Seewölfe 196 1
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Burt Frederick 1.
Die Furcht hielt sie gepackt, und diese Furcht war wie eine unbarmherzige Faust, die ihren Griff niemals lockern würde. Sie spürte, daß sie dem Grauen nicht entrinnen konnte. Nicht heute und nicht bis ans Ende ihrer Tage. Es war in ihr und hatte von ihr Besitz ergriffen. Weiße Wolkenberge trieben in majestätischer Formation vor dem leuchtenden Blau des Himmels. Es hieß, daß die Götter freundlich gesinnt seien, wenn sie in solchen Wolken ruhten, und daß sie wohlwollend herabschauten, sobald sich jene Wolken strahlend weiß zeigten. Es beflügelte Moana zu einer Hoffnung, die ihrer Angst ebenbürtig wurde. Geschickt steuerte sie das kleine Auslegerboot, dessen Segel sich im Wind blähte. Hellgrün leuchteten die Korallenbänke in den kristallklaren Fluten der Lagune. Das Boot glitt wie auf einer gläsernen Fläche dahin, die sich gütig von dem schmalen Rumpf zerschneiden ließ. Der Ausleger schien auf dieser Fläche zu schweben. Moana kauerte vor dem Ruder und hielt es fest wie den letzten Reichtum, den ein Mensch in seinem Leben besitzt. In ihrer linken Hand lag die aus Bast geflochtene Schot, mit der sie die Segelstellung korrigieren konnte. Sie kannte das Riff. Zielsicher hielt sie auf das natürliche Tor zu; das ihr den Weg in die Freiheit öffnen würde. Wohin? Erneut trieb die Furcht einen eisigen Schauer über ihren braungebrannten und gertenschlanken Körper. Wohin? schrie eine Stimme in ihr. War es nicht eine endlose Weite, in die sie floh? Gab es überhaupt eine Welt außerhalb jener Welt, die sie kannte und die sie nun zurücklassen mußte? Nein, selbst die Dorfältesten hatten niemals davon berichtet. Das Meer war weit, und Kahoolawe, Moanas Heimat, war der Mittelpunkt des Meeres. Niemals hatte ein Fremder die Insel betreten — bis auf den einen, der nun ihr König war. Aber ihn hatten die Götter
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geschickt, und die Götter waren in seiner Begleitung gewesen, als er sich auf Kahoolawe niedergelassen hatte. Er war aus dem Nichts erschienen. Doch gab es ihr, Moana, das Recht, in diesem Nichts nach einem Zufluchtsort zu suchen? Sie wußte, daß sie nicht selbst die Antwort auf diese Frage finden würde. Aber die Götter waren ihr freundlich gesinnt. Sie hatten ihr die Flucht ermöglicht, und sie begleiteten ihren Weg mit friedlichen weißen Wolken. Moana wußte dieses Zeichen zu deuten, das ihre Zuversicht wie eine schutzbedürftige kleine Flamme am Leben erhielt. Keinem anderen Mädchen von Kahoolawe war es gelungen, seinem Schicksal zu entrinnen. Namens der Götter hatte König Charangu den Tribut gefordert, der immer dann zu leisten war, wenn der Mond seine volle Größe erreichte. Charangu erfüllte nur seine Pflicht, das hatte er stets beteuert. Und er hatte nicht einmal selbstherrlich seine Entscheidung getroffen. Er hatte die Menschen von Kahoolawe bestimmen lassen. Dieses Mal war die Wahl auf Moana gefallen. Als das schönste aller Mädchen auf Kahoolawe war sie den Göttern geweiht worden. Gemeinsam mit der Sonne dieses Tages hatte sie untergehen sollen — untergehen im feurigen Schlund des Berges Kuolai. Dann, so hatte Charangu verkündet, durften die Menschen wieder für einen Mond in Frieden leben. So wollten es die Gesetze, gegen die sich niemand auflehnen durfte. Moana begriff noch immer nicht, warum ausgerechnet sie in dieser Nacht die Fesseln abgestreift hatte und aus der Opferhütte geflohen war. In einem Versteck am Strand hatte sie den Tagesanbruch abgewartet. Vielleicht, so sagte sie sich, gefiel den Göttern zum ersten Mal die Entscheidung nicht, die von den Menschen getroffen worden war. Vielleicht war das der Grund, warum sich ihre Fesseln gelockert hatten. Und wenn es so war, dann mußten die geheimen Mächte, die sich mit freundlichen weißen Wolken zeigten, eine
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Bestimmung für Moana haben. Dann hatte diese Flucht einen tieferen Sinn. Trotz der frühen Tageszeit spendeten die Sonnenstrahlen schon wohlige Wärme, die auch der frische Seewind nicht zu vertreiben vermochte. Moana sah das Tor im Riff jetzt deutlich. Das Donnern der Brandung schwoll an, je mehr sie sich dem Korallenriff näherte. Jenseits der Brandung, die Kahoolawe wie ein weißleuchtender Ring umgab, war das Meer tief blau und ruhig. Die Wasser außerhalb des Riffs waren für Moana und ihre Gefährtinnen stets tabu gewesen, auch wegen der Gefahren, die dort lauerten. Daß sie nun durch nichts zurückgehalten wurde, in das verbotene Meer vorzudringen, war ihr ein weiterer Beweis dafür, daß die Götter ihren Weg wohlmeinend begleiteten. Die Wogen der Brandung erfaßten das Auslegerboot, als es in rascher Fahrt durch das Tor des Riffs glitt. Moana klammerte sich fest und überstand die tanzenden Bewegungen des Bootes unbeschadet. Dann, als die See ruhiger wurde, atmete sie auf und wagte einen Blick zurück. Der Schreck traf sie wie ein todbringender Stich. Deutlich zeichnete sich das große Kanu vor dem weißgoldfarbenen Strand und den Palmen ab, die sich im Wind wiegten. Das Entsetzen verursachte in Moana einen körperlich spürbaren Schmerz. Sie fühlte ihr Herz, das gegen die Rippen zu hämmern schien und wilde, unkontrollierte Sprünge vollführte. Schweißperlen, die auch der milde Seewind nicht fortzuwischen vermochte, traten auf die braungebrannte Gesichtshaut des Mädchens. Nur unter großer Anstrengung gelang es ihr jetzt noch, das Boot auf Kurs zu halten. Das Zittern, das ihren ganzen Körper erfaßte, wurde übermächtig. Also hatte sie zu früh frohlockt! Ihre Flucht war nicht unbemerkt geblieben. Mit welchem Recht hatte sie erwartet, daß sie unbeobachtet in die Endlosigkeit verschwinden konnte? Hatte es den Göttern nicht vielmehr gefallen, sie von einem Trugschluß in den anderen zu
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stürzen? Nur um ihr zu beweisen, wie erbärmlich und unbedeutend ihr kleines Menschenleben war? Und nun war es Charangu persönlich, der auf dem Weg war, sie zurückzuholen. Krampfhaft versuchte Moana, sich zu beruhigen. Die Entfernung war viel zu groß. Kein gezielter Pfeil, kein geschleuderter Speer und kein Messer konnten sie erreichen. Und der Wind war ihr Freund. Der Wind! Was geschah, wenn er sie im Stich ließ? Neue Angst stieg wie eine aufwallende Glut in Moana empor. Charangu war auf die Kraft des Windes nicht angewiesen. Mehr als zwanzig Männer hatte er in seinem Kanu zur Verfügung. Muskulöse Männer, deren Kräfte nicht so rasch versiegten. Ihre Paddel peitschten das Wasser, als wollten sie es dafür strafen, daß es dem Mädchen die Flucht ermöglichte. Trotz der Entfernung konnte Moana jede Einzelheit erkennen. Ihre Augen waren jung und ungetrübt. Charangu stand aufrecht im Heck des Königskanus. Seine blaue Kopfbedeckung leuchtete im Sonnenlicht, und der wallende Umhang schien goldene und purpurne Funken zu sprühen. Die Hände des Königs von Kahoolawe ruhten auf jenem brusthohen Stab, den er als Zeichen seiner Würde stets bei sich trug. Und er befand sich in göttlicher Begleitung! Guao hatte sich auf Charangus Schulter niedergelassen. Ein untrügliches Zeichen für die Gunst, die Charangu genoß. Denn Guao war der Gott, dem alle untertan sein mußten. Letztlich auch jene, die sich vielleicht aus einer Laune heraus auf Moanas Seite gestellt hatten. Sie würden alle gestraft werden für die Eigenmächtigkeit, die sie sich herausgenommen hatten. Denn Guao, dieses greise Wesen aus einer unbekannten Welt, zeigte ein grausames und unerbittliches Gesicht. Das sah Moana überdeutlich.
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Sie war versucht, aufzugeben. Denn sie wußte jetzt, daß sie keine Chance hatte. Von stählerner Muskelkraft getrieben, schoß das Königskanu geradezu pfeilschnell über das Wasser. Während sie es beobachtete, hatte Moana das Gefühl, daß ihr eigenes Boot immer langsamer wurde. * „Deck!“ Bills Stimme erscholl so hell und klar, daß er selbst die in hundert Faden Tiefe schlummernden Meerjungfrauen damit zu wecken vermochte. „Deck! Wasserfahrzeug Steuerbord voraus!“ Die Männer auf der Kuhl und auf der Back wurden lebendig. Dank der warmen Morgensonne genossen sie es, ihr Frühstück unter freiem Himmel einzunehmen. Ein Vorzug, den -sie während ihrer Reise durch die eisigen nördlichen Breiten allzu lange entbehrt hatten. Arwenack, der Schimpanse, schwang sich mit einem Satz auf das Schanzkleid und hangelte mit eben jener Geschwindigkeit in den Backbordwanten auf, die man seiner und seiner Artgenossen Fähigkeiten zufolge als „affenartig“ bezeichnete. Als er den Moses im Großmars erreichte, stieß er ein helles Keckern aus. Edwin Carberry, der bullige Profos, rappelte sich von einer Taurolle auf und stemmte seine mächtigen Pranken in die Hüften. Im Gegensatz zur übrigen Crew spähte er nicht in die Richtung, die der Moses angegeben hatte. Stattdessen warf Carberry den Kopf in den Nacken und starrte zum Großmars hoch. In der wilden Narbenlandschaft seines Gesichts lag ein Ausdruck von Fassungslosigkeit. „He, du Stint!“ brüllte er mit Donnerstimme. „Was habe ich da eben gehört, was, wie?“ „Sir?“ tönte es zurück. Bills schwarzer Haarschopf wehte in der lauen Brise, als er sich herabbeugte.
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Die Männer, die am Steuerbordschanzkleid lehnten und außer der platten Linie der Kimm noch nichts erkennen konnten, drehten sich um und mußten grinsen. „Wiederhole das, du Hering!“ rief der Profos grollend. „Will doch mal sehen, ob ich mich verhört hab oder so was!“ „Sir“, antwortete Bill gehorsam, „ich meldete ein Wasserfahrzeug Steuerbord voraus.“ „Ein was?“ schnappte Carberry, und wie er sein Rammkinn dabei vorschob, erinnerte er an einen verdutzten Fisch, der sich plötzlich auf dem Trockenen findet. Einige der Männer begannen verstohlen zu kichern und mußten sich abwenden. Bill bemühte sich, nicht hinzuschauen, denn er wußte, daß es ihm dann schwerfallen würde, seine respektvolle Miene beizubehalten. „Ein Wasserfahrzeug, Sir.“ Edwin Carberry explodierte. Der erste willkommene Anlaß an diesem Tag, daß er sich auf diese Weise die Luft verschaffen konnte, die ihm am liebsten war. „Wo, zum Teufel, bin ich hier gelandet, was, wie? Ist das die gottverdammte alte ‚Isabella', oder haben sie mich in einen Debattierclub piekfeiner Affenärsche aufgenommen? Kannst du mir das mal erklären, Stint?“ „Ich verstehe nicht, Sir“, entgegnete Bill konsterniert, „ich habe doch nur ...“ „Du salbaderst so geschraubt daher“, brüllte Carberry, „daß ich glauben muß, ich bin nicht mehr ich selbst! Eins schreibe dir hinter die Ohren, du grüner Hering! Solange der Profos auf diesem Schiff Carberry heißt, so lange wird hier an Bord die Sprache geredet, die jeder versteht!“ Er preßte die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und äffte den Moses nach: „Wasserfahrzeug! Ein Wasserfahrzeug Steuerbord voraus! Was, in drei Teufels Namen, kann das sein, das auf dem Wasser fährt?“ Der Kutscher, der seine brütend-heiße Kombüse an diesem Tag frühzeitig verlassen hatte, trat vorsichtig auf den Profos zu.
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„Mit Verlaub, Mister Carberry“, sagte er in vornehmer Höflichkeit. „Du solltest dich nicht dazu hinreißen lassen, den jungen Mann wegen seiner untadeligen Ausdrucksweise zu rügen.“ Der Profos ruckte herum, schnappte nach Luft und suchte nach Worten. Dabei fixierte er den Kutscher, als handele es sich bei ihm um ein fremdartiges Wesen. „Ja, du hast richtig gehört, Profos“, sagte der Kutscher mit ernsthaftem Nicken. „Ich persönlich halte es für sehr lobenswert, wenn junge Menschen sich einer gepflegten Sprache befleißigen. Ich selbst habe Bill dazu ermutigt und ihm mit Hilfe der an Bord vorhandenen Literatur erklärt, wie man auch in der seemännischen Umgangssprache ein gewisses Niveau erreichen kann und ...“ „Schluß damit!“ schnitt ihm der Profos schnaubend das Wort ab. Er hatte seine Fassung halbwegs wiedergewonnen. „Das sieht dir ähnlich, du Kombüsenratte! Wenn du über deinen Kochtöpfen brütest, hast du nichts Besseres zu tun, als krause Gedanken zu wälzen! Und dann auch noch unsere jungen Leute verderben! Ich werde dafür sorgen, daß dieser Schwachsinn aufhört! Ich werde ...“ Eine energische Stimme fuhr dazwischen. „Profos! Ihr werdet eure Debatte später fortsetzen! Im Augenblick interessiert es mich mehr, um was für ein Wasserfahrzeug es sich handelt. Eure Sprachprobleme könnt ihr bei anderer Gelegenheit lösen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“ Der Kutscher, der unwillkürlich zwei Schritte zurückgewichen war, atmete erleichtert auf. „Aye, aye, Sir“, sagte Edwin Carberry dumpf und nickte in Richtung Achterkastell. „Ich meine ja nur, daß ein Fahrzeug immer ein Ding ist, das Räder hat. Und wie soll ein Ding mit Rädern auf dem Wasser fahren können? Will sagen, man kann es doch nicht zulassen, daß der Kutscher den Leuten mit irgendwelchen Bücherweisheiten den Kopf verdreht. Nachher führt das noch so weit, daß wir eine spanische Kriegsgaleone auf
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Kollisionskurs haben, und der Ausguck meldet einen Kutschwagen!“ Brüllendes Gelächter ertönte. Die Männer wollten sich ausschütten. Der Seewolf, der sich an Steuerbord der Schmuckbalustrade aufgebaut hatte, brachte sie mit einer Handbewegung zum Verstummen. In der Rechten hielt er das Spektiv, und er hatte das besagte Wasserfahrzeug bereits gesichtet und war deshalb nicht in Unruhe geraten. Siri-Tong, die neben ihm stand, verfolgte lächelnd den Wortwechsel der Männer. „Profos!“ rief Philip Hasard Killigrew schneidend, und er hoffte, daß das unterdrückte Lächeln in seinen Mundwinkeln dort unten auf der Kühl nicht zu erkennen war. „Sir?“ Edwin Carberry straffte seine Haltung. „Wir erledigen die Angelegenheit folgendermaßen, Profos. Sobald der Ausguck abgelöst worden ist, wirst du ihm und dem Kutscher erklären, was ein Fahrzeug ist und was nicht. Über das Ergebnis dieser Unterrichtsstunde möchte ich informiert werden. Noch Fragen?“ Edwin Carberry schluckte trocken. „Nein, Sir. Aye, aye, Sir.“ Während er sich abwandte, kratzte er sich ausgiebig am Hinterkopf, was ein Zeichen heftigen Nachdenkens war. Die Männer, die am Schanzkleid standen, spähten angestrengt zur Kimm, damit der Profos ihre Gesichter nicht sehen konnte. Der Seewolf wechselte einen Blick mit Siri-Tong. Die mandelförmigen, fast schwarzen Augen der Roten Korsarin sprühten belustigte Blitze. Ihrer Gewohnheit entsprechend, waren die beiden oberen Knöpfe ihrer roten Bluse geöffnet. Das schwarze Haar floß seidig schimmernd bis auf ihre Schultern, und ihre samtene Pfirsichhaut hatte einen stärkeren Braunton angenommen, seit sie das paradiesische Klima der Südsee genossen. Siri-Tong trug blaue Schifferhosen und leichte Stulpenstiefel aus butterweichem Leder, die die atemberaubenden Formen ihres schlanken
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Körpers mit einem augenfälligen Akzent unterstrichen. Hasard hatte die Ärmel seines hellen Leinenhemds bis über die Ellenbogen hochgekrempelt. Vom Ledergurt aufwärts stand das Hemd offen, und es folgte der Linie, die sein Oberkörper von den schmalen Hüften bis zu den imposanten breiten Schultern vorzeichnete. Unter der leichten Kleidung zeichneten sich die mächtigen Muskeln des mehr als sechs Fuß großen Mannes ab, der sich als Seewolf einen wohlklingenden Namen auf den Weltmeeren erworben hatte. Der handige Nordwest, der die frühe Sonnenglut milderte, fächerte in Hasards schwarzem Haar. Seine klaren eisblauen Augen spiegelten die Unbestechlichkeit und Geradlinigkeit seines Wesens. „Ausguck!“ rief er mit metallisch klingender Stimme. „Sir?“ Bill reckte seinen schmalen Körper im Großmars. Hinter ihm turnte Arwenack keckernd von einer Seite des Mastkorbs zur anderen. „Würdest du jetzt so freundlich sein, uns zu erklären, mit welcher Art von Wasserfahrzeug wir es zu tun haben?“ Wieder stimmten die Männer Gelächter an, und diesmal grinste auch der Profos, der sich bis zum Kombüsenschott zurückgezogen hatte. Dank Hasards diplomatischen Geschicks verteilte sich der Spott nun gleichmäßig auf beide Seiten, und auch Edwin Carberry erhielt seinen Anteil an Schadenfreude. Denn der Kutscher wandte sich zur Seite und beschäftigte sich hingebungsvoll mit dem Aufkrempeln seiner Hemdsärmel, die ihm offenbar urplötzlich zu warm geworden waren. Und hoch oben lief Bill puterrot an. „Es handelt sich um ein Auslegerboot, Sir. Ein einmastiges Auslegerboot mit einem kleinen Lateinersegel.“ „In Ordnung“, sagte Hasard, „dann kümmere dich jetzt wieder um deine eigentliche Aufgabe.“ Er hatte es kaum ausgesprochen und war im Begriff, das' Spektiv ans Auge zu
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setzen, als Bills Stimme jäh in höchsten Tönen gellte. „Deck! Land in Sicht! Laaand in Sicht! Auslegerboot jetzt etwa fünf Kabellängen Steuerbord voraus, Kurs Südwest. Zweites Boot folgt auf demselben Kurs! Land Backbord voraus! Eine Insel, so scheint es ...“ Atemlose Stille breitete sich an Bord der „Isabella VIII.“ aus. Das Knarren und Ächzen der Takelage schien an eindringlicher Lautstärke zu gewinnen. Das Stichwort „Insel“ weckte gespannte Aufmerksamkeit in den Männern, denn sie waren auf der Suche nach einer Insel. Hatte es der Zufall gewollt, daß sie früher als erwartet auf das geheimnisvolle Eiland gestoßen waren? Zunächst aber schien sich dort etwas abzuspielen. Zwei Wasserfahrzeuge! Das Wort begann sich bei den Männern einzuprägen. Vielleicht deshalb, weil es so absonderlich klang und weil es ein Grinsen weckte. „Das ist eine Verfolgungsjagd!“ schrie der junge Dan O'Flynn, der immer noch die schärfsten Augen von allen hatte. Hasard hatte es im selben Moment festgestellt. Das Spektiv lieferte ihm ein gestochen scharfes Bild. Da war ein gertenschlankes Mädchen, allein auf einem Auslegerboot. Da war ein riesiges Kanu, das von etwa zwei Dutzend Männern vorangetrieben wurde, und da war eine Insel, hinter deren Palmenhainen bizarre Felsformationen wie eine düstere Wand aufragten. Wie die Zusammenhänge auch sein mochten, eins stand fest: Dieses Mädchen wurde von einer Übermacht bedroht, und das kleine Boot mit dem Segel war jetzt nur noch vier Kabellängen entfernt. Eine lächerlich: geringe Distanz für die schlanke Dreimast-Galeone, die von dem besten englischen Schiffsbauer nach modernsten Erkenntnissen konstruiert worden war. „Ben!“ Hasard ließ das Spektiv sinken und drehte sich um. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Ben Brighton, der Erste Offizier der „Isabella“, blickte ihn an.
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„Segel aufgeien lassen, Ben. Wir werden uns das aus der Nähe ansehen.“ „Aye, Sir, Segel aufgeien“, wiederholte Ben Brighton und trat an die Querbalustrade. Noch lief die Galeone unter Vollzeug vor dem Wind. Bens Befehlsstimme hallte über Deck. Die Männer gerieten in Bewegung. Arwenack flüchtete bis hinauf zum Masttopp, da ihm die plötzliche Wuhling unbehaglich war. Während die Männer die Segel aufgeiten, verlor die „Isabella“ zusehends an Fahrt. Hasard wandte sich dem Rudergänger zu. „Zwei Strich Steuerbord, Pete!“ „Aye, aye, Sir, zwei Strich Steuerbord“, wiederholte Pete Ballie und legte Ruder. Seine Fäuste waren so groß wie Ankerklüsen. Nachdem die Segel aufgegeit wären, ließ der Seewolf ein Beiboot klarmachen. Mittlerweile hatten sie sich dem kleinen Auslegerboot bis auf zwei Kabellängen genähert. Und mit dem neuen Kurs hielt die Galeone jetzt in ausrauschender Fahrt auf die Nußschale zu, deren rotes Segel ein deutlicher Orientierungspunkt war. „Sieh dir die beiden an“, sagte Siri-Tong lächelnd und deutete zum Vorkastell. Dort waren die Zwillinge aufgetaucht, die sich bis eben nicht hatten blicken lassen. Ihre Neugier hatte sie vermutlich an Deck getrieben. Die beiden Söhne des Seewolfs ähnelten sich äußerlich wie ein Ei dem anderen. Beide waren schlank und schwarzhaarig, hatten scharfgeschnittene Gesichter wie Hü-Vater. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Mit ihren acht Lebensjahren waren sie prachtvolle Burschen, auf die mittlerweile die gesamte „Isabella“-Crew stolz war. Hasard mußte grinsen, als er die Gesichter der Jungen sah. Ihre Münder waren dunkelrot verschmiert. Der Kutscher hatte in den letzten Tagen mehrere Töpfe voll Zuckersirup aus frischen exotischen Früchten gekocht. Wie es aussah, war ihm das in höchster Vollendung gelungen. Aber im Augenblick gab es andere Sorgen, als die Vorräte des Kutschers vor frivolen Fingern zu schützen.
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Moana war entsetzt über ihre eigenen Empfindungen. War es Angst, die sie wieder überwältigte? Oder war das grenzenlose Erstaunen stärker, das sie beim Anblick des riesenhaften fremden Bootes befiel? Auf jeden Fall ging eine seltsame Faszination von diesem schwimmenden Ungeheuer aus. Moana vermochte ihren Blick nicht davon loszureißen, und in ihrem ungläubigen Staunen vergaß sie alles, wovon ihre Gedanken bis jetzt bestimmt gewesen waren. Es mußte die Kraft der Götter sein, die ihre Sinne so sehr zu beeinflussen vermochte. Das mochte auch der Grund sein, weshalb Charangu an Bedeutung verlor. Bis eben waren das Königskanu und seine Besatzung für Moana noch übermächtig erschienen. Jetzt war es fast ein Nichts, verglichen mit diesem gigantischen Boot, das so freundlich aussah. Es waren die hellen Segel, die diesen Eindruck in ihr hervorgerufen hatten. Mit großen Augen beobachtete das Mädchen, wie die hellen Tücher zu den Querhölzern hin zusammenschrumpften. Dann schwenkte das Riesenboot unvermittelt herum und rauschte mit mächtigem Bug auf sie zu. Der Instinkt ließ Moana spüren, daß ihr die Menschen auf diesem Boot freundlich gesinnt waren. Denn dessen Erscheinen konnte kein Zufall und mußte vielmehr von den Göttern schon zu dem Zeitpunkt gelenkt worden sein, als sich ihre Fesseln während der Nachtstunden gelockert hatten. Moanas Angst wich endgültig der Zuversicht. Sie überwand sich, das eigene kleine Segel zu bergen, auch wenn es bedeutete, daß Charangu und seine Männer jetzt rascher aufholen würden. Ein mächtiger Gegenstand, der wie ein Kreuz aussah, rauschte vom Bug des Riesenbootes in die Fluten. Nur noch einen Steinwurf weit war es von Moana entfernt. Dann sah sie, wie ein kleineres Boot zu
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Wasser gelassen wurde, das immerhin aber noch mehr als doppelt so groß war wie ihr Auslegerboot. Fünf Männer waren es, die sich ihr näherten. Große, hellhäutige Männer mit unglaublich breiten Schultern. Sie bewegten ihr Boot auf andere Weise voran, als Moana es von Kahoolawe kannte. Sie saßen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, und sie benutzten die langen Paddel wie Hebel, deren oberes Ende sie in rhythmischen Abständen zu sich heranzogen. Vier der Männer brachten das Boot auf diese Weise in Fahrt. Der fünfte saß im Heck und hielt das Ruder. Sein Anblick verursachte ein Gefühl in Moana, das sie sich selbst nicht zu erklären vermochte. Etwas Beruhigendes ging von diesem großen Mann mit den schwarzen Haaren und den eisblauen Augen aus. Niemals hatte Moana von solchen Menschen gehört. In keiner der Geschichten, die die Dorfältesten erzählten, war von Wesen dieser Art die Rede. Doch wieder war es der Instinkt des Mädchens, der ihr sagte, daß es gute Menschen sein mußten. Noch einmal wandte sie sich um. Genugtuung erfüllte sie, als sie sah, daß Charangus Männer die Paddel langsam und zögernd führten. * Hasard richtete sich auf der Achterducht der Jolle auf. Dan O'Flynn, Sam Roskill, Luke Morgan und Stenmark pullten weiter. Das Auslegerboot dümpelte jetzt im schwachen Wellengang, Und in einer Kabellänge Entfernung nahte das große Kanu mit den Verfolgern heran, die jetzt offenkundig weniger Verbissenheit an den Tag legten. Das Mädchen war eine jener Schönheiten, wie Hasard und seine Männer sie schon auf der Insel Hawaii kennengelernt hatten. Schlank und zierlich, reichten ihr die schwarzen Haare bis weit auf den Rücken herunter. Ein hauchdünnes Etwas aus buntem Stoff war um ihren Körper geschlungen.
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Während sie herannahten, blickte Hasard in die großen mandelförmigen Augen, die flehentlich und hoffnungsvoll zugleich auf ihn gerichtet waren. Er gab den Männern ein Handzeichen. Sie holten die Riemen ein. Hasard schwenkte die Ruderpinne und steuerte die Jolle längsseits. Dan O'Flynn beugte sich nach außenbords, packte eine Strebe des Auslegers und zog die polynesische Nußschale heran. Stenmark stieß einen leisen Pfiff aus. Sam Roskill und Luke Morgan wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Die Schönheit des Mädchens war überwältigend. Hasard suchte die wenigen Brocken jener polynesischen Sprache zusammen, die er von der Insel Hawaii kannte. „Wir sind Freunde“, sagte er, „können wir helfen? Was ist geschehen?“ Das Mädchen blickte ihn verständnislos an. Ihr Blick hing an seinen Lippen, doch in ihren Augen las Hasard, daß sie kein Wort von dem begriff, was er sagte. „Wir kommen von Hawaii“, versuchte er es noch einmal, „wir haben dort gute Freunde.“ Immer noch dieser verständnislose und gleichzeitig fragende Blick. „Es hat keinen Zweck“, sagte Dan O'Flynn, der seine Augen nicht von dem Mädchen wenden konnte. „Sieht so aus, als ob sie hier eine ganz andere Sprache sprechen.“ „Und was ein Wasserfahrzeug ist, wissen sie bestimmt auch nicht“, sagte Luke Morgan und lachte glucksend. Die beiden anderen stimmten mit ein. „Ruhe!“ fauchte Dan O'Flynn. „Gleich gibt es sowieso Stunk.“ Er deutete zu dem Kanu, das bereits auf eine halbe Kabellänge herangenaht war. Das Mädchen wandte gleichfalls den Kopf und erschrak sichtlich. Es hatte den Anschein, als würde ihr plötzlich eine unangenehme Erinnerung wieder bewußt, die sie bis eben aus ihrem Bewußtsein verdrängt hatte. Sie gab sich einen jähen Ruck, turnte mit katzenhafter Gewandtheit über den
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Ausleger, vollführte einen federnden Sprung und kauerte unvermittelt auf der vordersten Ducht der Jolle. Gestikulierend begann sie zu reden. Ein nicht enden wollender Wortschwall sprudelte über ihre Lippen. Die Männer zuckten hilflos mit den Schultern, denn sie verstanden nichts von dem, was das Mädchen sagte. „Dan“, sagte Hasard schließlich mit einem Seitenblick zu dem herannahenden Kanu. „Versuch es mit der Zeichensprache. Verklare ihr, daß sie sich beruhigen soll und wir ihr helfen werden. Scheint so, als ob wir dazu doch etwas mehr Zeit brauchen.“ Er warf Luke Morgan einen aufgerollten Tampen zu. Die Männer vertäuten das Auslegerboot, damit sie es später ins Schlepp nehmen konnten. Mit Begeisterung übte sich der junge O'Flynn währenddessen in der Zeichensprache. Das Mädchen beobachtete seine Handbewegungen voller Staunen, aber dann glitt ein Leuchten des Verstehens über ihr schmales Gesicht. Hasard und die anderen hatten sich umgedreht. Dieses Wasserfahrzeug, das da auf sie zuglitt, war schon eine imposante Erscheinung. Mehr noch die Besatzung. Die Männer waren klein, dunkelhäutig und ungeheuer muskulös. Indessen wirkten ihre Mienen eher unbeteiligt als angriffslustig. Wilden Kampfeseifer schienen sie nicht an den Tag zu legen. Danach hatte die ganze Begegnung ohnehin von vornherein nicht ausgesehen. Im Grunde mußte es der gleiche freundliche Menschenschlag sein, wie ihn die Seewölfe auf Hawaii kennengelernt hatten. Denn sehr weit waren sie von jener großen Insel noch nicht entfernt. Der Bursche im Heck des Kanus sah allerdings höchst merkwürdig aus. Hasard und seine Männer konnten sich den Anflug eines Grinsens nicht verkneifen, obwohl sie ahnten, daß dieser seltsame Kerl Angst und Schrecken verbreitete. Zumindest das Verhalten des Mädchens ließ darauf schließen.
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Das Augenfälligste war unbestreitbar ein wohlgenährter alter Gibbon-Affe, der würdevoll auf der linken Schulter des Mannes thronte. Er selbst trug einen hellblauen Turban, der nur den Ansatz seines blauschwarzen Haupthaars erkennen ließ. Sein Gesicht war dunkelbraun, ohne Falten und von einem Vollbart umrahmt. Bekleidet war er mit einem Umhang aus wallender Seide, die in melierten Farben schimmerte. In Hüfthöhe war dieser Umhang mit geflochtenem Bast gegürtet. Ein Krummdolch mit kunstvoll ziseliertem Griff hing in einer Lederscheide an eben jenem Gurt. Die feinnervigen Hände des Mannes ruhten auf einem etwa brusthohen Holzstab, der mit Schnitzereien verziert war. Sein rechtes Handgelenk war mit einer Manschette aus einem etwa handtellerbreiten Eisenreif bewehrt. Bis auf etwa fünfzig Yards hatte sich das Kanu mittlerweile genähert, und die Männer verhielten in offenkundiger Unschlüssigkeit. „Sieht aus wie ein Inder, dieser Knilch mit dem Affen“, flüsterte Luk Morgan. „Richtig“, sagte Hasard leise, „er ist gekleidet wie ein Sikh.“ „Ist das was Besonderes?“ erkundigte sich Stenmark. „In Indien nicht. Eine kriegerische Sekte, soviel ich weiß. Sie haben mehrere strenge Regeln, an die sie sich halten müssen. Dazu gehört, daß sie nie ihr Haar schneiden. Sie rollen es zusammen und binden den Turban darüber. Außerdem müssen sie immer verteidigungsbereit sein. Deshalb haben sie sogar nachts ihren Dolch bei sich. Und dieses Stück Eisen am rechten Handgelenk gehört zu einer besonderen Kampftechnik, mit der sie ihren Gegner abwehren.“ „Himmel“, sagte Sam Roskill gedämpft, „mir wird angst und bange.“ Hasard lächelte. „Ich denke, ein paar höfliche Worte sind wohl angebracht.“ Er richtete sich auf und hob die rechte Hand zu einem freundschaftlichen Gruß. Das Mädchen kauerte auf der Ducht und verbarg das Gesicht zwischen den Armen.
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„Wir sind Engländer, und wir sind in friedlicher Absicht hier!“ rief der Seewolf. „Versteht ihr unsere Sprache?“ Die Polynesier blickten verständnislos. Der Inder hingegen ließ sich zu einem würdevollen Nicken herab, hob die rechte Hand nur knapp und ließ sie sofort wieder auf seinen Holzstab sinken. „Ich bin König Charangu, Herrscher von Kahoolawe.” Eine knappe Kopfbewegung zeigte an, daß damit die Insel gemeint war, die jetzt ungefähr eine Seemeile entfernt hinter seinem Rücken lag. Sein Englisch war korrekt, doch mit einem schauderhaften rollenden Akzent behaftet. „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew“, antwortete der Seewolf, „Kapitän der ‚Isabella VII.', die unter der Flagge Ihrer Königlichen Hoheit Elizabeth der Ersten von England, segelt.“ Charangu verzog keine Miene. England schien nichts Beeindruckendes für ihn zu sein, denn es lag am anderen Ende der Welt. Hier bestand die Welt aus weißgoldenem Strand, leuchtendgrünen Palmen und vulkanischem Felsgestein. Eine Welt, die sich Kahoolawe nannte. „Unter anderen Umständen wäre ich über Ihre Bekanntschaft vielleicht erfreut, Mister Killigrew“, antwortete Charangu herablassend. „Leider haben Sie sich aber in die inneren Angelegenheiten meines Landes eingemischt. Ich fordere Sie auf, Moana herauszugeben. Sie ist eine Verbrecherin.“ Die Blasiertheit dieses Burschen verschlug Hasard einen Moment die Sprache. „Moana“, wiederholte Dan O'Flynn hingebungsvoll, „was für ein schöner Name!“ Er schien den Inder nicht im, geringsten ernst zu nehmen und konnte seinen Blick nicht von dem Mädchen losreißen, das sein Gesicht noch immer verbarg. „Hören Sie, Charangu“, sagte Hasard energisch, „ich habe keineswegs vor, mich in Ihre sogenannten Angelegenheiten einzumischen. Wenn Sie es aber unbedingt so betrachten wollen, dann weise ich Sie darauf hin, daß Sie sich außerhalb Ihres Hoheitsgebietes befinden. Hier draußen
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gelten Ihre Gesetze nicht, hier ist freie See. Im übrigen ist es meine Pflicht, einem hilfsbedürftigen Menschen Schutz zu gewähren. Außerdem müssen Sie zugeben, daß es nicht gerade fair ist, eine junge hilflose Frau mit einer Übermacht von mehr als zwanzig Männern zu verfolgen.“ Die Miene des Inders verfinsterte sich. Der Gibbon auf seiner Schulter reckte den weißgrau umrahmten Kugelschädel vor und starrte Hasard an, als wolle er ihn im nächsten Moment anspucken. „Ich warne Sie, Mister Killigrew!“ fauchte Charangu. „Zwingen Sie mich nicht zu ernsthaften Maßnahmen. Ich fordere Sie zum letzten Male auf, das Mädchen herauszugeben.“ Hasard schüttelte verständnislos den Kopf. In was für einen verrückten Teil der Welt waren sie hier geraten? Luke Morgan konnte ein glucksendes Lachen nicht unterdrücken. „Habt ihr diese Witzfigur gehört? Ernsthafte Maßnahmen! Vielleicht will er uns dadurch besiegen, daß wir uns totlachen!“ „Hör auf, Luke“, sagte Hasard gedämpft, „man sollte niemanden unterschätzen, auch wenn er noch so lächerlich aussieht.“ „Verzeihung“, murmelte Luke Morgan, „aber der Knilch reizt mich einfach zum Lachen.“ Hasard wandte sich wieder dem Inder zu. „Seien Sie vernünftig, Charangu. Wir werden die Angelegenheit klären. Aber nicht auf die Art und Weise, wie Sie es sich vorstellen.“ Charangus Gesicht verzerrte sich jäh. „Ich habe dich gewarnt, Engländer!“ schrie er schrill. Und dann spie er einen Schwall von Worten in der Sprache der Eingeborenen aus. Die Männer an der Backbordseite des Kanus sprangen auf. In ihren Fäusten lagen Speere, deren gefährlich aussehende Spitzen auf Moanas Retter zeigten. Die Haltung der Seewölfe wurde schlagartig gespannt. Luke Morgan vergaß seine Scherze, und selbst Dan O'Flynn wandte sich von dem Mädchen ab. Die
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Männer tasteten nach ihren Pistolen, die sie in den Gurten trugen. Hasard runzelte die Stirn. Seine Rechte ruhte bereits auf dem Knauf des schweren Radschloßdrehlings. War dieser Inder so weltfremd, daß er allen Ernstes glaubte, sie mit Speeren beeindrucken zu können? „Gebt das Mädchen heraus!“ keifte Charangu. „Oder ...“ Hasards Faden riß. Er hatte genug von diesem Spiel. Mit einem Ruck zog er den Drehling und spannte den Hahn in derselben Bewegung. Das Reibrad schnurrte. Blitzschnell hob Hasard die schwere Waffe, und sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Der Flint klackte auf das Rad und sprühte Funken. Charangu schrie etwas in der Sprache der Eingeborenen. Aber die Polynesier verharrten. Ihre Blicke waren wie gebannt auf das funkensprühende Ding gerichtet, das der riesenhafte Fremde in der Rechten hielt. Im nächsten Sekundenbruchteil zischte das Zündkraut mit weißer Lohe. Und dann brach ein urgewaltiges Krachen los. Aus dem Laufbündel des Drehlings zuckte eine yardlange Mündungsflamme, und eine Wolke von Pulverrauch stieg auf. Haarscharf vor dem Kanu riß die großkalibrige Kugel eine Fontäne aus dem Wasser. Die Wirkung war verblüffend, selbst für die Seewölfe, für die es eigentlich nichts gab, was es nicht gab. Die Polynesier stießen gellende Entsetzensschreie aus, ließen die Speere fallen, packten die Paddel und hieben sie in das Wasser, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken. Durch die plötzliche Bewegung des Bootes verlor Charangu das Gleichgewicht. Er kippte nach hinten, konnte sich aber im letzten Moment am hochgeschwungenen Heck festhalten. Der übergewichtige Gibbon-Affe kippte außenbords und stieß helle Schreckenslaute aus, die wie das Meckern einer Ziege klangen. Klatschend landete das Tier in den Fluten und reckte die überlangen Arme hoch. Mehrmals
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schluckte der Gibbon Wasser, und jedesmal ging sein Meckern in ein klägliches Gurgeln über. Fluchend hielt ihm Charangu den Holzstab hin. Der Affe packte zu und konnte das Ende des Stabes eben noch erreichen, denn die Polynesier paddelten wie von Sinnen, ohne noch etwas von dem wahrzunehmen, was um sie herum vor sich ging. Das Kanu war schon hundert Yards von der Jolle der Seewölfe entfernt, als es dem Inder endlich gelang, seinen triefend nassen haarigen Begleiter an Bord zu ziehen. Hasards Männer brachen in prustendes Gelächter aus. Der Seewolf beobachtete das davonjagende Kanu indessen eher nachdenklich. Er sah noch, wie Charangu den Gibbon in den weiten unteren Teil seines seidenen Umhangs hüllte. Moanas Gesicht hatte eine unnatürliche Graufärbung angenommen. Sie zitterte. Ihre Augen waren furchtsam auf die Waffe gerichtet, die der große Mann jetzt in seinen Gurt zurückschob. Dan O'Flynn nahm die Hand des Mädchens. Mit der freien Hand gab er ihr zu verstehen, daß sie keinen Grund mehr hatte, sich zu ängstigen. Sie verstand, und auch in seinem Blick las sie, was er sagen wollte. „Schluß der Vorstellung“, sagte Hasard und ließ sich auf die Achterducht sinken. „Aber das dürfte noch nicht das Ende sein.“ Mit dem Auslegerboot im Schlepp kehrten sie zu der vor Anker liegenden Galeone zurück. 3. Niemand an Bord der „Isabella“ bestaunte das Mädchen, als verkörpere es das siebente Weltwunder. Diese hartgesottenen Männer, die oft genug mitten in die Hölle gesegelt waren, um den Teufel am Schwanz zu zwacken, diese rauhen Burschen begegneten dem zierlichen jungen Mädchen mit fast scheuer
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Zurückhaltung und beinahe ebensoviel Mitgefühl. Moana spürte es deutlich, als sie in die verwegenen Gesichter blickte. Und sie fühlte sich wie in einem Taumel. Die Eindrücke, die auf sie einstürmten, waren zu vielfältig und zu übermächtig. Nach der für sie wundersamen Rettung erlebte sie die fremde Welt, die das Schiff für sie bedeutete, mit grenzenlosem Staunen und der Begeisterungsfähigkeit eines kleinen Kindes. Anfangs hatte sie ihre nackten Fußsohlen nur zögernd auf die Decksplanken gesetzt, deren hartes Holz ihr unbekannt war. Aber Dan O'Flynn hatte sie bei der Hand genommen, und schon nach wenigen Schritten wurde ihr wohler. Ihre Blicke erforschten die Gesichter, die lächelten, ihr zunickten und ihr einen so unmißverständlich herzlichen Empfang bereiteten, daß nicht einmal ein Anflug von Furcht in ihr entstand. Da war Edwin Carberry mit seinem wüsten Narbengesicht, das sich so friedlich wie selten zuvor zeigte. Und Batuti, der herkulische Gambianeger, der lachend die perlweißen Zähne entblößte und für Moana trotz seiner unbekannten Hautfarbe nichts Erschreckendes hatte. Ferris Tucker, der rothaarige Riese, stützte sich auf den Griff seiner Zimmermannsaxt und blinzelte verschmitzt. Ein wenig ernst und verschlossen wirkte Ben Brighton, doch gerade dieser Wesenszug machte ihn auf Anhieb sympathisch, denn es war nichts Ungerades in seinem Gesichtsausdruck. Und Old Donegal Daniel O'Flynn, der rauhbeinige Seebär, humpelte mit Holzbein und Krücken heran, klopfte seinem Sohn auf die Schulter und wollte sich ausschütten vor Vergnügen, als er Moanas fassungslosen Blick bemerkte, mit dem sie die schmerzlichen Relikte seiner kriegerischen Vergangenheit betrachtete. All die anderen waren dem Mädchen gegenüber von kaum geringerer Zuneigung erfüllt. Der Kutscher ebenso wie Smoky, der bullige Decksälteste, Blacky, der schwarzhaarige Kämpfer, Pete Ballie, der stämmige Rudergänger, und Gary
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Andrews, der hagere Fockmastgast. Furchterregend wirkte Matt Davies, der anstelle der fehlenden rechten Hand einen Eisenring mit spitzgeschliffenem Haken trug. Jeff Bowie trug eine ähnliche Hakenprothese links. Das fröhliche Lachen der beiden Männer zerstreute Moanas anfängliches Schaudern. Und sie blickte in die gütigen braunen Augen des Stückmeisters Al Conroy und in das schmale Gesicht des versonnen lächelnden Bob Grey. Will Thorne, der Segelmacher, stand neben Big Old Shane, dem riesenhaften Schmied von Arwenack, der trotz seiner wilden grauen Bartpracht sichtbare Freundlichkeit erkennen ließ. Bill, der schwarzhaarige Moses, hatte seinen Platz im Ausguck beibehalten. Doch er winkte zur Kuhl hinunter, als er sah, wie Moana mit beinahe ehrfürchtigen Blicken die Höhe der Masten maß. Auch die Söhne des Seewolfs waren zur Stelle und ebenso Siri-Tong, die dem Mädchen entgegeneilte und ihm beide Hände auf die schmalen Schultern legte. Moana sperrte den Mund auf, als plötzlich ein durchdringendes Kreischen ertönte. Mit elegantem Schwung segelte Sir John, der karmesinrote Ara-Papagei, von der FockMarsrah nach unten und landete zielsicher auf der Schulter von Hasard junior. Dort glättete er sein Gefieder, plusterte sich auf und wiegte sich aufgeregt von einer Seite zu anderen. „Affenarsch!“ krächzte er mit erschreckender Deutlichkeit. „Lausiger Affenarsch!“ Siri-Tong holte tief Luft. Dan O'Flynn sah aus, als wolle er sich mit einem Satz auf den vorlauten Vogel stürzen. Und auch den übrigen Männern gefror das Lächeln. Sir John schien durch die plötzliche Stille ermuntert. „Miese Kakerlake!“ fuhr er fort. „Bilgenratte!“ Hasard junior warf seinem Zwillingsbruder einen amüsierten Blick zu, und Philip junior deutete mit einer Kopfbewegung zu Edwin Carberry, der sich inmitten der Crew betreten abwandte, um die gelinde Röte zu verbergen, die sein Narbengesicht
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plötzlich überzog. Durch nichts konnte sich der Profos herausreden. Er und kein anderer war verantwortlich für den enormen Wortschatz des gefiederten Sir John. Doch bevor einer der Männer eingriff, löste Moana das Beklemmende der Situation auf ihre Weise. Sie nickte SiriTong und Dan O'Flynn zu, lachte, ließ die beiden stehen, ging Sir John entgegen und verneigte sich vor ihm, indem sie die Unterarme vor der Brust kreuzte. Dabei sagte sie etwas, das wie eine Begrüßung klang. Und als solche hatte sie vermutlich auch die Worte des karmesinroten Schwätzers verstanden, bei denen die Männer der Crew am liebsten zwischen den Decksplanken versunken wären. Beifälliges Gelächter wurde laut. Sir John blinzelte, und dann schloß er wohlgefällig die Augen, als Moana ihn hinter dem Kopf kraulte. „Ich werde mich erst einmal um die Kleine kümmern“, entschied Siri-Tong. Aus ihren Worten klang deutlich, daß sie keinen Widerspruch duldete. „Aber ...“, wandte Dan O'Flynn ein. Er verstummte sofort wieder, als er den knappen Seitenblick der Roten Korsarin spürte. Hasard beobachtete lächelnd, wie Dan rot anlief. „Es gibt gewisse Gelegenheiten“, erklärte Siri-Tong energisch, „in denen einer Frau am besten mit der Gesellschaft einer Frau geholfen ist. Das ist hier in der Südsee nicht anders als in der nebligsten Ecke von Cornwall. Zum Dahinschmachten wirst du noch Zeit genug haben, Mister O'Flynn!“ Dan knirschte mit den Zähnen, denn aus den schmunzelnden Mienen der anderen las er Spott. Hasard ergriff seinen Unterarm. „Schluck es hinunter, Dan. Siri-Tong hat schon recht, wenn du ehrlich bist.“ Dan nickte krampfhaft. Siri-Tong wandte sich ab und nahm Moana bei der Hand. Gemeinsam gingen sie auf die Kapitänskammer zu. Etwas geschah, als sie erst zwei Schritte hinter sich gebracht hatten.
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Fast schien es, als hätte Arwenack den Zeitpunkt seines großen Auftritts sorgfältig vorgeplant. Einige der Männer waren noch lange danach überzeugt, daß der Schimpanse im Grunde ein gerissener Halunke war, der genau wußte, welchen Moment er sich aussuchen mußte, um allen anderen die Schau zu stehlen. So turnte er mit plötzlichem Keckern vom Großmast hinunter, überbrückte die letzten sechs Fuß mit einem Sprung und hüpfte scheinbar unbeholfen über die Decksplanken -vor aller Augen. Jeder an Bord der „Isabella“ wußte, daß diese Unbeholfenheit nur gespielt war. Es gehörte zu Arwenacks gut einstudiertem Gehabe, mit dem er hei Fremden eine Mischung von Mitleid, Zuneigung und Zärtlichkeit hervorrief. Daß er mit seinem Erscheinen bei Moana indessen eine völlig andere Reaktion bewirkte, ahnte der listige Schimpanse nicht im entferntesten. So prallte er erschrocken zurück, als er sah, wie sich die Polynesierin mit ehrfürchtiger Miene zu Boden warf. Mehrmals hintereinander richtete Moana ihren Oberkörper auf, hob dabei die Arme mit nach vorn gerichteten Handflächen und murmelte etwas, das die Männer der „Isabella“ entfernt an die Gebete der Menschen im Orient erinnerte. Arwenack rieb sich mit der flachen Hand über die Augen, klappte die Lider zu, öffnete sie wieder und bleckte voller Verwirrung die mächtigen Zähne. Als Moana schließlich in nicht endender Ehrfurcht auch noch die Decksplanken küßte, platzte dem jungen O'Flynn der Kragen. Er stürzte los, an Siri-Tong vorbei, und war im Begriff, dem Schimpansen einen Fußtritt zu versetzen. „Jetzt reicht es, du Mistvieh! Verschwinde!“ Mit einem Entsetzenslaut nahm Arwenack gerade noch rechtzeitig Reißaus. Er flüchtete in Richtung Vorkastell, hüpfte über mehrere Taurollen und war im nächsten Moment verschwunden.
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Dan drehte sich um und half dem Mädchen fürsorglich auf die Beine. Siri-Tong und die anderen standen noch immer wie versteinert. Moana starrte den jungen Mann entsetzt an. In ihren Augen las er, daß sie nicht begreifen konnte, was er getan hatte. „Das ist ein ganz normaler Affe“, sagte er, „ein ganz normales Mistvieh. Verstehst du?“ Sie verstand nicht. Hilflos blickte Dan in die Runde. Aber auch die anderen wußten nicht, wie man das in die Zeichensprache übersetzen konnte. Siri-Tong gab sich einen Ruck, nahm Moana wieder bei der Hand und führte sie zur Kapitänskammer. Diesmal ohne Hindernisse. Für Hasard war es nicht besonders schwierig, zwei und zwei zusammenzuzählen. Da war dieser reichlich fette Gibbon-Affe gewesen, den der Inder auf der Schulter getragen hatte. Und dann die Tatsache, daß Moana beim Anblick eines Affen auf die Knie fiel. Zwar sah ein Schimpanse anders aus als ein Gibbon, aber das Mädchen hatte Arwenack zweifellos in die gleiche Tierfamilie eingestuft. Hasard hatte das unbestimmte Gefühl, daß er sich mit diesem Charangu, der sich selbst König nannte, näher befassen mußte. * Ben Brighton war der gleichen Meinung wie Hasard. Der Ankerplatz der „Isabella“ war in Ordnung. Noch näher an das Korallenriff heranzugehen, erschien zu riskant. Daß es einen etwas längeren Aufenthalt geben würde, hatte für den Seewolf einen weiteren Grund – abgesehen von dem mysteriösen Geschehen um das Mädchen Moana. Sie hatten die Bewohner der Insel Hawaii vor einer wilden Meute französischer Freibeuter gerettet. Deren Anführer Malot war jedoch mit der Galeone „Saint Vincent“ entkommen. An Bord hatte er
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etwa zwanzig Geiseln, unter ihnen König Zegú und den Deutschen namens Thomas Federmann, der schon seit vielen Jahren auf Hawaii lebte und sich der Malerei verschrieben hatte. Aufgrund einer Zeichnung von Federmann waren die Freibeuter unter Malot jetzt auf der Suche nach einer Insel. Es handelte sich um eine unbekannte Insel, die angeblich einen Schatz bergen sollte. In ihrer Gier war den Franzosen bislang offenbar nicht aufgegangen, daß sie möglicherweise durch eine fingierte Skizze auf eine falsche Spur gelockt wurden. Immerhin war es aber denkbar, daß auch Malot und seine Meute auf diese Insel gestoßen waren, die sich Kahoolawe nannte. Das herauszufinden, war allein schon ein Grund, an Land zu gehen. Auf Hasards Anordnung hatten sich alle Mitglieder der Crew an Deck versammelt. Gemeinsam mit Ben Brighton verließ der Seewolf das Quarterdeck und trat in den Halbkreis, den die Männer auf der Kuhl gebildet hatten. „Unser eigentliches Ziel kennt jeder von euch“, erklärte Hasard. „Ich denke, daß wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn wir uns die Insel näher ansehen. Wir können herausfinden, ob Malot hier gewesen ist. Außerdem werden wir klären, welche hinterhältigen und gemeinen Spiele dieser Inder mit einem Mädchen wie Moana treibt.“ „Vielleicht wollte die Kleine anders als er“, meinte Edwin Carberry, „was ein rechter Stinkstiefel ist, der reagiert giftig auf so was.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Es muß mehr dahinterstecken. Die Geschichte mit dem Affen ist ziemlich merkwürdig. Weshalb führt sich ausgerechnet ein Inder als König auf dieser Insel auf?“ Der. Seewolf schnitt mit der flachen Hand durch die Luft. „Wie auch immer –ich möchte eure Meinung über Moana hören. Sofern ihr Leben in Gefahr ist, haben wir eine gewisse Verantwortung für sie.“ „Wir könnten sie mitnehmen“, schlug Dan O'Flynn spontan vor.
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„So siehst du aus!“ rief Luke Morgan. „Vielleicht fragst du sie erst mal, ob sie das überhaupt will!“ „Nichts gegen Moana“, warf Stenmark ein, „aber wenn wir so weitermachen, haben wir bald das ganze Schiff voller Wei ...“ Er verschluckte sich fast, als er den Blick des Seewolfs spürte. Jeder respektierte mittlerweile Siri-Tong an Bord der „Isabella“, aber wenn es um grundsätzliche Diskussionen ging, traten gewisse Einstellungen manchmal wieder zutage. Typisch männliche Einstellungen, wie sie die rauhen Burschen vom Schlage der „Isabella“-Crew nun einmal nicht vollends unterdrücken konnten. Hasard nahm die Bemerkung Stenmarks beileibe nicht krumm. Aber es gab für ihn keinerlei Grund mehr, daß an Siri-Tongs Anwesenheit noch Kritik geübt wurde. „Wir sollten Moana selbst entscheiden lassen“, meinte Ben Brighton. „Selbstverständlich kann sie nicht für immer an Bord bleiben. Aber wenn ihr Leben auf dieser Insel in Gefahr ist, könnten wir sie beispielsweise auf einer Nachbarinsel absetzen, wo sie in Sicherheit ist.“ „Ein guter Vorschlag“, sagte Edwin Carberry, „sieht so aus, als ob unser Erster mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen hat.“ Die übrigen Männer nickten zustimmend. Hasard lächelte zufrieden. Er sah, daß kein längeres Herumreden notwendig war. Sobald sie also die Lage auf Kahoolawe erforscht hatten, würde man auch entscheiden können, was mit Moana geschah. Bis dahin blieb das Mädchen zunächst einmal an Bord der „Isabella“. „Es ist möglich“, sagte der Seewolf, „daß wir auf Kahoolawe nicht mit offenen Armen empfangen werden. Zur Vorbeugung habe ich ein besonderes Rezept.“ In knappen Worten schilderte er den Männern seinen Plan. Ihre Augen begannen zu leuchten, und als Hasard geendet hatte, hieben sie sich gegenseitig vor Begeisterung auf die Schultern. In den
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leuchtendsten Farben malten sie sich aus, wie dieses Rezept wohl wirken mochte. 4. Die Sonne stand mittlerweile fast im Zenit, und der Wind hatte spürbar nachgelassen. Über der Insel lastete Gluthitze, und das Leben im Dorf war fast vollends erlahmt. Die Menschen hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen, die aus Zweigen und Palmenblättern gebaut waren. Lediglich Charangu und seine Gefolgsleute harrten am Rand des Palmenhains aus, der sich auf der Südwestseite der Insel zwischen dem Strand und dem Dorf erstreckte. Ein Sonnenschirm aus indischer Seide überdeckte die Sänfte, die Charangu nach seinem eigenen Entwurf hatte bauen lassen. Seine Träger, sehnige junge Polynesier, hockten dienstbereit hinter der Sänfte auf dem Erdboden. Die Dorf ältesten, fünf Männer mit faltiger Haut und weißem Kraushaar, hatten sich beiderseits neben dem königlichen Fortbewegungsmittel niedergelassen. Guao, der Gibbon-Mann, thronte hinter Charangu auf der gepolsterten Rückenlehne. Mit trägen Bewegungen lutschte der Affe an einer Mango-Frucht, bis er sie schmatzend verschlang. Sofort sprang einer der Sänftenträger auf und reichte ihm eine neue Frucht. Guao nahm sie entgegen, ohne den Mann eines Blickes zu würdigen. Charangu hatte seinen seidenen Umhang zurückgelassen. Wie die Dorfältesten und die Träger, war auch er jetzt nur mit einem bunten Hüfttuch bekleidet. Der Inder war Mittelgroß und kräftig gebaut. Die Straffheit seines Körpers ließ vermuten, daß er kaum älter als dreißig Jahre war. Das Kinn in seine rechte Handfläche gestützt, starrte er mit düsterem Blick auf die Lagune hinaus. Die Brandung war schwächer geworden. Deutlich zeichnete sich das Bild des großen englischen Schiffes über dem leuchtenden Blau des Wassers ab.
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Für Charangu war dieses Schiff ein häßlicher Fremdkörper, den er am liebsten mit einer Verwünschung zur Hölle geschickt hätte. Er verfluchte diesen Tag, an dem die Fremden seine Kreise störten. Es war schlimm genug gewesen, daß Moana sich erdreistet hatte, ihrem Schicksal eigenmächtig ein Schnippchen zu schlagen. Doch dieses kleine Mißgeschick hätte sich noch beheben lassen. Die Engländer aber mußte der Teufel persönlich geschickt haben. Vielleicht war es ein Zufall, daß sie ausgerechnet zu dem Zeitpunkt aufgekreuzt waren, als das Mädchen floh. Vielleicht war es aber auch ein böses Omen. Charangu erschauerte bei dem Gedanken. Er ahnte, daß er sein Gehirn noch mächtig anstrengen mußte, wenn er die verzwickte Lage zu seinen Gunsten wenden wollte. Und daß es verzwickt werden würde, zeichnete sich schon jetzt ab. Denn die dreimal verfluchten Engländer dachten offenbar nicht im Traum daran, Segel zu setzen und zu verschwinden. Den Verlust Moanas hätte man letzten Endes noch verschmerzen können. Es gab genug andere junge Mädchen auf der Insel, und die Polynesier waren ein kinderfreudiges Volk. Sofern die Fremden aber daran dachten, sich hier häuslich niederzulassen, konnte es böse Komplikationen geben. Charangu beschloß, die Perlentaucher nachmittags wieder an die Arbeit zu scheuchen - ob die Engländer nun verschwunden waren oder nicht. Wegen des Zwischenfalls mit Moana waren die Arbeitsstunden am Vormittag ohnehin ausgefallen. Verlust genug. Aber die Götter, die wegen der Flucht des Mädchens zürnten, hatten jegliche Tätigkeit verboten. Charangu grinste. Er mußte erst offiziell verkünden, daß der Zorn der Götter beendet war. Danach konnte das Leben auf Kahoolawe seinen gewohnten Gang gehen. Er allein hatte das in der Hand, und dabei sollte es bleiben. Kein gottverdammter Fremder sollte ihm einen .Strich durch diese Rechnung ziehen.
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Unvermittelt wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Die Dorf ältesten begannen aufgeregt zu schnattern und sprangen auf. Auch die Sänftenträger tauchten jetzt neben dem Inder auf, hielten sich jedoch in ehrerbietigem Abstand. Gestikulierend starrten sie auf das Meer hinaus. Charangu beugte sich abrupt vor. Dabei stieß er den Gibbon an, der wütend zu zetern begann, weil seine Mango-Frucht in den Sand fiel. Charangu versetzte ihm einen Hieb, ohne sich umzudrehen. Der Affe verstummte, ließ sich mit der Grazie eines Mehlsacks zu Boden fallen und versteckte sich beleidigt hinter der Sänfte. Niemand außer dem Inder durfte sich dem Affen gegenüber derartiges herausnehmen. „Das große Boot verliert ein kleines Boot!“ rief Hunaui, das Oberhaupt der Dorfältesten. Seine Stimme klang dabei furchtsam und sensationsgierig zugleich. „Ich sehe es selbst“, antwortete Charangu unwirsch. Die Sprache der Polynesier beherrschte er perfekt. Für ihn war diese Sprache allerdings nichts weiter als eine stupide Aneinanderreihung von Urlauten. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen bei der schlanken Galeone. Die Sicht war hervorragend. Das Beiboot war zu Wasser gelassen worden, und blitzende Lichtreflexe zeigten an, daß die Riemenblätter eingetaucht wurden. Charangus Anspannung wich. Zwar empfand er noch keine Erleichterung, aber wenigstens tat sich endlich etwas. Das Warten war nervenzermürbend gewesen. Trotz der beträchtlichen Entfernung war deutlich, daß es sich diesmal um ein größeres Beiboot handelte als bei der ersten unliebsamen Begegnung mit den fremden Seefahrern. Neue Besorgnis wuchs in dem Inder. Wenn die Engländer eine gewaltsame Aktion planten, war es schlecht bestellt um ihn. Es gab keine Feuerwaffen auf Kahoolawe, und es waren weniger als hundert Männer, die auf der Insel lebten. Selbst wenn er ihnen befahl, sich mit ihren primitiven Waffen zum Kampf zu stellen,
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würden sie ein rasch aufgezehrtes Kanonenfutter sein. Nein, eine kriegerische Auseinandersetzung war alles andere als wünschenswert. Diplomatisches Geschick allein konnte helfen. Schließlich geht es nur um das Mädchen, dachte Charangu, um sich selbst zu beruhigen, wenn ihnen soviel an der Kleinen liegt, dann sollen sie sie eben behalten! Wieder wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Diesmal auf einen anderen bemerkenswerten Umstand. Die Männer in dem Beiboot nahmen zielstrebig den richtigen Kurs. Ohne erkennbare Mühe fanden sie das natürliche Tor im Korallenriff auf Anhieb. Charangu gelangte zu der Überzeugung, daß die Fremden über außergewöhnliche seemännische Fähigkeiten verfügten. Möglicherweise kannten sie sich sogar in der Südsee aus. Wenn das allerdings der Fall war, Würden sie allzu rasch das Ungewöhnliche an den Lebensumständen auf Kahoolawe erkennen. Charangu schüttelte sich. Wieder wurde sein Unbehagen stärker. Die Möglichkeit, Moana zum Austausch in die Waagschale zu werfen, vermochte ihn nicht länger zu beruhigen. Gespannt spähte er zu dem zügig herannahenden Boot. Etwa zehn oder zwölf Männer waren es, die sich in die Riemen stemmten. Und sie verfügten über Bärenkräfte. Das ließ sich unschwer an der rauschenden Fahrt erkennen, die das Boot lief. Zusehends schmolz die Entfernung zusammen. Einzelheiten wurden deutlicher, immer deutlicher. Und jäh hatte Charangu das Gefühl, von einem imaginären Fausthieb getroffen zu werden. Es riß ihn regelrecht aus der Sänfte. Er beugte sich vor und schirmte die Augen mit der Handfläche ab. An dem zunehmenden Geschnatter der Polynesier hörte er, daß sie das gleiche beobachteten wie er.
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Dieser schwarzhaarige englische Riese im Heck des Bootes war aufgestanden. Auf seiner Schulter thronte ein pechschwarzer Affe, hoch aufgerichtet, den Kopf mit unverschämter Arroganz in den Nacken geworfen. Charangu hatte ein Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Der Engländer hatte ihn bis in das Mark seiner Knochen durchschaut. Jetzt gab es nur noch eins. Charangu faßte diesen Entschluß in aller Eile, wie es seine rebellierenden Nerven geboten. Freundlichkeit! Man mußte den Fremden mit allergrößter Freundlichkeit entgegentreten. Er straffte seine Haltung. „Auf die Knie!“ rief er energisch. „Respekt vor dem fremden Gott!“ Die Polynesier gehorchten und schienen sogar froh, daß ihr König mit dieser Verhaltensmaßregel das Unerklärliche in geordnete Bahnen lenkte. * Es sah in der Tat wie ein Paradies aus, dem sie sich näherten. Zierliche Auslegerboote ruhten auf dem weißgoldfarbenen Strand, der vom Wasser bis zum Palmenhain etwa fünfzig Yards breit war. Die mächtigen Bäume bildeten ein natürliches Dach, unter dem tropische Pflanzen in verschwenderischer Üppigkeit gediehen. Jenseits dieser grünen Wand aus Palmen, Kletterpflanzen und Bodengewächsen ragte eine dunkle Bergformation auf, deren höchster Punkt kegelförmig war. Wahrscheinlich handelte es sich um einen erloschenen Vulkan. Hasard brauchte keinen Kieker, um zu erkennen, was sich dort am Rand des Palmenhains abspielte. Die kleine Gruppe von Menschen war beim Anblick des Bootes in Bewegung geraten. Einige von ihnen rannten eilig hin und her. Nur Charangu und die alten Männer blieben an ihrem Platz. Anwachsendes Stimmengewirr war bis auf die Lagune zu hören. Jemand brachte den seidenen Umhang und legte ihn um
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Charangus Schultern. Der Inder hatte sich in seiner Sänfte aufgerichtet und scheuchte seine Untergebenen mit herrischen Bewegungen durch die Gegend. Auch der dicke alte Gibbon-Affe war wieder zur Stelle. Jetzt hockte er zu Charangus Füßen. Die Männer der „Isabella“ pullten zügig weiter. Knapp eine halbe Kabellänge trennte sie noch von dem, paradiesischen. Strand. Ein Paradies, das keins sein konnte - davon war Hasard überzeugt. Wo Menschen verfolgt wurden und Todesängste ausstanden, konnte von einem Paradies nicht die Rede sein. Er hatte vorsorglich Pistolen und einen Vorrat an chinesischen Feuer in das Beiboot mannen lassen. Al Conroy war dabei, denn er beherrschte das Instrumentarium der Schwarzpulverladungen mit vollendeter Virtuosität. Es sah allerdings nicht danach aus, daß er seine Künste demonstrieren mußte. Mit im Boot waren außerdem Ferris Tucker, Edwin Carberry, Smoky, Blacky, Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan, Stenmark und Pete Ballie. Ben Brighton war mit der restlichen Crew als Bordwache zurückgeblieben. Siri-Tong bemutterte nach wie vor das Mädchen Moana, wobei Dan O'Flynn ständig auf dem Sprung stand, seinerseits durch kleine Gefälligkeiten zu Moanas Wohlbefinden beizutragen. Ein sichtlicher Genuß war für Arwenack indessen der erhöhte Platz auf der Schulter des Seewolfs. Anfangs war der Schimpanse verwirrt gewesen, doch Hasard hatte ihn schließlich dazu gebracht, in dieser ungewohnten Pose zu verharren. Mittlerweile trug Arwenack die breite Nase reichlich hoch. Herablassend ließ er seinen Blick über die Männer schweifen, die zu seinen Füßen schwitzten. „Seht euch diesen schwarzen Stinker an“, knurrte Edwin Carberry, „der glaubt jetzt, er sei was Besonderes.“ „Soll er auch“, entgegnete Hasard lächelnd, „er soll sich fühlen wie ein junger Gott.“
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„Warum nimmst du nicht mich auf die Schulter?“ rief Sam Roskill. Seine dunklen Augen funkelten vor Vergnügen. „So ein göttliches Gefühl könnte mir auch gefallen.“ „Verdammt ja!“ prustete Ferris Tucker. „Genug Ähnlichkeit mit einem Affen hat er, der Junge!“ Grölendes Gelächter setzte ein, und Sam Roskill zog den Kopf zwischen die Schultern, schweigend. Diese Kerle verstanden es doch immer wieder, einen gutgemeinten Scherz ins Gegenteil umzukehren. „Ruhe jetzt“, mahnte der Seewolf, und das Gelächter verebbte. Die lautstarke Fröhlichkeit war auf der Insel nicht unbemerkt, geblieben. Charangu und seine Untertanen standen wie erstarrt und waren verstummt. Erst jetzt, als es im Boot der Seewölfe stiller wurde, setzten sie ihre hektische Betriebsamkeit fort. Hasard erblickte einen Schwarm von Menschen, der sich aus dem Inneren der Insel zum Strand hin ergoß. Nicht nur Menschen. Langarmige, haarige Wesen hangelten überall aus Palmenkronen und Kletterpflanzen zu Boden und schlossen sich den Männern, Frauen und Kindern mit hüpfenden Bewegungen an. Gibbons in geradezu unüberschaubarer Zahl - eine grauschwarze Menge, die jetzt den Strand erreichte und dort Aufstellung nahm. Frauen und Männer hasteten herum und versorgten die Gibbons mit Nüssen, Früchten und anderen Leckereien. In stoischer Ruhe nahmen die Affen das Naschwerk entgegen. Hasard rieb sich verdutzt die Augen. Schlagartig wurde ihm klar, welches raffinierte Spiel der Inder hier inszeniert hatte. Der Seewolf hatte von den heiligen Kühen gehört und sogar von heiligen Ratten, die es an bestimmten Orten in Indien geben sollte. Arwenack wurde unruhig, bleckte die Zähne, keckerte und schirmte die Augen mit der Hand ab. Eine solche Ansammlung von Artgenossen hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt.
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Den Männern verschlug es die Sprache, als Hasard sie auf die Versammlung am Strand hinwies. Die Tatsache, daß die Polynesier unbewaffnet und friedfertig warteten, geriet fast zur Bedeutungslosigkeit. * Der Kiel des Bootes knirschte auf den Sand. Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan und Blacky sprangen ins seichte Uferwasser und zogen die Jolle weiter hinauf. Behände schwangen sich auch die übrigen Mitglieder der Crew aus dem Boot. Zuletzt beförderte Hasard den Schimpansen an Land. Arwenack genoß dabei als einziger den Vorzug, trockenen Fußes die Insel zu erreichen. Männer, Frauen und Kinder waren ehrfürchtig auf die Knie gesunken und hielten die Köpfe gesenkt. Charangu saß bewegungslos in seiner Sänfte, und der alte Gibbon-Affe - offenbar das Oberhaupt der ganzen Sippschaft thronte wieder auf der Rückenlehne. Hasard versuchte, die Zahl der Affen zu schätzen. Es erwies sich jedoch als schwieriges Unterfangen, weil sie teilweise in dichten Gruppen zusammenhockten und sich dabei gegenseitig verdeckten. Alle waren eifrig damit beschäftigt, Früchte und Nüsse zu kauen. Schmatzend und gelangweilt blickten sie den Fremden entgegen. Hasard war aber sicher, daß es mehr als zweihundert Gibbons waren, die diese Insel bevölkerten. Ohne natürliche Feinde mußten sie sich rasend schnell vermehren. „Baut euch ein wenig auf“, sagte der Seewolf halblaut, „anständig und zurückhaltend, verstanden!“ Die Männer folgten der Aufforderung mit mühsam unterdrücktem Grinsen. Drei, vier Schritte weit gingen sie den Strand hinauf, und dann bildeten sie einen lockeren Halbkreis hinter ihrem Kapitän. Die Arme auf den Rücken gelegt, standen sie da und versuchten, möglichst ernsthafte Mienen aufzusetzen.
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Die bedauernswerten Menschen auf dieser Insel hatten es nicht verdient, verlacht zu werden. Hasard hob die Hand zu einem freundschaftlichen Gruß, wie er es schon bei der ersten Begegnung mit Charangu auf dem Wasser getan hatte. Arwenack entblößte sein mächtiges Gebiß und rollte mit den Augen. Hasard wartete gespannt auf die Reaktion des Inders. Charangus Miene blieb unbewegt, doch unvermittelt stieß er einen knappen Befehl in der Sprache der Polynesier hervor. Eine Gruppe von Mädchen, die ebenso duftig und zart gekleidet waren wie Moana, sprang auf. Leichtfüßig eilten sie zum Strand und streiften die Blumenkränze ab, die sie um den Hals trugen. Bevor sie sich den Männern näherten, verneigte sich jedes der Mädchen tief vor Arwenack, der das Geschehen mit fassungslosem Blinzeln verfolgte. Dann traten die Mädchen auf die Seewölfe zu; lächelten, verneigten sich wieder und legten ihnen die Blumenkränze um. Die Männer wechselten Blicke, aus denen Verlegenheit sprach, und selbst Ed Carberry brachte ausnahmsweise kein Wort über die Lippen. Arwenack hielt es nicht länger auf der Schulter des Seewolfs. Mit einem Satz sprang er zu Boden. Um Aufmerksamkeit heischend, trommelte er gegen seine Brust. Die schwarzhaarige Schönheit, die im Begriff war, sich Hasard mit einem Blumenkranz zu nähern, wich erschrocken zurück. Ihre Gefährtinnen fielen auf die Knie und wagten es vor lauter Respekt nicht, den Schimpansen anzusehen. Ehe das schwarzhaarige Mädchen seinen Schock überwinden konnte, schnellte Arwenack auf sie zu, riß ihr den Blumenkranz aus der Hand und schlang ihn sich selbst um den Hals. Triumphierend hüpfte er vor den Männern der „Isabella“ im Kreis und klatschte sich selbst Beifall. Die Seewölfe konnten ihr Lachen nicht mehr zurückhalten.
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Hasard ging auf das schwarzhaarige Mädchen zu, das den Tränen nahe war. Behutsam legte er ihr seine Rechte auf die Schulter und gab ihr mit einigen Zeichen zu verstehen, daß alles in Ordnung sei. Sie blickte ihn aus feuchten Augen an, las in seinem Gesicht wie in einem Buch und wurde ruhiger. Wieder ertönte ein Befehl vom Rand des Palmenhains her. Sofort sprangen die Mädchen auf und hasteten zurück zu den übrigen Dorfbewohnern. Charangu bequemte sich nun höchstpersönlich, den Fremden seinen Gruß zu entbieten. Die Sänften-träger packten auf einen herrischen Wink zu, hoben an und schleppten ihren König mitsamt Ober-Gibbon hinunter zum Strand. Fünf Schritte von Hasard und seinen blumengekränzten Männern entfernt ließen sie die Sänfte zu Boden sinken. Würdevoll stand Charangu auf und hob seinerseits die Hand zu jenem Gruß, der Friedfertigkeit signalisierte. Zu einer Begrüßungsansprache kam er jedoch vorläufig nicht. Arwenack, der seinen Triumphtanz unterbrochen hatte, stieß plötzlich ein helles Keckern aus, das sich wie Gelächter anhörte. Dieser Eindruck wurde noch dadurch bestärkt, daß er den Kopf heftig auf und ab bewegte und sich den Bauch mit beiden Händen hielt. Der weißgesichtige alte Gibbon starrte ihn mit stumpfem Blick an. Urplötzlich brach Arwenack sein Keckern ab, schnellte vor und hangelte mit besagter affenartiger Geschwindigkeit auf die freie Seite der Rückenlehne. Dort blieb er sitzen, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte beifallheischend in die Runde. Charangu war verdutzt einen Schritt beiseite getreten. Die Sänftenträger hatten sich zu Boden geworfen und starrten den Sand an. Der Gibbon Guao bewegte sich in seiner Trägheit noch immer nicht. Lediglich den Oberkörper neigte er mißbilligend von seinem herausfordernden Artgenossen
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weg. Er musterte Arwenack mit einem Seitenblick, etwa so, wie ein Rassepferd einen zottigen Ackergaul betrachtet hätte. Wieder fletschte Arwenack die Zähne. Mit der Rechten zog er einen imaginären Hut vom Kopf. Aus der Bewegung heraus verneigte er sich tief, wie es Sir Philip Hasard Killigrew bei einer Audienz vor der königlichen Lissy nicht vollendeter vermocht hätte. Der Ober-Gibbon blinzelte begriffsstutzig. Seine Miene wurde zusehends saurer, und offensichtlich ging ihm der frivole Schimpanse allmählich auf die Nerven. Unvermittelt beugte Arwenack sich vor und klopfte ihm freundschaftlich auf die haarige Schulter. Guao zuckte zurück, schwang sich mühevoll von der Sitzlehne und landete mit einem dumpfen Laut im Sand. Die Sänftenträger wichen eilfertig beiseite, als sich ihr oberster Gott schwerfällig watschelnd zu seinen Artgenossen zurückzog und sich inmitten der schmatzenden Meute in Pascha-Pose niederließ. Hier schien er sich vor den unangenehmen Späßen des Neuankömmlings sicher zu fühlen. Der Schimpanse von der „Isabella“ war im Begriff, ihm zu folgen. „Arwenack!“ rief Hasard energisch. Schmollend kehrte der Gefährte der Crew an die Seite des Seewolfs zurück. Die Insulaner beobachteten es voller Staunen. Ein Gott, der einem Menschen behorchte - das war etwas, was sie nicht fassen konnten. Und umgekehrt mußte dieser riesenhafte Fremde, dem ein Gott gehorchte, selbst einen göttergleichen Status genießen. Charangu fand endlich Zeit, zu seiner Rede anzusetzen. „Seid mir gegrüßt, Engländer“, sagte er salbungsvoll, und nur der schaurige Akzent störte den Wohlklang seiner Worte. „Ich bedaure es außerordentlich, daß unsere erste Begegnung einen so unangenehmen Beigeschmack hatte. Lassen Sie mich betonen, daß ein Mißverständnis die Ursache gewesen sein muß. Ich bitte Sie, die Gastfreundschaft meines Volkes auf
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Kahoolawe zu genießen.“ Er verließ seine Sänfte, ging auf den Seewolf zu und reichte ihm die Hand. Hasard bemerkte, daß diese Hand, deren Gelenk mit dem Eisenreif bewehrt war, äußerst kraftvoll zuzupacken vermochte. Er blickte dem Inder in die dunklen Augen. Ein unergründliches Feuer glomm in der Tiefe seiner Pupillen. Hasard spürte. daß er vor diesem Mann auf der Hut sein mußte und ihn nicht unterschätzen durfte. „Ich bedanke mich, auch im Namen meiner Mannschaft“, erwiderte er, „und ich hoffe, daß wir unser gemeinsames Problem lösen werden.“ „Probleme sind dazu da, daß man sie beseitigt“, erwiderte Charangu mit breitem Lächeln. „In den Wirren der Geschehnisse tut man oftmals etwas, was einem hinterher, bei reiflicher Überlegung falsch erscheint.“ Hasard nickte. „Ich weiß Ihre Gastfreundschaft zu schätzen, Charangu. Leider können wir uns aber nur einen kurzen Aufenthalt leisten.“ Er bemerkte ein schwaches Aufleuchten in den Augen des Inders. War er erfreut? Erleichtert darüber, daß die Seewölfe womöglich bald wieder verschwinden würden? Hasard bewahrte diese Vermutung in seinem Bewußtsein. „Nun“, entgegnete der Inder und verlieh seiner Stimme ein leises Bedauern, „ich hoffe doch, daß Sie und Ihre Männer uns wenigstens für diesen Tag die Ehre Ihrer Anwesenheit schenken werden.“ „Einige Stunden“, sagte Hasard, „das ließe sich einrichten.“ „Wollen Sie dann nicht auch Ihre übrigen Männer vom Schiff rufen? Wir werden ein großes Fest veranstalten. Denn Gäste gibt es nie in unserem Dorf. Für unsere Bevölkerung ist dies gewissermaßen eine einmalige Gelegenheit.“ „Ich verstehe. Aber es gehört zu den Gesetzen der königlich britischen Seefahrt, daß man ein Schiff Ihrer Majestät niemals ohne eine Mindestbesatzung läßt.“ Charangu zog die Augenbrauen hoch. „Ihr Schiff gehört der englischen Königin? Ein Kriegsschiff?“
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Der Seewolf lächelte. „Wir segeln im Auftrag der Königin.“ Charangu nickte, obwohl er keineswegs verstand, was dies bedeutete. „Nun, Mister Killigrew, wenn ich dann vorschlagen darf, daß zunächst die Männer, die bei Ihnen sind, an unserem Fest teilnehmen. Später könnten Sie sie vielleicht gegen jene austauschen, die sich noch auf dem Schiff befinden.“ Hasard willigte ein. Er durfte Charangu jetzt nicht vor den Kopf stoßen. Gleichzeitig spürte er, daß irgendetwas in der Luft hing. Was es war, konnte er noch nicht einmal vermuten. Was verbarg der Inder hinter der unergründlichen Fassade seines Gesichts? Es mußte mehr sein als dieses verrückte Schauspiel, das er auf Kahoolawe inszenierte. 5. Es war erstaunlich, was die Menschen aus dem wenigen zauberten, das sie besaßen. Auf dem freien Platz im Zentrum des Dorfes wurde im Handumdrehen ein Festmahl bereitet, das sich sehen lassen konnte. Frauen und Mädchen servierten Früchte auf frischen Palmenblättern. Die Männer entfachten ein Feuer in einer Grube, und schließlich wurde die Glut mit Steinen überdeckt. Darauf garten sie Fische, die erst an diesem Morgen gefangen worden waren. Es gab schwere, süße Getränke, die die Männer der „Isabella“ anfangs nur zögernd genossen. Doch schon bald stellten sie fest, daß sich keine üblen Nachwirkungen zeigten. Verglichen mit dem hochprozentigen Gebräu, das sie aus der Karibik kannten, war dies hier eher harmlos. Am Rand des Platzes hatte eine Gruppe von Musikern Aufstellung genommen zwei Trommler und drei weitere junge Männer, die kleine, lautenähnliche Instrumente spielten. Die Klänge waren sanft und einschmeichelnd wie auch der Gesang, den sie dazu anstimmten. Edwin Carberry, Ferris Tucker und die anderen hockten auf dem Erdboden, wie es die Polynesier auch taten. Und die
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Seewölfe zeigten offenes Vergnügen daran, sich von den Mädchen mit Gaumengenüssen verwöhnen zu lassen. Überall hatten die Gibbons volle Bewegungsfreiheit, durften Leckereien von den Palmenblättern stibitzen und wurden von den Polynesiern bereitwillig gefüttert, sobald sie fordernd die überlangen Arme ausstreckten. Lediglich die Männer der „Isabella“ hatten das Recht, die haarigen Wesen aus ihrer Nähe zu verscheuchen. Als Menschen, die ihrerseits einen AffenGott befehligten, verfügten sie in den Augen der Polynesier offenbar automatisch über dieses Recht. Arwenack hatte einen Ehrenplatz zu Füßen des Seewolfs und ein eigenes Palmenblatt mit Mango-Früchten und Kokosnüssen erhalten. Sein Interesse an dem OberGibbon, der mit blasierter Miene durch die Menschenansammlung stolzierte und sich hier und da einen Bissen reichen ließ, war erlahmt. Hasard saß neben dem Inder vor dessen königlicher Hütte. Ihre Sitzgelegenheit bestand aus stuhlähnlichen Holzgestellen, die mit Affenfellen ausgepolstert waren. Das schattenspendende Vordach der Hütte war aus Palmenblättern gefertigt wie alles, was die Polynesier auf dieser Insel als Behausung verwendeten. Wegen der Bordwache auf der „Isabella“ gab es für den Seewolf keine Sorgen. Ben Brighton, so war es vereinbart worden, hatte das Geschehen bei der Ankunft auf der Insel mit dem Spektiv beobachtet. So wußte er also, daß es bislang keine Komplikationen gegeben hatte. „Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel“, sagte Charangu nach einer Weile des Schweigens, „aber ich muß es noch einmal zur Sprache bringen ...“ Er zögerte. Hasard blickte ihn gelassen von der Seite an. „Das Mädchen?“ „So ist es, Mister Killigrew.“ Charangu biß ein Stück von einer Papaya-Frucht ab und warf den Rest auf ein hölzernes Tablett, das neben ihm auf einem Hocker stand. Mit einem weißen Tuch betupfte er seine Lippen. „Wissen Sie, es ist mir sehr unangenehm, daß ich dieses Thema nicht
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unter den Tisch fallen lassen kann. Aber es geht auch darum, daß ich meine Autorität als König dieses kleinen Volkes wahren muß.“ „Ich verstehe“, entgegnete Hasard ruhig und deutete auf die Polynesier, die in unmittelbarer Nähe am Boden hockten. „Eine grundsätzliche Frage: Versteht irgendjemand hier Englisch?“ Für einen Moment verzog Charangu das Gesicht, zwang sich dann aber, sein verbindliches Lächeln fortzusetzen. „Nein, niemand. Alles, was sie können, haben sie von mir gelernt. Die englische Sprache habe ich ihnen nicht beigebracht. Wozu auch? Diese Insel ist eine Welt für sich. Es gibt keine Verbindung mit dem Rest der Welt.“ „Und woher stammen Ihre Englischkenntnisse, Charangu?“ „Nun, ich habe einiges von der Welt gesehen, bevor ich hierher verschlagen wurde. Und da Englisch beginnt, eine Weltsprache zu werden ...“ Er hob die Hände zu einer Gebärde, die für sich sprechen sollte. „Es klingt geheimnisvoll, was Sie sagen.“ Hasard hatte keine Skrupel, vom eigentlichen Thema abzulenken. Solange der Inder es sich gefallen ließ, bewies er seine Unsicherheit. „Sie sind also nicht freiwillig nach Kahoolawe gelangt?“ „Nein, nein.“ Charangu antwortete eine Spur zu hastig. „Ich bin als Schiffbrüchiger hier gelandet. Die Eingeborenen haben mich aufgepäppelt. Und weil ich für sie ein Wesen aus einer fremden Welt war, haben sie mich zu ihrem König ernannt. Ich konnte nichts dagegen tun. Aber hätten Sie sich an meiner Stelle gesträubt? Ein besseres Leben als jetzt kann ich kaum führen, nicht wahr?“ Hasard zuckte mit den Schultern. „Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen“, sagte er vieldeutig. „Wie lange leben Sie schon hier?“ „Genau weiß ich es nicht. Fünf Jahre, sechs Jahre ... Wissen Sie, in der ersten Zeit habe ich mir meinen eigenen Kalender angefertigt. Aber man gewöhnt sich daran, daß man so etwas nicht braucht. Heute lebe
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ich im gleichen Rhythmus wie die Polynesier, und die richten sich nach dem Mond.“ „Auch nach dieser besonderen Art von Götterverehrung?“ Charangu lachte, und es klang unnatürlich. „Ja, damit wurde ich genauso konfrontiert wie Sie, Mister Killigrew. Sie haben es deutlich zum Ausdruck gebracht wie Sie darüber denken. Ich nehme es Ihnen beileibe nicht übel.“ „Sondern?“ „Ich habe mich mit den Dingen abgefunden, wie sie sind. Die Eingeborenen praktizierten diesen AffenKult bereits, als ich hier eintraf. Weil sie mich zu ihrem König ernannten, bin ich der einzige, der die lausigen Kreaturen nicht respektieren muß. Auch darüber bin ich froh. Oder hätten Sie Lust, ständig vor einem dummen Affen auf die Knie fallen zu müssen?“ „Ganz gewiß nicht.“ Hasard glaubte dem Inder kein Wort. Entweder hielt Charangu ihn für reichlich einfältig, oder er war allen Ernstes überzeugt, daß Hasard nicht über genügend Wissen verfügte, um ihn zu durchschauen. Denn soviel stand für den Seewolf fest: Auf einer Insel in diesen Breiten gab es normalerweise keine Gibbons. Der Inder mußte die Tiere also mitgebracht haben. Zumindest ein Pärchen, das den Grundstock für die zahlenstarke AffenPopulation gebildet hatte. Und das wiederum bedeutete, daß Charangu nicht als Schiffbrüchiger angetrieben worden sein konnte. „Sicher erscheinen Ihnen die Umstände merkwürdig, was Moana betrifft“, sagte der Inder nach einer Weile zögernd. „Allerdings.“ „Es ist aber nicht so, daß ich aus purem Vergnügen versucht habe, das Mädchen zurückzuholen. Sie ist eine Verbrecherin, wie ich sagte. Ich mußte ein Exempel an ihr statuieren: Wenn ich in solchen Fällen nicht hart durchgreife, könnte ein Chaos entstehen. Ich denke, Sie verstehen das.“ „Was hat sie getan?“
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Charangus Antwort folgte prompt. Aber er hatte auch genügend Zeit gehabt, sich diese Antwort zurechtzulegen. „Sie hat den Mann abgewiesen, der ihr zugeteilt wurde. Es ist hierzulande so wie in vielen anderen Teilen der Welt auch. Die Eltern eines Mädchens wählen für ihr Kind einen Bräutigam aus. Zwischen den Eltern des Mädchens und den Eltern des jungen Mannes wird ein Vertrag abgeschlossen, und daran hat sich gefälligst jeder zu halten. Moana aber entzog sich demjenigen, der ihr bestimmt war. Nur weil sie ihn nicht leiden konnte. Sie ist ein eigensinniges kleines Ding. Ich nehme an, sie war in einen anderen verliebt. Aber auch das ist streng verboten. Kein Mädchen darf vor der Heirat Beziehungen zu einem Mann haben. Sie können sich vielleicht vorstellen, welche strengen Sitten die einfältigen Menschen hier haben. Von mir als König erwartet man natürlich, daß ich in solchen Fällen für Ordnung sorge. Tue ich es nicht, muß ich selbst damit rechnen, daß ich bei meinem Volk in Ungnade falle.“ „Mhm“, brummte Hasard scheinbar verständnisvoll. Er runzelte die Stirn und tat, als denke er angestrengt nach. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Wie wäre es, wenn Sie mit meiner Hilfe alles zum besten wenden?“ Charangu zog überrascht die Brauen hoch. „Wie meinen Sie das?“ „Wir bringen Moana zurück auf die Insel. Dann verkünden wir, daß unser Schimpanse, der ja ein besonders hoher Gott ist, sein Urteil gesprochen hat.“ Hasard mußte sich zwingen, ernst zu bleiben. Er hatte alle Mühe, nicht in Gelächter auszubrechen. „Und wie soll das Urteil lauten?“ „Unser Gott würde bestimmen, daß Moana den Mann wählen kann, den sie wirklich liebt. Das könnte dann auch für alle Zukunft gelten, so daß es Probleme dieser Art auf Kahoolawe nicht mehr geben würde. Damit wäre doch letzten Endes auch Ihnen gedient, nicht wahr?“
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Charangu stützte das Kinn in seine rechte Hand und starrte mit zusammengekniffenen Augen zu Boden. Hasard hätte viel darum gegeben, jetzt die Gedanken des Inders lesen zu können. Mit Sicherheit wurden seine Schwierigkeiten größer, als sie ohnehin schon waren. In der Tat geriet. Charangu innerlich in wachsende Bedrängnis. Einerseits war das Angebot des Engländers natürlich äußerst verlockend. Auf diese Weise kehrte Moana auf die Insel zurück, ohne daß man große Anstrengungen dafür unternehmen mußte. Und das kleine Schauspiel, was das sogenannte Gottesurteil des fremden Affen betraf, ließ sich leicht inszenieren — dank der Sprachbarriere. Charangu schätzte sich in diesem Moment besonders glücklich, der einzige auf Kahoolawe zu sein, der beide Sprachen beherrschte. Andererseits aber wurde die Zeitknapp. Nur noch ein Tag blieb bis zur fälligen Auslieferung des Mädchens und der Perlenausbeute. Der Unsicherheitsfaktor waren in diesem Zusammenhang die Engländer. Wenn sie wirklich rechtzeitig verschwanden - in Ordnung. Wenn sie es sich aber noch anders überlegten... Charangu hob den Kopf. „Ich bin einverstanden“, sagte er und wußte im selben Moment, daß ihm ohnehin keine andere Wahl blieb. „Sehr gut!“ rief Hasard mit übertriebener Freude. „Ich lasse Moana so schnell wie möglich zurückbringen, und Sie tun das Ihre, indem Sie den Leuten erklären, was unser Freund Arwenack entschieden hat.“ Er strich lächelnd über den Kopf des Schimpansen. „Wir werden Ihnen in dieser schwierigen Situation selbstverständlich beistehen, Charangu. Ich kenne Naturvölker. Vielleicht akzeptieren sie das, was wir als Gottesurteil bezeichnen, nicht. Deshalb werden wir so lange auf der Insel bleiben und Moana bewachen, bis wir sicher sein können, daß ihr nichts geschieht.“ Charangu beherrschte sich in letzter Sekunde, um nicht seine Fassungslosigkeit zu zeigen. Er hatte das Gefühl, in einen endlosen Abgrund zu versinken. Dieser
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gottverdammte Fremde hatte ihn hereingelegt. Kaltlächelnd und mit der linken Hand. „Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, Mister Killigrew“, sagte Charangu dennoch mit überschwänglicher Höflichkeit und einer angedeuteten Verneigung. „Ich weiß Ihr Entgegenkommen sehr zu schätzen.“ Während er sich diese Worte abrang, wurde im eins klar: Es gab nur noch eine einzige Möglichkeit, um die Sache zum Guten zu wenden. Wenn Moana erst einmal auf der Insel war, mußte sie verschwinden. Spurlos und so schnell wie möglich. * Die Nachmittagssonne brannte vom strahlend blauen Himmel, und der Strand leuchtete in einer gleißenden Helligkeit, die die Augen schmerzen ließ. Eine Schar von Mädchen war bei den Auslegerbooten eifrig beschäftigt. Helles Lachen und Wortfetzen wehten durch die Luft. Ihre Stimmen klangen fröhlich und ausgelassen - mehr als sonst, denn Moana war wieder unter ihnen. Eilends verluden sie Flechtkörbe und Gerätschaften. Die Mädchen waren nur mit straff gewickelten Hüfttüchern bekleidet, und dennoch wirkten sie dabei natürlich, weil es für sie die selbstverständlichste Sache der Welt war. Hasard und Siri-Tong saßen auf dem Stamm einer abgestorbenen, umgestürzten Palme. Dan O'Flynn stand vor ihnen und drehte sich immer wieder zum Strand um. Er trug nur noch eine Leinenhose, die er bis zu den Knien aufgekrempelt hatte. Und er sah ungeduldig aus. „Jetzt kannst du reden“, sagte der Seewolf. Dan hatte ihn in den vergangenen Stunden mehrmals mit verstohlenen Blicken und Gesten darauf aufmerksam gemacht. Seit die zweite Gruppe der „Isabella“-Crew auf der Insel gelandet war, hatten sie nun zum ersten Male Gelegenheit für ein unbeobachtetes Gespräch.
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„Ich konnte mich mit Moana ein wenig verständigen“, sagte Dan hastig und drehte sich abermals um. „Mit der Zeichensprache kann man mehr ausdrücken, als ich für möglich gehalten hätte.“ Unten am Strand schoben die Mädchen das erste Auslegerboot ins Wasser. „Und?“ drängte Hasard. Siri-Tong blickte ihn lächelnd an, wurde aber sofort wieder ernst, als Dan O'Flynn fortfuhr: „Moana hat mir verklart, daß sie sterben sollte. Deshalb ist sie geflohen. Wenn ich richtig verstanden habe, war sie die erste, die das jemals gewagt hat. Vor ihr sind regelmäßig junge Mädchen verschwunden, so ungefähr jeden Monat.“ Er drehte sich erneut um. Die Mädchen schoben das zweite Boot ins Wasser. „Warum?“ fragte Siri-Tong. „Konntest du in Erfahrung bringen, warum die Mädchen verschwanden, Dan?“ „Nicht genau. Ich glaube, es war so eine Art Ritual. Die Leute mußten jedesmal das schönste Mädchen wählen, mit einer richtigen Abstimmung. Moana redete immer von ,Kuolai'. Das muß ein Berg sein, wenn ich richtig verstanden habe. Scheint so, als ob die Mädchen dorthin gebracht wurden. Mehr weiß ich nicht. Nur, daß Moana überglücklich ist. Immerhin haben wir ihr Leben gerettet.“ „Hat sie keine Angst?“ fragte Hasard zweifelnd. „Wir können sie doch nicht dauernd beschützen.“ „Sie glaubt an dieses - Gottesurteil“, entgegnete Dan, „sie glaubt daran, daß unsere Entscheidung durch nichts und niemanden umgestoßen werden kann.“ Er wandte sich um. Alle Auslegerboote waren mittlerweile zu Wasser gelassen worden. „Ich muß ein wenig nach dem Rechten sehen! Bis später!“ Dan hastete los, den Strand hinunter. Beim Laufen klatschte das schwere Entermesser gegen seine Hüfte. Er schnappte sich eins der leichteren Kanus und zog es zum seichten Wasser der Lagune. „Was vermutest du?“ fragte Siri-Tong.
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Hasard zog die Schultern hoch. Auch er hatte mittlerweile sein Hemd „abgestreift und ließ seinen muskulösen Oberkörper von der Sonne umschmeicheln. „Ich bin mir nicht sicher. Möglich, daß dieses Ritual mit Menschenopfern zu tun hat. Auf irgendwelchen Südseeinseln soll es vorkommen, daß sie Menschen in die brodelnden Krater von Vulkanen stoßen. Dadurch sollen die Götter besänftigt werden.“ „Welches Interesse sollte der Inder an solchen Opfern haben?“ „Eben. Das ist es, was mir nicht klar ist. Weshalb brauchen sie ausgerechnet besonders hübsche Mädchen für ein solches Ritual?“ Siri-Tong nickte bedächtig und versank in nachdenkliches Schweigen. Auch der Seewolf hing seinen Gedanken nach. Sinnierend blickte er Dan O'Flynn nach, der das kleine Kanu mit kräftigen Paddelschlägen auf die Lagune hinaustrieb, den Auslegerbooten folgend. Was Hasard als ein „Gottesurteil“ geplant hatte, war reibungslos abgelaufen. Charangu hatte eine kurze Ansprache an die Polynesier gehalten, nachdem Moana auf die Insel zurückgekehrt war. Aber was hatte der Inder wirklich gesagt? Nur Dan O'Flynn konnte das herauskriegen, indem er das Mädchen per Zeichensprache ausfragte. Von den französischen Freibeutern hatte offenbar keiner einen Fuß auf diese Insel gesetzt. Soviel schien inzwischen festzustehen. Denn alles sah danach aus, daß Charangu der erste Fremde gewesen sein mußte, der jemals auf Kahoolawe aufgetaucht war. In erster Linie ging es darum, Moanas Leben zu schützen. Das betrachtete Hasard als seine Pflicht, nachdem er sie gerettet hatte. Denn letzteres war nicht geschehen, um sie jetzt einem skrupellosen Ritualmord auszusetzen – falls es sich wirklich darum handelte. Zum anderen war Hasard mittlerweile versessen darauf, das Rätsel zu lösen, das auf Kahoolawe lastete. Die Menschen lebten hier unter einer ständigen
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Bedrohung. Und Hasard wurde das Gefühl nicht los, daß diese Bedrohung von niemandem anders als Charangu aufgebaut worden war. Er würde den Inder aus der Reserve locken. Charangu war nervös geworden. Hasard spürte es. Mit Siri-Tong und Dan O'Flynn waren Batuti, der Kutscher, Gary Andrews, Matt Davies, der alte O'Flynn, Jeff Bowie, Will Thorne, Big Old Shane und Moses Bill auf der Insel eingetroffen. Die anderen waren auf die Galeone zurückgekehrt, wo Ben Brighton nach wie vor das Kommando führte. Es hatte erhebliche Mühe gekostet, die Zwillinge ebenfalls an Bord zu halten. Aber Siri-Tong hatte ihren Entschluß schließlich durchgesetzt, und die Söhne des Seewolfs hatten sich beleidigt ins Mannschaftslogis verkrochen. Hasard gab der Roten Korsarin indessen recht. Bei der Ungewißheit darüber, was sich zusammenbrauen konnte, war es zu riskant, wenn sie sich auch noch um die Sicherheit der beiden Jungen kümmern mußten. In der Beziehung hatten sie mit den eigenwilligen kleinen Burschen zu viele schlechte Erfahrungen hinter sich. 6. Der Wind hatte merklich nachgelassen. Nur noch mit verhaltener Kraft rollte die Brandung gegen das Korallenriff. Unbewegt und majestätisch lag die „Isabella“ weit draußen vor Anker. Dan O'Flynn saß auf einer der Bänke des Riffs, die nur knapp über die Wasseroberfläche ragten. Gischtende kleine Wellen umspielten seine Füße, und er genoß die Abkühlung, die dies brachte. Er hatte das Kanu ebenfalls heraufgezogen, damit der empfindliche Rumpf aus Baumrinde nicht im Wellengang beschädigt wurde. Die Mädchen waren nur einen Steinwurf weit entfernt. Ihre Auslegerboote dümpelten geschützt auf der Innenseite des Riffs, und dort tauchten Moana und ihre
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Gefährtinnen immer wieder hinunter zu den Muschelbänken. Ein unermeßlicher Reichtum mußte dort in der geringen Tiefe der Lagune ruhen, denn die Körbe der Mädchen füllten sich rasch mit jenen dunklen Muscheln, die die begehrten Perlen in sich bargen. Dan stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in beide Hände. Versonnen schaute er den Mädchen bei ihrer Arbeit zu. Es war ein faszinierendes Schauspiel, das sie boten. Mit ihren gertenschlanken Körpern verfügten sie über beträchtliche Ausdauer. Neidlos mußte Dan anerkennen, daß er selbst kaum in der Lage war; sie zu übertreffen. Wahrscheinlich hatten sie das Tauchen schön von Kindheit an geübt. Immer wieder zählte er in Gedanken mit, wenn Moana auftauchte, eine Handvoll Muscheln in den Korb in ihrem Boot warf, Luft holte und wieder wegtauchte. Die Sekunden dehnten sich endlos. Dan schüttelte ungläubig den Köpf. Nur ständige Übung konnte zu solchen Leistungen führen. Und bei den gewandten Bewegungen der Mädchen tauchte in seinen Gedanken der Vergleich mit jenen Meeresbewohnern auf, die die nördlichsten Breiten der Erde bevölkerten. Wie phantastisch war es gewesen, diese unnachahmlich gleitenden und elastischen Bewegungen jener Seehunde und Robben zu beobachten, die eins waren mit dem nassen Element. Diese jungen Polynesierinnen bewiesen, daß auch Menschen sich diesem Element in hohem Maße anzupassen vermochten. Immer wenn sie auftauchten, waren ihre glockenklaren Stimmen zu hören - fröhlich und. ausgelassen. Dabei war es harte Arbeit, die sie leisteten. Dan gelangte zu der Überzeugung, daß ein so heiterer und stets freundlicher Menschenschlag wie hier in der Südsee äußerst selten war. Aber für was leisteten sie überhaupt diese Arbeit? Weshalb bürdeten sie sich solche Mühe auf? Wenn es stimmte, daß die Bevölkerung dieser Insel noch niemals mit der Außenwelt Verbindung gehabt hatte zu was brauchten sie dann die Perlen? War es nur, weil sie selbst Gefallen daran
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gefunden hatten? Wenn ja, dann mußten sie die Perlen irgendwo auf der Insel horten. Dieser Gesichtspunkt stimmte Dan nachdenklich. Er beschloß, der Frage bei nächster Gelegenheit auf den Grund zu gehen. Ein Impuls drang plötzlich in sein Bewußtsein vor. Es war eine Bewegung, die er anfangs nur aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Und dennoch schlugen seine Sinne jäh Alarm. Dans Kopf ruckte nach links. Im selben Atemzug erstarrte er. Ihm war, als gefriere das Blut in seinen Adern. Eine Dreiecksflosse. Dunkelgrau und drohend schnitt sie durch die leuchtendgrünen Fluten — weniger als eine Kabellänge entfernt. Dan wollte einen Warnschrei ausstoßen. Doch sein Blick wurde weiter nach links gelenkt. Drei, vier, nein fünf weitere solcher Flossen, die tödliche Gefahr signalisierten. Ein ganzes Rudel von Haien war durch die Öffnung im Riff in die Lagune eingedrungen. Dan sprang auf. „Achtung!“ brüllte er. „Haie!“ Die Mädchen, die gerade aufgetaucht waren und sich an den Booten festhielten, lachten, winkten ihm zu. Sie verstanden ihn nicht. Er selbst war es, der ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Und sie begriffen nichts von der mörderischen Gefahr, die ihnen nahte. „In die Boote!“ versuchte Dan es noch einmal. Dazu gestikulierte er. Vielleicht zu hastig, denn sie reagierten noch immer nicht. Er erreichte nur, daß sie ihr Lachen und Winken abbrachen und verwundert zu ihm schauten. Dan stieß einen Fluch aus. Sein Blick suchte Moana, doch er konnte sie nicht entdecken. Sie mußte sich noch unter Wasser befinden. Er spannte die Muskeln: Wieder spähte er in die Richtung, in der er die Haie gesehen hatte. Der vorderste hatte sich bereits auf eine halbe Kabellänge genähert. Fast hatte es
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den Anschein, als sondiere er die Lage für seine räuberischen Gefährten. Plötzlich, bevor Dan den Gedanken zu Ende führen konnte, schoß die Dreiecksflosse vorwärts und jagte mit rasch zunehmender Geschwindigkeit auf die Auslegerboote zu. Das Rudel verharrte weiter entfernt. Dan O'Flynn überlegte nicht mehr. Er stieß sich ab und schnellte mit kraftvollem Kopfsprung in die schimmernden Fluten. Zwei Wahrnehmungen bestürmten ihn in dem winzigen Moment, bevor er eintauchte. Der Entsetzensschrei, den die Mädchen ausstießen. Und der schlanke Körper des Haies, der jetzt auf gleicher Höhe mit ihm war. Dan riß die Augen weit auf und unterdrückte das anfängliche Brennen des Salzwassers. Mit zügigen Schwimmbewegungen glitt er knapp unter der Wasseroberfläche voran. Der Hai hatte ihn bemerkt. Dan sah, wie sich der mächtige Leib des Raubfischs schlagartig krümmte und seine Richtung änderte. Reaktionsschnell tauchte der junge O'Flynn auf, holte tief Luft und stieß wieder hinunter. Das menschenfressende Monstrum schoß auf ihn zu. Dan registrierte die Einzelheiten in grausamer Deutlichkeit: das breite Maul mit den mörderischen Zähnen, die tückisch funkelnden kleinen Augen. Es schien, als grinse das Tier in mörderischer Vorfreude. Zwar sagte man, daß Haie nur dann angriffen, wenn sie frisches Blut gewittert hatten. Aber darauf wollte Dan sich nicht verlassen. Und dieser furchterregende Bursche sah beim besten Willen nicht so aus, als würde er sich durch eine Handbewegung verscheuchen lassen. Dan zog das schwere Entermesser aus der Scheide. Noch fünf, sechs Yards. Rasend schnell schmolz die Entfernung zusammen. Wie ein gigantisches, lebendes Geschoß raste das Tier auf ihn zu. Dan berechnete den Moment seiner Gegenwehr mit eiskalter Todesverachtung. Er zählte die Sekunden.
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Mit einem jähen Schwimmstoß, in den er alle Kraft legte, glitt er abwärts und drehte sich dabei gleichzeitig um die eigene Achse. Der mächtige Körper glitt über ihn weg. Dan spürte die rauhe Haut des Tiers auf seinen Unterschenkeln. Blitzschnell stieß er das Entermesser hoch. Knapp vor der Schwanzflosse fuhr die breite Klinge in den Leib des Hais. Der Körper zuckte. Dunkelrotes Blut faserte wie eine düstere Wolke in das leuchtende Wasser. Die Schwanzflosse bewegte sich peitschend, und das Tier schoß davon. Dan empfand noch keine Erleichterung. Der Druck, den die knapp werdende Atemluft in seinem Kopf verursachte, zwang ihn zum Auftauchen. Krampfhaft rang er nach Atem, als er über die Wasseroberfläche hinausschoß. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Er war bereit, wieder hinunterzutauchen und sich dem mörderischen Kampf zu stellen. Da sah er die Dreiecksflosse, die sich entfernte – zur Öffnung im Riff hin. Und schlagartig begriff Dan. Der Mörderhai ergriff die Flucht. Die Flucht vor seinen eigenen Artgenossen. Dort, wo bis eben das Rudel der Haie gelauert hatte, entstand ein Brodeln. Mächtige Flossen peitschten das Wasser, Fontänen stiegen auf. Sie hatten das Blut gewittert, das ihren Tötungsinstinkt: weckte. Daß es kein Menschenblut war, bedeutete für die Bestien keinen Unterschied. Und der verwundete Hai hatte die Gefahr mit eben jenem Instinkt gespürt. Aber die Flucht gelang ihm nicht mehr. Weit vor dem natürlichen Tor des Riffs begann die Lagune zu kochen. Die kristallklaren Fluten färbten sich dunkel, und der Schaum, den die peitschenden Schwanzflossen auf der Wasseroberfläche verursachten, war hellrot. Mehr war nicht zu sehen. Und dennoch genügte es. Allein die Vorstellung, wie die Haie ihren eigenen Artgenossen in unermeßlicher Freßgier zerfleischten, erregte in Dan O'Flynn ein Gefühl des
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Grauens. Er wandte sich ab und schwamm zu den Auslegerbooten hinüber. Die Mädchen hatten sich bereits alle in die Boote gerettet. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen blickten sie zu dem Schauplatz des grausigen Geschehens. Es schien kein Ende zu nehmen. Immer noch brodelte das Wasser, und zeitweise waren Schwanz- oder Rückenflossen der Haie zu sehen. Dan zog sich in das Boot, in dem Moana mit zwei Gefährtinnen kauerte. Vergessen waren die Fragen, die ihn bewegt hatten. Vergessen all das, über das er sich mit Moana hatte verständigen wollen. Jetzt zählte nur die Tatsache, daß ihr Leben gerettet war. Moana umarmte den jungen Mann mit einem leisen Aufschrei. Zitternd barg sie ihren Kopf an seiner Schulter, und er strich ihr sanft über das Haar. Die beiden anderen Mädchen wandten den Blick zur Seite. Sie waren blaß, ihre Gesichter noch immer vom Entsetzen gezeichnet. „Es ist alles vorbei“, sagte Dan leise, obwohl er wußte, daß Moana ihn nicht verstand. Doch er wußte, daß sie spürte, was er ausdrücken wollte. Irgendwann, nach endlosen Minuten, war die blutige Freßorgie der Haie vorüber. Die Dreiecksflossen zogen davon, durch das Tor im Riff, und ließen ein blutiges Feld im ruhiger werdenden Wasser der Lagune zurück. Die Mädchen hatten sich halbwegs von ihrem Schreck erholt. Dan holte das Kanu und kehrte im Pulk der Auslegerboote an den Strand von Kahoolawe zurück. Dort hatten sich Menschen und Gibbons in heller Aufregung versammelt. Doch als sie alle Mädchen unversehrt sahen, brach ein Sturm der Begeisterung los. Die Polynesier umringten Dan O'Flynn, der Moana im Arm hielt und sich insgeheim wunderte, warum kein eifersüchtiger Bräutigam auftauchte. Doch für solche Gedanken blieb keine Zeit. Frauen behängten Dan mit Blumenkränzen, und die Männer tanzten mit beifälligen Gesten um ihn herum. In einem wahren Triumphzug geleiteten sie den Retter der Mädchen zurück ins Dorf.
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Die Männer von der „Isabella“ folgten der Meute mit einigem Abstand. Sie gönnten Dan den Ruhm, den er jetzt auf der Insel genoß. Denn immerhin hatte er nicht mehr und nicht weniger als sein Leben eingesetzt. * Hasard und Siri-Tong, die sich etwas abseits gehalten hatten, waren im Begriff, der Menschenmenge zu folgen. Unvermittelt erblickten sie den Inder. Er hatte sich an den jubelnden Polynesiern vorbeigedrängt und näherte sich mit gravitätischen Schritten dem Strand. Der seidene Umhang, den er wieder trug, unterstrich sein Gehabe. Die Rote Korsarin wechselte einen raschen Blick mit dem Seewolf. Sie blieben stehen. Siri-Tong hatte auf Anhieb ein schlechtes Gefühl gehabt, wie sie es nannte. Dieses schlechte Gefühl beschlich sie immer dann, -wenn sie Menschen begegnete, die ihr unsympathisch waren, ohne daß sie eine Erklärung dafür hatte. Frauen, so pflegte sie zu erklären, hätten eben ein besonders ausgeprägtes Gefühl dafür, die Wesenszüge von Menschen auf Anhieb einzustufen. Und Hasard hatte sich schon manches Mal gewundert, wie sehr diese besagten Gefühle Siri-Tongs zutrafen. In Bezug auf Charangu war er mit ihr allerdings sofort voll und ganz einig gewesen. „Einen tapferen jungen Burschen haben Sie da in Ihrer Mannschaft`“, sagte der Inder und faltete die Hände vor dem Bauch. Hasard nickte. „Er hat getan, wozu er sich verpflichtet fühlte. Und er tat es so schnell, daß ich keine Gelegenheit mehr hatte, ihm zu Hilfe zu eilen.“ Charangu bewegte den Kopf auf und ab, obwohl seine geistesabwesende Miene zeigte, daß er kaum zugehört hatte. „Es ist seltsam“, murmelte er, „wir haben sonst so gut wie nie Haie hier. Ob die Bestien durch das fremde Schiff angelockt wurden?“
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„Sie meinen, durch mein Schiff?“ Charangu schien aus seiner Abwesenheit zu erwachen. „Oh, Verzeihung, Mister Killigrew. So habe ich das nicht gemeint. Sie verstehen, ich suche eine Erklärung für diesen Zwischenfall. Ich muß mir etwas einfallen lassen. Möglicherweise könnte die Stimmung der Polynesier gegen Sie aufgewiegelt werden, wenn sie sich erst einmal von der Freude erholt haben. Vielleicht glauben diese einfältigen Menschen, daß die Götter zornig seien. Und dann werden sie es womöglich mit einem bösen Omen in Zusammenhang bringen. Ein böses Omen, das sich mit dem Erscheinen des fremden Schiffes in Verbindung bringen ließe.“ „So einen Unsinn würde ich nicht vermuten“, sagte Siri-Tong scharf. Sie ließ den Inder deutlich spüren, daß sie ihn nicht mochte. „Oder wollen Sie damit andeuten, daß es besser wäre, wenn wir die Insel vorzeitig verlassen würden?“ Charangu zuckte zusammen. „Um Himmels willen, nein! Wie können Sie so etwas vermuten! Ich bitte um Verzeihung, wenn Sie einen solchen Eindruck aus meinen Worten gewinnen mußten.“ „Schon gut.“ Siri-Tong lächelte scheinbar freundlich. Sie kannte alle Überlegungen, die Hasard über Charangu und die merkwürdigen Verhältnisse auf Kahoolawe angestellt hatte. Und geradezu genüßlich fuhr sie fort: „Wir haben uns nämlich gerade überlegt, daß wir noch bis morgen oder übermorgen bleiben werden. Wir werden dann Zeit haben, frisches Wasser an Bord mannen zu lassen und vielleicht auch einige Proviantvorräte. Natürlich werden wir dafür einen Gegenwert an nützlichen Dingen zahlen, die die Leute hier gebrauchen können.“ Charangu wurde grau im Gesicht. Er hatte sichtliche Mühe, seine Fassung zu wahren. Die Willenskraft, mit der er sich zur Höflichkeit zwang, mußte enorm sein. „Selbstverständlich sind Sie unsere Gäste, solange Sie wollen. Und ich würde es niemals zulassen, daß Sie für etwaige
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Vorräte bezahlen. Ich müßte das geradezu als Beleidigung auffassen.“ „Wie Sie meinen“, sagte Siri-Tong mit unverändertem Lächeln. „Wir sind Ihnen sehr dankbar, Majestät. Schon im voraus.“ „Oh, ich betrachte das als eine Selbstverständlichkeit.“ Charangu überhörte den unverhohlenen Spott im Unterton von Siri-Tongs Stimme und schaffte es sogar, wieder eine strahlende Miene aufzusetzen. „Wir könnten ihnen auch eine gewisse Menge an Perlen abkaufen“, sagte Hasard, ohne zu wissen, daß er damit den gleichen Gedanken hatte, der auch Dan O'Flynn bereits bewegt hatte. „Denn in Europa werden Perlen zu Schmuck verarbeitet.“ Charangus Strahlen vereiste. „Ja, ich habe davon gehört. Aber die Polynesier werden ihre Perlen nicht hergeben. Sie brauchen sie für kultische Zwecke. Es sind Schätze, die den Göttern geopfert werden, weil sie von den Göttern auf den Muschelbänken gesät wurden.“ Abrupt wandte sich der Inder ab und schritt mit. wallendem Umhang zurück ins Dorf, wo die Musik und die ausgelassene Stimmung der Menschen lauter geworden waren. 7. Die Nacht senkte sich rasch über Kahoolawe. Der Übergang vom hellen Tageslicht zur sanften Dunkelheit vollzog sich wie in einem Atemzug: Europäer, die dieses Phänomen in südlichen Breiten zum ersten Male erlebten, pflegten in Erstaunen zu geraten. Für den Seewolf und seine Männer war es indessen nichts Ungewöhnliches mehr. Auf der Insel war Ruhe eingekehrt. Die Menschen hatten sich auf Charangus Anordnung folgsam in ihre Behausungen zurückgezogen. Auch für die Gäste aus dem unbekannten Teil der Welt gab es hinreichende Unterkunft. Nur vereinzelt war noch das Gezeter der Gibbons zu hören. Weiter entfernt kreischten einige der wenigen Tropenvögel, die Kahoolawe bevölkerten.
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Am Rand des Palmenwaldes, der den Dorfplatz umgrenzte, hatten Hasard und Siri-Tong unter einem schrägen Schutzdach ihr Nachtlager aufgeschlagen. Es hatte sich nur Wenig abgekühlt. Dennoch warfen sie sich die Decken über, die sie von der Galeone hatten herüberschaffen lassen. Während der Nachtstunden würden die Temperaturen noch beträchtlich absinken. Der Himmel war sternenklar, und eine dünne Mondsichel spendete fahles Licht. Dennoch war es unter den mächtigen Kronen der Palmen fast völlig dunkel. Nur auf der Lichtung, die das Dorf einnahm, waren die Konturen der Hütten mit verschwommenen Schattenlinien zu erkennen. Die Männer von der „Isabella“ hatten sich in verschiedenen Hütten für die Nacht eingerichtet – so, wie es sich durch die freundschaftlichen Kontakte, die sie tagsüber geknüpft hatten, ergeben hatte. Nach den ausgiebigen Gaumengenüssen waren sie alle augenblicklich in tiefen Schlaf gefallen. Diese angenehme Seite des Lebens hatte sie schläfriger werden lassen, als die härteste und knochenschindendste Arbeit an Bord der Galeone es vermocht hätte. Hasard hatte sich vor Einbruch der Dunkelheit auch mit Ben Brighton verständigt. Ben würde eine verstärkte Nachtwache auf der „Isabella“ aufziehen lassen, und die Männer erhielten ausdrückliche Order, die Ohren zu spitzen und die Insel in regelmäßigen Abständen mit dem Kieker zu beobachten. Zur weiteren Verständigung verfügten die Seewölfe über die bewährten Mittel aus Al Conroys Trickkiste. Arwenack, der mittlerweile jedes Interesse an den trägen und vollgefressenen Gibbons verloren hatte, kauerte neben dem schrägen Schutzdach aus Palmenblättern. Seine gedrungene Statur und sein schwarzes Fell verschmolzen mit der Dunkelheit, die ihn umgab. Tiefe Atemzüge zeigten an, daß auch der Seewolf und die Rote Korsarin zur Ruhe gefunden hatten. Eine
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wohlverdiente Ruhe nach den Strapazen der zurückliegenden Tage. Die Zeit verrann, Sekunden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Arwenack harrte regungslos aus. Der Instinkt hielt ihn in der Nähe seines Herrn. Ein Instinkt, der aus der fremden Umgebung herrührte, in der der Schimpanse sich ebenso wenig auf Anhieb heimisch fühlen konnte wie ein Mensch. Er brauchte das Vertraute, und das waren in diesem Fall Hasard und SiriTong. Auch das Zetern der Gibbons hatte mittlerweile nachgelassen. Nur vereinzelte Schreie von Vögeln waren noch aus größerer Entfernung zu hören. Doch diese Schreie reichten nicht aus, um jene kaum merklichen Geräusche zu überdecken, die Arwenack plötzlich vernahm. Ein leises Rascheln. Dann wieder Stille. Arwenack hob den Kopf. Aber er bewegte sich nicht. Wieder ein Rascheln. Es war eine Erfahrung, die den Schimpansen handeln ließ. Eine Erfahrung, die er seinem Leben an Bord der englischen Galeone verdankte. In unzähligen gefahrvollen Situationen hatte er das Verhalten der Menschen beobachtet. So wußte auch er jetzt, was er zu tun hatte. Langsam und völlig lautlos bewegte er sich auf den schlafenden Seewolf zu und zupfte an seiner Schulter. Hasard erwachte sofort, doch er rührte sich nicht, sondern schlug lediglich die Augen auf. Er sah die leuchtendweißen Zähne Arwenacks und das Helle seiner Augen. Unvermittelt legte der Schimpanse seinen langen schwarzen Zeigefinger vor die Lippen. Hasard begriff augenblicklich. Vorsichtig schälte er seine Arme aus der Decke und berührte Siri-Tong sanft am Oberarm. Auch sie reagierte so, wie es in vielen Momenten der Gefahr zur lebensrettenden Gewohnheit geworden war. Der Seewolf und die Rote Korsarin blieben regungslos und stellten sich schlafend. Und
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nun hörten auch sie das, was den guten alten Arwenack alarmiert hatte. Schritte. Sie versuchten, sich so leise wie möglich zu bewegen. Doch auf dem mit Pflanzen und trockenem Gestrüpp überdeckten Boden war absolute Geräuschlosigkeit praktisch ausgeschlossen. Langsam, unendlich langsam, befreiten sich der Seewolf und die Rote Korsarin vollends von ihren Decken. Jäh waren die Schritte in ihrer unmittelbaren Nähe. Von allen Seiten. Arwenack stieß plötzlich ein helles Keckern aus. Im selben Moment geschah es. Dunkle Gestalten stürmten auf Hasard und Siri-Tong ein. Ihre Augen hatten sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie die Silhouetten der Männer erkennen konnten. Zischende Geräusche waren zu hören. Es blinkte metallisch. Knüppel und Messer. Der Seewolf und die Rote Korsarin schnellten hoch. Keins der Mordinstrumente traf sein Ziel. Arwenack suchte mit einem schrillen Laut das Weite. Ein dumpfer Schlag traf die Stelle, an der sich eben noch Siri-Tongs Kopf befunden hatte. Aus dem Aufspringen heraus wirbelte der Seewolf herum. Unmittelbar vor ihm war eine der schattenhaften Gestalten. Der Polynesier konnte seinen eigenen Sprung nicht mehr bremsen. Von seinem ganzen Körpergewicht getrieben, fuhr sein Messer an der Stelle in den Erdboden, an der er den Kapitän der fremden Galeone noch vermutete. Hasard schlug unbarmherzig zu. Der Mann sackte in sich zusammen und begrub das Messer unter sich. Aus den Augenwinkeln heraus sah Hasard, daß Siri-Tong wie eine Tigerin kämpfte. Mindestens drei oder vier Gestalten waren es, die auf sie eindrangen. Wie es schien, hatte Siri-Tong einen der Knüppel erwischt, mit denen die Polynesier bewaffnet waren. Aber der Seewolf war selbst noch zu sehr in Bedrängnis. Er schaffte es noch nicht,
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der Roten Korsarin zu Hilfe zu eilen. Ein Messer blitzte haarscharf vor ihm auf. Hasard wie aus, unterlief den Angriff. reaktionsschnell und konterte mit blitzartiger Gegenwehr. Der Angreifer schrie erschrocken auf, als er plötzlich von den Fäusten des Seewolfs emporgehoben wurde. Das Messer wirbelte durch die Luft und fiel irgendwo zu Boden — gefolgt von seinem Eigentümer, der hart aufschlug. Hasard erhielt kaum Zeit zum Luftholen. Arme schlangen sich plötzlich von hinten um seinen Hals und drückten mit unerwarteter Kraft zu. Ein zweiter Angreifer schnellte von vorn auf ihn los. Der erhobene Knüppel wurde vor dem helleren Nachthimmel erkennbar. Hasard spannte seine Muskeln und mobilisierte alle Kraftreserven. Seine Fäuste ruckten empor und bekamen die Oberarme des Mannes zu fassen, der ihm im Nacken hing. Und beiden Angreifern wurde auf schmerzliche Weise klar, daß sie sich in der Muskelkraft des Seewolfs mächtig verschätzt hatten. Hasard ging in die Knie und riß den Mann, der seine Kehle zudrückte, mit einem blitzartigen Ruck nach vorn. Der Polynesier stieß einen Schrei aus, als er fast waagerecht durch die Luft segelte. Und im nächsten Sekundenbruchteil verstummte er. Denn der Knüppel, der eigentlich dem Seewolf zugedacht war, traf ihn. Dann ging auch der Knüppelschwinger zu Boden, als er von dem Anprall seines Gefährten überrascht wurde. Der Seewolf kreiselte herum. Siri-Tong hatte immer noch drei Gegner am Hals. Aber die Rote Korsarin hegte die gleichen Gedanken wie Hasard. Sie wollte diese Männer nicht töten — diese Menschen, die von Charangu zu willenlosen Werkzeugen erniedrigt worden waren. Hasard wollte sich mit dem Burschen befassen, der sich soeben unter dem Körper des Bewußtlosen hervorschälte. Doch der Mann dachte nicht mehr an einen Angriff. In panischer Hast warf er sich herum und war im nächsten Moment in der
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Dunkelheit des Palmenwaldes verschwunden. Unterdrücktes Keuchen und das Scharren von Schritten waren nach wie vor zu hören. Siri-Tong wehrte ihre zwei verbliebenen Gegner mit dem Knüppel ab, den sie als Barriere gegen die immer wieder zustoßenden Messer benutzte. Der Seewolf war mit einem Satz bei ihr, und ehe die beiden Burschen begriffen, was ihnen blühte, hatte er sie im Nacken gepackt. Als er sie mit den Köpfen zusammenstieß, versanken sie augenblicklich in tiefen Schlaf. „Meinst du, ich hätte das nicht selbst geschafft?“ sagte Siri-Tong, die nur ein wenig außer Atem geraten war. Ihre Augen sprühten Funken. Hasard wollte antworten, doch ein Rascheln war plötzlich hinter seinem Rücken zu hören. Er wirbelte herum. Dann mußte er lächeln. Ein Schatten glitt auf ihn zu, hangelte an seinem Arm empor und hockte im nächsten Moment auf seiner Schulter. „Allmählich findet er Gefallen daran.“ Die Rote Korsarin lachte. „Paß auf, du wirst ihn bald nicht mehr los!“ „Diesmal hat er sich den Ehren- platz redlich verdient“, entgegnete Hasard, „ich wüßte nicht, wo wir ohne ihn wären.“ Arwenack keckerte fröhlich, als hätte er die Worte des Seewolfs verstanden. Hasard wußte indessen, daß mit dem Überfall die Geschehnisse dieser Nacht keineswegs ausgestanden waren. Er hatte das sichere Gefühl, daß es jetzt erst richtig losging. * Dan O'Flynn warf sich im Schlaf hin und her — von wirren Träumen geschüttelt, die wie eine Vorahnung aus seinem Unterbewußtsein auf ihn einstürmten. Die Unbefangenheit und Geradlinigkeit der Polynesier hatte es ihm erlaubt, für die Nacht eine Hütte mit Moana zu teilen. Etwas fauchte an seinem Gesicht vorbei. Ein harter Schlag ließ den Boden Unter seinem Kopf erbeben.
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Dan war schlagartig hellwach und zuckte hoch. Eine Faust traf seinen Brustkasten und schleuderte ihn zurück. Er sah den Knüppel, der ihn um Haaresbreite verfehlt hatte. In der Dunkelheit der Hütte hörte er nur den hastigen Atem der Männer. Wie viele es waren, vermochte er beim besten Willen nicht abzuschätzen. Geistesgegenwärtig griff er nach dem Knüppel, bevor dessen Besitzer ihn hochreißen konnte. Wieder traf ihn ein Faustschlag, doch Dan ließ nicht locker. Er zog mit einem kraftvollen Ruck. Der Mann, der den Knüppel hielt, fiel auf ihn und drängte ungewollt den anderen zur Seite, der ihn finit Fausthieben außer Gefecht zu setzen suchte. Plötzlich ein leiser, erstickter Schrei. Dann war es sofort wieder still. Es traf Dan bis ins Mark, denn er begriff augenblicklich, was geschah. „Moana!“ keuchte er und Versuchte gleichzeitig, die Last von seinem Körper zu wälzen. Aber das Mädchen antwortete nicht. Hatten die Kerle sie schon umgebracht? Oder vielleicht nur bewußtlos geschlagen? Dans Nerven begannen zu rebellieren. Endlich gelang es ihm, den Mann zur Seite zu schleudern, der verzweifelt nach seinem Knüppel rang. Doch sofort waren wieder die anderen zur Stelle, die Dan in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Die Übermacht war zu groß. Mit geballtem Ansturm brachten sie Dan O'Flynn zu Fall, noch bevor er vollends auf die Beine gelangen konnte. Ein harter Schlag traf ihn. Er sank zurück und kämpfte verzweifelt gegen die Ohnmacht an, die in ihm aufzuwallen drohte. Ein scharfer, gezischter Befehl ertönte. Die Angreifer wandten sich ab und schienen es eilig zu haben. Ihre Schritte entfernten sich rasch. Dan wandte alle Willenskraft auf, die in ihm steckte. Und mit der Zähigkeit seines jungen, gestählten Körpers gelang es ihm, die Bewußtlosigkeit zu bezwingen. Zwar brauchte er endlos lange, wie es ihm erschien, die Benommenheit abzuschütteln,
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doch schließlich schaffte er es, sich aufzurappeln. Schmerzen hämmerten in seinem Kopf. Er schwankte bedrohlich. Aber er blieb auf den Beinen. Sich zu bücken, riskierte er nicht. Mit den Füßen suchte er die Stelle ab, an der Moana geschlafen hatte. Die Gewißheit traf ihn wie ein erneuter, imaginärer Hieb. Die heimtückischen Kerle hatten das Mädchen entführt. Dan stürmte ins Freie. Die Hütte stand am Rand des Dorfplatzes. Alles war ruhig. Niemand schien den Zwischenfall bemerkt zu haben. Wie gehetzt warf er den Kopf herum und spähte angestrengt nach allen Seiten. Plötzlich waren Schritte zu hören. Hatten sich die Kerle bis eben versteckt? Suchten sie erst jetzt das Weite? Dan dachte keine Sekunde lang darüber nach. Er war sicher, schattenhafte Bewegungen zwischen den lichten Stämmen der Palmen zu erkennen. Der hellere Nachthimmel, vor dem sich die Bäume abzeichneten, ermöglichte dies. Die Entführer flohen zur Ostseite der Insel. Dan sah es jetzt deutlich, und seine scharfen Augen hatten ihn noch nie im Stich gelassen. „Ar — we — nack!“ brüllte er, während er schon loslief. „Ar — we — nack !“ Der alte Schlachtruf der Seewölfe hallte weit durch die Stille der Nacht. Dan erreichte die Baumreihen. „Ar — we — nack!“ schrie er wieder. „Nach Osten! Nach Osten!“ * Hasard und Siri-Tong hörten es, als sie zum Zentrum des Dorfes eilten. Sie erkannten die Stimme Dan O'Flynns sofort. Innerhalb von wenigen Sekunden wurde es lebendig. Von allen Seiten stürmten die Männer der „Isabella“ herbei. Gary Andrews hatte eine Fackel angezündet. Der blakende Feuerschein erhellte den Dorfplatz nur spärlich. Die Polynesier, die aus dem Schlaf geweckt worden waren, verharrten zögernd in der Nähe ihrer Hütten.
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Die Männer versammelten sich um Hasard und Siri-Tong. Old Donegal Daniel O'Flynn tauchte als letzter auf. „Habt ihr es gehört?“ rief er aufgeregt. „Nach Osten, hat er geschrien, nach Osten!“ „Ich weiß“, entgegnete der Seewolf, „wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir Zeugen einer Riesenschweinerei. Batuti, Matt und Jeff, ihr bleibt bei mir.“ „Aye, aye, Sir“, antworteten die drei wie aus einem Mund. „Siri-Tong“, fuhr Hasard fort, „du gehst mit den anderen so schnell wie möglich zurück an Bord. Ich vermute, daß sich auf der Ostseite der Insel etwas abspielt, wovon wir noch nicht die geringste Ahnung haben. Ihr setzt Segel und seht nach dem Rechten. Kann sein, daß wir auf dem Landweg nicht viel schneller sind als ihr. Vor allem müssen wir uns jetzt um Dan kümmern.“ „In Ordnung“, antwortete die Rote Korsarin und gab den Männern ein Zeichen, ihre Ausrüstung und sonstige Habseligkeiten zusammenzusuchen. Sie respektierte die Entscheidung des Seewolfs, obwohl es ihr widerstrebte, ihn jetzt allein zu lassen. Aber es bestand eine Übereinkunft zwischen Hasard und ihr, daß sie seine Anordnungen vor den Männern niemals kritisierte, geschweige denn ihm widersprach. Siri-Tong wußte, wie viel Hasards Autorität bedeutete. Nur der alte O'Flynn wagte einen Einwand. „Es geht um meinen Sohn“, sagte er, während die anderen schon losrannten, um ihre Sachen zusammenzuklauben. „Ich komme mir verdammt schäbig vor, wenn ich jetzt einfach abhaue und ihn im Stich lasse.“ Hasard, der die Fackel von Gary Andrews übernommen hatte, klopfte dem alten Seebären verständnisvoll auf die Schulter. „Uns liegt Dan genauso am Herzen wie dir, Donegal. Du kannst dich darauf verlassen, daß wir die Beine in die Hand nehmen werden, um ihn so schnell wie möglich herauszuhauen.“
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Old O'Flynn stieß ein zögerndes Brummen aus. Schließlich nickte er zustimmend. „Schon gut, schon gut, Hasard, Sir. Ich weiß ja Bescheid.“ Dem Seewolf tat es in der Seele weh, den alten Mann abweisen zu müssen. Aber mit seinem Holzbein war er nun einmal eine unnötige Last, wenn es um eine rasche Verfolgung ging. Nur an Bord, auf den vertrauten Decksplanken, stand er noch immer seinen Mann, wenn die „Isabella“ in ein Seegefecht verwickelt und in Feuerrauch und Pulverdampf gehüllt war. „Du beeilst dich besser, Donegal“, sagte Hasard deshalb, „bis die anderen ihren Kram zusammenhaben, kannst du schon die Jolle klarieren. Jede Minute zählt jetzt.“ „Aye, aye, Sir“, antwortete Old O'Flynn, machte kehrt und humpelte los, so schnell er konnte. Ihm war anzusehen, daß er froh war, jetzt eine Aufgabe zu haben. Batuti, Matt Davies und Jeff Bowie kehrten zu Hasard zurück. Sie trugen die schweren Entermesser an ihren Hüften und Jeff zusätzlich eine große lederne Umhängetasche, in denen sich Höllenflaschen und einige weitere Spielereien aus Al Conroys unermeßlichem Arsenal befanden. Siri-Tong war bereits zum Rand des Dorfes gelaufen. Die ersten Männer kehrten aus den Hütten zurück und versammelten sich bei der Roten Korsarin. Sie drehte sich noch einmal um und winkte dem Seewolf zu. Hasard hob ebenfalls die Hand. „Vorwärts jetzt“, sagte er rauh. Die Polynesier beobachteten sie mit stummen Blicken, als der große schwarzhaarige Mann, der riesenhafte Gambianeger und die beiden Männer mit den furchterregenden Hakenprothesen auf die königliche Hütte Charangus zumarschierten. Hasard schlug den Bastvorhang beiseite, der den Eingang verdeckte. Mit der Linken streckte er die Fackel in das Innere der Hütte. In der Rechten hielt er seinen Radschloßdrehling.
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„Der Hundesohn hat sich verdrückt!“ stieß Batuti hervor, der über Hasards Schulter lugte. Für den Seewolf war es keine große Überraschung. Er nickte nur, drehte sich um und schob die Waffe wieder unter den Gurt. „Weiter !“ Als sie zum Ostrand des Dorfes liefen, war Siri-Tongs Gruppe vollzählig. Während Hasard und seine drei Begleiter im Palmenwald verschwanden, eilte die Rote Korsarin mit den anderen zum Strand hinunter. Dort wartete Old O'Flynn schon bei der Jolle. Ein paar Schritte entfernt hatte er einen von Al Conroys Brandsätzen auf den hellen Sand gebettet. Das vereinbarte Zeichen für Ben Brighton und die Bordwache auf der Galeone. „Zünden!“ rief Siri-Tong. Old O'Flynn humpelte auf den Brandsatz zu und ging in die Hocke. Geschickt schlug er Feuer mit zwei Flints und zündete die Lunte im Handumdrehen. Die Rote Korsarin packte selbst mit an, als die Männer begannen, die Jolle zum Wasser hinunterzuschieben. Old O'Flynn folgte ihnen und war zur Stelle, als das große Beiboot im seichten Uferwasser dümpelte. Siri-Tong und die Männer schwangen sich auf die Duchten. Gary Andrews, Big Old Shane und Moses Bill folgten als letzte, nachdem sie die Jolle auf größere Tiefe geschoben hatten. Mit kraftvollen Schlägen begannen die Männer zu pullen. Das Boot gewann rasch an Fahrt. Am Ufer erreichte die Lunte die Pulverladung des Brandsatzes. Eine weiße Stichflamme schoß zischend empor, und im nächsten Moment breitete sich hellrote Glut aus, die als übermannshoher Feuerball minutenlang loderte. Nur allmählich sank die Glut in sich zusammen, und der rötliche Schein, der sich auch auf die dunkle Wasserfläche gelegt hatte, schwand. Siri-Tong warf einen Blick voraus. Die Umrisse der „Isabella“ zeichneten sich wie ein scharfliniger Scherenschnitt vor
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dem Blau des Sternenhimmels ab. Und deutlich waren nun auch die Silhouetten der Männer zu erkennen, die an Bord in Bewegung gerieten und in den Wanten aufzuentern begannen. Befehle erklangen. Eine der Stimmen hallte so mächtig. daß sie mit Sicherheit noch im Dorf der Polynesier auf Kahoolawe zu hören war. Edwin Carberry war in seinem Element. „Reise. reise, aufwachen, ihr müden Kakerlaken! Ihr pennt ja noch immer, ihr Heringe! Tempo, Tempo, bewegt euch, ihr verdammten Affenärsche, oder ich ziehe euch die Haut in Streifen ab!“ Siri-Tong mußte lächeln. Der gute alte Profos genoß es hörbar, daß sie nicht an Bord war. Noch nicht. Wenn er gewußt hätte, daß die Rote Korsarin herannahte, dann hätte er sich vermutlich an seinen eigenen Worten verschluckt. Denn SiriTong legte seit einiger Zeit besonderen Wert darauf, daß die Söhne des Seewolfs einen halbwegs anständigen Wortschatz mit auf ihren Lebensweg bekamen. Deshalb scheute sie sich nicht, Carberrys Ausdrucksweise bei jeder passenden Gelegenheit in Grund und Boden zu verdammen. Als die Jolle kurze Zeit später längsseits ging, setzten die Männer im Handumdrehen Segel. Das Tuch flatterte in einer handigen Brise, die aus Nordwest wehte. Besser konnten die Seewölfe es nicht erwischen. Knarrend setzte sich das Ankerspill in Bewegung, während die Jolle noch an Bord gehievt wurde. Siri-Tong eilte zu Ben Brighton auf das Quarterdeck. Mit wenigen Worten informierte sie ihn über die Lage. „Kurs Südost!“ rief der Erste Offizier mit energischer Befehlsstimme. „Aye, aye, Sir! Kurs Südost!“ antwortete Pete Ballie aus dem Ruderhaus und wenig später: „Kurs Südost liegt an, Sir!“ Auf dem Hauptdeck brüllte Edwin Carberry und scheuchte die Männer an die Brassen. Unter Vollzeug nahm die Galeone Fahrt auf. 8.
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Dan O'Flynn lief im Wolfstrab. Sorgfältig achtete er darauf, seine Atemluft gut zu rationieren. Er hatte die Entführer aus den Augen verloren. Es war ihr Vorteil, daß sie das Gelände besser kannten. Aber er war absolut sicher, daß er den richtigen Kurs eingeschlagen hatte. Düster und drohend ragten die Felsformationen vor ihm auf –scheinbar zum Greifen nahe und doch noch mindestens eine halbe Meile entfernt. Im Zentrum des Bergmassivs reckte sich ein Kegelstumpf dem Sternenhimmel entgegen. Kuolai Der Berg der Götter. Dan erinnerte sich an das, was Moana ihm mühevoll erklärt hatte. Ein Schauer kroch über seinen Rücken. Er dachte an ihre sanfte, verängstigte Stimme und an die geschickten Zeichen ihrer schlanken Hände. Eines erschien ihm immer noch seltsam: Sie hatte zwar unendliche Angst vor diesem grausamen Opferritual empfunden, aber durch nichts hatte sie zu erkennen gegeben, daß sie es als Unrecht betrachtete. Nein, im Denken von Moana und ihren Stammesgefährtinnen waren die Menschenopfer anscheinend ein unabdingbares Schicksal, etwas, mit dem man sich abfinden und es erdulden mußte. Zorn wallte in Dan O'Flynn auf. Zorn auf Charangu, den indischen Halunken, der die schlichte Mentalität der Menschen von Kahoolawe skrupellos ausnutzte. Konnte er es allen Ernstes fertigbringen, die Mädchen in den Krater des Vulkans zu stürzen? Dan begann zu zweifeln. Aber andererseits: Wohin verschwanden die Mädchen, wenn es zwischen dieser Insel und der Außenwelt keinerlei Kontakte gab? Dans Entschlossenheit, das grausame Rätsel zu lösen, wurde übermächtig. Unbändige Willenskraft trieb ihn voran, seine Muskeln arbeiteten wie von selbst, als gehörten sie nicht zu seinem Körper. Das Gelände stieg jetzt an. Längst lag der Palmenwald hinter ihm. Gras, das bis zu
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seinen Hüften reichte, war durch einen schmalen Pfad geteilt. Auch in den Hügeln, die dem Berg vorgelagert waren, setzte sich dieser Pfad fort. Es mußte sich um einen Weg handeln, der ziemlich oft benutzt wurde. Aber von wem? Wenn der Vulkan so etwas wie ein heiliger Berg war, dann galt er bei den Insulanern mit Sicherheit als tabu. Dann durften nur einige Auserwählte hierher vordringen. Charangu und seine Schergen? Die Werkzeuge, die er sich unter den Polynesiern herangezogen hatte? Möglich. Dan brach seine Gedanken ab. Die Hügel forderten seine Kräfte mehr, als es zuvor in der Ebene der Fall gewesen war. Trotzdem gönnte er sich keine Verschnaufpause. Er verringerte lediglich sein Tempo und achtete weiterhin darauf, regelmäßig zu atmen. Das Felsmassiv war jetzt so nahe, daß es ihn zu erdrücken schien. Es wurde merklich kühler. Eine geradezu bedrohliche Kälte schien von dem Berg auszustrahlen. Dan überquerte eine flache Hügelkuppe. Nach der dahinterliegenden Senke stieg das Gelände steiler an. Abrupt endete die Vegetation. Doch deutlich war der schmale Paß zu erkennen, auf den der Trampelpfad zuführte. Der Boden unter Dans Füßen war hart und schwarz. Erkaltete Lava? Er hatte keine Zeit, es zu ergründen. Im Paß hallten seine Schritte hohl. Zu beiden Seiten ragten die Felswände senkrecht auf. Dan hatte das Gefühl, sich in der Tiefe eines Schachts zu befinden, aus der es kein Entrinnen gab. Nach etwa dreihundert Yards wichen die Felswände zurück und öffneten sich zu einem Plateau hin, das sich schwarz glänzend im Mondlicht ausdehnte. Am jenseitigen Ende des Plateaus ruhte der Kegelstumpf des Vulkans wie ein Koloß, der nur darauf wartete, zum Leben zu erwachen und den Tod zu bringen. Dan schätzte die Entfernung auf nochmals dreihundert Yards. Er war sicher, daß er
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dort vorn auf einen mühelosen Aufstieg zum Rand des Kraters stoßen würde. Abermals beschleunigte er seine Schritte. Die Hälfte der Entfernung schaffte er. Aus der Dunkelheit am Fuß des Vulkans lösten sich Schatten. Sie wurden regelrecht ausgespien. Fächerförmig schwärmten sie aus, nur als menschliche Silhouetten erkenntlich. Ihre Bewegungen waren leichtfüßig und elastisch. Dan O'Flynn prallte zurück. Geduckt blieb er stehen. Kein Zweifel, daß sie versuchten, ihn einzukreisen. Und sie würden leichtes Spiel damit haben. Denn es waren neun oder zehn Männer. Eine erdrückende Übermacht. Dans Rechte tastete zum Griff des Entermessers, das an seiner Hüfte baumelte. Die Bewegungen der Männer wurden langsamer. Aber es lag kein Zögern in diesen Bewegungen. Auf Steinwurf weite waren sie herangenaht, und ihre Haltung hatte etwas Abtastendes, Lauerndes. Einen Halbkreis hatten sie bereits geformt. Wie ein Rudel Wölfe, das sein Opfer sicher wähnte. Und bei der ersten Nervenschwäche, die das Opfer zeigte, würden sie zustoßen. Dan zog das Entermesser aus der Scheide. Hell schimmerte die breite Klinge im fahlen Mondlicht. Er wußte, daß seine Chancen gering waren. Dennoch befiel ihn eine eisige Ruhe —wie stets in jenen Situationen, deren Endpunkt nur Leben oder Tod sein konnte. Daß sie ihn diesmal töten würden, stand fest. Diese Polynesier, die Moana entführt hatten, mußten von Charangu zu hirnlosen Instrumenten abgerichtet worden sein. Dan konnte es ihnen nicht einmal vorwerfen, daß sie in ihrer Mordlust keine Grenzen kennen würden. Aber er konnte sie auch nicht schonen. Einige von ihnen würden sterben, bevor er selbst auf die letzte Reise ging. Über eins fand er eine seltsame Art von Enttäuschung: Er hatte sich stets vorgestellt, daß er Schiffsplanken unter
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den Füßen haben würde, wenn die Zeit für ihn gekommen war. Ja, solche Gedanken hatte er gehegt, trotz seiner jungen Jahre. Denn allzu oft hatten sie auf der „Isabella“ dem Tod ins blanke Auge geblickt. Doch jetzt war alles anders als in seiner Vorstellungswelt. Der Tod erwartete ihn in einer fremden und unwirklichen Umgebung. Auch die Polynesier zogen jetzt ihre Messer. Sie taten es langsam, als hätten sie grenzenlose Zeit. Ebenso langsam schlossen sie den Ring enger um Donegal Daniel O'Flynn. Er fühlte sich so einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Auch darüber empfand er Bitterkeit. Denn auch dies hatte er sich anders vorgestellt Seite an Seite mit seinen Kameraden, furchtlos lachend im wilden Kampfgetümmel -, das war ein würdiger Moment für einen Mann, zu sterben. Nicht dies. * Die Südseite der Insel Kahoolawe ragte wie ein Spitzkeil in die See. In der Dunkelheit wirkten die dichten Palmen, die nur durch einen schmalen Streifen Strand vom Wasser getrennt waten, wie eine feste Wand. Über Steuerbordbug segelnd, glitt die „Isabella“ mit ausreichendem Abstand vom Riff durch die ruhige See. Leise rang der Wind in Wanten und Pardunen. Rahen und Blöcke ließen nur ein verhaltenes Knarren hören. Ben Brighton und Siri-Tong hatten ihren Platz auf dem Quarterdeck beibehalten. Aufmerksam spähte die Röte Korsarin zum Korallenriff, das sich durch die weiße Linie der schäumenden Brandung deutlich abzeichnete. In kurzen Abständen gab Ben dem Rudergänger Kurskorrekturen. An Deck standen die Männer an den Brassen und warteten voller Spannung auf die Befehle Ben Brightons. Das Gefühl, das sie alle gepackt hatte, war anders als in allen Seeschlachten, die hinter
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ihnen lagen. Meist war es so gewesen, daß sie gewußt hatten, mit welcherart Feind sie es zu tun kriegten. Einer Gefahr ins Auge zu schauen, die man kannte, war nun einmal leichter. Doch was sie östlich der Insel Kahoolawe erwartete, war mehr als ungewiß. Vielleicht nur gähnende Leere. Doch daran glaubte niemand an Bord der Galeone so recht. Etwas Unheimliches strahlte von diesem düsteren Vulkan aus, der Kahoolawe überschattete. Eine Gefahr formte sich daraus, die nicht greifbar zu sein schien. Edwin Carberry verschaffte seinen Gefühlen Luft. „Steht nicht herum wie belämmerte Schafe!“ grollte er. „Was ist los mit euch lausigen Bilgenratten? Was, zum Teufel, hat euch die Sprache verschlagen, daß ihr eure Affenärsche zusammenkneifen müßt, als ob ...“ „Mister Carberry!“ rief Siri-Tong. Mehr nicht. Der Profos, der in der Nähe des Großmastes stand, duckte sich unwillkürlich. „Verzeihung“, brummte er mehr zu sich selbst, „hab vergessen, daß wir immer noch Minderjährige an Bord haben.“ Aber eines Tages, wenn die beiden kleinen Stinte ausgewachsen waren, dann würde er kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Das schwor er sich in diesem Moment. Hasard junior und Philip junior kauerten in andächtigem Schweigen auf dem Vorkastell. Sie wußten es zu schätzen, daß sie ausnahmsweise Erlaubnis hatten, in einer unklaren Situation an Deck sein zu dürfen. Und ebenso wußten sie, daß sie bei Gefahr im Verzug schleunigst im Mannschaftslogis zu verschwinden hatten. So verharrten sie mucksmäuschenstill - in der leisen Hoffnung, daß man bei etwaigem Getümmel vielleicht doch ihre Anwesenheit vergaß. Die weiße Brandungslinie des Riffs schwang in weitem Bogen nach Osten. An Backbord blieb die Südspitze der Insel zurück.
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Eine halbe Kabellänge vom südlichen Riff entfernt ließ Ben Brighton Ostkurs steuern. Die „Isabella“ krängte weiter nach Steuerbord und gewann zusätzliche Fahrt. Die Ostseite der Insel schob sich langsam ins Blickfeld. Unablässig beobachtete Ben Brighton die Lagune und den Strand durch das Spektiv. An Bord war es wieder still geworden. Angespannt starrten die Männer auf die See hinaus. Silberne Fäden, vom Mondund Sternenlicht hervorgerufen, schienen sich im schwachen Wellengang zu bewegen. „Deck!“ ertönte plötzlich Bills Stimme aus dem Großmars. „Zweimaster Backbord voraus vor Anker! Entfernung drei bis vier Kabellängen!“ Diesmal vergaß der Moses sogar die Vokabel „Wasserfahrzeug“, auf die er zuvor so stolz gewesen war. Ben Brighton hatte Bills Entdeckung im selben Moment geortet. Durch die hervorragende Optik des Spektivs erschien das Schiff als scharfgezeichneter Schattenriß. Es zeigte keine Flagge. Auch waren alle Lampen an Bord gelöscht. wandfrei zu erkennen war, daß es sich um einen Rahsegler handelte. Eine merkwürdige Konstruktion, die mit dem europäischen Standard des Schiffbaues wenig gemein hatte. Die Aufbauten waren flach, der Rumpf aber eher plump als schnittig. Der Konstrukteur schien sich nicht ganz im klaren darüber gewesen zu sein, ob er höherer Tonnage oder größerer Geschwindigkeit den Vorzug geben sollte. Auf dem Achterdeck befand sich ein kastenförmiges Ding. Es sah aus, als ob sie kurzerhand eine Hütte aus einem Eingeborenendorf gepflückt und mit dem Hebebaum an Bord gehievt hatten. Das war anscheinend die Unterkunft für Kapitän und Mannschaften gleichermaßen. Ben Brighton schätzte das Schiff auf knapp hundert Tonnen. Er ließ das Spektiv sinken und gab Befehl, Großsegel und Focksegel zu bergen. Kurz darauf auch das Blindesegel. Mit katzenhafter Gewandtheit enterten die Männer in den Wanten auf. Knappe
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Kommandos wurden laut, und jetzt beschränkte sich auch Edwin Carberry auf das Notwendige. „Pete, fünf Strich Steuerbord“, befahl Ben Brighton. „Aye, aye, fünf Strich Steuerbord“, wiederholte Pete Ballie und legte Ruder. „Anbrassen, ihr Heringe!“ brüllte der Profos auf dem Hauptdeck. Die Männer bewegten sich geschickt und blitzschnell. Carberrys Gebrüll störte sie dabei nicht. Jeder Handgriff saß, und jeder Mann wußte selbst in der größten Wuhling haargenau, wo er zupacken mußte. Auch bei Dunkelheit wie jetzt. Die „Isabella“ gewann mehr Abstand vom Riff, glitt aber noch immer in spitzem Winkel auf das ankernde fremde Schiff zu. Siri-Tong hatte ebenfalls ein Spektiv ans Auge gesetzt. „Was für ein Landsmann könnte das sein?“ fragte Ben Brighton, der neben ihr an die Backbordseite der Balustrade getreten war. „Kein Chinese“, erwiderte die Rote Korsarin. „Ich vermute, daß es sich um einen polynesischen Segler handelt. Im Gebiet der mikronesischen Inseln soll es eine Menge Halunken zur See geben, die plündernd und brandschatzend von Insel zu Insel ziehen. Vielleicht ist es ein solches Schiff, das sich bis hierher in die HawaiiInselgruppe vorgewagt hat. Womit bewiesen wäre, daß der merkwürdige Inder wüst gelogen hat.“ „Dieser Charangu?“ sagte Ben Brighton, der über die Zusammenhänge noch nicht vollends auf dem laufenden war. Siri-Tong nickte. „Er hat behauptet, es gäbe von Kahoolawe keine Kontakte zur Außenwelt und die jungen Mädchen und die Perlenausbeute würden den Göttern geopfert.“ „Mhm“, entgegnete der Erste Offizier, „was die Piraten — wenn es welche sind — mit den Perlen anfangen, ist mir klar. Aber mit den Mädchen?,“ Die Rote Korsarin ließ das Spektiv sinken. „Ben! Tust du nur so ahnungslos, oder bist du es wirklich?“ Er zuckte mit den Schultern und wiegte verlegen den Kopf. In Gegenwart einer
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Lady mochte er sich nicht gern darüber äußern, was seine Vermutungen waren. Siri-Tong hob das Spektiv von neuem. „Ben!“ rief sie halblaut, ohne den Kieker abzusetzen. „Bei denen rührt sich etwas an Bord! Sie versuchen, sich dabei zu verstecken, aber ihr Schanzkleid ist eine Idee zu flach!“ Ben Brighton beobachtete das Schiff genauer, und dank der präzise geschliffenen Optik sah auch er es jetzt. Nur vereinzelt waren die gekrümmten Rücken von hin und her huschenden Männern zu erkennen, die sich hinter dem niedrigen Schanzkleid bewegten. Und noch eins sah Ben Brighton: Die Geschütze an der Backbordseite des Zweimasters standen in offenen Pforten. Es gab keine Luken. Ben zählte insgesamt vier Rohrmündungen. Neunpfünder bestenfalls. Geradezu lächerlich, verglichen mit der Bestückung der „Isabella“, die über je acht SiebzehnPfünder-Culverinen an Backbord und Steuerbord verfügte. Ben faßte einen schnellen Entschluß. Nach der Kursänderung betrug die Entfernung noch etwa drei Kabellängen. Die kleinen Geschütze des Zweimasters konnten auf diese Distanz keinen großen Schaden anrichten, zumal sie in der Dunkelheit mit dem Zielen beträchtliche Schwierigkeiten haben würden. Daß die Kerle auf dem Zweimaster sich auf ein Gefecht vorbereiteten, schien indessen offensichtlich. Ben Brighton ließ beidrehen und das restliche Tuch aufgeien. Die Galeone verlor rasch an Fahrt und zeigte dem unbeleuchteten fremden Segler nun die Backbord-Breitseite. „Alle Mann auf Gefechtsstation!“ befahl Ben halblaut. „Backbordgeschütze klar zum Gefecht! Und schafft mir die Jungen unter Deck!“ Er lächelte bei dem Gedanken, welche Enttäuschung die Söhne des Seewolfs jetzt wohl empfanden. „Sie lichten den Anker“, meldete SiriTong, die nach wie vor den Zweimaster durch das Spektiv beobachtete. „Gleich werden sie Segel setzen und versuchen zu
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verschwinden. Auf alle Fälle müssen sie vor Schreck den Verstand verloren haben, wenn sie es auf eine Auseinandersetzung mit uns ankommen lassen wollen.“ „Jemand, dem der Schreck in die Glieder fährt, tut oftmals etwas, was er normalerweise nicht einmal im Traum tun würde“, sagte Hasards Stellvertreter. An Deck arbeiteten die Männer zügig, doch ohne Hast. Die Geschützmannschaften klarierten die Culverinen an Backbord und justierten die Geschütze, nachdem sie die überlangen Rohre mit den von Al Conroy berechneten Pulvermengen und den Siebzehn-PfünderKugeln geladen hatten. Al verteilte die Lunten an die einzelnen Geschütze. Aus der Kombüse hatte der Kutscher unterdessen ein Kohlenbecken mit Glut zum Zünden der Lunten herangeschafft. Die anderen stellten Wassereimer an Deck auf und streuten Sand auf den Planken aus. „Schiff klar zum Gefecht!“ meldete Al Conroy schließlich. Er selbst hatte hinter der vordersten Culverine an Backbord Stellung bezogen. Die Taktik, die Ben Brighton beabsichtigte, war ihm klar. Ben war auf Fairneß bedacht und wollte einem ankernden Schiff gegenüber nicht den Vorteil größerer Beweglichkeit ausspielen. Und überdies war die jetzige Position der „Isabella“ für den fremden Zweimaster ein eindeutiges Warnsignal. Wenn der Fremde es unter diesen Umständen auf einen Kampf ankommen ließ, mußte er entweder nicht ganz bei Trost sein oder tatsächlich die verrückte Hoffnung hegen, noch das Weite suchen zu können. Al Conroy hatte dies kaum zu Ende gedacht, als es drüben an der Breitseite des Zweimasters aufblitzte. Ein Orgeln war zu hören, und im nächsten Atemzug rollte der Geschützdonner herüber. Weit vor der Galeone klatschte die Kugel wie ein schlapper Beutel ins Wasser. Al Conroy konnte nur den Kopf schütteln. Abermals ein Mündungsblitz und wieder das gleiche Ergebnis. Spätestens jetzt mußten die Kerle begriffen haben, daß sie keine Chance hatten.
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„Stückmeister!“ rief Ben Brighton. „Sir?“ „Schick ihm einen Gruß vor den Bug, damit er klarere Gedanken kriegt!“ „Aye, aye, Sir!“ Al Conroy sprang auf, justierte das Rohr seiner Culverine und zündete die Lunte. Das Zündpulver begann Funken zu sprühen. Und jäh stieß ein Feuerstrahl aus dem überlangen Rohr. Die Brooktaue fingen das zurückstoßende Geschütz auf. Eine Wolke von Pulverrauch wehte auf die See hinaus. Gespannt beobachteten Ben Brighton und Siri-Tong den Zweimaster durchs Spektiv. Haarscharf vor dem Bug riß Al Conroys Kugel eine hohe, weißschäumende Fontäne aus dem Wasser. Wieder hatte der Stückmeister der „Isabella“ bewiesen, welch ein Könner er auf seinem Gebiet war. Die anderen klopften ihm begeistert auf die Schulter. Doch wenn sie geglaubt hatten, daß die Crew des Zweimasters zur Einsicht gebracht war, so hatten sie sich getäuscht. Drüben wurden die Segel gesetzt, gleichzeitig blitzten von neuem Mündungsfeuer auf. Jetzt waren sie offenbar entschlossen, sich dem offenen Kampf zu stellen. Ben Brighton dachte nicht daran, sie Fahrt gewinnen zu lassen. Er würde den Zweimaster auf der Stelle festnageln. 9. Ein unterdrückter Schrei war plötzlich zu hören. Augenblicklich verharrte der Seewolf, denn seine und die Schritte seiner Männer hallten zwischen den Felswänden des Passes überlaut. Batuti, Matt und Jeff brachten ihn fast zu Fall, als sie gegen Hasards breiten Rücken prallten. In der Tat war es hier so dunkel, daß sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnten. „Still!“ zischte der Seewolf. Und jetzt hörten sie es deutlich. Unterdrückte Laute. Keuchen. Scharrende Schritte. Ein Kampf.
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Hasard stürmte weiter, ohne noch Zeit für einen Befehl zu verlieren. Die anderen folgten ihm. Er wußte es. Denn sie hatten genauso begriffen wie er. Als sie das schwarze Plateau erreichten, traf sie der Anblick wie ein Schock. Eine wilde Meute hatte Dan O'Flynn umzingelt. Messer blitzten. Im Mondlicht waren die Angreifer wie Schatten. Irgendwo lag eine Gestalt am Boden, irgendwo hinter dem Ring, den sie um Dan geschlossen hatten. Und er kämpfte wie ein Löwe - mit jener Entschlossenheit, die nur ein Mann an den Tag legt, der seinen sicheren Tod vor Augen hat. Der Seewolf stürmte auf die Meute der Angreifer los. Batuti, Matt Davies und Jeff Bowie schwärmten aus und hetzten mit langen Sätzen voran. Hasard und der Gambianeger zogen die Entermesser. Matt und Jeff brauchten keine Waffen. Die spitzgeschliffenen Haken ihrer Armprothesen funkelten. „Dan!“ brüllte der Seewolf, als sie noch zwanzig Schritte entfernt waren. Die Polynesier wirbelten erschrocken herum. Zu sehr hatten sie sich auf den ungleichen Kampf konzentriert. Dan O'Flynn, von den Spuren des Kampfes deutlich gezeichnet, stieß einen Freudenschrei aus. Und in blitzschneller Reaktion streckte er einen der Gegner nieder, der ihm in der Verwirrung zu nahe geraten war. „Ar - we - nack!“ brüllte der Seewolf, und die anderen stimmten mit ein. „Ar - we - nack!“ Der Kampfruf der „Isabella“-Crew hallte wie ein Brausen über das Plateau. Die Polynesier erschauerten. Doch es gab kein Zurück für sie. In verzweifelter Gegenwehr stellten sie sich zum Kampf. Allein der Anblick der Männer wirkte demoralisierend auf sie. Dieser schwarzhaarige Riese mit den eisklaren hellen Augen, der herkulische Neger und die beiden Männer mit den furchterregenden Stahlhaken anstelle von
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Händen -genug, um Charangus Handlanger ins Entsetzen zu treiben. Hasard und seine Männer zerschlugen den messerbewehrten Kreis um Dan O'Flynn beinahe mühelos. Trotz aller Wut bemühten sie sich, den Polynesiern gegenüber fair zu bleiben und sie nicht für das bezahlen zu lassen, was Charangu an ihnen verbrochen hatte. Hasard und Batuti schlugen mit den platten Seiten der Entermesser zu, und Matt Davies und Jeff Bowie benutzten ihre Stahlhaken Mehr als Drohmittel, während sie die Gegner mit ihren gesunden Fäusten niederstreckten. Innerhalb weniger Minuten war der Kampf entschieden. Charangus Männer lagen in schöner Gemeinsamkeit langgestreckt auf dem schwarzen Gestein. Alle hatten sie Blessuren davongetragen, doch sie waren nicht so schwer verletzt, daß sie es nicht überstehen würden. „Himmel“, sagte Dan O'Flynn keuchend, „ich habe schon meinen eigenen Untergang vor Augen gesehen.“ „Dich kann man nie allein lassen“, sagte Batuti dröhnend, und deutliche Erleichterung klang aus seiner Stimme. Dann schlug er ihm mit der flachen Hand auf die Schulter, daß Dan in die Knie ging. Rasch untersuchte Hasard die Schnittwunden, die Dan an den Armen davongetragen hatte. Es waren keine tiefen Wunden. „Wo ist das Mädchen?“ fragte der Seewolf. Dan deutete mit einer Kopfbewegung zum Kegelstumpf des Vulkans. „Die Kerle kamen von dort.“ „Sehen wir nach“, sagte Hasard, „reicht es, wenn wir dich später verarzten?“ „Klar“, versicherte Dan grimmig. Als sie losstürmten, klang rollender Geschützdonner von der See herauf. Noch versperrte der Berg ihnen die Sicht. Aber Hasard und seine Männer konnten sich in etwa vorstellen, was sich an der Ostseite der Insel abspielte — an diesem Teil von Kahoolawe, der für die Polynesier offenbar tabu gewesen war. *
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Dan wies Hasard und den anderen die Richtung. Er hatte sich die Stelle eingeprägt, an der Moanas Entführer aufgetaucht waren, um ihn zu töten. Als sie den Fuß des Vulkankegels erreichtem, hatte sich der Geschützdonner verstärkt. Deutlich erkannten sie den sonoren Klang der Siebzehn-PfünderCulverinen, die in fast regelmäßigen Abständen abgefeuert wurden. Die anderen Geschütze klangen heller. Das Gefecht trieb Hasard und seine Männer zur Eile an. In ihnen brannte die Ungewißheit darüber, was dort unten vor der Insel geschah. Der Aufstieg zum höchsten Punkt des Vulkans gestaltete sich fast mühelos. Die Steigung war nur mäßig, denn ein natürlicher Grat im Fels führte schräg nach oben. Schon wichen die angrenzenden Bergformationen zurück, und sie konnten bereits die weite Wasserfläche der See erkennen. Noch war ihnen aber der Blick auf die östliche Lagune verwehrt. Das Donnern der Geschütze wurde spärlicher. Nur noch wenige Yards trennten den Seewolf und seine Männer vom Rand des Kraters. Eine schneidende Stimme stoppte ihre Schritte jäh ab. „Bleibt, wo ihr seid, Engländer! Oder sie stirbt auf der Stelle!“ Hasard und den anderen gefror das Blut in den Adern. Charangu war hinter einem etwa doppelt mannshohen Felsturm hervorgetreten, der wie ein überdimensionaler Finger über den Kraterrand hinausragte. Vor dem Felsturm, der ein erstklassiges Orientierungszeichen sein konnte, weitete sich der Kraterrand zu einer kleinen Felsplattform von kaum mehr als zehn Quadratyards. Der Inder hielt das Mädchen in eisenhartem Griff. An seinem rechten Arm, den er um ihren Hals geschlungen hatte, schimmerte das matte Metall des Eisenreifs. In der Linken hielt er seinen Krummdolch, dessen rasiermesserscharfe
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Spitze auf Moanas Herzgegend gerichtet war. Trotz des Halbdunkels sahen Hasard und die anderen, daß das Mädchen kreidebleich war. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Männern entgegen, und in diesen Augen las Hasard die Todesangst, die sie fast um den Verstand brachte. Die Entfernung war lächerlich gering. Höchstens drei oder vier Schritte. „Verdammter Mist!“ flüsterte Matt Davies kaum hörbar. „Wenn ich jetzt könnte, würde ich dem Kerl den Hals umdrehen!“ Das Krachen der Geschütze versiegte mehr und mehr. Stille kündigte sich an. Hasard bewegte sich vorsichtig. Langsam setzte er den rechten Fuß vor. Weder den Radschloßdrehling noch das Entermesser konnte er jetzt ziehen. Beides hätte Moanas sicheren Tod bedeutet. „Keinen Schritt weiter!“ schrie Charangu mit sich überschlagender Stimme. Sein Gesicht war in ohnmächtiger Wut verzerrt. Das fahle Mondlicht verursachte häßliche Schatten unter seinen funkelnden Augen und in den Mundwinkeln. Die Spitze des Krummdolches erreichte Moanas Brust unter dem dünnen Stoff, mit dem sie bekleidet war. Das Mädchen stieß einen gurgelnden Laut aus. Unter dem harten Griff des Inders wurde ihre Atemluft knapp. Hasard verharrte. „Tut, was er sagt“, befahl er seinen Begleitern laut und vernehmlich. „Rührt euch nicht vom Fleck!“ Er verfluchte die Tatsache, daß er seinen Dressing nicht gezogen hätte. Mit einem gezielten Schuß hätte er es schaffen können, Charangu außer Gefecht zu setzen, bevor er das Mädchen verletzen konnte. „So ist es gut!“ schrie der Inder höhnisch. „Und jetzt werdet ihr eure Waffen fallen lassen. Einer nach dem anderen. Und dann ...“ „Charangu“, unterbrach der Seewolf ihn beinahe beschwörend, „können Sie nicht begreifen, daß es keinen Sinn mehr hat? Haben Sie nicht gehört, was sich da unten vor der Insel abgespielt hat?“
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„Ich bin nicht taub!“ schrie der Inder mit sich überschlagender Stimme. „Aber ihr werdet mir freies Geleit verschaffen. Wenn nicht, muß das Mädchen sterben.“ „Freies Geleit wohin?“ entgegnete Hasard ruhig. Charangu lachte unnatürlich und schrill. „Das möchtest du gern wissen, Engländer, stimmt's? Aber ich werde es dir nicht verraten, weil ich genug habe von deinen widerwärtigen Tricks. Und nun Schluß mit dem Gerede! Die Waffen weg!“ Der Seewolf nickte, und es sah fast gelassen aus. Daß er innerlich bis zum Zerreißen angespannt war, konnte man ihm nicht ansehen. „Batuti“, sagte er, „du machst den Anfang. Tritt vor, damit es unser Freund Charangu deutlich sehen kann.“ „Aye, aye, Sir.“ Batuti war im Begriff, der Anordnung zu folgen. „Halt!“ schrie der Inder. „So nicht! Ich habe nicht gesagt, daß ...“ Was er noch sagen wollte, blieb ihm im Hals stecken. Hasard nutzte die momentane Verwirrung. Mit einem pantherhaften Satz schnellte er auf den Inder los. Und Charangu überwand seine Schrecksekunde nicht schnell genug. Der Seewolf brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um Charangu zu erreichen. Zielsicher packte er das Handgelenk mit dem Krummdolch und riß es mit eisenhartem Ruck zur Seite. Moana schrie gellend auf. Charangu brüllte vor Schreck und Schmerz zugleich. Unter dem Anprall des Seewolfs geriet er ins Taumeln und lockerte ungewollt den Griff um Moanas Hals. Mit versiegendem Schrei sank das Mädchen zu Boden. Hinter ihr schlugen Charangu und der Seewolf der Länge nach hin. Blitzartig war Dan O'Flynn zur Stelle, packte Moana, zog sie auf die Beine und hastete mit ihr aus der Gefahrenzone. Für einen Moment hatte Hasard den Inder unter sich begraben. Hasards Rechte hielt noch immer den Messerarm. Charangu versuchte, sich aus dem Griff zu
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entwinden. Der Klingenstahl des Krummdolchs schabte über den felsigen Untergrund. Mit jähem Ruck richtete sich Hasard halb auf, riß Charangus Arm hoch und drehte ihn nach hinten. Der Inder stieß einen markerschütternden Schmerzensschrei aus. Klirrend fiel der Krummdolch zu Boden. Hasard stieß sich von dem Turbanmann ab und richtete sich auf. Nur zwei Schritte wich er zurück. Charangus Schrei ging in ein Stöhnen über. Mit der unversehrten Rechten hielt er sich den schmerzenden linken Arm. Er dachte nicht mehr an den Krummdolch und versuchte nicht, ihn aufzuheben. Mühevoll beugte er sich vor, stützte sich ab und gelangte torkelnd auf die Beine. Minutenlang stand er schwankend da. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er den Seewolf an. Nach und nach wurde die Körperhaltung des Inders ruhiger. Hasard wartete ab. Auch die Männer hinter ihm gaben keinen Ton von sich. Der Geschützdonner war endgültig verstummt. Die Stille, die über der Insel lastete, hatte etwas Unnatürliches. „Geben Sie auf, Charangu“, sagte der Seewolf ruhig, „es hat keinen Sinn mehr.“ Jäh verzerrte sich das Gesicht des Inders wieder zu einer hassverzerrten Fratze. Sein linker Arm hing kraftlos nach unten. Er stieß einen wilden Wutschrei aus, riß die Rechte mit dem Eisenreif hoch und stürmte ohne erkennbaren Ansatz auf den Seewolf los. Für Hasard war der Angriff überraschend. Doch reaktionsschnell duckte er sich unter dem sausenden Hieb. Charangus Handgelenk mit dem Eisenreif zischte haarscharf an seinem Kopf vorbei. Aus der Bewegung heraus schnellte Hasard hoch und schmetterte die Fäuste vor den Brustkorb des Inders. Charangu schrie wieder auf und wurde zurückgeschleudert. Mit den Armen rudernd, versuchte er, sein Gleichgewicht zu halten. Er geriet ins Stolpern und wurde durch seinen eigenen Körperdrall zu immer kleineren Rückwärtsschritten gezwungen.
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Hasard erstarrte. Einen Atemzug lang glaubte er, sein Herzschlag setze aus. Dann schnellte er vorwärts und versuchte, den Inder zu packen. Zu spät. Die Fäuste des Seewolfs griffen ins Leere. Charangu kippte hintenüber. Aber es war kein Boden mehr unter ihm, der seinen Fall aufhielt. Weit hallend und schrill ertönte sein Todesschrei, als er über den Rand des Kraters stürzte. Der Schrei schien nicht enden zu wollen. Starr vor Entsetzen standen Hasard und seine Männer am Rand des Vulkantrichters. In der Tiefe verschmolz der Schatten des Inders mit der Dunkelheit. Weit unten loderte eine hellrote Glut, unerreichbar tief. Der Schrei versiegte. Erst jetzt sahen die Männer, wie groß der Krater war – mehr als zweihundert Yards im Durchmesser. Schweigend wandten sie sich ab. Dan O'Flynn hielt das zitternde Mädchen in seinen Armen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, als sie sich schon auf dem Abstieg zur Ostseite der Insel befanden. Ihnen, den hartgesottenen Männern der „Isabella“, schnürte das Grauen noch immer die Kehle zu. Schon von weitem sahen sie, was vor der östlichen Lagune geschehen sein mußte. 10. Das vulkanische Gestein reichte an dieser Seite der Insel bis an den Strand. Offensichtlich hatte die Lava bei Vulkanausbrüchen vor langen Jahren alle Vegetation unter sich erstickt und sich immer weiter auf den Strand zugeschoben. Hasard und seine kleine Gruppe erreichten den Strand im Laufschritt. Moana hatte sich rasch wieder erholt. Ihr Körper war äußerst widerstandsfähig, was sie zweifellos der anstrengenden Arbeit als Taucherin verdankte. Und die Bewegung half ihr, den Schock zu überwinden.
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Eine Gruppe von Männern erwartete den Seewolf und die anderen am Ufer. Ein Beiboot, das von der „Isabella“ stammte, war an Land gezogen worden. Ein kleineres Boot, das verwittert und verkommen aussah, lag noch im seichten Wasser, mit dem Kiel auf Grund. Hasard verlangsamte seine Schritte. Schon von weitem hatte er die Szenerie überblickt, die sich draußen, vor dem Riff, deutlich im Mondlicht abzeichnete. Ein Zweimaster, der als solcher nur noch durch zwei Stummel zu erkennen war, lag mit beträchtlicher Schlagseite unmittelbar vor dem Riff. Möglicherweise war der klägliche Rest von einem Schiff sogar gestrandet. Das ließ sich nicht einwandfrei erkennen. Die „Isabella“ lag mittlerweile vor Anker, zwei Kabellängen von dem Wrack entfernt. Ben Brighton trat auf den Seewolf zu. Mit ihm waren Smoky, Ferris Tucker, Blacky und Sam Roskill an Land gegangen. Sie hatten ihre Steinschloßpistolen gezogen und hielten eine kleine Schar von Gestalten im Schach, denen der Schreck noch wie lesbare Lettern im Gesicht stand. Fünf dunkelhäutige, sehnige Burschen waren es, kleiner als die Männer von der „Isabella“. Die schwarzen Haare fielen den Fremden bis auf die schmalen Schultern. Waffen hatten sie nicht mehr. „Die Kerle wollten an Land türmen, um Hilfe zu holen“, erklärte Ben Brighton, „soviel habe ich schon herausgekriegt. Einer von ihnen spricht so was Ähnliches wie Englisch. Ein Filipino.“ „Piraten?“ fragte Hasard, während er die sehnigen Burschen musterte. Ben lächelte. „Das haben sie zwar nicht zugegeben, aber an der Art, wie sie es nicht zugegeben haben, konnte man erkennen; daß sie wirklich Piraten sind. Von der miesesten Sorte.“ Ben warf „einen Blick zu Moana und atmete auf. „Was ist mit dem Inder?“ Hasard berichtete in knappen Worten. Mitleid konnte niemand mehr empfinden. „Wer ist der Filipino?“ erkundigte sich der Seewolf schließlich.
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Ben Brighton deutete auf einen der Piraten. Sein linkes Auge war geschlossen. Eine furchterregende Narbe umgab die Stelle, an der sich einmal dieses Auge befunden hatte. Ferris Tucker gab ihm einen Wink. „Beweg dich, du Stint! Unser Kapitän will mit dir reden!“ Der Filipino begriff. Und er gehorchte. Was ein Stint war, wußte er allerdings mit Sicherheit nicht. Zwei Schritte vor Hasard blieb er stehen. Er mußte zu dem Seewolf aufblicken. „Wo seid ihr zu Hause?“ fragte Hasard. „Kannst du verstehen, was ich sage?“ „Aye, Mann, verstehe.“ Der Filipino sprach ein gutturales Kauderwelsch, das für die Seewölfe schwerer zu verstehen war als deren Englisch für ihn. „Kommen von Mariana-Inseln. Was gehört zu Mikronesien. Ehrbare Kaufleute wir sind, Mann. War Unrecht gegen uns.“ „Klar, Mann.“ Der Seewolf grinste. „Ich bin ja gern bereit, das Unrecht wiedergutzumachen - gegen eine kleine Gegenleistung von dir.“ ”Hä?“ „Paß auf.“ Hasard beugte sich zu ihm nieder und blickte ihm lächelnd in das martialisch aussehende Gesicht. „Du erzählst mir ein bißchen über Charangu. Dafür kriegt ihr von uns bei Tagesanbruch Unterstützung, damit ihr euren Kahn zusammenflicken und verschwinden könnt. Bedingung ist allerdings, daß ihr euch auf dieser Insel nie wieder blicken laßt. Wir werden das regelmäßig kontrollieren, denn wir sind im Auftrag der britischen Krone auf Hawaii stationiert.“ Hasard bemühte sich, seine Männer nicht anzusehen. Denn sie hätten zumindest ein Grinsen nicht verhindern können. „Ist Trick das?“ fragte der Dunkelhäutige mißtrauisch, doch mit einem leuchtenden Auge. „Kein Trick.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Wir haben auf Kahoolawe erledigt, was zu erledigen war. Charangu ist tot.“ Auch dies war wichtig, denn ohne den Inder gab es für die Piraten keine Verbindung mehr
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zu der Insel. Und Hasard ging es vor allem darum, daß die Menschen auf diesem friedlichen Eiland nicht noch einmal von schurkischen Kerlen wie Charangu heimgesucht wurden. Deshalb war es notwendig, daß die Piraten verschwanden und sich nicht als Schiffbrüchige auf der Insel einnisteten. Der Filipino zog die Augenbraue hoch, die ihm noch geblieben war. „Will ich Hand drauf.“ Er streckte fordernd die Rechte aus. Hasard tat ihm den Gefallen, und der Drahtige verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als ihm der Seewolf die Hand drückte. „Wie ist Charangu auf Kahoolawe gelandet?“ fragte Hasard. Der andere grinste. „Sache einfach, Mann. War Charangu Bandit böses in Mikronesien. War gekommen aus Indien. Hat Streit gemacht mit Chef unseres. Hat Krieg gegeben. Hat Chef unseres gewonnen. Und haben Charangu auf Insel hier geliefert — für — äh — Verbong ... äh — Verbun ...“ „Verbannung“, half Hasard. „Verbannung“, sagte der Filipino. „Hat Charangu, schlaues Hund, Affen mitgenommen und sich König gemacht. War Chef unseres egal. Hauptsache, Charangu erfüllt Orders.“ „Was für Orders?“ Der Filipino grinste. Für einen Moment stierte er Moana mit seinem Auge an. Dann blickte er wieder zu dem Seewolf auf. „Mädchen und Perlen, Mann. Hat Chef unseres Perlen an Kaufleute geliefert. Und Mädchen auch an Kaufleute. China, verstehen? Schanghai — Bordelle ...“ Für Hasard und seine Männer war es fast keine Überraschung mehr. Etwas Derartiges hatten sie erwartet. „In Ordnung“, sagte Hasard, „trollt euch jetzt zurück an Bord. Aber wagt nicht, noch einmal an Land zu gehen. Ihr werdet beobachtet. Morgen früh, bei Sonnenaufgang, wird unser Schiffszimmermann euch helfen, euren
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Kahn so weit zusammenzuflicken, daß ihr die Mariana-Inseln erreicht.“ * Für die Menschen auf Kahoolawe war es selbstverständlich, daß den Seewölfen zu Ehren ein großes Abschiedsfest gegeben wurde. Nachdem die Piraten gegen Mittag mit Behelfssegeln davongeschlichen waren, trafen sich die Dorfbewohner und die gesamte Crew der „Isabella“ auf dem großen Platz inmitten des Palmenwaldes. Und diesmal wurde es ein noch rauschenderes Fest, denn mit Charangu war eine drückende Last von den Polynesiern genommen worden. Dan O'Flynn hatte es geschafft, Moana in Zeichensprache alles zu erklären — auch, daß es keinen Ort auf der Insel gab, der
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tabu war, und Affen niemals Götter sein konnten. Das Schicksal der verschwundenen Mädchen stimmte die Polynesier anfangs nachdenklich. Doch schließlich fanden sie – ihrem Naturell entsprechend – auch daran eine positive Seite: Immerhin, so erklärte Moana nach langem Palaver per Zeichensprache, seien die Mädchen nicht tot. Nun konnte man auf eine gütige Fügung hoffen, daß sie vielleicht eines Tages auf die Insel zurückkehren würden. Nach anfänglicher Scheu begannen sie schließlich auch über die Gibbons zu lachen. Doch sie rächten sich nicht etwa an den unschuldigen Tieren. Vielmehr wurden die Affen fortan als eine Art Haustiere und Spielgefährten für die Kinder betrachtet. Noch am Abend desselben Tages blies Hasard zum Aufbruch.
ENDE