonisch und schwang sich über die Brüstung hinaus auf die Plattform. Zwischen einigen exotischen Gewächsen blieb er stehen und schaute in die schmerzende Lichtfülle. Plötzlich ging, ohne daß man eine Wolke erkennen konnte, ein kurzer Schatten über die Stadt hinweg. »Da ist etwas!« sagte Hasso. »Und zwar... ein Flugkörper.« Helga blieb dicht neben Ishmee stehen und starrte ebenfalls nach oben. Sie erkannte den Gegenstand zuerst und sagte: »Das ist nicht etwa ein Flugzeug der Barbaren oder ein Erzeugnis der Komputer, sondern ein riesiges
Schiff. Ein Raumschiff.« »Kugelförmig...«, stöhnte der Bordingenieur. »Und silbern!« ergänzte Atan. Mario de Monti faßte alle ihre unausgesprochenen Befürchtungen in einem Satz zusammen. Es klang unglaublich, aber so und nicht anders mußte es sein. »Als wir wegflogen, stand das Große Schiff unbeweglich über Australien. Jetzt schickt es sich hier zur Landung an. Wenn wir erfahren, aus welchem Grund dieser riesige Raumflugkörper ausgerechnet jetzt und hier an den Grenzen unserer Raumkugel landet, dann dürften alle offenen Fragen restlos geklärt sein.« Hasso stöhnte auf: »Dieses Raumschiff! Die Überraschung des Jahrhunderts. Das Große Schiff hier auf diesem Planeten!« Unter ihnen füllten sich die Straßen, die Fenster und die Plätze. Die Nomaden galoppierten aufgeregt hin und her, die Stadtbewohner schrien und winkten. Zum zweitenmal innerhalb von zwölf Tagen landeten Götter von den Sternen. »Tatsächlich!« Am Himmel erschien jetzt eine ungeheuer große silberne Kugel. Sie verdunkelte die Sonne, so daß der Palast im Schatten lag. Die Terraner drängten sich eng aneinander, als suchten sie Schutz. Die Kugel wurde größer, kam näher und bremste ab. Ihre furchtbare, drohende Bewegung hielt an, und etwa einen Kilometer über dem Zentrum der Stadt hing das Raumschiff unbeweglich in der Luft. Dann geschah lange gar nichts, und die Unruhe, die Furcht vor etwas gänzlich Unerwartetem wuchsen. »Was jetzt?« flüsterte Cliff. Mario sah zu Boden und schlug dann die Hände
vor das Gesicht. »Ich erinnere mich...«, murmelte er undeutlich. »Woran?« »Prüfung.« Hasso fuhr auf. »Was redest du da für einen Unsinn, Mario? Prüfung? Welche Prüfung? Wer soll hier geprüft werden? Höchstens dein Verstand, junger Freund.« Plötzlich erstarrten sie. Hinter ihnen sagte eine laute Stimme voller Autorität: »Keineswegs. Mario hatte recht. Ihr solltet geprüft werden, und ihr wurdet auch geprüft.« Cliff merkte, wie beim Klang dieser Stimme die Erinnerungen bruchstückweise zurückkamen. Er kannte diese Stimme, kannte den Mann, der so sprach, und wußte genau, wie er aussah. Jetzt fiel ihm auch ein, wie dieser Mann hieß. Er drehte sich langsam um und erwartete, eine bestimmte Person zu sehen. Einen alterslosen Mann mit violetten Augen. Plötzlich hörte er sich selbst sagen: »Du bist Zeupter, nicht wahr?« Er sah den Fremden an. »Ja, ich bin Zeupter. Alles ist vorbei.« Cliff hob die Augen und blickte sein Gegenüber voll an. Das Bild, das er verwirrt wahrnahm, paßte genau in seine Erinnerungen. Dunkelrote Augen; in diesem Punkt hatte die Erinnerung versagt, goldfarbenes Haar, das jetzt seltsam stumpf wirkte, am rechten Handgelenk ein auffallend breites Armband. Das Gesicht voller Alterslinien wirkte noch immer und jetzt gerade, in der Helligkeit, sorgfältig konserviert. Nacheinander drehten sich jetzt die anderen um
und kamen langsam naher. Zeupter sagte ruhig: »Der Test ist vorbei.« Cliff atmete tief durch. Dann kam er zu sich, denn wieder war die Situation nicht entsprechend. Die Stadt in seinem Rücken – plötzlich ebbte das Schreien ab, hörten die klappernden Hufe mit ihren harten Lauten auf, kam Ruhe über alles. Die Menschen schienen sich zurückzuziehen, die gigantische Komödie war vorbei. Nacheinander brach das Gebäude ein, das vor einiger Zeit in ihnen allen aufgerichtet worden war. Wamsler, T.R.A.V., die 900-Parsek-Raumkugel, die Befehle... es war nicht wirklich. Das Fornax-System war nun wieder die Wirklichkeit, das System der vierzig Planeten und die letzte große Prüfung, mit deren Ergebnissen sich die Dara vergewissern wollten, ob die Botschafter zwischen den Sternen auch würdig waren. Cliff dachte plötzlich an den Alkohol, an die Tage des süßen Nichtstuns, an die Träume und die Jagd, und ein brennendheißes Gefühl der Scham überkam ihn. Er starrte Zeupter in die Augen und fragte heiser: »Der Test ist vorbei. Ja. Aber haben wir bestanden?« Niemand wagte zu atmen. * In die Stille hinein, die in dem prunkvollen Raum des Palastes herrschte, in die Dämmerung hinter den geschlossenen Vorhängen sagte der uralte Dara: »Ich weiß, wir haben euch schlimm mitgespielt. Aber nur ein außergewöhnlich guter Verstand –
euer Verstand! – hält eine solche Belastung aus. Ihr wurdet, nachdem wir uns auf der Insel unterhalten hatten, betäubt und in euer Schiff gebracht. Die ORION startete und landete auf dem zehnten Planeten unseres Systems. In diesem Moment wurdet ihr wach. In eurem Gedächtnis war die Zeit seit dem Start des Großen Schiffes in der Nähe eures Heimatplaneten ausgelöscht worden. Ihr begannt hier ganz von vorn. Alles war Neuland für euch.« Mit unvermutetem Ernst sagte Mario de Monti: »Wirklich – alles war Neuland. Und wir wurden als Götter von den Sternen empfangen.« Zeupter erwiderte im gleichen Tonfall: »Ein ganzer Erdteil arbeitete zusammen. Sämtliche Anpassungsgemeinschaften waren ununterbrochen tätig. Bis auf wenige Einzelheiten ist die Stadt Kulisse.« Mario beugte sich vor und sagte: »Die kybernetisch gesteuerten Maschinen, nicht wahr?« »Ja. So war es. Ihr habt ganz zu Anfang einen winzigen Fehler gemacht. Ihr begannt ohne Konzept zu handeln; ihr ließt euch in den Palast bringen. Das war die erste Falle, die wir aufgebaut hatten. Hättet ihr die Zeit noch weiter ausgedehnt, dann wäret ihr niemals auf alle die Ideen gekommen, auf die sich euer Vorgehen jetzt stützt. Mario de Monti hat durch sein Handeln die Situation gerettet. Dies war der unwiderruflich letzte Trick – ihr habt bestanden. Alles, was ihr in die Wege leitetet, um diese rund drei Millionen Dara zu evakuieren, war richtig. Ebenfalls war die Art richtig. Indem ihr die sogenannten Barbaren, die sehr gern mitgespielt haben,
gegen die angeblichen Stadtbewohner aufhetztet, habt ihr die Ereignisse beschleunigt. Die Panik in den Komputern werden wir beseitigen müssen. Der lange, komplizierte Test ist beendet.« »Wenn ich nicht ganz irre«, sagte Helga Legrelle kühl, »war die Rede, daß wir für eine besondere Mission ausgesucht worden sind. Wie steht es damit, weiser und alter Zeupter?« Zeupter deutete in einer langsamen Bewegung auf die sechs Terraner und sagte in einem Tonfall, der jeden Zweifel ausschloß: »Ihr seid jetzt Botschafter zwischen den Dara und den Terranern.« Helga Legrelle ließ nicht locker. »Wie ist das dokumentiert? Bekommen wir eine Handvoll Orden, höheren Sold oder ein schönes Pergamentschriftstück mit deiner Unterschrift?« Zeupter lächelte leicht. »Ihr werdet jetzt dorthin zurückkehren, woher wir euch geholt haben.« Cliff murmelte: »Zurück zur guten, alten Erde!« »Nur wird diese Erde nicht besonders gut sein, wenn ihr sie betretet«, versprach der Dara unbewegt. »Wir, die alle unsere ausgestreuten Rassen ständig beobachtet haben, wissen, daß der Erde Gefahren drohen. Und zwar nicht Uraceel oder Angreifer aus den Tiefen des Alls, sondern eine Gefahr, die von innen kommt. Ihr habt alles bei euch, um diese Gefahren ausschalten zu können. Das, was Dara einst taten, werdet nun ihr tun.« Cliff deutete auf sich und seine Freunde und fragte verblüfft:
»Wir sechs? Die ORION-Crew?« »Ja. Ihr seid nicht ohne Grund von der Erde entführt worden Nicht ohne Grund haben wir euch in einen Kampf mit der; Uraceel verwickelt, den ihr für uns ausgefochten habt wie es niemand hätte besser machen können. Und nicht grundlos habt ihr diesen Test als letzten einer unendlich langen Reihe bestanden. Ihr seid die Elite der irdischen Raumfahrer. Jedenfalls wissen wir Dara dies genau. Wenn ihr selbst noch skeptisch seid... um so besser.« Ishmee legte ihren linken Arm um Cliffs Hüfte und sagte zu Zeupter: »Wir beherrschen, wenigstens hier im System, die Fähigkeit des Kynuroy, also das Verändern von Gegenständen in der Nähe von Anpassungsgemeinschaften. Unser Verstand wurde durch den dauernden Kontakt mit euch und den Planeten geschärft, obwohl wir manchmal der Überzeugung waren, daß der gegenteilige Effekt eingetreten wäre. Aber wir haben jetzt mehr als zwei Monate lang Bishayr gesucht.« »Ihr habt es gefunden«, bestätigte Zeupter und lachte kurz. »Es«, sagte Mario. »Es! Also war es wirklich ein Prinzip und kein Dara oder keine Einrichtung. Wo haben wir es?« »Ihr habt es so, wie die Dara es besitzen und anwenden«, bestätigte der Alte. »Verdammt!« sagte Mario de Monti aufgebracht. »Wo ist Bishayr? Was ist Bishayr? Wie wenden wir es an? Es sollte doch schließlich ein Ende mit diesem idiotischen Rätselraten gemacht werden.« Er war aufgesprungen und stand jetzt wütend vor
Zeupter, der entspannt in dem riesigen Sessel lag und durchaus menschlich grinste. »Freund Mario«, sagte er halblaut, »ich bin der letzte, der euch eine Freude über eine Erkenntnis nicht gönnt. Glaube mir ein letztesmal blind. Ihr werdet eines Tages feststellen, wie gut und wie schnell Bishayr wirkt. Es ist eine Eigenschaft, die ihr in den sechzig Tagen eures Aufenthaltes hier erworben habt... etwa so, wie die Sonne jemanden langsam bräunt.« Cliff erkundigte sich: »Was können wir mit Bishayr anfangen?« »Vermutlich Spring-Brauner schneller beleidigen«, sagte Atan Shubashi und schlug die Beine übereinander. »Ich geb's auf!« Zeupter sagte kurz: »Dies war ein gutes Beispiel, Atan.« Jetzt war die Reihe an Cliff, überlegen zu grinsen. »Ich weiß jetzt ungefähr, was Bishayr ist. Auf alle Fälle für uns sechs ein unschätzbarer Vorteil. Seht einmal nach draußen, Freunde!« Sie taten es. Der Palast stand noch ferner stand die Rampe, und die Bäume unten auf dem Platz waren ebenfalls noch an ihrem Platz. Aber die meisten Bauten, besonders die prunkvollen Fassaden der Hauptstraße waren verschwunden. Vor ihnen löste sich ein Gebäude nach dem anderen auf, und auch der riesige Kommandoturm aus stählernen Bauteilen hinter der Stadt war nicht mehr vorhanden. Der Koloß des Großen Schiffes und die kleine, diskusförmige ORION VIII befanden sich noch an Ort und Stelle, und hinter der Kugelwandung des Schiffes kroch langsam die Sonne
hervor und überschüttete die leere Fläche – die einstige Stadt, in der zwei Millionen Dara gelebt hatten – mit ihrem gelbweißen Licht. Majestätisch langsam segelte eine Wolke über den Himmel. Ein Zug von etwa fünfzig Nomaden galoppierte von links nach rechts, dem Horizont zu. Der Planet verwandelte sich wieder in den Zustand zurück, in dem er vor der Ankunft der Terraner gewesen war. Drei Millionen Dara oder mehr, die genaue Zahl spielte jetzt keine Rolle mehr, lebten auf der runden, tellerförmigen Fläche des Großkontinents. Cliff wandte sich vom Fenster ab und murmelte: »Wieder eine Illusion weniger. Was soll jetzt geschehen, Zeupter? Du sprachst von einer Gefahr, in der die Erde schwebt.« »Sie wird existieren, wenn ihr ankommt«, sagte Zeupter. »Ich brauche euch nicht zu bitten, diese Gefahr zu beseitigen – ihr werdet handeln wie hier, vielleicht auch nach einigen unbedeutenden Rückschlägen oder Irrtümern. Ihr werdet die Erde retten. Ihr solltet jetzt...« Hasso Sigbjörnson hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, faßte an den Kolben der Gasdruckwaffe und fuhr entschlossen fort: »Wir sollten uns jetzt von dir verabschieden, die ORION in das Große Schiff bugsieren und Heimatkurs einschlagen. Richtig?« Zeupter nickte. »Dann sollten wir die Maschinen einschalten. Ich vermute, der genaue Kurs ist bereits in den Steueranlagen programmiert? Der Kurs zur Erde?« Wieder nickte Zeupter. »Und was weiter? Kommen wir nach Erledigung
dieser Erdenrettungsaktion wieder hierher zurück?« Jetzt stand Zeupter auf und streckte Hasso die Hand entgegen. »Das weiß nicht einmal ich. Aber ihr kennt jetzt den Weg, die Zeit und die Koordinaten. Ihr könnt jederzeit zurückkommen. Wie gesagt – niemand weiß, was nachher sein wird.« Hasso und Zeupter schüttelten sich die Hände, und der Bordingenieur drückte so fest zu, daß der Dara schmerzhaft das Gesicht verzog. Er wandte sich an den Kommandanten: »Cliff, bisher warst du der beste Freund und der beste Vorgesetzte deiner Männer, wenn auch Hasso klüger und älter, Mario stärker und ausdauernder ist... aber die meisten optimalen Fähigkeiten vereinst du auf dich. Weiter so wie bisher!« Während sie sich die Hände schüttelten, sagte Cliff grinsend: »Danke, Papa Zeupter, für dieses Sonderlob.« Der Dara verabschiedete sich von Ishmee, von Helga und von Atan, dann schlug er Mario auf die Schulter und sagte: »Ihr werdet viel Mut, List und auch Glück brauchen, wenn ihr die Gefahren der Erde beseitigt und darüber hinaus auch diejenigen, in denen die Raumkugel, durch die Erde in Gefahr gebracht, schweben wird. Ich weiß, daß euer Flug gut und schnell sein wird. Viel Glück.« Cliff nickte. »Es hätte mich förmlich entsetzt«, sagte er leise, »wenn er mit uns zusammen den Palast verlassen hätte. Wie immer: einfach verschwunden.«
Als sie die breite, leere Rampe hinuntergingen, sagte Atan verächtlich: »Kynuroy – letzte Chance!« Hasso fragte: »Wie?« Atan deutete mit dem Daumen über die Schulter und sagte giftig: »Dieser pseudoklassizistische Plunder dort hinten, dieser Palast für die Götter von den Sternen! Ich denke ihn einfach weg! Weg, Palast, huschhusch!« Als sie sich umdrehten und hinter sich schauten, verschwand das riesige Gebäude plötzlich und lautlos. Ein Windstoß zerzauste ihr Haar. Sie gingen weiter. * Die nächsten Handgriffe liefen mit der gewohnten Präzision langer Routine ab. ORION VIII... Unter ausgesprochen lustigen und fröhlichen Bemerkungen enterten die sechs Terraner ihr Schiff, zogen den Zentrallift ein und schwebten nach einem kurzen Test hinauf in das riesige Raumschiff. Sie betraten, nachdem die ORION in der Einflugschleuse festgemacht hatte, ohne Raumanzüge die Schleuse und gingen durch die Korridore, bis sie den dreieckigen Raum erreichten. Dort war die gewaltige Stahlblechplatte noch immer durchsichtig. Cliff blieb davor stehen, blickte das Bild an und sagte ergriffen: »Abschied von diesem Planeten.«
»Und darüber hinaus auch vom System der vierzig Planeten und unseren Urahnen. Wir werden sie sehr vermissen. Besonders ich – ich träume noch jetzt, oder jetzt erst recht –, denn ich bin ja beinahe wegen Hexerei hingerichtet worden.« Cliff umarmte Helga und deutete auf die Rückwand des Raumes. »Während das Große Schiff sich in Bewegung setzt, während wir zusehen, wie wir aus diesem System starten, sollten unsere beiden Mädchen sich bemühen, einen festlichen Kaffee zu kochen. Dazu gibt es terranischen Whisky, der keinerlei dämonisierende Wirkungen hat.« Helga grinste: »Wende Kynuroy an!« empfahl sie Cliff. »Dann kannst du dir deinen Kaffee so stark wünschen, wie du ihn haben willst. Meinetwegen bis zum Herzschlag.« Cliff breitete die Arme aus und sagte anklagend: »Immer diese Frauen. Der berühmte weibliche Instinkt ist das deutliche Ergebnis von mehr als zehntausend Jahren des Nichtdenkens. Warum? Weil gewünschter Kaffee niemals so gut schmeckt wie ein solcher, den eine liebende Hand zubereitet. Es ist einfach viel würdevoller!« Hasso schob Helga an den Schultern auf die Kaffeemaschine zu und sagte drohend: »Koche mit Würde! Aber koche, Weib! Jetzt herrschen wieder normale, reaktionäre Verhältnisse.« Während das Große Schiff Fahrt aufnahm und rasend schnell das seltsame System verließ, schickte sich Helga in das Unvermeidliche. Sie öffnete einen Vakuumbehälter, schüttete die
Bohnen in die automatische Mühle und den gemahlenen Kaffee in den komplizierten Filter. Dann grinste sie, nahm die doppelte Menge und sagte leise: »Ihr werdet vergebens versuchen, einzuschlafen. Bis zur Landung auf der Erde werdet ihr Herzklopfen haben.« Wenn die Funkerin geahnt hätte, was die Mannschaft auf der Erde erwartete, hätte sie schon jetzt Herzklopfen bekommen. Das Große Schiff beschleunigte und nahm Kurs auf die heimatliche Galaxis.