C.H.GUENTER
Die OrkusFalle
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Mühsam bahnte sich das Mondlicht den Weg durch ...
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C.H.GUENTER
Die OrkusFalle
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Mühsam bahnte sich das Mondlicht den Weg durch die Nebelbank. Doch der Dunst wurde immer dichter. Kaum, daß der gelbe Schimmer die Meeresoberfläche zu erreichen vermochte. Weitab von den Dampferrouten war diese Ecke der südchinesischen See eines der einsamsten Gebiete aller Ozeane. Trotzdem zerriß das Brausen eines dumpftönenden Horns in Minutenabständen die nächtliche Stille. Lautlos schob sich etwas heran. Eine Silhouette wuchs aus dem Dunkel. Ein Schiff. Aber was für ein Schiff. Ein riesiges, ein Gebirge aus Eisen, ein Supertanker. Seine Länge betrug fast einen halben Kilometer, seine Ladefähigkeit mindestens viermal hunderttausend Tonnen. Am schwarzen, vor Nässe glänzenden Bug stand in Buchstaben so groß wie ein Haus der Name ›Santa Cruz‹. Das Schiff machte kaum Fahrt. Mit Viertelkraft zuckelte es nach Nordosten, als wolle es ziellos die Zeit totschlagen. Es war 01 Uhr 33 südostasiatischer Zeit, als in das Kielwasser des Tankers ein Motorboot einschnitt. Flachgebaut und in der grünblauen Farbe des Meeres war es kaum zu sehen. Zwei starke und äußerst leise drehende Benzinmotoren bewegten es vorwärts. Mit Hilfe eines Präzisionsradars hatten die auf Lauer liegenden Piraten den Tanker über große Distanz erkannt. Jetzt stand er vor ihnen. Sie waren nur zu dritt. Aber was für Leute. Superexperten. Jeder Spitzenklasse auf seinem Gebiet. Als sich ihr Schnellboot dem Tankerheck soweit genähert hatte, daß es in die Turbulenzen der Schraube geriet, machte das Boot einen Schlenker nach Backbord. Sich förmlich voranschnellend preschte es an die Bordwand heran. 4
Aus einer Leinenschußpistole wurde hochfeste Nylonschnur zur ›Santa Cruz‹ geschleudert. Der automatische Draggen fuhr seine Greifer aus und klemmte sich an der Tankerreling fest. Die Verbindung war hergestellt. Die drei begannen das Unmögliche. Sie enterten das mächtige Schiff, um es unter ihre Kontrolle zu bringen. * Der Kapitän der ›Santa Cruz‹ schlief in letzter Zeit schlecht. Es lag nicht an der drückenden Hitze in diesen Breiten. Seine Kammer war, ebenso wie Kommandobrücke und Messe, vollklimatisiert. Es lag an der Langeweile. Alle Filme, Videokassetten und Tonbänder hatte er schon x-mal durchlaufen lassen. Aus Langeweile aß man zuviel und trank auch mehr als gewöhnlich. Die Langeweile hatte marktpolitische Gründe. Seit der Ölkrise schaute jedes Land ängstlich darauf, daß alle Tanks immer bis zum Rand voll waren. Weil es kaum Platz in den Ölhäfen gab, mußten die Tanker als Lager herhalten und so langsam wie möglich fahren. Beim nächsten Signal des Nebelhorns stand der Kapitän auf, duschte sich den Bierkater aus dem Kopf, kleidete sich an und ging durch den Navigationsraum hinaus zur Brücke. Wie immer fiel sein erster Blick auf den Tourenzähler für die Schraube, sein zweiter auf den Kreiselkompaß und sein Dritter auf das Radar. Der Nebel hatte sich noch nicht gelichtet. »Warum«, wandte er sich an seinen Zweiten Offizier, der an diesem Morgen Hundewache ging, »lassen Sie den Nebeltyphon blasen, Mister Donizetti? Das Radar zeigt doch keinen Impuls.« 5
»Vor zwei Tagen hätten wir fast eine Dschunke halbiert, Sir.« Obwohl die Besatzung des Tankers aus Italienern bestand, sprach man sich nach Seefahrerbrauch mit Mister und Sir an. »Das war vor achtundvierzig Stunden«, antwortete der Kapitän mürrisch, »aber hier ist es so tot wie auf dem Mond. Hier fischen keine Fischer. Nicht mal Schmuggler schmuggeln hier. Also lassen Sie den Unsinn mit dem Nebelhorn, Mister Donizetti. Wenn schon kein Land in Sicht ist, möchte ich wenigstens meine Ruhe haben.« Mit raschem Handgriff schaltete der Zweite Offizier das Warngerät ab. »Noch keine Order, Sir«, wandte er sich an den Kapitän. »Vielleicht am 22. in Osaka.« »Damit haben wir unsere normale Fahrtzeit um drei Wochen überzogen, Sir.« Der Kapitän lächelte nur. Angesichts der sprunghaften Preissteigerungen, die die Ölkonzerne täglich registrierten, spielte es keine Rolle, ob eine Tankerreise vom Golf bis Japan einen Monat dauerte oder sechs Wochen. Im Gegenteil, je später die Ware ankam, um so saftiger wurden die Gewinne durch die Barrelpreisanhebungen der Araber. Der Kapitän wußte das und auch seine Offiziere. Vor einem Jahr noch, wenn sie mit Full-speed über die Ozeane gejagt waren, durch Nebel, auf dichtbefahrenen Schiffsstraßen in schwierigen Gewässern, war dieser Job nervenaufreibend gewesen. Heute rieben sich auch die Nerven, aber an der tödlichen Monotonie. Der Kapitän, die Offiziere und Mannschaften des Tankers Santa Cruz hatten keine Ahnung, daß dieses Problem in wenigen Minuten gelöst sein würde. 6
Der Tanker Santa Cruz gehörte einem US-amerikanischen Ölkonzern. Er fuhr unter libanesischer Flagge. Die Ladung im Wert von siebzig Millionen Dollar war bei Lloyds in London versichert Die Besatzung mit Ausnahme der einfachen Decksmatrosen und Stewards waren Italiener. Das schien der bis an die Zähne bewaffnete Mann mit Gesichtsmaske und tarnfarbenen Lederanzug zu wissen. In bestem Florentinisch rief er: »Keine Bewegung! Die Hände zum Nacken, Signori. Das Schiff befindet sich in unserer Hand. Querab steht ein UBoot mit schußklaren Torpedorohren.« Der Kapitän, ein mutiger Neapolitaner, tat ihm nicht den Gefallen. Ein Schiff wie seines, ein hochkompliziertes technisches Instrument mit nahezu dreißigtausend PS, ein Labyrinth aus Maschinen, Aggregaten, Pumpen, Motoren, Generatoren, Hunderten von Kilometern Leitungen, Verkabelungen und Elektronik, das bekam ein Fremder nicht so rasch in die Hand. Der Kapitän ließ sich also nicht bluffen. Vicenze Marroni verlegte sich aufs Verhandeln. Er wäre kein Neapolitaner gewesen. »Was wünschen Sie, Signore?« fragte er. »Was sollen wir für Sie tun?« »Die Position anlaufen, die ich Ihnen nenne. Sofort mit äußerster Kraft und keinen Funkkontakt.« »Das kann ich Ihnen nicht versprechen«, erwiderte der Kapitän. Noch fühlte er sich wie ein König auf seinem Schiff mit einer treuen Mannschaft hinter sich. Der Bewaffnete hob die Waffe, eine Art Pistole mit Schalldämpfer, um wenige Winkelgrade. Sein Zeigefinger riß durch. Zischend bewegte sich etwas aus der Mündung auf den Kapitän zu und traf ihn im Oberschenkel. Noch ehe 7
Kapitän Marroni den Treffer überhaupt wahrnahm, verlor er die Balance, sackte in die Knie, klappte zusammen wie ein Ziehharmonikabalg und war ohne Besinnung. Die Waffe richtete sich auf den Zweiten Offizier. »Mister Donizetti!« Der Pirat nannte den Namen des Offiziers, um ihm klarzumachen, wie genau er über Schiff und Mannschaft Bescheid wußte. »Sind Sie der gleichen Meinung wie Ihr Chef?« »Nein Sir«, kam es zögernd. »Würden Sie mir das im Gegensatz zu Signor Marroni versichern?« Der Offizier nickte. »Dann«, schrie der mit der Waffe plötzlich, »führen Sie sofort meine Befehle aus.« Er gab eine neue Kurszahl. O-2-5 für Kap Bathi auf Formosa. Der Kurs kam in den Steuercomputer. Dann forderte der Pirat, auf große Fahrt zu gehen. Per Maschinenfernsteuerung wurden 280 Umdrehungen abgerufen. »Und jetzt bitten Sie alle Offiziere auf die Brücke«, lautete die nächste Anweisung. Der Zweite Offizier ergriff das Mikrofon der Lautsprecheranlage. Doch jetzt beging auch er den Fehler, sich als tapferer Mann beweisen zu wollen. »Alaaarm!« schrie er ins Mikrofon. »Terroristen an Bord!« Der Ruf kam nicht durch. Statt dessen kassierte der Zweite Offizier ebenfalls eine jener Patronen, die die fatale Eigenschaft hatten, sich unter der Haut mit Blut und Lymphsecreten blitzschnell zu mischen und sich zu einem unwiderstehlichen Schlafmittel umzuwandeln. Jetzt war nur noch der Radarrudergänger auf der Brücke. Ihm erklärte der Mann im Tarnanzug: »Ich bin kein Terrorist. Im Vergleich zu uns zählen Terroristen zu den himmlischen Heerscharen.« 8
Tage später fanden sich die 46 Mann Besatzung des Tankers Santa Cruz auf einer Insel wieder. Die meisten von ihnen erwachten im Palmenschatten des Strandes nach einem langen tiefen Schlaf, der sie in ihrer Koje überrascht hatte. Sie konnten nicht begreifen, was mit ihnen geschehen war. Nur wenige verfügten über eine derart starke Konstitution, daß sie zwischendurch klare Momente gehabt hatten. Anhand der Erinnerungsfetzen jedes einzelnen versuchte Kapitän Marroni ein Mosaik zu formen. Während seine Männer um ihn herumsaßen und das Fleisch von Kokosnüssen kauten, sprach er zu ihnen. »Jeder berichtet, was er weiß und woran er sich erinnert, aber nicht das, was er zu wissen glaubt. Also tischt mir kein Seemannsgarn auf. Nur so können wir den Weg vom Schiff bis hierher und vielleicht auch die geographische Lage dieses Eilandes rekonstruieren.« »Ich hatte Freiwache«, begann der Elektroingenieur, der erst in Oman angeheuert hatte, »ich schlief unruhig. Da kriegte ich was Süßliches in die Nase, ein Geruch wie Zelluloid, das sich auflöst. Von da ab weiß ich nichts mehr.« »Sie machten es mit Gas«, meinte der erste Offizier, ein Schwarzbart aus Palermo. »Kunststück mit Gas.« »Ich mußte mich erbrechen«, erzählte einer der Matrosen, »aber es war im Freien auf einer schwankenden Unterlage. Vermutlich auf einem Rettungsboot. Dann war ich wieder weggetreten.« »Sie setzten uns mit der Motorpinasse an Land«, vermutete der Kapitän. »Aber wo ist die Pinasse?« »Sie haben sie wieder mitgenommen.« Nach umfangreichen Recherchen ergab sich, daß sie wenigstens 48 Stunden, aber nicht länger als drei Tage in Narkose gelegen hatten. 9
Der Erste Offizier versuchte sich an Einzelheiten des befahrenen Seegebietes zu erinnern. Der Zweite Offizier, der die meiste Erfahrung im Südchinesischen Meer auf zuweisen hatte, kam ihm dabei zu Hilfe. »Ich sah immer etwas verdammt Helles. Ich konnte die Augen schließen wie ich wollte, es blieb da.« »Die Sonne.« »Dann müssen wir an Deck gelegen haben.« »Ich glaube eher, daß sie uns in den Mannschaftsspeiseraum gebracht hatten. Dort waren wir besser unter ihrer Kontrolle.« »Die Mannschaftsmesse hat nur an Steuerbordseite Fenster.« Daraus versuchte der Schiffsoffizier Schlüsse zu ziehen. »Die Sonne schien also durch die Fenster. Dann muß bei dem Sonnenstand dieser Jahreszeit der Kurs zwangsläufig Ost gewesen sein.« »Da ist aber nichts als die Weite des Südpazifik.« »Über viertausend Seemeilen kein Land bis Hawaii.« »Es hat aber nur drei Tage gedauert.« »Bleiben nur die Babuyan Inseln«, meinte der Offizier, der hier zu Hause war, »südlich des Balintang-Kanals.« Sie kombinierten hin und her. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Man hatte sie auf einer der Babuyan-Inseln ausgesetzt, einer Gruppe von Dutzenden kleiner und kleinster Eilande, die so gut wie nie angelaufen wurden. Nun ging es ums Überleben. * Ihre Insel war fünf Quadratmeilen groß. Da die Santa-CruzLeute über keinerlei Vorräte, Waffen oder Gebrauchsgegenstände irgendwelcher Art verfügten, mußten sie mit dem auskommen, was sie auf der Insel fanden. 10
Wasser gab es genug. Auch Kokosnüsse, Affenbrotfrüchte, und Mingis, eine Art Kürbismelone, waren reichlich vorhanden. Jeder der 46 Männer wurde zum Erfinder und Bastler. Sie bauten Fallen, um Wild zu erwischen. Sie fransten ihre Kleidungsstücke aus und drehten die Fäden zu Schlingen. Darin fingen sie Vögel. Sie schliffen aus Steinen Klingen, die scharf genug waren, um Schildkröten zu zerlegen. Am unangenehmsten empfanden sie den Mangel an Töpfen, Pfannen und Streichhölzern. Das Entfachen eines Feuers war von kaum vorstellbarer Schwierigkeit. Alle bekannten Methoden versagten. Sie rieben trockenes Holz bis es rauchte, hielten dürres Moos daran, aber Glut entstand keine. »Ich werde«, fluchte der Koch, »alle Abenteuerschreiber dieser Welt und alle Pfadfinderverbände wegen Betruges anzeigen. Auf diese Art bekommt man kein Feuer zustande.« Matrosen brachten von einem Inselrundgang eine angeschwemmte Flasche mit. Sie zerbrachen sie so vorsichtig, daß der Boden erhalten blieb. Seine Wölbung benutzten sie als Brennglas. Damit ging es endlich. Nach einer Woche hatten sie sich zwar eingelebt, aber sie kamen zusehends herunter. Bärte wuchsen ihnen, sie hatten keine Seife und die einseitige Ernährung verursachte Darmerkrankungen. »Was fehlt, sind Nudeln«, seufzte einer. »Spaghetti, Pasta asciutta. Ohne die geht ein Italiener zugrunde.« »Man kann auch im Paradies ganz leicht krepieren«, sagte der Leitende Ingenieur zu Kapitän Marroni, »wir müssen weg von hier.« »Wollen Sie ein Schiff bauen? Womit? Ohne Axt, Säge, Trosse und Nägel?« 11
»Wir müssen die Welt wissen lassen, daß wir hier sitzen.« Marroni nickte spöttisch. »Ganz einfach, funken wir SOS. Haben Sie ein Funkgerät?« Zwei Tage später stießen Matrosen bei der Verfolgung eines Wildschweins im dschungelartigen Inselinneren auf ein Flugzeugwrack. Vermutlich handelte es sich um eine nationalchinesische Beobachtungsmaschine. Die Piloten hatten die abstürzende De Havilland offenbar mit dem Fallschirm verlassen. Im zerbeulten Rumpf fanden sie noch die rostige Überlebensbox. Sie enthielt Trinkwasser, Entkeimungstabletten, etwas Notproviant, Signalraketen, Medikamente und einen Notsender. Die Funker der Santa Cruz untersuchten das Gerät mit aller Vorsicht. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, daß der Sender in Ordnung, die Batterien aber leer seien. Das Zeug lag schon jahrelang herum. Erfindungsreich wie alle Italiener, versuchten sie nun einen der Generatoren auszubauen. Der Generator des linken Motors sollte über eine abenteuerliche Pedalkonstruktion in Bewegung gesetzt werden. Nach mehreren Tagen hatten sie ihn soweit, daß er Energie in Form von 12 Volt Drehstrom von sich gab. So brachten sie tatsächlich Sendeimpulse in die Antenne. Von da ab funkten sie stündlich während der vierminütigen Sendestille für Seenotfunk ihr SOS in die Ferne. * Zwei Wochen nachdem die Besatzung der Santa Cruz durch einen russischen Fischtrawler von den Babuyan-Inseln gerettet worden war, wurde über den Aufklärungssatelliten der SIC im mittleren Pazifik ein Atoll entdeckt, wo die Karten 12
bisher keines verzeichneten. Das Atoll glich im Satellitenfoto einer ziemlich gerade gewachsenen Banane. Es mochte fünfhundert Meter lang und sechzig Meter breit sein. Von Honolulu aus starteten Seefernaufklärer zu den Koordinaten 174 West 18 Nord. Die Besatzung einer Lockheed Orion löste das Rätsel des neuen Atolls als erste. »Von wegen Atoll«, rief der Kommandant seinem zweiten Piloten zu, »gelbes Deck, roter Rumpf. Den Pott suchen sie schon seit einem Monat. Er war wie vom Meeresspiegel weggewischt.« Der Beobachter nahm das Glas und buchstabierte. »Santa Cruz.« »Flagge Liberia.« »Kein Schwanz an Bord, he?« »Steht verdammt hoch aus dem Wasser.« »Schraube und Ruder sind sichtbar.« »Schönes Schiff. Hochanständig von denen, es nicht versenkt zu haben.« »Anständig von wem?« fragte der Navigator, der den Tanker beim ersten Auf lug gefunden hatte. »Von diesen Supergangstern, die das Ding drehten.« »Was für ein Ding?« wollte der Navigator wissen. Der Bordingenieur wandte sich nach links. »Liest du keine Zeitung, Joe, hast du kein Radio, kein Fernsehen, Mann? War doch tagelang alles voll davon.« »Das muß gewesen sein, als ich auf Hochzeitsreise war«, sagte der Navigator, notierte die genaue Position des Tankers auf einen Zettel, reichte diesen dem Funker, und der gab sie an die Marine durch. Einen Tag später näherte sich die US-Fregatte Nr. 77 dem verlassenen Supertanker. Nachdem sie das Riesenschiff in respektvollem Abstand umkreist hatte, wurde ein Prisenkommando an Bord ge13
schickt. Dieses Kommando, bestehend aus einem Offizier und sechs Mann, gab Stunden später über Sprechfunk folgenden Tatbestand zu USS-77 hinüber: »Funkanlage zerstört. Hauptmaschine offenbar intakt, sonst keine Schäden. An Bord außer Ratten nichts Lebendes. Die Ladung des Schiffes wurde herausgepumpt. In den achtzehn turnhallengroßen Tanks schwappen noch ein paar Tonnen Naphta.« So wurde die Santa-Cruz-Affäre zum ersten bekannten Fall von Erdölraub großen Maßstabs auf hoher See. 2. Genaugenommen war Pinter nur ein Politiker aus dem zweiten Glied. Vielleicht deshalb, weil er die halbseidenen Tricks der Großen nicht mitmachte. Er galt als offen, anständig und von klarem Charakter. Er pflegte keinerlei üble Nachrede und versuchte mit jedermann, auch aus der Opposition, gut auszukommen. In der Regierungsmannschaft wie bei den superschlauen Karrieremachern hielt man ihn für ein wenig naiv, wenn nicht geistig minderbemittelt. Aber er hatte überall gute Freunde und versuchte durch Gefälligkeiten diesen Kreis ständig zu erweitern. Das brachte mit sich, daß, wenn Pinter einen Wunsch äußerte, diesen kaum jemand abschlug. Dadurch wiederum gewann Pinter Einfluß. Einfluß aber war Macht und mehr wert als Geld. Hinzu kam noch, daß er eine nette Frau hatte. Hellena war nicht zu hübsch, nicht zu elegant, nicht zu klug. Für Manager wie Politiker war die Wahl der Frau stets von Bedeutung. Dr. jur. Gabriel Pinter hatte auch hier Glück gehabt oder instinktiv die Richtige erwischt. 14
Das glaubten, bis zum heißen Sommer dieses Jahres, zumindest er und alle anderen, die das Paar kannten. Die letzte Ausschußsitzung hatte getagt, die Parlamentsferien begannen. Das Ehepaar Pinter bereitete seine Urlaubsreise nach Südtirol vor. Am Dienstag rief der Aufsichtsratsvorsitzende eines Mannheimer Chemiewerkes an. »Schon Pläne für die Ferien gemacht, Gabriel? Wenn nein, dann stelle ich Ihnen gerne meine Villa in Mallorca zur Verfügung. Mit Koch, Hausmädchen und Segelboot. Hätten Sie Lust?« »Kann leider nicht segeln«, gestand der Politiker in gewohnter Offenheit. »Dann lernen Sie es eben oder lassen es bleiben. Ein Schwimmbecken ist auch da. Also, wie wär’s?« Weil Dr. Gabriel noch zögerte, fügte der Manager scherzhaft hinzu: »Lassen Sie sich doch ein bißchen verwöhnen, Doktor.« »Bestechen, meinen Sie.« »Das neue Umweltschutzgesetz wird auch ohne Sie abgeschmettert.« »Dann komme ich gerne«, entschied sich Dr. Gabriel. Noch am gleichen Tag sprach er mit dem Generaldirektor eines Elektrokonzerns. Der hatte ihn schon einmal zur Jagd eingeladen, obwohl Dr. Pinter kurzsichtig und ein miserabler Schütze war. »Geht’s heuer wieder in den Bayrischen Wald?« fragte der Industrielle ein wenig mitleidig. »Nein, Mallorca ist diesmal dran.« »Werden Sie nicht verschwenderisch, mein lieber Pinter. Wie kommen Sie denn hin? Per Charterflug oder Auto und Fähre.« Dr. Pinter wußte es noch nicht. Da bot ihm der Industrielle an, ihn in seinem Firmenjet mitzunehmen. 15
»Ich muß ohnehin nach Tunis übermorgen. Macht mir nichts aus Sie in Palma abzusetzen. Sie und Ihre reizende Frau. Unterwegs reden wir ein bißchen über die Novelle zum Mitbestimmungsgesetz. Okay?« »Gebucht«, antwortete der Politiker lachend. Es war angenehm, Freunde zu haben. Jeder wollte etwas von ihm, das er entweder nicht bekam oder ohnehin bekommen hätte. Als Beeinflussung faßte Pinter ihr Entgegenkommen nicht auf. Ob die Villa in Mallorca leer stand oder nicht, ob im Jet zwei Plätze mehr belegt waren oder nicht, es spielte für diese Herren keine Rolle. Bestenfalls erreichten sie damit, daß er nicht so wild gegen ihre Interessen schoß. Gegen berechtigte Interessen schoß Pinter ohnehin nie. Unberechtigte vertrat er sowieso nicht. Da hatte er ein reines Gewissen. Nur manchmal stellte Pinter insgeheim eine Rechnung auf. Passives Verhalten war auch Begünstigung. Wenn Wirtschaft, Industrie und Finanz nur ein Dutzend Abgeordnete auf diese Weise für sich gewannen, ließ sich damit schon Politik machen. Am Donnerstag fuhren Dr. Pinter und Frau Hellena von ihrem Reihenhaus in Bonn mit dem Auto nach Köln zum Flugplatz. Pinters Kleinwagen hatte knapp zehntausend Mark gekostet. Den dreistrahligen weißen Falcon-Privatjet auf dem Rollfeld bekam man nicht einmal gebraucht unter drei Millionen Mark. * Die blonde leicht mollige Hellena Pinter unterschied sich von vielen anderen Frauen dadurch, daß sie im Bikini besser aussah als angezogen und ohne Bikini noch einmal um drei16
ßig Prozent besser als mit. Es lag wohl an ihren gutplazierten Rundungen und an der Fähigkeit ihrer Haut, überall gleichmäßig zu bräunen. »Bei mir«, pflegte sie zu sagen, »wird sogar der Po braun, wenn ich nur den Bauch in die Sonne lege.« »Und dies nicht nur zur Winterszeit«, fügte Dr. Pinter regelmäßig hinzu, »nein auch im Sommer, wenn es schneit.« Er empfand es als recht ungewöhnlich, Hellena neben sich auf der Terrasse liegen zu haben, nichts tun zu müssen als ab und zu in den Pool zu springen, einen Drink zu nehmen, eine Havanna zu rauchen, Musik zu hören. Es war wie ein neues Dasein. Das andere Leben war vor den Ferien immer besonders hektisch. Sie sahen sich nur noch beim Frühstück, falls er nicht auf Reisen war. »Wie viele Prozente«, fragte er in der Sonne dösend, »gehören eigentlich uns?« Er mußte die Frage wiederholen, denn Hellena schlief ein wenig. Sie hob eine Hand und streckte drei Finger weg.« »Soviel Prozent.« »Das sind 45 Minuten am Tag.« »Wenn’s hochkommt.« Das Hausmädchen brachte frischen Limonensaft mit Eis und etwas Bacardi. Drinnen schob der automatische Kassettenwechsler ein neues Band in die Stereoanlage. HollywoodFilmmusik. »Gehen wir jetzt essen?« fragte er später. »Da gibt es einen Schuppen in Palma mit Flamenco.« »Guter Flamenco, Essen schlecht«, sagte Hellena, »schlechter Flamenco…« »Den können wir uns auch schenken.« »Bleiben wir doch hier. Der Koch hat Hasen in der Beize, carnikolos espanioles.« 17
»Und du tanzt mir einen Flamenco vor dem Kaminfeuer. Vamos!« Sie hob den Kopf und lächelte ihn durch die große Sonnenbrille hindurch an. »Wann? Du schläfst ja immer gleich ein.« »Liegt am Wein«, sagte er. Aber es konnte nicht am Wein liegen. Er hatte immer eine Menge vertragen. Schon als Student in Tübingen. Keine harten Sachen, auch kein Bier, aber bei trockenem Wein warf ihn eine Flasche nicht um. Hier tat sie es. Nach einer Flasche Valdepenas kam er gerade noch ins Bett. Entweder es ist die Umstellung, dachte er, oder das Nichtstun, oder du bist krank. Wenn sich der Zustand nicht änderte, würde er sich zu Hause gründlich checken lassen. Am besten in der Bundeswehrklinik in Koblenz. Wozu saß man schließlich im Kontrollausschuß für den Verteidigungshaushalt. * Seine schlagartig um 22 Uhr einsetzende bleierne Müdigkeit veranlaßte Dr. Pinter sich genauer zu überwachen. Er merkte sich, wann er Kaffee trank und wieviel, wie lange er Siesta machte, welche Drinks er untertags konsumierte, wie viele Kalorien er ungefähr zu sich nahm. Er merkte sich die Bahnlängen die er schwamm, die Kilometer die er am Strand entlang wanderte. Das Ergebnis war insofern beunruhigend, als sein Programm, auf Erholung abgestimmt, ihn hätte fit und nicht krank machen müssen. Auch klagte er über Kopfschmerzen und schwere Glieder. Da Hellena nicht darauf einging, sie hatten stets ihre Wehwehchen gegenseitig ignoriert, begann Dr. Pinter nicht nur sich selbst, sondern auch seine Umwelt zu kontrollieren. Zunächst konnte er nichts Außergewöhnliches entdecken. 18
Das Obst war frisch, die Drinks nur aus erstklassigen Zutaten gemixt, der Koch ein Vorbild an Sauberkeit. Fleisch, Gemüse, Käse, alles, was er verwendete, hatte ausgezeichnete Qualität. Außerdem nahm Hellena ja von der gleichen Platte wie er und fühlte sich prächig. Nur Zigarren rauchte sie nicht. Aber die Havannas stammten aus der originalversiegelten Fidel-Castro-Kiste. Als sich die Dinge nicht änderten, sondern eher noch verstärkten – Pinters Zustand wurde immer mieser –, keimte in ihm ein merkwürdiger Verdacht. Auch kam ihm Hellena verändert vor. Sie wälzte sich morgens lange und sehr träge im Bett herum. Tagsüber zeigte sie eine gewisse Zurückhaltung, starrte oft versonnen aufs Meer hinaus und lächelte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Regelmäßig gegen Abend ergriff sie eine Nervosität, die er bei ihr nicht kannte. Als laufe sie Gefahr, einen Zug zu versäumen. Pinter machte Andeutungen. Hellena aber sagte, er müsse sich irren. Erst führte er es auf seinen labilen Zustand zurück, bis er dann im Weinglas den Bodensatz entdeckte, hell wie der Sand unten am Strand. »Wer öffnet die Flasche?« fragte er unvermittelt. »Das Hausmädchen.« »Schmeckt heute nach Korken.« »Kommt vor«, meinte Hellena. »Mir fiel es nicht auf.« »Du trinkst ja auch Rose. Der ist weniger empfindlich.« »Ich hole dir eine andere«, sagte Hellena und ging in den Keller. Pinter warf Holz in den Kamin, legte Platten auf und trank an diesem Abend nur noch Cognac. Der Müdigkeitseffekt kam erst gegen Morgen. Bis drei Uhr lag er wach im Bett. Neben ihm schlief Hel19
lena, regelmäßig atmend. Leise stand Pinter auf, ging in die Küche und siebte den Rest aus der beanstandeten Weinflasche durch ein Papiertaschentuch. Als der Wein abgetropft war, befand sich im Taschentuch ein weißlich körniger Rest, Den kratzte er mit dem Kaffeelöffel ab und rührte ihn unter die Milch in der Katzenschüssel. Am nächsten Tag waren die zwei Kater, die sonst ständig durch Villa und den Park schlichen, nicht zu sehen. Nach längerem Suchen fand Dr. Pinter sie tief schlafend. Sie lagen zwischen der Umwälzpumpe und dem Filter in dem feuchtkühlen Raum unterhalb des Schwimmbeckens. Sie schnurrten vor sich hin und waren durch keinerlei Geräusche aufzuwecken. Als hätten sie einen schweren Rausch hinter sich zu bringen. * Hellena fuhr mit dem Hausmädchen auf den Fischmarkt. Dr. Pinter nützte die Zeit, um weiter zu suchen. In Hellenas Necessaire fand er außer den Standardmedikamenten gegen Zahnschmerzen, Fieber und Darmverstimmung nichts. Aber sie hatte etwas hinter dem Duschboiler versteckt. Dort lagen griffbereit zwei Großpackungen eines starken Schlafmittels. Jede Röhre enthielt zwanzig Tabletten Dormoval. Sieben Tabletten fehlten. Eine Woche waren sie jetzt hier. Für Augenblicke war Pinter geschockt. Warum mixte ihm Hellena Schlafmittel unter den Wein? Gar kein Zweifel, daß es so war. Eine der Tabletten hatte sie schon im voraus zerstoßen. Der Inhalt befand sich in einem zusammengefalteten Papierbeutel. Dr. Pinter überlegte. Er konnte sich eine zweite Flasche Wein in Reserve halten und wenn Hellena kurz hinausging, die ungeimpfte mit der präparierten Flasche vertauschen. 20
Aber es gab einen eleganteren Weg. In der Küche fand er eine Dose Puderzucker, den die Spanier über ihre süßen Tortillas stäubten. Er spülte das pulverisierte Schlafmittel in den Ausguß, gab die gleiche Menge Puderzucker in das gefaltete Papier und brachte alles wieder ins Versteck. Am Abend schmeckte sein Wein auffallend süß. Hellena wirkte nervös wie immer. Nachdem der gestrige Abend nicht programmgemäß verlaufen war, schien sie heute geradezu auf sein erstes Gähnen zu warten. Es kam prompt nach dem Dessert. Daß es gespielt war, schien ihr nicht aufzufallen. Dr. Pinter verließ das Speisezimmer, nahm seine Zeitungen mit zum Kamin, leerte dort die Flasche, rauchte eine Zigarre an, kam aber nicht weit mit ihr. Wie immer berührte Hellena seinen Arm, »Bequemer schläft man im Bett. Glaube mir.« Seufzend raffte er sich auf, wankte in den Gästeflügel, zog sich aus, verzichtete wie immer, wenn er müde war, aufs Zähneputzen und löschte Minuten später die Lampe auf seiner Bettseite. Sich schlafend stellend wartete er darauf, was passieren würde. Daß Hellena etwas mit dem Koch hatte, konnte er sich nicht vorstellen. Früher war sie eine leidenschaftliche Frau gewesen, doch das hatte sich längst gelegt. Im Verlauf seiner Karriere hatte er sie immer mehr vernachlässigt. Weil sie behauptete, daß ihr Sex nicht so wichtig sei, hatte er nie ein schlechtes Gewissen gehabt. – Nein, der Koch schied aus. Hellena hatte immer Geschmack bewiesen. Eine Frau, die sich dezent kleidete, sich damenhaft benahm, auf ihren Ruf achtete, die ging nicht mit einem spanischen Hausangestellten ins Bett. Nach zwanzig Minuten hörte Pinter sie kommen. Hellena trat neben sein Bett. Sie schien seine Atemzüge zu zählen. 21
Dabei berührte sie seine Hand. Er reagierte nicht. Dann knipste sie die kleine Lampe an und zog sich aus. Während sie duschte, drehte er sich zur anderen Seite und beobachtete blinzelnd, daß sie sich wieder ankleidete. Diesmal verzichtete sie auf den BH. Sie schlüpfte nur in den weißen Spitzenslip aus Brüssel, den für die besonderen Gelegenheiten. Rasch gab sie ein paar Tupfer Parfüm auf die intimen Stellen, wählte ein elegantes Kleid, das schwarzseidene mit den roten Orchideen, das ihr so gut stand. Auch das Problem mit dem Rückenreißverschluß löste sie erstaunlich geübt. Die Schuhe noch, ein Bürstenstrich durchs Haar, Handtasche, Licht aus. Auf Zehenspitzen verließ sie den Gästeflügel der Villa. Sofort stand Pinter auf den Beinen. Durch die Schiebetür zur Terrasse folgte er ihr. Als er das Anwesen bei den Garagen verließ, sah er die Gestalt seiner Frau auf der Treppe zur Küstenstraße. Oben angekommen hatte sich ihre Distanz auf etwa neunzig Meter vergrößert. Hellenas Ziel war der Parkplatz einer Apartmentkolonie. Pinter sah noch ihr blondes Haar im Licht der Neonlampen schimmern, dann tauchte sie zwischen den Autos unter. Wenige Sekunden später fiel eine Wagentür ins Schloß. Scheinwerfer flammten auf, ein Motor sprang an. Ein weißes Coupe wurde rückwärts aus der Reihe bewegt. Es war ein Seat-Sport. Elegant kurvte der Wagen herum. Vorwärtsgang und ab. Hellena pflegte Autos kraftvoll zu bewegen. Sie fuhr die Gänge hoch aus. Das Kennzeichen des Seat begann mit B. Barcelona also. »Halt!« schrie Pinter und brachte doch keinen nennenswerten Ton zustande. Sein Hals war zu. Er wollte ihr nachlaufen, kam sich aber vor wie am Boden festgeleimt. Teufel, was war los mit seiner Frau? Was trieb sie in den Nächten? Welches Doppelleben führte sie? 22
Er setzte sich auf eine Klinkermauer, steckte eine Zigarette an. Mehr und mehr mißfiel ihm diese Geschichte. * Dr. Pinter war Politiker, Parlamentarier, Taktiker. Er hatte gelernt abzuwarten, den günstigen Moment in Ruhe kommen zu lassen. Sich zu verstellen hatte ihm immer Mühe gemacht, aber er zwang sich dazu. Am Morgen ließ er die Sache unerwähnt. In der Nacht stellte er sich schlafend. Diesmal versuchte er seiner Frau ein Stück weiter als nur bis zum Parkplatz zu folgen. Es mißlang. Nach dem Frühstück rief er die Polizei an. Angeblich trieben sich nachts fremde Leute im Park herum. Der Gendarmeriecapitán bedauerte, er habe in der Hochsaison alle Hände voll zu tun, Würde sich aber gelegentlich darum kümmern, vielleicht. »Mit wem sprichst du?« fragte Hellena vom Pool hereinkommend. Dr. Pinter sagte es ihr. Sie erschrak, drehte sich um, setzte hastig eine Zigarette in Brand. »Du spinnst wohl«, brauste sie auf, »was willst du schon gehört haben, bei deinem Schlaf.« »Dann bilde ich es mir eben ein.« »Verständigst aber die Polizei. Ist ja idiotisch, sowas.« »Die tut sowieso nichts.« »Warum machst du dich dann lächerlich?« entgegnete sie wütend. »War voreilig«, räumte er ein. »Aber was regst du dich auf?« 23
»Weil«, log sie, und jetzt wußte er, daß sie log, »weil dadurch unser Inkognito zerstört wird. Deutscher Politiker sieht in Spanien Gespenster. Und was machen die Zeitungen daraus? Daß du besoffen warst oder bekifft.« »Die unternehmen ja doch nichts«, betonte er noch einmal. »Und du solltest in Zukunft solche voreiligen Alarme unterlassen«, riet ihm Hellena. Pinter wußte warum. Nachts einen Polizeiposten vor dem Haus, das konnte sie wegen ihrer heimlichen Ausflüge nicht gebrauchen. Er hatte sie damit warnen wollen. Vielleicht half es. Leider nützte es wenig. Sein Wein schmeckte weiterhin süß von dem Puderzucker, den er gegen ihr Schlafmittel vertauschte. Er war nahe daran, Hellena zur Rede zu stellen, frühmorgens, wenn sie ins Haus zurückschlich. Doch weil er nicht wußte, was dahintersteckte, telefonierte er erst mit Bonn. Mit dem Kanzleramt, dann mit München. Wenn er die Wahrheit erfahren wollte, ohne die Sache an die große Glocke zu hängen, konnte ihm nur einer helfen, der Bundesnachrichtendienst. Der BND verfügte über Experten für jede Art von Problemen, und für jedes Land dieser Welt. Sie versprachen ihm, Hilfe zu schicken, den Mann fürs harte Geschäft. Deckname Bob Urban. Damit Pinter ihn erkannte, bekam er den Steckbrief. Er lautete: B.U. ist Ende Dreißig, 185 groß, schlank aber athletisch. Er hat braunes Haar, voll, mittellang, leicht gewellt. Nase gerade, Kinn energisch, Augen grau, schmales sonnenbraunes Gesicht, immer ein Lächeln im Mundwinkel. Er trägt dunkelblaue Gabardinehose, dazu passenden Glenchecksakko, rosa oder blaugetöntes Hemd, Seidenwirkbinder einfarbig, schwarze Slipper. Er führt die Code-Nummer 18. 24
3. In Francescos Bar hinter der Rialtobrücke in Venedig kannten sie ihn gut. Der stets elegant gekleidete Vierziger mit den grauen Strähnen im Haar galt als angenehmer Gast. Er mußte weit herumgekommen sein, denn kein Drink dieser Welt war ihm fremd. Manchmal kam er jeden Tag gegen 17 Uhr vorbei, dann wieder wochenlang nicht, wenn ihn seine Geschäfte in die USA oder nach Asien führten. Niemand bei Francesco fragte jemals nach den Gründen. Sobald er wieder in der Stadt war, riefen sie: »Buon giorno dottore Nazzarini! Come sta? Wie geht es!« Die alten Freunde aus der Bar wußten ungefähr, was Nazzarini im Ausland machte, aber nur ungefähr. Die einen meinten er sei Finanzier, die anderen hielten ihn für einen großen Mann bei Interpol. Wieder andere hatten ihn mit hohen Offizieren in Rom gesehen und tippten auf eine Tätigkeit als Geheimdiplomat. Alle waren sie aber recht erstaunt, als Filo Nazzarini eines schönen Nachmittags von einem Campari weg verhaftet wurde. Die zwei Signori, die auf ihn zugingen, ein Papier zeigten und ihn mitnahmen, sahen verdammt nach Kriminalbeamten aus. Nazzarini nahm es hin, wie jeder Azzurri einen Schicksalsschlag, bei dem er hoffte, daß er so schlimm auch wieder nicht sein würde. Seinen Freunden rief er zu: »Ciao bis heute abend. Laßt mir was vom Hummer übrig.« Man sah ihn nicht wieder. Seine unbezahlte Zeche wurde in das berühmte alte Buch notiert, wo schon weltberühmte Leute als Schuldner standen. Richard Wagner zum Beispiel, Gabriele D’Annunzio und der US-General Patton. 25
Zur selben Stunde ging es auch in London einem Mann an den Kragen. Vor seinem Haus im Themsevorort Tilbury beseitigte er gerade die Roststellen seines Triumph R-7, als an der Uferstraße eine Limousine vorbeifuhr und anhielt. Der schwarze Wagen kam Jesse Caine gleich unsympathisch vor. Dafür besaß er einen hochentwickelten Instinkt. Also ging er in Deckung. Aus dem schwarzen Rover stiegen drei Gentlemen in Trenchcoats. Sie schauten sich um, als würden sie die Nummern der Häuser ablesen, dann überquerten sie die Straße. Einen von ihnen kannte Jesse Caine. Er war bei der Staatsanwaltschaft London beschäftigt. Caine schlich in die Garage, schob seine alte Norton heraus, drehte den Benzinhahn auf und betätigte zweimal langsam den Kickstarter. Dann sprang sie beim dritten Tritt an. Doch er kam nicht weiter als bis zur Gartentür. Dort wuchs plötzlich ein Polizist aus dem Fliederbusch. Jesse Caine begriff blitzschnell, daß es sich um die längst erwartete Aktion handelte. Er hätte den Polizisten mühelos ausschalten können. Der Bobby hatte zwar den traditionellen Gummiknüppel parat, aber Caine kannte Kampftechniken, die mehr wert waren als eine Maschinenpistole. Statt Widerstand zu leisten, gab er auf. Behutsam lehnte er die 500er an den Apfelbaum und ging auf die drei Gentlemen in den Regenmänteln zu. »Mister Jesse Caine«, schnarrte der mittlere, zog ein Dokument und faltete es auf. Der große blonde Caine stellte den Kopf leicht schräg, gleichzeitig hob er das Kinn, was ihm ein arrogantes Aussehen verlieh. »Ich bin festgenommen. Stimmt’s?« »Und Sie wissen warum.« 26
Caine lächelte nur. »Es gibt Millionen Gründe. Keinen werden Sie verstehen.« »Sie werden so gütig sein, uns einen davon zu erklären.« »Kaum. Denn ich bin zu Geheimhaltung verpflichtet«, entgegnete Caine. »Davon werden wir Sie entbinden.« »Das kann nur Ihre Majestät die Königin.« Offenbar wollten sich die Herren nicht auf eine Diskussion im Freien einlassen. »Es geht um Ihr Alibi.« »Ich habe nie eines, hatte es nie nötig.« »Wo waren Sie am Siebzehnten?« »Welchen Jahres?« »Im vergangenen Monat.« Daraufhin zog Caine ein Gesicht, als blättere er einen inneren Notizkalender durch. Dann antwortete er: »Am Siebzehnten war ich in Hongkong, Sheraton Hotel, Bar, vierter Hocker links.« »Danke«, erwiderte der von der Justizbehörde, »das genügt uns. Packen Sie das Nötigste ein. Rasierzeug, Zahnbürste, Schlafanzug. Sie wissen schon.« »Erlauben Sie, daß ich…« Sie schnitten ihm das Wort ab. Alles andere wollten sie lieber selbst erledigen. Sie brachten Caine nach London, wo er mehrere Tage verschwunden blieb. Doch plötzlich war er wieder auf freiem Fuß. Aber eine Meute von Reportern verfolgte ihn. Sie hetzten ihn bis Schottland, wohin er sich begab, um seine Ruhe beim Forellenfischen zu haben. Am Kyle of Turnee stöberten sie ihn in dem kleinen Hotel auf und stellten ihre Fragen ziemlich direkt. »Stimmt es, Mister Caine, daß Sie einer Sonderbrigade des Geheimdienstes angehörten?« 27
»Ich bin jetzt Rentner. Und möchte meine Ruhe, bitte.« »Rentner mit Zweiundvierzig, Sir? Gestern galten Sie noch als einer unserer besten Agenten für die Bekämpfung internationaler Schwerkriminalität, die sich gegen die Sicherheit unseres Landes wie die der NATO richtet. Und heute sind Sie Rentner?« »Um genau zu sein, Gentlemen, mein Rentenantrag läuft gerade.« Einer der Reporter, eine junge Frau mit scharfem Kinn und spitzer Nase, wurde noch deutlicher. »Man hat Sie gefeuert. Hat Sie der Kontakt mit reichen Stehkragengangstern korrumpiert? Konnten Sie der Annahme von Schmiergeldern nicht länger widerstehen, oder haben Sie, wie man hört, selbst tüchtig in den Millionentopf gegriffen? War das mysteriöse Verschwinden des Tankers Santa Cruz vielleicht sogar Ihr Plan, Mister Caine?« »Wäre ich dann auf freiem Fuß?« bemerkte er kurz. »Man hatte offenbar nicht genügend Beweise gegen Sie. Gehen wir damit einem Geheimdienstskandal entgegen?« Alles wartete gespannt. Die Tonbandgeräte liefen, die Bleistifte standen startbereit auf den Stenoblöcken. »Das überlasse ich Ihrer Phantasie, Ladies and Gentlemen«, sagte Jesse Caine. »Entschuldigen Sie mich für drei Minuten.« Er ging auf sein Zimmer, stieg aus dem Fenster, kletterte in den Hof, sprang in seinen schwarzen R-7 und fuhr im Nebel davon nach Süden. Er fuhr die ganze Nacht hindurch. Am Morgen erreichte er Glasgow und die Fähre nach Irland. Von Dublin aus flog er mit unbekanntem Ziel weiter.
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Auch in den USA suchten sie einen Mann, den CIASpezialagenten Cecil Clark. Aber den bekamen sie erst gar nicht. Immer wieder entwischte er ihnen. Überall, ob auf seiner Farm in Virginia, ob auf dem Flugplatz in Danville oder im Yachthafen von Cape Charles war er um Minuten schneller als sie und schlug ihnen ein Schnippchen. Sie standen am Pier und sahen in den Ferngläsern seine golfblaue Chriscraft auf See kleiner werden. Seine Jäger beratschlagten, was zu tun sei. »Mit der Küstenwache kriegen wir ihn noch. Die haben schnelle Boote und fangen ihn ab«, entschied der Mann, der Clark nach Washington bringen sollte. »Los, rufen wir sie über Sprechfunk.« »Den Funk hört aber auch die Presse ab. Dann haben wir die Reporter am Hals.« »Besser das, als dieser Hundesohn Clark springt uns endgültig von der Kette.« Die Küstenwache wurde alarmiert. Eines ihrer Schnellboote, das zwischen den Inseln patrouillierte, nahm eine Kursänderung vor und preschte hinter Cecil Clark her. Bald hatten sie ihn auf dem Radar. Vierzig Minuten später stoppten sie die Chriscraft. Drei Mann sprangen hinüber, bewaffnet, als wollten sie Löwen jagen. Aber alles, was sie fanden, waren zwei fesche Damen. Eine Lehrerin aus Hampton und deren Schwester, Tierärztin von ebendort Auf die Frage der Küstenschützer nach einem Mann, Ende Dreißig, Redford-Typ, ob sie den vielleicht an Bord hätten, bedauerten die Damen. »Leider nicht, Sir.« »Ein ganz eiskalter Junge.« »Den hätten wir schon aufgetaut«, versicherten die zwei Schwestern feixend. 29
Die Küstenmarine bekam einen Drink und dampfte wieder nach Norden. Indessen saß Cecil Clark im Cadillac einer schwarzen Jazzsängerin, die auf dem Weg zu ihrem Konzert nach Philadelphia war und die er nahe dem Bridgeton Highway angehalten hatte. Sie schenkte ihm eine Karte in der ersten Reihe. Weil sie nach dem Konzert erst richtig munter wurde, zechten sie noch in der Bar und gingen dann gemeinsam ins Hotel. Cecil Clark ließ nie etwas aus, wenn es umsonst geboten wurde. Auf diese Weise hatte er sein Geld immer zusammengehalten und trotzdem das Leben genossen. Die Jazzsängerin verlangte nur ein wenig Liebe und Zärtlichkeit, was er gerne gab. Außerdem war sie eine exzellente Tarnung. Cecil Clark begleitete sie bis Ney York. Dort verabredete er sich mit ihr nach der Schallplattenaufnahme in einem Broadwayrestaurant, saß aber zu dieser Zeit schon im Jet nach Südamerika. Auf der Banca do Brasil in Rio hatte er einen größeren Dollarbetrag liegen. * Anläßlich eines Routinegespräches zwischen MI-6 London und dem BND München Pullach, erwähnte Lord Babington auch den Fall ›Santa Cruz‹. »Mit solchen Vorkommnissen«, gab der Engländer seiner Befürchtung Ausdruck, »wird man in nächster Zeit wohl öfter rechnen müssen.« »Sie meinen, daß sie wie trunksüchtige See-Elefanten mit langem Rüssel Großtanker leerschlürfen«, erwiderte der BND-Operationschef aufgekratzt. »Bei den hohen Barrel-Preisen zur Zeit ein glänzendes Geschäft. Und risikoloser als der Goldhandel.« 30
Oberst a.D. Sebastian gab offen seiner Erleichterung darüber Ausdruck, daß der Bundesnachrichtendienst mit diesem Problem nicht auch noch befaßt sei. Er schätze sich glücklich und froh, daß er den Fall ›Santa Cruz‹ nicht am Hals habe. »Kann noch kommen«, scherzte der Brite gallig. »Wer ist denn die große Seefahrernation«, entgegnete Sebastian vom fernen Isarstrand. »Doch nicht Old Germany. Viele Schiffe, viel Ärger, mein Freund.« »Dafür ist Westdeutschland die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Ihr Ölimport liegt doppelt so hoch wie der unsere.« »Wir lassen unser Öl von anderen fahren.« Eine gewisse Genugtuung war nicht zu überhören, daß sich der BND diesmal außerhalb des Clubs der Heimgesuchten befand. »Wen trifft es eigentlich?« erkundigte sich der BNDOberst beiläufig. »Die feinsten Kreise«, sagte Babington in seinem schwarzen Humor, »ein britisches Schiff unter liberianischer Flagge mit vorwiegend italienischer Besatzung, gechartert von einem kalifornischen Ölmulti. Die ganze Chose, Schiff und Ladung, ist bei Lloyds und Overseas versichert.« »Die kamen noch mit einem blauen Auge davon«, bemerkte der BND-Oberst. »Wenigstens das. Schiff ist noch vorhanden.« »Aber, zum Teufel, wo ist das verdammte Öl abgeblieben?« »Hatten Sie nicht ein Auge drauf?« tippte Sebastian, der auch gewisse Informationen hatte. »Sogar sechs Augen?« »Leider die Augen von drei Blinden.« »Dann stimmt also, was man hört.« Der britische Geheimdienstlord, in der Princess Annes nur als ›B‹ bezeichnet, faßte sich vorsichtig. Obwohl ihr Ge31
spräch über Verzerrung lief, nannte er keine Namen. »Wir haben, wie man so schön sagt, Casanovas zu Haremswächtern gemacht. Diese Burschen erkannten die einmalige Chance des großen Geldes und wechselten die Fronten.« »Ihre besten Leute.« »Superagenten.« »Man kann keinem mehr trauen«, stellte der BND-Oberst fest. »Aber sind Sie auch ganz sicher?« Daran schien es zu hapern. Babington faßte es in einen Vergleich. »Wenn der beste Commissioner von Scotland Yard je gezwungen wäre, einen Mord zu begehen, dann können Sie Gift darauf nehmen, mein Lieber, daß er es möglichst perfekt macht.« »Ja, es gibt den perfekten Mord«, erwiderte Sebastian, »auch wenn Theoretiker es ableugnen.« »Es waren ein SIFA-Mann«, zählte ›B‹ auf, »einer von uns und einer aus dem Wald bei Langley.« »Und nichts Entlastendes, keine Widersprüche?« »Der Italiener wurde in Venedig gefaßt, als er einen Campari schlürfte. Sie kamen mit ihm bis zum Vaporetto. Dort entzog er sich der Festnahme mit einem Weitsprung vom Schiff über den Canal Grande auf eine Gondel. – Der Gentleman in Washington muß auch etwas gewittert haben. Sie bekamen ihn immer nur fast. Sie sahen noch seine Hosenbeine flattern, aber sie erwischten ihn nicht.« »Und Ihr eigener James Bond?« »Er wurde verhört, drei Tage lang nach allen Regeln der Kunst. Dann mußten wir ihn laufenlassen. Es gab keine sicheren Beweise. Die ganze Santa-Cruz-Geschichte ist eine Schlangengrube.« »Gewinn satte fünfzig Millionen, erzählt man sich.« »Dollar. Aber wohin floß das verdammte Öl? Hat man es 32
auf mehrere kleine Tanker verteilt, oder haben sie es in einem einsamen Hafen in Indochina, auf den Philippinen, in Taiwan gelassen? Wenn das Schule macht, gehen wir einer Zeit des Energieraubes entgegen.« »Bald wird er dem Mundraub Konkurrenz machen«, kommentierte Sebastian. »Wie steht es mit der Geheimhaltung?« Babington verband die Antwort mit einer Gegenfrage: »Sie ist offenbar schlecht. Wie käme es sonst, daß Sie so gut informiert sind, mein Freund.« »Nun, es gab einige Pressenotizen.« »Ja, die verdammten Reporter bekamen Wind davon. In Italien, hier und in Virginia. Sie haben schlaue Köpfe und stellten Querverbindungen her.« »Nun ist bekannt, daß sich die NATO-Geheimdienste mit diesem Fall befassen.« »Und mit kommenden ähnlichen Fällen befassen werden. Die rollen doch auf uns zu wie die langen Nächte im Dezember.« »Zum Glück sind wir Deutschen diesmal nicht beteiligt«, betonte Sebastian noch einmal. »Beten Sie täglich, daß es so bleibt.« »Und ich wünsche Euer Lordschaft viel Glück.« Das Gespräch erreichte seinen Zweck nicht. Lord Babington hatte seinen Freund beim BND bitten wollen, die Augen offen zu halten, doch Oberst Sebastian machte sie lieber fest zu. In diese Ölklaugeschichten verwickelt zu werden, das hätte ihm gerade noch gefehlt.
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4. Der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, stimmte sich ein, wie ein Sänger vor dem Auftritt. Aber er tat es auf offener Bühne. In diesem Fall von einer 44-Fuß-Motoryacht aus. Wenige Stunden nach seiner Landung in Palma fuhr er mit einer älteren Ancona die Küste entlang nach Südwesten. Er schipperte an den großen Hotels der Costa Bedinat vorbei bis hinaus nach Cabo Gala Figuera. Auf einem Hügel unweit des Leuchtturms stand eine weiße Villa mit maurischen Arkadenbögen. Querab davon stoppte Urban die Perkins-Diesel und ließ sich treiben. Stundenlang lag er an Deck im Campingstuhl, links ein Glas voll Eis, Limonensaft und Gin, rechts ein Glas von Zeiss. Die Zeit stimmte und der Ort. Mit Dr. Pinter hatte er ausgemacht, daß dieser ihm seine schöne Hellena Punkt 17 Uhr präsentieren würde. Das Licht war ausgezeichnet, nicht mehr so grell. Der Feldstecher hatte zwölf fache Vergrößerung. Mit wenigen Minuten Verspätung erschien das Paar. Sie traten aus dem Vordachschatten des Gästeflügels. Dr. Pinter im Bademantel, die Dame im zartgrünen Bikini. Der Politiker setzte die Sonnenbrille auf. Er schien das Boot gesehen zu haben, nahm die Brille noch einmal ab und putzte sie. Dieses Zeichen hatte er mit Urban vereinbart. Urban stellte das Glas schärfer und betrachtete das Objekt, dessentwegen er zweitausend Kilometer geflogen war. Eine in der Tat beachtliche Darbietung, wohlgerundet und gebräunt, Typ fesche Wienerin, obgleich in Gelsenkirchen geboren. Hellenas Vater war Bergmann gewesen und ein bekannter Kaninchenzüchter. Die Tochter, kleinbürgerlich erzogen, 34
zeigte früh den Drang zu Höherem. Sie befaßte sich lieber mit Brieftauben, daher Wohl auch ein gewisses Fernweh. Klein Hellena absolvierte die Mittelschule, lernte dabei fleißig Sprachen, Steno und Maschine und entflog als AuPair-Mädchen nach Paris, später nach London. Als sie zurückkam, wies sie schon einen gewissen paneuropäischen Schliff auf. Sie wurde Sekretärin in der Kommunalverwaltung, später Referentin eines Bürgermeisters im Ruhrpott. Dort lernte sie den jungen Parteifunktionär Pinter kennen. Er studierte gerade im letzten Semester Jura. Als er seinen Doktor machte, verlobten sie sich, als er Assessor wurde, heirateten sie. Er trat in eine Anwaltskanzlei ein, scherte aber bald in Richtung HellenaBonn erkannte als Profipolitiker rasch, daß Pinter aus. ewig ein Mann im zweiten Glied sein würde. Staatssekretär oder gar Minister würde für ihn nie drin sein. Sie gab sich damit zufrieden und richtete ihr Leben entsprechend ein. Hellena Pinter war unkompliziert, immer lustig, mitunter sogar ein wenig frivol. Ihre mangelhafte Bildung überspielte sie damit, daß sie Themen, von denen sie nichts verstand, tunlichst mied. Mit Kindern klappte es nicht, was ihr gar nicht unangenehm war. Auf diese Weise glaubte sie besser bei Figur zu bleiben. Was der Betrachter auf dem Motorboot nur bestätigen konnte. Der Beruf ihres Mannes brachte es mit sich, daß sich das Ehepaar ein wenig auseinanderlebte. Hellena beklagte sich nur selten über Vernachlässigung. Offenbar sorgte sie auf ihre Weise für den nötigen Bedarf an Lebensfreude. Es gab Hinweise darauf, daß sie schon nicht zu kurz kam. Dies und einiges, mehr wußte Bob Urban zu diesem Zeitpunkt über Hellena Pinter. Den Rest hoffte er in den kommenden Nächten zu erfahren. Nachdem er genügend Objektstudien getrieben hatte, in 35
Nachdem er genügend Objektstudien getrieben hatte, interessierte ihn das Ehepaar Pinter am Schwimmbecken nur noch wenig. Statt dessen schaute er sich die Anlage von Villa, Nebengebäuden und Park an. Dann startete er den Perkins, gab Hartruder und kehrte nach Palma zurück. Nach dem Dinner, gegen 22 Uhr, würde er wieder zur Stelle sein. * Urban parkte den Mietwagen bei der Apartmentkolonie oberhalb der Straße. Er stellte ihn gewendet in Richtung Calvia hin, rauchte eine MC an und wartete. Gegen 22 Uhr stieg er aus und näherte sich dem weißen Seat Coupé. Er war kein kleiner Autodieb, der erst die Antenne abreißen mußte, um mit dem dünnsten Drahtglied über die Fensterdichtung an die Sperre zu gelangen. Als Profi hatte er sich ein original Fiat-Passepartout besorgt, einen Generalschlüssel für alle Seat-1300 Typen. Er saß so rasch drin, als sei es sein eigenes Auto. Ein Blick durch die Frontscheibe bestätigte ihm, daß der Wagen völlig verstaubt war. Aber wer sollte ihn schon waschen, wenn er nur nachts benutzt wurde. Ohne im Inneren Licht zu machen, orientierte er sich. Das Handschuhfach war leer. Auf dem Bodenteppich klebte getrockneter Schmutz. Urban beförderte ein paar Brösel ans Licht. Kein Lehm, sondern Gartenerde, vermutlich durch einen spitzen Absatz hereingetragen. Der Kilometerzähler stand auf 1435. Ein neues Auto also. Urban wollte seine Voruntersuchung damit beenden, griff aber automatisch in die Türseitentasche. Nicht einmal Staub befand sich darin. Logischerweise mußte er auch die rechte Türtasche unter36
suchen. Dazu war nötig, daß er die Tür öffnete. In der Tasche steckte nur ein Stück Papier. Er knipste die Punktleuchte an. Das Papier enthielt eine Straßenskizze. Zweifellos handelte es sich um die Gegend von Cabo Gala der Insel Mallorca. Die Zeichnung reichte bis kurz vor Paguera. Die andere Hälfte fehlte. Wenn es sich um eine Fahranweisung handelte, dann bewegte die Lenkerin dieses Auto vermutlich nach Puerto de Andeaix hinaus. Urban wollte gerade den Seat verlassen, als rechts eine Gestalt auftauchte. Er sah nur den Schatten, da wurde ihm die halboffene Tür förmlich aus der Hand gerissen. Die Gestalt glitt herein und setzte sich neben ihn. »Da staunen Sie, was?« »Offengestanden«, antwortete Urban, »Sie habe ich nicht erwartet, Dr. Pinter.« Der Politiker atmete schwer. Er mußte gerannt sein. »Als ob sie es ahnen würde«, stieß er hervor, »dieses Biest.« Urban glaubte zu verstehen. »Sie geht heute nicht aus?« »Sie schläft«, Pinter lachte bitter auf, »mit Schlafmittel.« »Wie war der Wein heute?« »Völlig in Ordnung. Sie gab nichts von dem Staubzucker, den sie für Dormoval hält hinein.« »Dann läuft heute nacht nichts«, vermutete Urban, »oder sie kam Ihnen dahinter und hat die Apotheke gewechselt.« »Sie Scherzbold«, sagte Pinter, »Sie gefallen mir.« »Im Ernst?« fragte Urban. »Gewöhnlich mag mich nämlich keiner. Das liegt nicht an mir, sondern an meiner Arbeit.« Pinter winkte ab. »Sie sind gekommen, um mir zu helfen. Was sollte ich gegen Sie haben.« 37
»Meist ist das Ergebnis unangenehm und die Reaktion die es auslöst richtet sich gegen den Überbringer der schlimmen Kunde.« »Schlimme Kunde«, murmelte Pinter. »Was zum Teufel mag hinter den geheimnisvollen Ausflügen meiner Frau bloß stecken. Sie war immer durchschaubar wie ein Glas Wasser.« Urban wollte einwenden, daß nichts auf der Welt mehr Überraschungen bieten könne als eine Ehe, sagte aber: »Es quält Sie?« Pinter seufzte auf. »Es ist, als würde der Körper Symptome einer schweren Krankheit zeigen. Die Untersuchungen laufen, aber die Ärzte haben das Ergebnis noch nicht. Nun liegt man nachts wach und überlegt pausenlos, geht es gut oder ist es der letzte Sommer deines Lebens.« Was Urban erwiderte, klang nicht sehr tröstlich. »Wir werden es bald wissen.« »Wir wissen es nur dann, wenn Hellena ihre nächtlichen Ausflüge fortsetzt. Das allein ist schon schlimm genug.« »Die Ungewißheit auch.« »Was aber, wenn sie etwas gemerkt hat und die Sache einstellt?« »Dann stünde dieses Fahrzeug nicht mehr hier.« »Frauen sind wie Seismographen.« »Haben Sie Ihr Verhalten geändert, Doktor?« erkundigte sich Urban. »Nein, nicht bewußt. Aber ich bin kein Staatsschauspieler. Ich halte das nicht mehr lange durch.« »Geduld«, riet Urban. »Ein zwei Tage noch. Ich bin sicher, daß…« »Und ich sage Ihnen, dieses Weib hat sich heute etwas Neues ausgedacht.« »Auch wir sind flexibel.« 38
Trotz aller Aufgekratztheit begann Pinter ein wenig abzuschlaffen. Er gähnte. »Marsch ins Bett«, sagte er. »Wir halten Kontakt wie vereinbart. Buenas noches!« Er stieg aus. Urban sah ihn weggehen. In seinem Mietfiat sitzend, fuhr er nicht gleich nach Palma zurück. Ein Gedanke des Politikers beschäftigte ihn. Möglich, daß Hellena Pinter Zeit und Taktik ihrer Ausflüge geändert hatte. Was aber hatte sie sich Neues einfallen lassen? Nahm sie jetzt ein Motorboot, oder tat sie es am Vormittag? Dann stand das weiße Coupé nutzlos herum und würde früher oder später abgeholt werden. Die beste Zeit dafür wäre die Nacht gewesen. Urban beschloß noch eine Stunde zuzugeben. * Um 23 Uhr wußte er einiges mehr. Hellena Pinter hatte ihre Ausflüge nicht aufgegeben, sondern nur verschoben. Sie hatte sich nicht mit einem Schlafmittel zu Bett begeben, sondern ihrem Ehemann etwas anderes unter den Wein gerührt, vermutlich ein geschmackloses Barbiturat, dessen Wirkung langsamer einsetzte. Jetzt schlief Pinter ahnungslos und die Dame, in einem gelben Sommerkleid, bestieg den Seat und fuhr los. Urban rechnete damit, daß sie sich in den südwestlichen Teil der Insel begab. Aber nach vier Kilometern, oben an der Kreuzung, schlug sie den Weg nach Palma ein. In der Nähe des Hafens parkte sie vor einem eleganten Etagenhaus. Nach kurzem Summersignal wurde ihr geöffnet. Urban 39
sah sie durch die Marmorhalle zum Lift schweben. Ehe der Lift im gewählten Stockwerk hielt, stand er davor. Der Aufzug fuhr bis zur obersten Etage durch, bis zur vierzehnten, und hielt dann bei den Buchstaben P. P bedeutete international Penthouse. Auf dem Namensschild der Penthousewohnung stand Lucio Borghetto. Es gab aber noch eine zweite Penthousewohnung. Sie gehörte offenbar einem Andrei Korsakoff. Dem Namen nach waren beide keine Spanier. Aber die Balearen waren ohnehin fest in Ausländerhand. Was immer Hellena dort oben trieb und wie lange es dauerte, Urban konnte wenig dagegen tun. Er hatte Pause. Wahrscheinlich, so dachte er, wird sie nach der Liebesstunde nichts anderes tun, als wieder heim zu Onkel Pinter fahren. Den Rest kannst du morgen besorgen, durch ein ernstes Gespräch mit Mister Borghetto. Dann blieb er aber doch auf dem Posten. Logik war nicht immer alles in diesem Job. Manchmal hatte man ein Gefühl, das alles über den Haufen warf. Urban stellte den rechten Sessel schräg, nahm einen Schluck aus der Reiseflasche, rauchte eine MC, hörte Gitarrenmusik von Radio Barcelona und richtete sich auf eine urgemütliche Nacht ein. Um nicht einzuschlafen, rekonstruierte er ein bißchen. Wie war Hellena Pinter von Cap Gala nach Palma gefahren? Eigentlich ganz normal. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Zügig konnte man es nennen. Sie hatte keine Umwege eingeschlagen, hatte gar nicht erst versucht, irgendwelche Verfolger abzuschütteln. Nur bei einer Ampel hatte sie etwas nervös gewirkt. Lange vor Grün hatte sie die Kupplung losgelassen. Vielleicht war es der drängende Ruf der Liebe, der sie zur Eile trieb. 40
Bob Urban irrte sich schon zum zweiten Mal in dieser Nacht. Nach kaum zwanzig Minuten flammte in der Eingangshalle der Luxusabsteige das Licht an. Der Lift kam herunter. Die Lamellentür glitt zur Seite. Hellena Pinter trat unter den Kronleuchter. Aber sie war nicht allein. Begleitet wurde sie von einem Mann. Auf jeder Party hätte man ihn den bestaussehendsten Burschen des Abends genannt. Er mochte eins-achtzig groß sein, dunkel, Stierkämpfer-Typ mit der sonnenbraunen Haut der Teilzeitbeschäftigten. Wenn Urban an Pinter dachte, den blassen Mittelklassetyp, dann konnte er die fromme Helene verstehen. Viel weiter dachte er nicht, denn plötzlich hatte er alle Hände voll zu tun. Er zog die Spezialminox heraus, schaltete das Zoom vor. Agfa-Super-Night-Film war schon eingelegt. Er stellte scharf, drückte die Motortaste und ließ rasch hintereinander ein Dutzend Aufnahmen durchklicken. Das Paar schlenderte zum weißen Coupe. Heiße Küsse wurden getauscht, dann fuhr die Dame von dannen. Der Playboy begab sich wieder nach oben. Urban sicherte seine Fingerabdrücke am Türknauf und fuhr dann ebenfalls zu Bett. Alles lief immer anders als man dachte. Es lief mehr so wie man befürchtete. Nämlich linksherum. * Am Morgen fuhr Urban zum Flugplatz. Mangels schnellerer Beförderungsmöglichkeit gab er den Minoxfilm einem Piloten der German-Air mit nach München. Bis zum Abend würde der Film entwickelt und ausgewertet sein. Auf dem Rest des Films würden sie seine abgelichteten Kurznotizen und die Prints finden. 41
Wenn er nach dem Abendessen im Hauptquartier anrief, genügte das. Vom Hotel aus telefonierte er mit Pinter. Der Politiker meldete sich mit ›Hallo‹, das bedeutete, daß Gemahlin Hellena in der Nähe war und Pinter zurückrufen würde. Urban setzte sich mit einem Drink auf die Terrasse und ordnete die Fakten. Der Typ, mit dem sich Hellena da eingelassen hatte, war ein rechter Augenwurm. Er ging einem nicht aus dem Kopf. Immer wieder fühlte sich Urban an ihn erinnert, so daß er sich fragte, ob er den Mann kannte, ob er ihm früher einmal begegnet war. Aber er war schon verdammt vielen Leuten begegnet. Andererseits hatte er ein erstaunlich gutes Personengedächtnis. Sein Gehirn arbeitete diesbezüglich wie ein Datenspeicher. Er konnte sich darauf verlassen. Warum also projezierte sein Gehirn ständig das Bild dieses schwarzgelockten Knaben. Das Telefon summte. »Pinter«, meldete sich der Urlauber aus Bonn. »Mußte warten bis Madame Muscheln suchen geht. Wie sieht es aus?« Urban landete lieber gleich den Schock, als ihn sorgsam vorzubereiten. Abschwächung bewirkte oft das Gegenteil und übte einen Verstärkereffekt aus. »Ein Mann«, sagte Urban. »Lucio Borghetto.« »Nie gehört den Namen.« »Viel Zeit ließen sie sich nicht, die zwei Turteltauben. Keine zwanzig Minuten. Vermutlich wurde nur eine Taktikänderung besprochen.« »Lucio Borghetto«, murmelte Pinter, »ein paar Südländer kennen wir natürlich. Wie sieht er aus?« Urban beschrieb Borghetto so gut er konnte. »Die Fotos sind unterwegs zur Auswertung.« 42
»Fingerabdrücke?« »Ein paar.« »Borghetto«, wiederholte Pinter, »was macht er her?« »Mindestens soviel wie Errol Flynn in Herr der sieben Meere.« »Warum«, seufzte Pinter, »wird der eine als Beau geboren und der andere als Knilch?« »Frauen trifft es oft noch schlimmer.« Plötzlich stellte Pinter eine klare Frage: »Hatte der Mann einen Gehfehler?« Wäre mir aufgefallen, wollte Urban vorprellen, unterließ es aber. Borghetto war hinter Hellena Pinter aus dem Lift getreten. Eingehakt wie ein Liebespaar waren sie zum Auto gegangen. Urban hatte ständig fotografiert und den Mann fast nur durch den Sucher gesehen. »Gehfehler, nein, nichts davon bemerkt«, äußerte Urban. »Ich hatte mal einen Gast«, erinnerte sich Dr. Pinter, »Mitglied irgendeiner Handelsdelegation, weiß nicht mehr, waren es Türken, Griechen oder Bulgaren? Spielt ja keine Rolle, der war jedenfalls ein Götterbild von einem Mann. Er stand ungeheuer auf Hellena und beeindruckte sie ebenfalls stark. Wir gingen auch gemeinsam essen, was selten vorkommt. Aber dann flog die Delegation wieder ab. Das muß vor zwei oder drei Jahren gewesen sein.« »Und dieser Herr hatte einen Gehfehler?« »Hervorgerufen durch einen Sportunfall glaube ich. Er brach das Hüftgelenk.« »So was kann man beheben. Die Orthopädie leistet da wahre Wunder. Ihre Frau mochte ihn also.« »Sie sagte einmal, mit diesem Mann könnte sie sich vergessen. Ich faßte es als Scherz auf.« »Und ich bleibe am Ball«, versprach Urban. »Wohl nicht mehr nötig.« Pinter gab offenbar auf. »Den Rest kann man sich an den Fingern abzählen. Eins zwei drei vier fünf.« 43
Im Gegensatz zu Pinter gab Urban nicht auf. Jetzt begann ihn die Affäre erst richtig zu interessieren. Stundenweise, nach bestimmtem Rhythmus, observierte er das elegante Terrassenhaus am Paseo Sagrera. Irgendwann mußte er Lucio Borghetto wieder zu Gesicht bekommen. Einmal läutete er auch, bekam aber keine Antwort durch die Ruf anläge. Vielleicht war Borghetto ausgegangen. Oder er hatte gar sein Quartier gewechselt. Spätabends kam dann der Anruf aus München. »Alarmstufe eins«, übermittelte der Operationschef. »Borghetto?« »Da findet ein Junge auf dem Spielplatz ein wunderhübsches Krabbeltier, nimmt es mit nach Hause, und dann ist es ein Skorpion mit tödlichem Stachel.« »So sieht er gar nicht aus.« »Wir sind noch nicht sicher«, erklärte Oberst Sebastian, »aber wenn sich unsere Befürchtungen erhärten, dann Hut ab vor Ihrer Nase.« Meine Nase war verstopft, dachte Urban, es war Zufall. »Der eine bringt es«, antwortete er, »der andere nicht. Was darf ich alles mit Lucio Borghetto anstellen?« »Ihn nicht aus den Augen lassen, zunächst. Einzelheiten folgen. Ende.« Dies wiederum war gar nicht so einfach, da Urban Borghetto möglicherweise schon verloren hatte. Der Gitarrist in der Bar gab sein Bestes. Aber sein Spiel kam Urban vor wie ein trister andalusischer Trauermarsch. 5. Über dem Finnischen Meerbusen stand ein eisblauer Nordlandhimmel. Dreitägiger Polarsturm hatte ihn blankgefegt. Jetzt heizte die Spätsommersonne noch einmal Strande 44
und Küsten auf. – Aber unmerklich verlor sie schon an Kraft und an Höhe. Der Herbst kündigte sich an. Im sowjetischen Flottenstützpunkt Kallinn, dem früheren Reval, herrschte unter fußballfeldgroßen Tarnplanen hektische Tätigkeit. In Tag- und Nachtschichten wurde geschweißt, genietet, geschraubt und montiert, als müsse man vor Winteranbruch ein wichtiges Programm zu Ende bringen. In das starkgesicherte Werftgelände kamen nur Matrosen und Offiziere der Roten Flotte hinein, oder technische Spezialisten wie Ingenieure und Facharbeiter. Sie alle hatten fälschungssichere Ausweise. Für die Sektion vier des Stützpunktes, wo das Sonderprogramm lief, brauchte man sogar ein Spezialpermit. Es handelte sich um eine schlüsselgroße Metallzunge, die streifenartig magnetisiert war. Die Magnetisierung jedes dieser Schlüssel war anders, aber der Computer im Schlüsselloch verstand sie zu lesen. Wurde der Schlüssel zur richtigen Minute in das Kontrollgerät gedrückt, leuchtete eine grüne Lampe auf und das Drehkreuz gab den Zugang frei. Bei einem falsch codierten Schlüssel heulten sofort die Werftsirenen auf und die heranstürmende Wache verhaftete den Besitzer. Dies kam hin und Wieder vor. Einmal hatte ein Elektromonteur von Sektion-4 seinen Schlüssel zuhause versehentlich auf den Fernsehapparat gelegt, wobei die Magnetisierung durcheinander kam. Prompt hatte am Morgen die Sirene losgeheult. Der Monteur war verhaftet worden. Erst nach mehrstündigem Verhör hatte sich seine Identität einwandfrei ergeben. Auch hatte er den Schlüssel weder einem Fremden gezeigt noch ausgehändigt. Von diesem Tag an mußten die Schlüssel in Plastiketuis 45
getragen werden. Auf diese Weise glaubte die Spionageabwehr das Projekt in Sektion-vier weiterhin geheimhalten zu können. Aber längst waren Kräfte am Werk, diese Geheimhaltung zu durchlöchern. * Am Sonntag ging Erij Ramakiez fischen, ob Regen oder Sonnenschein, Sommer oder Winter. Seine Familie zählte sieben Köpfe. Die hatten mächtigen Appetit, und der Lohn reichte gerade für das Nötigste. An eine Datscha, an ein Auto, an eine Reise war gar nicht zu denken. Nur wenn es in der estnischen SR sehr kalt war, im Januar und Februar, wenn Eis auf dem Fluß lag, dann blieb Ramakiez zu Hause und betrank sich. Erstens weil er nicht sah, daß sich sein Leben jemals ändern würde, zweitens, weil es den Wodka billig gab. Aber jetzt war noch Sommer. Schon um sechs Uhr fuhr er mit dem Bus hinaus, marschierte von der Endstation noch eine halbe Stunde zum Dorf Opjerno, wo er einen alten Kahn liegen hatte. Den machte er klar und ruderte, bis die Strömung ihn erfaßte. In der Flußmitte hielt er die Angel ins Wasser und rauchte seine Selbstgedrehten. An diesem Sonntag bekam Ramakiez Besuch. Allerdings keinen unerwarteten. Drüben am Ufer glitt ein Mann ins Wasser, schwamm herüber und kletterte in seinen Kahn. Dort legte sich der Schwimmer flach auf den Boden. Mit der Rechten griff er in die nasse Badehose und entnahm ihr eine goldene Münze, einen Tscherwonez, etwa zehn Gramm schwer. Der Estländer war über das Geschenk nicht sonderlich begeistert. 46
»Rubel wären mir lieber.« »Ich habe im Moment nichts anderes.« »Der Besitz von Gold ist in der Estnischen Sowjetrepublik verboten.« »Du wirst ihn schon loswerden, den Taler. – Was hast du mir mitgebracht, Erij?« »Daß es nicht geht.« Der Schwimmer hob ruckartig den Kopf. »Das sagst du mir jetzt, nach zwei Wochen?« »Ich habe alles genau überlegt«, fuhr der Werftmonteur fort, »du sprichst Russisch, verstehst etwas von meiner Arbeit, aber du siehst nicht aus wie ich. Zwar sind wir auf dem Schiff weit verteilt, trotzdem würde der Capo sofort wissen, daß ein falscher Mann in seiner Brigade ist.« »Klar, ein Ersatzmann, weil du krank bist. Du mußt dir in der Frühschicht den Daumen blauschlagen.« »Zu gefährlich«, sagte Erij. »Bei uns kennt doch jeder jeden. Oder legst du Wert darauf, daß wir uns in Sibirien wiedersehen?« »Das wäre das letzte«, antwortete der Schwimmer im Kahn. »Laß dir was anderes einfallen. Du willst doch das Häuschen kaufen, oder nicht?« »Am liebsten würde ich nach Schweden gehen«, gestand der Estländer. »Mit Familie, Hund und Katze.« »Mit Sack und Pack. Kotzt mich an, das alles hier. Bist ja ständig unter Kontrolle. Bei der Arbeit ist es der Brigadier und zu Haus die Partei. Kein Vorwärtskommen, Hungerlohn, nichts zu fressen, als sei immer noch Krieg.« »Krieg ist immer«, sagte der andere und schaute auf die Uhr. Er wollte zu einem Ergebnis kommen. »Abhauen ist nur über Polen möglich. Die Polen kommen leichter heraus.« 47
»Nach Kaliningrad ist es nicht weit. Da gehen Fähren hin und Züge.« »Bring Informationen, und ich finanziere das.« Der Sonntagsfischer zog den Hut tiefer und blinzelte über den lehmgelben Fluß, dessen Wasser sich jetzt schon mit dem des Meeres mischte. »Vielleicht genügt mir doch die Datscha.« »Fünftausend Rubel sind drin. Dafür schuftest du zwei Jahre.« »Was willst du noch alles wissen?« »Was ist es für ein Schiff?« »Hab ich dir schon gesagt. Ein stinknormaler Großtanker.« »Warum verstärkt ihr den Rumpf?« »Jetzt ziehen sie sogar Zwischenböden ein, Aufzüge und Rampen.« »Wohl um das Rohöl in Kisten zu befördern. – Das gibt’s doch nicht.« »Klar, daß sie etwas anderes mit dem Tanker transportieren werden als Petroleum.« »Er dient nur zur Tarnung. Aber zur Tarnung für was?« »Sobald er fertig ist, sollen die Sonderzüge anrollen.« »Gleich mehrere?« »Ein Güterzug hat ungefähr fünfzig Waggons à dreißig Tonnen, macht erst fünfzehnhundert Tonnen. Was glaubst du wieviel Güterzüge du brauchst, um den Pott vollzumachen?« »Wie groß ist er?« »Wie ein Walfisch unter Heringen.« »Größer als zweimal hunderttausend Tonnen?« »Schätze viermal hunderttausend.« »Dann gehen da ja…«, der Schwimmer rechnete, »dreihundert Güterzüge mit Material gehen da hinein.« »Bei sperrigen Gütern nimm die Hälfte.« 48
»Ich muß alles darüber wissen«, betonte der Schwimmer. »Wann sehn wir uns wieder?« »Entweder nächsten Sonntag hier zur selben Zeit…« »Es wird kalt im Wasser.« »Oder ich werfe dir ein angebrochenes Streichholz in den Briefkasten.« Der Schwimmer tippte einen Gruß an die Stirn und rollte vom Kahn ins Wasser. In langsamen Zügen crawlte er auf das Ufer zu. * Der Mann, der meist Sonntag morgens die Stadt verließ, um im Fluß zu schwimmen, war Angestellter des britischen Konsulates. Dort genehmigte er vorwiegend Visa-Anträge von estnischen Wirtschaftsfunktionären und bereitete ihre Besuche in London vor. Daß er nebenbei für den Geheimdienst arbeitete, war nichts Ungewöhnliches. In jedem Konsulat in jeder Botschaft gab es Leute, die solche Funktionen ausübten. Jeden Mittwochabend bekam Alva Jones einen Anruf. Er kam regelmäßig, immer aus dem Westen, aber der Standort des Anrufers wechselte. Es war meistens, aber nicht immer, derselbe Mann. Wenn der Anruf er den vereinbarten Code kannte, war er auch berechtigt, Fragen zu stellen und Auskünfte entgegenzunehmen. Ihr Code lautete: Doublegame. Nachdem er gefallen war, fragte der Anrufer: »Was gibt es Neues in der Werftsektion-vier, Mister Jones?« Weil sie annehmen mußten, daß die sowjetische Abwehr die Leitung angezapft hatte und über Entstörungsgeräte 49
verfügte, sprachen sie englisch, verwendeten aber stets einen Walliser Bergarbeiterdialekt. Einen Experten für wallisische Dialekte hatten die Russen gewiß nicht. »Unter der Plane liegt ein Supertanker. Größe etwa viermal hunderttausend Tonnen.« »Warum diese Heimlichkeiten bei einem Tanker?« »Er wird zu einem Großfrachter umgebaut.« Der Anrufer pfiff und bemerkte: »Die Russen besitzen doch Containerschiffe. Sie könnten es weit billiger haben. Wenn sie sich also diese Mühe machen, dann aus gutem Grund. Was haben die bloß wieder für eine Schweinerei vor?« »In zehn Tagen sollen die Arbeiten an den Zwischenböden, Rampen und Aufzügen beendet sein.« »Zwischenböden, dort, wo sonst die Tanks sind?« »Dann rollen die Güterzüge an, Sir.« »Was bringen die?« »Wir werden es erfahren, Sir,« »Woher kommen die Züge?« Hier konnte Jones nur vermuten. »Aus dem Industriegebiet um Gorki.« »Klar, wenn das Zeug von der Wolga käme, würden sie es am Schwarzen Meer verladen. Was bauen die denn Schönes in Nischni-Nowgorod?« »Von Flugzeugen über Panzer bis zu Raketen praktisch alles, Sir.« »Warum, zum Teufel…«, fluchte der Anrufer, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Um das geheime Vorhaben der Russen zu analysieren, mußten sie noch mehr darüber wissen. »Wir brauchen Fakten«, drängte er. »Die kommen schon, Sir.« »Die Kremlführung hat sich da eine neue Sache ausgedacht und geht sie gleich mit einer nagelneuen Taktik an. 50
Neue Taktiken sind immer gefährlich. Ich erinnere nur an Guderians Panzertaktik beim Frankreichfeldzug.« »Nächste Woche mehr, Sir.« »Wie heißt denn dieses verdammte Schiff überhaupt?« fragte der Anrufer. »Noch hat es keinen Namen, Sir.« »Typisch«, sagte der andere. »Wieder mal typisch. Und wenn es einen hat, kann man ihn nicht lesen bei dieser idiotischen kyrillischen Schreibweise. Also machen Sie es gut, Jones. In acht Tagen hoffentlich mehr.« Alva Jones war immer froh, wenn er diesen Kontakt hinter sich hatte. Er ging zum Essen in eines der Lokale, wo man nur mit Devisen bezahlen konnte, dann fuhr er nach Hause. In seinem Briefkasten lag ein abgeknicktes Streichholz. * Sie trafen sich außer der Reihe in einer Kneipe am Hafen, wo getrunken, in der Hauptsache aber Schach gespielt wurde. Erij Ramakiez hatte seine Schachtel mit den Schachfiguren unter dem Arm, als er sich an einen freien Tisch setzte. Der tagsüber englisch gekleidete Konsulatsangestellte trug heute eine speckige Ledermütze und eine alte Seemannsjakke zu schwarzen Cordhosen. Erij stellte die Figuren auf. »Farbe?« fragte er. »Rot«, sagte der Engländer trocken. Er bekam schwarz. »Sie haben das Programm verkürzt«, berichtete Ramakiez, »wir müssen diese Woche fertig sein.« »Wann soll das Schiff auslaufen?« »Ende des Monats.« »Ziel?« 51
»Der heiße Süden.« »Warum?« »In einem Eisbrecher würde man kein Kühlgerät für das Brückenpersonal und die Funker vorsehen.« Der Engländer hob die Brauen und machte seinen ersten Zug. »Ein zentrales Gerät oder mehrere einzelne Aggregate?« »Die Abteilungen werden vom Kühlkompressor der Vorratsräume durch einen Nebenkanal mitversorgt.« »Wie steht es mit der technischen Ausrüstung?« »Sie ist komplett. Den Navigationscomputer kannst du auch als Abschußcomputer für wer weiß was einsetzen. Jedenfalls hat er Überkapazität. Ferner ist alles, von Radar bis Echolot, Steuerautomaten, Allwellenfunk und so weiter drin. Sogar ein eigener Raum zur Dechiffrierung wurde vorgesehen.« Der Estländer schob seinerseits einen Bauern vor. »Wann kommen die Güterzüge?« »Die ersten sind schon da.« »Ladung?« »Alles in Kisten oder unter Planen. Aber es gibt Gerüchte.« »Hoffentlich keine Märchen.« »Zunächst statten sie das Schiff mit ungeheuren Mengen an Proviant aus.« »Fressalien«, tat der Engländer erstaunt. »Konserven, Fleisch, Fisch, Mehl, Gemüse, Tiefkühlkost, alles was zur Verpflegung gehört.« »Von Truppen etwa?« »Gestern kam auch schon Munition und Spezialtreibstoff.« Alva Jones kannte sich ein bißchen aus in dem Geschäft. Meistens wurden in Schiffen entweder Truppen, Waffen oder Nachschub transportiert. 52
»Hat man Unterkünfte für Soldaten vorgesehen?« »Eben nicht. Nur für die Besatzung.« »Warten wir ab, was morgen auf dem Bahnhof steht.« »Hubschrauber, Kanonen, Panzer«, tippte der Mechaniker, »verstehst du das?« »Ich weiß nur«, murmelte der Engländer, »daß man auf so einem Riesenschiff eine Menge Sachen unterkriegt. Zwei komplette Kampfdivisionen, wenn es sein muß.« »Aber wozu das?« »Halte die Augen offen«, riet ihm der Engländer. Sie spielten ihre Partie zu Ende und dann lustlos noch eine zweite. Bevor sie die Figuren wegräumten und aufbrachen, stellte der Engländer eine letzte Frage. »Hat das Schiff endlich einen Namen?« »Sie malen ihn gerade auf.« »Und wie lautet er?« Der andere schien erst nachdenken zu müssen. »Orkus oder so ähnlich.« »Orkus«, wiederholte Alva Jones. »Was bedeutet Orkus?« »Bei den alten Römern«, erklärte der Engländer, »war Orkus der Gott des Todes. Später nannte man danach das Reich der Gestorbenen. Die Unterwelt.« »Nasdorowje!« rief der Estländer und leerte sein Wodkaglas. * In diesen Wochen hatte der britische Auslandsgeheimdienst MI-6 neue Verluste zu beklagen. Nachdem durch den Fall ›Santa Cruz‹ die Figur eines der hervorragendsten Spezial-Agenten fragwürdig geworden war, mußte ein anderer tüchtiger Mann Hals über Kopf den 53
Ostblock verlassen. Mit wenig mehr als er am Leibe trug, kam Alva Jones, Angestellter der Visum-Abteilung des britischen Konsulates in Tallinn, in London an. Am International Airport wurde er von zwei MI-6-Leuten in einer schwarzen Roover-Limousine in Empfang genommen. Als sie den unrasiert und abgerissen wirkenden Jones in ihrer Mitte hatten, sagte einer von ihnen in bestem OxfordSlang: »Wenn ich mich nicht allzusehr irre, mein lieber Jones, Werden Sie uns eine Menge interessanter Dinge zu erzählen wissen,« Daraufhin legte der Konsulatsangestellte, der auch für MI6 arbeitete, los. »Vor drei Tagen entdeckte ich Anzeichen dafür, daß man hinter mir her ist.« »Wer?« »Die Abwehrabteilung von Gawnoje Raswedywatelnoje Uprawlnje, oder auch GRU. Ich kenne deren Typen. Ledermäntel, Hüte, Wolga-Limousinen und so.« »Man kam euch dahinter?« »Ich sagte, ich müsse zum Arzt, raste nach Riga und bekam dort auf den letzten Drücker die Fähre nach Gotland.« »Sie haben die Verfolger also abgehängt.« »Wohl kaum«, befürchtete der Mann aus Reval. »Sie ließen mich absichtlich entkommen, weil das einfacher für sie ist.« Über Stockholm war der MI-6-Mitarbeiter dann nach London geeilt. »Jetzt muß ich mir als nächstes eine Zahnbürste kaufen«, sagte er. Die Gentlemen in den dunklen Anzügen lächelten. »Als nächstes müssen Sie uns haarklein erzählen, was Sie alles über ›Orkus‹ erfuhren, und warum der GRU auf Sie aufmerksam wurde.« 54
»Ersteres gern, letzteres weiß ich nicht genau.« »Ist Ihr V-Mann Ramakiez unvorsichtig geworden?« »Vermutlich«, äußerte Alva Jones kühl. »Es kann gar nicht anders gewesen sein. Am Sonntag, als ich ihn beim Fischen treffen wollte, lag er tot in seinem Kahn. Erschossen. Mit Stirntreffer genau ins Schwarze. Und das früh am Morgen. Ich bemühte mich den Vorfall richtig zu beurteilen und zog meine Konsequenzen.« »Fein, daß Sie wohlbehalten hier sind.« Der Gentleman links von Jones bot aus dem Kühlfach Skotch an. 6. Am Montagmorgen traf Jesse Caine den Amerikaner in Paris. Die zwei gefeuerten Exagenten, der eine wurde gesucht, der andere befand sich wegen mangelnder Beweise auf freiem Fuß, fuhren im Taxi von Orly herein und gedachten ihres dritten Mannes. »Wie geht es Nazzarini?« erkundigte sich der Amerikaner. »Er hält die Stellung.« »War ja ein tollkühner Sprung vom Motorboot auf die Gondel. Das geht in die italienische Geschichte ein. Nazzarini der Canal-Grande-Turner.« »Ich habe gestern mit ihm telefoniert«, erzählte der ehemalige Agent Ihrer Majestät der Königin von England und strich sich den nagelneuen Oberlippenbart. »Nazzarini hat den Finger am Puls des Geschehens. Und wie ging es dir, Cecil?« Der Amerikaner berichtete in kurzen Zügen von seinem Umweg über Rio nach Paris. Dann kamen sie zum Hauptthema. Das Taxi rollte den Boulevard Michele Richtung Seine, um sie in einem neuen Freßlokal ›Monsieur de‹ abzusetzen. Der Taxifahrer machte lange Ohren, aber sie sprachen englisch, dazu leise und schnell. 55
»Ich habe Informationen aus erster Hand«, sagte der Engländer, »noch alte Quellen. Das Schiff verläßt in diesen Tagen die Marinebasis Kallinn oder ist schon weg.« »Ein Supertanker.« »Umgebaut für geheime Fracht.« »Name Orkus. Ist das richtig?« »Er soll die Ausrüstung für zwei kampfstarke Divisionen an Bord haben. Möglicherweise…«, der Engländer flüsterte jetzt, »sogar noch mehr.« Cecil Caine, ehemaliges CIA-As und hervorragender Techniker, pfiff leise vor sich hin. Kühl begann sein geschulter Denkapparat alle Möglichkeiten abzuchecken. »Das Problem ist, wohin läuft er.« »Und mit welcher Geschwindigkeit.« »Das Ziel liegt irgendwo im Süden. Man hat die Kühlmaschinen verstärkt.« »Der Süden ist die halbe Erde.« »Sie haben die Klimatisierung für Brücke und Mannschaftsräume vom Hauptkühlaggregat abgezweigt.« Cecil Clark, dem man so gut wie keinen besonderen Charakterzug nachsagen konnte, verzog selten einen Gesichtsmuskel. »Dann ist mindestens die halbe Besatzung durch Einsprühen von Betäubungsgas in die Ansaugkanäle außer Gefecht zu setzen.« »Was man sich zunutze machen wird«, drückte es Caine oxfordmäßig aus. »Fragt sich nur, wo man es versucht.« »Oder wie.« »Vom Hubschrauber aus. Ich kenne einen Fall, da wurden sechzig Mann in einem Überlandbus per Hubschrauber gekidnappt. Mithin dürfte es kein Problem sein, aus einem Helikopter über einem fahrenden Tanker bei Nacht Gas in den Kühlluftmast zu blasen.« 56
»Ja, so könnte es ablaufen.« »Ähnlich wie bei der Santa Cruz.« »Die Besatzung der Orkus ist natürlich militärisch ausgebildet und bewaffnet.« »Was nützt das alles gegen abgrundtiefe Müdigkeit«, erwiderte der Amerikaner grinsend. Das Taxi hielt in einer Seitenstraße des Boulevard Sebastopol. Sie stiegen aus, betraten das Zwei-Sterne-Restaurant und bekamen ihren bestellten Tisch. Trotz des vorzüglichen Diners erwähnten sie weniger dessen Qualität, als die vor ihnen liegenden Probleme. Clark skizzierte auf einer Serviette die Umrisse der Ostsee einschließlich der Küsten Norwegens und Dänemarks. In die Skizze malte er zwei Kreuze. Das eine in der Nähe des Finnischen Meerbusens, wo Kallinn lag, das zweite in den Öre Sund, der Meerenge zwischen dem dänischen Helsingör und dem schwedischen Helsingborg. »Hier muß jedes Großschiff durch, wenn es die Ostsee verlassen will. Es gibt keinen anderen Seeweg.« »Ich habe schon immer gesagt«, bemerkte der Engländer, »macht es wie die Türken früher am Bosporus. Spannt eine Kette rüber und laßt nur koschere Dampferchens durch.« Der Amerikaner wurde nachdenklich. »Wann sagst du, läuft er aus?« »Heute, oder gestern schon.« »Wann erfährst du das?« »In zwei Stunden.« »Ein moderner Supertanker macht locker seine vierzehn Knoten, wenn er mal in Schwung ist. Für die rund fünfhundert Seemeilen bis zum Ostseeausgang braucht er also knapp einen Tag, einschließlich Lotsen ex und hop. Wird also höchste Zeit für mich.« Cecil Clark warf einen Blick auf die Uhr. 57
»Du hast für Kopenhagen gebucht?« »Mir schien es besser, eine Chartermaschine zu mieten, nachdem du auf genauen Recherchen bestehst.« »Hör zu, Caine«, sagte der Amerikaner, »deine Spezialität ist die Realisation eines fix und fertigen Planes. Darin bist du mutig, verbissen, ein Kämpfer wie ich keinen besseren kenne. Aber im generalstabsmäßigen Entwurf habe ich dir und Nazzarini gegenüber einen Vorsprung dadurch, daß systematische Planung mehr meinen natürlichen Anlagen entspricht. Wenn ich also wissen will, wie die Orkus in die Falle zu locken ist, dann muß ich das Schiff gesehen haben. Die Orkus ist das Material. Ich muß es fühlen, wie ein Geigenbauer das Holz.« »Wartest du am Ufer, bis die Orkus vorbeidampft?« »Ich miete mir ein Boot, schippere im Öresund auf und ab oder kreuze ein paar Schläge ins Kattegatt hinauf und lasse sie auflaufen. Dann setze ich mich hinter sie und begleite sie ein Stück. Ist wie bei einer Frau. Schon ihr Gang, ihre Bewegungen verraten dem Kenner viel über sie.« »Schade, daß die Orkus keine Frau ist, dann wäre Nazzarini der richtige Mann.« »Nazzarini muß das tun, was er am besten versteht. Nett sein, Kontakte pflegen und herumhorchen. Denn eines können wir nicht: das Schiff bis hinaus in den Atlantik verfolgen. Das müssen wir anderen überlassen. Und die muß Nazzarini anzapfen.« »Ob die Orkus unter Begleitschutz fährt?« überlegte Caine. »Es wäre logisch, aber auch ebenso unlogisch. Begleitschutz fällt auf, weil es nicht üblich ist, Tanker von Marineeinheiten eskortieren zu lassen. Andererseits können Bewacher gegen einen blitzartigen Überfall verdammt wenig tun.« »Wir werden sehen.« 58
»In zwei Tagen komm ich zurück«, versprach Caine, »wo steht der Charterdrachen?« »De Gaulle Airport.« Sie beendeten den Lunch. Der Engländer telefonierte rasch, dann fuhren sie zum neuen Großflughafen hinaus. * An diesem Morgen wurde Filo Nazzarini nicht von seiner schönen Freundin geweckt. Sie lag noch in tiefem Schlaf neben ihm und sah aus, als habe sie es gern, zum Frühstück geschlagen zu werden. Was ihn aus dem Schlummer riß, war gedämpftes Rattern. Es drang aus den Wänden seiner Wohnung. Vermutlich arbeitete jemand mit einem Schlagbohrer. Da sich Geräusche dieser Art im Mauerwerk linear fortpflanzten, kostete es ihm wenig Mühe die Quelle zu orten. Sie lag dort, wo die große Wohnhalle an die der Nachbarwohnung grenzte und mit ihr eine gemeinsame Wand hatte. Mit einem Kochlöffel, den er stetoskopartig benutzte, ließ sich die jeweilige Lage des Bohrers bestimmen. Der Bohrer arbeitete sich von der Terrasse herein bis zur Nische neben dem Kamin. Daß drüben eine Telefonleitung gelegt wurde, schloß der italienische Exagent aus. Sein Nachbar besaß schon ein Telefon. Nazzarini hatte es längst angezapft. Er duschte und kleidete sich an. Das Rattern hörte nicht auf. Davon erwachte die dunkellockige Miriam, die bei ihm Mädchen für alles war, für die Küche, für die Korrespondenz und mitunter auch fürs Bett. Trotz dieser weitgefächerten Beziehung verkehrten sie immer noch höchst formell miteinander. 59
»Gehen Sie weg, Senor?« fragte sie verschlafen. »Nur die Zeitung holen.« »Bringen Sie Wohl etwas Toast mit? Toast ist ausgegangen, Senor.« »Toast«, antwortete er, »sonst noch etwas?« »Obst kaufe ich lieber selbst. Das letzte Mal brachten Sie eine faule Ananas mit.« Nazzarini war es recht. Sein früher Spaziergang hatte andere Gründe. Er verließ seine Wohnung, fuhr mit dem Lift hinunter und schlenderte um den Block herum bis zum Park. Hinter einer Palmengruppe blieb er stehen. Drüben in der Seitenstraße stand ein weißer Kastenlieferwagen. Auf beiden Türseiten führte er mit blauen Buchstaben die Abkürzung P.N.F. ein Fahrzeug der staatlichen Postbehörde also. Zwei Monteure zogen von einem sechzig Meter entfernten Mast ein Kabel herüber und verlegten es an der Hauswand bis zum obersten Stockwerk. Nazzarini konnte sich denken, um welche Art von Einrichtung es sich handelte. Beim derzeitigen Stand der Technik in diesem Lande gab es zu Telefon nur eine Steigerungsmöglichkeit. Gemütlich überquerte er die Straße und kaufte am Kiosk mehrere internationale Blätter. Auf dem Rückweg tat er, als lese er interessiert im Corriere della Sera. Über den Rand blinzelnd, warf er einen Blick durch das geöffnete Heck des Montagewagens. Am Boden lag Styroporverpackungsmaterial und unter einer Plastikhaube ein schreibmaschinenähnliches Gerät. – Er hatte sich nicht geirrt. Ein Fernschreiber. Aber wozu brauchte sein merkwürdiger Wohnungsnachbar auch noch einen Telexanschluß, wo er schon zwei Telefonnummern hatte? Zwei Anschlüsse, obwohl es Jahre 60
dauerte, bis man nur einen bekam. Der Bursche mußte über kolossale Beziehungen verfügen. Jetzt bekam er auch noch Fernschreiber. Filo Nazzarini hatte damals vor fünfzehn Jahren, als er in dem Job anfing, eine gute Agentenausbildung durchlaufen. Er war grundsolide trainiert. Türen öffnen, Telefone abhorchen, fotografieren, Mikrofilmvergrößerungen, das bewegen von Motorrädern, Autos, Schiffen und Flugzeugen, alles was zu diesem Handwerk gehörte, beherrschte er einigermaßen. Aber das Problem, einen Fernschreiber anzuzapfen, war ihm bisher noch nicht gestellt worden. Zum Glück kannte er ein paar Experten, die ihm die fehlenden Kenntnisse vermitteln würden. Notfalls per Fernkurs. Zunächst brauchte er ebenfalls einen Fernschreiber. Da es nur darum ging zu erfahren, welche Nachrichten sein Wohnungsnachbar empfing, genügte ein Aufzeichner, ein Streifenschreiber. Außerdem arbeiteten diese Dinger so gut wie lautlos. Rasch besorgte er noch den Toast. Nach dem Frühstück begann er zu telefonieren. Eine Stunde später wußte er, wie man ein Telexkabel anzapfte. Der Streifenschreiber war auch unterwegs. »Wie ist Ihr Programm heute, Senor?« fragte die hübsche Miriam. »Was halten Sie davon, wenn wir gar nichts tun«, antwortete Nazzarini. »Fein.« »Sie können baden gehn.« »In der Bucht von San Jordi soll das Wasser klar sein bis auf den Grund.« »Dann fahren Sie nach San Jordi. Nehmen Sie meinen Wagen, ich brauche ihn heute nicht. Und grüßen Sie die Quallen und Seeigel herzlich von mir.« Um zehn Uhr verließ Miriam das Haus. 61
Drüben in der Wohnung des Nachbarn hämmerte schon die angeschlossene Telexmaschine. Filo Nazzarini bereitete alles vor, um an den Informationen, die dieser Herr aus aller Welt bezog, bald teilhaben zu können. * Von einem alten Freund in Kopenhagen, der nie Fragen stellte, seinerseits aber auch ungern Fragen beantwortete, bekam Cecil Clark eine Hatteras-Yacht. Der Motorkreuzer war mäßig schnell, mehr als fünfzehn Knoten ging er nicht, dafür war er seetüchtig gebaut. Die Skandinavier zogen immer noch Schiffe mit geklinkerten Holzrümpfen dem Glasfaserpfusch vor. Aber die Boote waren nicht so elegant stromförmig zu konstruieren. »Du kommst nicht wieder«, hatte sein Freund in Kopenhagen gesagt, »schick mir das Schiff mit der Post zurück.« Er hatte offenbar von Clarks Rausschmiß aus der CIATruppe gehört und sich die vorsichtige Andeutung bis zuletzt aufgehoben. »Ich fahre wirklich nur zum Spaß raus«, versicherte Clark. »Was Burschen wie du Spaß nennen, stellt für andere das Abenteuer ihres Lebens dar. Ist ja egal, Cecil. Ich stehe noch in deiner Schuld. Grüß Südamerika schön von mir.« Clark lachte nur. »Flucht, untertauchen, neues Leben, so etwas improvisiere ich nicht mit einer Hatteras, die nicht mal mir gehört. Du hast sie übermorgen wieder.« »Oder übernächstes Jahr. Mach’s gut, alter Junge.« »Du weißt nicht, daß ich hier war, okay?« »Bei mir bist du nicht gewesen«, sagte sein Freund der 62
Däne, dem er vor Jahren einen so lukrativen Rüstungsauftrag vermittelt hatte, daß vom Gewinn er und die nächsten zwei Generationen leben konnten. Mit gemütlicher Fahrt tuckerte der Amerikaner in den Sund hinaus. Der Himmel war hoch und blau mit auf gefiederten Wolkenstrichen. Leichter Wind stand vom Skagerrak herein. Den Schiffsverkehr durch die Meerenge bestritten vorwiegend Finnen, Schweden, Russen, sowie Polen- und DDR-Frachter. Heute herrschte Hochbetrieb. Alles hielt sich sauber in den zwei Fahrrinnen. Bei Tag warf dies keine Probleme auf, bei Nacht und Nebel schon eher. Deshalb fuhren die Großschiffe selten ohne Lotsen. Von morgens bis abends trieb sich der Amerikaner auf dem Wasser herum. Wenn er Essen zubereitete, dann verging keine Viertelstunde, ohne daß er an Deck kletterte und den Sundausgang absuchte. Mit Kaffee hielt er sich die Nacht über fit. Aber auch in der Nacht kam der erwartete Brocken nicht durch. Bei Sonnenaufgang brauchte er schon sehr starken Kaffee und später ein paar Cola-Tabletten, um munter zu bleiben. Das Zeug hielt nicht lange vor. Gegen Mittag lutschte Clark die erste Pervitintablette, noch aus den Vorräten seiner CIA-Zeit. Man klebte sie ans Handgelenk und strich ab und zu mit der Zunge darüber. Am Nachmittag half auch Pervitin nicht mehr. Es riß ihn weg ins Land der Träume. Nahe der östlichen Markierungstonnen treibend, geriet die Hatteras gefährlich nahe an das Fahrwasser. Gegen 16 Uhr begann eine mächtige Welle, wie Atlantikdünung heranrollend, die kleine Hatteras zu schaukeln. Clark schlug mit dem Kopf gegen einen Innenspant und erwachte davon. Sofort war er klar und stürzte an Deck. Eine so starke Welle konnte nur von einem entsprechend großen Bug hervorgerufen werden. 63
Zuerst sah er nur eine Wand aus Stahl. Etwa eine Kabellänge entfernt schob sie sich an ihm vorbei, satte fünfzehn Meter hoch, einen halben Kilometer lang. Die verschliffenen Schweißnähte der hausgroßen Blechplatten waren deutlich unter der hellblauen Bemalung zu sehen. Das war die Orkus. Jetzt wußte der Amerikaner, warum sie sich verspätet hatte. Nach ihrem Auslaufen in Kallinn hatte sie rasch noch einen anderen Hafen aufgesucht, um ein neues Kleid überzuziehen. Es hatte jenes eigentümliche Blau, das in südlichen Meeren bedeutend schwerer auszumachen war, als weiß, braun oder grün. So gut es in dem schaukelnden Motor-Kreuzer möglich war, fotografierte Cecil Clark und filmte was das Zeug hielt. Dann warf er den Diesel an und schwenkte hinter dem Supertanker in dessen Kielwasser ein. Dem hohen Freibord nach zu urteilen, war der Tanker nur zu zwei Dritteln ausgelastet. Keine Ladung der Welt ließ sich so dicht stapeln wie Flüssigkeiten. Und Flüssigkeiten hatte er nicht geladen. Den Organisatoren konnte das nur recht sein. Ein russischer Supertanker, der schwer beladen statt leer die Ostsee verließ, wäre jedem aufgefallen. Cecil Clark hängte sich an die Orkus wie ein Hühnerkücken an die Spur eines Elefanten. Selbst das Heck dieses Tankers sah noch aus wie ein Turm aus einer anderen Welt. Doch ganz langsam entfernte sich die Orkus. Der Amerikaner gab Vollgas. Die Hatteras lief gut und gern ihre siebzehn Knoten, aber der Tanker war schneller. Offenbar verfügte er über einen Zusatzantrieb. Die Russen benutzten dazu gerne Wellenturbinen, umgebaute Kusnjetsow Jet-Motoren. Als die Nacht kam, wußte Cecil Clark einiges mehr über dieses Schiff, wenn auch noch nicht genug. Zum Beispiel 64
wußte er nicht, welchen Kurs es vom Skagerrak ab nehmen würde. Aber er war ja nicht allein. Für solche Probleme hatten sie ihren dritten Mann. Nazzarini verfügte angeblich über Drähte zu einer Stelle, die in Bezug auf internationale Schiffahrtslinien, speziell Tankerrouten, bestens unterrichtet war. Jetzt mußte Filo Nazzarini ran. Der Amerikaner steuerte die Yacht in seichtes Küstenfahrwasser, warf den Anker, setzte Ankerlicht und rollte sich in die Koje. 7. Allmählich kam der BND-Agent Robert Urban in Rotation. Er nannte dies seinen dritten Aggregatzustand neben Wachsein und Schlafen. Schuld daran waren die Nachrichten aus dem Pullacher Hauptquartier. Morgen, wenn Sie anrufen dann haben wir das Ölgemälde fertig, hatte ihm der Oberst versichert. Jetzt war es soweit. »Instinkt bleibt Instinkt«, sagte der Operationschef, »der eine hat ihn, der andere bekommt ihn nie. Lucio Borghetto führt ein dutzend Alias-Namen und ist ein ganz stinkiger Fisch. Dabei bekam er von zu Hause alles mit, um eine seriöse Karriere als Schiffsmakler und Reeder zu machen. Sein Vater war Grieche, seine Mutter Türkin. Geboren ist er in Bulgarien, aufgewachsen aber in Palermo. Ein ganz internationales Bürschchen. Er spricht sämtliche europäischen Sprachen. Ein Multitalent also. Borghetto hängte sein Fähnchen immer schön in den Wind. Nach der Universität, die er in Aix en Provence absolvierte, arbeitete er erst im Seefrachtenbüro seines Vaters in Athen. Weil das seine Ambitionen 65
nicht befriedigte, fädelte er Handelsgeschäfte mit den Nachbarstaaten ein, mit Jugoslawien, Italien, Ungarn, der Türkei. Bald war er auch als Sachverständiger verschiedener Handelsdelegationen, als Dolmetscher und Kenner des Welthandelsrechts gerne gesehen. In dieser Eigenschaft besuchte er des öfteren auch Bonn.« »Wobei er Hellena Pinter kennenlernte«, fügte Urban hinzu. »In den letzten Jahren«, fuhr Sebastian fort, »liegt sein weiterer beruflicher Aufstieg im Dunkeln. Man hört, er sei sogar stellvertretender Handelsminister gewesen. Dann gibt es einen deutlichen Karriereknick. Borghetto konnte wohl nicht genug an Schmiergeldern und Provisionen kriegen, scheint da unverschämt hingelangt zu haben, dieser Herr. Jedenfalls wurde er in eine Affäre mit Getreideimporten aus Kanada verwickelt. Das katapultierte ihn aus allen Stellungen. Von da ab ist alles nur noch Vermutung. Borghetto tat sich mit Leuten zusammen, die auf dem Gebiet des Rohstoffhandels etwa denselben guten Ruf genießen wie Waffenschieber. Hauptsächlich verkehrte er in Marseiller, Chicagoer und Mailänder Kreisen.« »Er wurde vom Kaufmann, der sich am Rande der Legalität bewegt, zum Stehkragengangster.« »Man kann behaupten, daß er auch diese feine Linie, die vom Schreibtischtäter zum Kriminellen, überschritt.« »Womit befaßte er sich zuletzt?« wollte Urban wissen. »Mit nebulosen Termingeschäften großen Stils. Er prellte Anleger um Millionensummen.« »Wird er gesucht?« »Nicht nur deswegen. Man wirft ihm auch die Beteiligung an dem Geldraub aus einer PanAm-Maschine in New York vor.« »Und nach dem Vierzeiler: Wer lügt, der stiehlt, der bricht auch ein, kann er auch ein Mörder sein.« 66
»In dieser Richtung«, erwiderte der Oberst, »läuft es. Interpol und einige Geheimdienste sind jedenfalls mächtig neugierig zu erfahren, was er als nächstes Ding drehen wird.« »Warum nimmt man ihn nicht fest?« fragte Urban. »Weil es besser ist, ihn an der langen Leine zu haben. Leider riß die Leine.« »Na bravo«, bemerkte Urban. »Und dieser Bursche ist gut befreundet mit Madame Pinter. Wenn das durch die Presse geht, ist der Skandal perfekt.« Sebastian lieferte noch ein zusätzliches Detail. »Im Spätwinter verschwand er für zwei Monate in die Schweiz. Aber er war nicht beim Skifahren.« »Was ihm schwerfallen dürfte. Er soll gehbehindert sein.« »Er war gehbehindert«, verbesserte Sebastian. »Er ließ sich in einer orthopädischen Klinik in Genf ein neues Hüftgelenk einbauen. Stahl in Kunststoff gelagert. Jetzt rennt er wieder wie Nurmi.« Urban bekam jetzt präzise Anweisungen. »Stoppen Sie sofort den Kontakt von Hellena Pinter zu Lucio Borghetto. Notfalls soll das Ehepaar abreisen. Aber bleiben Sie weiter diesem Borghetto auf den Fersen. Kontakt wie bisher alle achtundvierzig Stunden.« Nachdem München aufgelegt hatte, rief Urban nach Cap Gala hinaus und informierte Dr. Pinter. Pinter versprach das Nötige zu veranlassen. Für Urban begann wieder die Nachtschicht. * Von 23 Uhr bis zum Morgen parkte Bob Urban an der Ecke, wo der Paseo Sagrera in den Paseo Maritime mündete. Durch die Palmen des Mittelstreifens hindurch hatte er einen exzellenten Blick auf das Apartmenthaus. 67
Der Lichtschein hoch oben in Borghettos Penthouse verlosch gegen Mitternacht, was aber nicht besagte, daß Borghetto selbst den Schalter betätigt hatte. In dieser Nacht kam Hellena Pinter nicht vorbei. Das Liebespaar war vorsichtig geworden. Trotzdem war die Nachtwache nicht vergebens. Um 01 Uhr hielt ein Taxi. Erst stieg eine quirlige dunkellockige Person aus. Ihr Begleiter saß noch im Fond und bezahlte. Als das Taxi wegfuhr, sah Urban den Burschen deutlich. Etwa zehn Sekunden, solange wie er brauchte, um die äußere Glastür aufzusperren, hatte Urban freien Blick in sein Gesicht. Das Profil mit der Legionärsnase war Unverwechselbar. So hatte man es schon auf altrömische Münzen geprägt. Was tut der hier? überlegte Urban. Zufall oder Geheimeinsatz. – Aber bei diesem Mann gab es wohl keine Zufälle. Am Morgen telefonierte er außer der Reihe mit der Zentrale. »Ein Mann«, meldete er, »den wir alle gut kennen, wohnt in der zweiten Penthousehälfte neben Lucio Borghetto.« »Ich habe wenig Zeit«, knurrte der Alte, »für Ratespiele. Wer ist es?« »Laut Klingelschild nennt er sich Andrei Korsakoff.« »Klingt russisch oder polnisch. – Was weiter?« »In Wirklichkeit ist es Filo Nazzarini, einer der Topagenten von SIFA Rom, dem italienischen Geheimdienst.« »Daß SIFA der italienische Geheimdienst ist«, erwiderte der Alte unwirsch, »das wußte ich lange vor Ihnen. Aber daß Nazzarini für Rom in Palma arbeitet, ist unmöglich.« »Ein Agent wie Nazzarini so hautnah bei einem Ganoven wie Borghetto, warum soll das nicht sein können?« »Keine Zeit für Mutmaßungen«, wiederholte sich der Alte, »es kann nicht sein. Basta!« 68
»Ich an Ihrer Stelle würde in Rom nachfragen.« »Unnötig«, entgegnete Sebastian, »Sie wissen wohl nicht, was zwischenzeitlich gelaufen ist.« »Was erfährt man schon im Urlaub auf Mallorca«, bemerkte Urban ironisch. »Dann will ich es Ihnen sagen.« Der Alte rasselte es herunter: »Nazzarini war in diese Santa-Cruz-Affäre verwikkelt. Gemeinsam mit Jesse Caine vom MI-6 und Cecil Clark, der auch so ein Busenfreund von Ihnen ist. Alle drei sind ganz schräge Vögel. Sie sahen die Chance, sich zu bereichern und langten skrupellos zu. Sie wurden natürlich rigoros gefeuert, was ich voll unterstütze. Die kleinste graue Stelle auf der Weste, und ein Topagent ist untragbar. Leute, die wirklich alles wissen, was gespielt wird, die oft noch besseren Durchblick haben als Kanzler, Staatspräsidenten und Premierminister, die müssen einfach integer sein bis in die Haarspitzen.« Nazzarini war also auch der täglichen Verlockung des großen Geldes erlegen. Urban fluchte leise. »Beziehen Sie ihn in Ihre Umarmung ein«, forderte der Alte, »vielleicht brütet er jetzt, gemeinsam mit Borghetto, ein Ei aus.« Nazzarini, dachte Urban, auch du mein Sohn Brutus, und wollte es einfach nicht glauben. Er kannte den Italiener so gut wie Jesse Caine und Cecil Clark. Sie hatten immer wieder einmal zusammengearbeitet, drunten am Amazonas, in den Savannen Afrikas in den Eiswüsten des Nordens oder in den Dschungeln der Weltstädte wie Hongkong, Sidney, Kairo. Also auch Nazzarini, der elegante Venezianer, der eigentlich ein Conte war, ein Graf. Urban hatte geglaubt, Nazzarini habe nur eine Schwäche, nämlich die Frauen. Offenbar hatte er noch eine zweite, die Dollars. 69
Gegen Mittag sprach Urban mit Dr. Pinter. Sie trafen sich in einer Bodega. »Hellena leugnet«, erklärte Pinter. »Sie tut als wisse sie von nichts, als liege sie jede Nacht brav wie ein Engel neben mir. Aber ich kriege sie, verdammt nochmal, ich kriege sie.« In der darauffolgenden Nacht ging es rund am Paseo Sagrera. Um 23 Uhr kam Hellena Pinter angefahren. Also hatte Dr. Pinter noch nicht mit ihr gesprochen. Wenig später stoppte ein Taxi und der Politiker stieg aus. Erst schlich er um das Haus herum, dann wollte er mit dem Lift nach oben fahren, überlegte es sich wohl, verließ das Haus wieder und verschwand um die Ecke. In allen besseren spanischen Häusern gab es einen Nebeneingang für Handwerker und Lieferanten. Vielleicht nahm Pinter den. Dann hielt ein Polizeistreifenwagen vor der Tür. Ein Beamter in Zivil betrat das Haus, kam aber nach zehn Minuten, eine Zigarette im Mund, wieder heraus. Vermutlich hatte sein Besuch nichts mit Borghetto oder Nazzarini zu tun gehabt. Kurz vor Mitternacht fuhr der Lift abwärts. Hellena Pinter rannte in höchster Eile durch das Foyer, stürzte auf die Straße und fuhr rasch weg. Dabei vergaß sie die Scheinwerfer des Seat einzuschalten. Liegt wohl am Abschiedsschmerz, dachte Urban. Scheiden tut weh. Danach blieb es ruhig. Es war so auffällig still jetzt, daß Urban ausstieg, das Appartmenthaus betrat und nach oben fuhr.
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Dr. Gabriel Pinter erwartete seine Frau wie der Großinquisitor. Als er ihre Schritte hörte, machte er in der Halle Licht. »Du bist noch wach?« fragte sie erschrocken. »Wo kommst du her?« wollte er wissen und musterte sie aus der Nähe. Sie wirkte stark erregt, ihr Parfüm mischte sich mit der erhitzten Haut zu einem erotischen Duft. »Du trägst ja noch«, sagte er angewidert, »den Geruch seines Körpers an dir.« Hellena schleuderte die hochhackigen Sandalen, die ihrem Körper die fehlenden Zentimeter gaben, weg und warf sich in einen Sessel, die Beine zum Kaminfeuer hin gespreizt. »Es war nichts«, versicherte sie. »Nichts nennst du das?« »Nicht, was du denkst.« »Immerhin gibst du heute zu, daß etwas gewesen ist, woran ich nicht denke. Gestern hast du noch alles abgestritten.« »Gestern war gestern«, murmelte sie in die Flammen starrend. »Heute kannst du nicht leugnen, weil ich Beweise habe.« »Wirklich?« Was er auch sagte, nichts schien ihr unter die Haut zu gehen. »Ich bin dir gefolgt«, fuhr er fort. »Wärst besser hiergeblieben.« Sie sah aus, als gebe es nichts auf der Welt, was sie noch erschüttern könne. Dr. Pinter lenkte ein. »Verstehe mich, Hellena, die Zweifel haben mich schier umgebracht.« »Verschaffte dir dein Schnüffler nicht die nötige Gewißheit?« fragte sie mit schrägem Blick aus den Augenwinkeln. 71
Wieder verlor er die mühsam gewonnene Beherrschung. »Ich will jetzt wissen, was gespielt wird, oder…«, er sprach die Drohung nicht aus. »Was war zwischen dir und diesem Mann?« Sie schloß die Augen und faltete die Hände. »Ich konnte es dir einfach nicht sagen. Ich brachte es nicht übers Herz«, gestand sie. »Dann sag es mir jetzt!« »Du verdienst Schonung«, erwiderte sie leise. »Um deiner Ruhe willen habe ich das alles auf mich genommen.« Pinter lachte bitter. »Ein Opfer hast du gebracht, hört, hört!« Sie nickte. »Ich war bei einem Mann im Hause Paseo Sagrera Nummer 34. Das alles trifft zu.« »Jede Nacht warst du bei ihm.« »Fast jede Nacht«, korrigierte sie ihn. »Vorher hast du mir Schlafmittel in den Wein gerührt.« »Ich leugne es nicht.« Nun wurde er wütend, weil sie es ohne Zeichen von Scham oder Reue zugab. »Und wer, zum Teufel, ist der Mann?« »Doktor Menares.« »Was?« Erst war er verblüfft, dann schrie er los: »Du belügst mich. Das ist die Höhe. Der Mann heißt Lucio Borghetto, du kennst ihn aus Bonn. Schon damals war er hinter dir her, und auch du warst mächtig scharf auf ihn.« »Zugegeben«, räumte sie ein, »dieser Borghetto gefiel mir damals nicht schlecht. Aber daß er im gleichen Haus wie Dr. Menares wohnt, ist reiner Zufall. Für den ich nichts kann.« Pinter wurde unsicher. »Du hast ihn also nie gesehen?« »Wir begegneten uns kurz im Lift.« »Und was wolltest du bei diesem Dr. Menares?« 72
»Er ist Internist. Allerdings einer der besten. Spezialist für Multiple Sklerose.« Pinter kniff die Augen schmal, ebenso die Lippen. Seine Stirn bekam Runzeln. Er wischte sie weg. »Willst du etwa behaupten…?« »Ich behaupte gar nichts«, erwiderte sie, »denn niemand behauptet freiwillig von sich, daß er an einer unheilbaren Krankheit leidet.« Von da ab kannte sich Pinter nicht mehr aus. Er wußte nicht, konnte er ihr trauen, oder war er dabei, auf ein infames Lügengespinst hereinzufallen. Er schwankte zwischen dem Wunsch, sie in die Arme zu nehmen oder sie zu verprügeln. »Du bist doch kerngesund«, behauptete er. »Ich sehe nur so aus.« »Es gibt keinerlei Sympthome.« »Die Anfänge von Multipler Sklerose sind partielle Gliederlähmungen, die merkt man nur selbst, lange bevor es andere sehen.« Pinter wußte nicht, was er davon halten sollte. »Und Menares soll das heilen können?« »Er hatte gewisse Erfolge mit Bestrahlung, Rohkostdiät und Frischzelleninjektionen.« Entweder hatten die beiden das gut arrangiert und perfekt geplant, dann würde auch Dr. Menares entsprechende Aussagen machen, oder er versteckte sich hinter dem Arztgeheimnis. Oder Hellena sprach die Wahrheit. Dr. Pinter stand auf, ging zum Bücherregal, nahm das Lexikon mit dem Buchstaben M, schlug es auf und las: »Multiple Sklerose, schubweise fortschreitende Krankheit des Zentralnervensystems mit Degenerationsherden. Symptome: Augenzittern…«, er blickte Hellena scharf an, »Gehunsicherheit, Sprachschwierigkeiten, Lähmungserscheinungen. Ursache noch nicht sicher ermittelt.« 73
Er schlug das Buch zu. »Wenn du mich belügst, erschlage ich dich«, drohte er, leerte sein Weinglas und wollte zu Bett gehen. Vor den Stufen von der Halle zum Wohntrakt blieb er stehen. »Natürlich werde ich diesen Lucio Borghetto trotzdem zur Rede stellen.« »Nicht nötig«, sagte jemand aus dem Dunkel, »vielmehr es ist leider nicht möglich, Doktor Pinter.« Pinter machte Licht in der Diele. Bob Urban hängte gerade seinen blauen Popelinehut an den Haken, als sei er eben erst gekommen. Pinter glaubte jedoch, daß er die Diskussion zwischen ihm und Hellena mitgehört hatte. »Und warum ist es nicht möglich, Herrn Borghetto zur Rede zu stellen?« Urban nahm die zwei Stufen in die Halle, und steckte sich eine Zigarette an, indem er mit der Feuerzange ein Stück glühenden Holzes an die MC brachte. »Weil«, er rauchte aus, »weil Lucio Borghetto seit einer Stunde tot ist.« Urban versuchte im Augenblick dieser Erklärung sowohl Hellena als auch Gabriel Pinter im Auge zu behalten. Hellena zuckte deutlich zusammen. Der Politiker faßte sich theatralisch an die Stirn, als könne er es nicht fassen und setzte sich wieder. »Verstorben. Herzschlag oder was?« »Erschossen.« »Mord also.« »Vermutlich«, äußerte Urban. »Weiß die Polizei schon davon?« »Ist nicht zu vermeiden gewesen.« »Dann wird man…« Urban nickte. 74
»Vorbeikommen, nach Alibis fragen. In erster Linie Sie beide.« »O Gott«, stöhnte Pinter. Hellena saß dabei und sagte kein Wort. Ihr Gesicht wirkte trotz der Wärme des Feuers blaß und blutleer. Urban brauchte jetzt dringend einen Cognac, auch wenn er den spanischen nicht sonderlich schätzte. Vor wenigen Tagen hatte alles wie eine alltägliche Ehebruchgeschichte ausgesehen. Gestern war dann plötzlich ein Mordfall daraus geworden. Und jetzt, nach Mitternacht, hatte Bob Urban die schlimme Befürchtung, daß er in ein internationales Hochspannungsfeld geraten sein könnte. Deshalb brauchte er einen Cognac, falls es keinen Whisky in diesem Hause gab. 8. Wenn die Santa Cruz noch mit drei Mann zu kapern gewesen war, dann brauchten sie bei der Orkus wenigstens ein Dutzend davon. Und während sie bei der Santa Cruz im Chinesischen Meer nur ihr Gesellenstück lieferten, verlangte ihnen der sowjetische Supertanker die Meisterprüfung ab. Sie ließen sich nicht nur Täuschungsmanöver einfallen, sondern mußten ein Verwirrspiel von hohen Graden treiben. Dies um so mehr, als auch das russische Schiff mit allen Tricks arbeitete, die die Engländer im Jahre 1806 zur Zeit der napoleonischen Kontinentalsperre erfunden hatten. Plötzlich, zwischen Abend und Morgen, bewegte sich ein völlig anderes Schiff durch die nördliche Nordsee mit Kurs auf die Orkney Inseln. Die zwei Cessna-Piloten, die mit dem ersten Frühlicht vom norwegischen Kristiansand gestartet waren, fanden das Schiff erst nach stundenlangem Suchen. 75
»So was ist mir noch nicht passiert«, sagte der Pilot, der die Navigation besorgte. »Wir wußten, wann er Kap Lindesnäs passierte, kannten seinen Kurs und seine Geschwindigkeit und sichten ihn erst jetzt.« »Ein Tanker ist kein U-Boot«, meinte der Mann am Knüppel und passierte das riesige Schiff an Backbord mit Meilenabstand in vierhundert Meter Höhe. Der andere machte seine Fotoausrüstung klar. Vorher schaltete er auf den Zusatztank um. »Damit kommen wir gerade noch heim«, sagte er und stellte das Fernglas scharf. »Sie haben den Kurs geändert. Bin sicher, daß sie später nach Süden halten.« »In den Mittelatlantik hinein.« »Aber warum zum Teufel machen sie den Umweg um Schottland. Durch den Ärmelkanal wäre es kürzer. Der Umweg kostet sie zwei Tage.« »Schau genau hin«, riet der Pilot, »und du weißt warum.« »Ich sehe keine kyrillische Schrift mehr.« »Statt Orkus heißt er jetzt Tortuga.« »Und statt Heimathafen Leningrad steht Panama drauf.« »Sie führen auch die panamesische Flagge.« »Ganz gut für uns, schätze ich.« Der Pilot hatte jetzt das Schiff überholt, flog eine weite Kurve und schickte sich an, es im günstigsten Fotografierwinkel noch einmal zu passieren. »Gestern noch war der Rumpf hellblau und das Deck gelb. Jetzt ist das Deck hellgrün und der Rumpf hat die Farbe der Nordsee.« »Das verstehe verdammt wer will«, fluchte der Pilot. »Sie können nicht in zwölf Stunden bei voller Fahrt dreißigtausend Quadratmeter Schiffsfläche frisch bemalt haben. Das schaffst du nicht mal mit Hochleistungskompressoren. Und vergiß das stürmische Wetter im Skagerrak nicht.« 76
»Es gibt Farben«, sagte der andere, »die passen sich der Umwelt und den Lichtverhältnissen an. Sogenannte Chamäleonfarben. Hat mich schon verdammt gewundert, warum sie im Öresund wie ein Musikdampfer daherkamen. Es war ein lichter blauer Tag, der die Farbe aufhellte.« »Du meinst, diese Anstriche arbeiten nach einem ähnlichen Prinzip wie die Sonnenbrillen mit veränderlicher Durchlässigkeit?« »Ungefähr.« »Das müssen wir sofort melden.« »Deshalb nahm sie auch nicht Kurs durch die Enge von Dover-Calais. Dort hat man immer Gegenkommer und Schiffe, die einen begleiten. Denen wäre das Spiel der Farben und auch die Namensänderung aufgefallen. Aber hier draußen, abseits der Dampferrouten, können sie beliebig oft mogeln.« Sie gingen tiefer und so dicht heran, daß der zweite Pilot mit seinen Spezialkameras jeden Niet von Schiff und Aufbauten auf die Filme bekam. »Noch einmal drüber?« fragte der Mann, der die Cessna flog. »Nicht nötig. War alles ganz prima.« »Jetzt müssen sie sich zu Hause etwas Neues einfallen lassen.« »Ja, wie sie den dicken Zossen in Küstennähe halten.« »In Hubschrauberreichweite.« »Und so, daß sie ihn binnen einer Nacht verschwinden lassen können.« »Einfacher wäre es«, sagte der Pilot, »eine Burg am Rhein zu erobern, sie Stein für Stein abzutragen und binnen vierundzwanzig Stunden an der Donau wieder aufzubauen.« »Es ist praktisch unmöglich.« »Theoretisch auch.« 77
»Wer behauptet, daß er das schafft, der kann einen Tanker nicht von einem Stück Hundescheiße unterscheiden.« Sie kreuzten das breit auseinanderlaufende Kielwasser des Tankers und nahmen Kurs Aberdeen. * In der improvisierten Operationszentrale, die sich auf einem Landsitz an der irischen Nordküste befand, gingen pausenlos die Telefone, der Fernschreiber und das Funkgerät. Auf der Wandkarte neben dem Kamin wurde stündlich die neue Position des Tankers markiert. Das in Malin anwesende Mitglied des Dreierdirektoriums sagte: »Wenn er Kurs hält, muß er morgen früh die Insel Lewis mit etwa neunzig Meilen Abstand passieren. Nach diesem Umweg nimmt er jetzt direkten Kurs.« »Hinaus in den Atlantik.« »Wir müssen ihn noch ein Stück nach Süden drücken. Auf siebenundfünfzig Nord, das wäre ideal.« »Und wie, bitte, Sir?« fragte einer der Mitarbeiter. »Ich lasse mir schon etwas einfallen.« Der Mann, der diese Operation in Kommandoteilung mit zwei anderen Fachleuten befehligte, setzte sich an den Fernschreiber. Nachdem er einen Anschluß auf dem Kontinent gewählt hatte, begann er zu tippen. Doch die Rückantwort blieb aus. Das wunderte ihn zwar, aber er konnte es nicht ändern. Außerdem bekam er Besuch. Trotz des prasselnden Regens, war ein Auto die Straße von Carndonnagh heraufgefahren. Der Wagen hielt, eine Tür schlug zu. Schwere Schritte dröhnten in der Halle. Ein rotbärtiger Riese im regennassen Gummimantel der Hochseefischer trat ein. 78
Die beiden Partner umarmten einander stumm. »Ich höre von Schwierigkeiten«, sagte der Ire. »Da hast du falsch gehört«, erwiderte der Amerikaner. »Wir haben ihn unter Kontrolle.« Der rotlockige Ire setzte sich, ohne den Mantel auszuziehen, ans Feuer. »Mir wäre wohler, wenn auch wir ihn schon unter Kontrolle hätten.« »Wir liefern ihn euch wie der Treiber den Fuchs vor die Flinte des Barons.« »Wann?« »In den nächsten vierzig Stunden. Unsere Uhren laufen bereits rückwärts.« »Vierzig… neununddreißig… achtunddreißig«, zählte der Ire und begann eine Pfeife zu stopfen. »Es ist unser letzter Versuch.« »Das weiß ich.« »Unser gesamtes Geld aus jahrelangen Sammlungen steckt darin. Jeder brave Ire hat das Seine dazu geleistet. Ohne das Opfer aller freiheitsliebenden Iren wäre diese ungeheure Summe nicht zusammengekommen.« »Die Operation kostet Geld«, erklärte der Amerikaner. »Wir mußten ein Netz von Leningrad über Island bis zu den Azoren spinnen. Techniker, Flugzeuge, Nachrichtengeräte sind im Einsatz. Dazu kam die Beschaffung von Vitex-44. Sie war am teuersten.« »Vitex-44«, fragte der IRA-Colonel, »was ist das?« »Man muß die Besatzung mittelfristig ausschalten. Für wenigstens einen Tag. Vitex-44 ist ein Kampfzonenstoff, der nach Blüten duftet, von dem du dir gerne die Lunge vollpumpst, weil er dich an Frühlingserwachen erinnert. Well, und danach ist deine Vita ex. Deshalb der Name Vitex. Du liegst da, hast wunderschöne Träume und rührst keinen Finger mehr, egal wofür. Du bist so faul, so energie79
los, daß du nicht einmal die Hand des Henkers abwehren würdest, um deine Enthauptung zu verhindern.« »Und dieses Zeug habt ihr?« Der Amerikaner äußerte sich jetzt vorsichtig. »Wir verfügen über die nötigen Mengen. Sie zu beschaffen kostete einen Großteil der verfügbaren Summe. Genau eine Million Pfund Sterling. Billiger gaben sie es nicht her.« »Wer?« »Ein paar unzufriedene Chemiker in der Untersuchungsanstalt für ABC-Waffen in New Mexiko USA.« Der Ire nickte vor sich hin. »Es muß gelingen, diesmal«, sagte er, »wir brauchen die Ausrüstung, die Fahrzeuge, die Waffen, die Munition. Der große Schlag gegen Ulster muß geführt werden, bevor diese Scheißpolitiker sich verständigen und wieder einen faulen Kompromißfrieden schließen, der dann doch wieder gebrochen wird und mit den Jahren mehr Tote kostet als der große harte Overkill.« »Das ist euer Problem«, sagte der Amerikaner. »Ich habe meine eigenen.« Er telefonierte, nahm einen Funkspruch auf, ging an die Karte und korrigierte dort den Verlauf einer roten Linie. Dabei bekam er einen nachdenklich besorgten Ausdruck. »Er hält stur nach Westen hinaus, immer am Großkreis entlang.« »Wohin will er?« »Kannst du in die Hirne der Strategen im Moskauer Politbüro blicken?« »Ich kann nicht einmal in die Hirne der Herren in Downing Street schauen.« »Einen Tee?« fragte der Amerikaner. Der Ire lehnte ihn als britisches Gesöff ab. »Was hat der Tanker an Bord?« fragte er. 80
»Genug«, versicherte der smarte Amerikaner in dem lässig bequemen Jeansanzug. Der Ire brauste auf. »Das ist keine Antwort, Mister.« Der Amerikaner faßte es genauer. »Alles, was auf deinen Anforderungslisten steht. Sogar ein bißchen mehr, fast zehnmal soviel. Damit können deine Enkel noch Krieg spielen. Möchte bloß wissen, wo ihr hinwollt mit all dem Plunder.« Der Ire lachte. Sein Gebiß war kräftig wie das eines Ebers. »Kein Kommentar. Aber solange er auf See ist, trägst du die Verantwortung, Bruder. Einmal im Sund, gehört er uns.« Der Amerikaner schaute auf seine Präzisionsuhr mit den drei kleinen Zifferblättern im großen Zifferblatt. Noch gut einen und einen halben Tag. Bis dahin würde er über alle Berge sein. Sollten sie sich doch die Köpfe blutig schlagen, diese verrückten Iren. Er würde in Neuseeland in der Sonne liegen. Ein Anruf aus Nord Sutherland kam. Der Pilot der Cessnabesatzung, der immer wieder gestartet war und Fühlungshalter zur Orkus spielte, meldete, daß der Tanker jetzt auf Südwest gedreht habe. Der neue Kurs wurde auf der Karte eingetragen. »Zu weit von der Küste ab«, rechnete der Amerikaner. »Wir müssen ihn näher heranholen.« »Und wie geht das vor sich?« wollte der Ire wissen. »Ihr habt doch Fischereischutzfahrzeuge?« fragte der Amerikaner. »Denke schon.« »Sie verjagen jedes Fischerboot, das nicht EG-Mitglied ist, aus euren Fanggründen.« »Mit gutem Recht.« »Ihr bohrt aber auch nach Öl da draußen.« 81
»Genau wie die Engländer. Aber worauf willst du hinaus?« Der Amerikaner dachte nach. »Wo gebohrt wird, werden gleichzeitig neue Felder erschlossen. Um sie zu erschließen, muß man die Lagerstätten erst einmal finden. Das erreicht man, indem man vor, den Bohrungen seismographische Messungen vornimmt. Man setzt Unterwassersprengungen an und horcht den Meeresboden ab, wie sich die Schallwellen dort fortpflanzen. Und natürlich stört jedes Schiff, das den Geologen dabei in die Quere kommt. Erst recht ein Koloß von einer Viertelmeile Länge.« Der Amerikaner winkte den Iren an die Karte. »Morgen mittag beordern wir ein Fischereischutzboot in seine Nähe. Diese Boote sind marinegrau und nicht von Navy-Einheiten zu unterscheiden. Sie fordern den Tanker auf, das Erdölsuchgebiet schleunigst zu verlassen. Und zwar mit Südkurs, immer an der Küste entlang.« »Falls er darauf eingeht«, wandte der IRA-Colonel ein. »Er wird«, sagte der Amerikaner. »Denn wenn er etwas vermeiden will, dann ist es Ärger und aufzufallen.« »Ich möchte nicht unbedingt behaupten«, meinte der Ire daraufhin, »daß das genial ist, aber so könnte es gehen.« »Bei Sonnenuntergang haben wir ihn dann in Abfangposition.« Der Amerikaner deutete auf einen Punkt nördlich der Flanan-Inseln. »Hier packen wir ihn. Und es wird klappen, wenn wir nicht ein jämmerlicher Haufen von Versagern sind«, fügte er hinzu.
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Am 17. September, um die Mittagszeit, schälte sich aus dem Sonnenglast der Hebriden See die Umrisse eines Küstenwachbootes. Seiner ungewöhnlichen Form nach zu urteilen, versah es auch weiter draußen auf hoher See seinen Dienst. Der Rumpf war mehr füllig als schlank, der Bug hochgezogen wie bei Fischdampfern, die harte Stürme abzureiten hatten. Aber es führte eine Kanone auf der Schanz und die britische Flagge. Mit hoher Fahrt näherte sich das Fahrzeug dem Supertanker Tortuga und forderte ihn auf, den. Kurs zu ändern, und zwar auf Südwest, 205 Grad. Die Tortuga fuhr zunächst stur weiter, den Anruf auf Sprechfunkwelle mißachtend. Dann begann der Küstenwächter zu morsen. Schließlich schoß er eine Signalrakete ab, die der Panamese nicht übersehen konnte. Er bestätigte Flaggensignal und Funkspruch, fragte aber, nach dem Grund. »Unterwassersprengungen«, hieß es, »zwecks Erdölexploration.« Der Panamese fragte wie lange er diesen Kurs steuern müsse und bis zu welcher Position. Er bekam sie. Sie lag auf Höhe der Flananinseln. Er mußte sie also südlich umfahren, was dem Tankerkapitän sehr mißfiel. »Kann ich nicht über Nord ausweichen?« fragte er zurück. »Sie stehen schon zu weit im Testgebiet«, hieß es, »befolgen Sie jetzt umgehend meine Aufforderung.« Der Panamese drehte ab. * In der Einsatzzentrale in Malin begann der Countdown. Die Besatzung des Transporthubschraubers auf den FlannanIslands bekam letzte Einsatzorder. Start sollte eine Stunde vor Sonnenuntergang sein. 83
Schon drei Stunden vorher verließ ein Schnellboot mit weiteren Spezialisten die Deckung zwischen den einsamen Atlantikinseln. Für den ersten entscheidenden Schlag hatte man einen Sikorsky S-61-D besorgt. Unter dem NATO-Code Sea King wurde er bei den Nato-Streitkräften als amphibischer UBoot-Jäger geflogen. Zwar etwas langsamer als andere Typen, die S-65 und S70 waren alle über 330 Stundenkilometer schnell, besaß der Sea King andere Vorteile. Er konnte notfalls auf See heruntergehen. Seine Reichweite betrug tausend Kilometer. Einschließlich Treibstoff trug er vier Tonnen. Wie die Teamchefs es fertiggebracht hatten, diesen Helikopter von den 14 Maschinen der italienischen Luftwaffe abzuzweigen, blieb ihr Geheimnis. Jedenfalls hob der SeaKing, besetzt mit technischen Experten und beladen mit einer Tonne Vitex-44 um 18 Uhr 50 ab. Mit elf Metersekunden schräg aufsteigend verschwand er bald im tief hängenden Gewölk. Der Funker empfing den letzten Wetterbericht. »Seegang drei, Sturm abflauend.« »Wie steht der Wind?« »Aus Richtung Azoren.« »Dann fliegen wir von Südwest an«, entschied der Pilot. »In dreißig Meter. Dann flutscht die Vitex-Wolke genau in den Ansaugkamin.« Bald überholten sie das auf gleichem Kurs unter ihnen dahinpreschende Schnellboot. Seine Maschinen waren stark genug, den Tanker notfalls auch schleppen zu können. Trossen dafür waren an Bord. Die drei Chefs hatten an alles gedacht. Die Sonne sank, die Nacht kam. Für 21 Uhr 10 war Eintreffen auf Tankerposition vorgesehen. 84
Um 21 Uhr hatte ihn der Radarbeobachter hoch nicht auf dem Schirm. »Das Schwein hat den Kurs gewechselt.« Sie beschrieben eine weite Suchkurve. Zwanzig Minuten später hatten sie ihn. Gegen ausdrücklichen Befehl versuchte der Tanker nördlich der Flananinseln vorbei in den Atlantik vorzustoßen. Die Helikopterbesatzung gab die neue Position der Orkus an das Schnellboot durch. Dann bereiteten sie alles vor, daß die Tortuga, wie die Orkus jetzt hieß, in ihre Falle lief. * Das Singen, der zwei Hubschrauberturbinen und das Schlagen des Rotors waren auf der Orkus zu hören. Darüber bestand kein Zweifel. Die Schiffsführung des Tankers mußte sich jedoch klar darüber sein, daß man kontrollierte, ob sie sich an die Weisungen bezüglich des Sperrgebietes hielt. Au ßerdem war der Tanker immer wieder von Flugzeugen und Küstenpatrouillen beobachtet worden. Selbst bei Nacht stellte die Nähe eines Helikopters also nichts Außergewöhnliches dar. Hierauf bauten die Angreifer ihre Taktik. Sie näherten sich der Orkus, bis die Einzelheiten des Decks auf dem Radarschirm deutlich zu erkennen waren. Der Techniker am Radarschirm, der auch die Gasventile bediente, wies den Piloten ein. »Im Steuerbordschornstein ist die Ansaugöffnung für das Lüftungssystem. Etwas tiefer. Neunzig Fuß. Mehr links. Noch etwas. Gut so. Ich mache jetzt den Alutest.« Der Radarbeobachter betätigte ein Druckventil. Aus einer separaten Flasche strömte Druckluft in einen Behälter voll Aluminiumstaub und sprühte diesen mit hoher 85
Geschwindigkeit aus einer steuerbaren Düse in Richtung auf den Tanker. Dieser Aluminiumstaub, wie er auch für Metallic-Lacke verwendet wurde, war als Schlafmittel völlig unwirksam, hatte aber die Eigenschaft, die Radarwellen zu reflektieren und somit anzuzeigen, ob das Gas auch ins Ziel geweht wurde. Der Wind kam aus West, der Hubschrauber flog sehr langsam. Mit einer relativen Geschwindigkeit von plus 15 Knoten zog er an der Orkus vorbei. Der Mann am Radar sah, wohin seine Wolke wehte. Sie traf die Ansaugöffnung im Steuerbordschornstein nur unzureichend. »Geht’s nicht langsamer, verdammt!« »Dann fallen wir in den Bach«, erklärte der Pilot über Bordsprechanlage. »Man hätte das besser trainieren sollen.« »Dazu war keine Zeit.« Natürlich verhielt sich Gas anders als Alupulver. Es vermengte sich schneller und stärker mit der Umluft. Sie machten einen neuen Versuch mit veränderter Höhe und Anflugwinkel. Ein letzter Alutest fand statt. Das Flimmern auf dem Schirm näherte sich präzise dem Tankerheck. In diesem Moment gab der Mann am Radar das Gas frei. Er schlug auf die Ventile der vier Flaschen, obwohl er Order hatte, die Reserveflasche für den Fall, daß sich ein weiterer Angriff als nötig erwies, aufzusparen. Binnen zwanzig Sekunden war das Vitex-44 im Freien. Die Strömungsgeschwindigkeit des Gases und die Luftbewegung ließen es der Aluwolke folgen. Die Zielrichtung lag nur minimal neben dem Optimum. »Kannst abdrehen«, sagte der Radarbeobachter zum Piloten. 86
Mit einer halben Meile Abstand und hundert Meter Höhe verfolgten sie das weitere Verhalten des Schiffes. Die Stoppuhren liefen. Nach einer Minute sagte der Gasschütze: »Jetzt sinkt die Wolke auf die Orkus nieder.« Und nach weiteren 30 Sekunden: »Jetzt saugt sie sie ins Innere.« Wenig später rief er: »Wirkung!« * Daß die Orkus weiter Kurs und Geschwindigkeit hielt, war für den Fachmann nicht beunruhigend. Das Schiff wurde über eine automatische Ruderanlage gesteuert. Nach weiteren zwanzig Minuten machten die Helikopterpiloten ernst. Sie riefen das Schiff über Sprechfunk an. Als keine Antwort erfolgte, gingen sie tief herunter und blinkten mit dem Landescheinwerfer. Auch das Blinksignal blieb ohne Reaktion. »Die schlafen schon.« »Oder sie bluffen.« »Was hilft es. Wir müssen es riskieren.« Sie schalteten auf eine andere Sprechfunkfrequenz und riefen das Schnellboot. »Wir landen. – Störsender einschalten. Ende!« In einem waghalsigen Manöver setzte der Pilot den schweren Transporthubschrauber auf das Mittelschiff des Tankers. Im letzten Moment sah er das aufgemalte Landekreuz und slippte sein tonnenschweres Fluggerät mit exzellentem Schlenker herein. Die Nahkampfspezialisten setzten ihre Sauerstoffmasken auf, sprangen an Deck und arbeiteten sich, jede Deckung 87
nutzend, die Maschinenkarabiner schußbereit, zu den achteren Aufbauten vor. Wider Erwarten bekamen sie Pistolenfeuer von der Brükke. Aber die Schüsse lagen schlecht gezielt. Der Widerstand wurde binnen weniger Minuten gebrochen. Die Tankerleute, die sich den Piraten entgegengestellt hatten, trugen zwar Gasmasken. Aber die nützten wenig. Die Hersteller von Vitex-44 hatten versichert, daß das Schlafgas durch herkömmliche Kohleaktiv- und Kunststofftrockenfilter nicht zu beseitigen sei. Bald schlummerte auch der letzte Mann. Sofort besetzte das Spezialkommando die Brücke, dann den Funkraum und die Maschine. Die schlafende Besatzung wurde auf mehrere gesondert absperrbare Räume verteilt. Um 23 Uhr funkten die Piraten die Erfolgsmeldung nach Irland. »Zwei Verwundete«, fügten sie hinzu. »Handeln weiter nach Plan. Erbitten Order.« * Die Einsatzzentrale in Malin nannte dem Tanker ein Ziel, das er im Laufe der Nacht erreichen konnte. Der Hafen mußte groß genug sein für ein fast fünfhundert Meter langes Schiff. Da man in den vorhandenen Seehäfen ein gekapertes Schiff nicht unauffällig verstecken konnte, hatte die Operationsleitung die fjordartige Bucht einer Insel ausgesucht, die so einsam lag, daß nur Möwen und Seeschwalben dort nisteten. Dieses Versteck befand sich weit draußen bei den Hebriden. Von den insgesamt 186 Inseln war nur ein Viertel bewohnt. Zu den meisten von ihnen kam nie ein Mensch. Im88
mer stürmte es dort, immer war es naß und kalt. Sieben Monate herrschte auf ihnen der Winter. Die Küsten waren steil, sehr hoch, meist kahle Basaltwände oder Vulkangestein. Ein paar Seevögel schwirrten um die Felsküste. Das war alles. Nur bei starkem Orkan suchten Fischer auf St. Kilda Zuflucht. Ein oder zweimal im Jahr flog auch ein Flugzeug hinaus, um zu sehen, ob es die Flannan-Inseln noch gab. Jetzt im Sommer waren die Inseln oben begrast. Das hellgrüne Deck der Orkus würde sich also kaum von seiner Umgebung abheben. Hinzu kam noch, daß das Schiff von hier aus in einem Tag und einer Nacht, sobald das Wetter paßte, zum endgültigen Entladeort geschleppt werden würde. Da die Insel, die geeignete Bucht und das Fahrwasser bereits erkundet worden waren, funkte Malin an das Prisenkommando auf der Orkus: »Entsiegeln Sie Order vier. Anlaufen Planquadrat 75/58. Eintreffen X plus 36.« * Der Teamchef in Nordirland setzte sich an den Fernschreiber und informierte seine Partner über den Verlauf des Einsatzes. Jetzt, nachdem die Hauptphase gelungen war, würden sie ihre Büros räumen und mit ihm auf 75/58 zusammentreffen. Gegen Mitternacht erreichte er auch seine Auftraggeber von der Extremistengruppe der irischen Befreiungsarmee. Ihnen gab er das Stichwort für die erfolgreich durchgeführte Operation. »Viktor!« meldete er. Dann begann er mit der Auflösung der Leitstelle. Alles Brennbare trug er hinaus vor das Gutshaus und 89
steckte es in Brand. Funkgeräte und Fernschreiber wurden abgebaut und kamen in die Kombilimousine. Zum Schluß wurden sämtliche Abfälle in den Fluß gekippt und die Fingerabdrücke mit Schwämmen, die sie vorher in Whisky tauchten, beseitigt. Als die Sonne aufging, war Malin spurenlos geräumt 9. Der Cognac, den Bob Urban zu sich genommen hatte, kam gar nicht erst zur Wirkung. Plötzlich stand die Polizei im Haus. »Capitán Modestes«, rief Dr. Pinter, »Sie kommen reichlich spät.« »Wenn Sie die Uhrzeit meinen«, antwortete der Spanier in der adretten weißen Sommeruniform, »dann ist sie zwar außergewöhnlich, aber bei der Verfolgung von Verbrechen bin ich an keinerlei Rücksichten gebunden.« »Ich meinte, Sie kommen reichlich spät, um etwas zu unternehmen. Ich bat Sie schon vor Wochen…« »Nicht zu spät, um die Schuldigen festzunehmen«, erklärte der Spanier. »Wie steht es mit den Alibis der Herrschaften? Wo waren Sie gestern abend?« Nun mischte sich Urban ein. Bis jetzt hatte die Unterredung in einem von allen Seiten nicht sonderlich beherrschten Französisch stattgefunden. Urban hingegen sprach Spanisch wie ein Andalusier. »Alibi wozu?« fragte Urban. »Und wer sind Sie, bitte; Senor?« erkundigte sich der gekkenhafte Capitán herablassend. »Das wissen Sie doch«, erwiderte Urban, »oder erinnern Sie sich nur, wenn Ihnen die Erinnerung in den Kram paßt?« »Sie halten sich raus«, befahl der Capitán. »Mit Ihnen rede ich später ein ernstes Wort.« 90
Also süffelte Urban ruhig weiter aus seinem Glas und sah zu, wie der Capitán Dr. Pinter in die Zange nahm. Modestes sagte Pinter ins Gesicht, wann er am Paseo Sagrera aufgetaucht sei und von wann bis wann er sich im Haus des ermordeten Lucio Borghetto aufgehalten habe. Nämlich zur Tatzeit. Dem konnte Pinter nur wenig entgegenhalten. Daraufhin wandte sich der Beamte an Hellena Pinter. Auch sie besaß kein Alibi, auch sie war zur möglichen Tatzeit in der Wohnung des Ermordeten gewesen. »Wie viele Täter brauchen Sie eigentlich«, fragte Urban, »für einen einzigen Schuß?« Sofort schnellte der Spanier herum und nahm jetzt Urban aufs Korn. »Woher wissen Sie, daß Borghetto erschossen wurde?« »Ich hörte den Knall…« »Sie lügen. Auch Sie waren am Tatort.« »Wenn Sie mich nicht ausreden lassen.« »Drei Täter«, sagte der Spanier, »eine Art Gemeinschaftsarbeit offenbar.« Urban seufzte. »Und kein Motiv.« Das entlockte dem Spanier nur ein Lachen. »Motive gibt es in jeder Menge. Senora Pinter erschoß ihren Geliebten, weil er sie unter Druck setzen wollte, ihren Mann zu verlassen. Dr. Pinter schoß Borghetto aus Eifersucht nieder.« »Und ich schoß, um den Fall möglichst elegant abzuschließen«, fügte Urban hinzu. »Das alles mit einer einzigen Kugel. Wo ist denn die Tatwaffe, Capitán?« »Das Meer ist groß«, bemerkte der Spanier. »Und Logik«, entgegnete Urban, »wird bei Ihnen durch forsches Verdächtigen ersetzt. Aber drei Täter sind schlechter als gar keiner, Senor Capitán.« 91
Der Spanier, der vor seinen Begleitern eine brillante Show hatte abziehen wollen, wurde jetzt wütend. »Sie halten sich da raus! Mit Ihnen rede ich später. Aber in einer anderen Tonlage.« Urban goß noch ein wenig Cognac nach. Dabei prostete er dem Ehepaar Pinter aufmunternd zu. * Wenn Urban etwas nicht ausstehen konnte, dann waren es Beamte mit dem Gehabe von Kino-Kriminalisten. Daß einer nur Provinzqualität hatte, dafür konnte er nichts. Zum Detektiv mußte man geboren sein. Erlernen ließ sich nur die Routine. Leider gab es viele, die führten sich auf, als hätten sie Sherlock Holmes erfunden. Sie waren zumeist echt widerlich. Als der blütenweiße Capitán dazu überging, seinen Spruch aufzusagen und die Eheleute Pinter unter Mordverdacht festzunehmen, ging Urban endgültig aus der Reserve. »Haben Sie deshalb Ihre Galauniform angezogen, Modestes?« spottete er. »Ich komme von einer Gesellschaft beim Provinzgouverneur. Ich trage sie schon den ganzen Abend.« Urban erinnerte sich anders. »Um 23 Uhr aber noch nicht.« »Was wissen Sie denn schon.« »Zur Tatzeit, die Sie offenbar sehr gut zu bestimmen vermögen, hatten Sie einen Straßenanzug an. Ihr Fahrer wird das sicher bestätigen.« Der Capitán winkte ab. Dazu wird es niemals kommen, schien er sagen zu wollen. Was er verschwieg, sprach Urban aus: »Wie ich die Polizeisitten kenne, wird ein einfacher Gendarm seinen Chef natürlich nicht belasten. Aber ich habe Fotos, mit eingeblendeter Uhrzeit.« 92
»Ihre Kamera ist beschlagnahmt«, erklärte Modestes kurzerhand. »Der Film ist bereits unterwegs«, sagte Urban. »Sie bluffen.« Daraufhin ordnete ihn der unsicher gewordene und übers Ziel hinausschießende Capitán in die Reihe der Festgenommenen ein. Dazu äußerte er höhnisch: »Ein deutscher Politiker, eine Ehefrau, die ihm mit einem internationalen Gangster Hörner aufsetzt, und ein Agent des Bundesnachrichtendienstes, alle drei unter Mordverdacht oder dem Verdacht der Mittäterschaft, hombre, wenn das keine Bombe ist.« Urban zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie nur nicht selbst so verdammt nahe bei der Bombe stehen würden, Capitán, so direkt am Detonationsherd.« Der Spanier, der einem Mann mit Urbans Ruf offenbar nicht traute, fragte, wie das gemeint sei. »Schicken Sie mal Ihre Gorillas raus«, riet ihm Urban. »Meine Männer können alles hören.« »Gehen wir trotzdem lieber auf die Terrasse«, schlug Urban vor. »Es dreht sich um die Mordwaffe.« Das Stichwort zeigte Wirkung. Urban trat auf die Terrasse und der Spanier folgte ihm. Draußen machte es Urban kurz und bündig. »Sie, Modestes, haben Borghetto erschossen.« Der Spanier lachte kehlig. »Das können Sie nie beweisen, Nie im Leben.« »Der Schuß wurde fachgerecht abgegeben. Herztreffer dieser Art haben bei Ungeübten eine Zufallsquote von eins zu fünfzig. Das Kaliber dürfte, der Wirkung nach zu urteilen, bei 45 gelegen haben. Ihr Dienstrevolver ist ein 45er Smith & Wesson. Ich sah ihn in Ihrem Büro. Außerdem stimmt die Tatzeit. Hinzu kommt, daß Sie Borghetto schon 93
lange beobachteten. Als die Pinters in seinen Dunstkreis traten, wollten Sie endlich zugreifen, ehe es zu spät war und Borghetto vielleicht die Insel verließ. Sie überraschten ihn. Borghetto machte vermutlich eine Bewegung, als wolle er sich verteidigen, und Sie schossen ihn in Notwehr nieder. Soweit der Sachverhalt.« Nach kurzem Atemholen machte Urbart weiter. »Wahrscheinlich hatten Sie strenge Order, ihn lebend zu schnappen. Damit man Ihnen keine Voreiligkeit bei der Festnahme, keine Überreaktion, hervorgerufen durch Angst oder schlechte Nerven, anhängen kann, trimmen Sie nun den Zwischenfall auf Mord. – Ich bitte Sie, Capitán, das ist doch dünn und viel zu dürftig, um einer Untersuchung standzuhalten.« Der Spanier sah sich offenbar in die Enge getrieben. »Von einem Klugscheißer wie Sie laß ich mich nicht fertigmachen«, zischte er. »Mit Ihnen machen wir kurzen Prozeß. Sie sind verhaftet.« »Vamos!« sagte Urban. »Gehen wir. Übrigens, ich bekomme morgen Besuch aus Madrid. Ich treffe mit meinem alten Freund, Coronel Ernesto Segovia, zusammen.« »Meinetwegen«, knurrte der Capitán. »Von der Brigada de Investigation«, fügte Urban hinzu. Zu den Obliegenheiten der BDI gehörte unter anderem auch die Sauberkeit der spanischen Polizeiarbeit zu gewährleisten. Das kapierte der Capitän blitzschnell. Er warf seine Zigarette in die Büsche unterhalb der Terrasse. »O dios«, stöhnte er, »was sind Sie doch für ein Kretin, Roberto.« Urban kreuzte die Handgelenke vor Modestes Augen. »Wo sind die Handschellen.« »Diavolo! Gehn Sie zum Teufel!« Nun war es Modestes, der in der Klemme saß. Er verlor völlig sein Gesicht wenn er jetzt nach Sachlage handelte. Er 94
verlor es in erster Linie seinen Untergebenen gegenüber. Und das würde ihm bis zu seiner Pensionierung anhängen. Er konnte nur den Dienst quittieren, oder sich versetzen lassen. Urban flüsterte ihm etwas zu. Der Spanier blickte erstaunt, nickte und wirkte erleichtert Als sie wieder im Haus waren, erklärte Modestes gespreizt und arrogant wie vordem: »Senor und Senora Pinter sowie Senor Urban haben Hausarrest. Sie dürfen Cabo Gala vorerst nicht verlassen. Bei dieser Entscheidung handelt es sich um einen Akt der Rücksichtnahme auf Ihre Prominenz und Ihren Status als Gast in diesem Lande. Ich hoffe, Sie werden meine Güte nicht mißbrauchen. Sie haben sich täglich einmal bei mir zu melden.« Worauf du dich verlassen kannst, dachte Urban. Die ganz große Rechnung würde er erst morgen vormittag präsentieren. * Bob Urban hatte vor seinem Abflug nach Palma Coronel Segovia vom Innenministerium in Madrid über seinen Auftrag unterrichtet. Segovia hatte gesagt, er würde sich heraushalten. Die Affäre Pinter sei eine so gut wie innerdeutsche Angelegenheit. Coronel Segovia wußte also Bescheid, für den Fall, daß dieser kleine Napoleon Modestes mit einem Sprung nach vorn reagieren würde. Als Urban mit ihm telefonierte, war er wieder ganz der arrogante Polizeichef. »Sie melden sich reichlich spät«, rügte er. »Fürchtete schon, Sie nähmen es mit Ihrem Ehrenwort nicht so genau und würden abhauen.« »Das lag innerhalb meines Maßnahmenkatalogs«, gestand 95
Urban. »Aber Sie sind noch in meiner Schuld, Modestes. Ich habe noch etwas von Ihnen zu kriegen.« Der Capitán brauste auf. »Sie sind der unverschämteste Mensch, dem ich je begegnet bin.« »Und Sie sind undankbar und vergeßlich, Capitán. Ich habe Ihnen einen eleganten Rückweg eröffnet, außerdem steht immer noch mein Besuch aus Madrid vor der Tür. An Ihrer Stelle würde ich versuchen mich und die Pinters loszuwerden. So schnell wie möglich.« »Verdammt, das werde ich auch«, fluchte Modestes. Urban schaltete wieder auf Gegenkurs. »Uns gefällt es hier aber und wir sind uns keiner Schuld bewußt.« »Noch zwei Touristen Ihres Kalibers, und ich bin reif für die geschlossene Anstalt.« »Machen wir ein Geschäft«, schlug Urban vor. »Was denn noch?« »Ich erhalte eine Durchsuchungserlaubnis für die Penthousewohnungen an der Ecke Paseo Sagrera/Avenida Antonio Mauro.« »Beider Wohnungen? Warum beider?« »In der anderen wohnt ein guter Bekannter von mir.«. »Dieser Andrei Korsakoff. Was wollen Sie von dem Russen?« »Darüber darf ich nicht sprechen.« »Er ist doch gestern abgereist.« »Um so besser.« »Nur seine Sekretärin hält noch die Stellung.« »Mit der komme ich schon klar.« »Hombre«, stöhnte der Spanier. »Und was ist Ihre Gegenleistung?« »Die Pinters fliegen heute noch ab. Sang und klanglos.« 96
Der Spanier schien zusammenzuzählen. Es dauerte einige Zeit bis ihn das Ergebnis der Addition überzeugte. »Einverstanden«, kam es endlich durch den Draht. »Wann?« »Besser heute als morgen.« Eine Stunde später brachte Urban das Ehepaar Pinter zum Flugplatz. Kaum war die Maschine in der Luft, fuhr er wieder nach Palma hinein. Um 14 Uhr betrat er in Modestes Begleitung die Wohnung des ermordeten Gangsters Borghetto. »Er stand am Kamin«, berichtete der Beamte, »und ich hier. Er verbrannte gerade Papiere. Er muß gehört haben, daß jemand hereinkam. Er glaubte wohl, es sei Senora Pinter. Dann sah er mich im Spiegel und erschrak. In einer Überreaktion griff er nach der Waffe am Kaminsims. Ich dachte er oder ich.« Urban deutete auf einen der schweren Clubsessel. »Er hätte Deckung gegeben.« »Es war zu spät dafür.« Wer wollte Modestes einen Vorwurf machen, daß er geschossen hatte. Eine derartige Situation ließ sich schwer nachvollziehen. So etwas war Sekundensache. Außerdem wurde jeder Beamte darauf trainiert, sich zu verteidigen, wenn man auf ihn zielte. Vielleicht war das Training falsch angelegt. Urban schaute sich in der 150 Quadratmeter großen Penthousewohnung um. Der Spanier blieb ihm dabei dicht auf den Fersen. Als Urban in den Papierkorb deutete, zuckte Modestes mit den Schultern. »Verstehe ich nicht.« Urban griff in den Korb und ließ den Papierschnee abregnen« 97
»Konfetti«, sagte er, »Borghetto hatte seinen Abgang, bereits vorbereitet. Aber er verlief anders als geplant.« »Sie meinen, er hatte schon alle wichtigen Dokumente vernichtet?« »Sieht so aus.« »Gestern nacht war der Papierkorb aber noch leer«, erklärte der Spanier. Urban stutzte. »Sind Sie sicher?« »Das dürfte sogar aus den Tatortfotos hervorgehen.« »Dann muß jemand nachträglich den Schreibtisch durchsucht und bestimmtes Material zerkleinert haben.« »Warum verbrannte er es nicht?« wandte der Spanier ein. »Warum nahm er es nicht mit?« »Zerfetzen ging eben schneller. Außerdem glaubte er wohl nicht, daß Nachlese gehalten würde.« Urban widmete sich jetzt dem Telefon und dem Fernschreiber. Beide waren angeschlossen und betriebsbereit. Das Papier auf der Telexwalze zeigte nicht einen einzigen Anschlag. Urban, dessen Überlegungen in eine bestimmte Richtung liefen, öffnete die Schiebetür zur Terrasse, erkletterte das Flachdach des Penthouses und sah sich die Antenne an. Als er wieder herunterkam, fragte der Spanier: »Etwas Besonderes festgestellt?« »Ist eine große Gemeinschaftsantenne für TV und Radioempfang mit Verstärker. Zur Aufnahme oder Abnahme von Funksprüchen ist sie ungeeignet. – Eine Frage Capitán, was ist Ihre Meinung über Lucio Borghetto?« »Privat oder dienstlich?« wich der Spanier aus. »Die ehrliche.« »Er arbeitete hier dem Vernehmen nach als Schiffsund Seefrachtmakler. Warum er sich dazu Palma aussuchte, kann nur mit dem angenehmen Klima und den Naturschön98
heiten unserer Insel erklärt werden. Vielleicht zog es ihn auch hierher, weil er an einer chronischen Bronchitis litt, wie man hört.« »Und was machte er Ihrer Auffassung nach wirklich?« »Er war ein Gangster«, fuhr der Spanier fort, »und bereitete ein großes Ding vor, von dem wir leider keine Ahnung haben. Mit Ausnahme…« Urban verfolgte den Lauf der Telefonleitung, hörte aber gut zu. »Mit Ausnahme?« »Wir ließen vom Telefonamt seine Ferngespräche notieren. Er sprach mit aller Welt. Mit den USA, England, Italien.« »Schiffe sind nun mal dafür gebaut, gewisse Dinge über die Meere von Kontinent zu Kontinent zu befördern. Wer Geld damit verdienen will, der muß global aktiv sein.« Urban hatte sowohl die Telefonleitung vom Schaltkasten bis zum nächsten Mast wie auch die Telexleitung verfolgt. Daß er unterhalb des Terrassengitters, dicht bei der Abgrenzung zur Nachbarwohnung etwas entdeckt hatte, das verschwieg er. Beide Leitungen, sowohl Telefon wie Telex, waren angezapft. Und zwar auf eine derart professionelle, kaum sichtbare Weise, daß dies nur ein Experte ausgeführt haben konnte. Die Kabel waren auf der der Mauer zugewandten Seite mit bis auf die Kontaktspitzen isolierten Nadeln angestochen worden. Von den Nadelösen liefen haarfeine Drähte, kaum dicker als Spinnwebfäden, weg. »Da drüben wohnt dieser Russe«, bemerkte Urban beiläufig. »Andrei Korsakoff. Ja.« »Er ist verreist, sagen Sie. Dann kann man die Wohnung besichtigen.« 99
»Davon würde ich abraten«, äußerte Modestes. »Korsakoff hat eine Haushälterin. Mit der ist nicht gut Kirschen essen. Sie bewacht die Wohnung wie ein Zerberus. Ein Durchsuchungsbefehl ist schwer erhältlich. Sie können es ja versuchen. Ich jedenfalls halte mich raus.« Sie verließen die Wohnung Borghettos. Vor dem Lift sagte Urban. »Dann leben Sie wohl, Capitán.« Modestes fuhr hinunter und Urban betätigte den Summer nebenan. * Auch auf sein drittes Signal kam niemand. Sie können es versuchen, hatte der Capitán gesagt. Urban schob den babyfingerschmalen Plastikstreifen in den Schlitz des Sicherheitsschlosses. Die kleinen Mäusezähne der Zuhaltungen ließen sich von dem flexiblen Kunststoff übertölpeln und gaben nach, als hätte sie der Originalschlüssel in die Entsperrstellung gebracht. Die Tür schwang ohne Laut nach innen. Agenten, die konspirative Wohnungen mieteten, sorgten als erstes dafür, daß die Türangeln genug Öl hatten. Dieser Korsakoff, der in Wirklichkeit Filo Nazzarini war, beherrschte sein Geschäft. Rasch durchsuchte Urban die sieben Räume, die große Wohnhalle, die zwei Schlafzimmer, das kleine Zimmer, das sich daran anschloß, Bad, WC und Küche. Die Haushälterin war offenbar ausgegangen. Von der Küche kehrte Urban in die Wohnhalle zurück und schob den Vorhang von der rechten Terrassentür. Er hatte gute Lust zu fluchen. Kein Draht war zu sehen, kein noch so dünner. Er öffnete die Tür. Auch auf der Terrasse keine Drähte. 100
Die Abzapfungen von Borghettos Telefon und Telex endeten bereits nach zwei Metern. Sie waren glatt durchgezwickt. Nazzarini hatte vor seinem Verschwinden die Anlage abgebaut. Oder sie stammte von einem dritten. Urban gab trotzdem nicht auf. Er untersuchte die Lackierung der Schiebetürrahmen. In der unteren rechten Ecke glaubte er im Teakholz mehrere Linien zu sehen, wie sie von dünnen aber hochreißfesten Drähten hervorgerufen wurden, wenn man sie zwischen Holzleisten einklemmte. Beim Schließen der Tür hatten sie sich auf diese Weise abgeprägt. Nun schaute er sich im Wohnraum um. Wo konnten Tonbandgerät und Fernschreiber gestanden haben? Vermutlich am Boden neben dem Kamin. Tatsächlich fand Urban im Staub einen Abdruck entsprechend der Fläche eines Taschenkrimis. Fernschreiber waren aber noch größer als Büroschreibmaschinen. Es gab allerdings Streifenschreiber, die sich nur zum Empfang von Telexnachrichten eigneten. Sie arbeiteten lautlos, und nahmen die Texte in einer Art Morsecode auf, indem ein einfaches Druckwerk Buchstaben, Punkte und Striche oder nur Punkte auf einen ablaufenden Papierstreifen schrieb. Diese Dinger gab es in sehr kompakten Ausführungen. Daß Nazzarini mit so einem Minigerät ausgerüstet war, konnte man voraussetzen. Diese Erkenntnisse halfen Urban nicht sonderlich weiter. Auf die Papierstreifen kam es an und auf deren Inhalt. Der Kamin war sauber ausgekehrt, und wohl seit langem nicht benutzt worden. Die leeren Schübe im Schreibtisch glänzten wie ausgewischt, ebenso die Papierkörbe. Das hätte er bei Nazzarini auch nicht anders erwartet. 101
Wenn Nazzarini noch im Dienst gewesen wäre, hätte Urban die Sache auf sich beruhen lassen. Er erinnerte sich jedoch eines Gespräches mit dem Hauptquartier. Nazzarini, so hätte Sebastian gesagt, ist gefeuert, er hängt in der SantaCruz-Geschichte mit drin. Urbans Kombinationen liefen weiter. Lucio Borghetto war Schiffsmakler. Er bekam Informationen über Schiffsbewegungen und über die Frachten der Schiffe. War Nazzarini deshalb sein Penthousenachbar geworden? – War Nazzarini nur deshalb hier gewesen? Auf Grund dieser Überlegungen versuchte Urban irgendeinen Hinweis aufzuspüren. Er ging in die Küche, schaute im Abfalleimer nach. Nur Abfall lag darin. Urban rekonstruierte noch einmal: Nazzarini hatte Borghettos Telexleitung angezapft. Gewiß hatte er Informationen über den Streifenschreiber bezogen. Er nahm die Streifen aber kaum mit. Verbrannt hatte er sie nicht, im Abfall lagen sie auch nicht. Es gab nur hoch zwei Möglichkeiten. Im Müllcontainer oder im WC. Doch dann fand er den Streifen an einer ganz anderen Stelle. Nazzarini hatte geglaubt, ihn im Dachrinnenablauf versenken zu können. Aber das Laubfanggitter war etwa einen halben Meter tief in die Kupferröhre gerutscht. Dort lag das Streifenbündel auf. Ehe er sich an die Bergung der Streifen machte, steckte sich Urban eine Montechristo an. Er blies gerade den ersten Zug über die Dächer von Palma de Mallorca, als er ein Geräusch vernahm. Hinter ihm stand eine schwarzlockige Person, klein und zierlich, aber der Revolver in ihrer Hand war es weniger. »Die Hände hoch!« zischte sie. Ihrem Englisch entnahm er, daß sie ihn nicht für einen Spanier hielt. Vielleicht war sie weit genug gereist, um 102
Menschen beurteilen zu können. Doch er hob die Hände nicht. »Sie sind Miriam«, fragte er, in der Hoffnung, sie verblüffen zu können. »Haben Sie in meinem Schrank gestöbert?« »Ihr Paß lag offen herum.« »Sie sind nicht einmal Polizist. Nur ein Schnüffler. Was berechtigt Sie…« »Gar nichts«, antwortete er, »abgesehen von der Tatsache, daß ich ein guter Freund von Korsakoff bin.« »Wer ist Korsakoff?« fragte sie. »Vielleicht kennen Sie ihn unter dem Namen Nazzarini.« »Nie gehört.« »Dann sollten wir uns erst recht über Ihren Boss unterhalten.« »Wenn Sie glauben, ich serviere Ihnen dabei noch einen Drink, dann haben Sie sich aber geschnitten.« »Ich dachte mehr daran, Sie zum Essen einzuladen«, äußerte er. »Mit Blei im Magen wird Ihnen der Appetit vergehen.« Da lächelte Urban und erwiderte: »Ein Toter pro Etage pro Tag sollte eigentlich genügen, oder?« Sie ließ die Waffe sinken. Ohne die Kanone sah sie bedeutend hübscher aus. »Überredet«, sagte sie. »Ich zieh mir nur einen anderen Fummel über.« Urban versuchte ihre Abwesenheit zu nützen und an den Telexstreifen zu kommen. Es klappte nicht. Binnen zwei Minuten war sie wieder da.
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10. Plötzlich stand es in allen Zeitungen. Woher die Meldung kam, wußte niemand genau. United Press hatte sie nicht in die Welt gesetzt, und AIP hatte sie auch nicht gemacht. Es hieß, daß ein panamesischer Supertanker im Nordatlantik verschwunden sei. Vermutlich sei das Schiff im Sturm auseinandergeborsten und gesunken. Aber wo, so fragten sich die Fachleute. Seit Wochen hatte es in diesem Seegebiet keinen Orkan oder Taifun gegeben. Außerdem waren nirgends Spuren gefunden worden, weder Rettungsboote noch treibende Wrackteile. Den üblichen Ölteppich hatte auch niemand gesichtet. Da keinerlei Notsignale oder SOS-Rufe aufgefangen worden waren, hielt man die Meldung für ein Gerücht. Für ein Gerücht wiederum hielt sie sich aber zu hartnäckig. Täglich druckte irgendeines der großen Blätter etwas. Oft war es nur eine neue Theorie oder die Mitteilung, daß der Tanker Tortuga eigentlich ein sowjetisches Schiff sei, mit Heimathafen Leningrad und Orkus heiße. An dem Tag, als der Observer dies schrieb, flog Cecil Clark von Glasgow zur Hebriden-Insel Lewis hinaus. Höflich wandte er sich an die Stewardess der kleinen Zubringerlinie: »Haben Sie noch mehr Zeitungen an Bord, Miß?« »Nur noch den Mirror, Sir.« Der ehemalige CIA-Agent winkte dankend ab. »Der erscheint abends. Den kenne ich schon.« »Darf es statt dessen ein Skotch sein?« »Ich bin Amerikaner und bevorzuge Bourbon.« »Führen wir leider nicht an Bord, Sir«, hieß es.« Wenig später fragte Cecil Clark, ob man von diesem Flugzeug aus telefonieren könne. Die Stewardess bedauerte abermals. Die kleine Fokker104
Friendship verfüge leider nicht über eine für Privatgespräche nutzbare Funktelefonanlage. Aber man sei ja bald in Stornoway. Also verschob Cecil seine Probleme bis nach der Landung. Kaum hatte die F-27 aufgesetzt und der Zubringerbus die Passagiere zum Gepäckband gebracht, suchte Cecil Clark die Telefonzelle auf. Er wählte eine Nummer, die er sich eingeprägt hatte. Der Angerufene meldete sich nur mit ›Hallo‹. »Hier Cecil«, sagte Clark. »Es ist besser, wir verlegen das Rendezvous.« »Wirst du verfolgt?« fragte Jesse Caine, deutlich an der Stimme erkennbar. »Sieht so aus«, befürchtete Clark. Sie verabredeten einen neuen Treffpunkt bei Dunkelheit. Dann hängte Clark auf. Der Mann, von dem er glaubte, daß er ihn seit London beschattet habe, war nicht mehr zu sehen. Clark nahm in der Bar einen Kaffee. Das Hörnchen war pappig und der Zuckerguß glitschig. Aber vielleicht lag es an ihm. Wenn die Spannung wuchs, legte sich das bei dem einen auf den Darm, bei dem anderen auf die Geschmacksnerven. * Bei Dunkelheit trafen sie sich in einem Pub oberhalb von Husinish. Der Wirt war ein schweigsamer Mann, der seinen schwarzgebrannten Whisky nur pintenweise verkaufte und sich meist schwerhörig stellte. Clark war als erster da. Eine Viertelstunde später kam ein Auto von Closham herauf. Der dunkelblaue Ford war über und über verdreckt. 105
Zwei Männer in Regenmänteln sprangen über die Pfützen und traten in die Gaststube. Jesse Caine stieß fast an der Balkendecke an. Filo Nazzarini hatte weniger Probleme aufrecht zu gehen. Er war nur 1,65 groß. Sie rückten neben Clark an den Tresen und gössen aus dem Tonkrug die Gläser voll. »Hast du den Verfolger abgeschüttelt?« fragte der Engländer. »Kunststück in dieser Wildnis.« »An uns war auch einer dran«, sagte Nazzarini, »bog aber in Freddyway ab.« »Oder er tat nur so, als biege er ab.« »Klarer Fall«, sagte der Engländer, »daß es haarsträubender Leichtsinn ist, wenn wir uns hier in Kompaniestärke zusammenrotten.« »Hier, auf dem Mond?« »Gerade weil es wie auf dem Mond ist, Mann.« Sie besprachen in kurzen Zügen ihr weiteres Vorgehen. »Das Boot liegt klar«, sagte Caine. »Wann?« »Ab dreiundzwanzig Uhr.« »Ist es schnell?« »Der schnellste Kutter der Hebriden.« Der blonde Jesse Caine trat an das Butzenscheibenfenster und schaute hinaus. Da der Pub dicht am Kliff stand, ging es fast senkrecht in die Tiefe. Etwa hundertachtzig Meter weiter unten dünte der Atlantik gegen die Steilküste. Von Husinish sah man ein paar Lichter. Sie zerflossen im Regen. »Das Wetter ist gut«, bemerkte Caine, »kann, gar nicht besser sein.« »Aber?« fragte Nazzarini. 106
»Was ist das denn«, zischte Caine mit einem mal und schrie; »Volle Deckung!« Kaum hatte er die Warnung ausgestoßen, als die Pubtür mit großer Wucht eingetreten wurde. Die Umrisse von zwei Männern zeichneten sich unscharf gegen den Himmel ab. Sie begannen sofort zu feuern. Cecil Clark war über die Theke geflankt. Über ihm zerbarsten Flaschen und Gläser im Feuer der Querschläger. Nazzarini hatte sich hinter die Musikbox geworfen, die Beretta vom Halfter gerissen und das Feuer erwidert. Über das Gläserklirren und die Schußgeräusche hinweg ertönte ein Schrei. In der Tür entstand plötzlich eine Lücke. Nur noch einer der Angreifer war intakt. Caine gab einen gezielten Wirkungsschuß ab. Der Schatten warf die Arme hoch, kreiselte nach links und ergriff die Flucht. Sie setzten den zwei Killern nach. Den einen sahen sie noch rennen. Er lief im Zickzack gefährlich nah an der Steilkante entlang. Als Caine erneut schoß und ihn aufforderte stehenzubleiben, verstand er es offenbar falsch. Vielleicht tat er auch einen Fehltritt. Jedenfalls kippte er einfach weg und verschwand in der Tiefe. Sie hörten ihn gellend schreien. Dann nichts mehr. Den anderen schluckte das Dunkel. Wenig später hörten sie einen Motorradmotor anspringen. »Der ist weg«, sagte Nazzarini. »Wer hat uns verpfiffen?« »Wir uns selbst durch unser Verhalten.« »Dann schlage ich ein abgekürztes Verfahren vor«, riet Caine. »Wir fahren sofort los.« Sie gingen hinein, um ihre Rechnung zu bezahlen. Der Wirt schrieb alles zusammen. »Drei Whisky«, zählte er auf, »neun Shilling. Und die kaputte Einrichtung, macht zwanzig Pfund, Gentlemen.« 107
»Da kommen Sie ja nicht schlecht bei weg«, sagte Caine und knallte mehrere Scheine auf den Tisch. * Der Kutter hatte zwei schwere Rolls-Royce-Diesel hintereinander. Sie wirkten auf eine einzige Welle und machten den Kutter vor dem Wind 22 Knoten schnell. Die 30-Meilen bis zu den Flannan-Inseln schaffte er in achtzig Minuten. Kurz vor Mitternacht tauchten die einsamen Basaltbrocken auf. »Die mittlere«, rief Jesse Caine dem am Ruder stehenden Amerikaner zu, »ist St. Kilda. Ein paar Vogelfänger leben noch da. Umfahr sie trotzdem von Lee her.« Der Nordost hatte den Kutter mächtig auf der Schaukel. Doch als sie in den Windschatten des ersten Eilandes gerieten, wurde es still. Kein Sausen, kein Jammern des Windes mehr um Mast und Antenne. Die Dünung lief lang und glatt dahin. Nachdem sie die östlichste der Inseln passiert hatten, packte sie der Sturm wieder. So ging es noch mehrmals, bis Caine dem Amerikaner Zeichen gab. Cecil Clark riß den Gashebel zurück. Die Diesel drehten nur noch zweihundert Umdrehungen. »Verstehe ich nicht«, sagte Nazzarini immer wieder, »die Ortsangabe war präzise. Sie müssen noch da sein.« Sie umrundeten die 200 Meter hohen Steilküsten und suchten bei der nächsten Insel weiter. Laut Seekarte bot sie keinen geeigneten Ankerplatz für ein derartiges Großschiff. Möglicherweise hatten sie auch eine der zurückgestaffelt liegenden Inseln übersehen. Plötzlich wurde Nazzarini unruhig. »Dort!« rief er, das Nachtglas vor den Augen. Mitten in einem sundartigen Einschnitt lag etwas wie eine Schüssel auf dem Wasser. 108
Es war das riesige Heck des Tankers. Auf Distanz sah es aus, als würde der Tanker den Sund nahtlos von Ufer zu Ufer ausfüllen. Sie hatten die Orkus. Alles weitere lief jetzt ab, ohne daß sie sich verständigen mußten. Jeder von ihnen war erfahren genug, um den nötigen Handgriff im richtigen Moment auszuführen. Sie stellten die Diesel vollends ab. Der Kutter trieb im Dunkel an das Heck heran, bis es wie ein vierstöckiger Wohnblock vor ihnen aufragte. Clark ließ den Anker fallen. Das Schlauchboot flog außenbords. Sie hängten die Waffen um. Jeder hatte neben dem Revolver eine handliche Skorpion-Maschinenpistole, Handgranaten und Tränengaskapseln bei sich. Mit dem Schlauchboot ruderten sie in den toten Winkel unter dem Heck. Mit der Preßluftharpune schossen sie die Strickleiter hinauf. Doch erst beim zweiten Schuß hing sie an der Heckreling. Wie verabredet enterte Nazzarini als erster hinauf. * Oben sammelten sie sich im Schlagschatten der Brückenaufbauten. Aus einem offenen aber mit Vorhängen abgedunkelten Bulley hörten sie die Stimmen von Männern. Jesse Caine schob sich an der Wand entlang zu dem Bulley hin, als ein Posten auftauchte. Der Posten hatte offenbar etwas gehört und erstarrte zu Bewegungslosigkeit. Geduckt stand er da und lauschte. Er bot sich dem Killergriff des Amerikaners geradezu an. Lautlos näherte sich ihm Clark auf seinen Gumminoppenschuhen und griff blitzschnell zu. Was der Posten in 109
dem Sekundenbruchteil bis zur Wirkung des Betäubungsgriffes von sich gab, war nur ein gepreßtes Stöhnen. Clarks Linke verschloß ihm den Mund bis er still war. Der Posten sackte an Deck. Mit Klebeband machten sie ihn stumm und bewegungsunfähig. Dann war eine kurze Verständigung nötig. »Erst die Besatzung oder erst die Ladung?« »Die Ladung«, zischte Caine. Schattengleich hasteten sie um die Heckaufbauten nach vorn bis dorthin, wo die erste Luke eingebaut worden war. Seitlich hatte sie ein schottgroßes Mannloch. Sie öffneten die Reiber und verschwanden darin. Als Nazzarini den Deckel hinter sich geschlossen hatte, benutzten sie ihre Handscheinwerfer. Eine provisorische Konstruktion von eisernen Leitern führte senkrecht in die Tiefe. Unvermittelt blieb Caine stehen. Ein Geräusch, als würde eine Waffe durchgeladen, irritierte ihn. »Ein Schaltschütz«, flüsterte Clark, »von einem Klimagerät.« »Und was klimatisieren sie hier?« »Vielleicht das, was so penetrant nach Abflußreiniger stinkt.« »Abflußreiniger«, flüsterte Nazzarini, »stimmt. Diavolo, wo ist mir das schon in die Nase gekommen?« »Ich weiß, wo es mir in die Nase kam«, ließ sich der Amerikaner vernehmen, »in Cap Kennedy. Ich war beim Start einer Mondrakete dabei.« »Großraketen werden von Wasserstoff und Äthylalkohol angetrieben. Die sind samt und sonders geruchlos.« »Dann war es eine Minuteman mit Feststoffantrieb.« »Er hat recht«, bestätigte Nazzarini. Sie erreichten ein Zwischendeck. Dort lagerten Kompres110
soren, Stromaggregate, Teile von Aluminiumbaracken und in Kisten verpackte Geräte. Im Deck weiter unten glitten ihre Lichtkegel über absolute Schwergewichte. Jedes von ihnen wog zwischen vierzig und fünfzig Tonnen. Es waren Panzer, T-72 und Tieflader für Panzertransport. Dazu die Munition für mehrere Kompanien. Sie arbeiteten sich bis zum Ende dieses neunzig Meter langen hangargroßen Zwischendecks und kamen durch ein weiteres Schott in die nächste wasserdichte Abteilung. Dort erfaßten ihre Lampen jene Dinger, vor denen die Welt am meisten Angst hatte. Walzenförmige Gegenstände, gut dreißig Meter lang und dick wie uralte sibirische Eichen. »Mittelstreckenraketen«, murmelte Clark, ihr technischer Experte, »SS-19.« »Ich lasse mich füsilieren«, ergänzte Caine, »wenn nicht einen Stock tiefer die dazugehörigen Atomsprengköpfe lagern.« Sie waren zu abgebrüht, hatten zuviel erlebt, als daß ihnen Schauer über den Rücken gejagt wären, aber die Bestätigung für ihren Verdacht war dennoch ein gelinder Schock. Cecil Clark faßte sich als erster. »Das hat uns noch gefehlt.« »Schätze deshalb sind wir hier«, flüsterte Jesse Caine vom MI-6. »Jetzt wissen wir was zu tun ist. Das Schiff muß so schnell wie möglich von hier weg.« »Raus aus britischen Hoheitsgewässern, meinst du.« »Egal wie, ob wir es versenken oder in der Strömung auf die Azoren zutreiben lassen. Aber wenn nicht alles für die Katz gewesen sein soll, dann muß diese schwimmende Bombe verschwinden.« Nazzarini hustete leise vor sich hin. »Bombe ist gut. Schwimmende Hölle finde ich besser.« »Sie darf keine Stunde länger hier liegenbleiben.« 111
»Ganz Ihrer Meinung, Gentlemen«, dröhnte mit einemmal eine fremde, verzerrt blechern klingende Stimme an ihre Trommelfelle. Sie kam aus einem Lautsprecher. Da wußten sie, daß sie entdeckt worden waren, sprangen sofort in Deckung und löschten die Lampen. Doch das nützte wenig. In allen vier Ecken des Ladedecks blitzten HalogenTiefstrahler auf und beleuchteten die stählerne Halle taghell. Wohin sie auch blickten, aus jeder Richtung blendete sie gleißend weißes Licht. Ein Ton wie von einem großen Gong donnerte durch das Deck. Hinten war das Schott zugefallen. Sie waren eingesperrt in einem Käfig aus Eisen. Aber sie gaben nicht auf. Clark feuerte eine MPi-Garbe Richtung Treppe, wo er Bewegung sah. Als das scheppernde Bellen der Skorpion verklungen war, meldete sich die Lautsprecherstimme wieder. »Geben Sie auf, Gentlemen, kommen Sie heraus.« »Ihr müßt uns schon holen«, riefen sie zurück. »Dann fluten wir den Raum und ihr werdet jämmerlich ersaufen.« »Dann sprengen wir mit Handgranaten alles was hier steht. Schätze da liegen einige Tonnen Sprengstoff herum.« Der Mann am Mikrofon schien nachzudenken, oder sich mit anderen zu beratschlagen. Vielleicht studierte er auch die Lagepläne. Nach einer Minute etwa ließ er sich wieder vernehmen. »Okay«, sagte er, »sprengen Sie. Es befindet sich kein Explosionsmaterial in Ihrer Nähe. Die Schiffswand wird dem Explosionsdruck standhalten, aber nicht Ihre Körper, Ihre Lungen, Ihr Gewebe. Los, befördern Sie sich ins Jenseits, bevor wir es tun,« 112
Wenig später hörten sie Wasser rauschen. Jede Abteilung eines so großen Schiffes war durch massive Querschotten abgedichtet und einzeln flut- oder lenzbar. Erst recht war das auf einem Tanker so. Der Raum, in dem sie in der Falle saßen, wurde normalerweise mit zwanzigtausend Tonnen Erdöl gefüllt. Nach wenigen Minuten schon umspülte das Wasser ihre Knie. Und dann schossen die Piraten auch noch Tränengas. Clark, Caine und Nazzarini verteidigten sich, bis ihnen das Wasser am Halse stand und sie nichts mehr sehen konnten, weil ihre Augen völlig verquollen waren. Nur so gelang es der Schiffsbesatzung, sie zu überwinden. Sie wurden nach oben gebracht, dort völlig entkleidet. Nackt bis auf die Unterhosen schloß man sie in einen leeren Vorratsraum. Eines war dem Gegner bei der Durchsuchung jedoch entgangen, nämlich der winzige Notsender, den Jesse Caine zwischen den Gesäßbacken trug. Es handelte sich um ein knöpf großes Gerät, wie man es Tiefschneefahrern im Hochgebirge mitgab, wenn sie Steilhänge querten und Gefahr liefen unter eine Lawine zu geraten. Dieser kleine Sender arbeitete permanent, war aber nur auf achtzig Meter wirksam. 11. Trotz aller Bemühungen gelang es Bob Urban nicht, an den Papierstreifen im Abflußrohr heranzukommen. Diese Miriam, dieses kleine Biest, schien zu ahnen. Was er vorhatte. Sie ging mit ihm Paella essen und zeigte sich ungeheuer trinkfest. Als er glaubte, jetzt sei sie so müde, daß er sie tragen müsse, bestand sie darauf, daß sie noch eine Discothek besuchten. Discotanzerei war ungefähr das Letzte für ihn. 113
»Vorhin noch«, sägte sie, »warst du so locker. Jetzt bewegst du dich wie ein Kleiderbügel. Magst du Discos nicht?« Mit einem Anflug von Zynismus, was ihm mitunter besonders gut stand, antwortete er: »Ich liebe sie, dachte schon daran, mir selbst eine zu kaufen.« »Ganz für dich allein?« »Und meine hübschen kleinen Freundinnen.« »Hast du soviel Kohle?« »Für euch ist mir nichts zu teuer.« »Aber ’ne Masse Frauen hast du, he?« »Im Moment nur dich.« Er drückte sie an sich und zog sie an die Bar. Dort flößte er ihr Cuba Libres ein, aber die Cola darin machte sie wacher als der Rum sie ermüdete. Sie tanzte, bis weit nach Mitternacht, als sei sie ein prallaufgezogenes Uhrwerk. Und mit einem mal, von einem Augenblick zum anderen, lief ihr Uhrwerk langsamer bis die Unruh stand. Wie leblos hing sie in seinen Armen. »Bring mich zu Bett«, flüsterte sie. »In meines? Aber gern.« »Nicht in deines«, sagte sie, »lieber in meines.« Schade, dachte er, nun kommst du wieder nicht an den verdammten Streifen heran. Wenn es jetzt noch regnet, dann löst sich das Papier auf, ehe es auf Nimmerwiedersehn in die Kanalisation geschwemmt wird. Falls es noch da ist und es kein Lochschreiber sondern ein Druckschreiber war, dann ist die Schwärze weggewaschen. Als sie auf die Straße kamen, duschte es tatsächlich in Strömen. Urban hängte seine Jacke über Miriams dünnen Fummel, brachte sie zu seinem Wagen und fuhr sie nach Hause. Die Nässe hatte sie etwas aufgeweckt. Vor seinen Augen zog sie sich aus. Sie streifte die angeklebte Seide von der 114
Haut und ging ins Bad. Als sie herauskam, hatte sie gar nichts mehr an. »Was stehst du herum«, rief sie. Er drückte die Zigarette aus und Miriam an sich. Dann sank sie aufs Bett, küßte ihn und schlief ein. Noch ehe sie ganz weg war, flüsterte sie: »Mach, was du gerne machst. Ich spür’s schon irgendwie!« Er wartete, bis ihre Atemzüge regelmäßig gingen, dann ging er ans Werk. Er zog die Schiebetür auf, kletterte über das Terrassengitter auf das Dach, robbte ein Stück, beugte sich weit vor bis er vierzig Meter Tiefe vor sich und die Dachtraufe in Armweite hatte. Vorsichtig fischte er den Telexstreifen aus dem Gitter. Eine mühsame Arbeit. Er bekam immer wieder Fetzen. Mal schaffte er einen Meter, dann wieder nur ein handlanges Stück. Als er sicher war, daß er alles geborgen hatte, brachte er den Papierschlangenknäuel ins Badezimmer, entwirrte ihn, hängte ihn über die Leine neben Miriams Höschen und trocknete es vorsichtig mit dem Föhn. Miriam schlief wie ein schwarzgelockter Engel. Nach einer Stunde hatte Urban das Streifenpapier Soweit, daß er die rund sieben Meter um ein Papiertaschentuch rollen konnte. Es ging auf vier Uhr. Bald würde die Sonne aufgehen. Er legte sich neben Miriam. Später, als sie erwachte, sagte sie leise: »Es war schön mit dir. Aber irgendwie nicht genug.« Kein Wunder, dachte er und nahm sie in den Arm.
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Stunden später hatte Bob Urban Miriam vergessen. Die räumliche Trennung half ihm dabei. In Europa konnten tausend Kilometer Distanz eine andere Welt bedeuten. Urbans Welt sah aus wie ein Großraumbüro, fensterlos vollklimatisiert und mit kaltem Neonlicht, das jedes Gesicht grau färbte. Er befand sich in der technischen Abteilung des BNDHauptquartiers tief unter Pullachs Erde. Dort werteten die Experten den Telexstreifen aus. Zunächst schien das nicht besonders schwierig zu sein. Die Punkte waren nach dem internationalen System gesetzt und ergaben Buchstaben und Ziffern. Trotzdem seufzte der Experte kopfschüttelnd. »Leider alles chiffriert«, sagte er, »und die Chiffrierung wurde, wie mir scheint, noch einmal überchiffriert.« »Dann ist der Text brisant.« »Aber es kostet Zeit« »Und die kann uns teuer zu stehen kommen.« Professor Stralman, Chef der Abteilung, vergrößerte das Team um weitere drei Mann. Auch sie saßen recht unglücklich über der Buchstaben-Ziffernfolge, die keinen Sinn ergab. Der Oberauswerter wandte sich an Urban. »Jeder noch so winzige Beitrag könnte uns helfen, die Nuß zu knacken. Um was geht es deiner Meinung nach bei den Fernschreiben?« »Das will ich von euch wissen«, erwiderte Urban. »Aber du hast doch Spuren. Sag irgendwas, wirf etwas in die Diskussion und sei es noch so unsinnig.« »Der Telexempfänger tarnte sich als Seefrachtenmakler«, erwähnte Urban. »Einige der Wörter könnten die Namen großer Seehäfen sein.« Der Dechiffreur notierte eine Reihe davon. »Hamburg«, zählte er auf, »London, Southhampton, Mar116
seille, Baltimore, Frisco, Rio, Singapore, Hongkong, Bombay. Geht nicht, sind alle zu lang oder zu kurz. Auf dem Telex kommt immer wieder ein Fünfbuchstabenwort vor. Die meisten Namen haben entweder mehr als sechs oder nur drei Buchstaben wie Rio.« Urban steckte sich eine MC an und dachte nach. Konzentration brachte nicht immer etwas. Manchmal überkonzentriert man sich, und die Gedanken verfingen sich heillos ineinander. Er ging ins Casino, trank einen Mokka, fuhr wieder ins Basement und sagte: »Vielleicht ein Schiffsname.« »Ein Name, der mit einer Havarie, einem Seenotfall oder ähnlichem in Verbindung steht«, ergänzte der Experte. »Versuchen wir es mal so herum.« Sie fragten den Computer ab, in dem alle größeren Unfälle mit Schiffen, Flugzeugen, oder Eisenbahnen in den letzten Jahren abrufbereit gespeichert waren. Der Computer schrieb Tankerzusammenstöße aus, eine mysteriöse Geschichte von neuartigem Frachtraub und einiges mehr. »War etwas mit dem Tanker Santa Cruz in letzter Zeit«, meinte der Experte. »Santa Cruz hat aber auch neun Buchstaben.« »Der Fall Santa Cruz ist passe«, erklärte Urban. So lautete seine Meinung um 17 Uhr. Schon um 17 Uhr 25 sah alles ganz anders aus. Das war die Minute, als er über Rundsprechanlage gesucht und dringend in die Operationsabteilung gerufen wurde. * Sein Chef, Oberst i.G.a.D. Sebastian, empfing ihn in einer Mischung aus Euphorie und Aschermittwochstimmung. »Jetzt ist es raus«, sagte er. 117
Urban schaltete intuitiv. »Hat es vielleicht fünf Buchstaben?« Der Alte zählte mit den Fingern und nickte. »Woher wissen Sie das schon wieder? Sie ließen sich in Mallorca doch bloß die Sonne auf den Bauch scheinen. – Übrigens, Sie werden dick.« »Leider ein Pfund zugelegt«, bedauerte Urban. »Fünf Buchstaben also. Vielleicht ein Schiff?« »Sie sind ein Bastard, Nummer achtzehn. Es ist wirklich ein Schiff. Name Orkus.« Jetzt wurde Urban echt neugierig. Aber wie immer trieben sie ihr Spielchen eine Drehung weiter. »Ein Tanker.« »Supertanker.« »Mischte Lucio Borghetto mit?« »Dachte, der ist tot und aus dem Rennen. – Nein, Borghetto ist ganz kalt.« »Wird es bei Andrei Korsakoff heißer?« Halb stimmte der Alte zu. »Verstehe ich nicht ganz«, sagte Urban. »Korsakoff ist von uns als der entlassene SIFA-Agent Filo Nazzarini enttarnt worden. Daß Nazzarini diesen Borghetto insgeheim unter Kontrolle hatte, ist mir klar. Er hatte sogar dessen Kommunikationsmittel Telefon und Telex angezapft. Sehr geschickt übrigens, absolut perfekt. Aber daß er in Borghettos Geschäfte eingestiegen sein soll, scheint mir unglaubhaft. Sollten sie es wirklich nicht lassen können, diese Burschen.« »Könnten Sie es denn lassen?« fragte der Alte. »Wenn man Sie aufs Altenteil abschiebt?« »Oder feuert«, wollten Sie sagen. »Ich habe eine fast reine Weste, Großmeister.« »Bis auf die Leiche, die jeder im Keller hat«, ergänzte der Alte. »Nun, zurück zu Nazzarini. Jetzt halten Sie sich fest, 118
mein Lieber. Ihre alten Kollegen Caine, Clark und Nazzarini haben offenbar wieder ein Team gebildet.« »Und die Orkus gekapert?« »Was da im einzelnen gelaufen ist«, fuhr der Alte fort, »weiß man vielleicht in der Zentrale von MI-6 London. Wir können es nur rekonstruieren. Der Tanker Orkus hat mit Geheimfracht seinen Heimathafen Kallinn am Finnischen Meerbusen verlassen. Als er die Ostseeausfahrt zwischen Dänemark und Schweden passiert hatte, wurde er auf Tortuga umgetauft.« »Recht witzig«, kommentierte Urban, »so konnte man gleich vier Buchstaben vom alten Namen übernehmen, indem man aus dem K ein T machte.« »Die sowjetische Handelsflagge wurde eingeholt und gegen eine panamesische ausgetauscht.« »Führung einer falschen Flagge ist schon ein internationales Delikt.« Der Alte, winkte mitleidig ab. »Wen kümmert das, jetzt, wo das Schiff vermißt wird? Es lief angeblich in den Nordatlantik mit Kurs auf die Shettland-Inseln. Dann nahm es Kurswechsel vor. Um Nordschottland herum. Und plötzlich, in einer Nacht, verschwand das Schiff.« Urban fand es reichlich komisch, lachte aber nicht, weil er schon ganz andere Sachen erlebt hatte. Warum sollte nicht ein Tanker verschwinden können, selbst in europäischen Gewässern, wenn schon ganze Schlachtschiffe verschwunden waren. »Der Tätergruppe«, bemerkte Urban vorsichtig, »ging es wohl kaum um das Schiff an sich.« »Sondern um die Ladung.« »Sie bestand nicht aus Öl. Es gibt keine Ölquellen in der hinteren Ostsee.« »Aber Waffen«, betonte Sebastian. 119
»Die zweitgrößte Massierung der russischen Rüstungsindustrie liegt zwischen Moskau und Gorki, dem alten Nowgorod.« Der Alte senkte jetzt seine Stimme, obwohl die Operationsabteilung nicht abgehört werden konnte. »Ein britischer Agent hat in Kallinn den Umbau des Tankers zum Transporter für Schwerstwaffen beobachtet. Sie füllten seinen Rumpf mit langen Güterzügen voller Panzer, Transportlastwagen, Flakwaffen, Haubitzen, Munition et cetera. In ein Schiff von vierhunderttausend Tonnen Ladekapazität bringt man schlank die Ausrüstung von zwei Kampfdivisionen unter.« »Plus Treibstoff, Munition und Proviant für zehn Tage Krieg«, ergänzte Urban. »So sieht das also aus. Aber wohin soll das Zeug gehen? Welchen neuen Krisenherd hat die UdSSR anvisiert?« »Da haben wir einiges zur Wahl, von den Kurilen bis El Salvador.« Urban stellte halblaut eine Überlegung an. »Waffen bringen auf dem internationalen Markt natürlich mehr Geld als Erdöl, wenn die Vermarktung zugegebenermaßen auch umständlicher ist.« »Und gefährlicher«, fügte der Alte hinzu: »Lebensgefährlich mitunter, nur ein Geschäft für Leute ohne Nerven oder für Gangster.« »Da dachte man gleich an die Firma Clark, Caine & Nazzarini.« Nun spielte Sebastian seinen Joker aus. »Man dachte an sie, aber anders, als Sie annehmen.« Sebastians Gesicht entnahm Urban, was jetzt kam. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten…«, setzte er an. »Lord Babington behauptet es.« »Daß Clark, Caine und Nazzarini weiterhin für ihre alten Organisationen arbeiteten, wie es seit eh und je der Fall war, 120
daß es darin gar keine Unterbrechung gab, und daß man sie nur pro forma feuerte.« »Richtig. Indem man ihnen die Santa Cruz Geschichte unterschob.« Urban begriff. »Damit versuchte man die wahren Täter in Sicherheit zu wiegen. Clark, Caine und Nazzarini tauchten ab und hatten im Untergrund mehr Glück als vorher.« Mit einemmal bildete sich in Urbans Magen eine kloßartige Zusammenziehung. Sie entstand meist vor Eintreffen einer schlimmen Nachricht. »Oder sie hatten ebensolches Pech wie damals im chinesischen Meer«, tippte Urban. Damit hatte er die offene Wunde getroffen. Der Oberst bestätigte es. »Clark, Caine und Nazzarini sind verschwunden. Seit ihrem letzten Funkkontakt mit London werden sie vermißt. Eine Suchaktion nach ihnen ist aus vielerlei Gründen nicht durchführbar. Einmal, weil man ihr Operationsgebiet nicht genau kennt, zweitens, weil so eine Maßnahme auffallen und sie nur noch mehr gefährden würde.« In diesem Punkt zeigte sich der Alte recht gut informiert. »Das haben Sie von Babington?« »Er rief vor wenigen Minuten an.« »Dann wollte er etwas von uns. Immer wenn sie etwas wollen, werden sie gesprächig. Aber meistens erst, wenn es zu spät ist.« »Sie tippten an, ob wir etwas für Caine, Clark und Nazzarini tun können. Ich fragte, wie sie sich das vorstellen. Der Fall liegt weit abseits unserer Interessen. Babington gab jedoch der Hoffnung Ausdruck, daß wir, das heißt Sie, Nummer achtzehn, mehr wissen als wir zugeben.« »Dann hat mich einer von den MI-6-Leuten in Mallorca gesehen.« 121
»Würde Sie das wundern?« »Mich wundert gar nichts mehr«, gestand Urban, »aber helfen können wir ihnen nach dem jetzigen Wissensstand auch nicht. Es sei denn…« »Der Name Orkus bringt uns weiter.« »Ich gebe es an die Dechiffriergruppe durch«, erklärte Urban. »Sie sollen Druck machen. Ihre Kollegen Caine, Clark und Nazzarini stehen wahrscheinlich noch mehr unter Druck.« »Ich weiß«, sagte Urban, »was alles möglich ist, ich bin nicht von gestern.« * Das Team der Dechiffrierabteilung zeigte, was es gelernt hatte. Mit den Worten Orkus und Tortuga und den jeweiligen Symbolen für insgesamt acht verschiedene Buchstaben gelang es ihnen, den Fernschreibtexten beizukommen. Doch das Ergebnis der langen Nacht gab ihnen weitere Rätsel auf. »Callgirl«, las der Teamchef der Schlüsselexperten vom Blatt. »Wir kommen immer wieder auf Callgirl.« »In welchem Zusammenhang?« wollte Urban wissen. »Callgirl muß der Deckname für den Ort sein, an den die Tortuga gebracht werden soll. Für das Entladekommando trägt der Empfänger Sorge.« Urban war einem herzhaften Fluch nahe. »Callgirl«, murmelte er, »über den Sinn des Wortes komme ich nicht weiter. Ein Callgirl ist ein Mädchen, das man per Telefon ruft, und das normalerweise seinen Körper für Geld verkauft. Wenn man von einem Callgirl auf einen bestimmten Seehafen schließen wollte, dann kann ich nur fragen, in welchem Hafen gibt es keine käufliche Liebe. 122
Doch nur in einem Hafen, in dem es keine Matrosen gibt, und so einen, Hafen kenne ich nicht.« »So läuft es also nicht«, sagte der Techniker. »Suchen wir also einen Hafen, der unter Seeleuten einen Spitznamen hat, der ähnlich wie Callgirl lautet«, schlug Urban vor. Die Computerkartei wurde bemüht. Sie fragten sie nach allen Richtungen ab. Über Callgirl in Verbindung mit einem Seehafen hatte er nichts gespeichert. »Und ein Binnenhafen kommt nicht in Frage«, erklärte Urban. Das Expertenteam war der Resignation nahe. Da hatte Urban noch einen Einfall. »Laßt uns nach einem Hafen suchen, der so ähnlich wie Callgirl klingt. Vielleicht ist es eine Verballhornung oder ein Code innerhalb des Codes.« Da der Tanker in europäischen Gewässern verschwunden war und in der Zeit seit seinem Verschwinden auch keinen überseeischen Hafen erreicht haben konnte, konzentrierte sich die Suche auf Schottland, Irland und die Atlantikhäfen Frankreichs, Spaniens und Portugals. Möglicherweise kam auch noch Nordafrika in Frage. Also bezogen sie Marokko im Süden und Island im Norden als entferntesten Anlaufpunkt in ihre Fahndung ein. Aber Callgirl blieb weiterhin negativ. In den Abteilungen wechselten die Schichten. Nur Urban wurde nicht abgelöst. Am Morgen war er so fertig, daß er sich in sein Büro begab und aufs Sofa legte. Sie sollten ihn wecken, sobald sie etwas gefunden hatten. Und sei es nur eine einzige Silbe.
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Bob Urban wurde von Oberst Sebastian, der kurz nach Dienstbeginn aus der Operationsabteilung herüberkam, wachgerüttelt. »Jetzt wird es heiß.«, rief der Alte. »Die heiße Phase hat eingesetzt.« »Die Russen?« fragte Urban. »Die Eigentümer des Schiffes«, umschrieb es der Chef vorsichtig, »werden wepsig. Kein Wunder. Schätze, die Tortuga hat sich seit Tagen nicht mehr über Funk gemeldet. Sowjetische Fernaufklärer wurden bis weit in den Mittelatlantik hinaus gesichtet. Einige haben sogar unerlaubt fremdes Territorium überflogen. Die Regierung in Reykjavik hat schon protestiert.« »In deren Haut möchte ich nicht stecken«, sagte Urban. »Der Tanker fuhr unter panamesischer Flagge. Nicht einmal internationale Piratenbanden können sie schwerlich beschuldigen, ohne sich zu verraten.« »Sie werden sich andere Tricks einfallen lassen.« Urban nahm einen Schluck Kaffee. Der Kaffee stand schon seit Stunden da und war eiskalt. »London hat wieder angefragt, ob wir helfen können«, fuhr der Alte fort. »Es liegt nur an Callgirl«, berichtete Urban und weihte den Chef in ihre Probleme ein. »Callgirl kann die Lösung sein. Callgirl ist die Ortsangabe, wo man die Orkus-Tortuga vielleicht findet. Sicher ist es natürlich nicht« Sebastian ging mit Urban in den Kartenraum der Operationsabteilung, wo er vom Diamagazin die Europakarte abrief. Nachdenklich standen sie vor der wandgroßen Projektion. »Kann sich hinter Callgirl ein Ortsname verstecken?« fragte Sebastian. »Da sind wir ziemlich sicher.« »Oder Koordinaten auf See?« 124
»Das ist unwahrscheinlich. Alle nur möglichen Ziffernkombinationen ergaben keinen Sinn.« »Callgirl«, wiederholte der Alte. »Unter der roten Laterne von Sankt Callgirl.« Plötzlich trat Urban an das Schaltpult, wo man Kartenausschnitte, aber auch Vergrößerungen wählen konnte. Er betätigte ein paar Knöpfe und Drehschalter. Das Kartenbild veränderte sich. Es war als schwenke eine Kamera von Frankreich langsam hinaus über den Ärmelkanal um die Landspitze von Cornwall herum durch den St. Georgs Canal bis zur irischen Küste bei Dublin, dann nordwestlich weiter quer über die grüne Insel, bis zu einem Punkt der stark zerklüfteten UlsterKüste. In Wirklichkeit war es keine Kamerafahrt. Nur der Projektionsrahmen mit dem Dia hatte sich auf die vorgewählte Position verschoben. Urban gab maximale Vergrößerung und Schärfe. Dann trat er wieder an die Wand heran. »Carrigart«, rief er und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf einen wildverzweigten flaschenartigen Sund. »Carrigart«, wiederholte der Oberst, »ist nicht Callgirl.« »Orkus ist auch nicht Tortuga.« »Sie haben abermals ein paar Buchstaben verändert.« »Aber diesmal war es die andere Seite.« Sofort ließ Urban alles heraussuchen was über das Sundsystem von Carrigart zu bekommen war. Flußkarten, Segelhandbücher, Luftaufnahmen, Gezeitentabellen, Fahrwasserinformationen.« »Schwer da reinzukommen mit einem Fünfhundertmeterschiff«, meinte er, »aber andererseits wäre es unauffällig. Die Iren planen, dort eine Raffinerie zu errichten. Ein Tanker ist im Carrigart heute nichts Außergewöhnliches mehr.« 125
»Sie werden Lotsen einsetzen«, bemerkte der Alte. »Die besten Lotsen, die IRA auftreiben kann. Wenn im Carrigart die Waffen entladen werden, dann nicht für die reguläre irische Armee, sondern für die irisch republikanische Befreiungsarmee, oder eine ihrer Extremgruppen. Die lassen doch nicht locker, bis die Engländer endlich aus Nordirland rausgeworfen sind.« »Dann knallt es dort bald wieder«, fügte der Oberst hinzu. »Aber nicht nur aus dem Hinterhalt mit selbstgebastelten Höllenmaschinen.« Sie blickten sich stumm an. Der Oberst sagte: »Bei aller Sympathie für die alten Freunde, die Iren und ihre Probleme, aber ein Krieg da oben kann ans Eingemachte gehen. »Clark, Caine und Nazzarini wollten es verhindern.« »Und sind gar schon tot.« »Vielleicht«, sagte Urban. Eine Stunde später war Bob Urban unterwegs Richtung Westen. 12. Der Schiffsname, der ehemals Orkus war, dann in Tortuga geändert wurde, lautete jetzt Toronto. So prangte er beiderseits des Bugs und am Heck des Tankers. Um die Täuschung perfekt zu machen, hatte man die kanadische Flagge mit dem Ahornblatt aufgezogen, während der irische Lotse das riesige Schiff durch die enge Sundeinfahrt steuerte. Wahrhaft eine Millimeterarbeit. Beiderseits der Fahrrinne hatte das Schiff noch dreißig Meter Wasser. Für einen Tanker, der nur äußerst träge auf das Ruder ansprach, mehr als ein waghalsiges Unternehmen. 126
Aber das Kunststück, ihn ohne Schlepperhilfe von See herein in den Sund zu bringen, gelang. Nach einer schier endlosen Auslaufstrecke von fast einer Meile kam der Tanker zum Stehen. Bevor er an dem provisorischen Pier festgemacht wurde, mußte das Schiff noch gedreht werden. Dies war nur mit Hilfe des Bugstrahlantriebs, über den alle russischen Großschiffe verfügten, möglich. Die Drehung des Tankerbugs Richtung See nahm gut zwei Stunden in Anspruch. Danach gingen Leichter längsseits und die Arbeiten begannen. Entladen wurde nur während der Nachtstunden. Bei Tag ruhte jede Tätigkeit auch die Leichter und Frachtkähne legten von der ›Toronto‹ ab und suchten ihre Verstecke auf. Daß das große Schiff offen in Carrigart lag, nahm man in Kauf. Auf Wegen, die die IRA offenbar im Griff hatte, waren behördliche Genehmigungen für Manövrier- und Navigationstest mit Großtankern beantragt und auch genehmigt worden. Daß die Sache nicht näher geprüft wurde, dafür wiederum sorgten die Verbindungsleute bei den Ministerien. So wäre wohl die gesamte Ladung in die Hände der Rebellen gelangt, wenn nicht am Abend des 22. September, einen Tag nach Ende des Sommers, ein kleines Sportflugzeug den Carrigart-Sund bis in die letzten Winkel abgeflogen hätte, um bei Sonnenuntergang wieder Richtung Londonderry zu verschwinden. * Nach der Landung auf dem britischen Militärfliegerhorst von Londonderry sagte der BND-Agent Bob Urban. »Irrtum ausgeschlossen. Ich habe das Schiff.« »Es liegt aber jenseits der Grenze. Da sind uns die Hände gebunden, Sir.« 127
»Freunde«, antwortete Bob Urban daraufhin, »entweder ihr riskiert, daß ein Tankerbauch voller Waffen an die IRA geht, oder ihr unternehmt etwas.« »Bewaffneter Einsatz ist bei der sensiblen Republik-Iren unmöglich.« »Die IRA ist auch dort verboten.« »Aber sie hat überall Sympathisanten und wird insgeheim kräftig gestützt.« »Wenn es ruchbar wird, daß sich die IRA mit Sowjetwaffen versorgt, ist aber Kacke am dampfen.« »Man muß den Iren helfen, ohne daß sie es wollen und wissen.« »Zumindest«, betonte einer der MI-6-Strategen, »muß das Schiff aus dem Sund Richtung Atlantik. Wer es dort kriegt, ob die Russen oder Neptun, soll uns egal sein. Hauptsache, es ist schnellstens auf Hoher See und die drei Agenten sind gerettet. Wenn sie nicht schon tot sind.« »Also doch ein Kommandounternehmen«, warf Urban ein. Die Engländer winkten entsetzt ab. »Ohne uns.« »Habe ich«, fragte Urban, »wenigstens Ihre Unterstützung?« »Jede.« Er hatte weniger erwartet. Immerhin gingen sie das Risiko ein, daß sie ihm technisch halfen, wenn er für sie den Kopf hinhielt. »Dann los«, drängte er und nannte ihnen seine Anforderung, »garantieren werde ich trotzdem nichts.« »Unsere Männer in den Händen dieser Gangster und seien es nur ihre Leichen, stellen ein ungeheures Druckmittel dar.« »Ich kann ja noch bis drei zählen«, erwiderte Urban. 128
Bis 22 Uhr lag die angeforderte Ausrüstung bereit. Er hängte sein Glenchecksakko und die dunkelblaue Gabardinehose fein säuberlich über einen Militärkleiderbügel und diesen in einen Blechspind der britischen Highlanders. Von der Wäsche an kleidete er sich wie ein Fallschirmjäger. Bevor er das Trikot in die feuerfeste Unterhose stopfte, kam einer hereingestürzt. Er hatte etwas in der Hand, das wie eine Damenarmbanduhr mit weißem Lederband aussah. Das Band war innen mit Klebstoff beschichtet, die Uhr mehr ein Knopf aus Kunststoff. »Muß an den Oberschenkel, Sir«, forderte der Sergeant. »Wozu?« »Ist ein Lawinensender, Sir.« »Sergeant«, erklärte Urban, »ich begebe mich nicht ins Hochgebirge.« »Vorschrift, Sir«, blieb der altgediente Soldat hartnäckig. »Ich gehöre nicht zu Ihrer Armee.« »Egal, Sie beziehen unsere Kampfausrüstung, dann übernehmen Sie das Zeug auch bitte der Vorschrift gemäß, Sir, sonst bekomme ich Schwierigkeiten.« Urban kannte die Funktion dieser Lawinensender, mit denen man Verschüttete aufspüren konnte. Der Sergeant erklärte sie ihm noch einmal, dazu Reichweite und Frequenz. »Also meinetwegen, wenn es Sie glücklich macht«, seufzte Urban. »Die Herren vom Voraustrupp hatten die Dinger auch bei sich, Sir.« Mit Voraustrupp umschrieb der Sergeant vorsichtig das Kommando Clark, Caine und Nazzarini. Urban fragte ihn, ob er auch sicher sei. »Absolut, Sir.« Das war immerhin eine Chance. »Dann geben Sie mir noch einen Peilempfänger mit.« »Sowieso, Sir«, beeilte sich der Sergeant, »der steckt 129
schon in der Brusttasche der Tarnjacke. Auf den eigenen Sender spricht der Empfänger nicht an. Gibt er tüttüttüt, sind Sie auf Empfang. Unter vierzig Meter Distanz bedeutet Dauertüt, daß Sie sich wieder vom Objekt entfernen. Ganz einfach.« »Ja, wirklich wunderbar«, bemerkte Urban. Er wurde eingekleidet wie ein Bühnenstar, der Richard den VIII. spielte, umsorgt von einem Garderobier, einem Maskenbildner, einem Friseur und einem Ausstatter, der für den richtigen Dolch im Gürtel sorgte. Sein Dolch war eine tschechische Scorpion MPi, die sich bei Spezialeinheiten großer Beliebtheit erfreute. Um 22 Uhr 30 war letzte Lagebesprechung. Egal wie es lief, in zwölf Stunden sollte ein Hubschrauber bereitstehen, um Urban herauszuholen. Falls er die Transportmöglichkeit nicht wahrnahm oder wahrnehmen konnte, sollte der Hubschrauber zwölf Stunden später noch einmal, also um Mitternacht des 23. September, in der Nähe des Tankers heruntergehen. Die Funkfrequenzen wurden vereinbart, ebenso Blinkzeichen oder Notsignal mit der Sternpistole. Um 23 Uhr brachte ein Motorradfahrer auf einer SpezialHonda-Geländemaschine Bob Urban heimlich über die Grenze zum Carrigart-Sund. Die Luftlinie maß nur 21 Meilen. Da sie Umwege um die Grenzposten machen mußten, dauerte die Anfahrt bis 01 Uhr. Dann hockte Urban auf einer Anhöhe des Carrigart-Sunds. Über ihm war der bewölkte Nachthimmel, unter ihm das Schiff. So lang, als nähme es kein Ende. Die Enduro-Geländemaschine entfernte sich knatternd über die Berge. Urban hatte nicht einmal Verlangen nach einer Zigarette. 130
Womit mußt du rechnen, fragte er sich, und verweigerte sich hartnäckig die Antwort. Lautlos setzte er sich in Bewegung. Zunächst kletterte er den mit dornigem Gestrüpp und Ginster bewachsenen Abhang bis zum kiesigen Strand hinab. In Deckung der Büsche, der Mond kam jetzt heraus, näherte er sich dann dem Liegeplatz des Tankers. Die Stelle, wo sie das riesige Schiff vertäut hatten, lag an einem lippenartig vorspringenden Geländestück mit Anleger. Unmittelbar dahinter begann tiefes Wasser. Urban schätzte, daß hier einmal Kalk abgebaut worden war. Gegen den Horizont sah er die Umrisse von mehreren Fahrzeugen. Vermutlich handelte es sich um schwere Autokräne, mit denen sie die Ladung aus den Luken holten. Quer zum Heck des Tankers lag ein Flußkahn und seitlich in der Mitte der Orkus hatte man eine massive Treppe aus Brettern und Balken gezimmert. Sie führte, eine kurze Brükke bildend, vom Anleger an Oberdeck. Nicht eine einzige Lampe brannte. Man sah keine Zigarette glimmen und hörte kein Geräusch. Urban hatte damit gerechnet, daß die Entladearbeiten bei Dunkelheit begannen und am Morgen aufhörten. Aus Gründen, die er nicht kannte, hatten sie das Programm geändert. Er gelangte über den Anleger bis zu der hölzernen Gangway. Dort sah er eine einmeterachtzig hohe Säule, die sich gemessen auf und ab bewegte. – Ein Wachposten, Es war unmöglich, unbemerkt an diesem Mann vorbei über die Treppe zu kommen. Also turnte Urban durch das Gebälk hoch. Die Latten knarrten, etwas polterte unter ihm weg. »Hallo wer da!« rief der Posten von oben. »Hast du mal Feuer?« fragte Urban und turnte im selben Moment über die Reling. Arglos suchte der Posten in der Tasche nach Streich131
hölzern. Blitzschnell riß ihm Urban das lockerhängende Gewehr samt Riemen von der Schulter und besorgte mit einer kurzen harten Kolbenbewegung den Rest. Der Posten riß eine Grimasse, als erzähle man ihm einen makabren Witz und sackte gegen den Lüfter. Urban stellte ihn mit Klebeband ruhig und schlich weiter an Deck entlang. Das Schiff war kriegsmäßig abgedunkelt, aber in seinem Inneren herrschte Leben. Von der Back her, wo es offenbar eine Mannschaftsunterkunft gab, hörte Urban Lärm, Gelächter und Gegröle wie es Männer von sich gaben, die Karten spielten und dazu einen hoben. Beim Näherkommen sah er, daß sie unter einer Zeltplane saßen, rauchten und Bier aus Büchsen schlürften. Für zwei Männer verhielten sie sich ziemlich laut. So konnte er sich ihnen bis auf wenige Schritte nähern. Während er noch überlegte, wen er als ersten annehmen sollte, drehte sich der im Isländer-Pullover um. Sie blickten sich kurz in die Augen, eine Zehntelsekunde vielleicht, dann schlossen sich die Augen des Tankermatrosen. Ohne den Kolbenschwinger abzubremsen, schaltete Urban damit auch den zweiten aus. Die Fesselung nahm bedeutend mehr Zeit in Anspruch. Dann hatte er den Weg ins Buglogis frei. Er tastete sich den Niedergang hinab und hörte hinter einem Stahlschott Stimmen. Aber das Schott war von außen mit einem Vorhängeschloß versperrt. Demnach waren in dem Verlies die drei Agenten oder die russische Stammbesatzung des Tankers. Urban horchte auf das Lawinensuchgerät. Es gab keinen Laut von sich. Doch das war keine Garantie. Vielleicht hatte man ihnen die Impulsgeber abgenommen. Da er sicher gehen wollte, machte er kehrt, um sich erst achtern umzusehen. Ein normaler Spaziergänger brauchte 132
auf so einem Supertanker vom Bug bis zum Heck gut fünf Minuten. Deshalb gab es überall Fahrräder. Urban sah eines stehen, pedalte nach achtern, aber nur bis zur letzten Lüftergruppe. Wieder hörte er gedämpfte Männerunterhaltung, die jedoch weitgehend vom Rattern des Lichtmaschinendiesels übertönt wurde. Noch vorsichtiger betrat er den siebenstöckigen Heckaufbau durch ein angelehntes Schott, orientierte sich und verschwand, weil er Schritte hörte, erst einmal eine Etage tiefer. Im ersten Unterdeck bekam er Küchenduft in die Nase. Es roch nach Corned-beef mit Zwiebeln. Auch hörte er das Gebläse eines Ölofens surren. Und gleichzeitig registrierte er das Ansprechen des Lawinenempfängers. Das zaghafte Tüt-tüt hörte auf, als er nach Achtern weiterging. Also machte er kehrt. Das Signal verstärkte sich. Am Niedergang nahm er die Treppe nach unten. Wieder schien es ihm, als sei das Signal lauter geworden. Im Dunkeln vorwärtstastend fand er die Riegel eines Schotts und öffnete sie. – Nichts als ein leerer Raum mit Farbfässern. Plötzlich wurde gegen die Stahlwand gehämmert. Man hatte wohl gehört, daß jemand das Schapp betreten hatte. Eine Minute später fiel das Licht von Urbans Lampe auf die reichlich unrasierten Gesichter von drei bis auf die Unterwäsche entkleideten Männern. »He, gibts endlich was zu futtern?« fragte einer mit italienischem Akzent. Es war ein Trick. In dem Augenblick, als sich von der Seite her einer auf Urban stürzen wollte, gab sich Urban zu erkennen. »He«, zischte er, »ihr seid ja noch die alten. Ihr gebt also nicht auf.« 133
»Wir waren nur eine Minute lang unvorsichtig«, sagte Caine, als sich sein Staunen über die unerwartete Befreiung gelegt hatte, »aber das wird niemals wieder passieren. Willkommen auf der Orkus, Dynamit.« * Sie versorgten sich notdürftig mit den Anzügen der von Urban ausgeschalteten Piraten. Caine übernahm das Gewehr des Gangwaypostens, Nazzarini erhielt Urbans englischen 45er und Clark die Handgranaten. »Sie haben Raketen an Bord«, sagte Caine bei der kurzen Lagebesprechung, »reichlich ein Dutzend SS-19 und sogar Atomsprengköpfe.« »Dann muß das Schiff raus auf See.« »Und dort auf Grund.« »Zuerst kassieren wir die Piraten«, schlug Urban vor. »Wie viele schätzt ihr?« »Ein Dutzend. Mit weniger Leuten ist so ein Schiff nicht zu fahren.« Sie verteilten sich entsprechend. Als sie sicher waren, daß sich der Rest der Piraten in der Offiziersmesse aufhielt, besetzten sie die zwei Türen und den Ausgang zur Pantry. Auf Urbans Pfiff traten sie die Türen ein. Maßlos erstaunt über den unerwarteten Besuch hoben acht oder neun Mann die Hände. Einer faßte in Deckung seiner Kameraden zur Hüfte. Caine erkannte es und mähte ihn mit dem Gewehrlauf zu Boden. »Vorsicht!« schrie Clark. Im Halbdunkel der Pantry entstand Bewegung. Etwas silbrig Blitzendes flog in gestreckter Flugbahn quer durch die Messe. Urban sah es auf sich zukommen. Er vollführte noch eine rasche Körperdrehung um dem Wurfmesser zu ent134
kommen. Eine Handbreit fehlte, und es wäre an ihm vorbei in das Teakholzpaneel geflogen. So aber steckte es in seiner Schulter. Erst spürte er gar keinen Schmerz. Er fühlte nur, wie es warm aus der Wunde unter der Tarnkleidung zur Achsel sickerte. Das Messer wäre in den Brustkorb gegangen, wenn er nicht so rasch reagiert hätte. Instinktiv feuerte Urban eine Warnsalve zur Decke. Dann herrschte eisige Stille. »Madonna, hast du Schwein gehabt«, sagte Nazzarini. Er zog Urban das Messer aus der Schulter, riß ein Armeeverbandspäckchen auf, stopfte ihm das blutstillende Knäuel in den Schnitt und überklebte alles. »Wird es gehen?« fragte Caine. »Es muß.« Urban verbiß den Schmerz, der jetzt hochkam. Routiniert fesselten sie die Piraten. Zwei von ihnen, sie unterschieden sich auch in der Kleidung von den anderen, glaubte Urban zu kennen. Das mußten die Bosse sein, die Teamchefs, die gemeinsam mit Borghetto die Sache organisiert hatten. »Achtet besonders auf die in den hellen Lederjacken«, wandte sich Urban an Clark. »Das müssen Kennotzky und Triborg sein.« »Das sind Kennotzky und Triborg«, bestätigte Clark, »die uns in der Santa-Cruz-Sache leider aufs Kreuz legten. Und ganz traurige Gesichter machen sie, weil Borghetto in Mallorca erschossen wurde. Mit Borghetto am Steuer wäre ihnen so ein Desaster wie heute gewiß nicht passiert.« Kaum zu glauben, überlegte Urban, was so eine Ehegeschichte alles bewirken kann. Eine Frau tut einen Schritt vom Wege und am Ende hat es hochpolitische Auswirkungen. Seine Wunde stach und tobte. Du mußt es zu Ende kriegen, dachte er, möglichst schnell. 135
Kennotzky wehrte sich gegen die Fesselung mit Speziallassoband, aber er mußte die Schmach über sich ergehen lassen. Der rothaarige Triborg aus Kopenhagen fluchte. »Das nächstemal seid verdammt ihr wieder dran.« Clark winkte ab. »Ab sofort bist du keine Figur mehr in irgendeinem Spiel. Ein nächstes Mal gibt es nicht für dich.« Da von den Experten der Piratengang nicht zu erwarten war, daß sie ihnen behilflich sein würden, den Tanker auf See zu bringen, mußten sie es anders versuchen. »Zu viert schaffen wir das nie«, befürchtete Jesse Caine, »obwohl Clark ein wirklich erstklassiger Schiffsingenieur ist und Dynamit, wie ich mich erinnere, sogar den Commanderrang der Marine begleitet.« Es ging nicht nur darum, die Leinen zu lösen und den Anker zu hieven. Ein moderner Supertanker war eine komplizierte Maschinerie. Außerdem waren ihnen die meisten der sowjetischen Anlagen fremd. Urban machte den einzig brauchbaren Vorschlag. »Die Russen«, riet er, »sollen ihren Dampfer gefälligst selbst in Bewegung setzen.« »Zu gefährlich«, äußerte Caine. »Ich weiß, wo man sie gefangen hält«, erwiderte Urban. »Wir lassen nur soviele Leute heraus wie wir unter Kontrolle halten können. Den Kapitän, den Ersten Offizier, den Leitenden Ingenieur, den Obermaschinisten, drei Matrosen.« Nazzarini stimmte dafür. »Okay, und wenn sie nicht wollen, dann blasen wir ihnen gewürfelten Kaviar in den Hintern.« * Es war ein riskantes Stück Arbeit, aber schließlich konnten sie die Russen dazu überreden. Drohungen, richtig plaziert, 136
brachten auch den charaktervollsten Mann dazu, daß er tat was man von ihm verlangte. »Dieses Schiff«, erklärte Urban, der am besten Russisch sprach, »enthält nicht nur Waffen für einen mittleren Krieg, sondern Atomraketen. Ich an eurer Stelle würde mich damit nicht in NATO-Gewässern erwischen lassen.« Schließlich gingen die Russen an die Arbeit. Die Hilfsdiesel wurden gestartet, Strom kam auf Spill und Winschen. Der Anker rumpelte herauf, die Leinen wurden losgeworfen, die Brückenelektronik wurde angewärmt. Dann polterte es dumpf aus der Tiefe des Schiffes, daß der ganze riesige Rumpf bebte. Der Hauptfahrdiesel war angesprungen. Die Schraube begann sich zu drehen. Der Bug schwoite nach backbord, das Stahlruder zog ihn ins Fahrwasser. Urban stand hinter Kapitän und Erstem Offizier, der das Ruder betätigte. Nazzarini hatte das Deck unter Kontrolle und Caine die Notbesatzung des Maschinenraumes. Clark saß im Funkraum und versuchte Kontakt mit der Einsatzbasis Londonderry herzustellen. Erst langsam, dann zügig, kam Fahrt in den Koloß aus hunderttausend Tonnen Stahl. Breitbeinig stand der Kapitän da, den Blick über das lange Schiff ins Fahrwasser gerichtet. »Es ist unmöglich«, sagte er, »ohne Lotsen. Bei Dunkelheit ist es unmöglich.« »Sie sind ein erfahrener Seemann. Sie haben die Seekarte, Sie haben Radar, Log und Lot«, entgegnete Urban, »benutzen Sie Ihre Scheinwerfer, wenn der Sund eng wird.« »Ich kenne das Fahrwasser nicht genau. Es weist Riffe auf.« »Besser Sie holen sich eine Beule oder ein Leck, als eine internationale Blamage. Schätze, Moskau wird es lieber sein, die Orkus sinkt mit Mann und Maus im Atlantik, als daß diese Geschichte aufkommt« 137
Irgendwie schien das der Kapitän zu begreifen. Ruhig gab er seine Kommandos an Maschine und an den Mann am Ruder. Die Distanz vom Ankerplatz bis zur Sunddurchfahrt und hinaus in die offene See betrug etwa sieben Meilen. Das Schiff machte jetzt fünf Meilen Fahrt. Schneller wäre zu riskant gewesen. Sie bohrten die Blicke ins Dunkel, bis sie schmerzten. Dann kam auch noch Nebel auf. Die Dunstschicht über dem Wasser wurde zusehends dicker. »Es ist sinnlos«, sagte der Kapitän, offenbar verzweifelt, draußen auf See warten britische Flotteneinheiten. Oder etwa nicht?« »Schon möglich«, räumte Urban ein. Das Radar zeigte an, daß sie sich jetzt rasch der schmalen Durchfahrt zwischen den Basaltfelsen näherten. »Maschine dreißig weniger«, gab der Kapitän an den Telegraphen. »Drehzahl bleibt«, befahl Urban, »bei neunzig.« »Wollen Sie, daß wir mit voller Wucht auflaufen?« »Volle Wucht oder halbe«, entschied Urban, »ist unbedeutend. Aber wenn das Schiff keine Fahrt macht, ist es nicht steuerbar. Wenn Sie dann auflaufen, liegen Sie fest bis zum Sankt Nimmerleinstag und nur noch der Schneidbrenner bringt Sie jemals von hier weg.« Schweren Herzens folgte der Kapitän dem Rat. Urban stand am Radar. Die Enge kam auf sie zu. Es war, als müsse man mit einem Bulldozzer durch eine Gartentür, ohne sie zu schrammen. Auch beim Näherkommen schien sich die Sundenge nicht zu erweitern. »Ruder mittschiffs!« »Mittschiffs liegt an!« bestätigte der Erste Offizier. Als sie schon in den Sund einliefen, sagte Urban. »Ich würde Ruder Backbord fünf gehen.« 138
»Ruder bleibt«, beharrte der Kapitän. »Kurs weiter null eins zwo Grad.« Die Felsen der Einfahrt, gut zweihundert Meter hoch, rückten näher, wuchsen wie Türme empor. Man konnte sie beinah riechen. Unendlich langsam wanderten sie an beiden Seiten des Schiffes vorbei. Und dann kam dieses Geräusch, das man nie vergaß, wenn man es einmal gehört hatte. Der Stahl des Schiffsrumpfes scheuerte, mit ungeheurer Wucht gegen scharfkantige Unterwasserfelsen gepreßt, daran entlang und riß dabei auf. Der schrille Ton pflanzte sich durch das Wasser bis an die Oberfläche fort. Das Schiff schrie wie ein lebendes Tier, das man langsam mit Knüppeln totschlug. Und dazu diese nervenzerrenden Erschütterungen, dieses Vibrieren, dieses harte Gegenschlagen und Aufkommen, dieses Poltern und Bersten. Plötzlich herrschte Stille. Nun brauchen wir die Flutventile nicht mehr zu öffnen, dachte Urban. Mehrere rote Lampen des Leckwarngerätes sprangen an. »Wassereinbruch auf sieben, neun, elf und vierzehn«, meldete der Offizier am Ruder. Der Kapitän blickte Urban an. »Aber Sie sind durch«, sagte Urban. »Gehen Sie auf volle Kraft, Kapitän.« Jetzt brauchte er eine Zigarette. * Urban machte einen Zug aus der Montechristo, warf einen Blick auf den Radarschirm, auf Kursanzeige und Drehzahlmesser. Es dauerte immer einige Zeit, bis ein so großes Schiff sank. Hinzu kam, daß die Orkus als Tanker gebaut war und über wasserdichte Längs- und Querschotten verfügte. 139
Andererseits war es Urban egal, was passierte, sobald sie tausend Meter Tiefe unter dem Kiel hatten. Er zog die Schiebetür zur Steuerbordnock auf, um im Freien, in der milden Herbstnacht, die Spannung abflauen zu lassen. Er glaubte, daß er es wieder einmal geschafft hatte. In der Schiebetür stand Clark. »Dachte, du bist im Funkraum?« »War ich«, sagte der Amerikaner. Urban fragte nicht weiter, weil hinter Clark der Italiener und neben dem Italiener der Engländer stand. Ihre Gesichter kamen ihm merkwürdig erstarrt vor. Wenig später erkannte Urban den Grund. Eine Reihe zurück waren dicht an dicht Männer mit Gewehren postiert, alle bis an die Zähne gerüstet, als hätten sie eine Waffenkammer geplündert. Kein Zweifel, das waren die Russen, die restliche Stammbesatzung der Orkus. »Wer hat sie rausgelassen?« fragte Urban leise. Plötzlich vernahm er eine bekannte Stimme von der anderen Brückenseite her. Er drehte sich um. Auch vierzig Meter entfernt, auf der Backbordseite standen Männer mit Kalaschnikows und Revolvern. »Ich«, wurde die Erklärung wiederholt, »habe sie herausgelassen.« Abgegeben wurde sie von einer Person kleinen Wuchses in einer Art Monteuranzug, der zwar nach den Maßstäben der Damenmode gefertigt sein mochte, seine Trägerin jedoch unförmig erscheinen ließ und entstellte. Urban hatte Miriam anders in Erinnerung. Trotzdem erkannte er das dunkellockige Geschöpf. Die Frau im Monteuranzug kam mit entsicherter Pistole auf ihn zu, legte dann aber die linke Hand fast zärtlich auf seine blutende Wunde. »Du bist verletzt, Roberto?« 140
»Daran stirbt man nicht.« Sie lächelte. »Ich starb auch nicht daran, als du mich in Mallorca plötzlich verließest.« »Wir beide sind auf Schmerzen trainiert, denke ich.« Die kleine Miriam, der nicht nur er sondern auch Nazzarini auf den Leim gegangen war und die die ganze Geschichte inzwischen wohl durchschaut hatte, betrachtete nachdenklich Urbans Blut an ihrem Finger. »Ich bin dir gefolgt«, sagte sie. »Du hattest einen klaren Auftrag.« »Nur den, Nazzarini zu überwachen. Meine Zentrale in Moskau wußte nicht was gespielt wurde. Man hegte nur gewisse Befürchtungen.« »Du bist mir gefolgt«, wiederholte Urban, »und ich merkte nichts davon. Ich fürchte, ich werde alt.« »Oder der KGB hat seine Agentenausbildung aufs Höchste verfeinert.« »Du hast deine Leute befreit«, stellte er fest. »Nachdem ihr mir die gröbste Arbeit mit den Piraten abgenommen hattet.« Urban trat neben den Rudergänger und las die Kompaßzahl ab. »Kursänderung?« fragte er. Miriam nickte. »Mit vier NATO-Agenten an Bord werdet ihr niemals durchkommen.« »Nein, es wäre nicht die reine Freude«, antwortete sie, »und wenn wir es mit Gewalt versuchten, würde man uns beschießen.« »Das kann ins Auge gehen mit dieser hochbrisanten Ladung an Bord.« Miriam bekam die kalten strengen Augen einer Frau, die Verantwortung trug. 141
»Deshalb vergessen wir jetzt rasch einiges«, schlug sie vor. »Wir rufen den Helikopter, ihr geht von Bord, als sei nichts gewesen, und wir setzen die Reise fort.« »Als sei nichts gewesen«, ergänzte Urban, holte aber erst die Zustimmung seiner Partner ein. »Nur Kennotzky und Triborg hätten wir gerne dabei gehabt«, forderte Caine. Miriam, die offenbar die Befehlsgewalt ausübte, begann zu verhandeln. »Gentlemen, ich halte es für verdienter, die beiden Herren bekommen zwanzig Jahre Strafarbeit in Sibirien aufgebrummt, als daß gerissene britische Anwälte sie gegen Kaution nach sechs Monaten wieder in die Freiheit boxen.« Niemand erhob Einspruch. Im Grunde war gegen diese Entscheidung nichts einzuwenden. Miriam wandte sich an Nazzarini: »Andrei Korsakoff«, sagte sie, »großer Casanova, großer Funktechniker, hättest du jetzt Lust, euer Lufttaxi zu rufen?« Nazzarini öffnete eines der großen Fenster von der Brücke zum Vorschiff hinaus. Man hörte das Singen einer Helikopterturbine und das schlagende Flattern von Rotorflügeln. Mit dem Landescheinwerfer leuchtete Jesse Caine den mittschiffs über Deck schwebenden WestlandTransporthubschrauber an. »Erteilen Sie Landeerlaubnis?« wandte er sich an Miriam. »Erlaubnis erteilt.« Der große MK-2 bekam das Blinkzeichen. Wenig später setzte er neben dem Sea-King der Piraten am Landekreuz des Tankerdecks auf.
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Miriam hatte nicht einmal adieu gesagt. Sie hatte nur die Hand zu einem lässig militärischen Gruß an die Mütze geführt, dann hatte sie die Leckagetrupps unter Deck gescheucht. Als der britische Armeehubschrauber abhob, setzte ein neues Geräusch ein und überdeckte den Lärm der Schiffsmaschine. Die Kreiselpumpen waren angesprungen, um die vollaufenden Abteilungen zu lenzen. Wieweit die Orkus mit dem aufgeschlitzten Rumpf kam, ob sie jemals ihr Ziel erreichte, Urban wußte es nicht. Es war ihm auch egal. Der Westland-Hubschrauber gewann Höhe. Auf neunhundert Fuß war es schon heller. Der frühe Morgen kündigte sich an. Urban fürchtete, daß seine verkrustete Wunde wieder aufgebrochen sei und neu zu bluten anfing. Kein Problem. In einer Stunde spätestens würde er beim Arzt sein. Unter ihnen furchte jetzt das mächtige Schiff nach Westen. Längst hatte es die Dreimeilenzone passiert und war, abgesehen von seiner Leckage, in Sicherheit. »Ob die Orkus es schaffen wird?« fragte Caine zweifelnd. »Sie werden alles tun, damit sie es schafft!« »Ich wünsche sie trotzdem zur Hölle.« »In den Orkus«, sagte Nazzarini, »mit der Orkus. Wie kann man ein Schiff nur Unterwelt taufen.« Die aufgehende Sonne schleuderte Strahlenblitze über den Himmel. Unter den Nachtwolken, die gerändert von diffusem Rosa am Himmel trieben, tauchte die grüne Küste Irlands wieder auf. Der Pilot beschrieb einen weiten Bogen nach Norden, um republikanisches Territorium nicht zu verletzen. Jesse Caine öffnete einen der Notproviantbehälter und fand darin eine runde braune Flasche. Sie trug ein weltbekanntes Etikett. Mit der flachen Hand gegen den Flaschenboden schlagend, trieb er den Korken heraus. 143
»Das Opfer des Vaterlandes NATO zuerst«, rief er und reichte Urban die Flasche. Urban setzte an und schluckte mit vollen Zügen, auch wenn Skotch nicht seine Marke war. Sie hockten in dem ratternden Helikopter, tranken Whisky, rauchten Navy Cut und grinsten sich an wie Honigkuchenpferde frisch aus dem Ofen. Und dies, obwohl jeder von ihnen auf irgendeine Weise lädiert war. Doch darüber verlor man keine Worte. »Okay«, sagte Urban, »noch einen Schluck für jeden. Wir sind ja alle so brav gewesen.« »Wie es unsere Art ist«, pflichtete ihm Caine bei. »Ihr habt euch wirklich benommen, als würdet ihr eure Großmutter zu einem Damenkränzchen begleiten«, spottete Urban. »Wie es unsere Art ist«, wiederholte der Amerikaner, nachdenklich zum Fenster hinausschauend. »Profis sind immer gleich.« Unter ihnen lag smaragdfarben die See. Hin und wieder kräuselte eine Bö darüberweg. »Immer stinkgenau gleich«, bestätigte Urban. »Das ist der Trick.« Auch Nazzarini steuerte seinen Senf bei: »Um aus einem guten Agenten einen Sieger zu machen, haben sie uns körperlichen Anstrengungen ausgesetzt, die wir für das Äußerste des Erträglichen hielten.« »Um uns beizubringen«, ergänzte Caine, »daß erst weit jenseits davon der Himmel beginnt.« Urban nickte zustimmend. »So ist es«, sagte er, während seine Schulterwunde blutete und die getrennten Nervenenden tobten, »du mußt lernen, den Schmerz zu überwinden. Aber vorher mußt du lernen, die Furcht vor den Schmerzen zu überwinden.« ENDE 144
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