Die Normalen
Roman
David Gilbert
Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte
Eichborn
Danksagung Marisa Pagano, Mauree...
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Die Normalen
Roman
David Gilbert
Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte
Eichborn
Danksagung Marisa Pagano, Maureen Klier, Ethan Dünn, Greg Villepique und Sara Mercurio bei Bloomsbury. Jessica Craig und Arlo Crawford bei Burns and Clegg. Colin Harrison und Nan Graham bei Scribner. Harry Groome und die netten Menschen bei Smith-Kline Beecham (vormals Glaxo); insbesondere den hilfsbereiten Kollegen in Philadelphia. Dr. Ed Rabiner. Max und Eliza Gilbert. Parker und Gail Gilbert. Amor Towles. Und schließlich den drei Menschen, die sechs Jahre lang um diesen Roman Wache saßen und nie gezweifelt haben, daß das Koma irgendwann beendet sein würde: Walter Donahue, Gillian Blake und Bill Clegg. Überlebt habe ich dank eurer Geduld, eurer Hilfe und eurer Bitten, nicht ins Jenseits zu gehen. Dank euch, besonders Bill. Und natürlich Susie.
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Originaltitel: The Normals Originalverlag: Bloomsbury, New York, USA Original ©: 2004 by David Gilbert © für die deutsche Ausgabe: Eichhorn AG, Frankfurt am Main, 2005 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Christiane Hahn nach einer Idee von Chip Kidd unter Verwendung eines Fotos aus »From 100 suns« von Michael Light © 2003 Lektorat: Doris Engelke Layout: Cosima Schneider Satz: Fuldaer Verlagsanstalt. Fulda Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-8218-5735-8 Verlagsverzeichnis schickt gern: Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, 60329 Frankfurt am Main www.eichborn.de
Für Susan Leness Gilbert
His mind is engaged in a rapt contemplation Of the thought, of the thought, of the thought of his name: His ineffable effable Effanineffable Deep and inscrutable singular Name. T.S.Eliot
1 DIE MAGEREN FLOSKELN bleiben sich immer gleich. Sally ... ich gehe ... Billy. Keine wirkliche Überraschung. Kein Drama. Kein Herzeleid. Schließlich zieht Sally nächste Woche weg, nach Cambridge immerhin, zum Studium an der Business School mit dem widerwärtigen Kürzel HBS. Billy macht sich einfach davon, na ja, er kommt ihr zuvor. Daß er es ohne Formalitäten und Hinterlassung einer Nachsendeadresse tut, wird sie wohl verzeihen, höchstens den Wegfall seiner Verpackungskünste bejammern. Also mach’s gut. Aber seine Handschrift treibt ihn zum Wahnsinn, sie schwankt zwischen Druck- und Schreibschrift, läppert sich über die Seite und quetscht sich am unteren Rand zusammen wie von epileptischen Krämpfen geschüttelt. Billy will Kalligraphie sehen, nicht dieses Hilfsschulgekritzel. Ein neues Blatt her! Noch eins! Liebe Sally klingt falsch, zu gewunden, zu förmlich. Leider sieht schief aus. Er tauscht die Stifte. Filz, Kugelschreiber. Vielleicht Bleistift? Hilft alles nichts. Einen Füller müßte man haben. Er gibt sich geschlagen, häuft die verschiedenen Anläufe zu einem hübschen kleinen Stapel und pappt einen Sticker drauf – Ich bin voll des Jammers – den er zweimal neu schreibt. Lächerlich, denkt Billy.
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Aber es ist geschafft. Ein Blick zurück auf das Koch-Wohn-Eß-Lese-GästeMedien-Center, auf fünfundvierzig Quadratmeter durchgekoppelten Raum und verschwendete Zeit. Die meisten Sachen hat er gestern schon zusammengepackt, adressiert und an seine Eltern in Ohio geschickt. Sieben aufgestapelte Kartons, ein Frankensteinmonster aus Pappe. Das wird eine schöne Überraschung. Über Jahre kein Besuch, und plötzlich kommt das Monster angekrochen, in Gestalt von Schmutzwäsche. Hi, Dad, wie geht’s Mom? Sieben Kartons ohne ein Wort des Grußes. Die gesammelten Werke von Billy Schine. Der Rest der Wohnung, Möbel, Geschirr, Fernseher und Stereoanlage gehört seiner Freundin Sally Hu, einer Wertpapieranalystin aus Brooklyn. Billy kennt sie vom College, ihre Beziehung hat sich ganz allmählich entwickelt: von Zufallsbegegnungen im ersten Jahr über eine sittsame Kumpelei nach dem Examen, eine Wohnnachbarschaft in New York, eine recht nette Freundschaft nach schmerzhafter Trennung (ihrerseits), ein Mitwohnverhältnis nach Mietenexplosion, eine Was-machen-wir-uns-heute-zuessen-Gemeinschaft, eine gelangweilte Rückenschrubbpartnerschaft, sexuelle Lückenbüßerakte und allfällige Wiederholungstaten – bis hin zur Pärchenbildung aus Mangel an Alternativen. Fast ein Jahr lang haben sie Tittenfick gemacht. Liebe bezeichnet Sally als Exchange von Körperflüssigkeiten, Geschlechtsverkehr als Körperschaftsfusion, Orgasmen sind für sie eine Doppelausschüttung. Blasen ist immer fifty-fifty, Sixty-nine die bevorzugte Zustellmethode. Gegenseitige Masturbation ist die Mindesteinlage, abartiger Sex, bizarre Phantasien, erotische Hilfsmittel sind Sicherungsgeschäfte gegen die sexuelle Inflation, wenn nämlich Liebe, Ehe und Kinder derartige Transaktionen in
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langfristige Festanlagen verwandeln. »Als würden wir Insidergeschäfte machen«, sagte Sally einmal zu ihm, ganz vernarrt in ihren Bankerjargon. »Bitte!« erwiderte Billy zwischen ihren Beinen. »Als würden wir den Sex outsourcen.« »Okay, es reicht.« »Eine Marktpenetrierung.« »Ich will deine Muschi vernaschen, nicht die asiatischen Märkte.« »Du Schwein.« So haben sie oft miteinander geredet. Aber das ist jetzt vorbei. Billy geht ans Fenster, sucht die Straße nach Trenchcoats ab, obwohl es draußen heiß ist. Aber was da unten rumläuft, sind die normalen Leute von der Lower East Side. Von Ragnar keine Spur. Der Wahrheit zuliebe sei gesagt, Billy hat ihn nie gesehen, aber eine bestimmte, wenn auch vielleicht etwas klischeehafte Vorstellung von dem Mann: Ragnar als hartnäckiger Verfolger, Billy als Täter auf der Flucht – wie Javert und Jean Valjean ohne die eingängige Filmmelodie. Billy genießt diese Vorstellung und zwinkert verwegen seinem Spiegelbild im Fenster zu, als wäre es ein Filmplakat. Von der Straße aus könnte man denken, er sei Schauspieler. Gutaussehend, so groß wie die meisten kleinwüchsigen Stars; sein Lächeln dürfte im Ausland antiamerikanische Proteststürme entfachen. Mit seinem Gesicht hat es eine merkwürdige Bewandtnis – keine Narben, Muttermale, Pocken, Poren, möchte man schwören –, es erinnert an eine forensische Rekonstruktion, bei der man Ton auf einen Schädel aufträgt, um eine langvermißte Person zu identifizieren. Bei Neonlicht kann er erschreckend anonym aussehen. Jahre der Ungewißheit haben tiefe Fur-
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chen in seine Stirn gegraben, sie verleihen ihm einen Ausdruck, der oft als Sarkasmus mißdeutet wird, aber im Zusammenwirken mit dem bereits erwähnten Lächeln auch als abgrundtiefe Verdatterung durchgehen könnte. Ohne ein einziges Wort hervorzubringen, können seine Lippen tausend Fäuste mobilisieren. In Gesellschaft kämpft er gegen diesen ersten Eindruck an – Ich bin besser, als ich wirke, viel netter, viel intelligenter, glaubt mir! – und windet sich wie in Krämpfen, wenn er sich mit jemandem bekanntmachen soll. In schwachen Momenten schiebt er es auf die Astrologie. Oder auf die astrologische Typologie. Billy ist Krebs, cancer, crab – ein Sternzeichen, das nicht nur an eine schreckliche Krankheit gemahnt, sondern auch an Filzläuse. Seine Geburt scheint mit den Höhen und Niederungen menschlichen Leids zusammenzufallen. Kein Wunder, daß Krebse notorisch übersensibel sind. Vielleicht bleibt Billy aus diesem Grund gern zu Hause und schützt Krankheiten vor, macht Schnupfen zu Grippe, Kopfschmerzen zu Migräne. Manch einer würde das als Hypochondrie bezeichnen, aber für Billy ist es eher eine Philie. Er liebt das Kranksein, er liebt den Gedanken an Bettruhe und Rekonvaleszenz. Wer sich einen Autounfall vorstellt, mit Knochenbrüchen und Monaten der Genesung, und sich dabei auch nur einen Moment lang an der Vorstellung der Fürsorge und Pflege weidet, dem Spannungsbogen der Heilung, der hat etwas mit Billy gemein und war vermutlich nie ernstlich verletzt oder krank. Aber tapfer sehr wohl! Ein Überlebenskünstler gar. Unfallopfer im Fernsehen wirken immer dankbar für ihr Leid, erzählen der zu Tränen gerührten Reporterin, daß sie nichts, aber auch gar nichts davon missen möchten. Hier stehe ich und kann nicht anders. Oft wird beim nächsten künstlichen Schluchzer ein höherer
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Zweck benannt. Ja, es ist ein Segen, daß es so gekommen ist. Billy beneidet sie um ihre Einfälle. Klar ist das furchtbar. Er sollte dankbar sein für seine Gesundheit. Schließlich ist seine Gesundheit alles, was er hat. Seine Gesundheit könnte ihm noch mal das Leben retten. Das Telefon klingelt seinen herzbeklemmenden Angstund Schreckenston. Die Rufnummer sagt ihm nichts. Ragnar? Nein. Sally? Nein. Auch nicht die Zeitarbeitsfirma, um zu fragen, wo er verdammt noch mal steckt. Also nimmt er ab, zaghaft, auf alles gefaßt, vielleicht stammelt sein Vater in irgendeinem Krankenhaus in irgendeinen Hörer. »Hallo?« »Könnte ich bitte mit« – Pause – »William A. Schine sprechen?« Eine fremde Stimme, Billy lockert den Griff. »Wer ist dort, bitte?« »Hargrove Anderson Medical.« »Hier ist William A. Schine.« »Mr. Schine, ich wollte nur daran erinnern, daß Ihr Bus heute um fünfzehn Uhr dreißig vom Busbahnhof abfährt.« »Ich weiß. Ich habe alle Unterlagen bekommen.« »Punkt fünfzehn Uhr dreißig.« »Ja, ich weiß.« »Sie glauben ja nicht, wie viele unserer Teilnehmer das vergessen.« »Ich werde dort sein.« »Fünfzehn Uhr dreißig, Busbahnhof.« »Verstanden.« »Wir wollen nur sichergehen.«
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»Danke.« Billy legt auf. Er hat fünf Stunden Zeit zum Duschen und Packen, das dürfte reichen. Zum letzten Mal benutzt er Sallys Seifen und Shampoos. Wie immer hört er Stimmen im Geplätscher zwischen Duschkopf und Abfluß, seine Mutter, seinen Vater, der Billy! ruft, oder, schlimmer noch, einen Einbrecher, der das Türschloß knackt, Ragnar, der die Tür eintritt. Billys Ohren sind voller Einbildungskraft. Elektrorasierer, Flugzeuge, Klimaanlagen, alle haben sie einen gespenstischen Unterton. Zweimal dreht er das Wasser ab, steckt den Kopf durch den Plastikvorhang (ein kitschiges Meeresmotiv, riecht nach dem ersten Kondom) und lauscht. Nichts. Natürlich nicht. Und die Stimmen machen weiter. Er zieht sich an, behängt sich mit seiner neu erworbenen Verkleidung: Acid-washed Jeans, Cats-T-Shirt (gelbe Katzenaugen glimmen auf Brustwarzenhöhe, auf dem Rücken steht NOW AND FOREVER), I ♥ NY-Basecap, billige Spiegelbrille. Billy prüft sein Aussehen durch die Wischstreifen des beschlagenen Spiegels. Nicht übel. Wie ein Tourist am Times Square, der dringend eine Ansichtskarte schreiben muß. Die altvertraute Agentenphantasie entsprudelt dem Quell seiner Kindheitserinnerungen, den Zeiten, als er nächtens durchs Haus schlich, um Beweise sicherzustellen, nichts Spezielles, nur das Material, das sich anbot, einmal hat er sogar einen Rekorder unterm Bett der Eltern versteckt. (Doris: Schläft er schon? Abe: Ich weiß nicht. Doris: Ich glaube, er ist wach. Abe: Ich weiß es wirklich nicht.) Verschwörungen wirkten beruhigend auf den kleinen Billy, und auch als Erwachsener ist er anfällig für diese Art von Magie. Besonders wenn seine Absätze auf dem Pflaster das gewisse
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Geräusch machen und fremde Leute in Erwartung des nächsten Schritts zu ihm herüberblicken, fühlt er sich wie ein Agent im Einsatz, selbst wenn er nur ein Brot kaufen will. Es ist fast wie Meditieren, seine persönliche Variante von Yoga – er dehnt und streckt sich heimlich zu der Person, die er gern wäre, raffiniert und aalglatt. Aber das kann auch schiefgehen. Schon der kleinste Patzer – drücken, wo man ziehen muß, ein besetztes Taxi heranwinken, mehrfach vergeblich auf den Schließknopf des Fahrstuhls drükken – wirft ihn aus der Bahn. Mit Sorgfalt macht Billy das Bett. Sally hat viele Kissen mit Spitzenborte, die zu einem versöhnlichen Gesamtbild zurechtgerückt und dann aufs neue arrangiert werden, als wäre das Bettenmachen eine Sprache, mit der man um Verzeihung bitten kann. Sein Handtuch faltet er so zusammen, wie Sally es mag, den Toilettenrand wischt er mit einem Kleenex ab. Seine Wegwerfrasierer und seine gute Haarbürste läßt er zurück, in der Hoffnung, daß Sally darin Geschenke sieht und keinen zurückgelassenen Müll. Elf Uhr sechzehn. Noch vier Stunden und ein paar Minuten. Jede Menge Zeit. Unter dem Bett kommt der knallrote Hartschalenkoffer hervor. Billy läßt die satt klickenden, semiprofessionellen Schlösser aufschnappen und legt hinein, was von seinen Sachen noch übrig ist: Boxershorts (keine Slips!), Jeans, Khakihosen, T-Shirts mit Brusttasche und Hemden in allen Farben außer Schwarz – ein Outfit, das sich seit dem College gleichgeblieben ist, trotz seiner fast permanenten Suche nach einem neuen Look. Jetzt braucht er nur noch ein Buch. Er sucht das Regal nach dem richtigen Buch ab, dem perfekten Buch, dem Buch, das er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Aber welches Buch ist das richtige
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Buch? Welches Buch entspricht ihm? Welcher Autor? Welcher Umschlag eignet sich als Banner seines Geschmacks? Stanley Elkin? Robert Musil? Nathanael West? Kafka? Vergil im Original? Horaz? Oder ist das zu hochtrabend? Zu abgefahren? Zu obskur? Soll’s was Dickes oder was Dünnes sein? Zauberberg oder Tod in Venedig? Jedenfalls nur ein einziges Buch, das ist Bedingung. Billy, der große Leser – Moment, stimmt gar nicht. Mehr als das Lesen liebt er die Bücher, die Physis der Bücher, die in sie investierte Mühe, das ihnen innewohnende Potential. Der gesammelte Philip Larkin oder die ausgewählte Emily Dickinson? Nabokov vielleicht? Fast täglich kauft er billige, gebrauchte Taschenbücher, obwohl er genau weiß, daß sie angelesen liegenbleiben, mit dem Kassenbon an der Stelle, wo er dem Fernseher, der Zeitung oder einem Nickerchen den Vorzug gab. (Unter den angelesenen Büchern ist Moby Dick sein unangefochtener Liebling, dicht gefolgt von Don Quichotte.) Er ist der Meister der ersten Zeile, des ersten Absatzes, vielleicht noch des ersten Kapitels, dann schwindet sein Eifer, und das Buch wandert vom Sofa zum Bett und zurück zum Sofa, dann unter den Couchtisch und von dort in die Ecke – auf den Stapel der anderen angelesenen Bücher, der wächst und wächst wie der Turmbau zu Babel, bis er zu schwanken beginnt und die Bücher schließlich ins ohnehin überfüllte Regal gestopft werden, dieses Mosaik der vorgetäuschten Gelüste. Sally hat ihn mal gefragt, warum er so viele Bücher kaufe, wenn er die meisten doch nicht lese. »Aber ich will sie lesen«, war seine Antwort. »Dann lies sie doch.« »Mach ich auch. Irgendwann«, sagte er dann mehr zu sich selbst als zu ihr.
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»Die Bücher, die du hast, reichen schon für ein ganzes Leben.« »Okay, Problem begriffen.« Und für den Rest des Tages war Funkstille, ein Gespräch über Unordnung war unversehens zum Todesurteil geworden. Im dritten Fach entdeckt er das Oxford Dictionary of Quotations, vierte Paperbackauflage, und zieht es heraus, eine dicke Schwarte, unberührt seit dem College, als er so manchen Aufsatz mit wohlfeilen Zitaten spickte (Byron fürs Motto, Shelley für den Epilog, Bullshit für den Hauptteil). Ein handliches Stichwortregister gewährt flinken Zugriff auf die berühmtesten Zitate der Welt, von Abaelard bis Zola. Das ist die Seele der Literatur, glaubt er. Billy glaubt, daß er in diesem Buch alles findet, was er braucht – wie Keats schon sagte: »Gebt mir Bücher, Obst, französischen Wein, gutes Wetter und ein bißchen Musik im Freien, gespielt von einem, den ich nicht kenne.« Billy schmunzelt. Wirklich, man müßte mehr Keats lesen. Er wirft das Zitatenlexikon in den Koffer, auf den Berg von Sachen, der schon so hoch ist, daß die Schlösser nicht zuschnappen ohne den ächzenden Nachdruck eines Arsches. Jetzt ist es aber Zeit zu gehen. Ein letzter Rundblick. Unaufgefaltete Kartons bedecken den Fußboden wie das Nachtlager eines Obdachlosenobdachs. Am Wochenende wollte er mit Sally den größten Teil der Sachen einpacken. Sie wird sich ärgern, besonders über die zurückgelassenen Bücher. Aber die Kaffeetasse ist abgewaschen, auch das Müslischälchen, abgetrocknet und weggeräumt, und die New York Times ist so sauber zusammengelegt, daß Sallys Hände vielleicht glauben, sie wären die ersten, die diesen Freitag, den 20. August 1999, berühren.
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Der Brief auf dem Couchtisch schreit zehnfach gegen seine Schuftigkeit an. Du Arschloch, du kannst doch nicht einfach so abhauen! Billy setzt die Sonnenbrille wieder auf, dann die I ♥ NYBase-cap. Er schließt die Wohnungstür zweimal ab. Die Treppe sieht mal wieder aus wie kurz vor dem Einsturz. Unten öffnet er den Briefkasten – S. Hu – und legt den Schlüsselbund hinein. Sein Name war hier nie gefragt. Im Kasten liegen hauptsächlich ihre Postkarten, ihre Briefe, ihre Magazine und Kataloge, ihre Adresse steht auf allen Rechnungen, auf dem Mietvertrag, auf der Sicherheitssprechanlage. B. Schine ist nirgends zu sehen.
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2 DAS CATS-T-SHIRT dürfte bei diesem Wetter ein Fehler sein. Die schwarze Farbe saugt überschüssige Luftschadstoffe auf, die nie gewaschene Baumwolle juckt auf der Haut, der ganze Tourilook ist nur noch ein albernes Nesselgewand, durchwoben von Schwüle, die gelben Brustaugen tränen von frischem Schweiß. Er sieht garantiert lächerlich aus. Wie ein Hipster, der seine Ironie meilenweit raushängen läßt. Hoffentlich hält das Deo. Acht Blocks sind es bis zur U-Bahn. Noch sieht es nicht so aus, als würde sich ein potentieller Ragnar zwischen den Judy Garlands und Mickey Rooneys der Lower East Side verstecken, einer Gegend, wo jeder unter dreißig eine Filmrolle spielt. Die Flamme unter dem Schmelztiegel wird vom Dilettantenmüll erstickt. Der Traum vom besseren Leben, von irgendwelchen Chancen, ist zu einer schamlosen Sucht nach Berühmtheit veredelt worden; Amerikaner der zweiten und dritten Generation überschütten ihre Söhne und Töchter mit Geld, damit die nach dem College in die alten Viertel zurückkehren und ihren Träumen nachhängen können. Das sind die neuen Armen – wenn sie nicht selber Schauspieler, Künstler, Musiker, Filmemacher sind, sind
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sie besessen von Schauspielern, Künstlern, Musikern, Filmemachern und beklatschen deren Darbietungen mit wehmütigen Seufzern. Billy ist froh, daß er von hier verschwindet. Warum ist er überhaupt gekommen? Vielleicht weil sein Vater und seine Mutter hier ihre Wurzeln haben, weil eine Hungersnot im neunzehnten und ein Pogrom im zwanzigsten Jahrhundert dafür sorgten, daß ihre jeweiligen Vorfahren am Beekman Pier landeten und in dieses Viertel zogen. Heute gibt es in der Ludlow Street Saloons mit Samtkordeln, die Synagoge – die älteste der Stadt – ist ein privater Partyschuppen, wo sich die Kantoren mit Techno bedröhnen. Wundersame Relikte alter Zeiten, Bäckereien und Fleischerläden zumeist, verstecken sich zwischen Handtaschenboutiquen und Restaurants. Die Wohnungen in den alten Mietskasernen kosten jetzt eine halbe Million, von den Mesusas an den Türpfosten sind nur noch die Löcher übrig. Längst vergessen sind die Moskowitzes und die Smiths von Fourth Ward. Tammany Hall wurde zum Supermarkt umgebaut. In der Delancey Street, der Rivington Street, der Stanton Street sieht sich Billy im Fadenkreuz von Ragnars Zielfernrohr, das sich auf den Levantiner Schine richtet, direkt auf das trashige I ♥ NY-Basecap. Billy erwartet die Kugel, zwangsläufig ein Hohlmantelgeschoss. Jeder Schritt wird untermalt von der Taktfolge des Schusses und des platzenden Gehirns – Bumm! Platsch! – Bumm! Platsch! – Bumm! Platsch! –, dem Totenlied einer Einmannband. Der Lasersucher wird im Idealfall, bevor er sein Ziel findet, Billys Blick kreuzen und ihm die Klarheit verschaffen, die nur den Todeskandidaten vorbehalten ist. Den Oh,—————— Moment. Dann flatscht das Ding in seinen Schädel rein,
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zerfetzt Hard- und Software und hinterläßt totes Gewebe. Ein Champagnertoast aus Blut schießt in die Höhe. Und raus bist du! Ewige Finsternis, seine einzige Vorstellung vom Jenseits, wird ihn umfangen, das Leben wird aus ihm weichen wie abfließendes Badewasser, das Nichts wird ihm in allen Poren prickeln, bis endlich die Atmung wieder einsetzt. Aber es passiert nicht. Wieder und wieder passiert es nicht – warten – nein, nichts. Was in Billy eine Art negativer Erleichterung auslöst. Er atmet kräftig aus. (Keuchen? Er doch nicht!) Man könnte sagen, Billy leidet unter einer Kombination aus Überlebensschuld, prätraumatischem Streß und Stockholmsyndrom, während diese Stadt als sein Entführer fungiert. Ein saisonbedingtes Gemütsleiden könnte hinzukommen. Billy haßt den Sommer. Herbst, Winter, Frühling – okay, aber der Sommer ätzt leider. Der Sommer ist was für Leute ohne Phantasie, die da meinen, Hauptsache schön braun, und die Welt ist in Ordnung. Man könnte auch sagen, Billy leidet unter dem zermürbenden Vorgefühl der Katastrophe. Klar, er hat Schulden, sechzig tausend Dollar, genauer gesagt. Aber mit Spielschulden, Drogen, geplatzten Deals hat das nichts zu tun. Seine Probleme stammen nicht aus den dunklen Abgründen des Lebens, eher im Gegenteil – es handelt sich schlicht und einfach um sein Studiendarlehen. Billy sitzt in der Schuldenfalle, weil er in Harvard studiert hat (mindernd wirken nur die zweifelhaften Vorzüge eines Teilstipendiums). In den ersten drei Jahren nach dem Abschluß hat er fleißig Schecks geschrieben, sechsunddreißig insgesamt, eher kleine Beträge, aber seine Zahlungsmoral wurde gewürdigt, und sein Weg war vorgezeichnet. Schnell würde er seinen Spitzenverdienst erreichen, seine
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vielversprechende Zukunft war Sicherheit genug. Als Billy aber von der Krankheit seiner Mutter erfuhr, ließ er einen Monat aus. Dann noch einen und noch einen. Wenn er schon mal einen Tag überfällig war, warum nicht einen Monat? Das Zeitfenster für die Überweisung wurde eng wie das Zeitfenster für ein Rendezvous im Weltraum. Er schützte Vergeßlichkeit vor – Oje, hab ich’s doch glatt wieder verschwitzt! –, aber wie viele andere Weltklassebummelanten hat auch er ein unfehlbares Gedächtnis. Beinahe stündlich krampfte ein Anfall trotziger Verachtung – Mist! – sein Zwerchfell zusammen, einen Körperteil, den er mit dem Herzen verwechselte, und er murmelte zerknirscht: Ich müßte wirklich zahlen. Nicht zu zahlen war einfach der größere Streß. Aber Billy zahlte nicht. Was sollte schon passieren? Was hatte er zu befürchten? Den Schuldturm? Würde es überhaupt jemanden jucken? Erst kamen die Briefe, scheinbar persönlich gehalten und mit der zahnlosen Drohung, daß seine Kreditwürdigkeit leiden könnte. »Ein Baukredit wird Ihnen unter diesen Umständen wohl kaum bewilligt.« Ei verflixt, dachte Billy. Diese Mahnschreiben kamen immer zusammen mit Werbeangeboten von Visa oder American Express oder Discover, das waren die Hexen aus Macbeth, die ihm ein Königreich versprachen. Bald folgten Anrufe diesen Briefen. Die Anrufer saßen in irgendwelchen Inkassobüros in Nordoder Süddakota oder Nebraska, übersprangen sämtliche Zeitzonen und erreichten die Ostküste ausgerechnet während der Mittagspause. (Billy hat auch mal für so eine Inkassofirma gejobbt.) »Äh, Mr. Schine«, fingen sie an. »Ich rufe an wegen...« Billy fiel ihnen gleich ins Wort: »‘tschuldigung, ich esse gerade.«
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»Äh, das ist kein Werbeanruf, Sir.« »Mir egal, mein Essen wird kalt. Haben Sie die Güte, während der Geschäftszeiten anzurufen. Das ist meine Freizeit.« »Aber...« »Sie sollten sich schämen«, riet ihnen Billy halbnackt auf dem Sofa, bei stummgeschaltetem Fernseher. Was die netten Anrufer aus Bismarck oder Salem dann auch taten. Zwei Jahre ging das so. Bis er im Juli eine andere Sorte Brief bekam. Getippt auf einer alten Schreibmaschine, jedes Wort sah intensiv nach Einfingersuchsystem aus. Tipp-Ex war verwendet worden. Tipp-Ex! Billy hörte förmlich das Krachen der Anschläge, das Fluchen über die Tippfehler, das Drehen am verkrusteten Schraubverschluß, das sanfte Gepinsel und das Trokkenpusten der feuchten Stelle. Insgesamt zwölf Korrekturen, darunter ein kompletter Satz, der unter den Teppich gekehrt und überschrieben war, in einem geschraubten und doch unverblümten Stil, der ihm Angst machte. Werter Mr. Schine, zu Ihrer Information: Ragnar & Sons sind von Ihrer Kreditanstalt ermächtigt, Ihre ausstehenden Zahlungsverpflichtungen einzutreiben, da unseren Unterlagen zufolge ein permanenter Ausfall der Rückzahlungen vorliegt. Ragnar & Sons haben sich auf diese Fälle spezialisiert, und unsere Dienstleistung besteht darin, daß wir das nötige Umfeld für Ihre Zahlungsbereitschaft herstellen. Unsere Firma bewegt sich im Rahmen des geltenden Rechts, sie verfügt über dreijährige Erfahrung im Inkassobereich und über mehr als dreißig Jahre praktisches Training. Unsere Leistungsbilanz ist hervorragend. Unser Wort gilt ohne Einschränkung. Falls Sie Referenzen brauchen, können wir welche
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auftreiben. Mit sofortiger Wirkung verwalten Ragnar & Sons Ihr Darlehenskonto, und zwar für die Dauer der mit Kreditvertrag vom 11. Juli 1989 vereinbarten Laufzeit. Im Unterschied zu vielen größeren Firmen bieten Ragnar & Sons ihren Klienten eine intensive persönliche Betreuung, und in dieser Eigenschaft verlangen wir Respekt, Mr. Schine, und zwar in Gestalt von monatlichen Ratenzahlungen von mindestens $ 500 – ab August dieses Jahres bis zur vollständigen Tilgung der Schuld. Zahlen Sie bitte pünktlich, damit wir sichergehen können, daß Sie Ihren finanziellen Verpflichtungen fortan mit dem nötigen Ernst nachkommen. Ragnar & Sons werden das ihre zu einer gedeihlichen Beziehung beitragen. Wir sind eine handfeste, praktisch veranlagte Firma vom alten Schlage. Lassen Sie sich gesagt sein, Mr. Schine, daß wir eine solide Firma sind. Wir bewegen uns im Rahmen der AGB und gemäß den Zusatzbestimmungen des FRS. Wir geben Ihnen den dringenden Rat, Ihre teure Ausbildung gewinnbringend einzusetzen, bevor Sie noch weiter in Verzug geraten. Beehren Sie uns mit Ihrer Antwort in der großzügig bemessenen Frist von drei Wochen unter Verwendung des beigelegten Rückumschlags. Nachdrücklichst Ragnar & Sons Die Adresse war irgendwo in Queens – Billy vermutete, daß das Inkassogewerbe aus den Randbezirken anreiste. Aber der Drohbrief enthielt ein Element der Fürsorge. Das Briefpapier war hadernhaltig, der Briefkopf geprägt. Kein Wunder, daß Tipp-Ex zum Einsatz gekommen war. Billy hielt das Blatt gegen die Lampe und sah das Röntgenbild von Wortsplittern, insbesondere diese Satzfraktur: »Nehmen Sie sich in acht, Sie Arschloch, wir machen Sie fertig, wir lynchen Sie, wir hängen Sie in den höchsten Baum des Central Park, wenn Sie auch nur einen Tag zu spät zahlen.« Hmm. Die Rechtsabteilung der Firma hatte wahrscheinlich sanftere Töne angeraten. Schreiben Sie doch einfach: Wir sind
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eine solide Firma. Oder war die versteckte Botschaft die eigentliche? Die unterschwellige Werbung, so wie Eiswürfel an Titten erinnern sollen, ultralange Zigaretten an Schwänze? Wie auch immer, Billy war beeindruckt. Er legte den Brief in die Mappe mit der Aufschrift Fukked. Und am 1. August kam der Anruf. »Könnte ich mit William Schine sprechen?« Die Stimme klang wie von hier und beängstigend ruhig. »Darf ich fragen, wer da spricht?« fragte Billy. »Nein, das dürfen Sie nicht.« »Warum nicht?« »Darum nicht. Ich sage es nicht. Ich weigere mich.« »Nun...« »Bis ich weiß, wen ich spreche.« Der korrekte Gebrauch des Fragepronomens beunruhigte ihn. Wie ein Grammatiker, der deine letzten Worte zergliedert. Billy saß da wie erstarrt. Er wollte einen falschen Namen nennen, aber seine Zunge löste sich nur für die Wahrheit. »Ähem. Heißt es wem, oder heißt es wen?«, fragte er. »Also, Mr. Schine, hier ist Ihr Kontenbearbeiter von Ragnar & Sons.« »Ich esse gerade. Kann ich zurückrufen?« »Ob Sie das können? Ich hab da meine Zweifel.« »Mr. Ragnar, mein Essen...« »Ich bin nicht Ragnar, merken Sie sich das. Sie können von Glück sagen, daß ich nicht mal mit ihm verwandt bin.« »Ich bin gerade beim Essen und finde es sehr unhöflich, daß Sie...« »Wollen Sie wissen, was unhöflich ist, Mr. Schine? Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben, und Sie haben nicht geantwortet. Das ist nun wirklich unhöflich und kein guter
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Auftakt unserer Beziehung. Ragnar & Sons erwarten in diesen Dingen die Befolgung der üblichen Umgangsformen, oder...« »Oder was?« sagte Billy. »Wollen Sie mir meine Ausbildung wegnehmen?« »Das klingt jetzt wieder unhöflich«, erwiderte die Stimme ohne den Hauch eines Vorwurfs. »Aber Sie sprechen da das grundlegende Dilemma dieser Verfahrensweise an, und das ist der Mangel an pfändbarem Eigentum. Was sollen wir pfänden? Ihr Zeugnis? Ihren Abschluß? Das ist nichts Konkretes. Nicht wie ein Auto oder ein Haus. Aber an diesem Punkt haben Ragnar & Sons die Studienkrediteintreibungsindustrie wahrlich revolutioniert. Wenn Sie uns dazu zwingen, holen wir uns den Speicher Ihrer Ausbildung. Garantiert. Ihr Schwamm hat das Geld anderer Leute aufgesaugt. Wenn dieses Geld nicht zurückkommt, werden Ragnar & Sons diesen Schwamm ausdrücken.« »Nur zu«, sagte Billy, der solche Sprüche kannte. »Wir nennen das König Tut.« »König Tut was?« »Wir brechen Ihnen die Nase und extrahieren Ihr Gehirn durch die Nasenhöhle.« Billy spielte den Entsetzten. »Huuu!« »Das ist eine ägyptische Balsamierungstechnik«, fuhr der Mann von Ragnar & Sons fort. »Bei korrekter Ausführung wird das Gesicht wunderbar erhalten. Der alte Herr steht auf offenen Särgen.« »Schlapper Witz«, bemerkte Billy. »Sie denken wohl, ich scherze?« »Keine Ahnung. Ehrlich, für mich funktioniert das in beide Richtungen.« »Zahlen Sie einfach Ihre Schulden, okay? Unsere Kondi-
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tionen sind entgegenkommend, lächerlich entgegenkommend, wenn Sie mich fragen. Schließlich sind wir eine lächerlich entgegenkommende Firma. Doch ganz egal. Unerwiderter Ernst ist ein strafwürdiges Vergehen. Das heißt, Ihr Gehirn steht auf dem Spiel.« »Übrigens, Ihr Brief war toll«, sagte Billy. »Mein Brief?« »Als Sie ›unerwiderter Ernst‹ sagten, mußte ich daran denken.« »Mein Brief hat Ihnen gefallen?« »Sehr.« Die Stimme am Telefon klang ein ganz klein wenig geschmei- chelt. »Das war meine erste schriftliche Mahnung bei Zahlungsverweigerung. Ich wußte nicht, wie man das macht, ich hab ihn einfach so hingehauen.« »Ist ein Volltreffer geworden«, sagte Billy. »Ich dachte, ich war vielleicht ein bißchen zu... Mr. Schine, bitte kommen wir wieder zu Ihrer Angelegenheit zurück.« »Aber meine Angelegenheit ist so langweilig.« »Ihre Angelegenheit ist jetzt meine Angelegenheit.« »Aber es ist nicht meine Angelegenheit, mich mit Ihren Angelegenheiten zu befassen.« »Reden Sie immer so ein Zeug? Ihnen fehlt es wirklich an Ernst, Mr. Schine. Sie sind in einer ernsten Lage. Wir holen uns das Geld. Wir werden zufriedengestellt, auf die eine oder andere Weise.« »Glauben Sie mir, ich bin nicht sehr zufriedenstellend.« »Halten Sie die Klappe und hören Sie zu«, keilte der Ragnar-Mann zurück. »Sie schulden uns Geld, und fertig. Wo Sie das hernehmen, ob Sie es borgen, klauen, erpressen, ob Sie Schecks oder Kreditkarten fälschen, ist mir ganz egal,
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solange Sie Ihre Rate zahlen. Versuchen Sie es an der Wall Street. Mit dem Internet. Eigentlich müßten Sie schon Millionär sein. Ich meine, wenn Sie bei dieser Konjunktur nichts gebacken kriegen, müssen Sie schon ein echtes Arschloch sein, und das mit einem Harvardabschluß in der Tasche. Wir wollen lausige sechs Riesen im Jahr. Also kommen Sie rüber mit der Kohle.« »Und wenn nicht?« »Sie werden.« »Aber was, wenn nicht?« »Wie geht es Ihren Eltern?« fragte er lauernd. »Alles in Ordnung? Ich weiß, Alzheimer kann sehr belastend sein für die Familie. Ich habe mir erlaubt, Ihrer Mutter einen Blumenstrauß zu schicken. In Ihrem Namen. Rufen Sie an bei Whispering Pines, Heim für betreutes Wohnen. Überzeugen Sie sich.« »Sie würden sich an meinen Eltern vergreifen?« Wut hakte sich in seiner Kehle fest wie ein Angelhaken, aber einer ohne Widerhaken, leicht zu entfernen, schnell vergessen. »Wie nett von Ihnen, meine Eltern zu belästigen. Die haben es schon schwer genug.« Der Ragnar-Mann wich aus. »Ich will damit nur sagen, daß ich Sie kenne. Ihren Aufenthalt, Ihre kleine asiatische Freundin, Ihre möglichen Fluchtwege. Mit Computern ist es faktisch unmöglich zu verschwinden.« Billy konnte sich nicht bremsen. »Das war doppeldeutig«, sagte er. »Sie sind ein Trottel«, murmelte der Mann. »Da haben Sie recht.« »Ich gebe Ihnen zwei Wochen, dann knallt’s. Ich schleife Ihnen die Eier, ich breche Ihnen die Zähne aus. Wie sagt man noch? Ach ja. Ich bearbeite Ihre verkackte Knieschei-
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be mit Hammer und Schraubenzieher. Schönen Tag noch.« Die Leitung war tot. In den Tagen darauf erwog Billy, einen richtigen Job zu suchen, einen Job mit Aktienoptionen und Krankenversicherung, einen Job mit Aufstiegschancen. Zeitarbeit wurde ihm auf die Dauer sowieso zu blöd. Seit dem Abschluß hatte er als Wandertippse für People Person Services gejobbt. Der Slogan »Wir wählen unsere Mitarbeiter nach Ihren Bedürfnissen aus« stuft Billy als Datenerfasser ein, mit anderen Worten, er kann lesen und tippen. Für fünfzehn Dollar die Stunde testet er potentielle Karrieren aus, ohne sich auf falsche Fährten locken zu lassen, ohne in irgendwelche Fallen zu tappen. Nicht daß der erste lausige Karriereschritt plötzlich seine einzige Qualifikation darstellt. Das bin ich und weiter nichts. Aber wie so oft, wenn sich Forscher selbst zum Objekt ihrer Forschungen machen (man denke an Spallanzani, der eine Schnur schluckte, um seine Verdauung zu studieren, oder an van Leeuwenhook, der das soeben von ihm erfundene Mikroskop mit seinem Ejakulat beschickte), entsteht schnell die Gefahr der Ichbezogenheit, und das Studium wird zum Vorwand des Lasters. Tatsächlich hat sich Billy in letzter Zeit geradezu in seine Antriebslosigkeit verliebt. Aber jetzt ist die Nemesis da. Er hat einen Feind. Einen Schurken, wie er im Buche steht. Vielleicht macht ihn das zum Helden? Ragnar, stellt er sich vor, ist ein Familienvater aus Flushing, seine Kinder nennen ihn Daddy, seine Frau küßt ihn auf die Wange, bevor er, einen hektischen Arbeitstag vor sich, ins Auto steigt. In die City fährt er durch den Midtown Tunnel, er überquert die Nekropolis von Queens, er sieht all die Friedhöfe derer, die sich das Leben nur geborgt
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hatten, das leblos graue Meer der Grabsteine, ein Spiegelbild der Skyline. Natürlich nervt ihn das Warten an der Mautstelle – nun macht schon! –, aber er freut sich an der Ordnung, der Maut, der innigen Beziehung zwischen Münze und freier Fahrt, die sich im Salut der Schranke entäußert. Sie dürfen passieren, Sie sind ein guter Amerikaner. Und wo ist Ragnar jetzt? Billy schaut sich um. Eine Verfolgungsjagd? Das wäre nett. Der Koffer ist schwer, Billy wechselt alle paar Minuten den Griff, jeder Wechsel verkürzt das Kurzzeitgedächtnis für die Anstrengung. Kurz vorm Eingang zur Linie F macht Billy Pause, er stellt den Koffer ab. Er malt sich das welkende Blumengebinde am Bett seiner Mutter aus, wahrscheinlich Margeriten, deren Blütenblätter – er liebt mich, er liebt mich nicht – den Nachttisch übersäen. In Liebe, Billy. Ist doch nett, werden sich die Schwestern denken, aber Abe fragt: »Wieso gerade jetzt?« Ein Tropfen ploppt auf den Schirm der Basecap. Die Spucke eines tödlich gelangweilten Teenagers? Nein, Wasser aus der Klimaanlage oben am Haus. Plopp, plopp, plopp. Statt an Kondenswasser zu denken, denkt Billy an die Schweißtropfen eines Selbstmörders, der da oben über die Dachkante lugt und überlegt, ob ihn der Sprung töten wird, ob wirklich alles so schlimm ist. In den Straßen Manhattans wird Billy öfter mal von einer Sonderform der Höhenangst befallen: Er fürchtet, daß ein Selbstmörder auf ihm landet – Selbstmord als ungewollter Mord. Die Kombination von Hochhäusern und Lebensüberdruß – genauso tödlich wie die von Suff und Tabletten. Die Trottoirs dieser Stadt müßten ein einziger Blutsumpf sein.
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Und hinab in die U-Bahn mit ihm. Für die meisten würde schon der Gedanke an Ragnar & Sons ausreichen, um dem Kokettieren mit einem vorzeitigen Tod – sei’s durch Gewaltkriminalität, Unfall oder Herzinfarkt beim Verzehr eines Schinken-Käse-Burgers mit Fritten – ein Ende zu machen und klar unter Beweis zu stellen, daß sie weiterleben wollen, jawohl, und sei’s nur noch ein Weilchen, daß sie beten und um Vergebung ihrer Sünden feilschen, nur um noch einen Tag so weiterzuleben wie bisher. Aber Billy hat es gründlich satt, so weiterzuleben wie bisher. Billy will etwas anderes als das, selbst wenn sich dieses andere als noch schlimmer erweist.
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3 EINE WIRRE ABFOLGE von Zügen transportiert Billy unter Manhattan entlang, er springt durch auf- und zukrachende Türen, hastet über Bahnsteige, wechselt vom Downtown Express zum Uptown Local und vom Uptown Local zum Crosstown Shuttle, bis er sicher ist – oder ziemlich sicher –, daß er den echten oder phantasierten Ragnar abgehängt hat. Wall Street. Morningside Heights. City Hall. Astor Place. Hunter College. Auf den Bahnsteigen, wenn die dritte Schiene klackt, sich der Scheinwerfer in den Tunnel bohrt, der Dreck zwischen den Gleisen seinen Horror entfaltet – eine Socke, ein Schnuller, mysteriöse grüne Pfützen –, und dann wieder in den Zügen, unter der Streifenwerbung, kann Billy kaum glauben, daß es auch nur einen Menschen gibt, der vollkommen gesund ist, von sich selbst ganz zu schweigen. Aber die Arzneimittelbehörde hat es bestätigt. Zumindest auf dem Papier. Immerhin hat man ihn gründlich untersucht. Vor zwei Wochen hat er im Wartebereich des HAMRekrutierungsbüros den Anamnesebogen ausgefüllt, ohne den geringsten Befund. Allergien durch Arzneimittel oder Ähnliches: keine. Obwohl er nie von einer Biene gestochen
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wurde, also wer weiß? Gegenwärtige Medikationen: keine. Krankenhausaufenthalte: keine. Operationen: keine. Nicht mal Mandeln oder Blinddarm belasten seine Bilanz. Keine Knochenbrüche, keine Zerrungen, Verrenkungen oder Muskelrisse. Bei Kopfweh, Atemnot, Brustschmerzen, Ohnmacht zögerte Billy ein wenig, bevor er sich entschied, außer bei unabsichtlicher Anstrengung frei davon zu sein. Er bedauerte die armen Hunde, die bei teerigem Stuhl das Ja ankreuzen mußten, oder bei Inkontinenz, Hämorrhoiden und Darmbeschwerden. Nein, danke. An den Rand von »sexuelle Störungen« hätte er beinahe geschrieben: Genauer! Asthma brachte Erinnerungen an Freunde und ihre wunderbaren Inhalatoren, die er mit Hilfe armseliger PEZSpender imitierte. Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps, Diphtherie und Röteln kannte er nur gerüchtweise; irgendein Junge aus der Nachbarschaft hatte die alle abgegriffen, derselbe, der in der Schule immer fehlte, wegen Läusen, Schuppenflechte und Bindehautentzündung. Windpocken? Nein. Nicht mal, nachdem ihn seine Mutter mit der Nachbarstochter zusammengesperrt hatte – einem netten Mädel, das gerade Windpocken hatte und ihn anstecken sollte. Aber der Virus war nicht übergesprungen. »Je früher, desto besser«, hatte ihn seine Mutter aufgeklärt. »Denn je später, desto schlechter.« Nervosität, Stimmungsschwankungen, Depression wurden angesichts der menschlichen Misere auf ein Nein abgerundet. Außerdem war das Ja mit der Bitte um Begründung verbunden, und eine solche Begründung wäre wohl eher peinlich geworden. Manchmal bin ich grundlos traurig. Es folgte ein innerer Disput über frühkindliche Amnesie, die großen Erinnerungslücken der Grundschulzeit und die vielen kleineren danach. Kindheit ist wie eine Kette von Gedächtnisausfällen. Vielleicht schließen
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sich die Lücken eines Tages, der Schleier wird gelüftet, und Belästigungen, Mißhandlungen kommen ans Licht, irgend etwas Schreckliches, ein Schockerlebnis, das alles Hoffen zerstörte und durch blanken Zynismus ersetzte. Aber nach all den Jahren ist nichts ans Licht gekommen, und Billy sitzt da mit seinem hohlen Vorwurf. Also bezog er die Frage auf akute Gedächtnisstörungen, machte sein Häkchen. Polio, Scharlach und Tuberkulose als alte Bekannte durften natürlich nicht fehlen, und er fragte sich, ob nun auch noch Beulenpest und Lepra verlangt wurden, doch seine Krankheitsgeschichte endete mit Anderes. Billy kreuzte sein einziges Ja an. Anderes war nicht auszuschließen. Anderes war durchaus eine Möglichkeit. Den nächsten Abschnitt des Fragebogens – Lebensgewohnheiten – meisterte er mit der gleichen Bravour. Rauchen? Nein, nie geraucht. Aber er wäre gern Raucher, Kettenraucher mit Markentreue und Aschersammlung, er würde das Zellophan von der Packung ziehen, das Stanniolpapier wegklappen, das erste Opfer herausklopfen, das Streichholz, nein, besser noch ein Zippo, stilvoll entzünden, er würde Ringe blasen, im Dunstkreis der Raucherkumpanei Zigaretten schnorren und austeilen, über das dienstliche Rauchverbot giften, zu den Leidensgenossen auf die Straße fliehen und nach Herzenslust Kippen ausdrücken, wegschnipsen, zertreten, mit dem Rauchen aufhören, wieder anfangen und wieder aufhören. Zu blöd, daß Billy immer hustet, würgt und von Schwindel gepackt wird, wenn er es versucht. Trinken? Gelegentlich. Aber er hält sich vorwiegend an Bier und Wein, ein paar Gläser pro Woche, zirka ein Besäufnis pro Monat. Trotzdem hätte er mehr von seiner
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Trinkernatur erwartet: Whiskeys und Martinis, trockene und nasse, pure und gespritzte, doppelte und aufgestockte, das Knowhow für die perfekte Bloody Mary, vielleicht sogar den Problemtrinker, den widerlichen Saufsack, den Alki, der seine Zukunft durch die Gurgel jagt, bis er im Eimer ist, zur Gruppentherapie muß, Geschichten aus seiner schlimmsten Phase zum besten gibt, von Schwarzbrandrezepten mit Vierteln und Halben und ganzen Litern von diesem und jenem, und dann bei einem Softdrink, der mit Schuldgefühlen und Gin gewürzt ist, die alten Zeiten hochleben läßt. Zu blöd, daß Billy alles Hochprozentige verabscheut. Ein Kater kann ihn für die ganze Woche lahmlegen. Drogen? Ewig her. Im College hat er mit Marihuana experimentiert, mit Kokain, mit Pilzen, ohne auch nur an den Rand einer Sucht zu geraten, nach dem Examen hat er diese Sachen genauso vergessen wie all die anderen Pflichtfächer. (LSD konnte man mit Chaucer vergleichen: vergnüglich, vielleicht sogar bedeutend, aber einmal reichte.) Trotzdem fasziniert ihn der Abgrund der Sucht, das obsessive Ziehen der Linien auf dem Spiegel, die nächtelangen Raves, die Dealer und anderen verkommenen Gestalten im engsten Bekanntenkreis, die Beschaffung von Stoff, der Jieper nach immer mehr, der Junkieslang mit Speedball und Scag, das Hantieren mit Teelöffel und Feuerzeug, das Dahinvegetieren in einem Loch, bis Freunde einschreiten, dir einen Entzug besorgen, der dir die Dämonen austreibt, bis du wie neugeboren entlassen wirst und zwangsläufig ein paar Monate später an einer Überdosis verreckst – die Spritze als Höhe- und Endpunkt deines beschissenen Lebens. Zu blöd, daß Billy immer, wenn mal ein Joint kreist – ah,
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Shit –, sofort nach dem Inhalieren weiß, warum er die Finger von dem Zeug lassen muß. Der nächste Abschnitt – Familienanamnese – gab ihm Gelegenheit, seine Krankheiten auf die diversen Blutsverwandten zu schieben. Billy hat keine Geschwister. Er ist ein Einzelkind (ein Wort, das er früher in Einsamkind ummünzte). Großeltern hat es für ihn nie gegeben, er kennt sie nicht, nicht mal ihre Fotos, und erwähnt wurden sie nur als Kontrastfiguren für die wahre Liebe seiner Eltern. Statistisch sind sie längst gestorben, entweder Herz-Kreislauf oder Krebs, was aber genauso ungewiß ist wie der Ort ihres Begräbnisses. Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen sind ebenfalls unbekannt, sie gehören zu dem New Yorker Leben, dem Abe und Doris entflohen sind und das sie als Landschaftsgemälde in einem imaginären Museum der Hochromantik aufgehängt haben. Billy hat nur seine Eltern. Bei beiden kreuzte er Psychische Erkrankungen an. Er setzte seine Unterschrift auf die punktierte Linie, um zu versichern, daß obige Angaben der Wahrheit entsprachen. Nach dem Fragebogen das Gespräch. »Kommen wir gleich zum Thema«, begann die HAM-Werberin. »Wie haben Sie von unserer Klinisch-Pharmazeutischen Einrichtung erfahren? Oder von der KPE, wie wir in der Branche sagen?« Die Frau untermalte das Kürzel mit der instinktgesteuerten Körpersprache einer Cheerleaderin. Sie dürfte die Bodenfrau einer menschlichen Pyramide gewesen sein, dachte Billy, die Abschußstütze für die zarteren Mädchen. Sie hieß Florence Baker-Blau und jagte ihm Angst ein. »Aus dem Radio«, antwortete er. Was der Wahrheit entsprach. Er hatte im Bett vor sich
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hingedöst, nach dem dritten Hieb auf den Wecker und dem zweiten Gedanken an Ragnar, als ihm eine Stimme ins Ohr gellte: »Hargrove Anderson Medical sucht Teilnehmer für einen Medikamententest der Stufe 1. Erkrankung oder Beschwerden sind nicht Bedingung, Vorerfahrungen und Abschlüsse nicht vonnöten, Unterkunft und Verpflegung kostenlos, Arbeit ist mit dem Test nicht verbunden. Sie erhalten ein großzügiges Entgelt. Interessiert? Dann rufen Sie uns an unter 1-800 HAM-STUDIE. Sie müssen über achtzehn und körperlich gesund sein. 1-800 HAMSTUDIE. Verdienen Sie Geld, indem Sie die medizinische Forschung unterstützen. Unser Ziel: verbesserte Therapien, erhöhte Chancen. Machen Sie mit. 1-800 HAM-STUDIE. Ein Job, auf den Sie stolz sein können. 1-800 HAMSTUDIE. Rufen Sie an, lassen Sie sich informieren.« Den ganzen Tag spukte ihm die Werbung durch den Kopf wie ein Ohrwurm. HAM-STUDIE, HAM-STUDIE, HAMSTUDIE. Am späten Nachmittag war er so weit. Er wählte die Nummer und holte sich einen Termin. »Nach zwölf Uhr nachts nichts mehr essen und nichts mehr trinken außer Wasser«, sagte die Sekretärin. Und da war er nun, müde und hungrig, aber voller Hoffnung, als brauchbares männliches Exemplar durchzugehen. Florence oder Ms. Baker-Blau (Billy weiß nicht, wie er sie sozial einordnen soll) strahlte. »Übers Radio. Das ist toll. Wirklich toll. Super! Welcher Sender?« »Äh, 92,3, glaube ich. UKW.« »Oh, K-ROCK.« Billy hatte gehofft, diese peinliche Buchstabiererei zu umgehen. »Mein Tag ist gerettet, dabei ist es erst neun.« Sie schrieb etwas auf ihr Clipboard, runde Buchstaben quollen
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wie Seifenblasen aus ihrem Stift. »Normalerweise konzentriert Hargrove Anderson die Werbemittel auf alternative Wochenzeitungen, Hochschulblätter und lokale Anzeigenblätter. Das ist natürlich billiger, aber ich habe schwer darum gekämpft, daß wir in den Rundfunkmarkt einsteigen, insbesondere Contemporary Rock, Hip Hop, Speed Metal und alternative Formate. Junge Leute sind ideal geeignet für diesen Job. Die über zwanzig.« Sie hob kapitulierend die Hände. »Schuldig im Sinne der Anklage. Also – ich freue mich.« Das Büro war klein und fensterlos. Billy glaubte, Tonergeruch zu wittern und die niederschmetternde Atmosphäre eines ehemaligen Kopierraums, in dem jeder gute Vorsatz von tausend huschenden Lichtstrahlen zersäbelt wird. Während Ms. Baker-Blau redete, versuchte Billy interessiert zu wirken, zu lächeln und zu nicken, seinem Gesicht nonverbale Interjektionen zu entlocken, aber sein Stuhl, dieses blödsinnige schwedische Designerkonstrukt, das ihm Bequemlichkeit aufzwingen wollte, reagierte auf jede seiner Bewegungen mit einer Drehung oder einem Kippen. Wie ein Mustang, dem man die Hohe Schule andressiert hat. Schon das Atmen bedrohte seine Balance. Und vor ihm saß diese Amazone – Florence, Ms. Baker-Blau – in bequemer Füßeldistanz. Ein Niesen konnte schon als sexuelle Belästigung herhalten. Das Schreibtischfoto von Mr. Baker oder Mr. Blau (wer steht an der Spitze?) starrte Billy kampfeslustig an. Der Bildschirmschoner, das Traumleben der Software, ließ exotische Fische durch ein Aquarium treiben, mit Geräuscheffekten, die Billy daran erinnerten, daß er seinen Morgenurin aufgespart hatte, um eine Probe abzuliefern und mit seiner Blasenbeherrschung Eindruck zu schinden. Und jetzt war es höchste Zeit, er mußte dringend
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aufs Klo, sein Gezappel spornte den Stuhl zu neuen Bocksprüngen an und gefährdete seine Arbeitsbeziehung zu den Baker-Blaus, was wiederum seine Schweißdrüsen provozierte und sein Hemd allmählich in ein Rohrschachmuster verwandelte, das sich nur als verstörter Jüngling interpretieren ließ. »Ich liebe K-ROCK«, sagte Billy. »Ja, K-ROCK ist toll«, stimmte Ms. Baker-Blau zu. Sie war nicht unattraktiv, ganz und gar nicht unattraktiv. Das toupierte Blond, der Goldschmuck und die athletische Figur, dazu ihre breite Nase, ihre großen Hände und ihr lippenbetontes Lächeln. Sie war zwei Grad von »schön« entfernt, drei Grad von »hausbacken« – eine Kombination, die extreme Charaktere und enthusiastische Fellatio begünstigte. Sie erinnerte an eine schwertschwingende Wikingerbraut, Leif Erikssons Trophäenweib. »Also, William... Sie werden doch mit William angesprochen?« fragte sie. »Meistens mit Billy«, resignierte er wie üblich. Die erwachseneren Varianten – Bill und Will – hatte er schon durch, sie kamen ihm zäh, robust und absolut unglaubwürdig vor. Ein Bill fühlt sich in einem Fuchsbau zu Hause; ein Will ist zuverlässig und standhaft. Bill und Will sind Kumpel. Bill würde sich auf eine entsicherte Granate stürzen, um Will zu retten, und Will würde die schönste Totenrede auf den tapferen Bill halten. Wie wär’s also mit William? Keine Chance. William steht für ein dickes Bankkonto, teure Klamotten und wohltätige Spenden in vierstelliger Höhe. William ist eine Vertrauensperson, William verdient Respekt. Liam wäre eine nette Transplantation. Das geht glatt von der Zunge, ist voller Seele, menschlicher Tiefe und Wärme, aber wer wollte den Liam ernstlich mit Schine zu-
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sammenkoppeln? Das wäre ja wie Moisha McGahern oder Shamus Glickstein oder Paddy Hebe, der irische Goi aus Kibbuz-County. Die irisch-katholische Herkunft seiner Mutter mit der deutschjüdischen seines Vaters zu multiplizieren – das ist, als würde man eine Zahl mit Null multiplizieren. Also ist Billy das Produkt von Nichts. Aber wenigstens ist er kein Willy. »Das bedeutet Helm«, belehrte er Florence Baker-Blau ohne Grund. »Ach wirklich.« »Und Ihrer bedeutet blühend. Florence. Das ist lateinisch für blühend.« »Und ich dachte, das wäre eine italienische Stadt.« »Ja, das auch.« »Blühend, das gefällt mir.« Sie lächelte. Der erwünschte Effekt. »Namen sind so faszinierend. Ich meine, einem Kind einen Namen zu geben, welche Verantwortung!« Zur Bekräftigung ihrer Gefühlswärme und in Vorerwartung eines gewölbten Leibs schwebten ihre Brauen wie sorgsam gezupfte Betonungszeichen über babyblauen Augen. »Was davon alles abhängt!« Billy stimmte zu. Aus ganzem Herzen. Sein nickender Kopf, wäre er aufgeklappt, würde das Vornamenbuch im elterlichen Bücherregal enthüllen, die aufgeschlagenen Seiten mit den Häkchen bei Robert, Tess, Emma, Charles und Doris’ Fingerspuren, die entstanden, als sie die Namen durch lautes Lesen testete, während Abe die Definitionen nach einer Botschaft abschmeckte. Hätte Gideon Billys Leben in eine andere Richtung gelenkt? Aber da stand ja William, extradick umkringelt. Welch pränataler Enthusiasmus lag in diesem Kringel! »Ich habe meinen Vornamen immer gehaßt«, versicherte Billy der Anwerberin.
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»Ich glaube, die meisten hassen ihren Vornamen«, sagte sie. »Oh.« Auch du, Florence? »In Ihrer Bewerbung steht, daß Sie in Harvard waren.« »Stimmt.« »Das ist ja beeindruckend.« »Nicht wirklich. Ich habe Soziologie studiert, Nebenfach klassische Philologie. Eine passiv-aggressive Ausbildung, könnte man sagen.« Das war seine Standardantwort auf Harvard, ein alter Hut, den er als spontanen Witz verkaufte. Der kam, mochte er noch so angestaubt sein, meistens gut an. »Sind Sie Künstler?« fragte sie. »Ich? Nein, ganz und gar nicht.« Ms. Baker-Blau schien enttäuscht. »Weil nämlich viele von unseren gebildeteren Teilnehmern in die künstlerische Richtung tendieren. Man verdient gutes Geld und betreibt nebenbei sein, nun, sein Handwerk, nehme ich an. Die Leute zeichnen oder schreiben oder was immer und studieren außerdem. Aus manchen ist später was geworden. Wir kriegen auch Graduierte, die hier forschen, während wir an ihnen forschen, was meiner Meinung nach ein Witz ist.« Billy fiel dazu nichts ein. Sollte er einen höheren Zweck benennen, einen Wunschtraum, den er finanzieren wollte, ein laufendes Projekt anstelle der banalen Tatsache, daß er für eine Weile abtauchen mußte? Er wollte ihr die richtige Antwort geben, aber seine richtigen Antworten waren immer Lügen. Also saß er einfach da und grinste. »Sie sind achtundzwanzig?«, fragte Ms. Baker-Blau. »Ja, aber erst seit kurzem.« »Und gegenwärtig Zeitarbeiter?« »Ja. Vollzeit.«
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»Also dann.« Ms. Baker rückte sich zurecht, um den offiziellen Gesprächsbeginn zu signalisieren. »Billy, dies ist ein Vorgespräch, eher informativ als alles andere. Wir gehen Ihre Bewerbung durch und besprechen die Fragen, die sich vor der Untersuchung ergeben könnten.« Billy rückte – oder eher ruckte – sich zurecht, um zu signalisieren, daß er bereit war. »Haben Sie bereits an einem ähnlichen Test teilgenommen?« »Nein, nie.« »Nun, wir vergöttern unsere gebildeten Teilnehmer. Die sind immer manierlich und gesittet. Das macht auch den Erläuterungsprozeß viel einfacher. Hier wird viel mit schwierigen Ausdrücken herumgeworfen, Fachausdrücken. Zum Beispiel ›Pharmakokinetik.‹ Hallo! Weiß jemand, was Pharmakokinetik ist? Man sagt ›Pharmakokinetik’, ›Pharmakodynamik‹, ›Pharmakogenetik‹, und schon sieht man an den glasigen Blicken, daß man nicht verstanden wird.« Diese ungebildeten Idioten! brachte Billy nonverbal zum Ausdruck. »Sehen Sie, die Tests der Stufe 1 konzentrieren sich vor allem auf Absorption, Distribution, Exkretion und Metabolismus der fraglichen Substanz. Kurz und knapp ADEM genannt. Die ADEM-Werte sind unser Hauptanliegen bei diesen Erstversuchen am Menschen. Alles dreht sich bei uns um die Sicherheit. Die Wirksamkeit kommt später, in den Tests der Stufen 2,3 und 4, wenn wir Probanden benutzen, die von der betreffenden Krankheit oder Störung betroffen sind, aber in diesem Frühstadium brauchen wir nur die ADEM-Werte bei normal-gesunden Personen wie Ihnen. Einschließlich der detaillierten Dokumentation von Adversäreffekten.«
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»Adversäreffekten?« »Ja. Oder AEs.« Adversäreffekte. Das Wort durchpulst Billys Kopf. Eine Sirene, begleitet von blinkendem Rotlicht. Adversäreffekte. Das paßte eher auf eine Flutwelle, eine Pestseuche, einen Meteor im Erdanflug. Ein Adversäreffekt war der Sprung in die ultimative Naturkatastrophe, Ragnar & Sons im Vergleich dazu ein mehr oder weniger harmloses Alltagsphänomen. Ms. Baker-Blau deutete sein Schweigen als Betroffenheit. »Keine Bange«, sagte sie, »unsere Sicherheitsvorkehrungen sind vorbildlich.« »Oh, da bin ich sicher«, erwiderte Billy zuversichtlich. »Wir haben strenge Richtlinien. Superstrenge Richtlinien. Bevor eine NCE – das ist eine Neue Chemische Einheit – an unsere normalgesunden Probanden verabreicht wird, hat sie eine ganze Reihe von Wirksamkeitsstudien durchlaufen. Wir benutzen die nichtmenschliche Laborpopulation, die viel höhere Dosen erhält als Sie. Wirklich viel höhere. Die LD 50 kennen wir also schon.« »LD 50?« »Nun, technisch betrachtet ist das die Dosis, die für die Hälfte der NiMeLaPop tödlich ist.« »Oh.« »Was gefährlicher klingt, als es in Wahrheit ist.« »Klingt nicht unplausibel«, bestätigte Billy. Aber Ms. Baker-Blau setzte ihre Erklärung fort. »Sie müssen verstehen, Billy, das sind absurde Dosen. Ha-Has nennen wir sie. Hochgradige Hyperdosen. Beim Eintritt in die Stufe 1 kennen wir schon das Wesentliche über die Substanz, alle zu erwartenden Eventualitäten, die Arzneimittelbehörde hat alles genehmigt, und ein örtliches Kon-
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trollorgan wacht über die Einhaltung der Bestimmungen. Ohne Bedenken, wirklich ohne jegliche Bedenken welcher Art auch immer kann ich behaupten, daß unsere Hauptsorge Ihrer Sicherheit gilt. Sie müssen wissen, bisher hat es im direkten Gefolge der Studien der Stufe 1 nie einen Todesfall gegeben. Nie. Keinen einzigen. Nicht direkt jedenfalls.« Ms. Baker-Blau, Florence, Flo, neigte ihren ruhelosen Kopf zur Seite, als würde sie schon die pure Möglichkeit eines Todesfalls betrauern. »Aber ist mit Risiken zu rechnen?« Die rhetorische Frage verharrte ein wenig im Raum, bevor sie bei Gottes lauterer Wahrheit landete. »Aber ja. Da gibt es nichts zu beschönigen. Das Risiko gehört einfach dazu. Was wäre aus diesem Land geworden ohne Risiko, ohne unternehmerisches Wagnis?« Der Patriotismus richtete ihren Kopf wieder auf. »Wir befassen uns mit experimentellen Produkten, Billy, darunter sind vielleicht Entdeckungen, die unserer Gesellschaft echten Nutzen bringen. Das HAM investiert Hunderte Millionen in die Entwicklung dieser neuen Produkte, und ehe das Produkt vom Labor in die Apotheke an der Ecke gelangt, durchläuft es Jahre der Erforschung, Jahre der Erprobung, Jahre der Bürokratie, und nach all den Jahren, Billy, all diesen zermürbenden, aufreibenden Jahren, schaffen es die meisten Produkte nicht einmal auf den Markt. Die Chancen sind geradezu minimal. Trotzdem werden keine Mühen und Kosten gescheut, wir machen weiter, denn man kann ja nie wissen, ob... Man weiß es einfach nicht. Nehmen Sie eine Krankheit, eine Störung, einen Defekt, vom Krebs bis zum banalen Schnupfen, und das HAM steht bereit.« Billy bat sie, ihn einzuschreiben. »Auf der molekularen Ebene. In der Biotechnik. In der Gentechnik.«
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»Ich bin dabei«, sagte er. Aber die Frau war nicht zu bremsen. »Sind also die AEs die Risiko-Nutzen-Relation wert? Absolut. Sonst würden wir ja ihre Entwicklung nicht fortsetzen. Und sind sie supergefährlich? Wohl kaum. Jedenfalls nicht, wenn Sie hundert Prozent ehrlich zu uns sind.« Sie schwenkte seinen Fragebogen wie ein Pom-Pom. »Und falls Sie glauben, daß AEs zwangsläufig Intensivstation bedeuten, kann ich nur sagen: Nein, nein, nein. Im allgemeinen handelt es sich um geringfügige Beschwerden.« Ms. Baker-Blau zählte sie auf, als ginge es um kränkelnde Rentiere am Schlitten von Santa Claus. »Da gibt es die Asthenie, mit anderen Worten das Schwächeempfinden, dann gibt es da die Diarrhöe, die Xerostomie, die Nausea, die Pyrexie, was Fieber bedeutet, die Dyspepsie, das heißt Bauchweh, die Urtikaria, die Pharyngitis, die Diaphorese, worunter wir exzessive Schweißabsonderung verstehen.« Billy wischte sich die Stirn. »Vielleicht bin ich schon ein Versuchskarnickel.« Florence machte ein Gesicht wie eine Schönheitskönigin, die gegen den Hunger in der Dritten Welt protestiert. »Ich meine, weil ich so schwitze«, erklärte er. Ms. Baker-Blau senkte den Blick. »Billy, dies ist wichtig. Hören Sie mir zu. Wir betrachten unsere Normalen als wesentlichen Bestandteil des HAM-Teams, und so behandeln wir sie auch. Ein Versuchskaninchen, ein menschliches Versuchskaninchen, das übermittelt die falsche Botschaft. Das klingt uns, offen gesagt, zu sehr nach Mengele.« »Mengele?« fragte Billy. Der Todesengel wirkte wie ein danebengegangener Partywitz. Sie nickte ernst. »Es hat so einen Beigeschmack.« Mit feierlicher Geste, als handelte es sich um eine berühmte
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Handschrift, schob sie ihm eine Broschüre hin. »Ich möchte, daß Sie sich das anschauen. Ist gerade reingekommen. Von den Leuten, die auch das Canyon Ranch Spa machen.« Auf dem Cover war ein großer Bau in Gefängnisarchitektur zu sehen, dessen Flügel einen Vorplatz einrahmten, halb Zellenbau, halb Verwaltungstrakt, ein serifenloses U. Es gab keine Rundungen, keine Dachschräge, eigentlich überhaupt kein Dach, nur maximale Raumausnutzung. Das Foto hatte wohl zu lange im Entwickler gelegen. Der Himmel sah aus wie Meeresbrandung, und das Gebäude schien ganz in medizinisches Kontaktgel eingehüllt. »Das ist das Animal Human Research Center«, erklärte Florence. »Oder auch AHRC.« Die Frau war wirklich vernarrt in ihre Akronyme. »Sehr nett«, sagte Billy. Sie – »Aber nein!« – korrigierte ihn sofort. »Es ist das netteste überhaupt. Es befindet sich in Upstate New York, in der Nähe von Albany, direkt am Hudson. Wir bieten einen Pendelservice, absolut gratis, was in unserer Branche die Ausnahme ist. Normalerweise müssen Probanden den Transport aus der eigenen Tasche bezahlen. Ein Jammer nur, daß das Foto der Anlage nicht gerecht wird. Stellen Sie sich vor, ringsum meilenweit Wälder und Flußlandschaft, eine üppige Vogelwelt, ein herrliches Licht. Das Land gehörte früher einem Rockefeller.« »Oh.« »Und das HAM hat dort eine erstklassige Einrichtung geschaffen.« Die Broschüre war dem Bau sehr clever angepaßt – gestaltet wie ein Hochglanztriptychon, dessen Seitenteile das Puppenstubeninterieur des AHRC enthüllten. Drinnen sah
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man ein typisches Probandenzimmer mit drei Betten, Farbfernseher und Bad; den Gemeinschaftsraum mit Brettspielen, Großbildfernseher und Videobibliothek; den Speisesaal im Cafeteriastil; die Küche mit Obst und Snacks und einem dampfenden Teller Spaghetti Bolognese, dem Koch (einem Absolventen des nahegelegenen Culinary Institute of America); das Labor mit reihenweise Mikroskopen; dazu Laboranten, Forscher, Schwestern; gesunde Normalprobanden am Fenster beim Verfolgen eines herrlichen Sonnenaufoder -untergangs; ein Verzeichnis der berühmten Medikamente, die vom Hargrove Anderson Medical entwickelt worden waren. Mit Stolz erklärte Ms. Baker-Blau, andere KPEs könnten sich hinter dem HAM verstecken. »Vielleicht werden Sie dort wie ein Versuchskaninchen behandelt.« Ihre Finger rahmten das böse Wort mit Kaninchenohren ein. »Manche verwenden sogar obdachlose Alkoholiker – unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. Widerwärtig. Aber Hargrove Anderson respektiert die Leistung, die Sie uns bieten. Wir schätzen unsere Normalen. Wir wollen, daß unsere Normalen gute Erfahrungen mit uns machen. Wir bieten ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Deshalb zahlen wir so gut.« Billy fragte nach der Vergütung. »Das hängt von der Studie ab. Zwischen 150 und 250 Dollar pro Tag.« »Je länger, je besser«, sagte er. »Und je schneller, je besser.« »Das höre ich gern, weil wir noch eine zweiwöchige stationäre Studie besetzen müssen. Der Schulanfang ist tödlich für uns. Eine Parallelstudie. 175 Dollar pro Tag.« »Klingt gut«, sagte Billy.
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»Sie sollten wissen, daß es ganz nette Zuzahlungen gibt, wenn es zu Minderen Unerwarteten Komplikationen kommt, MUKs genannt. Vielleicht fünfzig Dollar pro Tag, manchmal auch mehr. Außerdem sollten Sie wissen, daß es eine Klausel für unangemessenes Verhalten gibt, verbotene Substanzen, Trinken, Rauchen, Aggressionen gegen Schwestern und andere Probanden. Wenn das der Fall ist, setzen wir Sie vor die Tür, ohne Bezahlung. Strafen gibt es für unpünktliches Erscheinen. Und wenn Sie eine besonders negative Reaktion auf das Medikament zeigen, nur Sie allein, nehmen wir Sie aus der Studie und ziehen Ihnen die verbleibende Summe ab. Aber wir sind sehr fair. Oft bekommen Sie auch die volle Summe.« »Wie schnell werde ich bezahlt?« »Bei Abschluß der Studie bekommen Sie Ihren Scheck. Aber das ist kein leichtverdientes Geld. Nein, nein, nein.« Florence schüttelte ihren blonden Betonkopf. »Es wird schwerer, als Sie glauben. Sie müssen früh aufstehen. Sie werden gezwackt und gepiesackt. Das verlangt Ausdauer, vielleicht eine besondere Art von Ausdauer, aber trotzdem Ausdauer. Alle Einzelheiten werden Ihnen« – das Telefon klingelte, und sie beendete ihren Satz in verminderter Tonhöhe – »später noch erläutert. Entschuldigen Sie einen Moment.« Ms. Baker-Blau duckte sich weg ins Private. Billy fühlte sich jetzt besser, obwohl er das »Versuchskarnickel« bereute und ihm das »blühend« mordspeinlich war. Und hatte er wirklich »nettes Büro« gesagt, als er hereingekommen war? Schlimm genug schon, daß es als Kompliment gemeint war. Aber seine Lippen hatten die Bemerkung ins Sarkastische gedreht. Trotzdem, er fühlte sich besser. Der schwedische Mustang war gebändigt, seine Blase über die Maximaldeh-
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nung hinaus gedehnt und wie ein Marathonläufer auf Langstrecke eingestellt. Die Fische im Bildschirmschoneraquarium kamen ihm rührend vor, wie sie sich so lieb mit den Nasen stubsten. Selbst Mr. Baker oder Blau wirkte sanfter, sein Blick bekam etwas Seelenvolles, als würde er aus Angst, seine Frau könnte ihn eines Tages verlassen, schon jetzt um Gnade betteln. Ms. Baker-Blau legte auf. »Ist das Ihr Mann?« fragte Billy mit Blick auf das Foto. »Ja. Sein Geschenk zum ersten Hochzeitstag – papierene Hochzeit, Sie verstehen. Ich habe ihm Tickets fürs KnicksEndspiel geschenkt, so teuer, Sie glauben es nicht. Vierte Reihe.« »Sehr nett«, sagte Billy genau im richtigen Ton, wie er glaubte. »Der Rahmen ist nicht mal Silber. Na, macht nichts.« Ms. Baker-Blau klatschte in die Hände und klackte mit den Zähnen. »Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, können wir jetzt zur Untersuchung gehen.« »Ich bin bereit.« Sie führte ihn durch den Flur in den Untersuchungsraum Nr. 2. Auf dem Tisch lag Fleischerpapier ausgebreitet wie für die Filetstücke von Billy Schine. »Ausziehen bis auf die Unterwäsche«, sagte Ms. Baker-Blau. Ihr Kopf kippte bei dieser Aufforderung nach links, als hätte er eine Stütze verloren. »Es kommt gleich jemand.« Darauf verabschiedete sie sich, Billy nickte und lächelte, bis sich die Tür hinter ihr schloß. Und das war das letzte, was er von ihr sah. Aber heute, am Ankunftstag im AHRC, scheint die UBahn voll von Baker-Blau-Typen in praktischem Outfit zu sein, weder gestylt noch aufgepeppt. Sie lesen Taschenbü-
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cher, die sie aus Taschenbuchkarussells gekauft haben; sie falten ihre Zeitung für den Sportteil oder die Klatschspalte zurecht, Leute, die man einfach übersieht, weil man vielleicht bessere Bücher gelesen und bessere Filme gesehen hat – während man die Person gegenüber ins Auge faßt, die im New Yorker blättert oder besser noch in der New York Review of Books oder sich halb durch eine gewisse Art von Roman gearbeitet hat; man wünscht sich, er oder sie würde aufschauen, damit man ihm oder ihr unmerklich zuzwinkern und bedeuten könnte Glaub mir, ich bin deinesgleichen, während man die Baker-Blaus ringsum einfach nur über sich ergehen läßt, lächelnd und nickend, ein Massenpublikum, das, einmal gegen das seichte Selbstwertgefühl in Stellung gebracht, nun zur nagenden Erinnerung an das wird, was aus einem geworden ist. Grand Central Station – endlich kommt Billy wieder ans Tageslicht. Bei der letzten Renovierung wurden die Sterne an der Gewölbedecke wiederentdeckt, der aquamarinblaue Himmel ist wieder von Sternbildern belebt. Der ganze Tierkreis leuchtet auf Marmor und poliertes Messing hinab, auf die aufgemotzten Boutiquen und Restaurants, auf das ganze superechte Vierzigerjahrefeeling. Schuhe blitzen wie mit Metall beschlagen, Stimmen verhallen in einer allgemeinen Kakophonie. An einem Augustfreitagnachmittag beginnt die Rush-Hour besonders früh. Hunderte von Pendlern jagen durch die Bahnhofshalle, ihren Sommerhäusern zu, wo die Sonne mehr bedeutet als nur Schweiß. Billy fragt sich, wie viele von ihnen eine unerkannte Krankheit in sich tragen, eine genetische Zeitbombe, eine schnellwachsende Geschwulst, eine fast verstopfte Arterie, den sicheren Tod. Wie viele fühlen sich so gut, wie sie sich nie wieder fühlen werden? Es gilt da unumstößliche Pro-
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zentzahlen und häßliche Statistiken zu berücksichtigen, versicherungsmathematische Tabellen durchzuackern (Billy hat mal für eine Versicherung gearbeitet). Aber Billy selbst ist hundert Pro gesund. Das Ärzte- und Schwesternteam des HAM hat ihn gewogen und vermessen, adduziert und abduziert, auskultiert und palpatiert, perkussiert und aussondiert, elektrokardiographiert, bequetscht und befingert, um Urin- und Blutproben erleichtert, und zwei Tage später wurde ihm eine hervorragende körperliche Verfassung bescheinigt. Man bot ihm eine zweiwöchige stationäre Studie der Stufe 1 zur Erprobung eines atypischen Psychopharmakons an. Vergütung 2500 Dollar, Beginn in einer Woche. Interessiert? Billy tritt auf die Straße und wendet sich westwärts.
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4 AUF DER AVENUE of the Americas wird Zeit in Schulden umgemünzt. Das vollzieht sich in Gestalt von Lichtsignalen, deren Wattstärke keineswegs beeindruckt – im Vergleich zu den bonbonfarbenen Neonreklamen und den Leuchtdisplays mit Models, Schauspielern, Athleten, Musikern, Prominenten. Die Gebäude um den Times Square sehen aus wie von hochgradig ritalinbedürftigen Teenagern dekoriert. Ich, ich, ich, schreien sie. Aber diese Anzeige ist eher geflüstert, ein Psst! aus einer dunklen Seitengasse, he, Sie da! Das, was da auf einen herabblickt wie ein kleiner Big Ben, ist die Nationale Schuldenuhr. Die Schuldenziffer rast durch den Fünfbillionenbereich, mit einem Tempo von mehr als zehntausend Dollar pro Sekunde, während sich eine andere Ziffer – Ihre Familienschulden – im Vierzigtausenddollarbereich bewegt. Die genaue Zahl ist fließend wie die Sekundenziffer auf Billys Armbanduhr (die nun konsultiert wird), aber so oder so muß er in zweiundzwanzig Minuten und nach Gott weiß wie vielen Millionen von hier verschwunden sein. Billy schätzt die Summe ab, die sein Aufwärtsblick kostet, vielleicht reibt er sich schuldbewußt das Kinn und demonstriert Betroffenheit, aber die Geste scheint eher für ihn
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selbst bestimmt und hat dasselbe Gewicht wie Liebeslieder für frisch Geschiedene oder Bierreklamen für die ewig Besoffenen – kurze, morbide Momente, in denen sich Raum und Zeit in deinem Elend bündeln. Keine Frage, denkt er, das hier wäre der ideale Schauplatz meines Todes. Billy forscht in den Gesichtern der Passanten. Jeder ein potentieller Attentäter. Ragnar? All diese Fußgänger würden Zeugen werden, Finalisten in der Trinität des Mordes. »Ich war dabei! Ich hab es gesehen!« würden sie den Reportern erzählen, und hinter ihnen würden die Kinder in die Höhe hüpfen, um etwas Lebendfutter zu erhaschen. Billy reckt das Kinn und bietet seine Kehle dem Klappmesser dar. Aber Handys sind die einzigen Waffen, die gezogen werden. Das elektronische Fiepsen berühmter Sinfonien, in Theatern und Restaurants, Beethoven in Hand- und Hosentaschen, so etwas treibt Billy – nein, jeden, selbst Leute mit Handys – zum Wahnsinn. Eine telekommunikative Form des Selbsthasses. Und die Ablehnung, die Handyablehnung nach dem Motto Handys sind der Untergang der mobilen Existenz, aber leider hab ich keine Wahl, ich bin eben vielgefragt, ist irgendwie genauso albern. Seit die Angst vor Strahlung und Hirntumoren um sich greift und immer mehr Leute Headsets benutzen, wird es noch schwerer, die Telefonierer von den Durchgeknallten zu unterscheiden. Brüllt jemand »Motherfucker« auf offener Straße, kann es sein, daß er gerade mit seinem Broker redet. Ragnar? Billy, irgendwie enttäuscht, wirft einen weiteren Blick auf
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die Schuldenuhr. Seine Grübeleien haben das Land schon wieder eine viertel Million gekostet. Er sollte lieber weitergehen, solange noch Zeit ist. Aber für den Trip nach Norden braucht er hirnloses Lesefutter. Er betritt einen höhlenartigen Zeitungsladen, von den Stellagen blicken ihm die Magazine entgegen. Auf den Titelseiten überwiegend Schönheiten, wenn es sich nicht gerade um Politiker, Mörder oder Pechvögel handelt, die in die Mühlen des Tagesgeschehens geraten sind. Die Gesichter ersetzen den Kalender, und alle Hefte sind vordatiert, als wäre Druckerschwärze leichtverderblich wie Milch. Nur für diese Leute findet Geschichte statt, denkt Billy, unsereins muß sich mit dem Wetter begnügen. Und wie oft ist sein innerer Kalender auf Sallys Abonnements angewiesen! Montag – The New Yorker, Dienstag – Newsweek, Mittwoch – Village Voice und so weiter. Die Monatsmagazine erinnern ihn daran, daß er wieder eine Vogue älter ist. All diese Magazine sind die sichtbare Version der ewig abschuppenden Hautzellen, Staub vermischt mit Werbebeilagen. Billy sieht jemanden, der ihm bekannt vorkommt – ja genau, dort vor der Sparte Finanzen, in der Hand eine Fortune, steht Winston Feller, sein Zimmergenosse aus dem ersten Jahr in Harvard. Der ewige Quälgeist, klein und flink, Schulchampion im Ringkampf; Winston, damals Winnie genannt, reizte die Footballspieler immer so lange, bis sie ihn durch die Cafeteria oder über den Hof jagten. Sieben Jahre später wirkt er wie eingezwängt in sein Federgewicht, wie ein hormonbehandelter Kinderathlet, wie ein spätentwickelter Zwerg. Billy blickt zur Seite. Hat Winnie ihn gesehen? Hat Win-
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nie denselben Schreck bekommen? Wenn Winnie ihn anspricht, wird er reagieren, wenn nicht, dann nicht. Winnie wohnt in Westchester, mit Charlotte, seinem Prachtweib, schwanger und fällig Ende Dezember, ganze nahe dem großen Tag, mit einem eigenen – ha, ha! – Millennium Bug in der Röhre. Billy weiß das, weil Billy ein zwanghafter Leser der Jahrgangsmitteilungen ist. Bei jeder neuen Nummer des Harvard Magazine klickt er die Sparte 1923-1999 an und macht sich über die Trottel lustig, die immer ihre Daten aktualisieren, als würde sich jemand für ihren neuen Job oder ihre jüngsten Verdienste interessieren. Besonders gierig verschlingt er den Datenmüll des Jahrgang 1993, die meisten Leute kennt er zwar nicht, aber alle sind sie so erfolgreich wie Winnie. Was für ein Arschloch. Billy malt sich aus, wie der auf seinem Grundstück in gehobener Lage steht und seinen Labrador-Retriever mit vorgetäuschten Tennisballwürfen foppt, dann ins Haus geht und den schwangeren Bauch seiner Frau als Birne zum Schattenboxen benutzt. Eigentlich müßte er Billy erkannt haben. Schließlich hat sich Billy seit dem College kaum verändert. Vielleicht liegt’s an der Mütze und der Sonnenbrille, die Billy jetzt abnimmt. Winnie stellt sich an die Kasse. Billy schiebt sich an die benachbarten Zeitungen heran. Komisch, wie man sich über diese alten Bekannten freut, selbst wenn man die schlechteste Meinung von ihnen hat, wie man ihnen auf die Schulter haut – He, erkennst du mich denn nicht? Winnie geht an ihm vorbei, in der Hand die New York Post mit einer Riesenschlagzeile: STUDIENKOLLEGE WIEDERGETROFFEN, NETTE BIS NICHTSSAGENDE WORTE GEWECHSELT. Aber Winnie sagt gar nichts. Er ist schon weg. Billy fühlt sich geschnitten, dann – soll er mir doch gestoh-
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len bleiben! – besinnt er sich eines Besseren. Wieder draußen, gönnt er der nationalen Schuldenuhr noch einen Blick, wieder mit übertriebener Pose und Grimasse, wie für die Öffentlichkeit bestimmt, aber wie oft sieht man schon ein Menetekel, das quer über den Himmel geschrieben ist? Hier steht er, der Vorreiter des Apokalypse, der erste, der dran ist, wenn diese Uhr stehenbleibt, die Zählerei ein Ende hat und jeder gnadenlos zur Kasse gebeten wird. Der große Damm wird brechen, Konkurse werden das Land überschwemmen, Gott wird unser Treiben nicht länger dulden. Billy könnte sich auf eine Kiste stellen und die Bekehrung des Fleisches predigen: Wir alle sind verpfändet, belegt mit Zinsen und Zinseszinsen, wir alle werden von einem höheren Geldgeber zur Kasse gebeten. Zahlt ihn aus! Sofort! Aber wer hört schon auf ihn? Niemand braucht Errettung. Die Dinge laufen gut. Das Schicksal ist virtuell geworden. Irgendwann in den Neunzigern hat die Generation X sechs weitere Buchstaben entdeckt: NASDAQ. Außerdem sind es meist Touristen, die sich hier am Times Square drängen, und Touristen haben eher Angst vor Taschendieben als vorm Verfall der Wechselkurse. Billy sieht jedoch einen kleinen Jungen, sechs, sieben oder acht Jahre alt, den diese unheilige Arithmetik in ähnlicher Weise zu fesseln scheint. Oder ist es nur das Sausen der Ziffern? Der Junge schaukelt am Arm seiner Mutter, die in einem Stadtplan sucht, sie ist der Baum für diesen Affen. Billy, getarnt durch seine Sonnenbrille, starrt die beiden an. So eine selbstverständliche Zuneigung, so eine natürliche Liebe, denkt er, und keiner bemerkt den Handel, der damit verbunden ist. Im allgemeinen schreckt Billy vor Kindern zurück. Auch
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vor Hunden. Jedesmal, wenn er sich ein Leben mit einem Kind oder einem Hund vorstellt, sieht er ein Kind im Kindersarg vor sich oder einen überfahrenen Hund am Straßenrand. Wenn Kinder oder Hunde auf der Straße an ihm vorbeilaufen, bleiben ihre Blicke an ihm hängen, als würden sie in sein Innerstes schauen. Sie könnten seine Richter, seine Geschworenen sein, und er hat keine Chance. Die Tauben, Inkarnationen von W. C. Fields, sind schlauer, denkt er, die meiden Kinder und Hunde gleichermaßen. Aber die unselige und unleugbare Tatsache ist, daß Billy von jedem Kind und jedem Hund geliebt werden will und sich nur zu oft zu Fratzenschneiden und albernem Getue versteigt. Die Mutter steckt den Daumen als Lesezeichen in den Stadtführer und kommt, den Sohn an der Hand, auf Billy zu. »Entschuldigen Sie«, sagt sie, »ich habe mich verlaufen.« Ihr Akzent ist deutsch, ihr Englisch ist fehlerfrei. »Wo wollen Sie denn hin?« fragt Billy. »Zum Times Square.« »Sie sind praktisch da.« Er zeigt Richtung Westen. »Ein paar Straßen weiter, und Sie sind mittendrin.« »Danke.« »Genau da, wo die Action ist.« »Vielen Dank noch mal.« »Kein Problem, Ma’am.« Ma’am? Wieso Ma’am? Ist er etwa aus dem Süden? Schon verrückt, daß man nur eine kleine Auskunft geben muß, um sich vorzukommen wie ein Superheld. All diese unnützen Wohltaten – einen Platz freimachen, einem Blinden sagen, daß die Ampel gewechselt hat – scheinen einem zu beweisen, daß man – ja, was eigentlich? – irgendwie menschlich ist. Ist es nicht absurd und auch irgendwie traurig, daß einen schon ein winziges Tröpfchen Nettigkeit bis zum Rand ausfüllen kann?
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Mutter und Sohn setzen ihren Weg fort, der Sohn hüpfend und springend, die Mutter bemüht, seinen Übermut zu dämpfen. Für sie ist das ein kleiner, kaum erinnernswerter Vorfall. New York, August 1999, wird ganz bestimmt im Erinnerungsalbum stehen, zusammen mit Fotos von den Sehenswürdigkeiten, aber diese Wackeltour durch die 43th Street – Mutter zieht Sohn an sich, Sohn zappelt unter ihrem Arm, und beide fangen jetzt an zu tanzen – wird bald vergessen sein. Billy schaut ihnen nach, ein Gesicht im Hintergrund von Familienfotos. 15:27. Millionen Dollar sind verloren. Jetzt muß er wirklich los. Am Times Square gibt es andere Uhren, Uhren, die rückwärts ticken bis zum Jahresende. Vielleicht erstmals in der Geschichte wird die Zeit als solche zum großen Thema aufgebauscht, das Millennium in allen Medien durchgehechelt, und dabei ist es erst August. Y2K (formerly known as 2000) ist ausverkauft. Dick Clark wird die Feierlichkeiten von seinem Fernseholymp herab moderieren, sein Gesicht verkörpert das ganze Land – ein Wunder der plastischen Chirurgie und des Reichtums. Greenwich Mean Time ist ein Dreck, vergeßt die lächerlichen Pazifikinseln, hier spielt die Musik, hier fällt der Hammer, hier geht die Post ab. Eastern Standard Time ist angesagt. Mag die Angst vor Computerpannen, dem allgemeinem Chaos und dem Weltuntergang, den sich die Bibeltüftler ausgerechnet haben, noch so groß sein – der wahre Schrekken beginnt erst am Tag danach, in der Woche danach, im Monat danach, wenn die neuesten Schönheiten die Zeitungskioske heimsuchen und die Schecks ohne viel Zögern mit einer Doppelnull datiert werden und das, was mal eine
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Epoche war, wie ein Schmutzfleck beiseitegewischt wird. Aber was passiert – Billy fängt an zu rennen –, wenn überhaupt nichts passiert?
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5 NACHDEM BILLY SO lange zu früh dran war, ist er nun wie immer zu spät. Er rennt über die 42nd Street, der Koffer schlägt ihm ans Bein – Scheiße! –, er rennt und rennt – Himmel noch mal! –, die Querstraßen ziehen sich endlos hin, er rennt und rennt, schon außer Atem, und läuft jetzt, okay, er läuft, aber er läuft schnell, über den Times Square, rempelt in den dicken Nachmittagspassantenpulk hinein – ‘tschuldigung, ‘tschuldigung –, läuft über die 7th Avenue, unter das Jumbotron, den Traum aller Home-Video-Fans, mit einem Anchorman, der über der Kreuzung thront wie ein moderner Koloß von Rhodos, nur daß Helios vom 24Stunden-News-Service verfinstert wird; er wartet am Broadway auf Grün, am Stiefelabsatz des Times Square, wo sich sein Vater und seine Mutter zum erstenmal trafen – am Wintergarden Theater –, wo sein Vater mal gearbeitet hat – 47th Street, der Diamantendistrikt – wo sie bis auf den Tag genau vor achtunddreißig Jahren selber Richtung Westen zum Busbahnhof gerannt sind, um ihre Liebesflucht aus New York anzutreten; Billy rennt weiter bei Grün, wie gehetzt von einem Schurken, der schlimmer ist als Ragnar & Sons, vorbei an den elektronischen Tickern für diverse Aktienkurse; er rennt, das heißt, er humpelt –
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Scheiße noch mal! –, humpelt und humpelt, wird immer lahmer und denkt, daß er wirklich mehr trainieren müßte; er läuft weiter, noch immer humpelnd, mit Seitenstichen und jetzt auch einem Hämmern im Kopf, hinter dem linken Auge, sicher ein schlechtes Zeichen, eine Embolie, ein Aneurysma; er nimmt den Koffer in die andere Hand, er müßte rennen, die Schmerzen einfach niederrennen, aber er läuft nur, mit fünf Schritten will er auf Trab kommen, mit fünf Schritten Anlauf für ein zackiges Finish, erster Schritt, zweiter Schritt, dritter Schritt, vierter Schritt, und da blinkt auch schon die Fußgängerampel an der 8th Avenue, kein Zweck, bei Rot weiterzurennen, der fünfte Schritt verharrt resigniert an der Bordsteinkante, Billy könnte schwören, er ist ein Fettsack, der in einen schlanken Körper eingepreßt ist, und sein Stoffwechsel ist fälschlich auf »athletisch« eingestellt. Wie versprochen, parkt der HAM-Kleinbus direkt vor dem Busbahnhof und sieht so prächtig aus, wie ein Nutzfahrzeug zur Mehrpersonenbeförderung nur aussehen kann. Der Streß perlt von ihm ab wie der Schweiß, der mit Verspätung zu strömen beginnt, als hätten ihn seine Schweißdrüsen erst jetzt eingeholt. Die New York Post unter seinem Arm ist klamm geworden, seine Sonnenbrille dampft. Sein Cats-T-Shirt wird lebendig und fängt böse an zu kratzen. Nur keine Sorge. Da steht der hellblaue HAMBus mit dem Logo einer Sonne, die entweder auf- oder untergeht. Aber die Erleichterung verwandelt sich in Fuck! – die Motorhaube ist hochgeklappt – Fuck! –, jemand beugt sich über den Motor – Fuck! –, mehrere Leute, vielleicht seine Mit-Normalen, stehen um den Bus verteilt, als würden sie Gefängnis spielen und nur darauf warten, daß der letzte Spielgefährte kommt und sie befreit. Die ganze
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Trickserei, all die gewundenen Umwege waren vergebens, sein Fluchtplan ist vereitelt. Billy, niedergeschlagen, überquert die Straße. Natürlich kommt mal wieder ein Taxi, das nicht bremsen kann, es schiebt ungestraft die Kühlerschnauze vor und fährt ihm fast die Zehen ab. Na klar, ein Einwanderer, der die Brutalität des Systems, dem er entkommen ist, nun als Taxifahrer ausleben will. Billy geht schräg auf die Motorhaube des Busses zu. »Bist du William Schine?« fragt der Mann, der am Motor herumfummelt. »Tut mir leid, ich komme zu spät, aber wie ich sehe, geht es sowieso noch nicht los.« »Nee, mein Guter, du hast nur Glück, daß ich so viel Geduld habe.« »Oh, danke.« »Hat sich was!« sagt der Mann unter der Haube. »Tu mir lieber den Gefallen und guck hier rein!« »Tut mir leid, von Autos versteh ich nix«, gesteht Billy. Nicht, daß er nicht gern etwas von Autos verstünde, vom Klavierspiel, von der französischen Sprache, vom Steptanz und von der Aquarellmalerei. »Du sollst nur gucken.« »Aber ich hab keine Ahnung.« »Ich brauche nur einen, der mir hilft.« Billy geht näher heran. Bei Lichte besehen hängt der Mann eher rum, als daß er repariert. Auf dem Kühler liegt eine aufgeschlagene Illustrierte, daneben thront eine Dose Mineralwasser. »Corker, mein Name«, sagt er. »Ich bin der Billy.« »Also, Billy, was siehst du?« »Wie schon gesagt, ich habe keine technischen Neigun-
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gen.» Corker zeigt auf den Filter. »Was du rechts von dir siehst, ist ein Verkehrspolizist – nicht hingucken! Der steht da drüben und denkt, daß wir hier parken, und hier ist Halteverbot außer Ein- und Aussteigen, deshalb haben wir einen Motorschaden. Er wollte mir sogar Starthilfe geben, aber ich hab den Anlasser abgeklemmt.« »Clever«, bestätigt ihm Billy. »Nee, der ist total bescheuert. Das lose Kabel hing ihm direkt vor der Nase, und der geht sein Starterkabel holen, als wüßte er Bescheid. Muß an der Batterie liegen, hat er gesagt. Idiot!« Billy hätte genau dasselbe gesagt. »Deshalb hab ich ihm erzählt, gleich kommt mein Freund, der ist Mechaniker. Und da bist du nun.« Corker mustert Billys Outfit. »Mechaniker! Daß ich nicht lache.« »Ich bin der befreundete Mechaniker?« »Nein, du bist der Idiot, der zehn Minuten zu spät gekommen ist.« Corker grinst, oder er gähnt, oder er senkt den Mittelohrdruck. Er hat einen Stiernacken. Billy stellt sich vor, wie Corker Hunderte von Pfunden mit dem Kinn stemmt. Er ist genau der Typ, der wilde Tiere erlegt und ausweidet, Hütten baut, Speere schnitzt, monatelang in der Wildnis überlebt – folglich sieht er auch so aus, als könnte er das Ende der zivilisierten Welt gar nicht erwarten. So einen wie ihn bräuchte man auf einer einsamen Insel, aber er würde einen bedenkenlos abschlachten, sobald sich die Versorgungslage verschlechtert. »Und ich soll was?« fragt Billy. »Ein bißchen rumfummeln, so tun, als ob, und mir dann sagen, ich soll ihn starten.« Corker schnappt seine Mineralwasserdose und die Illustrierte (People – ausgerechnet)
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und erklimmt den Fahrersitz. Was würde ein Mechaniker tun? Billy tätschelt die Batterie und beäugt die Pole. So also. Er mißt den Ölstand mit expertenhafter Geste. Kein Problem in Sicht. Er schraubt den Kühlerdeckel ab und linst hinein. Alles okay. Er zupft am Treibriemen. Sitzt schön fest. Er rubbelt am Verteiler oder Vergaser oder Generator oder wie das Ding heißt und findet nichts Auffälliges. Er prüft Rohre und Schläuche. Hmm, interessant. Dann bemerkt er den Tank für die Scheibenwaschanlage – aha! – und zieht den Deckel ab. »Hier haben wir das Problem«, sagt er und zeigt Corker den Deckel. »Der Krümmer war, äh, elastisch deformiert.« Corker hinterm Steuer verdreht die Augen, grinst und nickt. »Jetzt versuch’s mal!« brüllt Billy. Der Motor springt sofort an. Billy überkommt ein absurdes Gefühl der Pfiffigkeit, dasselbe Gefühl, das er hat, wenn er eine Glühbirne wechselt, eine verstopfte Toilette flottmacht, einen Nagel einschlägt. Bevor er die Motorhaube zuklappt, verschafft er sich einen letzten Einblick ins Geheimnis des Explosionsmotors. Obwohl er nichts Sinnvolles getan hat, zeigen seine Finger die Schmutzspuren ehrlicher Schinderei, Öl mit Dreck oder Farbe oder Blut. Der laufende Motor wirkt unnatürlich exponiert, wie ein aufgebrochener Brustkorb. Billy verspürt den Drang, tief hineinzugreifen in die dunklen, pumpernden Hohlräume. Er läßt die Haube fallen. Er wischt sich die Finger an der Hose ab, zum Zeichen einer wohlverrichteten Arbeit. Auf Geheiß wirft er seinen Koffer durch die offene Heckklappe in den Bus und geht nach vorn zur Schiebetür. Außer Corker sitzen sieben Personen drinnen, sechs
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männliche, eine weibliche, immer zu zweit in drei Reihen, und der glückliche Überzählige auf dem Beifahrersitz. Die mittleren Sitze sind noch frei, aber wegen der vielen Ellbogen, Füße und Rucksäcke wenig einladend. Das ist nicht persönlich gemeint, doch niemand will ihn neben sich sitzen haben. Billy schiebt die Tür zu und sagt mit schuldbewußter Betonung Hallo. Alle meiden den Blickkontakt, als hätte der Lehrer eine schwierige Frage gestellt. Bitte nicht bei mir, bitte nicht bei mir, bitte nicht bei mir scheinen sie zu flehen. Billy hockt sich in die Tür, bis er merkt, daß er damit die Spannung nur erhöht. Er steht auf und klettert nach hinten. Der Dominoeffekt der Erleichterung endet in zwei resignierten Seufzern. »Tut mir leid«, sagt Billy, als ihm Platz gemacht wird.
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6 DER BUS FÄHRT den West Side Highway oder Joe DiMaggio Expressway oder Henry Hudson Parkway entlang – alle paar Meilen ändert sich der Name –, Billy ist froh, daß er wegkommt. Endlich, endlich weg von hier. Wie immer findet er den Anblick des Flusses überraschend. Das graue Wasser sieht aus wie eine seltsam verwaiste Ringautobahn um Manhattan. Daß der Atlantik so nahe sein soll, ist kaum zu glauben. Eine salzige Brise auf der Straße wird eher als abwegig empfunden. Und aus dieser Perspektive wirkt die Skyline zwar vertraut, aber doch irgendwie fremd, wie kanadische Architektur. Weiter nördlich wird die Stadt gotisch. Alte Mietshäuser thronen wie Burgen über Abgründen. Diese Kehrseite hat nichts von Gershwin, bietet keine Postkartenpanoramen. Billy läßt die Stadt hinter sich und zieht Bilanz. Das ist zwar ein blöder Ausdruck, aber Reisen lassen ihn immer nachdenklich werden. Vielleicht sind die Filme schuld, in denen die Helden aus dem Fenster schauen und sich die vorbeiziehende Landschaft in der Scheibe spiegelt. Als wäre Besinnlichkeit vorprogrammiert, wenn man in Bewegung ist. Wie wär’s mit einem neuen Newtonschen Gesetz: Jede
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Beschleunigung eines Körpers ruft eine sentimentale Gegenwirkung hervor, besonders wenn Musik hinzukommt. Im Radio läuft der neueste Teeniehit, die frühreife Enkelin eines Altstars teilt den Boys ihre Pa-pa-pa-parameters mit. Vielleicht kein toller Song, aber trotzdem wird Billy von einem Prickeln des Unterwegsseins befallen, als würde er sein Alltagsselbst hinter sich lassen – mit Kaffeestand, Imbiß, Bar und Kino, mit dem Eckensteher, dem Plattenladen, dem Buchladen, dem Deli, den festen Tagesabläufen, der U-Bahn, dem Hotdog-und-Mineralwasserlunch, der alten Frau auf der Treppe, an der er jeden Abend vorbeikommt, und all den Abläufen, die auch mal variieren können, aber nur ganz ausnahmsweise einmal einen Abdruck in seinem Gedächtnis hinterlassen. Sein Tagesablauf ist so spontan wie die Programmfolge im TV-Guide. Manhattan bleibt hinter den Scheiben zurück, Billy entschwebt dem Bus, um das zurückgelassene Selbst heimzusuchen, als angewidert-genervtes Gespenst. Da steckt er, eingeklemmt in seine Nische bei Signet Corp., und die Festangestellten mit dem arroganten Blick der Sozial- und Rentenversicherten stoßen gegen seinen Stuhl. Den ganzen Sommer hat er Daten für diese Marktforschungsfirma erfaßt. Er tippt wertvolle Konsumentendaten aus Fragebögen ein, die den Garantieformularen beiliegen: Familienstand, Einkommen, Bildungsgrad, Hobbys. Der Morgen beginnt mit einem Stapel auf der linken Seite, der Nachmittag endet mit einem Stapel auf der rechten Seite. In der Mitte steht der Computer und verwandelt seine Daten in Kurven, Diagramme und Tortengraphiken. Niemand wird merken, daß er nicht mehr da ist. Ganz bestimmt hat People Person Services die Lücke schon gefüllt, wahrscheinlich wieder mit so einer Künstler-
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type. Die Zeitarbeit lockt kreative Elemente an, die Billy unablässig versichern, daß es sich nur um einen Geldjob handelt, mehr nicht. Das sind Kulturfundamentalisten, ihr Karrierepfad ist der einzig mögliche Karrierepfad. Manche verstecken ihre Tattoos, als wollten sie die Freiheit in ein unterdrücktes Land einschmuggeln. Viele empören sich über die Fehlvergabe von Oscars. Die meisten kaufen nicht in Kettenläden. Etliche schwören auf Vinyl, einige liebäugeln mit dem Kunsthandwerk, ein paar verteilen Programmzettel ihrer nächsten Show. Viele benutzen das Wort Partner auch im heterosexuellen Kontext. Die eine Hälfte besitzt höhere Abschlüsse im kreativen Bereich, die andere Hälfte strebt höhere Abschlüsse im kreativen Bereich an. Niemand ist auch nur im geringsten unaufrichtig. Alle reden über Portfolios und Manuskripte und Drehbücher und Gemälde und Kurzfilme und Projekte, und das mit dem Gehabe zehnjähriger Narkoleptiker, die ihre Träume beschreiben. Und keiner von ihnen mag Billy. Sie mißtrauen jedem, der auf einem anderen Trip ist. (Das ist ihre Bezeichnung.) Billy ist auf keinem erkennbaren Trip. Zweimal schon hat man ihm seine Triplosigkeit vorgeworfen. Aber wenn sie ihn fesseln und foltern und zum Reden bringen würden, würde er alles über die Schönheit herausschreien und die ganze Wahrheit ausplaudern, sogar zu seinem eigenen Nachteil. Weil er ja auch gern auf dem Trip sein möchte, er hat bloß nicht die Kraft dazu. Da seine Gedanken über Midtown kreisen, verweilen sie kurz bei Sally, die dort fleißig ihre Zahlen frisiert und keine Ahnung hat, wie ihr Tag enden wird. Möglich, daß sie früher geht, im Sommer ist an den Freitagen nicht viel los, und ein paar Besorgungen macht, vielleicht zum Jogakurs geht. Auf jeden Fall wird sie ihm auf dem AB mitteilen,
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wann sie nach Hause kommt, und fragen, was man zum Abendessen machen könnte. In ihrer Raum-Zeit existiert Billy noch. Sie hat keine Ahnung, daß sich ihr Zusammenleben gerade entkoppelt, daß sein Zu-Hause-auf-sie-warten eine ganz schlecht fundierte Einbildung ist. Seltsam, denkt Billy, daß sich Uhren teilen und so anders ticken können und alle Annahmen unversehens falsifizieren. Tick tick tick. Du bist ein wandelnder Anachronismus, der die Wirkung eines umgelegten Schalters erwartet. Na, dann tschüss. Alle paar Minuten malt er sich aus, wie Sally seinen Brief liest. Billy stattet sie mit einer Einkaufstüte aus, dem üblichen Requisit für Schreckensnachrichten; eine Packung Eier, frisch von der Farm, liegt schon am Boden. O Gott, einfach abgehauen! Billy krümmt sich inwendig. Wie konnte er nur? Ist er wirklich so ein Unmensch? Noch Monate und Jahre später wird ihn das wahrscheinlich wurmen, wird er das Vorgefallene abwägen, so wie er noch immer daran denken muß, wie er dem armen Jasper Moss den Baseball ins Gesicht geschossen hat. Jasper Moss war abgelenkt von einem Flugzeug, »eine L 10-11«, hatte er geschwärmt, kurz bevor der Ball seine Nase traf. Jasper heulte, und Billy – na, was? – lachte – ja, lachte –, obwohl er sich sofort den Handschuh vors Gesicht hielt, zu Jasper rannte und sich entschuldigte wie ein Verrückter. Aber egal, wie verrottet sein Gewissen ist, solche Erinnerungen wird Billy nie los. Fast täglich schießen sie ihm durch den Kopf wie synaptische Fehlzündungen. Der Brief an Sally wird in seiner Psyche steckenbleiben wie die Lesezeichen in den Romanen, die er hätte zu Ende lesen müssen. So viele Lesezeichen. Seine Mutter und sein Vater kriegen ständig Eselsohren, seine Freunde
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werden immer verblättert, bis Billy sie ad acta legt, indem er keine Anrufe oder E-Mails mehr beantwortet und zugleich den Mangel an richtigen Freunden beklagt. Aber Billy weiß gut über sich Bescheid, er weiß sogar zu gut über sich Bescheid, er weiß, daß er zu gut über sich Bescheid weiß usw. Der Bus fährt über die Henry Hudson Bridge und läßt Manhattan hinter sich. Am Himmel hängen Wölkchen wie von Flakfeuer. Nur Ragnar wird mich vermissen, denkt Billy. Er dreht sich um und hält durch die Heckscheibe Ausschau nach Verfolgern.
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7 FAST DIE GANZE FAHRT über herrscht Schweigen im Bus. Jeder verschanzt sich hinter einer Beschäftigung – Zeitschriften, Walkmen, Computerspielen, Schlaf – und wirft ab und zu einen gelangweilten Blick auf die Landschaft. Die Stadt und die Vororte sind abgelöst durch Farmen und Hügel. Ortschaften sind nur an den Ausfahrten ersichtlich. Der Wochenendverkehr ist trotz seiner Dichte recht flüssig. Corker bleibt meist auf der Mittelspur, und wäre er ein guter Fahrer, hätte er nicht die lästige Angewohnheit, in vorbeifahrende Autos hineinzustarren, als hielte er Ausschau nach einer Exfreundin. Er zieht gleich, worin man eine Variante des Drängeins sehen kann, und schaut ein paar fahrlässige Sekunden zu lange hinüber. Er schleicht sich in einen toten Winkel ein, den Handballen immer hupbereit, und ruft »Hab ich dich!«, wenn das Auto die Spur wechseln will. Widerstreitende Emotionen scheinen in ihm hochzukochen, wenn ihm glitzernde Sportwagen zu langsam fahren. Sie sind für ihn tuntige Matadore, die sich mit ihrer unnützen Aerodynamik schmücken wie mit einem roten Cape, und das macht ihn zum blindwütigen Verkehrsrowdy. Ruckartig krümmt er sich und gibt Gas, um ihr Tempo als Bummelei und den Kauf eines solchen Schlittens
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als Betrug zu entlarven. »Tja, Mr. Porsche«, knurrt er und nähert sich Tempo 120. »Lachhaft! Läßt sich von einem Kleinbus überholen! Mit dem Teil könntest du voll abdüsen. Siehste mal wieder. Potenz kann man nicht kaufen.« Corker spinnt seinen Faden aus Neid und Mißgunst. Niemand im Bus stört sich daran außer Peter Swain. Vorgestellt wurden sie nicht, nur die Namen wurden verlesen, und mit einem »Hier« oder »Ja« quittiert. Peter Swain ist der Mann auf dem Beifahrersitz, der manisch kettenraucht, aber jedesmal um Erlaubnis fragt – allen Ernstes! – und die Zigarette in den Fahrtwind des Fensterspalts hält. Seine Marke sind Virginia Slims, obwohl er früher Silk Cut geraucht hat, aber diese jetzt findet er witziger. Die Hinterbänkler hassen seinen abgestandenen Sarkasmus genauso wie seine Beinfreiheit, seinen Schalensitz und seinen Zugriff auf die Klimaanlage. Immerwenn ein Cabrio des Wegs kommt und Corker seine romantische Fehde beginnt, spürt Billy einen kleinen Kick der Genugtuung, weil Swain nervös seinen Gurt festzurrt. Brad Lannigan und Sameer Sirdesh sitzen hinter Peter Swain. Lannigan liest Hamlet und Sirdesh pennt, das Gesicht an der Scheibe. Lannigan ist etwa Mitte dreißig. Sein Aussehen ist das reinste Täuschungsmanöver und nur deshalb interessant, weil er einen glauben macht, er sähe gut aus, obwohl er nur braungebrannt, trainiert und gutbehaart ist. Ständig blickt er kontaktheischend in die Runde und nickt, als würde er die Gedanken der anderen lesen und uneingeschränkt bejahen – hey, ich brauch den Hamlet nicht, ich will lieber quatschen. Aber keiner springt an. Schon gar nicht Sirdesh, der gleich nach der Abfahrt im
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Tiefschlaf versunken ist. Da er als Kissen nur seine Hände hat und als Matratze den rüttelnden Bus, muß er unendlich müde sein. Hinter den beiden sitzen Bruce Ossap und Val Dullick. Billy vermutet Freunde, die gemeinsam auf Abenteuer aus sind. Sie stoßen sich an, tauschen Zeitschriften – Playboy, Guns and Ammo, Penthouse, Soldier of Fortune – und Witzeleien, die von Titten und Uzis handeln. Von Statur sind sie das klassische Komikerpärchen; Ossap ist bullig und Dullick schlaksig, gemeinsam ist ihnen die bedrohliche Körperlichkeit eines Nudelholzes. Beide haben den gleichen Bürstenschnitt und das gleiche Outfit: weiße T-Shirts, in blaue Camo-Pants gestopft, die gleiche schulterklopfende Kumpelmasche. Wie Freizeitguerilleros auf der Suche nach dem nächsten Spaßbad. Und hinten, rechts und links von Billy, sitzen Gretchen Warwick und Rodney Letts. Knie kommen sich gefährlich nahe, Zufallskontakte drohen in jeder schärferen Kurve. Füße bleiben fest auf dem Boden verankert. Blicke weichen jeder Begegnung aus. Gretchen schaut nach links, auf den Mittelstreifen, Rodney schaut nach rechts, auf die eigene Schulter. Sie könnten Janus spielen auf ihrem Rücksitz. Billy faßt Gretchen diskret ins Auge. Sie spielt Computerpatience, und während sie mit den Daumen die virtuellen Karten austeilt, quillt ihre Zunge zwischen den Lippen hervor wie die glitschige Masse in den Horrorfilmen. Sie ist weder dick noch dünn, weder groß noch klein, weder jung noch alt, obwohl weniger Wohlwollende das anders sehen könnten. Drei Pockennarben zieren ihre Stirn wie Einschußlöcher die ländlichen Stopschilder. Ihr Kopf hat eine ähnliche Form, doch ihr Ausdruck ist bei weitem nicht so resolut; was das betrifft, ist sie eher ein Vorfahrtsschild. Aus
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den meisten Blickwinkeln wirkt sie unscheinbar, manchmal häßlich, oft streng – mit großer Nase, dünnen, mißtrauischen Lippen, kritischem Blick, fast steinzeitlichen Brauen und kantigem Kinn. Sie ist so bleich, daß man meinen könnte, sie schwitze Magermilch aus. Doch jede Kopfbewegung bringt den winzigen Bruchteil einer merkwürdigen Schönheit zutage, ihre linkischen Gesichtszüge fangen das Licht ein und werden plötzlich exotisch – wie ein Diamant mit einer einzigen Facette. In gewissen Augenblicken – und nur dann –, beginnt sie zu leuchten. Und schon ist es vorbei. Neunundneunzig Prozent der männlichen Population würden sie übersehen, aber das restliche Prozent wäre hingerissen. Billy, so scheint es, zählt zu letzterem. Vielleicht reizt sie ihn nur deshalb, weil sie die einzige Frau im Bus ist. Das Unterwegssein weckt in Billy immer den Gedanken an die Liebe. Flugzeuge, Busse, Bahnen üben aphrodisische Wirkung auf ihn aus, Flughäfen und Bahnhöfe haben für ihn den Gefühlswert von Singlebars. Daran ist nichts Schmutziges, wie der Gedanke etwa, es in einem Behinderten-WC zu treiben, ganz und gar nicht. Okay, solche Phantasien können sich schon mal einschleichen, aber er neigt eher zur Romantik. Bei jeder Reise stellt er sich vor, seine zukünftige Frau kennenzulernen. So was wie Schicksal ist ihm zwar schnuppe, aber er schwört auf die Zufallsbegegnung. Er überprüft Hände auf Eheringe, lauert an Ausgängen auf potentielle Bräute, behandelt Fahrkartenverkäufer wie beamtete Liebesgötter. Total bescheuert ist das, und er weiß es, besonders wenn er an die Leute denkt, auf die es normalerweise hinausläuft, aber er fragt sich jedesmal, ob vor ihm oder hinter ihm oder gegenüber von ihm die Frau seiner Träume sitzt, die Frau, die ihm gefehlt hat, die Frau, die ihm alles richtet.
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Rechts von Billy sitzt ein ganz anderes Wesen. Rodney Letts ist unansehnlich aus allen erdenklichen Blickwinkeln. Unausgeschlafenheit und improvisierte Hygiene dringen ihm aus allen Poren, als hätte er sich am Morgen saubergeleckt und Parfümproben in die Taschen gesteckt, um das Unübersehbare zu verdecken – daß er ein Schmutzfink ist. Seine Haut hat die Beschaffenheit eines ausgetrockneten alten Schwamms, besonders um die Nase, an deren Spitze sich ein schwarzer Fleck befindet. Ein bißchen Wasser, mit Alkohol angereichert, würde Wunder wirken, denkt Billy. Rodney hat den verschreckten Ausdruck eines Mannes, der Schlimmes durchgemacht hat und sich nun auf die Rolle des harmlosen Sonderlings verlegt. Nach einer Stunde Fahrt fragt er Billy, wie spät es ist. »Sechzehn Uhr achtunddreißig.« »Genau?« »Nach meiner Uhr jedenfalls.« »Das ist mir genau genug.« Rodney wühlt in der Einkaufstüte, die er von Anfang an im Arm gehabt hat, und holt unter Geraschel eine Klarsichtpackung mit Rohkostspinat und Rosinen heraus. Er öffnet die Packung und beschnüffelt den Inhalt. Dann nickt er zur eigenen Ermutigung, holt mit den Fingerspitzen einen Batzen Blätter heraus, zögert, überwindet sich. Kauen ist das Minimum, Schlucken ist das Ziel. Genausogut könnte er Alufolie essen. Aber er ist zu allem entschlossen, seine Finger bereiten schon den nächsten Happen vor. Da er die Anteilnahme seines Mitfahrers spürt, fragt er Billy, ob er etwas abhaben möchte. »Ähm. Nein, danke.« »Würdest du denn, wenn du nicht...« Rodney bricht ab, blickt Billy an, als hätte er gerade seinen Kindheitsfeind
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wiedererkannt und wäre drauf und dran, ihm einen PopeyeSchwinger zu versetzen. »Meine Güte«, sagt er. »Sehe ich denn so schlimm aus, oder hast du Zerrspiegel auf der Sonnenbrille?« »Du siehst okay aus«, lügt Billy. »Ich sehe bestimmt wie Scheiße aus.« Rodney ruckt mit dem Kopf, um sein Spiegelbild einzufangen. »Erste Sahne. Ganz offensichtlich. Und ich hab mich um meine Leberwerte gesorgt, ich Idiot. Ein Blick, und sie stempeln mir Sayonara auf die Stirn. Ich hab mich sogar rasiert.« Rasiert ist eine Übertreibung, außer er hat Konservenblech als Rasiermesser benutzt. »Du siehst total okay aus«, wiederholt Billy und nimmt die Sonnenbrille ab, damit der Kerl endlich mit seinen Selbstbetrachtungen aufhört. »Das ist eine ganz miese Brille. War viel zu billig. Glaub mir, du siehst okay aus.« Aber bei natürlichem Licht sieht Rodney noch übler aus. Sind seine Augen nur entzündet, oder sind sie salmonellenverseucht? »Ich bin am Ende«, stöhnt Rodney. »Rat mal, warum ich diesen Müll fresse.« Er pflückt eine Rosine vom Backenzahn und studiert das schwarze Glibberding, als hätte er so was noch nie in seinem Mund gefunden. »Diesen ganzen Müll. Weil ich ein Arschloch bin.« Er zählt den Inhalt seiner Einkaufstüte auf. »Getrocknete Aprikosen, Kräutertee, Orangewurz – hat mir ein Freund empfohlen, ist eisenhaltig. Bevor wir ankommen, muß ich diese ganze Flasche Essig trinken.« »Warum? Hast du eine Anämie oder was? »Nee, nur’n kleines Alkoholproblem«, erklärt Rodney mit betonter Zurückhaltung. »Oh.« »Seit zwei Tagen fresse ich dieses Zeug und bete zu
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Gott, daß meine Leberwerte wieder stimmen, alles wegen dem verdammten Mittwoch. Ich wollte nur einen Abschiedsdrink und hab mich vergessen. Die Schweine haben angeschrieben, weil sie wußten, daß ich in zwei Wochen wieder bei Kasse bin. Okay, vielleicht hab ich’s so gewollt. Trotzdem, sie haben ihre Investition untergraben. Ist aber verdammt noch mal meine Schuld. Normalerweise bleibe ich in der Woche davor trocken, und alles geht glatt. Aber ich und meine Abschiede. Gestern hab ich mir dann noch mal mit Scotch die Kante gegeben.« »Dann machst du das schon länger?« Rodney grinst. »Mich besaufen?« »Nein, ich meine diese Art von Drogentests.« »Mann, ich könnte als Versuchskarnickel promovieren. Sechs Jahre mach ich das, bei allen großen Firmen, drei-, vier-, fünfmal im Jahr. Ich vermiete denen – er breitet die Arme aus – mein einziges Eigentum. Hab sogar ein paar Pseudonyme, damit ich mehr Tests und mehr Knete machen kann, ohne daß die Typen immer von Überbelastung und so weiter quatschen.« »Und wie heißt du wirklich?« fragt Billy. »Wie der Mann sagte. Rodney Letts. Und du?« Billy nennt seinen Namen. »Also, ich wette, deine Leber ist rundum gesund. Du hast keine Dehydrogenase in der Pisse. Deine ist goldgelb.« Rodney schraubt die Essigflasche auf und schnuppert ihr Riechsalzaroma. »Aber ich, ich bin im Eimer, und das ist Scheiße, weil ich das Geld brauche. Und dieser Job ist super-easy, Mann. Nur schlafen, in der Wanne abhängen, gutes Essen, Glotze. Dafür mußt du nichts weiter als bluten, pissen und alles schlucken, was sie dir geben. Wenn du ein Placebo kriegst, holst du deine Kohle von der Bank und
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lachst dich schlapp.« »Und wenn nicht?« »Auch nicht weiter schlimm. Rechnen kannst du mit grippeähnlichen Symptomen, die sind Standard. Plus ein paar Zugaben. Hängt von der Droge ab. Zum Beispiel, was wir testen, das atypische Psychopharmakon. Das könnte dir gewaltig im Kopf rumspuken. Ein Zweiwochenstupor. Aber egal, wie’s dir geht, immer schön die Klappe halten. Erzähl denen bloß nichts, und wenn du dich noch so beschissen fühlst. Das ist der typische Anfängerfehler. Die kriegen die Panik und schicken dich vorzeitig nach Hause. Und ziehen dir was ab. Am besten sagt man gar nichts über die Nebenwirkungen und überläßt alles den Blutwerten. Die interessieren sich sowieso nur für dein Blut. Klar, die tun so, als wären sie an deinem Kopf interessiert, aber sie wollen nur das hier.« Rodney zeigt auf seine Ellenbeuge. »Laß dir von denen die Birne zerknallen und mach keinen Ärger, dann haben alle ihre Ruhe. Das ist mein einziger Tip. Aber guck mich an. Ich saufe Essig, verdammt noch mal.« »Willst du das wirklich trinken?« »Ich muß«, sagt Rodney. »Damit ich meine Werte runterkriege. Altes Hausmittel. Diese Jauche bringt den Stoffwechsel auf Trab.« Rodney macht die Nachspülung fertig: eine Zweiliterflasche Wasser. »Einfach runter damit. In einem Schluck.« Er zögert kurz. »Ich hoffe, es bleibt drinnen.« »Ich auch«, sagt Billy. »Ist gar nicht so schlimm. Wie verdorbener Rotwein.« Rodney schnüffelt. »Okay, es ist echt übel.« Er hebt die Flasche. »Naja, Billy Schine, nett, dich kennenzulernen. Auf dein Wohl und vor allem meins.« Er setzt an und schluckt etwa ein Viertel des Essigs, bis ihn der Geschmack
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ereilt, ihm die Kehle zuschnürt, Würgelaute entlockt. Die Augen zusammengekniffen, den Mund nach unten gezogen, sieht er aus wie ein Ochsenfrosch, der im Begriff ist, eine Hornisse zu verspeisen. Röchelnd, sabbernd, schwitzend beugt sich Rodney vor und sondert einen langen Speichelfaden ab. Billy überlegt, ob er ihm auf den Rücken klopfen soll, und entscheidet sich dagegen. Rodney krümmt und windet sich und durchläuft seine eigene Version von Elisabeth Kübler-Ross, bis sein Magen die Ladung geschluckt hat. Er wischt sich übers Gesicht, lacht. Sein Atem riecht wie Salatsauce. Die Busbesatzung hat etwas von Rodneys Aktion mitgekriegt, Blicke treffen Billy, als hätte er ihm in den Magen geboxt. Ossap und Dullick glotzen wie Zwillinge von verschiedenen Eltern. Lannigan fragt, ob da hinten alles in Ordnung ist, und giert nach mehr als dem knappen Ja, das er bekommt. Samir Sirdesh schläft weiter. Swain belehrt Corker, daß ein Dodge Viper kein Sportwagen ist. Gretchen kümmert sich nicht um das ganze Drama, nur um ihr Computerpatience. Billy hält es für angezeigt, die New York Post aufzuschlagen, um weiteren Kontakten mit Rodney Letts und seinen gefährdeten Leberwerten zu entgehen. Die Schlagzeile schreit DAS GRABTUCH VON CHUCK – ganz nach Art der Post. Billy liebt die dicken Lettern, die Wortspiele, die täglich neuen Infamien. Unter der Schlagzeile sieht man eine MRI-Aufnahme, die unheimliche Ähnlichkeit mit dem berühmten Gesicht auf dem Turiner Grabtuch hat. Die Schattierungen und Linien des Hirnscans zeigen den gleichen Bart, die gleichen Augen, die gleiche Haartracht und das gleiche abgezehrte Glückseligkeitslächeln. Wie eine Kohleskizze des Originals. Die Bildunterschrift erklärt, daß es sich um die MRI des Klempners Charles Savitch aus
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Menomonee Falls, Wisconsin, handelt, der unter einem Hirntumor unbekannter Prägung leidet, ausführlicher Bericht auf Seite 4. Nach dem ganzen Trara auf der Titelseite ist der Artikel kürzer als erwartet. Daneben noch ein Foto von Chuck Savitch, aus dem Highschooljahrbuch 1984. In einem Alter, in dem man nicht gerade schmeichelhaft aussieht, denkt Billy und fragt sich, warum Zeitungen diese Fotos so gern verwenden – für Täter und Opfer gleichermaßen. Sein eigenes Jahrbuchfoto wäre nicht kriminell genug – William Adamas Schine, ein halbgares Gesicht, eine kubistische Frisur und Klamotten aus dem Container, wie es aussieht. Und nicht zu vergessen sein Wahlspruch: »Fragt mich nichts mehr. Was ihr wißt, das wißt ihr. Von dieser Stund an rede ich kein Wort.« Ja-go. Ja, schon gut. Aber wenigstens wird das nicht überall breitgetreten wie der arme Chuck Savitch mit seinem verpickelten Kinn, seinen ratlos (hä?) hochgezogenen Schultern, dem Grinsen, das seine vorstehenden Zähne entblößt, der wehenden Mittelscheitelfrisur, auf die seit jeher die Eishockeyspieler abonniert sind, dem Sakko und der Krawatte vom Charme des vorangegangenen Jahrzehnts. Aber er blickt unverzagt drein, ohne zu ahnen, daß er in vierzehn Jahren bei seiner Mutter wohnen wird, unheilbar erkrankt an etwas, das eine Schöpfung aus Krebszellen war. Jetzt weiß Billy, warum es Highschooljahrbuchfotos gibt: Sie sind die naiven Abbilder kommender Qualen. Das Krankenhaus geizt mit Auskünften, beruft sich auf den Datenschutz, stellt aber fest, daß die MRI aus der Röntgenabteilung entwendet wurde (man verdächtigt einen vor kurzem wiedergeborenen Röntgentechniker) und kündigt ein internes Ermittlungsverfahren an. »Diese Aufnah-
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me ist das alleinige Eigentum des Mercy Hospitals, und des Mr. Savitch, und jede illegale Wiedergabe ohne Erlaubnis ist verboten«, erklärt der Krankenhaussprecher. Aber das Bild macht schon die Runde durchs Internet. Das Christian Web hat es in Umlauf gebracht, es folgten die Supermarktblättchen, und nun hat auch die Boulevardpresse zugeschlagen. Gerüchte eines Schwindels, einer Fälschung werden von der Savitch-Familie dementiert, die weitere neurologische Untersuchungen ankündigt, wenn sie denn erforderlich sein sollten. »Lassen wir das Religiöse mal beiseite, aber mein Sohn stirbt nicht an irgendeinem Schwindel«, wird seine Mutter zitiert. In einer extra Spalte bringt die Post ein Interview mit einem Onkologen vom Memorial Sloan-Kettering Hospital. Er mutmaßt, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ein fortgeschrittenes Glioblastom handelt. »Die Ausbreitung des Neoplasmas ist symptomatisch für diese Krebsform, wenn auch einzigartig in dieser Gestabs sagt er. »Tumoren bilden unterschiedliche Muster, aber ich kann Ihnen versichern, daß jede Ähnlichkeit mit Jesus Christus rein zufällig ist und in keinster Weise vom Tumor beabsichtigt. Die Fakten sprechen lediglich dafür, daß Mr. Savitch schwerkrank ist.« So krank, daß ihn die Klinik nach Hause entlassen hat. Die Behandlungsmöglichkeiten sind in Anbetracht der Größe und Lage des Tumors sehr begrenzt. Schmerztherapie ist die einzige vernünftige Alternative. Das freut die Fundamentalisten, für die bereits der Gedanke an Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie Gotteslästerung bedeutet. In Menomonee Falls treffen die ersten Neugierigen ein. »Wunderjäger« werden sie von der Post genannt. Natürlich wird auch das Milennium erwähnt. Und in der Gemeinde der Pilgerfreunde geht das Gerücht um, daß die Kranken und Ge-
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brechlichen ihre Flüge nach Lourdes und Fatima canceln und nach Menomonee Falls umbuchen. Es ist hohe Zeit, da sind sich alle einig. Billy bekommt Kopfschmerzen. Wieder so eine Nullstory, und Billy weiß schon jetzt, daß er auch diesmal jedes unappetitliche Bißchen verschlingen und genießen wird, das dem unersättlichen Schlund der Medien entspringt, daß er gierig auf den nächsten Brocken warten wird wie die Ratte auf dem sinkenden Schiff. Billy hört auf zu lesen und schaut aus dem Fenster. Nicht viel zu sehen außer dem Mittelstreifen und dem Gegenverkehr. Ab und zu ein totgefahrenes Reh am Straßenrand, ein trauriger, aber auch exotischer Anblick, als wäre es von einem Puma und nicht von einer Stoßstange erlegt worden. Und das da, das sieht aus wie ein Hund – wie ein toter Hund, genauer gesagt. Billys Magen zieht sich zusammen, und er beginnt die Toten zu beklagen, sein Inneres erbebt vor lebensbejahender Trauer, mehr abstrakt als tränenreich, und verharrt in dieser Art der Totenwache, bis sie an dem armen Kadaver vorüberfahren, der sich nun als zerfetzter Autoreifen entpuppt. Statt Lassie liegengelassener Müll. Aber auf dem Mittelstreifen, eingefangen zwischen beiden Fahrbahnen, hüpfen quicklebendige Kaninchen herum. Billy findet das deprimierend, wie Flopsy und Mopsy in der Opiumhöhle. Nicht, daß er eine übermäßige Schwäche für Kaninchen hat. Woher auch. Im Grunde handelt es sich um Nagetiere. Semiprofessionelles Wild. In den Natursendungen kommen sie nur als Beute eindrucksvolleren Getiers vor. Also warum – warum? – beugt er sich zu Gretchen hinüber und sagt etwas über die Kaninchen? »Wie bitte?« fragt sie. »Schon gut«, rudert er zurück. »War nichts.«
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»Nein, du hast was über Kaninchen gesagt.« »Was Blödes.« »Nein«, sagt sie strahlend. »Erzähl mir von den Kaninchen.« »Ich klinge bestimmt wie George. Oder ist es Lennie? Lennie oder George? Du weißt schon, Von Menschen und Mäusen. Die beiden verwechsle ich immer. Ich glaube, es war Lennie. Nicht daß ich deine literarische Bildung auf die Probe stellen will.« »Zufällig hab ich es gelesen, und ich bin ziemlich sicher, daß du Lennie meinst.« Billy nickt wie versteinert. »Ja, wird wohl so sein. Lennie liebte die Kaninchen. Erzähl mir von den Kaninchen, George. Ja, genau.« Er tut so, als wäre die Unterhaltung damit beendet, und verkriecht sich wieder hinter die Zeitung, Kopfschmerzen oder nicht. »He, warte doch. Erzähl mir von den Kaninchen,______.« Sie läßt eine Leerstelle für seinen Namen. »Billy. Ich bin Billy.« »Ich bin Gretchen.« »Es ist blöd, aber sie tun mir leid. Siehst du sie? Sie hüpfen in Scharen in den Büschen herum, und ich hab mir vorgestellt, sie verbringen da ihr ganzes Leben, eine Generation nach der anderen, auf diesem Mittelstreifen mit all den Autos zu beiden Seiten. Das kam mir, na ja, deprimierend vor, bis ich es ausgesprochen habe.« »Vielleicht ist das wie eine Schutzzone für sie.« »Bei dem Krach? Bei den Abgasen?« Gretchen weist mit dem Kinn auf seine Brust. »Vielleicht stoppt das die Katzen.« »Glaubst du, Katzen sind ... oh.« Billy zupft an seinem Cats-T-Shirt. »Nur ein Witz. Ich meine, ich trage das
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Hemd aus ironischen Gründen. Ich schwöre, ich hab keine Ahnung von Old Deuteronomy oder Macavity oder Grisabella. Ich weiß nicht mal, warum ich das angezogen hab.« Der Gedanke an Ragnar scheint unendlich fern. »Und diese blöde Mütze. Ich glaube, es war nur so eine Laune.« Ein schiefes Lächeln von ihr, zwischen Neugier und Argwohn, Billy ist sich nicht sicher, aber entscheidet sich für interessiertes Unbehagen und lächelt – entsprechend verlegen – zurück. »Widmen wir uns wieder dem verordneten Schweigen, das schon weit fortgeschritten ist.« Er schläft oder tut so, in der Hoffnung, sich selbst zu überlisten und wirklich einzuschlafen – mit geschlossenen Augen, offenem Mund, pfeifendem Atem, Träumereien, zum Beispiel von Gretchen, die ihn schlafen sieht, ihn ausführlich betrachtet und es duldet, daß sein Kopf mit jedem Schlagloch tiefer auf ihre Schulter sinkt, bis er tatsächlich einschläft und träumt oder sich an seine Träume erinnert –, als der Bus in die Abfahrt einbiegt und ihn aus einem Alptraum rüttelt, bei dem er am Steuer saß und alle paar hundert Meter eine Leiche auf der Straße liegen sah und einfach über sie hinwegfuhr, Fleisch und Knochen in den Asphalt walzte, als wäre das der Lauf der Welt. »Wir sind da«, sagt Rodney Letts zu ihm. »In etwa.« Fastfoodrestaurants, Tankstellen, Kettenläden in einer Reihe, Gedränge wie von Herdenvieh an der Tränke. Billy, noch im Halbschlaf, stellt sich ein Raubtier vor, das blitzartig in die dumpfe Menge fährt, Stuck und Bretterwände beiseite fetzt und den papierhütchenbewehrten Teenagern die dampfenden Innereien herausreißt. Corker sagt, ohne sich an jemanden im besonderen zu richten, daß zwei Stunden, zwanzig Minuten keine schlechte Zeit sind, obwohl er letzte Woche nur zwei Stunden ge-
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braucht hat. Der Bus biegt links ab und noch einmal links in eine Straße, die an einem Maschendrahtzaun mit Torhäuschen und dem Schild »Privat« endet. Corker winkt dem Wachmann zu, der aus seiner klimatisierten Kabine herauslugt. Das Tor öffnet sich. Corker brüllt »Stinkend faule Sau!« durch sein geschlossenes Fenster. Der Wachmann brüllt etwas zurück, durch sein ebenfalls geschlossenes Fenster. Ossap und Dullick sind plötzlich ganz aufgeregt. Sie rekken die Hälse wie Achtjährige beim Betreten des Märchenlands, als wäre der Wachmann ein lieber Zwerg, der im Pilz wohnt und sie in dieser automatisierten Wunderwelt willkommen heißt; wer die Augen offenhält, entdeckt vielleicht sogar ein Einhorn am Wegesrand. Ossap klappt sein Handy auf. »Hey«, sagt er. »Ich gebe Vater Bescheid, daß wir angekommen sind und uns bald melden.« Lannigan, den Hamlet in der Hand, dreht sich um. »Seid ihr Brüder oder was?« Dullick starrt ihn lange und bohrend an, bevor er antwortet. »Willst du’s unbedingt wissen?« »Nein.« Ossap klappt das Handy zu. »Wir sind Cousins.« »Aber nicht blutsverwandt«, präzisiert Dullick. Ossap verfeinert die Auskunft: »Mein Vater ist schwerkrank und braucht Geld für die Rückreise in seine Heimat. Deshalb sind wir hier.« Er klingt wie ein Soldat, der Name, Dienstgrad, Nummer nennt. »Wohin geht denn die Reise?« fragt Lannigan. »Nach Ungarn. Er ist Ungar. Ungarischer Amerikaner.« »Was hat er denn, dein Vater?« fragt Lannigan. »Sorry, ich hab wirklich keinen Bock auf dein Gequat-
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sche«, sagt Ossap. Billy findet diese plumpe Abfuhr beeindruckend, fast ehrfurchterweckend. Vor ihnen öffnet sich eine Lichtung. »Willkommen im AHRC!« brüllt Corker.
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8 DIE INSASSEN, vom Bus befreit, recken sich, suchen wieder Anschluß an ihre Glieder. Anders als in der Stadt, wo Schwüle übermäßig intim wirken kann, als würde sie nach dem Prozentanteil allgemeiner Schweißabsonderung bemessen, scheint Hitze hier von ihrem menschlichen Beigeschmack befreit. Alles schmort gleichermaßen in der Sonne. Kiefernwälder, in deren Schatten Hexen und Indianer umherschleichen könnten, umgeben das Gelände und konservieren alte Pionierängste. Mitten auf der Lichtung steht das AHRC: sechs Stockwerke Glas und Metall, ein Hauptgebäude und zwei Flügel, ein Kasten wie aus einem SFFilm, der in einer fernen, unmenschlichen Zukunft spielt. Aber in dieser Umgebung, in dieser abgelegenen Wildnis, ist es die Zukunft, die verloren wirkt. Wenn Häuser wie Fallschirmspringer vom Himmel schweben würden, das Chrysler Building, das Empire State Building, das Citycorp Building – Go! Go! Go! –, dann wäre das AHRC der Pechvogel, der ein bißchen zu spät sprang, von einer heftigen Bö erfaßt und tief ins Feindesland abgetrieben wurde. Corker öffnet die Heckklappe. Das Gepäck wird in Empfang genommen. Rodney schnappt seinen Sack, einen ordinären blauen
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Müllsack, den seine Habseligkeiten ausbeulen wie Krebsgeschwüre. Rodney öffnet den Verschluß, verstaut seine Einkaufstüte mit den leberschonenden Artikeln und hievt sich die Last auf die Schulter. Billy hat solche Typen in der City gesehen, Pfanddosensammler, die ihren Lebensunterhalt in Fünfcent-Raten verdienen. Diese Leute beschämen ihn immer mit ihrem kleinen Vorsprung an Würde. Sie arbeiten härter als er – verdammt, sie nützen sogar der Umwelt! Jetzt strahlt Rodney, als ließe sich sein Wert in Aluminium aufwiegen. »Wie seh ich aus?« fragt er Billy. »Gut«, lügt Billy. »Wirklich?« »Klar siehst du gut aus.« »Gut, gut, gut, gut«, murmelt Rodney. »Laß dir mal was einfallen.« Also läßt sich Billy was einfallen. »Hier, nimm meine Mütze. Dein Haar ist ein bißchen durcheinander.« Wie ein verölter Kormoran, denkt er. »Mein Haar war immer unmöglich«, sagt Rodney. Billy reicht ihm die I ♥ NY-Mütze. Sie ziert Rodneys Kopf wie das Sahnehäubchen einen Scheißhaufen. »Schon viel besser«, sagt Billy. »Aber ich hasse New York.« »Es liebt dich, glaub mir.« »Paßt genau. Wir müssen dieselbe Birnengröße haben.« »Ich fürchte auch.« »Als Kind haben sie mich immer Klotzkopf genannt.« »Kinder können so grausam sein.« »Hat mich nicht gestört.« Billy, durchdrungen von Wohlwollen, sagt zu ihm: »Vielleicht kriegen wir dein Gesicht noch sauber. Du hast ...«Billy faßt sich an die eigene Nase, nach der Devise: So,
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jetzt wischen wir uns mal den schwarzen Fleck ab. »Der ist immer da«, sagt Rodney. »O Gott, tut mir leid.« »Ich weiß nicht, wie oder wann, aber eines Tages war er da.« »Tut mir leid.« »Vielleicht eine Erfrierung.« »Tut mir leid.« »Oder eine komische Sommersprosse oder ein Leberfleck.« »Du solltest mal zum Hautarzt gehen«, sagt Billy und kommt sich sofort lächerlich vor, weil er diesem Kerl Pflegetips gibt. »Hm, vielleicht.« »Ist sicher harmlos«, sagt Billy. »Ich hab das schon lange. Da müßte ich längst tot sein, wenn es gefährlich wäre.« Als alle ihr Gepäck haben, folgen sie Corker quer über den großen Vorplatz aus Kalksteinplatten. Die Sitzordnung des Busses ist erhaltengeblieben, die Nähe hat Bindungen geschaffen. Vornweg der rauchende Swain, die Reste letzter Zigaretten weisen ihm den Weg, während sich Corker das Firmenhemd in die Hose steckt und ausprobiert, wie er sein Clipboard halten soll. Dienstbeflissen? Eher locker? Irgendwas dazwischen? Lannigan dreht sich im Laufen ein wenig zur Sonne, um seiner Bräune eine letzte Dosis zu verpassen, und macht Sameer Sirdesh zu seinem getreuen Gunga Din. Nach ihnen Ossap und Dullick. Mein Gott, haben die Gepäck, in jeder Hand eine große Reisetasche. Sie laufen dicht nebeneinander, stecken tuschelnd die Köpfe zusammen wie Bösewichter in der Kirche, die ihre Scherze mit niemandem teilen. Billy fängt an, sie zu has-
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sen. Der Haß ist unbegründet, unberechtigt, von der besten Art also, weil ungetrübt von Einsicht und Verständnis. Dullick und Ossap, Seite an Seite, ein Ausbund an Schulhofkumpanei. Und dazu diese vier Taschen. Gretchen rollert ihren Koffer zu Billy hinüber. »Ich rechne mit ständigem Kostümwechsel«, flüstert sie ihm zu. Billy – »Häh?« – versteht nicht. »Bei den beiden«, sagt sie. »Daran hab ich auch gerade gedacht. Weil die so viel Gepäck haben.« »Vielleicht reisen sie nach dem Test weiter.« »Ich mag sie nicht«, sagt Billy. »Wegen dem Gepäck?« »Nein, einfach so.« Mitten auf dem Vorplatz ragt eine Skulptur in die Höhe, eine Hand, wie Billy erkennt, eine Riesenhand aus Bronze, um die fünf Meter hoch und himmelwärts zeigend wie die Schaumstoffhände, die man siegestrunken in Stadien und Arenen schwenkt, die überdimensionierte Version von WIR SIND DIE NUMMER 1! Billy fragt sich, ob das Kunst am Bau ist, eine großspurige Einladung: Kommt ins HAM! Auch sieht er Göttliches am Werk, die schiere Größe lenkt das Auge gen Himmel. Schau auf. Er sieht dich! Wie Adams berühmter Finger an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Adam und Gott. Schöpfung. Leben. Und Tod. Das weniger berühmte, aber ebenso spannende Jüngste Gericht über dem Altar. Die Auferstehung. Billy stellt sich vor, daß die übrige Statue unter dem Pflaster des Hofs begraben ist, Hunderte Tonnen verrottender Bronze, und das AHRC ist der Grabstein. Die herausgestreckte Hand könnte den Auftakt zum ewigen Leben symbolisieren: Scharen von Auferstehenden, Untoten, fleischfressenden Zombies ziehen vor
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seinem inneren Auge vorbei, das ganze Personal der Horrorfilme – Night of the Living Dead, Dawn of the Dead, Day of the Dead, mit Dusk of the Dead dicht im Gefolge. Der Schatten des Fingers winkt Billy heran, unwiderstehlich wie ein Wink von Nosferatu persönlich... Oh. Billy sieht, wohin der Schatten fällt. Die schwarzen Intarsien im Kalkstein sind nicht zur Zierde da, sie haben eine Funktion, sie formen sich zur Skala, zum Zahlenkranz-Billy, du Idiot, der Vorplatz ist das Ziffernblatt einer Uhr, einer gigantischen Sonnenuhr, und der Finger ist der Zeiger. Schlimmer noch, es handelt sich um einen schlechten Kalauer – eine digitale Sonnenuhr. Billy prüft den Untergrund, indem er einen lustlosen Hüpfer vollführt. »Was ist das?« fragt Gretchen. »Ich hab gerade begriffen, daß das eine Sonnenuhr ist.« »Was hast du denn gedacht?« »Weiß nicht. Eine Hand. Ein Finger.« »Das ist die Glücksuhr«, werden die beiden von Rodney aufgeklärt. »Bevor ihr reingeht, müßt ihr sie berühren. Wenn ihr rausgeht, auch. Die Jungs da vorn müssen Anfänger sein«, sagt er mit Blick auf die anderen, die ahnungslos an der magischen Skulptur vorbeigetrottet sind. Rodney besteigt das Podest und berührt den Handballen an der Stelle, wo die Bronze bereits von wer weiß wie vielen Händen blankpoliert ist. »Ich gehe da nicht ran«, sagt Billy. »Mußt du aber.« »Niemals.« »Warum nicht?« »Darum nicht.«
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»Na, komm«, sagt Gretchen. Ihre Stimme klingt schon so zutraulich und flirtbereit, daß Billy ganz kribblig wird. Sie greift hoch und tätschelt die Stelle. Von innen tönt es hohl. »Ich komme mir vor wie Fay Wray«, sagt sie. Aber Billy denkt an Louise Brooks, nicht so sehr wegen Gretchens Aussehen, eher wegen ihrer Haltung, die ihn an Pandora’s Box erinnert (einen Film, von dem er nur das Poster kennt). »Einfach nur berühren«, sagt sie zu ihm. »Nein, danke.« »Hast du Angst?« »Nein. Nur keine Lust.« Die Skulptur, das muß er gestehen, ist eindrucksvoll. Rundum Muskeln und Sehnen, die den Akt des Zeigens in ein kraftvolles Heben transformieren. Handlinien, Hornhaut, Niednägel, das ganze Gittergeflecht strapazierter Haut – kein Detail ist ausgespart. Die Sonnenhitze, die von der Bronze abstrahlt, trifft ihn wie ein Hammer. »Dann hast du auch kein Glück.« Gretchen hüpft vom Podest. »Dabei stimmt die Uhr nicht mal. Sie geht drei Stunden nach.« Gretchen blinzelt nach oben. »Vielleicht nimmt sie den falschen Finger«, sagt sie, und Billy könnte schwören, daß ihm dieses Blinzeln die Luft abschnürt. Ihr ganzes Gesicht scheint um dieses Blinzeln zu kreisen. Die anderen, weiter vorn, sind zwischen den Seitenflügeln des Gebäudes stehengeblieben. Als Billy und Gretchen näherkommen, erkennen sie den Grund: Fäuste hämmern gegen die Fenster des Nordflügels. Gesichter pressen sich an die Scheiben der oberen fünf Stockwerke wie Gewebsschnitte des Wahnsinns unter dem Mikroskop. Münder und Augen sind verdreht, verzerrt, verbeult, als
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wäre Atemluft zu Säure geworden; Lippen küssen Glas, Zungen schlängeln mit irregeleiteter Lüsternheit, Finger krallen sich in Haut und Haar, Stirnen rammen im Takt gegen die Scheiben, Stimmen überschlagen sich, die Worte sind unverständlich, aber die Botschaft ist klar: Haut ab, solange ihr noch könnt! Verdutzt schaut Billy zu der Zirkusnummer auf. »Eure Begrüßungsparty«, sagt Corker. Am besten findet Billy den Typ im vierten Stock. Der windet sich in Krämpfen, aus verzerrten Lippen sabbert es, sprüht es und klatscht es in einem finalen Aufbäumen des Lebenswillens gegen das Fenster. Billy kennt diesen bescheidenen Spezialeffekt aus seiner Kinderzeit, als er vor dem Badezimmerspiegel stand und sich zum Gewaltopfer stilisierte: eine Faust, ein Schuß, ein Messer, schäumende Tollwut beim Zähneputzen. Er ließ es gluckern und plätschern, als wäre Leitungswasser ein verrinnender Lebenssaft. Stundenlang konnte er so sterben. »Diese Show kriegt jede neue Gruppe geliefert«, erklärt Corker. »Und wißt ihr was? Morgen macht ihr genau dasselbe.« Hinter ihnen plötzlich Hundegebell, Schmerzgeheul, wenn man’s genau nimmt. »Das sind die verdammten Beagles, die machen ständig Krach.« »Die Tiere sind in diesem Flügel dort?« fragt Ossap interessiert. »Auch Affen und so?« »Ja. Und die Beagles machen einen Höllenlärm.« »Weil sie einen breiten Brustkorb und ein praktisches Format haben«, sagt Ossap. »Wieso?« »Deshalb sind doch Beagles so beliebt, oder? In der For-
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schung.« »Keine Ahnung.« Ossap verzieht den Mund zu einem Beinahe-Lächeln. »Beagles sind am besten, weil man die aufknacken kann und ganz leicht ans Herz rankommt. Und weil sie kleiner sind als die anderen breitbrüstigen Rassen. Beagles passen in Standardkäfige, sind unterwürfig, gehorsam. Richtige Kriecher. Ich hab einen Freund, der wollte welche züchten, für die medizinische Forschung. Hat sich dann aber doch für Nerze entschieden.« »So bringen sie wenigstens Nutzen«, sagt Dullick. Ossap nickt. »Ich hasse diese Scheißbeagles.« »Sollen sie ihnen doch Parfüm in die Augen injizieren«, sagt Dullick. »In Scheiben schneiden und zu Würfeln hacken«, sagt Ossap. »Ab in den Mixer!« sagt Dullick. »Zu Mutanten machen.« Ossap überlegt kurz. »Diese Scheißköter.« Ossap und Dullick wechseln einen triumphierenden Blick. »Snoopy ist ein Beagle«, gibt Lannigan zu bedenken. Dullick zieht die Stirn kraus. »Snoopy also nicht?« Ossap kommt ihm schnell zu Hilfe: »Snoopy ist doch Scheiße!« Corker beendet diese Unterhaltung, indem er die große Glastür öffnet. Er wedelt seine Passagiere hinein, als wären sie Rauch oder irgendeine andere flüchtige, kurzlebige Substanz. Aus dem Quietschen der Türpneumatik hört Billy ganz deutlich den »Hummelflug« heraus.
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9 KLIMATISIERUNG IST das beherrschende Prinzip der Lobby. Die Wände raunen zwanzig Grad, Kälte flirrt hernieder wie Konfetti, was anfangs spannend ist, dann lästig, sie bleibt an Billy kleben und macht ihm Gänsehaut. Geradeaus geht’s zur Rezeption, einem Atoll in einem Meer aus schwarzem Marmor, das von einer telefonierenden Frau bewacht wird. Sie blickt hoch, sieht Corker, legt auf, nimmt einen tiefen, vollklimatisierten Atemzug und lächelt. Aber gerade mal so, denkt Billy. Aus irgendeinem Grund begrüßt Corker sie im CockneyAkzent. »Hullo, meine Liebe.« »Sie ist schon unterwegs.« Corker lehnt sich aufs Pult. »Zwei Stunden, fünf Minuten. Nicht schlecht für Freitag.« Die Frau nickt. Sie hat den langen Hals und den elliptischen Kopf eines Modigliani, der Ausdruck ihrer Mandelaugen hat den bitteren Beigeschmack eines ungemalten Lebens am Telefon. »Wir sind ein bißchen zu spät los, deshalb komme ich ein bißchen zu spät«, erklärt ihr Corker. »Okay.« »Der Verkehr war gar nicht so schlimm.«
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»Okay.« »Du weißt ja, wenn ich dir was aus der Stadt mitbringen kann, brauchst du’s nur zu sagen, null Problemo. Ich kann dich sogar mitnehmen, wenn du’n freien Tag hast. Wir könnten was essen, eine neue Ladung Normale einsacken und wieder zurückfahren.« Die Frau neigt den Kopf zur Seite, als hätte sie gerade einen Scheißhaufen aus großer Höhe herabfallen hören. »Du hast eine Fuhre am Bahnhof«, sagt sie. Corker ruckt mit den Schultern. »Das weiß ich doch, Herrgottnochmal!« Er reicht ihr sein Clipboard. »Neunzehn Uhr zwei, aus Boston. Noch siebenunddreißig Minuten, zwanzig Minuten Fahrt. Wenn ich in zehn Minuten losfahre, komm ich immer noch zu früh, also mach dir keine Sorgen, Mädel.« Mädel. Er hat sie allen Ernstes Mädel genannt. Billy ist schockiert, amüsiert, peinlich berührt – ein Gefühlsmix, den er von den Nachmittagstalkshows kennt. »Reg dich ab«, sagt die Frau. »Ich hab dich nur dran erinnert.« »Ich brauch keine Erinnerung. Und abzuregen brauch ich mich auch nicht.« Ihr »Sorry« ist judogestählt. Corker weiß nicht weiter. »Ich wollte ja nur... äh... na ja.« Acht Zuhörer sind gespannt, wie es weitergeht, wo das ganze hinführt. Corker kann immer nur kurz zur Seite blikken, als säße er am Steuer und sie wäre die Straße. Sie kennt das schon und spreizt die Lippen wie ein fernes, unerreichbares Ziel. Derweil Corker in ihre seichten blauen Augen starrt, glaubt Billy, sein ganzes Leben zu überblikken: Corker als Baby, als kleiner Junge, als Teenager, als junger Mann, Corkers körperliche Entwicklung in vier
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Sprüngen, und er erahnt im jetzigen, sich danebenbenehmenden Corker die mildernden Umstände, die Unsicherheiten des Stammhirns, umdämmert vom Grau der Jahrtausende. Nichts ist schlimmer als ein Trottel mit ungestümem Temperament. »Bin ja schon weg.« Er reckt ihr zum Abschied die Nase entgegen. Und bekommt eine Abfuhr von ihren Augenbrauen. »Seltsamer Mensch«, sagt die Frau. Ihre Miene lockert sich. Verachtung steht ihr besser zu Gesicht. »Jedenfalls: Willkommen. Ihre Betreuerin wird gleich ...« Aufs Stichwort eilt eine Frau herbei, sie trägt einen Stapel braune Umschläge vor sich her wie eine frisch gebackene Torte. »Hallo«, ruft sie. »Ich bin Carol Longley, Ihre Betreuerin.« Fast hätte Billy zurückgesungen: »Hallo, Ms. Longley«, denn sie erinnert ihn an seine Lieblingslehrerin in der Grundschule: schwarze Locken, herzförmiges Gesicht, eine Brille, die aussieht wie mit dem Marker aufgemalt. »Okay, wir sind ein bißchen unter Zeitdruck, wenn Sie also Ihr Gepäck nehmen und mir folgen, bringen wir Anmeldung und Belegung noch vor dem Essen hinter uns – Ogottogott, das ist ja schon bald!« Sie klingt sogar genau wie diese Lehrerin – mit ihrer enthusiastischen Piepsstimme bricht sie selbst den härtesten Burschen das Herz. »Flink wie die Häschen!« ruft sie. Sie folgen ihr in einen Flur mit einem Dutzend Plastikstiihlen. Ms. Longley verliest die Namen und verteilt die Umschläge. »Die enthalten Exemplare der Einwilligungserklärung, das Medikamentenprotokoll, den Zweiwochenplan, also frischen Sie in der Wartezeit Ihr Gedächtnis auf und bereiten Sie die Fragen vor, die Sie vielleicht haben,
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weil Sie in ein paar Minuten die Einwilligungserklärung unterschreiben müssen. Diejenigen, die das schon mal gemacht haben – Mr. Letts, ich glaube, Sie sind der einzige, auf den das zutrifft –, finden ihr Identitätshalsband im Umschlag. Die anderen kriegen es auf der ersten Station. Also, es gibt insgesamt vier Stationen. Sie betreten die Station, geben den Umschlag ab und tun, was man Ihnen sagt. Wenn Sie fertig sind, warten Sie draußen in der Nähe des Eingangs, bis Sie aufgerufen werden. Wenn Sie alle Stationen durchhaben, kehren Sie auf Ihren Platz zurück und warten auf die anderen. Okay.« Sie klatscht in die Hände. »Auf geht’s.« Gleich zieht sie die Stoppuhr, denkt Billy. Peter Swain ist als erster dran. Brad Lannigan steht schon bereit und streckt sich. Billy, der letzte in der Schlange, schaut Rodney zu, der sein Identitätshalsband aus dem Umschlag zieht. Auf dem laminierten Foto ist er sechs Jahre jünger, in Säuferjahren gerechnet dürften es Jahrzehnte sein. Seine Nase war da noch fleckenlos. Sein Blick war klarer, allerdings ein bißchen unwirsch. Rodney betrachtet das Foto wie einen alten, totgeglaubten Freund. Er bedeckt den Kopf mit den Händen und flüstert: »Bitte komm durch, bitte komm durch, bitte komm durch«, mit geschlossenen Augen, schwankendem Oberkörper, so daß es jedem, der auch nur den geringsten Zweifel an seiner Eignung hat, das Herz brechen müßte. In der ersten Station wird Billy von einer Frau vor einen grünen Wandschirm geschoben. Sie nestelt an der aufgebockten Digitalkamera, auf daß Billys Kopf und Schultern amtlich erfaßt werden. Die Bildaufteilung scheint sie kurz zu beschäftigen, bis sie beschließt, daß das Zeitverschwendung ist, und zum Computer geht.
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»Wird das alles digital gemacht?« fragt Billy. »Ja.« »Cool!« Die Frau könnte genausogut Was juckt mich das? eintippen. Billy fährt sich nervös durchs Haar und wischt sich den Reisestaub aus dem Gesicht. Er tut zwar so, als wäre ihm sein Aussehen egal – er macht keine Staatsaffäre draus, rasiert sich selten, läßt sein Haar von Sally schneiden, ab und zu mal einen Pickel erblühen und registriert seine Schuppen mit einem seltsamen Stolz –, aber in Wirklichkeit ist er krankhaft eitel. Spiegel sind ihm eine unerschöpfliche Quelle der Faszination, glänzende Oberflächen ziehen seinen Blick magnetisch an. Autoscheiben, Schaufenster, Fahrstuhltüren, Silbersachen. Aber das Spiegelbild kommt ihm oft verdoppelt vor, als würde hinter dem Spiegel das Opfer seiner Einbildungen stehen, sich ans Glas lehnen und schreien: Was glaubst du, wer du bist? Und Fotoapparate machen ihn fertig. Immer wenn einer auf ihn gerichtet wird, zieht er ein albernes Gesicht und übertreibt alles. Selten erwischt man ihn unverstellt. Hinterher bereut er diese kleinen Maskeraden – sie kommen ihm so hilflos, so verlogen vor, selbst wenn er damit das ganze Gruppenfoto verdirbt. Man sollte denken, daß er ab und zu auch mal er selbst sein könnte. Einfach nur lächeln. Aber nein. Schlimmer noch: Wenn er den Umschlag mit den fertigen Fotos bekommt, überblättert er die billylosen Fotos ganz schnell, um sich auf seine Abbilder zu stürzen – wie er breitbackig lacht, aufdringlich gestikuliert, schmierig zwinkert, pompös strahlt, oberschlaff rumhängt, debil glotzt – und zusammenzuzucken. Man richte ein Objektiv auf ihn, und er verwandelt sich in ein Adverb.
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Billy steht da und lächelt. Treuherzig. »Ist ja gut«, sagt die Frau. »Sie laminieren schon.« »Ich laminiere schon? Ich dachte, Sie sagen Bitte lächeln oder Ich zähle bis drei.« »Sie sahen schon gut aus. Nun kommen Sie mal her.« Sie verlangt seinen linken Arm und wickelt ihm ein grünes Plastikband ums Handgelenk, reißfest, wie man sie in Clubs verwendet, um die legalen Trinker von den illegalen zu unterscheiden. Auf der Oberseite ist ein Strichcode aufgedruckt. Sie scannt ihn mit dem Handscanner, der Computer registriert ihn wie eine Dose Bohnen. »Behalten Sie das während der ganzen Studie um«, befiehlt sie ihm. Dann locht sie die rechte obere Ecke seiner frisch laminierten Identitätskarte und fädelt sie auf eine Billigkette. »Das müssen Sie immer tragen, über dem Hemd, gut sichtbar. Zu den Mahlzeiten ziehen Sie den Magnetstreifen durch den Schlitz am Eingang der Cafeteria. Wenn Sie die Karte verlieren, kostet es zehn Dollar Strafe für den Ersatz.« Sie läßt die Karte vor seiner Nase schaukeln wie die Autoschlüssel, die sie ihrem Sohn überreicht. »Okay.« Das Laminat ist noch warm und riecht nach toxischer Sauberkeit. Der Billy Schine, der auf der Karte abgebildet ist, sieht alles andere als schmeichelhaft aus – zerbeult, verquollen, wie ertrunken. »Ich glaube, Sie haben mich als Wasserleiche fotografiert.« »So schlimm ist es nicht.« »Vermutlich bei einer Bootsfahrt verunglückt.« »Sie sehen gut aus.« »Als würde ich mein eigenes Memento mori tragen.« Plötzlich wird sie empfindlich für Kritik. »Genau so sehen Sie aus«, sagt sie, bringt ihn zur Tür und zur nächsten
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Station, wo ihn, wie sie kryptisch anmerkt, Joy erwartet. Joy begegnet ihm in Gestalt einer schwarzen Zweizentnerdame. Besser noch, ihre Haut ist mattbraun wie eine vom Meer geschliffene Glasscherbe, genauso samtig rauh. Sie sitzt auf einem Hocker in der Mitte des Zimmers und nimmt den Raum nicht ein, sondern trägt ihn wie einen Reifrock. »Okay, Mr. Schine, setzen Sie sich und rollen Sie den Ärmel hoch. Rechts- oder Linkshänder?« »Rechtshänder. Aber ich werfe mit links und spiele Gitarre mit links, obwohl ich nicht sehr oft Gitarre spiele.« »Also rechts?« »Meistens, würde ich sagen. Und Pool auch. Ich weiß nicht, warum, aber Pool spiele ich auch mit links.« Ihre hängenden Lider sinken noch tiefer. »Den linken Ärmel. Bis zur Schulter.« Der Stuhl, in den er sich plumpsen läßt, sieht aus wie ein klinischer Liegesitz – mit extrabreiten Armlehnen und einer Lehne, die permanent auf Behandlungsposition gestellt ist. Er ist gefährlich bequem, als könnte man sich das Fernsehen intravenös einverleiben. Schon die leiseste Bewegung entfesselt Vinylfürze von blaugrüner Färbung. Mit schnappenden Geräuschen zieht sich Joy OPHandschuhe über. Tatendurstig spreizt sie die Finger. »So. Ich bin die Phlebologin für Ihre Studie, das heißt, ich werde Ihnen in den nächsten zwei Wochen das Blut abnehmen. Zweimal täglich. Zwanzigmal bis zum übernächsten Samstag. Das ist Ihr PK-Tag, PK heißt Pharmakokinetik, und die ist der Hauptzweck dieser Studie. Wir gewinnen Einblick in das Innenleben des Medikaments, indem wir zehn Stunden lang jede halbe Stunde eine Analyse machen. Das wird ein langer Tag für uns beide, ich bin also genauso
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zu bedauern wie Sie. Keine Angst, so viel Blut will ich gar nicht von Ihnen, kaum mehr als einen Fingerhut voll, das schadet nichts. Aber statt Sie jedesmal zu pieksen, bis Ihr Arm wie ein Nadelkissen aussieht, setze ich Ihnen diese Kanüle ein« – sie nimmt ein nadelbewehrtes Röhrchen vom Instrumententablett –, »und wenn wir Blut brauchen, müssen wir nur das Reagenzglas ansetzen. Das bedeutet, daß Sie ständig ein medizinisches Gerät im Arm tragen. Behandeln Sie es mit Respekt, spielen Sie nicht damit, zerren Sie nicht daran herum. Ich meine es ernst. Am besten tun Sie so, als wäre es gar nicht da. Sie können duschen und sich ganz normal bewegen. Die Kanüle wird alle vier Tage gewechselt, und wenn Sie irgendwelche Beschwerden haben, sagen Sie mir Bescheid. Wir können jederzeit auf die Nadel umsteigen. Alles klar?« Billy nickt. Wie alt ist sie? Fünfundzwanzig? Fünfunddreißig? Fünfundvierzig? Ihr Alter scheint verborgen unter einer alterslosen Schicht von Körpermasse. Billy mag sie auf Anhieb, und das ohne jeden Grund. Sie scheint nett zu sein. Lieb. Vielleicht liegt es an der warmen, rauchigen Stimme einer beleibten schwarzen Frau, einer Krankenschwester, wahrscheinlich ist es etwas Rassistisches, möglicherweise ein Klischee (der Aunt-Jemima-Effekt), aber auf keinen Fall von der Hand zu weisen. Du Obertrottel. Wofür hältst du sie? Butterfly McQueen? Hattie McDaniel? Eine weiße Frau ihrer Statur wäre einfach nur fett. Joy wickelt ein Gummiband um seinen Bizeps. »Machen Sie eine Faust.« »Wie sind Sie denn an den Namen Joy gekommen?« »Wie sind Sie denn an Ihren Namen gekommen?« »Das waren meine Eltern.« »Was Sie nicht sagen!«
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»Ist das eine Art Rufname?« »Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, und mein Vater wollte das Beste draus machen.« »O Gott, tut mir leid.« »Ist lange her.« Joy betupft seine pfirsichzarte Armbeuge mit einer Kompresse. »Sie haben gute Venen. Eine Fünf auf dem Phlebometer.« »Was ist das?« »Dicke und Beschaffenheit des Gefäßes.« »Oh.« »Sie haben Venen wie ein Bodybuilder.« »Aber die Arme eines Schwächlings. Das muß mein innerer Charles Atlas sein.« »Sie sind ja ein ganz Quicker!« »Häh?« »Ein ganz Schlauer.« »Bei Ihnen klingt das wie eine Diagnose.« »Jedenfalls erleichtert mir das die Arbeit.« »Die Schlauheit?« »Nein, Ihre Venen. Es gibt nichts Schlimmeres als Hühnervenen.« Joy beugt sich über Billy. Ihr Ausschnitt erinnert an einen Schraubstock. »Okay, los geht’s«, sagt sie und hält die Kanüle in die Höhe wie eine besonders bösartige Würmerart. Die Nadel stößt gegen seine Haut, die Haut gibt nach und widersteht kurz, bevor die Nadel eindringt. Zwei Pflaster befestigen den Parasiten an seinem Arm. Joy greift nach dem Reagenzglas. »Sie sind ein Hingukker«, sagt sie. »Wie bitte?« »Die meisten gucken weg.« Sie steckt das Reagenzglas auf die Kanüle, Blut beginnt zu fließen, mit einer tiefroten Färbung, die selbst die abgebrühtesten Koloristen beein-
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druckt. »Aber Sie sind ein Hingucker.« »Ja. Macht mir nichts aus.« »Manche werden ohnmächtig.« Joy löst das Gummiband. »Und die Ex-Junkies sabbern.« »Sabbere ich?« »Sind Sie ein Ex-Junkie?« »Nein.« »Dann speicheln Sie nur.« »Ich finde das irgendwie entspannend«, sagt Billy, er denkt an einen Glasbehälter, der sich mit seinem Blut füllt, und an sein schrumpfendes Selbst, während sich sein flüssiges Inneres langsam und bis auf den letzten Tropfen in das Glas entleert. Joy nimmt das Reagenzglas ab, schüttelt es, etikettiert es und stellt es zu den sieben anderen ins Gestell. »Sie sind fertig«, sagt sie. Billy fragt: »Welche Probe ist die der Frau?« »Warum?« »Ich möchte Schneewittchenblut sehen.« Auf Station drei sitzt Dr. Paul Honeysack im unerläßlichen weißen Laborkittel an seinem Schreibtisch. Er ist abgezehrt, überarbeitet, unterbezahlt und geht auf die Vierzig zu, eine Zahl, die seinen Zynismus nähren und den Katalog seiner Enttäuschungen um das Altern bereichern wird. Seinem Aussehen nach hatte er auch in den Zwanzigern nicht allzu viel zu lachen (höchstens die Podiatrie hätte ihn zum Lachen gebracht). Seine Wangen sind gezeichnet von Aknenarben, die die Geschichte einer brutalen Pubertät erzählen, wie auch sein scheuer, besessener Blick, und dieser Blick erinnert Billy an ein Kind, das immer wußte, was es will. Selbst als seine Spielgefährten noch im Dreck wühlten, hat der kleine Paul Honeysack schon von heute ge-
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träumt – und da siehst du mal, du Schlaumeier. »Sind Sie der letzte?« fragt er. Billy nickt. Der Arzt blättert in einer Akte. »William A. Schine, geboren 11.7.72 in Cincinnati, Ohio, Eignungsuntersuchung New York, 14.8.99.« Seine Augen wechseln zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch und dem Mann, der vor ihm sitzt; als würde er ein Porträt aus Lebensdaten anfertigen. »Harvard welches Jahr?« »93.« »Also bin ich älter.« »Harvard?« »Nein, Cornell, dann Emory, aber ich hatte ‘ne Menge Freunde in Harvard.« »Oh.« »Wär fast hingekommen.« »Oh.« »Sind Sie ein Künstler, Schriftsteller, Filmemacher, Schauspieler«, fragt er, es klingt wie bla-bla-bla. »Nichts dergleichen.« »Wir kriegen hier nicht viele von den Spitzenunis, wenn sie nicht gerade von der kreativen Sorte sind.« »Das habe ich gehört.« »Arbeiten Sie an Ihrer Promotion?« »Nein.« »Sind Sie Reporter?« fragt er müde. »Nein. Ich bin nichts.« Honeysack blättert in der Akte, als würde er den SAT suchen, Billys Uni-Eignungstest, den verbalen und mathematischen Beleg für seine Intelligenz. Der gottverdammte SAT. Billy denkt an den schicksalhaften Tag, als er den Bescheid vom Testzentrum bekam, seinen ersten amtlichen
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Brief – Mr. William A. Schine war im Klarsichtfenster zu lesen –, er zögerte eine Weile, bevor er sich mit seinen überragenden kognitiven Fähigkeiten konfrontierte. Wo würde sein Platz in der Welt sein? Er benutzte ein Küchenmesser als Brieföffner (der Umschlag forderte so viel Respekt) und kam sich vor, als würde er Haut durchtrennen. Drinnen ein Spitzenergebnis mit Spitzenstipendium. Du Arschloch! Ohne Lernen, ohne Vorbereitung. Du verdammtes Arschloch! Er hatte es einfach von der lustigen Seite genommen: Die Schulbank mit der gerippten Maserung war der Fluß, die Bleistifte (Nr. 2) bildeten das Floß, der Radiergummi das Rettungsboot, die Armbanduhr den Mond, der Taschenrechner war sein einziger Freund – es war wie Huck und Jim auf der Flußfahrt nach Princeton, New Jersey. Dann die dramatische Siegelöffnung, die abartige Lust, Antworten anzukreuzen, Zeichnungen anzufertigen, ein leeres Blatt in eine geistige Lochkarte zu verwandeln. Seine Schule war froh über die Ausbeulung der Statistik, seine Lehrer sahen sich der Lächerlichkeit preisgegeben (ihr geliebtes Wunderkind Vanessa Freen lag im räudigen Mittelfeld), und seine Mitschüler behandelten ihn wie den glücklichen Gewinner einer Lotterie. Natürlich staunten seine Eltern ohne Ende, was ihre vereinte DNA da zuwege gebracht hatte. »Du bist der Beweis, daß wir die richtige Wahl getroffen haben«, sagte sein Vater, als ob Wasserstoff mit Sauerstoff reagiert und ein ganzes Meer brillanter Begabungen geschaffen hatte. Verdammtes Arschloch, was bildest du dir ein? Honeysack spitzt die Finger und kommt zur Sache. »Ich bin der zuständige Mediziner für Ihre Studie, der diensthabende Arzt, das Bindeglied zwischen den Schwestern und den Wissenschaftlern. Ich bin der interesselose Studienbe-
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gleiter. Ein neutraler Beobachter.« Er grinst wie eine Bulldogge. »Mit dieser konkreten Studie habe ich nicht das geringste zu tun, es gibt keinen Interessenkonflikt, Sie können mir also alles über Ihren Status anvertrauen. Wie Sie sich fühlen. Wie Sie sich halten. Berichten Sie mir alle Nebenwirkungen, ob groß oder klein, denn nichts ist uns zu klein. Sehen Sie in mir Ihren Freund. Auch wenn Sie Probleme mit der Hausordnung haben, den Leuten, dem Essen. Lassen Sie’s mich wissen, vielleicht kann ich helfen.« Er klatscht lautlos in die Hände. »Okay?« »Okay.« »Wie war Ihr Befinden in letzter Zeit? Irgendwelche Erkältungen? Krankheiten?« »Nein.« »Irgendwelche Drogen im letzten Monat? Rezeptfreie? Rezeptpflichtige? Oder, äh, nicht ganz legale?« »Nein.« »Stark getrunken?« »Nein.« »Allergien?« »Nein.« »Würden Sie sagen, daß Sie sich jetzt, in diesem Moment, wohlfühlen?« Billy denkt nach. »Aber ja«, sagt er. »Nervös?« »Ein bißchen.« »Natürlich. Das ist absolut normal. Ängstlich oder nervös?« »Eher nervös als ängstlich, würde ich sagen.« »Okay, okay.« Dr. Honeysack wühlt in Papieren. »Nun, Mr. Schine – ›Schine‹, ist das zufällig ein jüdischer Name?« Billy zuckt zusammen wie in ein fremdes Zeitalter ver-
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setzt. »Mein Vater ist jüdisch.« »Osteuropäisch?« fragt Honeysack. »Deutsch«, sagt Billy. »Ich auch. Das heißt deutsch, nicht jüdisch. Honigsack, bevor wir rüberkamen.« Billy fragt sich, wie man angemessen darauf reagiert, in Anbetracht der geschichtlichen Implikationen, und entscheidet sich für ratloses Schulterzucken. »Das ist aber ewig her.« Honeysack bohrt mit der Zunge im Mundwinkel, als würde er ein verstecktes Krebsgeschwür abtasten. »Ich frage Sie das, weil wir uns Sorgen machen müßten, wenn Sie rumänisch oder litauisch und außerdem jüdisch wären. Genetisch gesprochen, gäbe es da ein viel höheres Agranulozytose-Risiko.« »Ist das was Ernstes?« »Es kann tödlich sein.« »Ich bin ziemlich sicher, daß er deutsch ist«, sagt Billy und denkt daran, daß seinem Vater bei The Sound of Music immer die Tränen kamen, vielleicht weil er sich als eine Art Baron von Trapp sah oder auch als ein Christopher Plummer. »Möglicherweise österreichisch.« »Das ist auch gut.« Dr. Honeysack überreicht ihm ein zehnseitiges Schriftstück. »Gehen wir jetzt mal Ihre Einwilligungserklärung durch. Es ist sehr wichtig, daß Sie jeden Punkt genau verstehen. Sie haben zwar schon eine vorläufige Erklärung unterschrieben, aber diese ist die verbindliche. Aus dem Material, das wir Ihnen geschickt haben, wissen Sie, daß Sie Allevatrox testen werden, ein atypisches Psychopharmakon für die Behandlung von Schizophrenie, das sich noch in der Erprobung befindet. Schizophrenie ist eine schwere psychische Störung.« Er blickt von seinem Exemplar der Einwilligungserklärung auf. »Natürlich wis-
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sen Sie, was Schizophrenie ist. Entschuldigen Sie. Einige unserer Teilnehmer sind, wie soll ich sagen, weniger gebildet. Wie auch immer. Wir gehen jetzt die Zielsetzung durch, die Vorschriften, die Verfahrensweise, die Risiken, die Vergütung, die Schweigepflicht, das Fragerecht, die Patientenrechte, den Kontakt zur Zentralen Prüfstelle und die Einwilligungserklärung für Studien der Stufe 1.« Dr. Honeysack macht einen tiefen, wohlverdienten Atemzug. »Erstens, die Zielsetzung ...« »Kann ich jetzt gleich unterschreiben?« fragt Billy. »Sie haben alles gelesen, alles verstanden?« »Ja«, lügt Billy. »Und keine Fragen?« »Nur, wo ich unterschreiben soll.« »Nun, um sicherzugehen, möchte ich einige der Nebenwirkungen durchgehen, die sich im Lauf der Studie einstellen könnten, damit Sie wissen, was von einem atypischen Psychopharmakon zu erwarten ist. Da es sich hier um eine, wie wir das nennen, Intensiv-Bioverfügbarkeitsstudie handelt und nicht um eine langfristige Behandlung, kommen viele AEs einfach nicht zum Tragen. Dafür wäre der Zusatzfaktor Zeit erforderlich. Auf längere Sicht vielleicht, aber nicht in dieser kurzen Spanne, das wäre unwahrscheinlich. Abgesehen davon könnte es zu dystonischen Reaktionen kommen, worunter man plötzliche Muskelkontraktionen versteht, vorwiegend in der Hals- und Kieferregion. Diese sind eher lästig als gefährlich, kein Grund zur Sorge jedenfalls. Dann könnte es zu Erscheinungen kommen, die als okulogyrische Krise bezeichnet werden und wobei Ihre Augen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, sehr oft aufwärts. Den Heiligenblick nennen wir das. Im allgemeinen passiert das, wenn Sie müde sind oder vor dem Fern-
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seher sitzen oder ein wenig abwesend sind, dann wandern Ihre Augen gewissermaßen noch oben. Eine andere potentielle Reaktion ist die Akinesie – das häufigste der extrapyramidalen Symptome. Charakterisiert ist sie durch eine Abnahme der Spontanmotorik, anders gesagt, durch weniger lebhafte Bewegung der Glieder und der Gesichtsmuskulatur. Sie wirken hölzern und schlurfen, statt zu gehen. Akinesie kann auch ein psychologisches Echo haben, zum Beispiel Antriebsarmut und Nachlassen der Spontaneität, eine verminderte Affektspanne. Am anderen Ende des extrapyramidalen Spektrums befindet sich die Akathisie. Unter der Akathisie würden Sie motorische Unrast erleben, Zappligkeit, ziellose Bewegungen wie ständiges Kreuzen der Beine oder ständiges Reiben der Haut. Wie sich denken läßt, würde das auch psychologisch zu Irritation und Übernervosität führen. Okay, jetzt kommen wir zur Achillesferse der Neuroleptika und einer Wirkung, die bei Allevatrox hoffentlich nicht mehr auftritt: die verzögerte Dyskinesie. Das ist die schwerwiegendste Nebenwirkung, weil sie potentiell irreversibel ist. Aber auch hier brauchen Sie wirklich den zusätzlichen Zeitfaktor, um solche Symptome zu entwickeln. Dazu gehören extreme Gesichtsmotorik wie Herausstrecken der Zunge, Kauen, Schmatzen, Augenzwinkern. Eine gestörte Mimik. Auch Ihre Finger können betroffen sein und sich ständig bewegen. Wenn die respiratorische Muskulatur betroffen ist, kommt es zu Grunzlauten und abweichenden Atemmustern. Daraus kann sich auch eine Rumpfdyskinesie entwickeln, die dazu führt, daß Ihr Rumpf in zuckende Bewegungen verfällt, die auf den Außenstehenden beängstigend wirken könnten.« Dr. Honeysack reckt die Schultern, was Billy als Veranschaulichung dieses Leidens deutet, sich aber als Gähnen heraus-
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stellt. »Das wär’s etwa«, sagt ihm der Arzt. »Das ist alles.« sagt Billy. »Klingt schlimmer, als es ist.« »Klingt ganz in Ordnung. Wo soll ich unterschreiben?« »Letzte Seite, über Teilnehmer am freiwilligen Humantest‹.« Billy gibt sein Filmstarautogramm, riesig, schwungvoll und vollkommen unlesbar. Honeysack überreicht ihm das gegengezeichnete Duplikat, seine Unterschrift sieht aus wie Dunkin’ Donuts in einem Verhau aus Natodraht. »Das ist für Ihre Unterlagen«, erklärt er Billy. Ihre Unterlagen bringt Billy fast zum Lachen. Nachdem der dienstliche Teil vorüber ist, lehnt sich Honeysack zurück, als wollte er sich auf Billys Wellenlänge begeben. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen, ganz gleich welcher Art?« Billy denkt kurz nach, dann fragt er »Was machen Sie hier außerdem noch?« – um sich bei ihm einzuschmeicheln, damit Honeysack hinterher sagt: Billy Schine, netter Kerl, der perfekte Proband. »Sie meinen meine eigentliche Tätigkeit? Ich bin hier in der Forschung, aber einmal jährlich überwachen wir eine Arzneimittelstudie. Das ist unsere Version der Geschworenenpflicht.« »Woran arbeiten Sie also?« »Woran ich arbeite?« Honeysack summt einen Seufzer, dann lächelt er. Billy erkennt in dem Lächeln den Zehnjährigen, der noch nicht von Akne gequält wird, dessen Frühreife noch nicht schal geworden ist. »Sie sind doch nicht etwa ein Spion?« scherzt Honeysack. »Nein, das glaube ich nicht. Ich arbeite an, äh, einer ziemlich radikalen Konservierungstechnik in der Traumatologie. Im wesentlichen
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geht es darum, eine schwer verletzte Person, sagen wir, ein Unfallopfer, in einen Zustand der Cryobiostase zu versetzen, indem die Aorta mit einer von uns entwickelten Salzlösung beschickt wird. Diese Lösung ist auf fünf Grad abgekühlt, mit dem Effekt, daß der Puls fast völlig zum Erliegen kommt. Damit wird der Traumapatient für mehrere Stunden in Stasis versetzt, so daß der Notarzt eine optimale Behandlung gewährleisten kann. Das ist nicht so verrückt, wie es klingen mag. Oder genauso verrückt wie das Einfrieren von Sperma. Es ist eine temporäre Maßnahme, eine mehrstündige Stasis, die Leben retten kann. Der Arzt, mit dem ich zusammenarbeite, ist ein Genie auf diesem Gebiet. Er hat die Technik entwickelt. Bis jetzt funktioniert sie fabelhaft, zumindest bei Hunden.« »Bei Hunden?« »Und Schweinen.« Begeisterung erhellt sein Gesicht – bis auf die Aknenarben. Die bleiben im Schatten, einem groben Chiaroscuro. »Und wenn Sie Menschen nehmen?« fragt Billy. »Nun, das wird komplizierter«, sagt Honeysack. »Nicht so sehr physiologisch als vielmehr juristisch. Nach acht Jahren sind wir reif für die nächste Stufe, aber wir schießen immer noch Säuen in den Bauch und retten ihnen auf wundersame Weise das Leben. Was wir brauchen, ist eine Ann Miller.« »Die langbeinige Entertainerin?« »Nein, die erste Amerikanerin, die Penicillin bekommen hat.« »Ich hatte eine andere Ann Miller im Sinn.« »Meine Ann Miller hatte nach einer Fehlgeburt eine schwere Streptokokkeninfektion.« »Meine Ann Miller war Tänzerin, Sängerin, Schauspiele-
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rin, eine Dreifachbegabung.« Billy kennt sie von On the Town. Das war oder ist eins der Lieblingsmusicals seiner Eltern. Es kam immer nur sonntags, anscheinend, auf einem sportfreien Kanal, und seine Eltern machten das Wohnzimmersofa jedesmal zur Kirchenbank, den Fernseher zum Altar, um sich den berühmten Film anzuschauen – die Matrosen auf Landgang – und bei jeder Straße oder Ladenfront von 1949, die sie wiedererkannten, in Ekstase zu verfallen. Nach Cincinnati verbannt, ließen sie die alten Zeiten, die alten Jagdgründe, den altvertrauten Times Square im Schnelldurchlauf vorüberhuschen. Seine Mutter war verrückt nach Gene Kelly, und sein Vater fragte sich, was eigentlich aus Jules Munshin geworden war. »Das müssen zwei verschiedene Ann Millers sein«, sagt Billy. »Offenbar.« Dr. Honeysack steht auf, um ihn zu entlassen. Billy steht auch auf und wendet sich zur Tür, da ruft ihn Honeysack zurück. »Noch etwas: Wen sollen wir im Notfall benachrichtigen? Das habe ich vergessen. Auf Seite fünf. Name, Adresse, Telefon der nächsten Angehörigen.« Billy denkt an seine Eltern, seine Mutter in Whispering Pines, seinen Vater an ihrer Seite, der ihr erzählt, wie es damals war, ihr die linke Hand streichelt und den Ringfinger ins Sonnenlicht hält, den kleinen Brillanten, der Lichtsplitter an die kahlen weißen Wände projiziert. Das Telefon würde winken wie ein Telegramm. Ihr Sohn, William Schine, liegt im Krankenhaus. Billy stellt sich vor, daß er auf dem Rücken liegt, auf seinen Vater wartet und wartet und abwechselnd bitte komm! und bitte bleib weg! stöhnt. Billy schreibt Ragnar hin. Die vierte und letzte Station ist eine Toilette, in der er eine Urinprobe erbringen muß. Billy findet die Tür ver-
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schlossen. Eine Schwester, unglücklich in ihrer Rolle, wartet mit einem Ding, das man nur als Urinkarren bezeichnen kann und das mit sechs Bechern Pisse beladen ist. Billy nickt ihr zu und grinst verlegen. »Ist noch jemand drin«, sagt sie. »Oh.« »Schon ewig.« Eine Stimme hinter der Tür: »Das hab ich gehört!« Es ist Rodney Letts, er klingt verzweifelt. »Drehen Sie den Wasserhahn auf oder so was«, rät ihm die Schwester. »Das mach ich doch! Denken Sie, ich hab das Becken geputzt?« »Na ja, die Leute werden ungeduldig.« »Druck machen hilft gar nichts. Ich mußte ja. Ich hab wirklich gemußt. Aber jetzt nicht mehr. Ist einfach weg. Ich kenne meine Blase, die ist stur, da kommt kein einziger Tropfen.« Er scheint den Tränen nahe. »Ist es wirklich so wichtig? Kann ich die Probe nicht in einer Stunde abgeben oder in zwei? Ich nehm den Becher einfach mit.« »Sie können den Becher nicht mitnehmen. Den brauchen wir für die Analyse.« Ms. Longley kommt den Flur herunter. »Alles in Ordnung drinnen, Mr. Letts?« »Wer ist da?« »Ms. Longley.« »Tut mir leid, Ms. Longley, aber ich kann nicht.« »O doch, Sie können. Sie müssen nur entspannen.« »Nein, ich kann nicht, ich kann nicht. Und dann noch dieser Druck, diese Urinuntersuchung. Ich würde ja gern. Ich würde eine ganze Badewanne voll abliefern, aber es geht nicht. Tut mir leid.«
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»Ist ja gut, Mr. Letts«, besänftigt Ms. Longley geübt. »Kommen Sie einfach raus, trinken Sie ein Glas Wasser, gehen Sie ein bißchen herum, dann versuchen Sie’s noch mal. Inzwischen kann Mr. Schine schnell verschwinden und sein Geschäft machen.« »Es ist einfach nur« – der Riegel schnappt –, »daß ich nicht entspannt bin.« Rodney steht in der Tür, I ♥ NY ist aufs lächerlichste verrutscht. »Geben Sie mir eine Stunde«, bettelt er. »Zwei Stunden oder vielleicht bis morgen. Ja, morgen früh, das wäre toll. Morgen früh, kein Problem.« »Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Es ist nur so, daß wir die Aufnahme nicht abschließen können, bevor wir Ihre Urinprobe haben. Das ist Vorschrift.« Ms. Longley greift nach ihm, obwohl sie ihn nicht anfassen will, nur weiterschieben. »Sie werden hier unten warten müssen, bis Sie pinkeln können.« »Aber ich kann nicht.« Überraschend fängt er an zu kichern. »Scheiße noch mal!« sagt er. »Oh, das ist schlechtes Wort. Unverzeihlich.« Er grinst. »Pinkeln, stimmt. Ich soll endlich pinkeln, es hinter mich bringen und« – er stößt auf – »es kommen lassen, einfach fließen lassen.« »Trinken Sie doch erst was, dann sehen wir weiter.« »Ja, okay, ein Drink.« Resigniert läuft er an Billy vorbei. »Mr. Schine, Sie sind dran.« Die Bewacherin des Urins reicht ihm den Becher. »Bitte nur halbvoll.« Über dem Waschbecken ein kleines Schild: BITTE ÜBER DER TOILETTE URINIEREN. Billy stimuliert seine Blase durch sanftes Krabbeln am Eichelhelm und dem ach so empfindlichen Sturmriemen. Und schon kommt’s. Es ist komisch, in einen Becher zu pinkeln, denkt er, irgendwie zirkulär und selbstbezogen, als würde man sich ein Glas warmen Chardonnay eingießen.
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Prost. Der Becher füllt sich schnell mit einem satten Gelb. Die Analyse wird fünf Schalen gezuckerte Cornflakes ermitteln. Billy lenkt den Strahl ins Becken, dann sieht er Rodneys traurigen Becher auf dem Waschbeckenrand. In einer plötzlichen Eingebung nimmt er ihn und erleichtert sich um weitere fünf Zentimeter Urin. Wieder im Flur, sagt er zu Rodney: »Du bist dran.« Kaum hat er das vernommen, zerknüllt er seinen Wasserspenderbecher und stapft todesmutig zur Toilette – nicht wie ein Held, sondern wie ein Mann, der sich mit seinem Untergang abgefunden hat. Im Flur spitzt man die Ohren. Alles Geräusch scheint in Rodneys Harnröhre gefangen. Endlich löst sich die Spannung, das unverkennbare Plätschern wird von einem triumphierenden Stöhnen gefolgt. Rodney kommt heraus, strahlend. Brad Lannigan applaudiert als erster.
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10 Es GEHT DIE TREPPE hinauf in den dritten Stock. Der Korridor ist zur bequemen Orientierung mit einem Farbkode versehen, einem grünen Streifen auf halber Höhe. »Grün ist Ihre Farbe«, verkündet Ms. Longley. »Sie müssen immer Grün sehen. Wenn Sie Rot, Blau, Gelb oder Orange sehen, sind Sie im falschen Bereich und sollten sich auf die Suche nach dem Grün machen. In Ihrem Zimmer, auf Ihrem Bett, finden Sie ein grünes T-Shirt. Es ist wichtig, daß Sie dieses T-Shirt immer tragen.« »Die totale Vergrünung«, jubelt Lannigan. Sie bleiben vorm Schwesternzimmer stehen, wo ihnen Schwester Clifford und Schwester George vorgestellt werden. Die beiden blicken im Duo auf, lächeln im Duo, schließen ihre Akten im Duo, stehen im Duo auf. Die Routine hat sie zusammengeschmiedet. Ihre weißen Hosen und rosa Blusen enttäuschen Billy. Er hatte auf Schwestern wie von früher gehofft, wie im Kino, auf mildtätige Wesen, die die letzte Ölung mit ihren Tränen vornehmen, auf bezahlte Nonnen mit irdischen Vorzügen. Aber leider, keine Jungfrauentracht mehr. Keine Schwesternhaube, keine weißen Strümpfe. Nur die Schuhe – weiß und orthopädisch – sind sich gleich geblieben. Schwestern,
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so scheint es, haben ihre eigene Version des II. Vatikanischen Konzils durchgemacht und kleiden sich seitdem im klassischen Lesbenlook. »Hallo«, grüßen die Schwestern routinemäßig. Obwohl sie sich in keiner Weise ähneln, haben sie denselben Maschinengewehrblick, frontal und methodisch, Drückeberger im Visier. Ihr Gnadenakt: ein Schuß in den Schenkel. Ms. Longley belehrt ihre Schützlinge, daß sie den Schwestern gehorchen müssen. »Denken Sie daran, Sie haben ausgebildete Fachkräfte vor sich und keine Dienstmädchen.« Die Schwestern verschränken die Arme und ballen die Lippen zu harten rosa Fäusten. »Sie sind für Ihr Wohlergehen und Ihre Sicherheit zuständig.« Die Schwestern nicken. »Helfen Sie ihnen bei ihrem Job, und sie helfen Ihnen bei Ihrem Job.« Unser Job? denkt Billy. Was ist unser Job? Wir sind die Lückenbüßer für die wahren Stars; die Stuntmen, die solange verarztet werden, bis die richtigen Kranken kommen. Nur die Kranken werden geliebt. Sie hingegen sind nachweislich gesund. Nichts wird sie retten. Am Ende des Korridors zeigt ihnen Ms. Longley den Aufenthaltsraum, und auf der Hälfte des Korridors zeigt sie ihnen den einzigen Fernsprecher. »Er gibt kein Restgeld raus«, erklärt sie. »Und Handys sind verboten.« Das weiße Weiß des Flurs, die weißen Wände, das weißfluoreszierende Licht, der weiße Fußboden riechen wie permanent mit einem aseptischen Reinigungscocktail gereinigt, und der grüne Streifen scheint einen Kiefernnadelgeruch freizusetzen, der auch notwendig ist, wenn man an zehn schlafsaal-
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artigen Räumen mit je drei Betten vorbeigeht und aus jeder Tür eine Geruchsanarchie hervordrängt, in der Schweißfüße, Achselhöhlen, Fürze und ein Dutzend mindere Geruchsquellen um ihren gerechten Anteil kämpfen. Billy bekommt Zimmer 306, zusammen mit Brad Lannigan. Gott sei Dank werden weder Ossap noch Dullick aufgerufen, auch Rodney nicht, der nach der Urinspende nicht mehr aufhört, Billy mit dankbaren Blicken zu bedenken. Die absurde Phantasie, mit Gretchen zusammenzuwohnen, ist erledigt, weil sie ein eigenes Zimmer bekommen hat, als einzige Frau dieser Studie. Zimmer 302, zwei Türen weiter. Nur sechsundzwanzig Schritte. »Essen ist in fünfzehn Minuten«, sagt Ms. Longley zu Billy und Lannigan. »Also machen Sie sich’s nicht zu bequem.« Zu bequem? An diesem Zimmer ist nichts bequem. Teils Krankenhaus, teils Motel, teils Unterkunft für ästhetisch Behinderte; keine losen Teile oder scharfen Kanten oder unnötigen Accessoires lassen den Gedanken an Geschmack aufkommen. Die Wände sind von einem fürsorglichen Immer-schön-ruhig-bleiben-Gelb. Der beigefarbene Teppichboden könnte aus Beton sein. Gegenüber der Tür das große Fenster mit dicken Vorhängen, die entweder zur Verdunklung da sind oder für kleinere Theaterproduktionen der Außenwelt, mit dem Vorplatz und der falsch gehenden Sonnenuhr als Hauptdarstellern. Dazu eine Kommode, gemacht für drei Sätze Kleidung, und ein Spiegel, ausreichend für drei Gesichter. Eine Digitaluhr mit widerwärtig roten Ziffern besetzt ihre eigene Nische. Die einzige Extravaganz des ganzen Zimmers ist der Fernseher, ein Zenith Horizon, siebzehn Zoll, mit einer Vorrichtung an die Decke geschraubt, die einem Galgen für Wirbelverletzte ähnelt.
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Auf zwei der drei Betten liegen je ein Handtuch, ein Waschlappen, ein Ministück Seife und ein grünes T-Shirt. Vom dritten Zimmerbewohner sieht man nur das Gepäck, einen Armeebeutel, der das Bett am Fenster belegt hat, möglicherweise das beste Bett, wie Lannigan feststellt, indem er die Fäuste in die Hüften stemmt und knurrt: »Hat sich Goldilocks ja gut bedient.« »Allerdings«, sagt Billy. »Na ja. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich würde es genauso machen. Aber ich glaube, er hat alle Kissen ausprobiert, und das ist das Letzte, selbst für meine Begriffe.« Lannigan dreht sich zu Billy um, sein nichtssagendes Gesicht macht auf kokett; der Mann hat eine seltsame Art von Charisma. »Ich muß gestehen, daß ich mittlere Betten hasse. Als jüngster von drei Brüdern mußte ich immer in der Mitte schlafen. Ich will mich zwar nicht sträuben, aber...« »Mir macht es nichts aus«, sagt Billy. »Wirklich nicht?« »Kein Problem.« »Ich kann es auch nehmen.« »Wirklich, mir macht es nichts aus.« Was die reine Wahrheit ist, wenn man Billys Kindheitsängste vor Monstern und Wahnsinnigen in Betracht zieht, vor Mördern, die auf der Suche nach Opfern durchs Haus schleichen, von Zimmer zu Zimmer, von Bett zu Bett, und alles der Reihe nach töten. Sein Zimmer wäre als erstes drangekommen. Oft hat er sich als Frühwarnsystem für seine Eltern betrachtet, seine Todesschreie als Warnsignale. Wenn er Lannigan das Bett an der Tür überläßt, denkt er sich jetzt, hat er immer noch eine gewisse Chance, mit dem Leben davonzukommen. »Bist du sicher?« fragt Lannigan. »Ich kann auch das
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mittlere nehmen.« »Absolut.« »Wirklich, ich nehm’s gern.« Lannigan hat offenbar das Zeug zum Märtyrer. »Muß nicht sein.« »Na, dann«, sagt Lannigan und läßt sich mit einem Satz auf das erhandelte Bett fallen. Er schlägt die Beine übereinander, faltet die Hände hinterm Kopf, schnalzt mit der Zunge. In dieser Stellung verharrt er zehn Sekunden, dann springt er auf, überprüft den Blick aus dem Fenster, nimmt ein Comicheft – Superman and the City of Doom – vom Bett des geheimnisvollen Dritten, danach eine Bibel, dann betrachtet er sich im Spiegel, wirft einen Blick ins Bad, sucht die Fernbedienung, die leider in der Nähe des mittleren Betts an der Wand befestigt ist, und schaltet – klick! – den Fernseher ein. »Mal sehen, ob es so weit nördlich dieselben Sender gibt«, sagt er. »Ob auf Kanal 2 noch CBS ist oder was anderes.« Er zappt ein wenig, Dan Rather erscheint. »Genau dasselbe«, sagt Lannigan, erleichtert, weil er absolut nichts Neues entdeckt. Überschwemmungen in North Carolina. Scharenweise tote Schweine mit aufgetriebenen Bäuchen treiben vorbei. Aus den Fluten ragende Hausdächer ähneln gekenterten Booten. Billy öffnet seinen Koffer, der Inhalt mutet an wie Schätze einer vergangenen Epoche. Das Zitatwörterbuch kommt auf den Nachttisch. »Bißchen was Leichtes zu lesen?« fragt Lannigan und nimmt das Buch in die Hand. »Ja.«
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»Stehen da all die großen Sprüche drin?« »Ja.« Lannigan liest. »›Die Welt, wie wir sie kennen, ist ein Ort, wo die Großen gegen die Kleinen kämpfen, aber jeder täuscht sich über seine wahre Größe und wird sie nie erfahren.‹ Rate mal, wer das gesagt hat.« »Wer?« Lannigan verbeugt sich. »Ich. Nicht schlecht, was? Aber ich war immer gut mit Zitaten. Oder Scheinzitaten. Wie Shakespeare schon sagte: ›Der schnellste Weg zur Größe führt über die bereits angefeuchteten Worte der anderen.‹« Lannigan grinst und macht kokette Gesten. »Auch von mir.« Billy packt den Koffer aus. »Im Bus hast du Hamlet gelesen.« »Nicht gelesen, memoriert.« »Also bist du Schauspieler.« »Ja. Und laß mich raten: Du bist Maler.« »Nein.« »Schriftsteller?« »Nein.« »Bitte nicht noch ein Schauspieler!« »Nein, nichts dergleichen.« »Ein Pantomime? Ein Performancekünstler?« »Ich bin wirklich nichts Besonderes.« »Musiker?« »Nichts dergleichen.« »Jongleur?« »Nein.« »Aber du hast diesen Blick«, sagt Lannigan. »Den Rilke die verzweifelte Wunschlosigkeit des Dichters‹ nannte, ›wie ein hungriger Löwe, dem schon die Luft zuviel Nahrung
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ist‹. Okay, ich hör schon auf, tut mir leid.« Billy schiebt den Koffer unter sein Bett. »Dann machst du also bei einer Hamlet-Inszenierung mit oder so?« fragt er, um Lannigan von sich abzulenken. »Stimmt. Eine verdammt gute Inszenierung sogar. OffBroadway, aber das äst ja heutzutage auch schon Broadway, im Grunde. Das wird so was wie mein großer Durchbruch. Der Regisseur ist ein alter Freund von mir, der jetzt eine Erfolgssträhne hat, und er hat mich besetzt, so wie wir das immer diskutiert haben – unseren Hamlet. Sehr spannend. Im November ist Premiere.« »Und du bist Hamlet?« »Nein, nicht direkt. Für die Rolle haben sie einen bekannten Schauspieler.« »Wen?« »Das weiß ich noch nicht.« »Und welche Rolle spielst du?« »Ich spiele Voltimand, den Höfling. Willst du meinen großen Monolog hören?« »Warum nicht?« sagt Billy. »Du bist der König und fragst: ›Sagt, was Ihr bringt von unserm Bruder Norweg!‹« »›Sagt, was Ihr bringt von unserm Bruder Norweg!‹« Lannigan legt los: Erwiderung der schönsten Grüß’ und Wünsche. Auf unser erstes sandt’ er aus und hemmte Die Werbungen des Neffen, die er hielt Für Zurüstungen gegen den Polacken... Und immer so weiter. Billy macht gute Miene dazu, trotz aller Überbetonung und Fuchtelei, die ihm mal wieder vor Augen führt, warum er das Theater meidet, einen Ort, wo man die Peinlichkeit schlechter Darbietungen mit anderen teilen muß, wo eine vergessene Zeile, ein verpaßtes Stich-
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wort, eine verrutschte Kulisse betroffener macht als die gelungenste Szene, wo das angespannte Lauern auf Patzer selbst einen Laurence Olivier verblassen läßt. Ihr wollt geruhn, fiir dieses Unternehmen Durch Eu’r Gebiet den Durchzug zu gestatten, Mit solcherlei Gewähr und Einräumung, Als abgefaßt hier steht. Lannigan als Voltimand macht eine leichte Verbeugung, dann meldet sich Lannigan als Lannigan mit einem »Tadamm« zurück. »Großartig«, sagt Billy. »Das ist nicht mein Verdienst«, erklärt ihm Lannigan. »Das ist die Sprache. Shakespeare gibt dir alles vor. Du mußt ihm bloß folgen und seinen Worten vertrauen. Ich sage dir, das ist ein unglaubliche Erfahrung.« »Das ist ein Voltimand, der steht für immer«, sagt Billy und merkt den Spott zu spät. Aber Lannigan strahlt trotzdem. Die CBS-Abendnachrichten zeigen Bilder aus Menomonee Falls, Wisconsin. Eine Menschenmenge, geschätzt auf tausend und ständig wachsend, umringt das Haus von Charles Savitch. Auf den umliegenden Straßen haben sich Ü-Wagen mit Satellitenschüsseln breitgemacht. Auch internationale Presse ist dabei. Der Bericht zeigt für einen kurzen Moment den berühmt gewordenen Hirnscan, dann das Highschoolfoto, dann die unbestätigten Umrisse von Savitch hinter dem Vorhang seines Wohnzimmerfensters. Dan Rather meldet sich zurück, mit strenger Miene, als wäre er der Schuldirektor und der Bericht ein außer Kontrolle geratener Bösewicht. Das Badezimmer besteht aus der üblichen, platzsparenden Kombination von Toilette, Wanne und Waschbecken. Billy zieht das grüne Hemd an und hängt sich das Identi-
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tätshalsband um. Er ist froh, das Cats-T-Shirt loszusein, vor allem weil sich seine Brustwarzen an der Mischfaser wundgerieben haben. Er prüft sein Aussehen im Spiegel. Er sieht unauffällig-dienstlich aus, wie eine Putzkraft beim Pentagon. Als er ins Zimmer zurückkommt, steht Lannigan ohne Hemd am Fenster und preßt den nackten Oberkörper rukkend gegen die Scheibe. »Da kommt ein Neuer«, sagt er zu Billy. »Oh.« »Komm her und tu so, als würdest du mich in den Arsch ficken.« »Was?« »Nur zum Spaß, um den Typ zu schocken.« »Lieber nicht.« »Er bleibt stehen«, meldet Lannigan. »Er guckt hoch. Er ...« Sein Gerammel wird heftiger. »Komm schon, preß dich an meinen Arsch. Das wird eine tolle Nummer.« »Nein, danke.« Lannigan hört enttäuscht auf. »jetzt ist er weg.« »Wie schade.« »Nächstes Mal müssen wir was einüben, eine richtige Show abziehen.« Dank dem Gott des Slapstick, dem Zeus der falsch getimten Auftritte, der Athene der dummen Mißverständnisse, steht seit einer Minute der Dritte in der Tür. »Hallo«, sagt er. »Hallo.« »Hey.« Er nennt sich Do. Do wie Dolores, das Reh. Rami ist sein Nachname. Jay Rami heißt er, aber alle nennen ihn Do, erklärt er. Außer der fa-so-Fortsetzung, die sein Name provoziert, hat er nichts Rehartiges an sich, abgesehen viel-
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leicht von seinen Augen, die eng beieinanderstehen und dunkel sind. Verschreckte, verlorene Reh-imScheinwerferlicht-Augen und immer im Weg. Aber eigentlich sind es eher Waschbärenaugen, denkt Billy, oder Opossumaugen, die Augen irgendeines Nachtgetiers, die weder verletzt noch anklagend wirken, Augen ohne Poesie und Nachdruck, kleine schwarze Knopfaugen, die aus einem mondscheinhellen Gesicht schauen, als wären sie von zwei wütenden Daumen hineingedrückt worden. Kein Auto würde solchen Augen ausweichen. »Blöd, ich weiß«, sagt Do über seinen Namen. »Eine Lehrerin hat damit angefangen, in der ersten Klasse, praktisch am ersten Schultag. Sie hat meinen Namen aufgerufen – Jay Rami –, aber ich war nicht da, also hat sie ihn wiederholt und fa-so-la-ti-do gesungen. Seitdem heiße ich Do.« Er klingt wie eine zu lange Nachricht auf dem Anrufbeantworter. »Willkommen im Club«, sagt Lannigan. »Seid ihr gerade angekommen?« »Ja.« »Cool. Wo seid ihr her?« »New York City. Alle beide«, sagt Lannigan. »Cool. Ich bin aus dieser Gegend hier.« »Cool.« »Nicht wirklich«, sagt Do. Billy schätzt ihn auf neunzehn oder zwanzig. Seine Sommersprossen erinnern an das stockfleckige Foto eines Boxers, der nie einen Kampf gewonnen hat. »Hat einer von euch das schon mal gemacht?« fragt er. »Was gemacht?« fragt Lannigan lüstern zurück. »Drogen getestet.« »Beruflich?« »Ja.«
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»Nein, beruflich nie.« Lannigan glotzt blöde, und Billy weiß jetzt, daß er Do zum Trottel auserkoren hat. Der arme Do ahnt nichts davon. Gegen sieben fällt eine weibliche Stimme über den kleinen Deckenlautsprecher ins Zimmer ein. »Zum Abendessen bitte vor den Zimmern Aufstellung nehmen.« Schwester Clifford und Schwester George warten schon im Flur. »Okay«, sagt Schwester Clifford (oder vielleicht Schwester George). »Das wird zwar bald Routine, aber bis dahin müssen Sie aufpassen. Alle Mahlzeiten sind Pflicht, Frühstück, Mittag, Abendessen. Die Ernährung ist ein wichtiger Teil der Studie. Eine Schwester wird Sie immer zur Cafeteria und zurück begleiten. Achten Sie darauf, daß Sie stets Ihr Identitätshalsband tragen. Alles klar? Alles bereit?« Niemand wagt eine Frage. Sie laufen durch den Flur, die Treppe hinab zur Hauptetage, Schwester Clifford/George vornweg, Schwester George/Clifford hinterher, propere Anführungszeichen eines ziemlich unansehnlichen Satzes. Keiner redet viel außer Ossap und Dullick, die miteinander flüstern und alle Blicke abweisen, auch die von Billy, der aus Versehen in ihren Dunstkreis gerät und irgendeine Bemerkung über Überwachungskameras aufschnappt. Billy hält Ausschau nach einem bekannten Gesicht. Sameer Sirdesh scheint sich mit den anderen Einwanderern zusammengetan zu haben, zwei Mexikanern, einem Kolumbier, einem Algerier und zwei Chinesen. Rodney Letts schiebt sich von hinten an Billy heran und dankt ihm noch einmal für die Pisse. »Sieht aus, als hätten sie eine ganze Herde Mulis für diese Studie zusammengetrieben«, sagt er. »Mulis?« »Na, legale Einwanderer, vielleicht auch illegale, wer
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weiß? Am besten, sie verlegen ihre Klinik gleich nach Mexiko. ›Vergeßt die Kokainballons, freßt lieber unsere Betablocker.‹« Billy entdeckt Gretchen weiter vorn. Hinter ihr läuft Peter Swain und starrt ungehemmt auf ihren Arsch – das Schwein! –, den Billy weder groß noch klein, sondern angenehm muskulös findet, wie eine von Schlittschuhen ins Eis gekratzte Acht. Beim Betreten der Cafeteria muß man die Identitätskarte durch den Schlitz ziehen und dann ein Drehkreuz passieren, womit einige ihre Schwierigkeiten haben. (Zum Beispiel Do, der zieht und zieht und zieht, während sich hinter ihm ein Stau bildet, und er versucht es immer wieder – so ein Trottel! –, bis ihm Billy zu Hilfe kommt und den Magnetstreifen auf die richtige Seite dreht.) Die Cafeteria ist wie jede andere Cafeteria – abgesehen von ihrer Farbenvielfalt. Es gibt blaue, rote, grüne, gelbe und orange Tabletts, das Essen wird aus blau, rot, grün, gelb und orange beflaggten Schüsseln serviert, der Raum ist in blaue, rote, grüne, gelbe, orange Tische unterteilt. Wie ein zerstückelter Regenbogen. Billy setzt sich mit Rodney, Do und Lannigan zu ein paar anderen Grünen, die ihnen grüßend zunicken. An einem Tisch in der Nähe sitzen Orange-Normale, die freudlos vor sich hin essen. Ihre Körper scheinen jeden Tropfen Flüssigkeit festzuhalten, Wangen sind prall bis zum Platzen, Hälse blähen sich wie Pythons beim Verschlucken größerer Gegenstände, Hände sehen aus wie von Kindern gemalt. Billy schaut sich diese aufgeschwemmten Gesichter über den Identitätshalsbändern an – sie wirken wie häßliche Cartoonsprechblasen, die den Umsitzenden verkünden: Normalerweise sehe ich anders aus. »Wahrscheinlich irgendein Dipin«, sagt Rodney.
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»Was ist das?« fragt Do. »Ein Calciumkanalblocker, ganz angenehm, abgesehen von der deutlichen Schwellung.« »Das ist keine Schwellung«, sagt Billy, »das ist fünf Ausdrücke schlimmer.« »So schlimm ist es auch wieder nicht«, beruhigt Rodney und gibt den Wissenden. Über Müllcontainer, sein eigentliches Metier, ist er nun erhaben. Sogar das schwarze Ding an seiner Nase wird zum Geburtsmal der Weisheit. »Ob sich die Schwellung auch auf den Schwanz auswirkt?« witzelt Lannigan. »Da bin ich mir nicht sicher.« Sie wenden sich der Mahlzeit zu: Eisbergsalat, Hähnchen mit Parmesan, Götterspeise. Keiner beklagt sich. Billy schaut zu den anderen Farben hinüber. Die Roten schwitzen, sie schwitzen in ihren Hackbraten, sie schwitzen und schwitzen – Gott, was die schwitzen! Als würden ihre Gabeln hundert Pfund wiegen, als wäre der Hauptgang der zweite Teil eines Triathlons. Und die Blauen? Sie tragen alle Sonnenbrillen, oder besser, Lichtschutzvorrichtungen, massive schwarze Balken, die jeden Lichtstrahl fernhalten. Die Gelben? Drei, vier oder fünf von ihnen kotzen gerade. Zum Glück sind sie mit Kotztüten ausgerüstet. Wohin Billy auch blickt, begegnet ihm ein seltsamer Farbschwall. Drei Rote fangen an zu lachen. Zwei Gelbe umklammern ihre Bäuche. Ein Oranger fällt in Ohnmacht. Ein Blauer nimmt die Sonnenbrille ab, blinzelt und reibt sich die Augen, als würde er von Blitzlichtern geblendet. Einem Roten sprudelt Milch aus der Nase, entweder eine Nebenwirkung oder ein Lachreflex. Die anderen Roten lachen und schwitzen. Ein Blauer merkt nicht, daß er Nasenbluten hat. Ein Gelber
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springt auf und rennt zur Toilette. Ein Roter verschlingt seinen Nachtisch – eine Schale Schokopudding – mit einem einzigen verschwitzten Schlurps. Ein Oranger weint, ohne den Luxus von Tränen zu genießen. Ein Gelber tröpfelt Milch in ein Glas Wasser und schaut viel zu gebannt auf die weißen Schlieren. Nach der Mahlzeit werden die Grünen eingewiesen. Während dieser Zeit – während Ms. Longley vor ihnen steht und sie offiziell begrüßt und die Mitarbeiter der Studie vorstellt, während sich die Schwestern und Ärzte und Phlebologen unter Befolgung einer auffordernden Geste mit dünnem Lächeln von den Plätzen erheben, ohne ihre Sitzposition aufzugeben, als hätten es ihre Ärsche schwer, die Gravitation der Gleichgültigkeit zu überwinden – ja, hallo –, während Ms. Longley das Arbeiten unter klinischen Bedingungen erläutert, die Regeln und Bestimmungen erwähnt und auch die Entlassungsgründe nicht vergißt – Rauchen, Trinken, Konsum von nicht verordneten Drogen – sowie die Strafen für unpünktliches Erscheinen, für ungehörige Äußerungen und Fehlverhalten gemäß Abschnitt vier der Einwilligungserklärung, die zum Infopaket gehört, das jeder bei der Ankunft erhalten hat, jawohl, jawohl, jawohl, während Ms. Longley überleitet zu einer Erläuterung der Überwachungsbehörde und ihrer Rolle bei Beschwerden körperlicher, seelischer oder finanzieller Art, um sogleich auf den Tagesplan hinzuweisen, der sehr wichtig ist, damit man weiß, wann und wo, ganz besonders am PKTag – also bitte achten Sie darauf und folgen Sie den Anweisungen der Mitarbeiter –, und während diese leidgeprüft nikken – schön wär’s! – und Ms. Longley der Gruppe versichert, daß all dies bald Routine sein wird, und lächelt, als ginge es um Milch und Honig, um zwei Wochen Ferien und eitel
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Sonnenschein – während dieser Zeit, während die Mahlzeit verdaut wird und während Ms. Longleys Worte die kommenden Tage mit den üblichen Phrasen der Motivation und Ermutigung belegen, während sie den Gemeinschaftsgeist beschwört, der alle Beteiligten einigen wird, und während sich die ausgewogene Mahlzeit für manche Mägen als zu schwer erweist und nach Mottenkugeln riechende Fürze erzeugt, die überwiegend lautlos erfolgen, aber vereinzelt auch Ms. Longleys Ausführungen über die lange und stolze Tradition der Sicherheit am Hargrove Anderson Medical untermalen und ihren ehrlichen Wunsch nach Kommunikation, nach Dialog und Partnerschaft, und während die Ärzte und Schwestern und Phlebolo-gen mit Warum-muß-ichhier-rumsitzen-Blicken auf die Uhren schauen und die Angestellten der Cafeteria gegen das Nichtzurückbringen der Tabletts protestieren, indem sie die Essensreste mit Getöse in die Tonne kratzen – während dieser Zeit schaut sich Billy die anderen Grünen an. Es sind sechsundzwanzig: fünfundzwanzig Männer, eine Frau. Alle lauschen andächtig oder tun so, nicken, selbst wenn es nichts zu nicken gibt. Alle reißen sich zusammen und versuchen, einen guten Eindruck zu machen. Wie Novizen im Kloster, denkt Billy. So wie sie dasitzen in diesen grünen Kutten, mit dieser milchbärtigen Andächtigkeit. Sie befingern ihre stigmatisierten Armbeugen wie ungläubige Thomasse, Identitätskarten baumeln an ihren Hälsen wie erkennungsdienstlich verwendbare Kruzifixe. Sie inspizieren ihre laminierten Fotos wie ihr abgelegtes schlechteres Selbst. Sie wirken wie von einem neuen Stolz erfüllt. Das war ich mal, dieses Arschloch. Sie hören von einer Kommunion, bei der Pillen verteilt und Blutproben entnommen werden, bei der die Transsubstantiation in barer Münze erfolgt,
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und für diese irdische Verheißung werden sie tagelang auf den Knien rutschen. Die Sünde finanziert die Vergebung. Das Geld reinigt ihre Seele. Denn normalerweise sind sie die Unerleuchteten, die Übersehenen, die schon nach fünf Minuten Vergessenen, das Unterholz der Menschheit, das an sonnenarmen Plätzen gedeiht und alles mit seiner Bedeutungslosigkeit ausfüllt, der Bodensatz der Busbahnhöfe und Imbißbuden, Leute, mit denen man nichts gemein haben will, wenn man mit ihnen in einer Schlange steht, in der Hand eine Literflasche Mineralwasser und einen Mikrowellenburrito – sie, nicht ich! –, Leute, die sich vor anderen Leuten streiten, ohne Hemd rumlaufen, zu laut reden, ewig beleidigt sind. Wenn man ihre Gesichter übereinanderkopieren würde, käme ein Wesen mit mißtrauischem Blick und argwöhnischem Mund heraus und einer Stirn, in die der gnadenlose Durchhaltewille eingeschrieben ist. Beim Blättern im Verbrecheralbum käme einem diese Person vage bekannt vor, irgendwas im Aussehen, bis man merkt, daß die Nase ganz anders ist und das Kinn völlig falsch und diese Ohren schon gar nicht in Frage kommen. Aber ihre Unschuld wird oft mit Schuld verwechselt. Man glaubt ihnen selten und traut ihnen alles Schlechte zu. »Noch irgendwelche Fragen?« fragt Ms. Longley. Billy sieht Gretchen, die zwei Tische entfernt sitzt. Wirklich nicht aufregend, wenigstens jetzt nicht, nicht aus dieser Entfernung, nicht aus diesem Blickwinkel, ein Gesichtskeil, eher defensiv als offensiv, eher unwirsch als freundlich, ein Mund wie für einen Mundschutz entworfen. Hände schießen hoch. »Gibt es auch Barauszahlung?« Ms. Longley: »Nein, nur Schecks.«
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»Richtige Schecks oder Zahlungsanweisungen?« Ms. Longley: »Beglaubigte Schecks.« »Wo kann man die einlösen?« Ms. Longley: »Bei fast jeder Bank.« »Brauchen wir dafür einen Ausweis mit Paßbild?« Ms. Longley: »Wahrscheinlich.« »Können Sie eine Bürgschaft geben?« Ms. Longley: »Nein.« »Gibt es wirklich kein Bargeld?« Gretchen greift gelangweilt nach ihrem leeren Götterspeise-schälchen und holt mit dem Finger die letzten Sahnereste heraus, was ohne Zweifel eine erotische Geste ist. Aber was Billy anmacht, ist nicht das Abschlecken des Fingers, sondern daß sie noch einmal ins Schälchen schaut, einen Schmollmund macht – nichts mehr da – und damit ihre kindische Anwandlung karikiert. Billy fragt sich, ob Gretchen weiß, daß er sie beobachtet. »Können wir das Geld auch direkt aufs Konto kriegen?« »Gibt es Vorschuß?« Billy fragt sich, ob sie das überhaupt juckt.
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11 ZIMMER 306 IST durchweht vom Hauch des Schlafes und der Klimaanlage. Do schläft, Lannigan schläft. Der Fernseher ist schon lange verstummt, nachdem er die letzten Meldungen gebracht hat: Man sah Chuck Savitch und den anthropomorphen Hirntumor aus dem Erkerfenster seines Elternhauses winken, man sah die Menge vorm Haus, die ihre Dankbarkeit in Form von Blitzlichtern zum Ausdruck brachte. Die Einschlafunterhaltung (Do: »Wie werden wir uns wohl morgen abend fühlen?« Lannigan: »Ich hoffe, wir brauchen auch so dicke Sonnenbrillen wie die Blauen.«) ist zum Geschnarche verkommen. Dank der schweren Vorhänge ist das Zimmer in eindrucksvolles Dunkel gehüllt. Billy fühlt sich wie in einer Höhle verschüttet, jedes Partikelchen Dunkelheit ist ein Felsbrocken, der ihn niederdrückt, niemand vermißt ihn, alle tanzen Hand in Hand auf dem grünen Rasen herum, während er hier unten stirbt. Billy bewegt seine Beine, um sicherzugehen, daß er nicht gelähmt ist. Sind das Hunde, die in der Ferne bellen? Die Digitaluhr glüht rot. 00:02, 00:23, 00:52. Lannigan schläft, Do schläft. Und Billy ist hellwach. Nein, keine Hunde, nur der Anschein von Hundegebell
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im Rauschen der Klimaanlage. 01:00. Sechs Stunden bis zum Wecken. 01:28. Fünf Stunden und zweiunddreißig Minuten bis zum Wecken. Die grausame Arithmetik des schrumpfenden Schlafes versetzt sein Gehirn in Panik. Er zählt rückwärts von hundert, er spannt und entspannt die Muskeln von den Zehen bis hinauf zur Stirn, er versetzt sich in Träume (ich fliege... ich klebe im Sirup), er rotiert um die eigene Achse, auf der Suche nach der bequemsten Schlafstellung – Bauch, links, Rücken, rechts und wieder von vorn. 01:53. Fünf Stunden und sieben Minuten bis zum Wekken. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Verdammte Scheiße! Billy blickt zu Do und Lannigan hinüber. Die sind eigentlich schon ausgeschlafen, begrüßen schon den nächsten Tag, herrlich ausgeruht, während Billy zurückgeblieben ist, knietief im Gestern watet. Schlaf als Wettkampfsportart. Soll er schreien, als hätte er Alpträume, nur um sie aufzuschrecken? Aber es gibt eine andere Option. Billy schlüpft aus dem Bett und schleicht auf Zehenspitzen ins Bad. Behutsam, wie um knackende Ästchen zu vermeiden. Er lauscht auf Störungen in den Schlafgeräuschen, bleibt stehen, bis die Luft rein ist, schleicht weiter. Es hat etwas Beruhigendes, etwas Friedvolles, dieses Herumschleichen im Dunklen, es war praktisch sein Kindheitshobby, mitten in der Nacht aufzustehen und durchs Haus zu schleichen, ins Schlafzimmer seiner Eltern und sie schlafen zu sehen, Abe und Doris ineinander verschlungen,
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als wäre es kalt und einsam im Bett. Er schrie in Gedanken Hilfe! und sah nach, ob sie davon aufwachten, er beugte sich ganz nahe an ihre Gesichter und schnupperte ihren Atem. Mehr als einmal nahm er etwas mit, eine Socke, eine Haarnadel, oder er riß einen Knopf ab, einen Schnürsenkel, wie ein böser Hausgeist. Billy erreicht die Badezimmertür, öffnet sie lautlos, schließt sie hinter sich. Und jetzt Licht an. Sehr viel Raum ist nicht für sein Vorhaben. Der Fußboden? Eng und ein bißchen unhygienisch. Die Toilette? Hat keinen Deckel, er müßte sich mit der Brille begnügen, und sie scheint der Defäkation vorbehalten; zu langes Hocken auf dem Thron kann Hämorrhoiden verursachen, wurde ihm einmal in seiner allzu leichtgläubigen Jugend versichert. Oder die Dusche? Eigentlich ein idealer Ort wegen des fließenden Wassers, der Massagewirkung des Brausestrahls, der Seifen und Shampoos und der bequemen Entsorgung, aber jetzt zu duschen kommt nicht in Frage. Billy entscheidet sich fürs Waschbecken. Die Hose runtergelassen, die Hüften vorgeschoben, die Eier auf dem angenehm kühlen Porzellan gelagert, macht er sich ans Werk. Die ersten zwölf Takte sind uninspiriert wie das Aufwärmspiel vorm Tennismatch. Gedanken wie Mach-ich-das-jetzt-wirklich? schießen ihm durch den Kopf, aber nur ganz kurz. Er war nie der Typ, der sich Models oder Schauspielerinnen oder das Mädchen von nebenan oder einsame Mitschülerinnen mit einem plötzlichen Interesse an seiner Zunge vorstellen muß. Er braucht keine Phantasiefrauen, er muß sich keine Pin-up-Girls ausmalen. Er zieht die persönliche Erinnerung vor, die Erinnerung an Frauen, die er berührt und erkundet hat. Und hebt dabei
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besonders auf die intimen Details ab, die Konstellation der Leberflecken, die Schamhaarwirbel, die Venen und Narben und Bräunungslinien, die knubbligen Knie, das Fell, das auf die Schenkel übergreift, den Bauchnabel, die Bergkette der Rückenwirbel. Er ergötzt sich an Sommersprossen, Schlüsselbeinen, Anflügen von Damenbart. Arsch und Titten sind wunderbar, aber erinnern viel zu sehr an Produktplazierung, den krassen Kommerz der Fortpflanzung, doch ein Muttermal von der Form Siziliens – das ist schon etwas anderes. Und tatsächlich, wenn alles gesagt und getan ist, nach ein paar Monaten räumlicher Distanz, belegen die Gelegenheits- und die Gewohnheitsficks mit allen ihren Zwischenstufen nur einen winzigen Teil deiner Festplatte, während dich die Marginalien, das Kratzen der Feder, die Änderungen und Korrekturen, wieder zurückbringen zu diesem ersten Moment. Boswell hatte seinen Johnson, Billy hat seinen Schwanz. Alles in allem kann er zwischen vierzehn Freundinnen wählen, von Melissa mit dem Walnußmuttermal an der Innenseite des Oberschenkels bis hin zu Wendy mit der Narbe unterm Kinn oder Lily mit den molligen Knien oder Diana mit den halbmondförmigen Dehnungsstreifen an den Brüsten. Aber die strengen Erfordernisse der Gegenwart- aufstehen und mal schnell ins Waschbecken abspritzen – lenken Billy von der Vergangenheit ab. Normalerweise macht er das auf dem Rücken, im Bett, oft gefolgt von einem Nickerchen, obwohl er in seiner Jugend ganz schön verwegen sein konnte. Überall, jederzeit, zweimal in der Bibliothekstoilette, nachdem er das Aufklärungsbuch Our Bodies, Our Selves mit dem entzückenden Bildnis eines pubertierenden Mädchens entdeckt hatte. Dann gab es da spezielle Masturbationstechniken, sich zum Beispiel das
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Handgelenk mit einem Gummiband abschnüren, daß die Hand ganz taub wird, oder gewöhnliche Haushaltsgegenstände zweckentfremden, d. h., diese gelben Putzhandschuhe umkrempeln oder die eigene Achselhöhle lecken – ein virtueller Cunnilingus, den ihm ein Freund empfohlen hatte, mit der Behauptung, das sei fast wie Fotzelecken, ohne wirklich Fotzelecken zu sein. Aber Sally Hu, seine fünfzehnte und jetzige Freundin, bricht in diese Vergangenheit ein. Billy sieht förmlich vor sich, wie sie seinen Brief liest, wie sie Arschloch sagt und einen Entenschnabel macht, der den einsamen schwarzen Leberfleck unter ihrer Nase zum Verschwinden bringt. Und schon ist sie zur Abstraktion geworden. Gestern morgen hätte auch letztes Jahr sein können – als Sally mit dem Handtuch aus der Dusche kam und Billy vom Bett aus beobachtete, wie sie ihre Beine, ihre Schenkel, ihre Schamhaare mit merkwürdig prosaischer Grazie abtrocknete, dann ihr langes schwarzes Haar zu einem Frotteeturban formte, zu dem Frauen eine genetische Begabung zu besitzen scheinen. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie vor der Frisierkommode und sagte: »Ich weiß genau, daß du nur so tust.« Billy gab nicht auf. »Als würdest du schlafen, du Schwindler. Ich weiß, daß du mich beobachtest.« Ihr New Yorker Akzent klang allerliebst. Dabei war sie exotisch wie ein Mitbringsel von Captain Cook, mit Wangenknochen wie von kräftigen Daumen geformt, mit schmalen Augenschlitzen, einer Nase wie aus dem restlichen Lehm geknetet und eierschalenglatt gebrannter Haut, aber wenn man das Warenzeichen suchte, fand man Made in Brooklyn auf der Unterseite. Ihre Stimme verriet den Jargon der Gosse, die Assimilation der
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Hauseingänge. Manchmal kam sie ihm vor wie eine asiatische Schauspielerin, die von einer platinblonden Straßengöre synchronisiert wird. Billy tat so, als würde er wach. »Du bist ein verdammt lausiger Schauspieler«, sagte sie. Ihre Familie war eine amerikanische Erfolgsstory, ihre Eltern, eingewandert aus China, behaupteten sich mit drei Asiashops gegen die koreanische Übermacht. Sie haßten Billy. Jede Woche kamen sie mit ihren Lebensmitteln und unübersetzt bleibenden Aufforderungen, Billy schleunigst zu verlassen. Billy rieb sich die Augen. Sieh mal an! Selbst ihre Brüste waren importierte Kleinode, perfekte Halbkugeln mit Nippeln, wie er sie noch nicht gesehen hatte: dunkel und prall und voll entwickelt in allen Stadien der Erregung. Wie kekke Buddhas, dachte Billy. Und hob die Hände zwecks spiritueller Erleuchtung. »Jetzt ist es verdammt noch mal zu spät«, sagte Sally. »Aber es ist noch früh.« »Zu spät und zu früh.« »Dann ist es eben frühspät.« »Jetzt nicht!« Sally fing an, im Wäscheschrank zu kramen. »Was gibt’s zum Frühstück, Liebling? Eier mit Schinken? Ein Omelett? French Toast?« Er warf die Bettdecke ab und entblößte sich. »Bockwurst«, sagte er. Sally hakte den BH zu. »Gott, wie verführerisch du bist!« Billy trommelte mit den Hacken auf die Matratze wie ein verzogenes Kind. Vielleicht brachte sie das zum Lachen. Vielleicht würde sie das ein letztes Mal gnädig stimmen. Die Sonne brachte Staubpartikel und Hautschuppen zum Leuchten. Wir schlafen in unserem eigenen Dreck, dachte
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Billy. Und fing an, mit sich selbst zu spielen. »Willst du wirklich?« fragte sie. »Ich bin wie ein Bergsteiger.« »Schön wär’s.« »Ich meine, in Antwort auf die Frage nach dem Warum.« Er zeigte auf seine Erektion. »Und du, du bist mein Sherpa.« »Sehr schmeichelhaft.« »Norgay Hu. Viel passender als Sally Hu.« »Du Dreckskerl.« Sie spielte auf Zeit. »Du hast mir erzählt, daß Sally ›Prinzessin‹ bedeutet.« »Nicht Sally! ›Sarah‹ bedeutet Prinzessin. Auf hebräisch. ›Sally‹ könnte eine Variante von ›Sarah‹ sein, aber es ist auch ein plötzlicher Vorstoß, ein Ausbruch von Eingekesselten.« »Ich weiß, wie dem Mädchen zumute ist.« »Ich mach die Sally, du machst die Sally, wir machen die Sally. Bittebitte, Sally, laß uns das Laken besudeln.« »Du hast mich ja schon fast rumgekriegt.« Und als Rache fragte sie: »Gehst du heute arbeiten?« »Ja«, log er. »Ich gehe arbeiten.« »Irgendwelche Pläne für den Abend?« »Keine«, log er wieder. »Weißt du, ›Billy‹ oder ›William‹ heißt auf deutsch, wie man sich ja denken kann, ›WiIle‹, so was wie Willenskraft oder Zielstrebigkeit, Entschlossenheit, Verlangen und gleichzeitig auch ›Helm‹, Wille und Helm, so was Kombiniertes jedenfalls, etwa wie« – Billy schwenkte seinen Willy – »der Wille meines Helms oder der Helm meines Willens.« »Und du hast noch nicht mal Kaffee getrunken.« »... i« »Was denn?«
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»Komm schon!« »Du solltest dein Gesicht sehen.« Sally setzte sich zu ihm aufs Bett. »Wo arbeitest du heute?« fragte sie. »Bei Signet«, log er. »Schon wieder?« »Ja. Halbtags. Nicht der Rede wert.« »Und du willst wirklich, daß ich dich streichle? Stehst du so auf dem Schlauch?« »Ja«, antwortete er. »Nur damit ich’s mir nicht selber mache.« »Weißt du, das ist mein vorletzter Freitag im Büro«, sagte sie. »Ich hätte wirklich den Sommer freinehmen sollen und verreisen oder was immer.« Im Reden griff sie nach unten – »wenigstens an die Westküste oder so« – und umfaßte seine Eier, rubbelte sie, rollte sie, wog sie in der Hand, schob den Finger in Richtung Perineum. »Blöd, daß ich keinen Urlaub genommen hab.« Billy stellte sich Sally in der Handelsschule vor, Sally beim Unterricht, mit erhobener Hand, in der Lerngruppe, in der Bibliothek, die gute Sally Hu, die seine Eier so hastig bearbeitete wie einen Aktientransfer kurz vor Börsenschluß. »Könntest du nicht wenigstens so tun, als würdest du mich vermissen?« fragte Billy. »Vielleicht mit Zärtlichkeit an mich zurückdenken? All diese Handelsschultypen sind auf dem Karrieretrip, trotzdem hast du Sehnsucht nach einem wie mir und denkst dir, der war genau mein Typ – oder so etwa mein Typ.« Er klang höhnisch, obwohl er es Wort für Wort so meinte. »Ich streichle dir doch schon die Eier, Herrgottnochmal!« »Bitte tu so. Eine Sekunde nur.« »Nur wenn du so tust, als würdest du kommen.«
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»Ich meine es nicht albern. Okay, normalerweise kann man mir vorwerfen, daß ich nichts ernst nehme, aber das würde einen ja fertigmachen.« »Billy, du erzählst mir das alles, während du abspritzt.« »Es ist nur so, daß ich sozusagen am Ende des Tages nicht mehr die Kraft habe, um zu...« »Entweder abspritzen oder reden.« Billy, der Schwächling, entschied sich für ersteres. Er hielt die Klappe. Bald schon beugte sich Sarah über ihn und – hallo! – fing an, ihm die Eier zu lecken, im Wissen, daß dies die Dinge beschleunigen würde, wie eine Abkürzung auf dem Weg nach Hause. Ihre Zunge schnellte mechanisch über die Naht, sie strich ihr Haar zur Seite, als könnte es ins Räderwerk geraten. Billy stützte sich auf den Ellbogen, wegen der visuellen Anreize. Das Zusammenspiel seiner Hand und ihrer Zunge erinnerte an eine HerzLungen-Reanimation. Eine Stimulationsmaschine. Sally blickte auf. »Mach die Augen zu.« »Muß ich?« »Ja.« Billy ließ den Kopf sinken, schloß die Augen, verfolgte, durch die Lider blinzelnd, wie sie den Beutel aus Altmännerhaut mit ihrer rotierenden Zunge bearbeitete, mit saugenden, schmatzenden Lippen, ihr linker Arm ruhte auf seinem Schenkel, ihre unbehaarte und unerhört glatte Haut auf seinem ungesonnten Fell, ein netter Kontrast, wie Honig im Schnee, als wäre sie über ihm ausgegossen. Er wollte schreien Heut nachmittag hau ich ab, aber das hat nichts mit dir zu tun, er wollte reinen Tisch machen, aber ihre Zunge verschloß ihm den Mund und träufelte Stille in sein Ohr, die Lust war gerade lustvoll genug, um ihn für eine Sekunde zu entrücken.
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Er kam ... ... und er kommt. Das Porzellan an seinen Eiern bietet zusätzlichen Kitzel. Wie immer schießen ihm verrückte Bilder durch den Kopf, die den Moment der höchsten Lust durchkreuzen. Jerry Lewis? Affen im Baum? Brennender brasilianischer Regenwald? Als er die Augen öffnet, sieht er sich im Spiegel, eine Art Frans Hals, Der Masturbator. Er hat zwar keine Schuld- oder Schamgefühle, was den Akt als solchen betrifft – das nun wirklich nicht! –, aber vielleicht liegt es an der Kleckerei, der Verunreinigung. Sperma kann einem vorkommen wie radioaktiver Müll, das lästige Nebenprodukt der Hitzeerzeugung. Seine Saat, seine Absonderung, sein Lendensaft (kein Wort kann diese Substanz adeln) dient als ironische Untermalung des Waschbeckenlogos American Standard. Es kommt kein Endlich! von Sally, kein jetzt hab ich einen gut, kein jetzt hau endlich ab, sonst kommst du noch zu spät, auch kriegt er nicht die Boxershorts von gestern an den Kopf geworfen, damit er die Sauerei wegwischt. Kein Ich spiele mit mir selbst von Billy. Kein Du bist ja ein tolles Pärchen. Kein Gegensätze ziehen sich an. Kein Dann bis heut abend. Keine letzte Lüge. Nichts als der vertraute Geruch, das Brackwasser austrocknender Meerespfützen. Billy läßt das Wasser laufen und stellt sich Millionen Versionen seiner selbst vor, die jetzt alle ertrinken wie die Schweine im Hochwasser von North Carolina, aufgedunsene Billys, die durch den Abfluß gluckern, Schulter an Schulter, vereint durch den klebrigen Sog des Todes. Nur noch Licht aus – Mann, ist das dunkel! –, und Billy
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tastet sich ohne viel Heimlichtuerei zurück zum Bett. Er rudert mit den Armen wie ein durch autoerotische Galvanisation zum Leben erweckter Zombie. Eine Stimme erschreckt ihn. »Kannst du nicht schlafen?« Es ist Do. »Nicht wirklich«, antwortet Billy. »Ich auch nicht.«
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12 06:56 Billy erwacht mit einem Wo bin ich? und hält die Luft an. Allmählich schärfen sich die Konturen, das Grau hellt langsam auf, und die Reste des New Yorker Zimmers lösen sich im Zimmer von Albany auf. Er betastet die Kanüle in seinem Arm wie ein Piercing. ein Tattoo, ein nächtliches Andenken. Ach ja, ich bin ja hier. Und atmet erstmal durch. Während er auf das Wecken wartet, durchläuft er die normale Morgendepression mit ihren Schreckensbildern, die ihm wie Blitze durch den Kopf schießen und oft von Selbstmord handeln – Pistolenlauf an der Schläfe, Schlinge um den Hals, Gewehrmündung im Mund –, die ideale Schlummertaste. Sie trösten ihn wie eine teuflische Mutter, die ihrem fiebernden Kind ins Ohr flüstert Schon gut, mein Kleiner, der Selbstmord hat Zeit bis morgen. 06:57 Ein paar Minuten vor dem Wecken aufzuwachen ist immer eine nette Überraschung. Der innere Rhythmus im Einklang mit Sonne und Mond und dem ewig expandierenden Universum anstelle von – piep! piep! piep! – heller Wut und scheißender Angst. Vor dem Wecker aufwachen,
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das ist wie einen Ganoven übers Ohr hauen, den Countdown einer Bombe im letzten Moment stoppen. Jawohl, Billy kommt sich involviert vor, ein bißchen wie ein Komplize. Armer Do, armer Lannigan. Die sind am Arsch, denkt er. In drei Minuten gehen die in die Luft. 06:58 Billy macht die Augen zu, nur ein verlängerter Lidschlag, ein kurzer Abschiedskuß für den Schlaf. Keine große Sache. 06:59 Er sinkt durch die Matratze und gleitet in einen Traum. Es ist sein einziger Standardtraum: Er sitzt in einem vollbesetzten Multiplex, sieht einen Film, einen Wahnsinnsfilm, er ißt Popcorn und trinkt Mineralwasser und genießt diesen Film wie nichts sonst, blickt über die Schulter, sieht erhobene Gesichter in fast ekstatischer Verzückung im flakkernden Licht, wir alle lieben diesen Film, denkt er, und das erregt ihn sogar noch mehr als der Film selbst, das erregt ihn so sehr, daß er am liebsten seinen Nachbarn anstoßen und Wow, ey! sagen möchte, daß er am liebsten aufstehen und Unglaublich, wie toll dieser Film ist! schreien möchte und ihm die Reaktion wichtiger ist als das Geschehen auf der Leinwand. Aber natürlich sagt er nichts. Der Film selbst wechselt bei jedem Traum – Komödie, Tragödie, Thriller, Musical, Klamotte, SF, Horror, Doku –, und Billy kann sich nie an irgendwelche Einzelheiten erinnern, was eine Schande ist, weil sie so unglaublich gut sind. Nein, er weiß nur, daß er extrem begeistert war und schrecklich einsam.
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07:00 Das Wecksignal. Die Deckenlautsprecher piepen, als hätte das ganze Gebäude den Rückwärtsgang eingelegt und würde Billy unter seinen Reifen zermalmen. Nach diesem Muntermacher ertönt ein »Guten Morgen«, gefolgt von »Frühstück ist in einer halben Stunde. Einer halben Stunde. Bitte seien Sie pünktlich. Danke.« Der dritte Stock summt vor Aktivität: Wasserleitungen stöhnen, Toiletten rauschen, Fernseher fangen an mit ihrem Geplapper. Die Wände müssen dünn sein wie Papier. Selbst Gähnlaute dringen durch den Trokkenbau. 07:04 Do ist als erster auf. Er erhebt sich mechanisch wie ein eingeschalteter Roboter, der keine Bewegungsenergie verschwendet. Zuerst macht er das Bett. Seine Maurerkellenhände streichen die Decke glatt, als wäre es feuchter Putz. Kissen werden aufgeschüttelt, plaziert und mit Wohlgefallen gemustert. Dann geht er ins Bad. 07:12 Schwester Clifford oder George kommt ins Zimmer. (Billy kann sich nicht merken, wer welche ist, was von ihnen beabsichtigt sein könnte. Vielleicht wollen sie namenlose Gestalten sein, die man mit »Schwester« anredet.) Sie zerrt an den Vorhängen, als würde sie Pflaster von Augen abreißen, und verkündet: »In fünfzehn Minuten ist Frühstück.« »Achtzehn Minuten«, korrigiert Lannigan. »Seien Sie einfach pünktlich.« »Das hat meine Mutter mit mir gemacht, mich belogen, damit ich früher aufstehe und rechtzeitig zur Schule kom-
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me. Das hat mich zum Wahnsinn getrieben. Um fünfzehn Minuten hat sie mich beschummelt.« »Ich habe nur abgerundet.« »Ist ja schon gut.« Die Badezimmertür geht auf, und Do kommt heraus, angezogen, aber halb durchnäßt. Sein Haar erinnert an einen ertrinkenden Pudel, der ums Überleben kämpft. »Was hast du da drinnen gemacht? Gejoggt?« fragt Lannigan. »Ich hab mein Handtuch vergessen«, sagt Do. Sein Gesicht ist übersät von Hunderten mikroskopischer Röteln. 07:16 Lannigan entsteigt dem Bett mit gymnastischem Elan, als hätte er auf dem Schwebebalken geschlafen. Er beginnt mit dem Stretching. Die Darbietung ähnelt Yogaübungen, obwohl die Figuren theatralischer und weniger diszipliniert sind, wie etwa zehn Varianten des Gähnens. Er steht da in Boxershorts und ohne Hemd, seine linke Brustwarze ist gepierct, er dehnt die Schultern und drückt das Kreuz durch wie eine Galionsfigur – eins, zwei, drei –, bis sein Brustbein knackt. »So, das war’s«, sagt er, während er Arme und Beine schüttelt. Billy fragt sich, ob Lannigan schwul ist. Wahrscheinlich. Oder möglicherweise. Jedenfalls macht er den Eindruck. Er ist blendend in Form, perfekt gebräunt, hat eine erstklassige Strubbelfrisur, eine auffallend lockere Motorik und spricht artikuliert wie die Männer, die sich jedes Wort auf der Zunge zergehen lassen, als würden sie sich selbst belauschen. Ja, Billy nimmt an, daß er schwul ist, doch ohne jedes Vorurteil, eher mit wohlverstandener aufklärerischer Toleranz. Mein schwuler Zimmergenosse. Aber Lannigans
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Tuntigkeit wirkt einstudiert, als würde einer nur Buchkritiken lesen und nie das Buch. Er läßt die Hose fallen, greift nach dem Handtuch, ohne sich an seinem entblößten Penis zu stören, dem etwas mickrigen Ausrufezeichen eines markant hingelegten Satzes, der Lannigan ins Badezimmer führt. »Handtuch benutzen«, sagt er zu Do. 07:19 »Noch zehn Minuten bis zum Frühstück«, verkünden die Lautsprecher. Do, noch immer naß, sitzt auf dem Bett und blättert in der Einwilligungserklärung. »Glaubst du, das wird schlimm mit den Nebenwirkungen?« fragt er Billy. Aber Billy ist in einem seltsamen Halbschlaf befangen, in dem sich seine Gedanken wie Träume aufführen. Ragnar fliegt wie ein Drache, Sally speit Feuer, Gretchen leckt seine Kanüle. Und wie von ungefähr meldet sich sein alter Freund Charlie Mauck, der ihm vor zwei Jahren eine bis jetzt nicht erwiderte Nachricht auf Band gesprochen hat. Nun auch noch – hä, Billy? – Do mit dieser Frosch-im-Hals- und Bitte-räuspern-Stimme. »Wird schon nicht«, sagt Billy. »Aber die schlagen dir aufs Hirn.« »Im Prinzip schon.« »Atypische Psychopharmaka«, liest Do. »Besser als typische Psychopharmaka, oder?« »Und bist du gar nicht nervös?« »Klar bin ich nervös, aber nicht so.« Do schaut auf die geschlossene Badezimmertür. Die Stimme dahinter singt einen selbsterfundenen Popsong, der Text handelt von einem Jungen und seinem Hamster. »Was hältst du von Lannigan?« fragt Do.
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»Nicht allzuviel.« »Er ist irgendwie daneben.« »Ich würde ihn nicht ernst nehmen.« »Tardive Dyskinesie«, liest Do. »Au weia.« Billy mustert den zusammengesunkenen Do, dessen Haar langsam zu einem rostroten Wirrsal trocknet. Er stellt fest, daß er Do mag – oder sich dafür mag, daß er Do mag, den einfachen Jungen vom Lande, das große Mannskind, als wäre die Tatsache, daß er Do mag, mit Do redet, Do so nimmt, wie er ist, ein Zeichen seines Großmuts. 07:27 Endlich ist Billy auf den Beinen, im Badezimmer, putzt sich die Zähne, pinkelt. Getrocknetes Sperma teilt den Urinstrahl in zwei, die beide nicht in der Toilette landen, bis Billy kräftig preßt, das Hindernis überwindet und eine ordentliche Stange abdrückt. Er wäscht sich die Hände, feuchtet das Haar an und ignoriert das Waschbecken nach Kräften – wie ein garstiger Galan, der die Geliebte nach dem Verstreichen der Nacht nicht wiedererkennt. 07:30 Sie stellen sich im Flur auf, sechsundzwanzig Grüne, und folgen den Schwestern Clifford und George die Treppe hinab in die Cafeteria. Sie laufen wie an Alpträume gekettet. Die anderen Farben sitzen schon beim Essen. Die Gelben sind in kollektiven Würgkrämpfen begriffen, die Orangen nicken an ihren Plastiktischen ein, die Blauen mit den riesigen Sonnenbrillen laborieren an ihrem Hollywoodkater, die Roten schwitzen und lachen noch immer. Rodney, das Tablett in der Hand, strebt auf Billy und seinen Tisch zu. »Schon gehört?«
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»Was?« »Zwei Gelbe sind gestern abend geflogen.« »Was ist passiert?« fragt Billy. »Fehlverhalten, oder sie haben einfach schlappgemacht. Das kann passieren. Du drehst durch, hast die ganzen Untersuchungen satt, die Knete geht dir am Arsch vorbei, und du denkst nur noch Holt mich hier raus.« Rodney wirkte gutgelaunt und frisch, als hätte er über Nacht in Champagner gebadet. »Was müssen die denn nehmen?« fragt Do. »Das hab ich noch nicht raus. Aber ich weiß, daß es ihr neunter Tag ist, und der neunte Tag ist immer tückisch, weil der neunte Tag nicht der zehnte Tag ist, der Tag mit dem ersten Hoffnungsschimmer, weil die Scheiße dann bald vorbei ist. Und weil es nicht der achte Tag ist, der Anfang der zweiten Woche, an dem du denkst, eine Woche lang hältst du alles aus. Außerdem ist die Neun eh eine Scheißzahl. Eine umgedrehte Sechs, Quadratwurzel von drei, drei Dreien, drei Sechsen, sechs, sechs, sechs, eine Unglückszahl, die Neun, da steckt Scheiße drin, und man merkt es nicht, von der Neun kommt nichts Gutes. Selbst das Wort ist häßlich. Neun!« sagt Rodney mit Naziakzent. 07:34 Zum Frühstück gibt es Pancakes mit Ahornsirup. Manche beugen sich mit kindlichem Eifer über ihren Stapel, als hätten sie auf dem Dachboden ein altes Spielzeug wiedergefunden. Pancakes! Gabeln werden begeistert geschwungen. Gretchen sitzt zwei Tische weiter. Sie hat Billys Blicke schon mehr als einmal aufgefangen und immer mit konspirativem Augenaufschlag erwidert, als wären sie die einzig Normalen unter all den Normalen. Mein Gott, sind ihre
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Augen verspielt. Wie zwei Wollknäuel, die auf das Kätzchen warten. Und Billy sieht Ossap und Dullick abseits sitzen. Teller und Gewürze haben sie um sich herum aufgebaut, als würden sie Krieg spielen. Der Salzstreuer ist umstellt, der Salzstreuer ist verloren. 08:01 »In fünf Minuten bitte im Medikationsraum melden«, verkündet die Durchsage. Die Grünen verstummen. Als würden die Bäume plötzlich aufhören zu rascheln, weil etwas Heftigeres kommt als nur ein Luftzug. 08:07 Der Medikationsraum grenzt an die Cafeteria und sieht aus wie ein futuristischer Hörsaal, wo Studenten auf neuzeitliche Art mit Wissen gefüttert werden. Hundert Kliniksessel sind in zehn Reihen unterteilt und mit blauen, roten, gelben, orange oder grünen Kopfpolstern versehen. Jeder Sessel hat seine eigene Computerstation. Vorn, wo man die Wandtafel erwarten würde, ist ein großer Bildschirm permanent auf CNN gestellt. »Die Clintons werden heute in den Hamptons auf Long Island erwartet, wo sie den zweiten Teil ihrer Ferien verbringen wollen und ihre zweitägige Teilnahme am ...« Für die Grünen sind die letzten drei Reihen bestimmt. »Am John F. Kennedy Airport kam es gestern beim Start einer Concorde zu Panikreaktionen. Ausgelöst wurden sie durch Bedienungsfehler, die möglicherweise ...« Die Fenster zeigen auf den Vorplatz, wo die Bronzehand die gelbe Taxisonne heranwinkt. »Wer wird Millionär? gilt vielen schlechthin als...« Billy sucht sich einen Sessel aus, Do setzt sich in die Nä-
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he. »Jetzt geht’s zur Sache«, ruft Lannigan und klatscht in die Hände. 08:16 Schwestern kommen herein, oder nicht eigentlich Schwestern, sondern Medikationsassistentinnen, die inoffiziell als Mästerinnen bezeichnet werden. Ihre Tablettwagen sind mit vielen kleinen Flaggen bestückt – wie eine Drogenregatta, denkt Billy, jedes Boot muß seinen eigenen Kurs durch die Bojen steuern. 08:27 Die Masterin, die vor Billy steht, ist eine Schönheit des Mittelwestens, so anziehend wie ein vertrautes Fastfoodrestaurant im Ausland, sie ist blond, stramm, hat große Hasenzähne, ihr Augenaufschlag ist wie das o in Wow! Sie fährt mit dem Handscanner über den Barcode an Billys Handgelenk. Der Computer macht Pieps. »Wie eine Ware«, sagt Billy. »Hä?« »Nichts.« Der Tablettwagen ist mit kleinen Bechern gefüllt. Sie stehen in Behältern aufgereiht, die Reihen sind mit Strichcodes versehen, die Strichcodes sind nach Rängen gegliedert, und jeder Rang ist mit einem Buchstaben gekennzeichnet: A, B, C, D. Die Anordnung der Becher erinnert Billy an eine Art Glücksspiel, er mächte am liebsten in die Hände spucken und einen Versuch wagen. Einige Becher fehlen, ihr Inhalt wurde bereits geschluckt. Die Mästerin konsultiert ihr Clipboard, scannt weitere Strichcodes, dann überreicht sie Billy einen Becher aus Reihe D.
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Er enthält zwei graue Pillen. »Möchten Sie Wasser?« fragt sie. »Nein, danke.« Billy schüttelt den Becher, die Pillen hüpfen hoch. Schon als Kind war er in Pillen vernarrt und hat M&Ms eingeworfen, als wären sie lebensrettende Heilmittel, oft verfiel er in Krämpfe, um sich ein paar Milligramm kandierte Medizin zu erkämpfen, Tic-Tacs waren auch prima, weil sie so schön klapperten und der Spender so gut in der Hand lag. Er verstand Tabletten auch immer als Symbole der Komplexität, als Hinweis auf weitergehende Erfordernisse. Billy beneidete die Kinder, deren Eltern wohlgefüllte Medizinschränke hatten, Mrs. Silverman mit ihren Kopfschmerzen, Mr. Doljack mit seinen schlimmen Knien. Billy starrte immer Tommy Schuller an, der in der ganzen Nachbarschaft als »Ritalin-Boy« bekannt war, und fragte sich, warum der so ein Glück hatte, womit der diese Extrawurst verdient hatte. Billy stellt den Becher aufs Tablett zurück. Die Masterin klickt eine Stiftlampe an. »Ich muß in Ihren Mund schauen, um sicherzustellen, daß Sie die Medikamente nicht unter der Zunge behalten. Okay, Zunge hoch, links, rechts, einmal rum – und fertig.« Dieser Mangel an Vertrauen gefällt Billy. »In etwa zehn Minuten ist Blutabnahme. Ich hole Sie dann ab.« »Okay.« Sie geht weiter zum nächsten. 08:35 Armer Do. Er würgt, trinkt einen Becher Wasser nach dem anderen, zerrt an seinem Adamsapfel, als hätte er einen Kehlkopfverschluß und bräuchte dringend den Heim-
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lich-Griff. Offenbar liegen ihm die Pillen quer. Er hat sie einzeln geschluckt, nachdem er sie beäugt hat, als wären sie harte, scharfkantige Brillanten, dann hektisch und mit viel Wasser nachgespült. Er ist rot angelaufen, sein Mund hat gezuckt, und nach fünf Minuten zuckt er noch immer. »Ich glaube, sie sind mir im Hals steckengeblieben«, sagt er. »Irgendwie seitlich klebengeblieben.« »Sie werden sich schon nach unten durcharbeiten«, beruhigt ihn Billy. »Ich spüre sie aber. Genau da.« Er drückt den Daumen in den Windsorknoten aus weichem Gewebe, über der Stelle, wo die Schlüsselbeine aufs Brustbein treffen, und er drückt stärker, als es gut wäre. Er könnte sich selbst als Geisel nehmen. »Genau hier. Ich spüre sie jedesmal, wenn ich schlucke.« 08:48 Der Blutraum hat acht nach Farben unterschiedene Behandlungsstühle. Phlebologen stehen bereit wie Barbiere alter Schule. Blaue, Rote, Gelbe, Orange und Grüne kommen herein, setzen sich, werden gescannt und angezapft. Zwei Teelöffelvoll Blut von jedem. Das Ganze dauert etwa eine Minute vom Hallo bis... »Joy, stimmt’s?« »Ja.« Sie blickt auf seine Identitätskarte. »Mr. Schine.« »Sie können »Billy zu mir sagen.« »Ich bleibe lieber bei »Mr. Schine‹.« »Okay.« »Den Arm bitte.« »Sie können es wohl nicht erwarten, diese wundervollen Venen zu erblicken?« »…«
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»Arbeiten Sie schon immer im Blutbereich?« fragt Billy, um in dieser intimen Situation das Gespräch zu suchen, vielleicht sogar eine gute Freundin zu finden. Er will der coole Normale sein, der aufgeräumte Normale, der sich für ihr Wohlergehen interessiert, als wäre Joy die Kellnerin und er der Gast, der sich gegen die seelenlose Geschäftsbeziehung sträubt. »...«, kommt von Joy. »Sie sind wohl eher ein Morgenmuffel?« »Bitte eine Faust machen.« »Geh ich Ihnen auf die Nerven?« »Mein Sohn hat mich die ganze Nacht nicht schlafen lassen.« »Ich konnte auch nicht schlafen.« »Okay, fertig. Der nächste.« »Bis bald dann. Danke.« Kein Wort des Abschieds. 09:23 Alle werden entlassen, Farbe nach Farbe, ohne sich zu vermischen. 09:26 bis 12:16 Man kann machen, was man will. Im Zimmer, im Aufenthaltsraum, im Flur, am Fernsprecher. Die wirkliche Zeit bemißt sich nach Pillen und Blut. Ansonsten kann man machen, was man will. Lannigan arbeitet einen komplizierten Verteilerplan für die Fernbedienung aus. Auf einem Zettel reiht er die Tage aneinander, dann unterteilt er sie in Fernsehperioden: Vormittag, Nachmittag, Abend. Sie ziehen Nummern, er
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trägt sie in die Liste ein. »Das ist total fair«, sagt er. »Wer am Dienstag die Prime Time hat, kriegt am Mittwoch den Vormittag und am Donnerstag den Nachmittag und am Freitag wieder die Prime Time.« Er legt den Zettel auf die Kommode. »Wer eine bestimmte Sendung unbedingt sehen will, kann mit einem anderen tauschen. Okay?« Lannigan ist der einzige, den das interessiert, also stimmt er sich selbst zu und sagt, daß Do den Anfang macht. »Es gibt ein Problem«, sagt Billy. »Welches Problem?« Billy nimmt die Fernbedienung auf, die neben seinem Bett an der Wand angepflockt ist. »Sie reicht nur bis zum mittleren Bett. Meinem Bett.« »Oh, Scheiße. Stimmt. Dann wechseln wir eben die Betten. Dehnen die Rotation auf die Betten aus.« »Sorry, aber ich wechsle nicht das Bett.« »Dann muß sich der, der dran ist, an dein Bett stellen? Das ist nicht fair.« »Ich wechsle aber nicht das Bett.« »Was machen wir dann?« »Was, wenn ich umschalte? Ihr sagt mir Bescheid, und ich schalte um.« »Dann bist du unser Mittelmann? Unser Daumen?« »Sieht so aus.« »Okay. Also Do, du bist dran.« Do, der bis jetzt im Bett gehockt und sein Comicheft gelesen hat, sachte wippend, die Knie hochgezogen bis ans Kinn, halb Crashposition, halb Kanonenkugel, blickt zum Fernseher auf, wo das Samstagsvormittagsbildungsprogramm in kindgerechten Worten das Wesen des Weltraums erläutert. »Was wollt ihr denn sehen?« fragt Do. »Du bist dran«, erklärt ihm Lannigan.
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»Ihr könnt umschalten«, sagt Do ergeben und forscht in ihren Gesichtern nach stummer Zustimmung. Nach einem Schnelldurchlauf stoppt er Billy bei einem Comicsender. 12:34 Zu Mittag gibt es Hamburger, Pommes und Limonade. Zu den atypischen Psychopharmaka gehört anscheinend eine Kinderdiät -als würde Mutti in der Kantine kochen und die ganze Allevatrox-Aktion in der Vorschulzeit stattfinden. Billy hat gehofft, Gretchen anlocken zu können, weil die Plätze neben ihm leer sind, aber nein, sie ißt mit Peter Swain. Statt dessen setzen sich Ossap und Dullick zu ihm. Ossap begrüßt den Tisch mit »Scheißer!« und Dullick läßt seinen Teller aus halber Höhe auf den Tisch knallen. »Na, Jungs, wie läuft’s?« fragt Lannigan. Dullick übernimmt die Antwort. »Erste Sahne«, näselt er tuntig. »Habt ihr Scheißer schon Hallus?« fragt Ossap. »Bis jetzt nicht.« Dullick wendet sich an Billy. »Gib mal Salz rüber.« »Genau«, sagt Ossap. »Und mir das Scheißketchup.« »Seid ihr beide befreundet?« fragt Do. »Warum willst du das wissen?« »Nur so.« »Wir... wir sind Bekannte.« »Partner.« »Verwandt.« Sie prosten sich mit der Limonade zu und machen sich über ihre Hamburger her. Ossap: »Einfach Klasse.« Dullick: »Hmmm, Fleisch!« Ossap: »O ja! Fleisch!
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Dullick: »Fleisch-Fleisch-Fleisch!« Ossap: »Und noch mehr Fleisch!« Dullick: »Ich glaube, das Fleisch braucht noch Würze.« Er zielt mit seiner Kanüle auf das Brötchen und macht ein Ketchupflaschengeräusch. »Schon viel besser.« Das ermuntert Ossap, den Finger in sein Brötchen zu bohren und etwas Hackfleisch auf seinen Arm zu schmieren, dorthin, wo die Kanüle sitzt. Eine Entzündung, ein Wundbrand. »Aaaah!« Er leckt die Sauerei ab. Beide kichern. Der eine in hohen Tönen (Ossap), der andere in tiefen (Dullick), es klingt wie ein Kontrapunkt, hi-hi-hi-ho-ho-ho, gespielt und doch irgendwie echt – wie Clowns, die Gelächter markieren, bis sie wirklich vor Lachen umfallen. 13:11 bis 16:13 Wieder Fernsehen. Diesmal befehligt Lannigan Billys Daumen. »Weiter.« »Weiter.« »Weiter.« Zufällig läuft eine Hamlet-Verfilmung, und Billy nimmt an, daß Lannigan sie sehen will, aber Lannigan bellt nur: »Bloß weiter!« Billy zögert. »Wir können auf Voltimands Auftritt warten.« »Nein, weiter.« »Zum Studium der Rolle.« »Mach einfach weiter, okay?« »Sehen wir wenigstens, wer den Voltimand spielt.« »Sie haben den Part rausgeschnitten, okay?« Lannigan steht auf und nimmt Billy die Fernbedienung weg. »Wir
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haben Regeln ausgemacht.« Er steht neben Billys Bett und ist nun seinerseits angepflockt. »Ich hab das Sagen, und wenn ich ›Weiter!‹ sage, dann heißt das ›Weiter!‹« Lannigan wechselt den Sender. Am liebsten hat er Sendungen, in denen es von Teenagern nur so wimmelt. 18:34 Brathähnchen mit grünen Bohnen und Kartoffelbrei, zum Nachtisch Karamelpudding. Wichtiger ist, daß Billy nach einem gelungenen Endspurt den Platz neben Gretchen ergattert hat. Das Gespräch dreht sich hauptsächlich ums Abendessen zu so früher Stunde, um die ausgewogenen Mahlzeiten und die Rückkehr zu einer geregelten Ernährung. »Ich komme mir vor wie im Waisenhaus«, sagt Billy. »Als säßen wir hier fest, weil uns niemand adoptiert hat.« Der Mann auf dem Platz gegenüber verdreht die Augen. Er sieht nicht schlecht aus, wenn auch ein bißchen angeknackst, besonders um das ovale Kinn und die vorstehende Stirn, als wären sie ihm mal zerschlagen worden und nicht richtig zusammengewachsen. Was immer ihm in seiner Vergangenheit widerfahren ist, es verleiht ihm eine gewichtige Aura, die er als Exotik verkauft. Der Name auf seiner Karte lautet Luke Sillansky. »Was glaubst du, Luke?« fragt Gretchen. »Ich warte nicht darauf, adoptiert zu werden, soviel ist sicher.« »Willst du keine neue Mammi?« »Hängt von der Mammi ab.« »Nein«, sagt sie. »Du siehst eher aus, als würdest du auf Fagin machen. Fagin von Calvin Klein.« »Was für ein Duft!« sagt Billy und hebt die Augenbrauen.
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»Ich mache auf gar nichts«, antwortet Luke. »Ich bin echt bis auf die Knochen.« »Sie meinte Oliver Twist«, wirft Billy ein, in der Hoffnung, Gretchen zu beeindrucken und Luke zu beschämen. Aber niemand scheint es zu hören. »Aber ich habe einiges durchgemacht. Soviel ist sicher.« Billy formt die Hände zum Trichter. »Nachschlag, bitte«, sagt er. Wieder hört ihm keiner zu, nicht mal Gretchen, die Luke Sillansky anstiert, als wären ihre Augen härter als eine Windschutzscheibe oder ein Bleirohr oder was immer dieses Gesicht zerschmettert hat. Zum Glück kann sich Billy gerade noch verkneifen, »Food, Glorious Food« zu singen. 18:59 Wieder eine Dosis. 19:17 Wieder Blutentnahme (Joy). 19:54 Wieder Fernsehen. 22:32 Die Nachtschwester kommt herein und zieht den Vorhang wie ein Segel in den Roßbreiten. »Sie müssen über Nacht im Zimmer bleiben«, sagt sie. »Kein Herumlaufen.« Mit ihrem elektronischen Fieberthermometer geht sie von Bett zu Bett und steckt jedem den Sensor ins Ohr, den sie jedesmal auswechselt. Billy erregt dieser Beinahe-Eingriff, als würde ihm das Thermometer sanft »Wie geht’s dir?«
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zuflüstern, und als würde die Antwort tief aus dem Inneren seines Kopfes kommen. 23:37 Das Licht geht aus, und die Dunkelheit erstrahlt mit der Pracht eines schwarzen Feuerwerks. Billy hofft, diese Nacht schlafen zu können, ein weiteres Rendezvous mit dem Waschbecken zu vermeiden. Eine Taschenlampe wäre praktisch. Er könnte unter der Bettdecke Zitate lesen und seinen Verstand ein wenig mit fremden Weisheiten mästen. Eine Stimme. »Sagt mal, spürt ihr schon was?« Es ist Do. »Noch nicht«, sagt Billy. »Was denn spüren?« fragt Lannigan. »Ich weiß nicht. Irgendwas.« »So was wie ein Jucken, und du kannst nicht kratzen, als wär’s tief unter der Haut, auf deinen Knochen, ein Knochenjucken, das in alle Richtungen ausstrahlt, dir in den Haaren und allen Poren kribbelt, bis du denkst, du mußt dir das Fleisch aufreißen, um an das Jucken ranzukommen, weil es dich zum Wahnsinn treibt und deine Fingernägel nicht so tief reichen, ohne daß es blutet, und du denkst, es sind Maden unter deiner Haut, wie bei dem Kind mit dem gebrochenen Bein und dem Gips, unter dem es immer juckte, bis sie den Gips wegnahmen, und es wimmelte darunter von Maden. Etwas in der Art?« 23:48 bis 23:51 Lannigan zieht im Bett eine Show ab. Er tut, als würde er sterben. 23:58 Lannigan stirbt schon wieder.
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13 AM SONNTAG, nach der morgendlichen Dosis und Blutabnahme, gibt es einen freiwilligen ökumenischen Gottesdienst im Medikationsraum, den Billy schwänzt, um noch ein Nickerchen zu machen und danach ein bißchen durch den dritten Stock zu bummeln. Schon lenkt die Routine seine Schritte auf einem vorgezeichneten Pfad. Schon wird das Erleben von Vorwissen überlagert. Jeder weiß, was als nächstes kommt: das Mittagessen. Im Vorbeigehen sieht Billy Gestalten auf den Betten, deren Augen auf den Ereignishorizont des Fernsehens starren. Sie könnten auch auf Flößen treiben, umlauert von atypischen Psychopharmahaien, die nur darauf warten, daß sie eine Hand oder einen Fuß zu fassen kriegen. An der Flurwand zwischen den Türen hängen gerahmte Poster, die weder Museumsschätze noch weltberühmte Sehenswürdigkeiten zeigen, nein, sie sind vom HAM ausgedacht und stolz zur Schau gestellt wie Familienfotos, nur daß die fraglichen Familien statt ihrer Hochzeiten ihre Krankheiten feiern. Die Abgebildeten sind ganz normale Alltagsmenschen, ihre Gesichter bewegen sich im Bereich mittlerer Schönheit, ihre Merkmale sind von einem physiognomischen Ro-settastein abgepaust. Kopieren und Einfügen, so kann man jedes Gesicht zu-
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sammenbasteln. Billy schaut sie sich an, Mr. und Mrs. Cunningham mit der erektilen Dysfunktion und der vaginalen Trockenheit, Richie und Joanie mit der Konzentrationsstörung und der Sozialangst, Fonzie mit dem OesophagusReflux. Aber abgesehen von diesen speziellen Beschwerden sind sie alle glücklich. Ein Sonnenbrand? Aber nein, es ist doch Winter! Eine Hautreizung? Aber Sie werden doch selten so rot! Eine Allergie? Aber normalerweise haben Sie nur Verstopfung! Ist es Akne? Aber Sie sind doch sechsundvierzig Jahre alt! Oder ist es eine Rosazea, eine lästige Hauterscheinung, die 13 Millionen Amerikanerinnen befällt? Reden Sie noch heute mit Ihrem Hautarzt! Er empfiehlt Ihnen eine wirksame Lokaltherapie. Das ist die Sorte Reklame, die man von U-Bahnhöfen und Bushaltestellen kennt, wo die sprichwörtliche Langeweile regiert, wo man liest, ohne lesen zu wollen, wo man der Idiot ist, der alles entziffern, alle Buchstaben zu Wörtern zusammenbasteln muß. Man müßte den Verstand abschalten können, denkt Billy, sich an die Schläfen fassen und wieder Analphabet sein wie in den Zeiten, als Plakate noch so geheimnisvoll waren wie Tapeten von John Donne. Was soll das bedeuten? Aber sie ist unheilbar, diese Lesekrankheit, und sie fängt an mit Cornflakesschachteln und den wertvollen Eigenschaften der Milch. All diese Informationen springen dich fortwährend an, und du bist die eingekreiste Beute. Die Botschaften, egal welche, nageln dich fest. Männer, die am Verzweifeln sind, weil sie nachts zu oft hinausmüssen, können jetzt beruhigt schlafen. Die ständigen Ausflüge ins Badezimmer sind ein für allemal passé. Die Angst vor peinlichen Vorfällen wird gegenstandslos. Ihre kostbare
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Nachtruhe wird nicht mehr gestört. Lassen Sie sich von der Prostatahyperplasie, einer gutartigen Vergrößerung der Prostata, nicht länger den Schlaf rauben. Die Krankheitserscheinungen sind im Schummerlicht der Todesnähe fotografiert, in der magischen Stunde, wenn die Erreger ausschwärmen, wenn Altersflecken leuchten wie Honigtau, wenn du nicht mehr so jung bist, wie du glaubst, und älter, als du merkst. Dieser Schmerz, dieses Pochen, dieses seltsame Gefühl, das sagt dir etwas. Vergeßlich? Reizbar? Oje! Billy saugt die Bilder auf, als wären sie Gemälde alter Meister mit morbiden Neigungen. Natürlich handelt es sich bei den Kranken nur um Schauspieler, die Gebrechen vortäuschen, die vierte Garnitur aus den Niederungen der Annoncenwerbung. »Billy?« Billy dreht sich um und sieht Gretchen in der Tür zu ihrem Zimmer stehen. »Wohin des Wegs?« fragt sie. »Ich bewundere nur die Kunstwerke.« »Erhebend, was?« »Ja.« Mehr fällt ihm beim Anblick ihres pfirsichfarbenen Seidenkimonos nicht ein. Eine Brille von verschrobenem Chic umrahmt ihre Augen wie eine Kollaboration widerstreitender Instinkte. »Ich wußte nicht, daß du eine Brille trägst«, sagt er. »Tja.« »Das heißt, eigentlich weiß ich gar nichts über dich.« »Nun, eine Brille kann die erste Überraschung sein.« Billy lächelt, aber dieses Verb wird der Erregung seiner Lippen kaum gerecht, dem Beginn dessen, was jetzt folgen könnte, was in ihm schon nach oben drängt. »Mir gefällt das hier«, sagt Gretchen beherzt. Sie geht zu
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einer jungen Frau, die lachend mit ihren Freundinnen zusammensteht. Ein Verhütungsmittel, das nachweislich Ihre Haut verbessert! Ein Wunschtraum? Zu schön, um wahr zu sein? Aber es stimmt! Es gibt ein Medikament, das Akne vermindert und ungewollte Schwangerschaften verhütet. Beinahe neun von zehn Frauen stellten eine deutliche Verbesserung ihres Teints fest, wahrend sie bei korrekter Einnahme mit 99prozentiger Sicherheit vor einer Empfängnis geschützt waren. Jetzt gibt es das perfekte Mittel für Frauen, die verhüten wollen, keine bekannten Unverträglichkeiten gegen Verhütungsmittel aufweisen und sich gegen die lokale Aknebehandlung resistent zeigen. Jetzt sind Sie innerlich und äußerlich entlastet. Freuen Sie sich Ihres Lebens und Ihrer reinen Haut. Denn es gibt noch Wunder! »Du weißt sicher, wie diese Frau in Medienkreisen heißt«, sagt Billy über die reinhäutige, eisprungbefreite Frau. »Sie ist eine Merry Andrews. Sie alle heißen Merry Andrews und bevölkern die Piggy-Spots, was der branchenübliche Ausdruck für die »Schmerz-ist-gesund«-Werbespots ist. Nett, nicht wahr? Die falschen Ärzte in den Laborkitteln sind »Grinders«, das Zeug, für das sie werben, heißt »Kickapoo«, und Werbung, die für den Mittelwesten bestimmt ist, heißt P&G – wie Procter & Gamble. Ganz schön raffiniert, was? Das Land der Puritaner und Spekulanten.« »Danke, Professor«, sagt Gretchen. »Ich hatte öfter Zeitjobs in der Werbebranche.« »Du Glücklicher.« Zusammen, und wenn auch nicht Hand in Hand, so doch im Geiste untergehakt, besichtigen Billy und Gretchen die Schurkengalerie der Heilsversprechen. Die Medikamente gibt es in verschiedenster Gestalt (Cremes,
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Sprays, Lotions, Inhalate, Zäpfchen, Tinkturen, Pflaster), aber die bei weitem häufigste Darreichungsform ist die orale (Tabletten, Kapseln, Dragees, in zehnfacher Vergrößerung dargestellt wie Juwelen, die einer Elizabeth Taylor würdig wären). Aus Formen und Farben setzt sich eine verdauliche Geometrie zusammen: blaue Prismen, orangene Zylinder, rosa Quader, grüne Brillanten, sie könnten aus einem Zuckerbäckerlabor stammen. Billy und Gretchen mühen sich mit der Aussprache der Generika ab: Tretinoin, Omeprazol, Sumatriptanhydrogensuccinat, Azithromyzin, Trimethoprim, Doxazosinmesilat, Loratadin, Raloxifen, Pravastatin-Natrium, Finasterid, NorgestimatEthinylestradiol. Fremdartig wie die Namen von Einwanderern, die gerade ihren Schiffen entstiegen sind. Aber wie Filmstars – »wie Norma Jean Mortenson«, sagt Gretchen, »wie Roy Scherer und Issur Danielovitch«, sagt Billy – bekommen die Medikamente Markennamen verpaßt, kribbelnd erotische wie Marilyn Monroe, kraftstrotzende wie Rock Hudson und Kirk Douglas. Da gibt es Suprax und Tigan, Orudis und Calan, Ultram und Hyzaar, Procardia und Orap, Rufen und Sansert, Videx und Ziac, Tonocard und Pen-Vee, Cozaar und Imdur, Voltaren und Lasax. Billy hört pharmazeutische Anleihen bei der Bibel, der Thora, dem Koran, den Veden, dem Pali-Canon, dem I Ging heraus. Eine Apotheke der religiösen Toleranz. Und überall das HAM-Logo: die auf- oder untergehende Sonne über dem verheißenen Land der Wahl. »Hargrove Anderson Medical«, intoniert Billy. »Forschung von morgen fürs Heute« ergänzt Gretchen. Billy dreht sich zu ihr um, dem blassen Pillensechseck ihres Gesichts, das sich in der linken unteren Ecke seines eigenen Krankheitsposters abzeichnet. Sie ist in einem tük-
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kischen Alter, denkt er, einem Alter, in dem Schauspielerinnen zu ihrem Leidwesen auf die Rolle der treuen Ehefrau und Mutter verwiesen werden. In Gretchens Mundwinkeln hat sich die Trauer eingenistet. »Wie fühlst du dich?« fragt sie. Beinahe hätte Billy die Frage falsch aufgefaßt. »Ganz gut, eigentlich.« »Irgendwelche Nebenwirkungen oder Ähnliches?« »Nein, noch nicht.« »Bei mir auch nicht.« »Eigentlich fühlte ich mich ganz gut«, sagt er und schwelgt im innigen Einklang mit Gretchen. Vom Ende des Flurs kommt ein Mann, erst in Gestalt einer Stimme – »Gretchen!« –, dann leibhaftig als mickrige Figur, die ihre Unansehnlichkeit zur intellektuellen Zauseligkeit kultiviert hat. »Es fängt an«, sagt er und kommt hastig näher. »Ach, wirklich? Schon?« »Absolut.« Der Mann bleibt vor ihnen stehen. Seine Finger trom-meln einen permanenten Viervierteltakt auf den Daumen. »Billy«, sagt Gretchen. »Kennst du Stan Shackler?« »Nein.« »Hey«, sagt Stan. Seine Hand ist viel zu beschäftigt für einen Händedruck. »Stan ist promoviert«, sagt Gretchen zu Billy. »Noch nicht«, sagt Stan. »Aber bald. Wir sollten jetzt wirklich gehen.« »Frag ihn nur nicht nach seiner Dissertation«, sagt Gretchen. »So faszinierend?« fragt Billy. Stan Shackler schraubt sich hoch, als wäre ihm der Kra-
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gen zu eng. »Sie ist tatsächlich faszinierend und findet in gewissen Kreisen bereits Beachtung. Ich will einfach nicht darüber reden, weil sie mich so sehr beschäftigt, daß ich keine Zeit habe, mit Leuten zu reden, die keine Ahnung haben, wovon ich rede. Ich wäre sowieso der einzige, der dem Gespräch folgen könnte. »Wie lange hast du daran gearbeitet?« fragt Billy. Stan Shackler stöhnt förmlich auf. »Ich möchte wirklich nicht darüber reden.« »Tut mir leid.« »Aber ich müßte bald fertig werden. Ich muß sogar sehr bald fertig werden, wenn ich meine Karriere nicht für immer verfluchen will. Aber ich will wirklich nicht darüber reden. Ist nicht böse gemeint.« »Ich hab’s auch nicht so aufgefaßt«, sagt Billy. Der Mann ist ja wie eine Katze mit einem Glöckchen um den Hals, die ihre potentielle Beute verschreckt, denkt er sich, daher die vielen Hüpfer, das ständige Lauern, die unverhohlenen Angriffe. »Sie ist sicher großartig«, sagt Gretchen. »Das ist sie nicht, sie ist Scheiße, okay? Jetzt müssen wir los, weil es gleich anfängt.« »Was fängt denn gleich an?« fragt Billy. Stan windet sich. »Können wir bitte gehen?« »Fitzcarraldo«, sagt Gretchen. »Das ist ein Film von Werner Herzog«, wird Billy von Stan aufgeklärt. »Ich weiß«, sagt Billy. »Der Film selbst oder The Making of?« Er hat beide nicht gesehen, weiß aber, worum es geht. »Nicht Die Last der Träume«, gab Stan zurück. »Fitzcarraldo!« »Der einzige Herzog, den ich gesehen habe, war Auch
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Zwerge haben klein angefangen«, sagt Gretchen. »Sehr erstaunlich, daß du diesen Film gesehen hast«, versichert ihr Stan beeindruckt. »Er hat auch Nosferatu gemacht. Stimmt’s?« fragt Billy. Stan nickt mißbilligend. »Sein kommerziellster Film. Ich für meinen Teil ziehe Murnau vor.« Stan simuliert ein Aufstoßen, als wären Magenbeschwerden seine ganz persönliche Marotte. »Nichts über Kinematographie, falls du das glaubst.« »Falls ich was glaube?« fragt Billy. »Meine Dissertation.« »Oh.« »Und ganz bestimmt nichts über Ökonomie. Komm, Gretchen, Kinski wartet.« »Wir sehen ihn in unserem Zimmer«, sagt sie zu Billy. »Meine Zimmerkollegen interessieren sich nur für Tom und Jerry«, erklärt Stan. »Komm doch mit«, sagt Gretchen. Billy schüttelt den Kopf. »Schon gut.« Und da gehen sie. Stan vorweg, Gretchen hinterher. Stan blickt sich nach ihr um wie nach einem Notizzettel, der ihm aus der Tasche gerutscht sein könnte. Billy sieht sie in Gretchens Zimmer verschwinden. Billy allein im Flur, der selbststilisierte Außenseiter, umgeben von Bildern der Angst und Erleichterung, von dem Mann, der seinen schmerzenden Ellbogen statt des Golfschlägers umklammert, von der Frau auf dem Berggipfel, die befreit aufatmet – Willkommen an Bord.
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14 BILLY BEGIBT SICH in den Aufenthaltsraum, wo sich die geselligeren Normalen versammeln. Sie sitzen auf Sesseln und Sofas, die auf unverwüstliche Weise bequem wirken, wie für leicht verhaltensgestörte Personen konstruiert. Ein Gemisch aus Bauhaus, Landhaus, Missionshaus und Irrenhaus. Und wie in allen Räumen stellt auch hier der Fernseher das verbindende Element dar, obwohl dieser mit einem Videogerät und einer Sammlung von Videos, zumeist Actionfilmen, ausgestattet ist. Ein paar Leute spielen Karten oder Domino. Geboten wird auf Kredit. Billys Ankunft nimmt kaum jemand zur Kenntnis. Niemand redet über potentielle Nebenwirkungen, noch nicht, aber die kleinsten Veränderungen im körperlichen Befinden werden registriert (Stirnen berührt, Hautpartien gekratzt, Gelenke zum Knacken gebracht), doch dies nur wie am Rande und unkommentiert, wie Fußnoten in Zeichensprache. Das große Thema ist das Geld. Und die Aussicht auf Geld. »Ich kaufe mir ein Auto. Keinen Superschlitten. Aber eins mit guten, soliden Reifen, vielleicht einen Pickup«, sagt Stewart Slocum, der mit dem linken Fuß wippt – ein Tick, den er sich wahrscheinlich in der Pubertät zugezogen
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hat. Stewart (er will, daß man ihn Stew nennt) ist mit einem Stoffwechsel gesegnet, der auf seine ganze Umgebung abstrahlt. Seine Kalorien verbrennt er auf der Zunge. »So, wie er genau richtig für mich ist, au ja, eine tolle Kiste.« Er durchsetzt sein Gerede mit Nonsensausrufen – Bibah! oder Juppiduh! –, als hätte das Marinekorps eine extra Clownkompanie. »Was für eine Karre kriegst du denn für zwei Riesen?« fragt Yul Gertner. »Eine anständige.« »Dann nehm ich lieber den Bus und behalte das Geld«, sagt Yul. Sein Kopf ist kahl wie der seines berühmten Namensvetters, aber er ähnelt nicht dem König von Siam, sondern eher einem für immer vergeblich erhobenen Tramperdaumen. Rodney Letts kommt hereinmarschiert und geht schnurstracks auf Billy zu. »Ich habe eine halbe Stunde lang geduscht«, verkündet er, als wäre das eine Sensation. Ist sein Haar naß, hat es eine frappierende Länge, ist sein Gesicht geschrubbt, hat es die Rosafärbung von neugeborenen Nagern. »Du hast deine Nase vergessen«, sagt Yul. »Das geht nicht ab.« »Oh.« »Du weißt doch, wie das ist, wenn man ein Auto kauft«, klärt ihn Craig Buckner auf, ein Mann Mitte dreißig, der die Karten zu oft mischt, einmal, zweimal, dreimal, dann abhebt und wieder mischt und mehr Spaß am Mischen hat als am Austeilen und Spielen, wobei jedes ffflllppp und jedes chihihijip seine Mitspieler in ungeduldige Zuckungen versetzt. »Sobald du das Geld auf den Tisch legst, ist es nur noch halb so viel wert, wenn nicht ein Viertel. Kaufst du ein
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neues Auto, hast du ein gebrauchtes Auto. Kaufst du ein gebrauchtes Auto, hast du einen Scheiß.« Luke Sillansky stöhnt. »Nun gib endlich.« »Und wer hat euch einen Straight Flush hingeblättert?« »Das war reiner Zufall.« »Naja. Ich arbeite eben gründlich.« »Ich hätte lieber ein Blatt in der Hand«, sagt Luke Sillansky, sein nichtssagendes Gesicht wirkt plötzlich interessant. Als hätte jemand eine Radkappe mit dem Hammer bearbeitet. »Ich hab mir von drei Wochen Dylazphil Bendotrin ein Auto gekauft«, erzählt Herb Kolch. »Dytrin hieß das Zeug. Hat mir drei Riesen gebracht. Ich hab einen Jetta genommen.« »Jettas sind Scheiße«, sagt Yul. »War ein guter Wagen.« »Meinetwegen.« »Ich denke an einen Honda Civic«, sagt Stew. Yul schüttelt den Kopf. »Civics sind auch Scheiße. Da hau ich meine drei Riesen lieber auf den Kopf.« Freddie Melendez, der die Videos durchsieht, schlägt The Thing vor. Jeder hat den Film hundertmal gesehen, Freddie sucht enttäuscht weiter. Rodney Letts beäugt Herb mit dem Respekt eines Konkurrenten: »Du hast Dytrin getestet?« »Klar.« »In Austin?« »Klar.« »Ich hab davon gehört.« »Und ich bin dabeigewesen, Kumpel«, verkündet Herb mit einer guten Portion Prahlerei. Er ist nicht mehr jung,
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hat langes, angegrautes Haar und eine Uralttätowierung in verwaschenem Blau, die aussieht wie das häßliche Andenken an eine Matrosenprügelei. »Was ist Dytrin?« fragt Billy. »Ein Spasmolytikum«, sagt Herb. »Ich glaube, es wurde nie zugelassen, oder sie arbeiten noch dran, aber das ist sieben Jahre her, und in den Fachblättern steht nichts darüber, ob F&E fortgesetzt werden.« Er beugt sich vor und wärmt sich schon die Hände am Lagerfeuer, das er mit seiner Story entfacht. »Am Anfang passierte nur das Übliche: Müdigkeit, Verstopfung, Mundtrockenheit, Gereiztheit, nichts Besonderes also.« Die Nebenwirkungen, die er aufzählt, werfen die flakkernde Silhouette eines Grizzlybären an die Wand. Stew leckt sich die Lippen. Yul gähnt. Craig teilt endlich die Karten aus und fragt: »Was spielen wir gleich wieder?« »Gin-Rommé«, sagt Luke. »Wie ging das gleich wieder?« »Wie Gin-Rommé. Was denkst du denn? »Ist das wie Mau-Mau?« »Das hat nichts mit Mau-Mau zu tun. Willst du mir etwa erzählen, du weißt nicht, wie Gin-Rommé geht?« »Ähem.« »Du bist der beste Mischer, den ich je gesehen habe, und kannst nur Quartett?« »Aber«, redet Herb unbeirrt weiter, »nach drei Tagen fängt einer an zu niesen. Wir sitzen rum, genauso wie hier, quatschen einen Scheiß, und dieser Typ fängt an zu niesen. Nichts Besonderes, klar. Der Typ niest viermal, auch das ist nichts Besonderes, aber bevor auch nur einer Gesundheit, Zum Wohl oder was immer sagen kann, kriegt der einen Anfall. Der krümmt
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sich und stöhnt an die zehn Sekunden, zieht eine Wahnsinnsgrimasse. Wir sehen das und denken, okay, jetzt hat’s uns erwischt, an dem Niesen werden wir alle krepieren, jetzt explodiert unser verdammtes Gehirn. Wir halten uns alle die Nase zu und suchen nach der Schwester, trauen uns nicht mal zu sprechen, und dieser Typ, der Typ, der geniest hat, sackt in seinem Stuhl zusammen, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Genau wie bei einem Kopfschuß. Der Typ regt sich nicht mehr, liegt einfach da, zusammengekrümmt, wir starren ihn an und wissen nicht, was wir machen sollen, weil keiner was machen will, was dieses tödliche Niesen auslöst. Dann fängt der Kerl, dieser Sauhund, plötzlich zu strahlen an. Er ist lebendig und strahlt voller Glück, aber so, als wäre ihm was peinlich. Alles in Ordnung? fragen wir. Was zum Teufel ist passiert? Er steht auf und faßt sich an den Hosenstall und sagt, ihm ist ein Malheur passiert und er muß in sein Zimmer. Wir fragen natürlich gleich, was passiert ist, und er sagt nur, ich muß die Hosen wechseln. Wir denken natürlich, er hat sich eingepißt oder eingeschissen – das ist alles drin bei einem Spasmolytikum –, und das war auch unsere größte Angst, die Inkontinenz, weil da keine Würde drin ist, egal was sie zahlen, also fragen wir, welche Öffnung, und er sagt: Nicht, was ihr denkt, mir ist einer abgegangen.« »Nein!« »Mach kein’ Quatsch!« »Klar doch!« »Ich lüge nicht«, sagt Herb und streicht sein langes Haar zurück, als hätte er nichts darunter zu verbergen. »Ihm ist einer abgegangen. Und wir haben sofort nach dem Pfefferstreuer gesucht, haben uns an den Nasenhaaren gezupft, ins Licht gestarrt und was es noch so an Tricks gibt, um
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sich zum Niesen zu bringen. Und bald saßen wir alle da und haben uns einen geniest. Vierzig Prozent hatten diese Nebenwirkung. Die Ärzte nannten es spontane sternutatorische Ejakulation. SSE. Leider gehörte ich zum falschen Prozentanteil. Bei mir kam nur Rotz.« »Das sollten die mal auf den Markt bringen«, sagt Stew. Freddie hält das Alien-Video hoch. Abgelehnt. »Aber wir haben auch drei Wochen lang Blut geschissen«, berichtet Herb weiter. »Oh.« »Ein paar wurden blind auf einem Auge. Vorübergehend.« »Abspritzen und drei Riesen kassieren! Eigentlich hättet ihr dafür blechen müssen«, sagt Yul. »Wir wurden sogar hochgestuft, wegen Minderer Unerwarteter Komplikationen. Zweihundert Mäuse.« »Solche MUKs möchte ich mal haben.« Herb widerspricht. »Ich meine, die ersten Tagen waren einfach stark. Die Leute sagten, so tolle Orgasmen hätten sie noch nie gehabt, das wären die multiplen Orgasmen, von denen man immer nur hört, aber am Ende der Studie hatten sie Wäscheklammern auf der Nase. Nach einer Weile wurde es richtig lästig. Wenn sie niesen mußten, haben sie das Taschentuch vor den Schwanz gehalten. Als hätte der den Schnupfen. Sie haben durch die Unterwäsche durchgespritzt. Taten mir richtig leid. Haben geniest und sind in die Knie gegangen.« »Trotzdem«, sagt Stew. Philip Crouse, bis dahin still, fängt leise an zu sprechen: »Ich habe mal zehn Riesen für einen MUK gekriegt, aber es war ein maximaler und kein minimaler.« Er sitzt auf dem Sofa, sein Kopf ist zurückgeklappt, als hätte er kein Rück-
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grat. Die Worte steigen wie Luftblasen aus seinem Mund, schweben eine Weile und fallen ihm auf die fest zusammengekniffenen Augen. Allein diese Anstrengung fesselt Billys Aufmerksamkeit. Philip Crouse ist ein Stotterer, der nicht stottert. »Niemand kriegt zehn Riesen für eine MUK«, wendet Rodney ein. Herb Kolch bestätigt es. »Den Scheck hab ich noch«, sagt Philip Crouse. »Jetzt hast du dich widerlegt. Einen Scheck von zehntausend bringt man ganz schnell zur Bank!« »Der ist mein Talisman.« »Mir doch egal, Mann!« Rodney schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, aber niemand kriegt so viel für eine MUK.« »Ich hab den Beweis.« »Dann zeig her.« »Okay.« Aber Philip Crouse regt sich nicht, statt dessen spricht er weiter, und jeder ist gefesselt von seinen bruchstückhaften Sätzen, vom langsamen Durchsickern seiner Story, von den Flashbacks seiner Erinnerung. Billy denkt an den Alten Matrosen von Coleridge, der in seiner Jugend eine Seemöwe mit dem Luftgewehr erlegt. »Diese MUK würde ich keinem von euch wünschen. Zehn Riesen, das war noch wenig. Die gleiche Versuchsanordnung: Tabletten und Blutproben, das gleiche Stufe-1-Ding, nur daß das an einer Uni – Universitätsklinik lief, die gewaltige Regierungszuschüsse kriegte, um bestimmte Sachen zu testen, die die Universität dann an Pharma – Pharmafirmen für bestimmte Summen verkaufte und so weiter – und ja, dafür Studenten rekrutierte, aber mit Stipendiengeldern bezahlte, kostengünstig, das heißt, die einen spielten Football, und
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die anderen spielten Versuchskarnickel.« »Das kann nicht legal sein«, sagt Billy. »Footballspieler wurden übler zugerichtet. Normalerweise dauerte die Studie ein Semester. Schlafmittel, Beruhigungsmittel, manchmal auch härtere Sachen wie diese ACE-Hemmer gegen hohen Blutdruck. Ich weiß nicht mehr, wie die hießen. Flumox... nein, so nicht. Flumoxid, Flumo... xidin, Flumox... celsior.« Crouse würgt, als wollte er Spucke in Seife verwandeln. »Bald schon, vielleicht am zweiten Tag, wache ich auf, und mir ist so schwindlig, daß sich das Bett, das ganze Zimmer dreht, ich kann weder aufstehen noch sonstwas, nur kotzen und kotzen vor lauter Übelkeit und Schwindel, irgendwelchen Gleichgewichtsstörungen im Innenohr, vermute ich. Ich schreie, weil es so schlimm ist, alles dreht sich, ich schreie und kotze und will nichts weiter, als daß es aufhört. Hätte ich eine Pistole gehabt, hätte ich auf der Stelle Schluß gemacht, obwohl ich bestimmt danebengeschossen und ein paar Ärzte erwischt hätte. Sie nahmen mich sofort aus der Studie, haben sofort das Mittel abgesetzt, aber dieses Zeug hatte wohl die Halbwertszeit von Plutonium, weil, es hatte was mit meinem... meinem Kopf gemacht, denn nach zwei Tagen war mir immer noch schwindlig, und ich habe weiter gekotzt, und die hatten keine Erklärung. Langsam drehte ich durch und bettelte um Beruhigungsmittel oder Morphium, aber die hatten Angst vor gefährlichen Nebenwirkungen – was für ein Witz! –, also gaben sie mir gar nichts und sagten, ich müsse da durch. Drei Tage, vier Tage, und der Schwindel blieb, Augen zu, und alles drehte sich, Zimmer dunkel, und alles drehte sich. Am fünften Tag kommt der Hausmeister mit Stehleiter, Pinsel und Farbeimer herein. Und malt über meinem Bett einen großen schwarzen Punkt an die Decke.
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Das wird helfen, sagt er, und ich bedanke mich herzlich. Wozu braucht man Morphium, wenn man so was hat, sage ich, und er sagt, ich soll immer auf den Punkt starren, was auch kommen mag, immer auf den Punkt, das ist mein Fixpunkt, mein Haltepunkt. Ich bin sauer, weil ich Medikamente will, nicht irgendeine Kleckserei. Ich hätte den Kerl erwürgt, wäre mir nicht so schwindlig gewesen, aber scheiß drauf, ich starre also auf den Punkt, und es hilft wirklich, es ist das einzige, was hilft. Wenn ich nur eine Sekunde wegsehe, gerate ich ins Schleudern, wenn ich die Augen zumache, hänge ich im Strudel.« Crouse unterbricht sich und sperrt den Mund auf, als wäre eine riesige Vogelmama mit Wurm im Anflug. »Ich kann mich nicht erinnern, geschlafen zu haben. Sicher habe ich das, aber es war wie die Fortsetzung des schwarzen Punkts. Fünf Wochen lang hatte ich diesen Staring-Contest mit der Zimmerdekke.« »Jetzt wird’s langsam haarig«, sagt Yul. »Da finde ich die Niesgeschichte besser«, sagt Stew. Mit großer Anstrengung hebt Philip Crouse den Kopf von der Sofalehne. Jetzt scheinen die Worte an seinem Hemd herunterzukleckern. »Versucht mal, fünf Wochen lang auf ein Ding zu starren, als würde euer Seelenheil davon abhängen. In der zweiten Woche dachte ich, er wäre ein paar Zentimeter gekrochen wie eine dicke haarige Spinne, und manchmal dachte ich allen Ernstes, die Spinne würde direkt über mir baumeln, in meiner Reichweite – oder in ihrer Reichweite.« »Ich kann solche Storys jetzt nicht gebrauchen«, sagt Luke. »Ist Herz Trumpf?« fragt Craig Buckner. »Trumpf gibt es nicht. Wir spielen Gin-Rommé.«
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Crouse spricht weiter. »Ich wartete, daß das Ding runterkam und mir den Garaus machte.« »Hör schon auf, Mann«, ruft Yul. »Und deine Eltern, deine Freunde?« fragt Stew. »Ich habe angerufen, sie sollen mich nicht besuchen, weil der schwarze Punkt sicher nicht scharf auf ihre Gesellschaft ist. Dann habe ich mich wundgelegen, und der Hausmeister kam wieder mit dem Pinsel und malte überall im Zimmer schwarze Punkte an, damit ich mich bewegen, zu einem Stuhl tappen und trotzdem weiterstarren konnte. Er malte Punkte ins Bad, in die Dusche, und ich sprang von Punkt zu Punkt, als wäre das ein Fangspiel und die Punkte wären das Aus.« Freddie hält wieder The Thing hoch, aber niemand beißt an. »Sogar auf die Fensterscheiben malte er Punkte, damit ich ein bißchen Licht bekam, und ich kriegte ihn fast so weit, einen Punkt auf den Baum vorm Fenster zu malen. Dann bat ich ihn, mir mit dem Marker einen Punkt auf die Stirn zu malen, damit ich mich im Spiegel ansehen konnte. Nicht erfreulich, wie sich herausstellte.« »Vielleicht, weil du einen Punkt auf der Stirn hattest«, witzelt Yul. »Hier riecht’s gewaltig nach Verarsche«, sagt Herb. Philip läßt das Kinn sacken. »Du mußt mir ja nicht glauben, aber es ist wahr. Die dritte Woche, die vierte Woche kam ich mir vor wie ein Gnu, das vom Löwen gerissen wurde und schon weggetreten ist, sich in sein Schicksal ergeben hat. Genauso war mir zumute. Ich war total hinüber, ich atmete kaum noch, mein Gehirn war abgeschaltet, wie hypnotisiert, und ich wartete ganz ruhig aufs Ende. Dann, in der fünften Woche, mitten in der Nacht und ohne er-
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kennbaren Grund, wurde der Punkt wieder zu ganz normaler schwarzer Farbe.« »Jetzt reicht’s«, brüllt Herb. »Und am nächsten Tag war ich wieder auf den Beinen.« »Dafür, daß es so schlimm war, klingt deine Geschichte viel zu schön«, wirft ihm Herb vor. »Nach fünf Wochen konnte ich’s mir nur noch schönreden. Ich weiß noch, wie ich bei der Entlassung durch den Flur lief und die Zimmer mit den Bettlägerigen sah, das müssen vier oder fünf gewesen sein, und die haben alle auf ihren Punkt gestarrt. Ich wußte, daß sich alles um sie drehte. Ich hab sie verstanden. Und fast beneidet.« »Und sie haben dir zehntausend für die MUK gezahlt?« fragt Rodney. Philip Crouse nickt. »Dafür kriegt man schon ‘ne anständige Karre«, sagt Yul. »Aber er hat den Scheck nie eingelöst«, sagt Stew. »Das klingt mir jetzt wirklich zu schön«, bemängelt Herb. »Von zehn Riesen könnte ich ein Jahr leben«, sagt Rodney. »Oder zwei.« »Ich würde nach Thailand und leben wie ein Fürst«, träumt Freddie, mit dem Terminator in der Hand, dem ersten Terminator, der mehrheitlich abgenickt und eingeschoben wird. Das Bild wechselt von Blau auf Schwarz, und die FBI-Warnung vor illegalem Kopieren erscheint. »Den Scheck löse ich nicht ein«, sagt Crouse. »Ich weiß nicht, ob er irgendwann verfällt, ob sie nach ein paar Jahren das Konto bereinigen und sich fragen, warum da zehntausend Dollar auf meinen Namen liegen und wann Scheck Nummer 19585 eingelöst wird. Sicher merken sie, ob da zehntausend Dollar abgeholt wurden oder nicht. Vielleicht
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sind das Peanuts für sie, keine Ahnung. Aber ich löse ihn nicht ein.« »Das ist einfach nur blöd«, sagt Herb. »Wahrscheinlich hast du recht. Zehntausend Dollar sind eine Menge Geld.« »Kannst du laut sagen.« »Nur« – Philip Crouse läßt sich erschöpft zurücksinken – , »es macht mich fertig, daß es so viel Geld ist, besonders wenn man so lebt wie ich. Aber ich brauch es so, wie es ist. Unangerührt.« In dem Moment kommt Lannigan gerannt, schreiend, die Hand vorm Gesicht. »Meine Augen! Meine Augen!« Panik auf allen Gesichtern, reglos und sprachlos lugt sie aus halboffenen Mündern wie Kinder aus nächtlichen Betten bei Lärm und Licht unter der Türritze. Nur in der Einbildung stürzt Billy davon; tatsächlich bleibt er stehen, fassungslos, nicht so sehr wegen Lannigan, sondern wegen der Kluft zwischen Seele und Körper. »Sie ... sie brennen!« brüllt Lannigan. Seine Finger bohren sich tief in die Augenhöhlen und fördern Klumpen von Augensubstanz zutage. Unter gräßlichem Stöhnen zermalmt er sein Augenlicht, Weißes zerbröselt in seinen Fingern. Ein gelber Brocken landet auf dem Teppichboden. Lannigan, in gequälter Pose, senkt die Hände, senkt ganz langsam die Hände und enthüllt – o Gott, das wird schrecklich! – die Trümmer eines hartgekochten Frühstückseis. »Angeschmiert«, sagt er. »Verdammtes Arschloch!« schreit Yul Gertner. Lannigan leckt seine Hand ab. »Ihr hättet euch sehen sollen.« Luke Sillansky bewirft ihn mit seinen Karten. »Du Blödmann!« »Nicht schlecht, die Nummer, was?« sagt Lannigan.
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Im Aufenthaltsraum herrscht Stille. »Habt ihr etwa wirklich gedacht, ich puhle mir die Augen aus dem Kopf?« Aber die Aufmerksamkeit hat sich dem Fernseher zugewandt. Ein Cyborg aus der Zukunft landet im Jahr 1984, wie man an den Frisuren, Klamotten, Autos erkennt. Noch nackt von der Zeitreise, macht er sich über einen ahnungslosen Hell’s Angel her und befreit ihn von seinem pulsenden Herzen. »War ich gut?« fragt Lannigan schon wieder. Jubel auf dem Bildschirm. Lannigan wendet sich an Billy. »War ich gut?« Er will es unbedingt wissen.
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15 AM ABEND STEHT Billy vor dem Fernsprecher und gibt sich geschlagen. Ohne das Telefon hat ein gewisser Friede geherrscht. Kein unterschwelliger Tinnitus (klingelt etwa das Telefon?), keine intimen elektrischen Impulse in seinen Ohren, kein Lärmpotential in Bakelit. Die Erwartung, daß einer von zwölf möglichen Anrufern anrufen könnte, hat sich gelegt, das Schuldgefühl wegen seiner Kontaktscheu ist beiseite geschoben. Es gibt keine Nachrichten zu hinterlassen, keine Anrufe zu erwidern. Keinen Telefonkult. Der Slogan Reach out and touch someone war ihm immer vorgekommen wie eine religiöse Bekehrungsmasche, wie ein Kreuzzug gegen die heidnische Kommunikationslosigkeit, aus der man für nur zehn Cent pro Minute errettet werden kann. Friends and family. I just called to say I love you. Da steht er nun vor dem Münzfernsprecher und fragt sich, ob er anrufen soll, fragt sich, ob die Droge morgen Besitz von ihm ergreift, ihn in einen zweiten Philip Crouse verwandelt. Das hier könnte die letzte Gelegenheit sein. Und er muß mit ihr reden, mit Sally. Er muß sich erklären, muß sich entschuldigen. Aber nicht aus Gründen der Schuld oder der Scham. Nein, die Gründe sind viel narzißtischer, soviel ist klar. Es ist die Vorstellung, daß es einen Menschen auf
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der Welt geben könnte, der ihn haßt. Billy hält das nicht aus. Seine Misanthropie war immer einseitig. Zu blöd, daß er ein R-Gespräch anmelden muß. Sally übernimmt die Kosten, aber nicht, ohne »typisch« in den Hörer zu murmeln. »Ich rufe vom Münzfernsprecher an und habe nicht genug Kleingeld«, erklärt Billy. Schweigen am anderen Ende. »Sally«, sagt er. »Es tut mir leid. Ehrlich. Es tut mir leid. Sally?« Der Klang seiner Stimme irritiert ihn kurz. »Ich entschuldige mich.« Er versucht, Worte zu einem Satz zu reihen – »Ich weiß, es war beschissen von mir, so plötzlich und ohne Vorwarnung abzuhauen« –, aber sie klingen so beredt wie sein Abschiedsbrief. Schweigen. »Aber ich mußte gehen.« Noch immer nichts. »Einfach für eine Weile verschwinden.« »Dein Freund Ragnar war da«, sagt Sally schließlich. »Wirklich? Ragnar war da? Du hast ihn gesehen?« »Ja«, antwortet sie. »Als ich vorgestern abend nach Hause kam, war ein Kater an die Tür genagelt. Ein toter Kater. Das arme Biest hatte ein Halsband mit Namensschild. Er hieß Billy und gehörte Ragnar und war an die Tür genagelt, damit alle Nachbarn ihn sehen. Zum Glück dachten die, das wäre irgendein verrückter chinesischer Brauch.« »Ein toter Kater?« »Und gestern abend wartete jemand in meiner Wohnung. Er saß hier im Dunklen, und eine Sekunde lang dachte ich, du wärst das, wärst mit eingezogenem Schwanz zurückgekommen, aber nein, er war’s. Er fragte mich, wo du bist, ich sagte, keine Ahnung, und er, das ist sehr
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schlecht, und wenn du nicht auftauchst, bin ich eben dran. Dann hat er mich geschubst, Billy. Und zwar ziemlich grob.« Sally ist den Tränen nahe, ihre Stimme kippt. »Ich schwöre dir, ich habe blaue Flecken. Und weißt du, ich hab schon genug um die Ohren, auch ohne dich und deine Probleme.« »Wie sah er aus?« »Er hat mich geschubst, und du fragst, wie er aussah? Er sah einfach traumhaft aus. Wie findest du das, Billy? Weißt du was, Billy? Du bist ein echtes Arschloch. Denk mal eine Sekunde an was anderes, denk mal an mich und was du mir angetan hast, einfach soabzuhauen, mich hier sitzen zu lassen, und ich muß den ganzen Kram alleine einpacken, als hätte ich alle Zeit der Welt. Ich weiß nicht mal, warum ich überhaupt mit dir rede.« »Du hast recht. Es tut mir leid.« »Hör auf zu sagen, es tut dir leid. Das ist keine Zauberformel.« Billy klammert sich an den Hörer, als könnte der Fußboden jeden Moment unter ihm einbrechen. »Sally, du bist in großer Gefahr. Vielleicht sollte ich...« »In großer Gefahr? Oh, Billy. Das mit Ragnar war doch Spaß. Das mit dem Arschloch, dazu stehe ich, aber das mit Ragnar war Spaß. Keiner ist hiergewesen. Ich dachte, das wäre offensichtlich, nachdem ich dir den Quatsch mit dem gekreuzigten Kater erzählt habe, aber vielleicht auch nicht, vielleicht bist du so leichtgläubig. Niemand war da. Keine Anrufe. Nichts.« »Keine Anrufe?« »Jetzt klingst du enttäuscht.« »Dann wissen sie vielleicht, wo ich bin.« »Und wo zum Teufel bist du?«
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»Das kann ich dir nicht sagen.« Sally stöhnt. »Nun werd mal locker und hör mir zu. Hör mir einfach zu, denn auf diesem Gebiet weiß ich Bescheid. Ich habe recherchiert. Ragnar & Sons ist ein professionelles Unternehmen. Total seriös. Die hocken nicht in einem dunklen Winkel, und die werden dir nichts tun. Vielleicht würden sie es gern, und das kann ich weiß Gott verstehen, aber sie werden dir nichts tun. Sie wollen nur ihr Geld. Es ist schlecht fürs Geschäft, wenn sie dir was tun. Und sie kommen nicht an ihr Geld, wenn sie dir was tun. Das sind keine Ganoven, die um ihre Ehre fürchten, wenn sich einer vor der Zahlung drückt. Schlimmstenfalls gehen sie vor Gericht und versuchen, einen Teil deines Lohns zu pfänden.« »Aber du hast doch ihre Briefe gesehen. Wie nennst du das?« »Kreative Einschüchterung. Du bist wahrscheinlich an einen übereifrigen Kundenbetreuer geraten, der seinen Chef beeindrucken will. Das ist alles. Wenn er dir Geld abknöpfen kann, steht er gut da.« »Das kaufe ich dir nicht ab. Ich hab mit dem Kerl telefoniert.« »Ich wette, das ist so ein junger Schnösel, der zu viele Filme gesehen hat.« Wenn sich Sally ärgert, hört man, daß sie aus Brooklyn kommt. »Tu uns allen den Gefallen und komm aus’m Knick. Selbst wenn der Kerl King Kong persönlich ist, kannst du dich nicht einfach verpissen und mich in der Scheiße sitzenlassen.« »Du hast ja recht.« »Ich weiß, unsere Beziehung war lose, und in einer Woche wäre sowieso Sense gewesen, weil ich nach Cambridge gehe, aber ...«
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»Kannst du nicht einfach Harvard sagen? Warum kann denn keiner Harvard sagen?« »Schön, Harvard. Aber denk mal an meine Lage, ganz technisch betrachtet. Nichts Persönliches, nur geschäftlich, okay? Weißt du, was ich gemacht habe nach deinem plötzlichen Abgang? Sehen wir mal. Eingepackt. Allein. Lagerraum gesucht. Mit unserem netten Vermieter über die Kaution gestritten. Die Leichen entsorgt, die wir Möbel genannt haben. Gott weiß, wie die Couch hier jemals reingekommen ist. Konten gekündigt und Rechnungen bezahlt. Alles allein und während ich den ganzen Tag arbeiten mußte – und mit der lästigen, aber nun leider notwendigen Unterstützung meiner Eltern, die so spießig und autoritär sind, daß mein Leiden wahrhaft tibetanische Ausmaße angenommen hat.« »Ich habe versucht, das meiste von meinen Sachen wegzuschaffen«, sagt Billy. »Das war ja nun nicht viel«, schießt Sally zurück. »Wohl wahr.« »Der Punkt ist, daß alles andere von mir war und du deine Freude dran hattest. Du hast drauf geschlafen, du hast drauf gekocht und vielleicht deinen Vorteil draus gezogen, alles ohne Bezahlung. Du hast quasi mein Leben okkupiert, Billy. Aber he, kein Problem. Mir hat es gefallen mit dir zusammen. Wirklich. Aber jetzt ist mir, als hättest du mich benutzt.« »Tut mir leid.« »Hör endlich auf mit ›Tut mir leid‹. Ich wollte dir nur sagen, daß ich noch ein paar Tage deine Hilfe gebraucht hätte.« »Die ganze Ragnar-Geschichte hat sich einfach ...« »Billy ...«
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«... zugespitzt.« »Hör endlich auf mit Ragnar.« Sallys Türsummer ertönt (für Billy immer ein Schreckenslaut). »Moment«, sagt Sally. »Was?« »Es hat geklingelt.« Aus der Tonqualität ihrer Schritte, der kaum hörbaren Sprechanlage und dem Schließgeräusch der Tür kombiniert Billy, daß Sally den Hörer auf dem Couchtisch abgelegt hat Sally liebt ihr Telefon viel zu sehr, um sich ein schnurloses anzuschaffen; sie braucht den Halt der Nabelschnur und wickelt sich gern die elastischen Spiralen um den Finger, wenn sie wie eine plappernde Diseuse in der Wohnung umherstolziert. Billy stellt sich vor, daß sein Kopf auf dem Couchtisch liegt, noch so ein überflüssiges Ding neben dem Illustriertenstapel und den drei Fernbedienungen. Er hört einen Schrei. »Sally?« fragt er und lauscht. Etwas wie ein Teller zerkracht. »Sally.« Billy hört sie flehen: »Bitte tun Sie mir nichts!« Eine tiefe Stimme: »Wo ist Schine?« »Wer?« »Komm mir nicht dumm!« Es klatscht, und Sally fängt an zu weinen – ein untypisches Geräusch aus ihrem Mund, fremdartig und vertraut zugleich, wie ein Popsong, der auf einem historischen Instrument gespielt wird. Billy wird ganz übel davon. »Noch mal: Wo steckt er?« »Ich weiß es nicht. Ich schwöre!« »Sally!« Billy schreit fast. Sie müssen nahe am Couch-
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tisch stehen, und Billy stellt sich vor, ganz kurz nur, daß sich das Telefon von hinten an Ragnar ranschleicht und ihn stranguliert. »Ich weiß, daß du’s weißt!« »Ich weiß es nicht.« »Du lügst!« »Nein.« »Sally?« Billy fragt sich, ob er auflegen und die 911 wählen soll. Kann er einen Notruf für Manhattan durchgeben? Wird die örtliche Notrufzentrale den Notruf als Ferngespräch weiterleiten? Soll er seinen Vorposten auf dem Couchtisch verlassen, um vielleicht einen Notruf durchzukriegen? Er kann sich nicht entscheiden. Aber seine Unschlüssigkeit spiegelt sich hübsch in der Nickeloberfläche des Fernsprechers – ein lustiger Zerrspiegeleffekt, wie um ihn zu verhöhnen. »Dann mußt du eben zahlen.« »Aber ich weiß nicht, wo er ist.« Liegt Sally auf dem Rücken, ein Messer an der Kehle oder eine Pistole an der Schläfe? Billy erwartet Stöhnen, Mißhandlung, zerreißenden Stoff, doch was er hört, kommt ihm wie Kichern vor. Kitzelt er sie? Der Mann muß verrückt sein. Billy flüstert: »Sag’s ihm, Sally.« »Ich hab wirklich keine Ahnung.« Die Stimme macht Pst! »Ich ...« »Pst!« »Bitte!« »Ist ja gut. Reg dich ab, okay? Reg dich einfach ab.« Die Stimme könnte jetzt ihr Haar streicheln und ihr mit dem Daumen die Tränen abwischen. Nichts ist unheimlicher als
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die Zärtlichkeiten eines Psychopathen. »Er ist weg. Ich schwöre.« Wieder das Kichern. Was macht dieser Wahnsinnige mit ihr? »Dann werd ich wohl eine Nachricht hinterlassen müssen.« »Wag es bloß nicht!« warnt ihn die tapfere, beherzte Sally. »Sonst?« »Geh mir von der Pelle!« kreischt Sally. Und jetzt fängt Billy an zu schreien. »Ich bin hier! Ich bin hier!« Kann denn der Hörer nicht auf und ab hüpfen, wild fuchtelnd, und todesmutig von ihr ablenken? »He, Ragnar! Ragnar!« Schwester Clifford/George steckt den Kopf in den Flur. »Alles in Ordnung?« »Ja.« Billy hält die Sprechmuschel zu. »Tut mir leid.« »Vielleicht könnten Sie Ihre Lautstärke etwas mäßigen.« »Meine Großeltern«, erläutert Billy. »Fast taub. Leider Gottes.« Die kleinen Gebrechen Angehöriger also. Sie zieht sich zurück. Billy macht weiter mit »Ragnar!« »Gottverdammich«, sagt Sally genervt und erstaunlich unerschrocken. »Wo ist er?« »Okay, genug. Im Ernst.« »Ich bin hier! Ich bin hier!« Billy zerrt an der metallgepanzerten Schnur. »Ragnar!« »Gib ihm das für mich.« »Wag es bloß nicht!« Billy hört ein Schlürfen.
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»Du Dreckskerl!« heult Sally. »Ich dachte, das gefällt dir.« »Ragnar! Das Telefon! Ich bin am Telefon!« Überall in den Türen zeigen sich Normale, die wissen wollen, was da los ist, es könnte ja schon eine Nebenwirkung sein, daß Billy umherspringt und mit der Faust gegen die Wand haut. Sie sehen aus wie Kinder, die durch das Treppengeländer zuschauen, wie sich ihre Eltern streiten. »Gottverdammichnochmal!« brüllt Billy. Schwester Clifford/George kommt erneut, diesmal ist sie unerbittlich. »Sprechen Sie leise, oder Sie bekommen Telefonverbot. Und mäßigen Sie Ihren Ausdruck!« »Tut mir leid.« »Hier ist kein Billardsalon.« »Tut mir leid.« »Oder ein Umkleideraum.« »Tut mir leid.« »Oder ein Footballspiel.« »Ich hab verstanden, okay, Ms.... Schwester... Ma’am.« »Dann verhalten Sie sich ruhig.« »Okay.« Billy kehrt in seine Lauscherposition zurück. »Sally? Ragnar?« Mehr und mehr Normale kommen aus den Zimmern: Stew Slocum, Yul Gertner, Craig Buckner, Gretchen mit aufgefächerten Spielkarten in der rechten Hand, auch Luke Sillansky mit aufgefächerten Spielkarten in der rechten Hand, er schleimt sich von hinten an sie heran und schüttelt den Kopf, als wäre er aufs Gröblichste beim Whist gestört worden. »Sag ihm doch, daß ich am Apparat bin«, fleht Billy laut, eher auf Gedankenübertragung als auf das Telefon hoffend. Hilflosigkeit kriecht ihm in den Bauch, lähmt seine Einge-
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weide. Frust brennt ihm in den Augen. Dann hört er »Schine?« in der Leitung. Billy erstarrt. »Bist du das, Schine?« »Ja«, flüstert Billy, leiser als erwartet. »Ich bin’s. Billy Schine. Hören Sie, ich stelle mich. Ich liefere mich aus, vollständig und total. In vier Stunden kann ich in New York sein, noch heute nacht, und Sie können mir die Beine brechen, gleich morgen früh. Sie können mit mir machen, was Sie wollen. Aber bitte tun Sie ihr nichts. Bitte. Tun Sie ihr nichts. Wenn doch, oder wenn Sie’s schon getan haben, mache ich Sie kalt. Das verspreche ich.« Die Worte klingen unwirklich, wie aus dem Drehbuch, aber die Rührung schnürt ihm die Kehle zu. Billy lockert den Griff um den Hörer. Statt zu fallen, scheint er jetzt zu schweben. »Du wagst es, mich herauszufordern?« ruft Ragnar wie ein Profiringer, und läßt ein irres Lachen folgen – na ja, eher ein albernes. »Ähm...« Billy hört eine andere Stimme aus dem Off. Es ist Sally, die sagt: »Gib endlich den Hörer her, du Idiot.« Vor seinem Abgang sagt Ragnar noch: »Ich glaube, du bist der absolute Obertrottel.« Billy wird ganz schlaff, als er merkt, daß er veralbert wurde. Dann hat er Sally am Ohr. »He!« »Dein Bruder?« »Er hatte mich im Schwitzkasten.« Tommy Hu brüllt: »Schine, du bist ein Blödian!« Tommy, achtzehn, ohne Zweifel mit gelverstärktem Bed-Head, mit Bay-City-Rol-Im-T-Shirt, mit absurd weiten BellBottoms. Und abgebrüht bis auf die Knochen. Tommy, der
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jüngste Hu, der einzige auf amerikanischem Boden geborene Hu, mußte sich nie assimilieren, also hat er sich dissoziiert. »Okay, ihr habt mich gelinkt«, sagt Billy. »Ich glaube, du brauchst ernstlich Hilfe«, erklärt ihm Sally. »Warum? Weil ich dir geglaubt habe? Weil ich dachte, dir passiert wirklich was, und ich mir Sorgen gemacht habe? Und da denkst du, ich brauche die Hilfe?« »Du hast eine Ragnar-Macke.« »Ich dachte, er würde dir was tun.« »Dir kann man ja alles als Ragnar verkaufen. Ich sollte dir diese Leute auf den Hals hetzen, das täte dir nur gut.« »Ich hab wirklich Angst um dich gehabt.« »Armer Kleiner!« sagt Sally. »Ich würde dich so gern trösten, aber ich bin gerade beim Ausräumen, deshalb ist mein Arschloch von Bruder da.« »Du meinst, Ragnar der Große!« brüllt Tommy. »Halt die Klappe«, sagt Sally, dann sanfter zu Billy: »Du weißt, daß du eine gute Beziehung ruiniert hast. Wir waren Freunde, doch du hast mich abserviert wie eine Geliebte, und plötzlich fühle ich mich verhöhnt. Ich glaube nicht, daß ich dich jemals wiedersehen will, und das ist traurig. Das Letzte, was ich mir von unserer Beziehung erhofft habe. Ich hatte das Gegenteil erwartet. Weißt du, was ich erwartet hatte? Daß wir hier zusammen ausziehen und zusammen weitermachen. Wirklich. Aber du hast es anders gewollt. Weißt du, was meine letzte Erinnerung an dich ist? Das, was du an dem letzten Morgen gemacht hast und wie ich dir dabei geholfen habe, und im nachhinein kann ich nur sagen, es war perfekt.« »Tut mir leid.«
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»Du solltest meinen Bruder sehen. Er kann nichts einpacken, was nicht viereckig ist.« »Tut mir leid.« »Und meine Haut verträgt keine Pappe.« »Tut mir leid.« »Weißt du, Billy, es gibt einen Punkt, wo das »Tut mir leid‹ keine Entschuldigung mehr ist, sondern ruck, zuck in Verachtung übergeht. Ich lege jetzt auf.« Und damit – klick. Billy steht da und lauscht weiter, wie an einer geschlossenen Tür. Der Adrenalinspiegel fällt und macht einer schläfrigen Taubheit Platz und etwas anderem, was weit weniger romantisch ist. Billy hängt den Hörer an. Das Telefon, eine dumme Erfindung, eine elende Erfindung, denkt er, unter Schmerzen geboren, wenn er sich recht erinnert, mit Säure, die auf den Schenkel von Alexander Graham Bell tropfte, als er an seinem Drahtgeklumpe herumbastelte und nach seinem Freund rief, der an einem ähnlichen Drahtgeklumpe herumbastelte. Mr. Watson, come here, I want you! Watson dürfte gestaunt haben. In dem Apparat steckte ein Mann. Watson beugte sich wahrscheinlich vor und wartete auf weitere Musik, während sein Mentor ein Stockwerk tiefer einsam vor sich hin schmorte. Mr. Watson, come here, I want you! Sind das nicht wunderbare erste Worte? Das Telefon klingelt. Billy zuckt zusammen, dann – »Hallo« – antwortet er. Stille. »Hallo?« Diese Stille kommt ihm vertraut vor. »Sally?« Die Leitung ist wieder tot. Auf dem Rückweg ins Zimmer stellt sich Billy vor, daß
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Sally auf dem Sofa sitzt und mit dem Finger auf die LCDAnzeige ihres Telefons tippt. »He, Schine.« Billy schaut auf und sieht Ossap und Dullick. »Fertig mit dem Brüllerchen?« fragt Dullick. »Sieht so aus.« Ossap verzieht den Mund. Seine Lippen scheinen schwer an etwas zu tragen – »Gut« –, sein linkes Auge zuckt – »weil« – und sein Kopf ruckt, als müßte er die Wörter irgendwo losreißen – »wir telefonieren müssen« – wie ein Vogel einen widerspenstigen Wurm. »Genau«, bestätigt Dullick, der sabbernd seine Münzen zählt.
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16 AM MONTAG ERREICHEN die Nebenwirkungen des Allevatrox ihren häßlichen Höhepunkt. Obwohl Billy nichts spürt, noch nicht, sieht er es bei den anderen wie zum Beispiel Ossap, der Grimassen zieht, als wollte er kleine Kinder erschrecken, sich beim Essen, Laufen, Reden gebärdet wie ein Buhmann, bis Dullick – »Ossap!« – ihm klarmacht, daß er langsam freakig wird und den Hals reckt wie eine perverse Schildkröte, worauf sich Ossap entschuldigt und ein paar Minuten zusammenreißt, bis das Vergessen und mit ihm ein neuer Anfall einsetzt. Ossap ist nicht allein. Andere Normale kauen ihre Zunge, verdrehen die Augen, verzerren die Münder, als würden sie in Zeitlupe schreien. Das Sabbern hat ebenfalls zugeschlagen. Die Betroffenen tragen Plastikbecher als Spucknäpfe mit sich herum und benutzen sie minütlich – eine Spuckeuhr-, weil ihnen übel wird, wenn sie die Überproduktion ihrer Speicheldrüsen schlucken. Eine Unterhaltung mit diesen Leuten ist schwierig. Akinetiker und Akathisiker finden sich gleichmäßig über die Gruppe verteilt. Die Akinetiker sind Zombies, lahm und steif, nicht weit von Friedhof und Vollmond entfernt. Die Akathisiker scheinen mit Kolobris zu spielen. Finger zappeln an den Händen, Hände zappeln an den Armen, Arme
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zappeln an den Körpern – eine Tanztruppe unter der unsichtbaren Regie eines goldbetreßten Tanzmeisters. Die Akinetiker und die Akathisiker, denkt Billy, sind wie die Jets und Sharks. Und am Nachmittag kommt es zur Prügelei. Roger Coop, Akinetiker, gegen Anton Krojac, Akathisiker. Roger Coop verbringt einen großen Teil des Tages in Telefonnähe, weil er auf einen Anruf wartet, der nie kommt. Er ist fast immer als erster dran – »Ja!« –, kommt aus dem Zimmer gestapft wie ein General – »Ich geh ran, ich geh ran!« –, und wenn der Anruf wie immer einem anderen gilt, brüllt er den Namen – »Anton Krojac, Telefon!« –, als wäre er das Opfer eines Komplotts geworden. »Anton Krojac, Telefon!«, brüllt er wieder. »Anton Krojac, du hast einen Anruf!« brüllt er noch lauter. Jetzt marschiert er im Stechschritt von Zimmer zu Zimmer. »Weißt du, wer und wo Anton Krojac ist?« fragt er Lannigan, Billy und Do. Nee. Endlich wird Krojac schlafend im Bett gefunden – »Bist du taub? Telefon!« –, worauf er – »Reg dich ab, Kumpel!« –, zappelnd wie ein elektrischer Shimmytänzer vom schwerfällig stapfenden Roger, der schon den Grundstein zu einem kurzen Wortwechsel legt, zum Fernsprecher eskortiert wird – »Kumpel, ich rede so lange, wie ich will« – und Roger unwirsch reagiert – »Nenn mich nicht Kumpel, du Kroate« –, was Antons Arme in rudernde Bewegung versetzt – »Ich bin ein Serbe aus Massapequa, du Idiot« – und er mit der für Psychopharmaka untypischen Fahrigkeit aus Versehen –
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»ich schwör’s!« – die Wange – »du Sauhund!« – des starren Roger Coop streift. Es folgt Geschubse und eine Serie danebengehender Hiebe. Zuschauer stellen sich ein. Roger und Anton umklammern sich wie Schwergewichtsboxer in der letzten Runde. Roger hängt sich in die nicht vorhandenen Seile, Anton teilt extravagante Schwinger aus, die ihn mehr erschrecken als seinen Gegner. Roger stößt mit dem Kopf zu (Uunpf!), Anton kontert mit dem Kinn (Ärräh!), Roger landet zwischen Antons Beinen (Jupps!), Anton stolpert über Rogers Schulter und rammt den Boden mit dem Musikantenknochen (Kphack!), Roger liegt ausgebreitet da, niedergestreckt, festgenagelt (Hapuuh!), Anton dreht sich um und bohrt aus Versehen sein abrutschendes Knie in Rogers Gemächt (Fuaaa!), Roger zuckt reflexhaft zusammen und tritt mit seiner großen Zehe (Ujuuh!) gegen Antons (Njumpf!) Nase. Bei diesem Stand der Dinge kommt Schwester Clifford/George hinzu, in der Hand, nicht fein, eine Dose Pfefferspray. »Okay, okay, auseinander, Jungs.« Aber die Jungs sind schon erledigt, betasten auf dem Rücken liegend ihre diversen Blessuren und kichern über den lächerlichen Anlaß der Rauferei. Sie sind Männer, die der Kampf zusammengeschweißt hat. Schwester Clifford/George beugt sich vor und mustert die beiden. Ein bißchen Blut, ein paar Schrammen, nichts Ernstes. Sie zückt die Dose und sprüht los, als hätten sie Schaben in den Augen. Roger und Anton werden zu einem Liebespaar in Nöten. Sie wälzen und winden sich, spucken, schnauben, rotzen und fluchen. Wie Liebe am Strand, und morgen ist Abschied für immer. »Keine Prügeleien«, teilt ihnen Schwester Clifford/George mit. »Wenn das wieder passiert, werden Sie bestraft oder
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eventuell ohne Bezahlung entlassen.« Wachmänner tauchen auf – zwei bullige Kerle, die aussehen, als wären sie erst kürzlich ihrer Springballkarriere entwachsen. Sie tragen falsche Vollzugsbeamtenhemden, die eine Nummer zu klein sind, damit ihre Bäuche noch bedrohlicher wirken. Als sie Roger und Anton abführen, scheinen sie sich nach den Clubzeiten zu sehnen, als die Wirte noch soffen und Verhaftungen irgendwie sexy waren. »Ein kleiner Aufruhr«, sagt Schwester Clifford/George zu den verbliebenen Normalen. »Nicht wirklich überraschend.« Sie läßt den Blick über die Menge schweifen. »Wir haben auch Elektroschocker, falls solche Sachen ausarten, also machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Sicherheit. Wir haben genug Strom, um die größten Unruhestifter zur Räson zu bringen.« Niemand ist erleichtert. Do zum Beispiel hat Probleme mit der Blase. Er fragt Billy und Lannigan nach dem Abendessen: »Habt ihr irgendwelche Schwierigkeiten beim Pinkeln?« »Nein«, sagt Billy. »Weil ich immer pinkeln muß, aber es kommt nichts, und das macht mich wahnsinnig.« Do steht an der Badezimmertür, nach seinem dritten vergeblichen Versuch. Er verläßt selten das Zimmer, wenn es keine zwingenden Gründe gibt, und hat nach seinem ersten Anlauf nicht wieder geduscht. Der Geruch, der von ihm ausgeht, ist penetrant und zugleich rein – wie Baby-Erbrochenes. Sein Bartflaum erinnert an Stubenfliegen, die auf seiner Haut gelandet sind, und beim verzweifelten Versuch, sich loszureißen, ihre Beine zurückließen. »Als wären ein paar Tropfen in der Spitze von meinem, äh, Penis hängengeblieben. »Ich saug sie dir aus«, sagt Lannigan gelassen. Do wird rot. Oder blaß. Oder beides zugleich.
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»Das ist sicher harmlos«, versucht Billy ihn zu besänftigen. »Es brennt.« »Frag doch die Schwester.« »Ich frag doch die Schwester nicht nach so was!« Do kehrt in sein Bett zurück und hält sich das Gemächt in Muß-pinkeln-Manier. »Vielleicht hast du eine Infektion«, schlägt Lannigan vor. »Eine HWI? Vielleicht Chlamydien. Syphilis. Tripper. Hast du in letzter Zeit ein Schaf gefickt, kleiner Bauernbub? Oder es ist Schwanzkrebs. Vielleicht hat sich ein fleischfressender Virus da drinnen eingenistet. Oder es könnte Seife sein, aber dafür müßtest du erst duschen, das scheidet also aus. Ich hab schon Geschichten gehört ...« »Hör schon auf«, sagt Billy. »... über die Harnröhre, dir würden glatt die Eier abfallen.« »Wird schon werden«, tröstet Billy, als Do unter die Decke kriecht. »Was immer du da machst, du darfst auf keinen Fall einen Steifen kriegen.« »Der spinnt.« Lannigan wirft Billy einen bedeutungsschweren Blick zu. »Billy, Mann, wir müssen offen zu ihm sein. Wir wissen doch beide, was das ist, und wissen beide, daß es nichts Gutes ist. Daß die Rhesusaffen, die Versuchstiere für dieses Medikament, dasselbe hatten, so ein Brennen, so ein Gefühl, als müßten sie pinkeln, nur daß sie es natürlich nicht artikulieren konnten. Nein, diese armen Viecher haben sich ihre Rhesuspimmel wundgerieben, sie praktisch abgerissen.« »Er lügt«, sagt Billy zu Do.
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»Billy, du tust ihm damit keinen Gefallen.« »Halt die Klappe.« »Oder was? Willst du mir eine hauen?« Lannigan duckt sich. »Was soll das?« fragt Billy in der Hoffnung, daß Lannigan Warum hackst du auf dem armen Kerl rum? versteht. »He, Do«, sagt Lannigan. Do, abwehrend: »Was?« »Ich wollte dir nur sagen, du machst es schon wieder.« »Was?« »Na, das.« »Was denn?« »Vielleicht merkst du’s gar nicht, vielleicht ist es unbewußt.« »Was mach ich denn?« »Eben hast du’s wieder gemacht.« »Was denn?« »Mach dir keine Sorgen, ist nicht schlimm, man merkt es kaum.« »Was mach ich denn nun?« »Ach, vergiß es.« Do schaut Billy an. »Billy?« fragt er zweifelnd, als brauchte er für jedes Blinzeln, jeden Atemzug seine Bestätigung. »Du machst überhaupt nichts. Am besten hörst du gar nicht hin.« Do dreht sich zum Fenster. Die Sonne geht unter. Der Finger auf dem Vorplatz droht den letzten Minuten des Tages, daß die Nacht lang, kalt und sinnlos wird.
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17 BILLY SIEHT Gretchen nie im Aufenthaltsraum. Zu den Mahlzeiten verdrückt sie sich ans Ende der Schlange und sucht sich unter den Grünen die Tischgenossen ihrer Wahl. Ihre Vorlieben haben kein System, keinen Grund, keine Beständigkeit, sie bevorzugt weder Freunde noch Bekannte noch die Koalitionen, die sich langsam herausbilden. Sie ist wie der Stargast auf einem Kreuzfahrtschiff, der seine Gunst gleichmäßig verteilt, manchmal einen Stuhl heranzieht und die Gruppe Platz machen läßt. »Was dagegen?« Niemand hat etwas dagegen. Weil nicht nur Billy sie beobachtet, sondern alle tun es. Alle werden munter wie Schuljungen, wenn sie sich zu ihnen setzt. Ein Mädchen! Das einzige Mädchen. Es gibt andere Mädchen in anderen Farben (drei bei den Blauen mit Riesensonnenbrillen, die immer zusammen auftreten wie ein Gorgonentrio aus Yoko, Jackie und Greta.) Aber Gretchen gehört ihnen allein. Sie ist eine Nebenwirkung für sich. Während der Fütterung und Blutabnahme beäugt sie eine Minute lang die grünen Behandlungsstühle, die neun freien Plätze, die achtzehn Hoffenden, die ihre Nachbarn werden könnten, die fünfundzwanzig Neugierigen, die zu gern wüßten, was in ihr vorgeht. Ihr leuchtendes Gesicht, ihre besondere Art zu
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schauen, der umwerfende Augenaufschlag, mit dem sie hundert erwartungsvolle Blicke auffängt, läßt alle Fragen offen. Zumindest für Billy. Er geht durch den Flur, bremst seine Schritte vor ihrem Zimmer. Hallo. He. Kennst du mich noch? Wie geht’s so? Fühlst du dich gut? Lahme Sprüche, die es nicht mal durch die Tür schaffen, so klingen nur Verlierer. Gretchen liegt im mittleren Bett. Dicke Illustrierte sind über die Decke gebreitet wie Tipis eines modenärrischen Indianerstamms. Wattebäusche zwischen betupften Zehennägeln werden vom Kopfschmerzgeruch des Nagellacks umweht. Ihre Haltung läßt an feuchte Kompressen und abgedunkelte Lampenschirme denken. »Hallöchen«, sagt Billy. Hallöchen? Sie blickt auf, als würde sie nichts anderes erwarten als eine unterhaltsame, weil durchsichtige Anmache. Billy stellt sich mit seinem Namen vor, sicher ist sicher. »Na, hör mal«, sagt sie. »Tut mir leid.« »Also wie geht’s, Billy Schine?« »Gut, glaube ich. Und dir?« »Bis jetzt okay.« Sie setzt sich auf. »Komm doch rein, nimm dir ein Bett.« Billy gehorcht. »Wie fühlst du dich?« fragt er. »Gut«, sagt sie. »Ich meine, im Hinblick auf die Nebenwirkungen.« »Ich weiß.« »Oh. Tut mir leid.« »Höchstens, daß ich mich langweile«, sagt sie. »Aber ich habe mir überlegt, was wäre, wenn man sich gut fühlen würde, viel wacher und konzentrierter. Wäre das nicht un-
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heimlich? Vielleicht ist man schizophren und merkt es nicht mal.« Billy nickt. »Fast möchte man sich ein bißchen mies fühlen.« »Aber die Stimmen, die fehlen mir«, sagt Gretchen. Billy lächelt, dann lacht er. »War das ein Gnadenlachen?« »Nein.« »Ich bitte dich!« »Es war witzig.« »So witzig auch nicht.« »Vielleicht kriegen wir ein Placebo«, sagt Billy auf der Suche nach einer Gemeinsamkeit, selbst wenn es eine belanglose und zufällige ist, eine Zuckerpille der Verbundenheit. »Ja, vielleicht. Aber wenn es so ist, fühle ich mich, glaube ich, verarscht. Nicht daß ich auch solche Symptome will, die hier manche haben. Das Sabbern und all diese Verrenkungen, das ist ja unangenehm. Aber ein Placebo, da hat man ja gar nichts. Ein bißchen was sollte schon sein. Placebos hab ich zu Hause genug.« »Und das ist in New York, dein Zuhause?« »Ja.« Gretchen macht diese Wendung des Gesprächs nicht mit und blickt zum Fernseher hinüber. Der Wettersender läuft, ein Meteorologe steht vor dem Jetstream, der das Land in eine Sinuskurve teilt, eine Kampflinie der Hochs und Tiefs mit sinkender Kaltluft und aufsteigender Warmluft – und alles unter dem Oberkommando des zweireihergekleideten Stuart James, der mit pastoraler Beredsamkeit erklärt, was in nächster Zeit vom Wetter zu erwarten ist. Über 40 Grad werden es in Texas und Arizona. »Heiß, heiß, heiß«, sagt er. Ein drohender Zeigefinger rich-
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tet sich auf Oracle, Arizona. »Der heißeste Ort des Landes mit atemberaubenden 46 Grad. Nicht so gemütlich, wenn Sie nicht gerade mit Hörnern, einer Mistgabel und einem Schwanz versehen sind.« »Das könnte eine Nebenwirkung sein«, sagt Gretchen. »Meine neueste Begeisterung für den Wettersender. Vorher war er mir egal, aber jetzt liebe ich diesen Sender geradezu. Er wirkt richtig entspannend auf mich.« Gretchen zieht die Knie an und umfaßt sie mit verschränkten Fingern. Billy versucht, sich in ihre Gedanken einzuschmiegen, in die Wochenvorhersage, in das System über den Rockys, das in vier Tagen die Ostküste erreicht, sich von links nach rechts schiebt, mit gebrauchten Wolken aus Kalifornien – ein Spezialeffekt aus Hollywood, der Billy und Gretchen als Wolkenbruch ereilt. »Ich hoffe auf einen Hurrikan«, sagt sie und wippt ein wenig. »Ich will sehen, wie er sich über dem Atlantik aufbaut, wie er sich auf die Küste zubewegt, wie er die Prognosen seines Verlaufs bestätigt, ich will entwurzelte Bäume und verwüstete Trailercamps sehen, Jachten auf Straßenkreuzungen, umgebogene Stopschilder, Leute, die alles verloren haben, aber entschlossen sind, alles wieder aufzubauen.« Jetzt kommt sie Billy vor wie Elizabeth Bishop, die Dichterin, in einer gelben Regenjacke. »Oh, Verzeihung«, sagt Gretchen. »Wofür?« »Für meine Rhapsodie.« »Du mußt dich nicht entschuldigen.« »Du hast so ein Gesicht, das mich zum Reden bringt.« Billy, verwundert: »Und was wäre das für ein Gesicht?« »Schau in den Spiegel. Oder laß es. Könnte sein, daß du
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ihm nicht entkommst.« Billy, verdutzt: »Was soll das heißen?« »Du kannst es nicht erzwingen.« Billy, jetzt wirklich verdutzt: »Was denn erzwingen?« Aber Gretchen hat sich schon dem Wettersender zugewandt, wo das wirkliche Wetter, eine Stunde alt, in Satellitenzeitrafferbildern über den amerikanischen Kontinent zieht. Wolken wirbeln, türmen sich auf, zerfließen, bilden sich neu. Die fünfzehn Sekunden werden ständig wiederholt, als könnte man ihnen ein Geheimnis entlocken. Billy, hartnäckig: »Was denn erzwingen?« »Eine Erklärung«, sagt Gretchen schließlich. »Erst recht nicht, wenn du fragst.« »Du machst mich ganz konfus. Was ist denn mit meinem Gesicht?« Sie grinst, dünne Lippen unterstreichen ihre rätselhafte Logik. »Es ist nett.« »Aber du sagtest, man entkommt ihm nicht.« »Stimmt. Deinem Gesicht entkommst du nicht.« »Aber du hast es eher konkret gemeint, nicht metaphysisch.« »Vergißt du manchmal, wie du aussiehst?« fragt Gretchen. Der Flirt verwandelt sich in Frust: »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Ob du manchmal vergißt, wie dein Gesicht geformt ist.« Gretchen berührt ihre Wangen nach Art einer Seifenreklame. »Ich meine, du erkennst dich immer selbst, natürlich, aber bist du dir jemals unsicher, wie du aussiehst, wenn du auf der Straße an den Leuten vorbeigehst? Du kannst zwar sehen und riechen und schmecken und hören, aber du
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weißt nichts über deine Augen, deine Nase, deinen Mund, deine Ohren.« Billy, wütend: »Was ist denn nun los mit meinem Gesicht?« »Ich werd’s dir sagen.« »Oh.« »Dein Gesicht ist blank und reflektierend.« Billy weiß nicht, wie er das auffassen soll. »Wie poliertes Metall.« »Oh.« »Wie wenn du deine Stimme auf Tonband hörst und schwören willst, daß du das nicht bist, obwohl du genau weißt, daß du’s bist und dir eigentlich sagst, wie kann ich nur so klingen, wie kommt es, daß ich das nicht höre, wie kann ich jemals den Mund aufmachen, wenn ich wirklich so klinge. Und genauso siehst du aus, für mich jedenfalls. Als könnte ich mich in deinem Gesicht hören, und ich muß reden, um den Eindruck zu übertönen.« »Das klingt ja furchtbar«, sagt Billy, der sich einen Spiegel mit zahllosen Spiegelbildern vorstellt. »Es ist ein nettes Gesicht«, sagt Gretchen begütigend. Klimatisierte Kaltluft strömt aus nördlichen Luftlöchern, trifft auf die warme, gesichtslose Oberfläche von Billy Schine und produziert eine Wetterlage aus Frustschweiß. Ein Schweißtropfen rinnt kalt an seinem Rückgrat hinab. Aber Stuart James interessiert sich nicht für diese EinmannWettererscheinung. Mit eifriger Geste zeigt er auf Menomonee Falls, Wisconsin, wo Chuck »Grabtuch« Savitch im Sterben liegt, und meldet klaren Himmel für die Pilger, die vielleicht überlegen, welche Sachen sie einpacken sollen. »Eventuell vereinzelte Schauer in drei oder vier Tagen, ansonsten niederschlagsfrei. Bitte viel trinken«, fügt er hinzu,
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als wäre ihm das Wohl der Menschheit anvertraut. »Bist du adoptiert?« fragt Gretchen unvermittelt. Billy, schon ganz verwirrt, nun noch verwirrter: »Ich? Nein. Warum?« »Weil du diesen Blick hast«, sagt sie. »Den adoptierten Blick. Mein Exmann hatte denselben Blick, irgendwie verwundet um die Augen. Ein Blick, der gefallen will, aber schnell gekränkt ist. Lieb mich, weil ich mich so hasse.« »Moment mal, ich dachte, mein Gesicht ist blank, aber reflektierend.« »Genau.« Billy steuert sicheres Fahrwasser an. »Du bist also geschieden?« »Seit drei Jahren«, sagt Gretchen, als wollte sie ihre Abstinenz herausstreichen. »Und du erinnerst mich an ihn. Das meine ich als Kompliment. Mein Ex hat zufällig rausgefunden, daß er adoptiert wurde. Seine Eltern hatten ihm nie was gesagt. Das waren WASPS alter Schule, in einer Zeit ohne offene Adoption, Kuschelerziehung, Leihmütter und kleine chinesische Mädchen in jedem zweiten Kinderwagen. Als Adoption noch irgendwie anrüchig war. Und er fand es in der Biostunde raus – er hat die Geschichte immer wieder erzählt, mir und jedem anderen. Wer im Flugzeug neben ihm saß, kannte sie, bevor die Drinks kamen. Sie machten ein Experiment. Du kennst das: Man piekt sich in den Finger und ermittelt seine Blutgruppe. Dabei fand er heraus, daß er Blutgruppe 0 hat. Zu Hause fragte er seine Eltern nach ihrer Blutgruppe, und sie nannten A oder B oder AB, eine Blutgruppe jedenfalls, mit der sie nicht seine Eltern sein konnten. So bekam er es heraus. Er war vierzehn. Und er hat es ihnen nie gesagt, hat sie nie zur Rede gestellt. Er wartete, daß sie es sagten. Er wartete und
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wartete. Du hättest ihre Thanksgiving-Feiern erleben sollen. Alles blieb unterm Teppich. Es war zum Schreien. Jeder Tag machte ihn wütender. Nach unserer Heirat haben sie mir die Schuld gegeben. Wahrscheinlich hätte ich was sagen sollen. Einen richtigen Krach hätte es geben müssen, verstehst du, wo jeder brüllt und tobt, aber dafür waren sie viel zu gut erzogen. Er drehte fast durch. Phantasierte von irgendeiner seltenen Erbkrankheit, um es ihnen zu zeigen. Das Lustige ist, daß er nie versucht hat, seine leiblichen Eltern zu finden. Ich glaube, auf die Idee ist er gar nicht gekommen. Er war viel zu fixiert auf seine falschen Eltern, die so taten, als wäre er ihr Sohn.« »Wie lange warst du verheiratet?« fragt Billy. »Etwa neun Jahre.« »Warum habt ihr euch getrennt?« Gretchen dreht sich auf die Seite und schaut ihn an, mit einem zärtlichen Blick, der weniger ihm gilt als dem Abstand zwischen ihnen, so wie man eine Decke streichelt, wenn man allein ist. »Er wollte Kinder. Das war sein einziger Gedanke. Fast rührend, auf psychotische Art, aber mit siebenundzwanzig fand ich es jedenfalls rührend. Es fing an bei unserem dritten Rendezvous. Er sagte von vornherein, er will vier Kinder, weil drei eine ungerade Zahl sind, zwei sind zu sehr aufeinander bezogen, und ein Kind ist für alle Beteiligten unmöglich. Über nichts anderes hat er geredet – seine vier theoretischen Kinder. Sogar die ideale Geschlechterfolge hatte er sich ausgedacht: Mädchen, Junge, Junge, dann wieder ein Mädchen. Aber es war eine schöne Zeit für uns, obwohl er es nur auf meine Eierstöcke abgesehen hatte. Er machte mir den Hof nach allen Regeln der Kunst, gab viel Geld für mich aus, was ich spannend fand, und beim fünften Rendezvous stimmte ich zu, daß die Vier
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eine schöne Zahl ist. Nach weniger als einem Jahr waren wir verheiratet, und sofort ging es zur Sache. Wir rackerten und rackerten. Es war der pure Sex, es ging nur ums Kindermachen. Aber nichts tat sich. Zwei Monate, drei Monate, vier Monate, dann wollte er mit mir zum Arzt, ich sagte ihm, das ist schwerer, als du denkst, also laß mal locker und gib uns Zeit. Nach sechs Monaten kaufte ich all die peinlichen Bücher, mit denen man sich kaum zur Kasse traut. Ich hatte immer ein Thermometer auf dem Nachttisch, maß die Basaltemperatur und führte einen Menstruationskalender, um den Eisprung abzupassen. Vergebens. Nach einem Jahr gingen wir zur Fertilitätsuntersuchung, aber ich hatte keine erkennbaren Krankheiten und er phantastisch agile Spermien. Ich nahm Fruchtbarkeitstabletten. Wieder nichts. Sie machten eine Hysterosalpingographie und eine Endoskopie bei mir. Dann eine endometrische Biopsie. Eine postkoitale Untersuchung, wirklich sehr angenehm. Immunologische Tests für den Fall, daß mein Serum spermatotoxisch ist. Über drei Jahre wurden Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter, Gebärmutterhals und Bauchfell untersucht und wieder untersucht. Die halbe New Yorker Ärzteschaft tastete auf und in mir herum. Sie ernteten Eizellen und machten drei In-Vitro-Befruchtungen. Ohne Erfolg. Vielleicht konnten sich die Eier nicht in meiner Gebärmutterschleimhaut einnisten, also injizierten sie ein paar Eizellen und verordneten mir Bettruhe. Nichts. Ich versuchte es mit experimentellen Therapien. Ein Rätsel, hieß es. Soviel man weiß, ist die Achse Hypothalamus-Hypophyse-Eierstöcke intakt, aber mein Mann verwechselte sie mit den Achsenmächten des Zweiten Weltkriegs und behandelte mich jedesmal, als wäre D-Day und er Eisenhower. Meine Vagina war für ihn so
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etwas wie Omaha Beach. Ich schlug eine Adoption vor, aber er war strikt dagegen, aus erklärlichen Gründen. Ich schlug einen Ersatzmann vor, er schien kurz dazu geneigt, bis er meinte, dann könne ich ja den Ersatzmann gleich heiraten.« Gretchen schweigt. Sie wirkt eher amüsiert als traurig, als wären ihre Ehejahre eine einstudierte Unterhaltungsnummer für fremde Zuhörer. Vielleicht war sie einmal verzweifelt, aber Billy denkt sich, daß sie sich danach scheiden ließ und die Geschichte so oft zum besten gab, bis nur noch die Anekdote übrig war. Trotzdem: Ihre Offenheit ist erregend und kommt unerwartet. Erzählte Geschichte ist geteilte Geschichte, und vielleicht ist noch eine andere Geschichte mit drin. Billy ist schon bereit, ihr verwundetes Herz in Kauf zu nehmen, auch wenn sie so tut, als wäre es nur ein kleiner Knacks. Er kann sich nicht vorstellen, daß Luke Sillansky oder Stan Shackler solche Sachen von ihr zu hören bekommen. Nein, nur Billy nimmt Gretchen in Schutz, indem er sagt: »Dein Ex klingt wie ein Arschloch.« »Ganz im Gegenteil«, erwidert sie. »Er war ein netter Kerl, ist es immer noch, mit Abstand der netteste, den ich je kannte. Nur dachte er ständig ans Vaterwerden. Er hat wieder geheiratet, sein erstes Kind ist da, und ich freue mich für ihn.« »Möchtest du noch Kinder haben?« fragt Billy, der sanfte Inquisitor. »Ich wollte Kinder. Jetzt kann ich drauf verzichten. Eines Tages wachst du auf und findest dich damit ab, widerstrebend vielleicht, daß du allein bist, nicht einsam-allein, sondern kinderlos-allein, daß du ohne Nachkommen alt wirst, und du nimmst es als das, was es ist, weder als Glück noch als Unglück.«
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»Fehlt er dir, dein Exmann?« Gretchen überlegt. Sie sieht gut aus, wenn sie so nachdenkt und ihre disparaten Züge zu einem geschlossenen Ausdruck zusammenfinden, als würde sie etwas im Kopf ausrechnen und mit den Augen Zahlen verschieben. Durchs Fenster strömt Sonnenlicht. Die Handskulptur zeigt gleißend auf Mittag. Billy holt tief Luft, um Gretchen einzuatmen, ihre Partikel, ihren Lufthauch, nicht lüstern, sondern unschuldig, seine Nase saugt die drei Meter bis zu ihrem Hals in sich ein. »So, als würde mir im Winter die Sommerhitze fehlen«, erklärt sie. »Du weißt, es ist ganz normal, im Winter ist es kalt, der Wechsel der Jahreszeiten ist auch etwas Schönes, aber du beklagst dich, weil du dich über irgendwas beklagen mußt, und du vermißt etwas, nur weil es nicht da ist.« Gretchen schüttelt den Kopf. »Ich vermisse seine Wärme, aber nicht seine Feuchtigkeit.« Sie schaut zum Fernseher auf. Stuart James ist weg, es läuft ein Bericht über die Unwetter des 20. Jahrhunderts. Billy macht es sich auf dem geborgten Bett bequem. Er würde gern das Richtige sagen, den heilsamen Satz, aber er hält sich lieber zurück und hofft, daß es ausreicht, ein blankes und reflektierendes Gesicht zu haben. »Genug von mir«, sagt Gretchen. »Jetzt du.« »Was ich?« »Willst du Kinder?« »Nein«, sagt Billy ruhig. »Ich würde es nur vermasseln. Ich würde mein Bestes geben und dann alles vermasseln, und ich würde mir nie verzeihen.« »Glaubst du das wirklich?« »Ja. Ich weiß einfach, daß ich etwas, sagen wir, Unverzeihliches machen würde. Da bin ich mir sicher.«
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»O Baby«, sagt Gretchen mit einem Hauch atemberaubenden Mitgefühls. »Was?« »Das ist so traurig.« »Ich versuche nicht, traurig zu klingen«, erklärt ihr Billy. »Ich meine, ich versuche es nicht mit der Trauermasche.« Billy bremst sich. Gretchen stützt das Kinn auf die offene Handfläche und wendet ihm das Gesicht zu. Die entspannte Anmut dieser Geste beeindruckt Billy. Sie hört ihm mit einer solchen Grazie zu. Vor ihnen auf dem Bildschirm der alte Schwarzweißfilm einer fehlkonstruierten Hängebrücke, die bei einem Orkan zu schaukeln beginnt. Die Autos in der Mitte hopsen auf und ab, ein Mann läuft auf die Kamera zu, die Straße unter ihm schwankt heftig. Die Brücke ist wie aus Gummi, bis sie keine Brücke mehr ist und in den Fluß stürzt. »Wahrscheinlich wäre ich ein guter Vater«, sagt Billy und glaubt es selber nicht. Autos fallen ins Wasser wie Spielzeuge, die auf ihre Haltbarkeit getestet werden.
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18 DIENSTAGNACHMITTAG. Billy wartet im engen Büro von Dr. Honeysack. Vor fünf Minuten ist Honeysack nur für eine Sekunde hinausgegangen. Billy lehnt sich zurück. Das Warten narkotisiert ihn mit dem Halothan der Langeweile. Sein Gehirn ist ein Sack unverdauter Gedanken, die gegen die Hirnhaut prallen, bis sich irgendwo ein Raum herausbildet – Kinderposter an den Wänden, der Fußboden übersät mit Bauklötzen, Lastautos, Puppen und Pferdchen, auf dem Couchtisch Zeitschriften für Kinder, aber auch für Eltern –, das Wartezimmer von Kinderarzt Dr. Timothy Eckerhardt. Mit einundzwanzig Jahren ist Billy das älteste Kind und der jüngste Erwachsene in diesem Raum, die Kleinen betrachten ihn als exotisches Zwischending, die Erwachsenen, meist Mütter, als warnendes Beispiel, was aus ihren süßen Gören einmal werden wird. Billy würde den Kindern gern dabei helfen, den Wolkenkratzer aus Bauklötzen noch besser und höher hinzukriegen. Auf all diesen Sachen hat er seine Fingerabdrücke hinterlassen, hier ist mehr Spielzeug, als er in seiner Kindheit besaß, dieses Wartezimmer ist in vielerlei Hinsicht sein Traumzimmer. Ein Bett in der Ecke, und Billy wäre ein glückliches Kind gewesen. Alle naselang schaut Schwester Jones
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herein und ruft einen Namen auf, bis sie schließlich »Billy, du bist dran«, sagt und ihn ins Sprechzimmer führt. »Du kommst also noch zu uns«, sagt sie. Es klingt fast vorwurfsvoll, wie ein bitterer Hinweis auf das Vergehen der Zeit. »Klar.« Seine Größe und sein Gewicht mißt sie, als mäße sie ihre Schmerzen und Gebrechen. Bald tritt Dr. Eckerhardt ein, weißer Arztkittel, Stethoskop. Er betastet alles, was zu betasten ist, wie ein Töpfer, der einen fertig gebrannten Topf in den Händen dreht, und sagt nach der Untersuchung: »Weißt du, eigentlich sind wir über den Punkt hinaus, alter Junge.« Für Augenhöhen unter eins zwanzig ist Dr. Eckerhardt ein buschiger Bart und ein Riesenbauch. Ein Baby in seinen Armen könnte sich ausnehmen wie ein Lunchpaket. Aber seine Stimme und seine Augen sind wie Honig. »Häh?« »Du bist fast zweiundzwanzig.« »In sieben Monaten.« »Ich glaube, die Pädiatrie hast du hinter dich gebracht.« »Aber Sie sind mein Arzt.« Der flehende Ton überrascht Billy. »Du bist mir über den Kopf gewachsen.« »Über den Kopf gewachsen? Sehen Sie mich an.« Billy hebt die Arme. »Heutzutage dauert die Pubertät bis weit über zwanzig, vielleicht sogar dreißig. Das ist eine Tatsache. Ich sage, die Unis sind schuld daran. Die gestiegene Lebenserwartung. Geburtenkontrolle. Klar, die körperliche Reife kommt immer früher, aber geistig ist es genau umgekehrt.« Dr. Eckerhardt lächelt, sein Bart umschmiegt sein Gesicht wie ein Kätzchen. »Du bist immer willkommen, auf
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einen Plausch. Ja, verdammt, wir können sogar einen trinken gehen, aber als dein Arzt, das ist vorbei. Nichts gegen dich persönlich, es hat nur mit deinem Körper zu tun.« Billy befürchtet Tränen. Er dämmt die steigende Flut mit Sandsäcken ein – Sei kein Trottel. Sei nicht blöd. Sei nicht albern. »Alles in Ordnung?« fragt Dr. Eckerhardt. »Schon gut«, sagt Billy. »Wie geht es Harvard?« »Gut, nehme ich an.« »Und deinen Eltern?« »Keine Ahnung, sie kommen zurecht, vermute ich. Ich gehe ihnen aus dem Weg, oder sie gehen mir aus dem Weg. Das scheint so eine Übereinkunft zu sein.« »Nimm deine Eltern nie persönlich«, rät ihm Dr. Ekkerhardt. Billy möchte vor den Füßen dieses wuchtigen Mannes zusammenbrechen, dieses besorgten Erwachsenen, der ihn schon so lange kennt, ihn immer mit Händen begrüßt hat, die sein Haar zausten, sanft auf seinen Schultern ruhten, ihn untersuchten, als würden sie mit seiner Seele kommunizieren. Dr. Eckerhardt könnte seinen Kummer verstehen. Aber Billy kämpft weiter gegen die steigende Flut an. »Was soll ich denn jetzt machen?« fragt er. »Ich kann dich an einen Hausarzt weiterempfehlen.« »Sind wir also fertig?« »Du klingst ja, als würde ich mit dir brechen. Du bist jetzt ein junger Mann. Du findest andere Ärzte, bessere Ärzte. Obwohl ich deine jährlichen Besuche vermissen werde. Also melde dich mal wieder.« Dr. Eckerhardt tätschelt ihm das Knie, die Kniereflexe interessieren ihn nicht
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mehr. »Ich bin richtig stolz auf dich, Billy«, sagt er. »Harvard, das ist eine große Sache.« »Soll ich jetzt gehen?« »Noch nicht.« Dr. Eckerhardt greift in die Akte William A. Schine und fördert einen Stapel Polaroids zutage, die fotografische Dokumentation am Ende jeder Untersuchung, und blättert Billy die Fotos hin. Ein Daumenkino der Grimassen. Ein paar Bilder werden mit ärztlichem Kommentar versehen: »Hier sind wir als Teenager, der beim Wort ›Pubertät‹ rote Ohren kriegt. Hier das kleine Kerlchen, das immer ›Tut mir leid‹ sagt, als wärst du selbst an deiner Halsentzündung schuld. Hat jemand im Nachbarzimmer geweint, hast du dich entschuldigt. Hier der Baseballspieler. Der Cowboy. Der kleine Stoiker. Selber geweint hast du selten. Hier können wir gerade mal stehen. Hier noch nicht. Hier nicht mal sitzen. Hier nur liegen. Ein ganz Süßer. Und hier schließlich der Neugeborene mit einem Blick, den ich nur als deinen fatalistischen Tut-mirleid-Blick bezeichnen kann – tut mir leid, daß ich euch die Mühe mache, tut mir leid, daß ich inkontinent bin, daß ich so schwach bin. Hat mir immer das Herz gebrochen, dieser Blick.« Der drei Tage alte Billy wird von Armen eingerahmt, die der Kamera das Bündel entgegenhalten. Billy mit verquollenen Schlitzen anstelle von Augen und einer platten Nase, die wenigen Stunden gelebten Lebens drängen schon aus ihm hervor und lösen sein Gesicht langsam von der inneren Welt. »Ist das meine Mutter, die mich hält?« fragt Billy. »Ja. Und hier ist sie bei ihrem ersten Besuch, zwei Wochen vor der Entbindung.« Dr. Eckerhardt reicht ihm das letzte Foto. Doris McMinn Schine, die werdende Mutter,
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steht mit vorgeschobenem Bauch da, in der stolzen Pose hochschwangerer Frauen. Sie wirkt so jung, denkt Billy, obwohl sie da schon über vierzig ist. Ihr Gesicht reflektiert das Blitzlicht. Ihre grünen Augen zeigen einen fast kämpferischen Elan, als könnten sie jedem Blick standhalten, selbst den Scheinwerferaugen eines nahenden Fahrzeugs. »Wie ging es ihr da?« fragt Billy. »Ich meine, im Hinblick auf das Baby?« »Oh, sie war so aufgeregt«, sagt Dr. Eckerhardt. »Und nervös wie alle werdenden Mütter.« Das Nervöse hat gesiegt, denkt Billy. »Du kannst die Bilder behalten«, sagt Dr. Eckerhardt. »Wirklich?« »Aber ja. Mein Abschiedsgeschenk.« Er steht auf, greift nach der Kamera. »Jetzt noch ein Bild, unser Abschlußfoto.« Billy wehrt mit einer Handbewegung ab. »Stell dich da hin.« Billy gibt nach, dem Doktor zu Gefallen. Er nimmt die Normalstellung vor der Meßlattengiraffe ein, Dr. Ekkerhardt klappt die Kamera auf und richtet sie auf das zum Mann gewordene Kind. »Eins, zwei, drei.« Bei »drei« blitzt es, und aus dem schmalen Maul der Polaroid schiebt sich eine graue Zunge. Dr. Eckerhardt wedelt sie trocken und reicht sie Billy. Egal aus welcher technologischen Epoche man stammt, der Zeit zwischen Pferdekutsche und Automobil, zwischen Harvard-Rechner Mark I und Internet oder zwischen Raumstation und Mondflughafen: Diese kleine Erfindung wirkt immer wie ein Wunder, UrUrgroßväter und ihre UrUrenkel sind gleichermaßen fasziniert, wenn die Emulsion streifig wird und das Bild – Billy, der sich ein dummes
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Grinsen abringt – nur Minuten nach dem Knipsen aus dem Nebel heraustritt. Für einen Moment empfindet man die archaische Ehrfurcht eines Urmenschen, selbst wenn man hinterher, auf der Straße, die Polaroids in den nächsten Papierkorb wirft, dem allgemeinen Erinnerungsmüll überantwortet und erst später merkt, daß das vielleicht ein Fehler war. »Tut mir leid«, sagt Dr. Honeysack bei seiner Rückkehr. »Ich wurde aufgehalten.« »Kein Problem«, erwidert Billy. »Okay, ich wollte nur ein paar Fragen nach Ihrem Befinden stellen.« Honeysack blättert in Akten, seine Finger trommeln auf der Tastatur. Billy und er dürften etwa gleichaltrig sein, aber Honeysack wirkt älter, reifer, schließlich ist er Arzt. Billy wünschte, sein eigenes Gesicht würde auch endlich mal ein bißchen Reife und Erfahrung zeigen. »Also«, fragt Honeysack, »wie fühlen Sie sich?« »Gut.« »Bei bester Gesundheit?« »Klar.« »Und seelisch?« »Gut«, sagt Billy. »Keine besonderen Vorkommnisse, soweit ich das beurteilen kann.« »Soweit Sie das beurteilen können?« »Ja.« Es scheint, daß Dr. Honeysack den Sport des Dialogs erst spät erlernt hat, er mag mit Begeisterung bei der Sache sein, aber es fehlt ihm an natürlicher Grazie – so wie einem, der erst in höherem Alter Tennis lernt. »Sie wissen, daß Sie mir alles anvertrauen können«, sagt Honeysack. Es klingt so falsch wie ein netzezerfetzender Fehlpaß. »Die Sache ist die, daß wir ein detailliertes Profil dieses Medi-
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kaments erarbeiten wollen. Selbst die geringsten Beschwerden sind wertvoll für uns. Nichts ist hier ohne Bedeutung. Nichts ist nebensächlich. Also denken Sie scharf nach.« Honeysack legt die Hände aneinander und trommelt mit den Fingerspitzen, als würde er im Takt beten. »Ich fühle mich eigentlich wie immer«, sagt Billy. »Ehrlich.« »Nicht die geringste Veränderung?« »Wie schon gesagt, ich fühle mich wie immer.« »Überhaupt nichts?« »Sehe ich denn so furchtbar aus, oder was?« »Nein, Sie sehen gut aus. Übrigens, es gibt hier keine falschen oder richtigen Antworten.« »Nun, ich fühle mich gut. Im wesentlichen unverändert.« »Und wie ist das?« »Wie man sich unverändert fühlt?« »Sie fühlen also nichts anderes als sonst.« »Okay, genervt«, sagt Billy angesichts dieser Unterhaltung. »Seit kurzem.« »Na bitte. Das ist doch schon was. Genervt.« Honeysack schreibt es auf. »Sehr genervt«, sagt Billy. Honeysack unterstreicht das Wort. »Reden wir über das Genervtsein.« »Bitte lieber nicht.« »Nein, Genervtsein ist eine valide Reaktion. Genervt. Gereizt, ungeduldig, frustriert, überwertig. Wie würden Sie Ihr Genervtsein definieren?« »Moment«, sagt Billy. »Von ›überwertig‹ habe ich nichts gesagt.« »Also minderwertig?« »Nur genervt.«
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»Aber genervt zu sein hat etwas Überwertiges, als würde man über den Grund des Genervtseins erhaben sein.« »Können wir es nicht bei ›genervt‹ lassen?« sagt Billy nun noch genervter. »Sicher. Sicher.« Dr. Honeysack macht eine längere Notiz. »Es ist nur so, daß ...« »Vielleicht war das ein bißchen überdreht, das mit dem Genervtsein.« »Überdreht? Also fühlen Sie sich in letzter Zeit überdreht. Unernst? Unüberlegt?« »Sie sind ja ein richtiger Thesaurus.« »Was ist das?« »Nichts. Okay, ich fühle mich überdreht, neuerdings.« Honeysack strahlt. »Plötzlich haben wir schon ›genervt‹ und ›überdreht‹.« »Das ist wahr.« »Noch was?« »Besorgt.« »Worüber?« »Meinen Zimmergenossen, vor allem. John Rami. Seinetwegen bin ich besorgt.« Besorgt, weil sich Do noch immer nicht geduscht, nicht die Zähne geputzt, nicht rasiert hat, und der Geruch, der von seinem Bett ausgeht, zu schreien anfängt wie ein Mann unter einer Glasglocke, die sich allmählich mit giftigen grünen Dämpfen füllt. »Weshalb?« fragt Honeysack. »Er kommt mir gefährdet vor.« »Und deshalb sind Sie besorgt um sich?« »Nein, nur um ihn.« »Sie fürchten also nicht, Sie könnten der nächste sein?« »Sollte ich das?« »Das habe ich nicht gesagt, ich frage nur.«
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»Nein«, sagt Billy. »Ich bin nur besorgt um ihn. Um seinen Geisteszustand.« »Beängstigt?« »Nein, besorgt.« »Vielleicht ein verstärktes Gefühl der Empathie?« »Vielleicht.« Billy zögert einen Moment. »Aber genervt auf jeden Fall.. »Aha.« »Sehr genervt.« »Verstanden.« Dr. Honeysack macht eine Notiz, dann rollt er den Stift in den Händen, als wollte er die Tinte für eine intimere Prozedur aufwärmen. Ein garstiger Pickel sprießt zwischen alten Ak-nenarben an seinem Hals. Es ist wie ein Klassentreffen. Und seine Augen – Mama Honeysack hat ihrem Sohn sicher ständig eingeschärft, denkt Billy, daß er die schönsten Augen hat, daß die Augen bei weitem das Schönste an ihm sind und daß er die Augen immer schön zur Geltung bringen soll, denn Honeysack plinkert mit ihnen und reißt sie weit auf und setzt seine Brauen zur Verstärkung ein. Seine Augen könnten blau sein, aber sie sind eine Spur zu hell, haben diesen gewissen Ist-er-blind?Ton. Das Weiße seiner Augen ist zu weiß, es erinnert an unbelichtete Xerokopien, die dunklen Ringe darunter an Kiemen eines Fisches auf dem Trocknen. Die ganze Honeysack-Produktion von Augen! schleppt sich traurig dahin, als wäre Mama die einzige Zuschauerin im Saal. Billy zieht sich mit einer Frage aus der Affäre: »Sind Sie verheiratet?« Honeysack, verdutzt: »Nein, noch nicht. Aber bald, hoffe ich.« »Sehen Sie sich?« »Schon. Aber durch meine Arbeit bin ich... unabkömm-
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lich.« »Muß ja ein harter Job sein. Sie sehen erschöpft aus.« »Ja, wirklich? Stimmt. Diese Wochen waren der blanke Irrsinn, die letzten Tage mehr oder weniger enttäuschend.« »Berufliche Rückschläge?« fragt Billy. »Nicht beim Produkt, aber beim Verfahren.« »Sie werden weiterhin viele Leben retten.« »Eine Menge Tode aufhalten. So sehe ich das.« »Oh.« »Ist dasselbe, ich weiß.« »Und doch anders«, bemerkt Billy. »Genau. Ich sehe es eher von der anderen Seite.« »Oh.« »Mein Vater war Bestatter.« »Wirklich?« »Ja.« »Da muß ihn ja Ihre Berufswahl geärgert haben.« »Warum sagen Sie das?« »Ein Bestatter lebt gewissermaßen davon, daß Menschen sterben.« »Äh, ja. Da haben Sie recht. Nein, er hat meine Berufswahl unterstützt. Er dachte wohl, das ist die respektablere Seite des Geschäfts.« »Sicher.« »Wenn ich mir bei meiner Forschungsarbeit den potentiellen Patienten vorstelle, ist er immer tot, und ich kehre den Trend um. Ich stoppe diesen Prozeß. Ich verschaffe ihm Aufschub, bis die Zeit für seine Rettung gekommen ist.« »Weil Sie Ihren Vater hassen«, sagt Billy leichthin. »Häh?« »Ich scherze nur.«
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»Ich habe meinen Vater geliebt.« »Ich war nur schrecklich überdreht.« »Ach ja, richtig. Wie auch immer.« Honeysack schaut auf seine Armbanduhr. »Das war ein bißchen neben dem Thema.« »Aber interessant.« »Ich denke auch.« »Vom Leichenbestatter zum ...« »Einfach Bestatter.« »Tut mir leid. Vom Bestatter zum Arzt. Was werden Ihre Kinder machen?« »Ich habe keine Kinder.« »Sagen wir, Sie haben welche.« Honeysacks Blick wird finster und beißt sich am Clipboard fest. »Er wird Priester«, schlägt Billy vor. »Ich glaube, das wäre die natürliche Abfolge.« »Ich bin nicht katholisch.« »Dann eben Pastor.« »Ich bin nicht sehr religiös.« »Und Ihr Enkel ein Serienmörder, karmatechnisch betrachtet.« Honeysack wird wieder amtlich. »Und Ihr körperliches Befinden?« »Körperlich fühle ich mich gut. Im wesentlichen«, antwortet Billy. »Im wesentlichen?« »Ja.« »Können Sie das definieren?« »Ich langweile mich, aber ich glaube, das ist ganz natürlich in dieser Umgebung.« »Wie ist Ihr Schlaf?«
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»Schlecht.« Honeysack schreibt es auf. »Aber ich schlafe meistens schlecht«, sagt Billy. »Schlafen Sie jetzt noch schlechter?« Billy schmeckt die Frage ab. »Könnte sein.« »Wie ist es mit dem Aufwachen? Wie wachen Sie auf?« »Langsam.« »Fällt es Ihnen schwer, aus dem Bett zu kommen?« »Das war schon immer ein Kampf.« »Das Aufstehen?« »Ich bin eher ein Morgenmuffel.« »Irgendwelche Ermüdungserscheinungen am Tage? Schläfrig? Abgespannt?« »Ich bin immer abgespannt.« »Also sind Sie tagsüber müde?« »Sicher.« »Und schlafen viel?« »Na, etwas anderes bleibt einem hier kaum übrig.« »Also vielleicht ›lethargisch‹?« »Klingt annehmbar.« »Noch etwas? Kopfschmerzen?« »Nein.« »Wie steht’s mit dem Magen?« »Gut.« »Keine Übelkeit?« »Nein.« »Also alles gut?« »Ja.« Dr. Honeysack blättert in seinen Papieren, sucht nach irgendwelchen vergessenen Fragen und untermalt dies mit dem »Okay«-Soundtrack, der sich über das ganze Ordnen und Schließen der Akte erstreckt.
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»Manchmal höre ich beim Duschen Stimmen«, sagt Billy, neugierig, was jetzt passiert. »Stimmen?« »Als würde jemand meinen Namen rufen, nach mir suchen. Immer beim Duschen. Oder wenn die Klimaanlage rauscht. »Stimmen beim Duschen und beim Rauschen der Klimaanlage?« »Ja.« »Die Ihren Namen rufen?« »Ja. Oder ein Lied singen.« »Ein Lied?« »Oft aus Musicals. Rodgers und Hammerstein. Irving Berlin.« »Ist die Stimme erkennbar?« »Nein, irgendeine Stimme.« Dr. Honeysack schlägt die Akte wieder auf. »So wie das Echo einer Stimme«, erklärt Billy. »Und das ist auch in letzter Zeit passiert?« »Ja.« Dr. Honeysack notiert es mit Begeisterung. »Ist das von Interesse?« »Es ist alles von Interesse.« »Alles ist von Interesse?« »Absolut.« »Haben sich auch andere Leute über Stimmen beklagt?« fragt Billy. »Andere Leute sind nicht wichtig.« »Also alles, was mich im Besonderen betrifft, ist von Interesse.« »Zumindest, solange Sie hier sind.« Billy nickt. »Ich habe seit kurzem, ich weiß nicht wo-
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durch, alle meine Munterkeit eingebüßt«, sagt er – in der Hoffnung, daß Honeysack das Hamlet-Zitat erkennt. Aber er tut’s nicht. »Ihre Munterkeit eingebüßt?« fragt er. »Ja«, sagt Billy und sitzt in der Falle. »Interessante Wortwahl.« »Welche?« »Also bevor diese Untersuchung begann, waren Sie munterer?« »Ich nehme an«, sagt Billy und fragt sich, ob er das mit Hamlet beichten soll. »Sie fühlen sich depressiv«, stellt Honeysack klar. »Ich hasse das Wort. Vielleicht war ich früher glücklicher. Ich nehme an, das will ich damit sagen, wenn überhaupt etwas. In letzter Zeit bin ich mir selbst zuwider. Es ist, als wäre ich in meinen Körper eingesperrt, nicht auf die transsexuelle Art, sondern auf klaustrophobische Art, als wäre mein Körper ein enger Raum, in den ich gekrochen bin, und nun stecke ich fest.« Billy fragt sich, wieviel von dem, was er sagt, wahr ist, aber Honeysack scheint fasziniert. »Ich mache all diese Sachen, all diese körperlichen Sachen, unbewußte Sachen, erstaunliche, komplizierte Sachen, und ich denke: Wie mache ich das überhaupt? Zum Beispiel Gehen. Oder Atmen. Selbst Furzen kommt mir vor wie ein Wunder der Biologie. Ich bin wie ein Einsiedlerkrebs, der sein wunderhübsches Schneckenhaus gefunden hat und sich haßt, weil er weiß, daß er ein widerliches kleines Arschloch ist.« »Ein Einsiedlerkrebs?« »Vielleicht ist das albern.« »Also Gefühle des Selbsthasses ...« »Nicht das Wort! Bitte nicht das Wort!«
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»Tut mir leid.« »Schreiben Sie auf, was Sie wollen, aber nicht Selbsthaß.« »Okay«, sagt Honeysack. »Noch eine Frage. Es könnte sein, daß sie schon beantwortet ist. Aber trotzdem.« »Schießen Sie los.« »Wie würden Sie sich einschätzen? Als optimistisch oder als pessimistisch?« »In Bezug worauf?« »Ganz allgemein.« »Seit ich hier bin?« »Nur optimistisch oder pessimistisch. Jetzt, in diesem Moment.« Billy neigt von Natur aus zum Pessimismus. Immer. Hat ein halbwegs intelligenter Mensch eine andere Wahl? Der Hoffnung in jeglicher Form soll man mißtrauen. Hoffnung ist brüchiges Theaterglas, das aufweichen Birnen zerschlagen wird. Überleben vielleicht, Blut und Katastrophe, aber keine Hoffnung. Billy bewundert zwar die Technologie der Hoffnung, den wohlkonstruierten Mechanismus der Religion, die Schaltkreise der Verheißung, das Silikon der Liebe, aber er hat keine Ahnung, wie das Ding funktioniert. Die Hoffnung läge leblos in seinen Händen, denn er fände den Schalter nicht. Er würde Nägel einschlagen mit ihr, sie als Briefbeschwerer benutzen, bis ihm einer sagt: »He, du benutzt die Hoffnung ganz falsch.« Billy zieht die Hoffnungslosigkeit vor. Sie ist einfacher gebaut und hat weniger bewegliche Teile. »Pessimistisch«, sagt Billy. »Auf einer Skala von eins bis zehn.« »Einer Skala?« »Ja.«
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»Sagen wir fünf. Mein Pessimismus ist halbvoll.«
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19 ABENDS BEIM ESSEN sitzt Billy neben Sameer Sirdesh, der ein Fotoalbum mitgebracht hat, das er Billy zeigt. Sie hokken dicht beieinander, gelegentlich stößt ihn Sameers fahriger Ellbogen kumpelhaft in die Seite – oder ist es die aggressiv machende Wirkung einer Droge? Jede Albumseite zeigt nur ein Foto, das von einer Plastikfolie geschützt ist. Alle Fotos zeigen einen strahlenden Sameer, der zusammen mit einem Prominenten posiert – Sameer mit Brad Pitt, Sameer mit Harvey Keitel, Sameer mit Tom Hanks –, die Filmstars lächeln geduldig, sie zahlen den Preis der Berühmtheit an Sameer, der es manchmal sogar geschafft hat, den Arm um eine widerstrebende Schulter zu legen. »Das bin ich mit Meg Ryan«, erklärt er Billy. »Eine schöne Frau. Eine tolle Frau. Das bin ich mit Jim Carrey. Wunderbarer Typ. Sehr nett. Das bin ich mit äh, ich hab den Namen vergessen.« »Jeff Goldblum«, hilft Billy aus. »Ein Gentleman«, sagt Sameer. »Und das ist... oh.« »Meryl Streep.« »In echt sieht sie besser aus, kannst du mir glauben«, sagt Sameer. Sameer blättert weiter, er sieht jedesmal gleich aus, je-
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desmal das breite, gewinnende Lächeln, als wäre es sein Tag, seine Sonne, als hätte er den Amerikanischen Traum im Arm, und der ist nett und freundlich und viel schlanker, als man meinen sollte. »Ich habe noch viel mehr zu Hause«, sagt Sameer zu Billy. »Das ist nur das eine Album.« »Beeindruckend«, sagt Billy. »Jeden Abend nehme ich mir die vor.« »Das muß ja anstrengend sein.« »Ganz und gar nicht«, widerspricht Sameer. »He, Judi Dench.« »Wer?« »Die Frau hier.« »O ja. Eine wunderbare, eine tolle Frau«, sagt Sameer, ohne das Zittern seiner Hände zu bemerken, die vielen vergeblichen Versuche, mit der Gabel den Mund zu treffen. Er führt seine ganze Starparade vor, und Billy driftet ab von Gwyneth, Julia, zu seinen Mitnormalen, zu Ossap, der beim Abstellen seines gebrauchten Tabletts Geschirr zu Boden wirft, zu Stan Shackler mit der rätselhaften Doktorarbeit, der Baudelaire und Baudrillard im Gleichtakt liest, zu all den leicht angekränkelten Gestalten, die anstelle von Frühstück und Thermosflasche ihre jeweiligen Symptome zur Arbeit mitbringen. Billy fragt sich, ob er nicht endlich auch etwas spürt. Kleinere Halluzinationen scheinen sich bemerkbar zu machen. An der Peripherie seines Gesichtsfelds erahnt er huschendes Waldgetier, Phantommotten flattern ihm um die Ohren, Feldmausschatten beleben die Ecken. Sommersprossen und Leberflecken ähneln blutsaugenden Zecken – nach einer Stunde der Beobachtung scheinen sie ganz sanft zu pulsieren. Halbgeschlossene Augen enthüllen amöbenartige Wesen, die unter seinen Lidern hausen. Ja, denkt Billy, vielleicht ist da etwas.
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»Garth Brooks, sehr nett, hat mir für zwei Bilder gestanden«, sagt Sameer. Am Tisch hinter Billy tauschen sich drei Namenlose über ihre Beschwerden aus. A: Hat hier einer Probleme mit der Nase? B: Was ist denn mit deiner Nase? A: Na ja, fühlt sich an, als wär sie mir im Weg. Wohin ich auch gucke, ich sehe meine Nase. Als wäre ich der Gefangene meiner bekloppten Nase, als ob mein ganzes Gesicht nur noch aus Nase besteht. Treibt mich zum Wahnsinn, langsam fange ich an zu schielen. Sameer zeigt auf Kevin Spacey. »Dieser Mann, sehr charmant«, erklärt er Billy. B: Ich schmecke meine Zunge. A: Du schmeckst deine Zunge? B: Hast du das auch? A: Nein, nur das mit der Nase. B: Ich schwöre bei Gott, daß ich meine Zunge schmecke, und das macht mich krank. Als würde ich mit vollem Mund reden, auch jetzt gerade, als hätte ich einen Lappen rohes Fleisch im Mund. Fühlt sich ekelhaft an. So was Ekelhaftes hatte ich noch nie im Mund. C: Wonach schmeckt sie denn? B: Nach Briefmarken. A: Urgh! B: Aber ich werde den Geschmack nicht los. »Mary Poppins«, sagt Sameer und zeigt auf Julie Andrews. »Entzückend und sehr nett zu mir.« C: Wißt ihr, was ich habe? A: Was mit der Nase? B: Mit der Zunge? C: Aber denkt nicht, daß ich durchgeknallt bin.
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A: Das liegt doch am Medikament. B: Klar, das Medikament ist das Durchgeknallte. C: Ich hab so einen Geschmack im Mund, aber es ist nicht meine Zunge, eher der Atem. Der schmeckt ganz komisch. Fast wie ein Nachgeschmack. B: Wonach? C: Ich bin nicht schwul, okay? Aber ich habe immer den Geschmack von Sperma im Mund. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht mal, wie Sperma schmeckt. Wirklich. Ich meine, ich weiß, wie es riecht... B: Vielleicht solltest du einfach die Klappe halten. C: Nein, im Ernst, ich habe eine Vorstellung von dem Geschmack, irgendwie salzig, stimmt’s, und das ist der Geschmack, den ich im Mund habe. Ein ganz deutlicher Spermageschmack, und er ist immer da. A: Ich rieche nichts. C: Ich putze mir ständig die Zähne. B: Vielleicht machen die anderen Sauereien mit dir, wenn du schläfst. C: Hier, riech mal meinen Atem. B: Kannst du vergessen. Sameer Sirdesh kommt zum letzten Foto: Er mit einem schmunzelnden Harrison Ford. »Der war schwierig«, sagt er. »Fünf Anläufe mußte ich nehmen, jedesmal sagte er nein, nichts da, lief einfach weiter. Hat eben viel zu tun. Aber an diesem Abend – ein wundervoller Abend – sagte er ja. Sieh mal, er hat den Arm um mich gelegt. Er hat sogar gefragt, wie ich heiße. ›Sameer‹, sagte er, ›du bist ein hartnäckiger Hund«. Und ich: Ja, Mr. Ford, bei einer Persönlichkeit Ihrer Statur muß man ja hartnäckig sein.‹« Sameer strahlt den strahlenden Sameer auf dem Foto an, Strahl gegen Strahl, er strahlt und hält den Kopf ein wenig schief,
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um die schiefe Bildkomposition zu würdigen; Billy erkennt, daß Sameer die Kamera selbst gehalten hat, mit ausgestrecktem Arm gezielt und abgedrückt hat, Sameer, der nun krampfig zuckend den Kopf senkt, um Indiana Jones/Han Solo näher zu betrachten, Sameer, der blinzelt wie ein Kameraauge, als wollte er den Moment der Begegnung ein zweites Mal festhalten – Sameer in einer magischen Nacht Manhattans, als Harrison Ford endlich nachgab und ihm die Andeutung einer Umarmung gönnte, die ihm alles bedeutet haben muß. Do liegt zusammengerollt im Bett, er liest keine Comics mehr, sondern die Bibel. Billy ist immer beeindruckt von Leuten, die ganz unbefangen in der Bibel lesen, in der UBahn oder im Flugzeug, als wäre die Bibel der neueste Thriller. Er würde gern wissen, ob sie die Bibel von Anfang bis Ende lesen und dann wieder von vorn, ob sie ihre Lieblingspassagen haben, Stellen, die sie beherzigen, Losungen für den Tag. Was haben sie von der Lektüre? Kommt es nur auf die Präsenz der Worte an, auf ein Gefühl der Sicherheit, eine Gasmaske der Andacht? Billy findet diese Gläubigkeit bewundernswert, sogar tröstend – Frömmigkeit als Trickle-Down-Theorie. Aber er wird den hochmütigen Hintergedanken nicht los, das herablassende Wieder so einer!, das er so in sich verachtet. Schließlich ist der Glaube eine schöne Sache. Und er ist froh, daß Do eine innere Stütze findet, die er, nach seinem Zustand zu urteilen, dringend benötigt. Do ist in einen Sarg aus Bettüchern gebettet. Billy schaut zu, wie er sich durch die Bibel blättert, die Seiten überprüft wie ein Buchhalter. Do blickt kurz zur Uhr auf, dann wieder ins Buch. Das macht er jede Minute, sein Finger stockt solange auf der Seite, elf Minuten geht das so, bis Billy ihn fragt, was er da treibt.
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»Nichts«, sagt Do. »Als würdest du nach Uhr lesen.« »Ich habe gerade was gemerkt.« »Was denn?« »Das Lukas-Evangelium hat vierundzwanzig Kapitel« »Und?« »Na ja. Die Uhr gibt irgendwie die Kapitel und Verse vor. Das ist mir noch nie aufgefallen. Und als ich es merkte, war es gerade sieben nach drei, also 15:07, und 15:07 bei Lukas lautet: ›Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.‹ Interessant, oder?« »Hm, ja.« »Und jetzt gerade ist: ›Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.‹« »So«, sagt Billy. »Die Zeit sagt uns etwas.« »Hat jedes Kapitel sechzig Verse?« fragt Billy. »Nein.« »Was wird dann aus der Zeit, zu der es keinen passenden Vers gibt?« »Die Stille kann auch etwas sagen.« Auftritt Lannigan, er stürmt von links ins Zimmer. Er ist stolz auf sich. Er war gerade bei Honeysack und hat ihm weisgemacht, daß sich seine Zähne wacklig anfühlen. »Ihr hättet mich sehen sollen«, verkündet er, noch immer unter Strom. »Ich war genial. Ich hab das sehr subtil gemacht, als wäre ich mir nicht sicher, aber hätte so ein Gefühl, daß sie locker sind, daß ich sie einfach so herausziehen kann. ›Zahnfleischbluten?‹ fragte er, und ich sagte ja, obwohl es
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besser gewesen wäre, ich hätte vorher Zahnseide benutzt, weil sie dann richtig bluten. Vielleicht nächstes Mal. Aber der hat Augen gemacht. O Mann! Das mit den Zähnen kannte er noch nicht.« Lannigan klopft gegen seine Schneidezähne wie ein Wolf, der den Klang prüfen will. »Ich sagte ihm, daß ich Angst habe, in eine Weintraube zu beißen, daß ich nachts aufwache und an meinen eigenen Zähnen ersticke. Ich hab ihm das voll als Nebenwirkung verkauft. Ich war Brando auf Novocain. Hab fast selbst dran geglaubt, was schnell passieren kann, wenn man so in der Rolle aufgeht, wenn man sich emotional reinsteigert. Er hat alles aufgeschrieben. Ich sagte, ich mache mir Sorgen, weil ich als Schauspieler mein Lächeln brauche, und er wirkte richtig betroffen. Ich fing fast an zu weinen.« »Ich habe dem Arzt die Wahrheit gesagt«, sagt Do. »Welche?« fragt Lannigan. »Daß du eine irrationale Angst vorm Duschen entwickelt hast?« »Hör auf damit«, sagt Billy. »Ich dusche mich bald«, verspricht Do. Lannigan öffnet die Badezimmertür. »Wie wär’s mit jetzt?« Der Bettsarg bleibt verschlossen. »Jetzt ist nicht die Zeit, aber bald.« »Ist die Bibel nicht voll von Hygienetips? Du sollst regelmäßig baden?« »Halt die Klappe«, sagt Billy. »Tuuut mir leid.« Lannigan macht Schattenboxen. Man sieht, daß er noch nie geboxt hat; sein Boxring ist die Tanzfläche. »O Mann, ich war Spitze bei Honeysack. Nächstes Mal lege ich dem Onkel Doktor einen schweren Zusammenbruch hin. Ich kann auf Stichwort heulen wie ein Schloßhund. Das ist eine meiner größten Stärken als
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Schauspieler, daß ich einfach den Wasserhahn aufdrehen kann. Meine Spezialität seit dem Kinderballett. Ich habe einen Sturz markiert und losgeheult, bis sich alle über mich beugten und mich ins Krankenhaus bringen wollten. An dem Punkt bin ich lachend aufgesprungen und habe weitergespielt. Autschi haben sie mich genannt. Ich brauche keine Glyzerintropfen, Zwiebelscheiben, kein SenseMemory. Stanislawski, Meisner, Strasberg? Nicht für mich. Ich kann weinen, wann immer und wo immer ich will. Ich meine, herzzerreißend. Oscarträchtig. In jedem Stil. Ich kann euch das anschwellende Jammern hinlegen, die schlichte Träne, das haltlose Schluchzen, das selige Zerfließen, das wütende Geheul, was immer ihr wollt. Wenn die Filmindustrie Doubles zum Weinen bräuchte, wäre ich der gemachte Mann, das sage ich euch. Ich kann euch perfekte Titten und Ärsche heulen.« Lannigan tippt an seine Stirn, an die Stelle, wo der Bauer das Schwein erschießt. »Ich muß nur diesen Muskel hier spielen lassen, den Kiefer anspannen, daß es in den Ohren ploppt, schon überkommt mich dieses Gefühl der Traurigkeit. Das ist fast wie Gähnen, ein Gähnkrampf, der sich hinter meinen Augen aufbaut, nicht weil ich an meine tote Schwester denke oder meine tote Katze oder meine toten Freunde, sondern weil ich meine Mimik in die Weinposition zwinge.« Während Lannigan redet, geht sein Gesicht aus dem Leim. Die Worte bleiben ihm in der Kehle stecken, suchen einen Ausweg durch die Nase. »Ich komme an den Punkt, und meine Augen machen mit.« Seine Stimmbänder krampfen sich zusammen. »Ich weine ohne Grund, und was ich sage, klingt wie aus tiefstem Herzensgrund.« Jetzt heult er zum Gotterbarmen, sein Brustkorb bebt vor Hyperventilation, als bliebe ihm die Luft weg. Er preßt die
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Hände an die Schläfen, krümmt sich in Qualen, Tränen würgen ihn. Selbst sein Rotz scheint mitzuspielen. Alle Energie im Zimmer konzentriert sich auf Lannigan. Er ist elektrisiert vom Leid. Lieber würde Billy sehen, wie er Sex macht oder wie er von Kugeln zerfetzt wird. »Was immer ich sage«, redet Lannigan weiter und fängt sich wieder, »klingt so real, so gewichtig, weil meine Tränen hundert Prozent echt sind. Und darin bin ich unschlagbar. Es müßte nur Hauptrollen im Film oder Theater geben, die ständig heulen.« Er wischt sich die Tränen ab, schnieft und holt tief und zittrig Luft. »Manchmal weine ich in der Öffentlichkeit und warte, daß mich jemand tröstet. Es klappt immer.« »Wie charmant«, sagt Billy. »In meiner Familie wird nicht viel geweint«, sagt Do mehr zur Zimmerdecke als zu Lannigan oder Billy. »Einmal sah ich meinen Vater weinen. Das war, als mein Großvater starb. Nicht daß mein Vater so an meinem Großvater hing, oder irgendeiner von uns ihn wirklich mochte. Mein Großvater hat uns einfach so geohrfeigt, weil er das lustig fand. Er hat mir eine geklatscht, nicht doll, aber doll genug, dann hat er gelacht und gemeint: ›Beweis erst mal, daß du was anderes verdient hast.‹ Ich glaube, er dachte, mein Vater würde mich und alle anderen Söhne verweichlichen, was ein Witz ist, wenn ihr meinen Vater kennt. Der konnte richtig zum Ungeheuer werden – wie Hulk. Aber ich glaube, mein Großvater sah in ihm nur den harmlosen Bruce Banner. Geschlagen hat er uns nie, mein Vater. Er stürzte sich auf uns, und im letzten Moment blieb er stehen« – Do macht die erhobene Faust nach –, »und wir haben auf das Donnerwetter gewartet. Ich schwöre, man konnte sehen,
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daß er zuschlagen wollte, ein kleiner Hieb, was schadet der schon, und gerade wenn man sich drauf eingestellt hatte, wenn man dachte, heute schlägt er wirklich zu, machte er einen Rückzieher und zerschlug irgendwas im Haus. Es war wie, ich weiß nicht, als würde er gegen seinen... Instinkt ankämpfen.« Das Wort Instinkt klingt in seinem Mund heimtückisch, als müßten sich die Lippen vor den Zähnen in acht nehmen. »Du kommst vom Thema ab«, sagt Lannigan und spielt den Filmboß, der sich einen Pitch anhört. »Was?« »Deine kleine Story über den weinenden Vater.« Billy möchte, daß Do aufhört, daß er die Klappe hält, zu seinem eigenen Vorteil. Diese Treuherzigkeit ist gefährlich, besonders wenn Lannigan zum Publikum gehört. Behalt es für dich, denkt Billy, entblöß dich nicht vor solchen wie uns. Aber Do läßt sich nicht bremsen. Er scheint entschlossen, seine Geschichte zu erzählen, als würde die Decke einstürzen, wenn er jetzt aufhört. »Als mein Vater weinte, kamen wir von der Beerdigung meines Großvaters zurück. Ich war der einzige Sohn, der mitkam, weil meine großen Brüder auf Arbeit waren oder was weiß ich. Sie hatten ihre Krache mit Dad schon hinter sich und sprachen nicht mehr mit ihm. Ich war also mit ihm allein. Ich war zwölf, vielleicht, wir fuhren vom Friedhof nach Hause, aus der Stadt heraus, in der mein Vater aufgewachsen ist, vierzig Meilen entfernt. Ich glaube, er war in nostalgischer Stimmung oder so ähnlich, denn er redete wie sonst nie, normalerweise ist er sehr schweigsam. Er war auch schon am Sterben, nicht daß er es wußte oder irgendeiner von uns, aber er hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er muß sich
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ganz schön mies gefühlt haben. Keine sechs Monate später war er tot. Ich weiß noch, daß er fuhr, als würde ihm jedes Schlagloch die Knie aufschürfen. Bei der Beerdigung dachten die Leute wahrscheinlich, er wäre verkatert, was sicher stimmte, weil er schwer gesoffen hat, aber ich glaube, es lag am Krebs, daß er so schlecht aussah.« »Scheiß-Bauchspeicheldrüse«, murmelt Lannigan. »Was macht die überhaupt anderes, außer Krebs kriegen? Du gehst durchs Leben, ohne je was von dem Ding zu hören, bis dir der Arzt eines Tages sagt: ›Ach übrigens, Ihre Bauchspeicheldrüse wird Sie umbringen.‹« »Sie produziert Insulin«, klärt ihn Billy auf. »Trotzdem ein dummes Organ«, sagt Lannigan. Dos Redefluß ist unaufhaltsam. »Auf der Rückfahrt von der Beerdigung erzählte mir mein Vater, wie sehr er seinen Vater gehaßt hat. Daß mein Großvater ein Riesenarschloch war. ›Was immer du über mich denkst: Multipliziere das mit einer Million, und dann hast du ihn«, sagte er. Also fragte ich, ob er nicht doch ein bißchen traurig ist, und er sagte, nein, sein Grab war schon lange ausgehoben, es mußte nur noch zugeschüttet werden. Dann wurde er still, unheimlich still, als wollte er gleich losschreien und mich erschrecken, was er manchmal machte, weil er das lustig fand. Statt dessen erzählte er mir, daß er seinen Vater ein einziges Mal hatte weinen sehen, viele Jahre zuvor, als er selbst noch ein Junge war. Mein Großvater nahm ihn mit auf die Hirschjagd, ich glaube, sie gingen abends los und übernachteten im Wald, damit sie früh loskamen, und das muß meinen Großvater an seinen eigenen Vater erinnert haben, meinen Urgroßvater, der ein richtiges Drecksstück war, das wußte mein Vater von meinem Großvater, bösartig, hinterhältig, besoffen vom Meßwein, was soviel wie
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scheinheilig bedeutet, hat mir mein Vater erklärt. Er hatte einen ganz üblen Ruf, mein Urgroßvater, nördlich von hier, bei Vermont, wo er Verwalter der größten Apfelplantage des ganzen Staates war. Er hat die Konkurrenz dazu getrieben, ihre Plantagen zu verkaufen, indem er ihre Hunde umbrachte und die Wanderarbeiter terrorisierte und Brände legte. Kein netter Mensch. Am Ende hing er in einem Baum. Die Polizei sprach von Selbstmord, obwohl seine Hände hinterm Rücken gefesselt waren. So hieß es. Jedenfalls mein Vater hat es nie geglaubt. Das steckt bei den Ramis im Blut, sagte er auf der Heimfahrt zu mir, und er zählte ein halbes Dutzend Onkel und Cousins auf, die sich erhängt haben. Eine todsichere Methode, hat er gesagt. Wenn dir die Schlinge nicht das Genick bricht, schnürt sie dir die Kehle zu. Doppelt genäht hält besser, hat er gesagt, wir waren so gemeine Hunde, daß wir mit einem Anlauf nicht totzukriegen waren. Dann wurde er ganz still, als wäre seine Geschichte zu Ende, und das war zu erwarten, weil bei uns nicht über die Verwandtschaft geredet wird, erst recht nicht über die tote Verwandtschaft. Ich dachte, das war’s, er hat sich ausgesprochen, aber zehn Minuten später fing er wieder an.« »Leider«, sagt Lannigan. »Wie sie gecampt haben, er und sein Vater, in der Nacht vor der Jagd. Mein Großvater erzählte ihm von seinem eigenen Vater, aus der Zeit, als er etwa in seinem Alter war, dem Alter meines Vaters, vielleicht zehn, und ihm der Vater zeigte, wie man etwas reparierte. Ich weiß nicht mehr, was es war, oder mein Vater wußte nicht mehr, was es war, irgendein Spielzeug. Mein Großvater brachte das Spielzeug zu seinem Vater, und der zeigte ihm, wie man es reparierte. Etwa so. Und nachdem er das Spielzeug repariert hatte,
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bedankte sich mein Großvater und fing an, damit zu spielen, einem Auto, glaube ich, wenn es damals schon Autos gab. Vielleicht ein Karren, ein Spielzeugkarren, etwas mit Rädern. Und als mein Urgroßvater meinen Großvater spielen sah, fing er grundlos zu weinen an, einfach so. Und das hat mein Großvater meinem Vater erzählt. Was ist daran so traurig, fragte sich mein Großvater, wenn ein Sohn mit seinem Spielzeug spielt? Wie kann einen das zum Weinen bringen? Und während er das dachte, fing er zu weinen an und konnte sich auch nicht vorstellen, was daran so traurig ist, wenn ein kleiner Junge mit einem Spielzeug spielt. Und als er das erzählte, fing mein Vater zu weinen an. Im Auto, auf der Heimfahrt von der Beerdigung. Er weinte bei der Erinnerung an seinen weinenden Vater. Das ist das einzige Mal, daß ich ihn weinen sah.« Do verstummt. Er wirkt wie aus der Hypnose erwacht und unsicher, ob er etwas Dummes gemacht hat. »Zu viele Väter«, kritisiert Lannigan. »Und am Ende hätte ich schon gern ein paar Tränen gesehen. Das wäre eine nette Zutat gewesen, wenn du auch geweint hättest.« Billy blickt an die Decke, auf die Stanzlöcher der Dämmplatten, die nach einem Schrei verlangen. Zu dieser Unterhaltung wird er nicht beitragen. Nein. Er wird Do und Lannigan nicht von seinem eigenen Vater erzählen, einem Mann, der ständig am Rand der Tränen ist. Er wird ihnen nicht vom letzten Mal erzählen, als er selbst weinte, vor den Augen des Vaters, im kleinen Garten hinterm Haus, den Mom und Dad beackerten wie eine Farm, ohne Rasen, nur umgraben, Gemüse anbauen und wieder umgraben. Abe und Doris trafen Vorkehrungen gegen einen späten Frühjahrsfrost, eine große Plane wurde über die Erde gebreitet, an zwei Enden rollten sie die blaue Plastik-
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folie aus wie die Attrappe eines Swimmingpools. Billy war vierzehn. Er schaute vom schmalen Grasstreifen am Rand des Gartens zu, in der Hand hielt er Skizzenblock und Bleistift. Er sollte für die Zeichenstunde einen Baum malen – nichts weiter, nur einen Baum, und da stand ein Baum in der Gartenecke. Ein Ahorn, eine Eiche, eine Ulme? Billy hatte keine Ahnung. Nein, er wird Do und Lannigan nicht erzählen, wie schön der Tag war, kalt und sonnig, ein Tag, an dem die Jogger ein paar Meilen mehr als sonst laufen. Der Gedanke an Frost war lächerlich, aber der Wetterbericht gab sich überzeugt, also glaubten Abe, Doris und Billy, daß es Frost geben würde. Der Baumstamm war leicht zu zeichnen, obwohl sich Billy viel zu lange mit dem Muster der Rinde aufhielt, besonders mit der Form eines Astlochs, bis der Stamm endlich echt aussah und der Bleistift nach oben wandern konnte. Abe und Doris machten sich daran, die Ecken der Plane zu befestigen, während sich Billy das Gewirr der Äste, Zweige und Blätter vornahm. Äste, die sich kreuzten wie ineinander verhakte Finger. Er wird Do und Lannigan nicht erzählen, wie schwer es war, das hinzukriegen, richtig hinzukriegen, so daß es lebendig aussah. Er holte den Radiergummi heraus, radierte einen ganzen Teil weg, bis nur noch Gummikrümel da waren, während Abe und Doris mit der Plane fertig wurden und sich den Tomaten zuwandten. Billy versuchte es noch einmal, aber wieder enttäuschte ihn die Zeichnung. Sein Baum wirkte flach. Keine Raumwirkung, keine perspektivischen Verkürzungen, kein Gefühl für Proportionen. Er radierte wieder, um alle Spuren zu beseitigen. Das Papier machte nicht mehr mit, er dachte an ein frisches Blatt, aber sein Stamm war so gut, so gelungen, den wollte er unbedingt retten. Abe und Doris hüllten die Tomaten in Säcke
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ein, jede einzelne Pflanze, die an einer grünen Stange hochwuchs. Behutsam skizzierte Billy einen Ast, aber wieder war die Krümmung falsch, überhaupt nicht so, wie sie sein sollte. Erneut mußte der Radiergummi ran. Abe und Doris arbeiteten Seite an Seite die Tomatenreihe ab, wortlos, mit einträchtigen Händen und ohne Entschuldigung, wenn ihre Schultern zusammenstießen. Sein perfekt gezeichneter Stamm überlebte den Radiergummi als gespenstischer Stumpf. Billy trieb den Bleistift übers Papier, blickte zum Baum auf, dann hinab auf die Konturen seines Scheiterns, während Abe und Doris zur letzten Pflanze kamen und den Sack knapp über dem Boden zubanden. Er wird ihnen nicht von seiner Enttäuschung erzählen, seiner Niederlage, seinem Scheitern, auch nicht davon, daß er sich unendlich verlassen vorkam und zu weinen anfing, daß er den Kopf schüttelte, weil es ihm albern vorkam, über einen lächerlichen Baum zu weinen oder überhaupt zu weinen. Seine Hände bedeckten sein Gesicht. Sein Kopf vergrub sich in das Gehäuse aus Knien und Ellbogen. Seine Eltern gingen weiter, in den kleinen Schattengarten am Ende des Grundstücks, zu dem widerspenstigen Baum. Er wird ihnen nicht erzählen, daß er jetzt plärrte wie ein kleines Kind, daß Abe das Unkraut zupfte und Doris ihm dabei half, daß sie gemeinsam in der Erde wühlten und ihren Sohn gar nicht zu bemerken schienen, daß Billy eine tröstende Hand auf seiner Schulter herbeisehnte, daß sie die unerwünschten Triebe freilegten, bis die Wurzeln nachgaben, und schon ein kleiner Haufen entstanden war, als Billy aufstand und ins Haus ging. Auf keinen Fall wird er seinen Zimmergenossen etwas davon erzählen. Statt dessen verfolgt er, wie Do zur Uhr aufschaut und dann den passenden Vers im Lukas-
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Evangelium sucht. Billy stellt sich eine endlose Kette von Vätern vor, Rami-Väter, die sich hinter Do aufreihen, Rami entzeugt Rami, bis zurück ins Alte Land (wo immer das sein mag), zurück bis nach Palästina, nach Eden, zurück bis zum Beginn, wo Adam seinen Söhnen Kain und Abel erzählt, daß er seinen Vater ein einziges Mal weinen sah.
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20 Do UND SEINE GESCHICHTE, dazu der Anstaltscharakter dieses Hauses, die zähe Langeweile, die täglichen Tabletten, der ekelhaft saubere Geruch, das fade Essen, die langen, hellen Flure, die offenen Türen mit den immergleichen Halbschlafszenen, die Schwestern, die weit davon entfernt sind, Leben zu retten, die unheimliche Allgegenwart der Zeit in Gestalt der Uhren, fast wie ein Atmen – bestenfalls unbewußt, schlimmstenfalls bewußt –, all das ruft Billy an ein Telefon, das vor drei Jahren geklingelt hat. »Billy Schine, bitte. Hier ist Abe Schine, sein Vater.« Natürlich erkannte Billy die Stimme. Diesen nervösen Tonfall, das kurze Zögern zwischen Denken und Sprechen, als wäre jedes Wort falsch gewählt und bedürfte weiterer Klärung. Sein Vater ist der König der Umstandskrämer. »Abe« war immer die bevorzugte Anrede. »Vater« mit all seinen Koseformen wurde vor Jahren fallengelassen, nicht wegen liberaler Auffassungen, sondern einfach, weil diese Bezeichnungen nie wirklich zutrafen. Einmal, als Billy fünf war, rief er Abe »Schlaf gut, Daddy« zu, worauf Abe zusammenzuckte und sagte: »Nenn mich ab jetzt einfach Abe. Nicht mehr Daddy, nur Abe. Auf Hebräisch ist es fast dasselbe, also bleib gleich bei ›Abe‹. Okay? Gute Nacht.«
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Deshalb sagte Billy »Hallo, Abe« ins Telefon. »Billy?« »Ja, Abe.« Seine Geduld wurde mal wieder strapaziert. »Ich brauche deine Hilfe. Deine Unterstützung. Einen Gefallen. Könntest du nach Hause kommen?« »Ich hab reichlich zu tun.« »Nur für einen Tag. Donnerstag. Das ist in drei Tagen. Es muß nicht mal der ganze Tag sein, nur Vormittag und Nachmittag. Zu den Elfuhrnachrichten bist du wieder zurück.« »Ich weiß nicht«, sagte Billy. Es klang wie Kommt gar nicht in Frage. »Im Moment ist hier die Hölle los. Ich stecke bis über die Ohren im Streß – Steuern und so.« Es sollte klingen, als hätte sein Zeitjob mit dem 15. April, dem Abgabetermin der Steuererklärungen, zu tun, aber zu der Zeit las er Korrektur für einen Teenager-Versandhauskatalog, was wegen der peppigen Szeneausdrücke und der jugendgemäßen Syntax ein Ding der Unmöglichkeit war. Was machte man mit Wörtern wie geilomat und schickimax und oberphatt? Wo sollte man anfangen, wenn man einen Satz wie diesen fand? Also, hipper Knabe, klar weißte was abgeht, logo, yeah, absoluuut!, er macht suuuuperdicke Glubschen, wenn er dich in d. geblümten Hosenanzug m. passendem Cap und Tretern ($ 49.95) aufkreuzen sieht, Go Girl Camo heißt das heiße Teil, weil er dich nur peilen muß u. Bang! isser tot! Da konnte Billy überall nur sie mit dem Rotstift an den Rand schreiben, sic mit Fragezeichen: sic? sic? sic? Das wurde zu seinem Mantra, das sic bei jedem absichtlichen Fehler, das sic als Regel seines eigenen sic Lebens. Er hätte es genausogut als Tattoo auf der Stirn tragen können. »Wir brauchen dich«, sagte Abe. »Äh ...«
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»Es ist wegen deiner Mutter. Sie ist krank, es geht ihr nicht gut, ziemlich schlecht, genau gesagt. Sie ist krank.« Sofort kam ihm Krebs in den Sinn. Schlaganfall. Herzinfarkt. Operation, Chemotherapie, Bestrahlung wirbelten gleich hinterher, Krankenhausaufenthalte, Monate der Genesung und vielleicht, am Ende, Pflegeheim, gefolgt von Trauerrede, Beerdigung, Blumen auf dem Grab. Billy war bereit. Er war darauf eingestellt. Er hatte diesen Anruf entweder von seinem Vater oder seiner Mutter erwartet, die Nachricht von der Erkrankung des jeweils anderen. Er hatte seine Reaktion eingeübt, seine Rede am Totenbett entworfen, seine veränderte Beziehung zum jeweils Überlebenden inszeniert. Tauwetter nach all den Jahre der Kälte, fünf Minuten vor Zwölf. Vielleicht ein bißchen sentimental, aber Gefühle brauchten einen Souffleur, und der beste Stichwortgeber war immer noch der Sensenmann. Wenn der an die Tür klopfte, konnten sie ihren frostigen Waffenstillstand beenden und endlich Frieden schließen. Nicht daß es je Krieg zwischen ihnen gegeben hatte. Zum Krieg gehörten Schlachten, und zu Schlachten war es nie gekommen. Wohl aber zu Spannungen. Oft kamen sie ihm vor wie die häusliche Version des atomaren Patts: Wer als erster losbrüllte, konnte damit die ganze Welt zerstören. »Was hat sie denn?« fragte Billy. Er war unzufrieden mit seinem Ton (zu schroff), also fügte er an: »Geht’s ihr gut?«, was angemessener klang, wärmer, authentischer, und ihm, als es gesagt war, ein schales Gefühl bereitete, weshalb er ein gemurmeltes »Ich hoffe.« nachschob. »Sie hat Alzheimer«, sagte Abe. »Alzheimer?« »Alzheimer«, wiederholte Abe mit einem vagen Anklang an seine Muttersprache. Billy war verblüfft. Alzheimer hat-
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te er nie in das Inventar elterlicher Untergangsszenarien einbezogen. Alzheimer wirkte um so vieles bedeutsamer als seine Mutter. Wie einer von Sameers Showstars, der an ihrer Seite posiert. Das ist meine Mom, zusammen mit Alzheimer. Die schrecklichen Auswirkungen – der langsame Verfall von Gedächtnis und Lebensfunktionen, das Zurücksinken in die geriatrische Pädiatrie – klangen wie eine Metapher, die vom Wundbrand befallen war. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Billy. »Ich weiß«, bestätigte Abe. »Es ist schrecklich.« »Ich bin schockiert.« »Ja, schrecklich.« »Ich kann’s mir nur vorstellen.« »Nun ...« »Mein Gott, ich bin« – gewichtige Pause – »so betroffen. Deinetwegen. Und ihretwegen natürlich. Aber du, mein Gott, diese Härte. Das ist nicht fair.« »Nun...« »Einfach tragisch, weißt du.« »Ich weiß.« Sie hätten eine neue Sprache erfinden können, die immer schön vage blieb. »Kommst du also nach Hause?« versuchte es Abe erneut. Billy – »Absolut!« – sagte ohne Zögern zu. »Ich komme sofort nach Hause«, sagte er. »Ich bleibe sogar eine Weile. Wirklich. Ich will es so. Um da zu sein. Ganz sicher. Wir gehen diese Sache zusammen an, als Familie, das ist wichtig, glaube ich. Wir drei. Wir werden ein Team sein. Ich möchte so viel Zeit mit ihr, mit euch verbringen wie nur möglich, bevor es noch« – Billy war schockiert von der Naturhaftigkeit seiner Worte – »schlimmer wird. Nein, ich komme nach Hause. Beschlossen. Vielleicht ziehe ich wie-
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der zu euch und helfe oder was immer zu tun ist, bis wann immer.« Diese Sensibilität, das Anständige seines Verhaltens, brachten ihn an den Rand der Tränen. »Ähh«, kam es durch die Leitung gekrochen. »Ich versuche, gleich morgen einen Flug zu kriegen.« »Es eilt nicht«, sagte Abe. »Wir brauchen dich nur am Donnerstag, 22. April, zwölf Uhr mittags.« »Aber ich kann schon morgen kommen. Kein Problem. Die Arbeit kann warten.« »Aber wir brauchen dich am Donnerstag.« »Was ist denn los am Donnerstag?« »Sie kommt in ein Pflegeheim, betreutes Wohnen, und wir ...« »Ein Pflegeheim?« »Betreutes Wohnen.« »Schon?« »Ja.« »Das geht aber schnell.« »Ich hab es versucht, solange ich konnte«, sagte Abe wie zur Entschuldigung. »Ich hab mir wirklich große Mühe gegeben. Als es mit ihr ...« – er stockte und suchte vergeblich nach dem passenden Wort –, »nahm ich Urlaub und blieb zu Hause, aber ich bin mit der Pflege überfordert. Sie braucht professionelle Betreuung rund um die Uhr, ich habe keine Wahl. Ich kann kaum ...« »Moment. Wie lange geht das schon so?« Billys Magen krampfte sich zusammen. »Sie beschmutzt sich, sie ißt nicht.« »Abe, wie lange geht das schon so?« »Daß sie sich beschmutzt und nicht ißt? Etwa drei Monate.« »Nein, Abe. Wann wurde die Diagnose gestellt?«
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»Diagnose?« »Ja.« »Vor etwa vier Jahren«, sagte er beiläufig. »Aber ich habe es lange geahnt. Sie wurde so anders und vergeßlich, natürlich. Zerstreut. In gewisser Weise war das eine Erleichterung, weil ich dachte, sie würde mich verlassen wegen einem anderen. Ich dachte, sie hätte einen Liebhaber, eine leidenschaftliche Affäre, die sie verrückt machte. Das hab ich gedacht. Ich dachte, sie würde mich für eine Weile verlassen.« »Vor vier Jahren?« fragte Billy zurück. »Ja, vor vier Jahren. Ich bin ihr sogar nachgegangen, weil ich überzeugt war, daß sie einen anderen hatte. Ich war so aus der Fassung, daß ich sie verfolgte und sie im Park dabei erwischte, wie sie Erde aß. Erde! Wer ißt Erde außer den Verrückten? Sie aß Erde wie ein krankes Tier. Ich rannte zu ihr, sie sah mich, und ich war ein Niemand für sie. Ich brachte sie nach Hause. Am nächsten Tag wußte sie nichts mehr davon. Ich frage mich, was sie an den anderen Tagen gemacht hat, als ich ihr nicht nachgegangen bin.« »Sie hat Erde gegessen?« »Oder Schlimmeres.« »Und das war vor vier Jahren?« »Das mit der Erde, dann der Arzt, die Diagnose, ja, vor vier Jahren. Etwa.« »Du weißt es also seit vier Jahren?« »Offiziell, ja.« »Und hast mich nicht benachrichtigt?« »Wir wollten dich nicht damit behelligen.« Billy ließ die Schultern sacken, atmete alle Luft aus und gab der Trauer für kurze Zeit Raum in seiner Brust. Auch der Empörung. Raum für vier Jahre. Billy hielt den Atem an
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und wartete, daß das Brennen begann, das Brennen, das seine Hoffnung auf die simple Erwartung des nächsten Atemzugs ausrichtete, damit sein Jammer, wenn er die Eltern aus seinem Herzen vertrieb, aus lauter Luftmangel abgemildert wurde. »Billy?« »Ich bin froh, daß du es mir jetzt sagst«, sagte er ohne Bitterkeit oder Ironie. »Wir dachten, du solltest es erfahren.« »Donnerstag also.« »Ja. Und wenn du dir ein Auto mieten könntest.« Als echte New Yorker hatten seine Eltern nie fahren gelernt. Sie hielten sich an die Busse. »Ich weiß nicht, Abe«, sagte Billy. »Ich werd’s versuchen, aber ich weiß nicht.« »Wir brauchen dich jetzt«, sagte Abe kalt, als würde er einen Schläferagenten aktivieren. »Ich gebe dir Bescheid, ob ich’s schaffe, aber wenn es nichts wird, komme ich bald mal. Versprochen. Aber Donnerstag, da bin ich mir nicht sicher.« Der Schmerz in seiner Stimme hätte genausogut aus seinem Wurmfortsatz kommen können, rudimentär und ohne sinnvolle Funktion. Aber warum ihnen helfen? Sollten sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Sollten sie sterben, wie sie gelebt hatten, für sich allein, im Exil, ohne einen Menschen, der das Bild bereichert hätte, abgesehen von dem unscharfen kleinen Jungen, der gelegentlich im Hintergrund herumhing. Vier Jahre ohne ein Wort, bis sie ihn für irgendeine Handreichung brauchten. Vier Jahre ahnungslos in New York, Exil im Exil, während seine Mutter dahinschwand, während sich sein Vater an das letzte bißchen Wärme klammerte, das er sich nun bei Billy holen wollte. Wie sagte Philip Larkin in
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dem Gedicht über Eltern und wie sie einen kaputtmachen? Aber unter dem Stichwort Eltern kommt Philip Larkin in seinem Zitatenlexikon nicht vor. Charles Dickens immerhin: »Ihr habt nichts gegen bejahrte Eltern einzuwenden, so hoffe ich«, schrieb er in Große Erwartungen. Nein, denkt Billy, nichts gegen bejahrte Eltern, außer daß Altern etwas Gemeinsames sein sollte, ein langsames Fortschreiten, ein natürlicher Austausch zwischen Kind und Eltern – oft ist gerade diese Konstellation die fruchtbarste, wenn man miterlebt, wie Mom und Dad langsam auf den Tod zugehen, auf das Ende zu, wo sie zur Erinnerung werden. Aber was, wenn sich Eltern an ihrem Kind stören, ohne ersichtliche Gründe? Was, wenn es ihnen ständig Kopfschmerzen bereitet, wenn sie sich ihrer Zweisamkeit beraubt sehen, sobald es Zeit für sich fordert – die Familie als Nullsummenspiel, Mutter und Vater versus Mann und Frau? Was, wenn der Vater erschöpft das Handtuch wirft und das Kind im Stich läßt, mit den bloßen Bausteinen der Zuwendung in eine Ecke setzt – wie einen genetischen Kostgänger, der seinen Platz mit stillem Gehorsam verdient? Nein, Billy verübelt ihnen das Altwerden nicht. Aber er ist eifersüchtig auf den Tod und sein letztes, unrevidierbares Urteil. Oscar Wilde hat da gar nicht unrecht, denkt Billy: »Zuerst lieben die Kinder ihre Eltern; dann kritisieren sie sie. Selten, wenn überhaupt, verzeihen sie ihnen.« Oder Bacon: »Ihre Freuden behalten Eltern für sich, aber auch ihre Ängste und Kümmernisse.« Doch das letzte Wort gebührt Horaz: »Was bleibt denn vom Zahn der Zeit verschont? Unsere Eltern sind ärger als unsere Großeltern, und sie haben uns erzeugt. Noch unwerter ist, wer bald eine noch ärgere Generation heranzieht.« Das hat Billy selbst übersetzt.
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21 AM MITTWOCH, dem fünften Tag, muß Billy aus dem Zimmer flüchten. Seit sie vom Mittagessen zurück sind, steht Lannigan vor dem Badezimmerspiegel und rasiert sich. Die kräftigen Anflüge eines Bartes, sicherlich mehr, als Billy in der doppelten Zeit zu bieten hätte, werden in Raten wegrasiert. Alle Naselang schaut Lannigan herein und fragt: »Wie sieht das aus?« Aus dem Wikinger wird ein Heavy-Metal-Rocker, dann ein Amish, ein Hipster, ein Swinger, ein Hitler, ein Nichts. Sein Gesicht bespritzt er mit Wasser, als wollte er für die kühlende Wirkung von Aloe vera werben. Hochnäsig reckt er die Oberlippe gen Spiegel, um nach vorwitzigen Nasenhaaren zu fahnden. Hoppla, das sind ja welche. Schon hat er ein winziges Scherchen zur Hand – schnipp-schnipp, alle weg. Als nächstes kürzt er die Löckchen um die Ohren und stutzt seine Augenbrauen. Geschlagene drei Minuten betrachtet er sich im Spiegel, dann greift er sich ins Stirnhaar, und – »Was soll’s?« – schnippelt drauflos. Ständig fragt er »Wie sieht das aus?« Er will keine Meinungsäußerung, nur die Bestätigung seiner patentierten Macke. Do beachtet ihn kaum. Er liest seine Bibel nach Vorgabe der Lukas-Zeit. Er ist ein Eremit, das Bett ist seine Klause, und er hortet seinen Ge-
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stank unter der Decke, als wäre die Scham seine Nahrung. Worte kommen ihm nicht mehr über die Lippen. In den letzten Tagen hat er permanent geschwiegen. Aber es ist da etwas in seinen Augen. Wären sie ein Film, würden sie besagen: »Bitte tötet mich!« Aber da sie kein Film sind, erdulden sie eine weitere Minute des Leidens, einen weiteren Auftritt von Lannigan mit einem – »Wie sieht es jetzt aus?« – neuen Haarschopf in der Hand. Bitte, hau ab, sagt Billy zu sich selbst. Aber wohin? Einfach weg. Und jetzt endlich kriecht er unter der lastenden Unentschlossenheit hervor. Ein Blick in Gretchens Zimmer. Nicht da, aber Billy weidet sich an ihren Spuren. Das Bett ist zerwühlt. Im Fernseher brummelt der Wetterkanal. Socken knäueln sich auf dem Boden wie ein Wurf junger Kätzchen. Billy geht weiter, bevor aus seinem Stehenbleiben mehr gemacht werden kann als nur ein kurzes Vorbeischauen. Ein Stück weiter kommt das Zimmer von Ossap und Dullick. Dullick und Ossap sitzen auf demselben Bett. Ossap schüttelt den Kopf, als würde er nein-nein-nein-nein sagen, Dullick reibt sich wie besessen die linke Hüfte, als hätte er ein Zipperlein, das nie mehr aufhören wird. »Wir sollten wirklich früher abhauen«, murmelt Dullick. »Wir müssen früher hier weg, je früher, desto besser, je schneller wir hier weg sind. Ich weiß, bla-bla-bla, aber tut mir leid. Wir sollten wirklich früher abhauen.« »Dein Arm«, sagt Ossap. »Was?« Dullicks rechter Arm hebt sich langsam, wie die unsichere Antwort auf eine Frage. »Siehst du?« stöhnt Dullick. »Ich hab das nicht gespürt. Nicht mal gewußt hab
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ich’s. Wir sollten wirklich früher abhauen.« Ossap stößt Dullick an und zeigt mit dem Kinn auf die Tür. »Siehst du?« sagt Dullick, »du bist auch am Arsch.« »Nein, im Flur.« Aber bevor sich Dullick umdrehen kann, ist Billy weg. Im Aufenthaltsraum läuft RoboCop für ein siebenköpfiges Publikum. Die Aufmerksamkeit schwankt – sozial und pharmazeutisch bedingt –, man redet über den Film hinweg, und wie ein Barpianist findet der Verbrechensbekämpfer, halb Mensch, halb Maschine, nur dann Beachtung, wenn er sich in eine besonders jazzige Gewaltorgie hineinsteigert. Keine bequemen Plätze bieten sich an, ohne Rutsch mal rüber, Steh mal kurz auf oder Hast du was dagegen? geht gar nichts. Billy schaut die Brettspiele durch. Alle Klassiker sind vertreten. Stratego. Monopoly. Life. Risk. Trivial Pursuit. Der Kartonstapel ist eine Montage aus Regentagen und Freizeit, abgestoßene Ecken verraten die Einwirkung von Menschen, die nichts Besseres zu tun hatten. Clue. Masterpiece. Othello. Er fragt sich, ob Kinder diese LowTech-Spiele noch spielen oder ob sich nur Erwachsene dafür begeistern, die ihre Freunde zu Scrabble- oder Bogglemarathons einladen, während ihre Kinder die ekelhafte Brut graphisch überzüchteter Zombies zu Brei schießen. Schach und Backgammon gibt’s natürlich auch. Sie sind das Alte und das Neue Testament der Brettspiele – Schach für Juden, Backgammon für Christen. Die Bretter selbst sind billige Preßpappe, was Billy fast wie Blasphemie vorkommt. Diese Spiele verdienen es, in Schatztruhen aufbewahrt zu werden. Schlimmer noch, die Rückseite des Schachbretts dient als Halmabrett, was einer Konversion zu
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Scientology gleichkommt. Billy nimmt das Backgammonspiel aus dem Regal. Er hat Lust, gegen sich selbst zu spielen. Während sich Officer Murphy auf dem Bildschirm in Stahl verwandelt, sagt Karl McKay, der selbsternannte Idealamerikaner mit Bürstenschnitt und einem glanzlosen Blick, der den Secret Service allerdings stutzig machen dürfte: »Ich hab mal für die Regierung gearbeitet. NASA. Medizinische Experimente. Aber nicht solche Sachen wie RoboCop, nicht so extrem.« »Ach, wirklich«, ruft Yul Gertner. Sein geschorener Schädel wird von einem greisenhaften Haarkranz umgeben. »Du meinst, sie haben dich nicht in den Prototyp eines Cyborg-Klistiers verwandelt.« Niemand reagiert mehr auf Gertner. »Ich war auf dem Mars. Theoretisch.« »Und ich war auf dem Arsch deiner Mama.« Gertner, so viel ist klar, kann nur nerven. Billy baut das Backgammonbrett auf, während Karl McCay mit Eifer seine Arbeit für die NASA erklärt. »Das war in der Arnes Research Facility in Moffet Field, Kalifornien, eine absolute Spitzeneinrichtung. Alles vom Feinsten. Die besten Leute, die beste Ausrüstung, das beste Essen.« »Das Beste für die Besten?« nervt Gertner. »Alle richtigen Astronauten werden dort getestet.« »Und wohin gehen die falschen? Zu deinen Eltern in den Keller?« »Sie haben Normale gesucht, Normale in guter Verfassung, sportlich, gesundheitsbewußt und fokussiert, nicht irgendwelche Versuchskarnickel von der Straße, sondern Leute, die mit ihrem Körper die Physikalität von Astronauten repräsentieren.«
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Gertner neigt den Kopf. »Physikalität?« Billy denkt dasselbe. »Man mußte durch eine strenge Auslese, um überhaupt in die Studie reinzukommen«, sagt McKay... »Bestimmt wegen der Physikalität.« ... unverdrossen. »Ich und fünf andere wurden für eine hypothetische Marsmission ausgesucht. Sie hatten echte Raumanzüge für uns. Megacool. Unsere Mission hieß Harmony III, wir hatten sogar Abzeichen, wie in Wirklichkeit. Unser Job war es, die physiologischen Auswirkungen der Nullgravitation über einen längeren Zeitraum zu simulieren.« Gertner rollt mit den Augen. Billy rollt den Würfel, um zu sehen, wer anfängt. »Wir lagen in einem Bett mit sechs Grad Neigung, damit uns das Blut in den Kopf stieg, als würden wir im Weltraum schweben. Da mußten wir fünfunddreißig Tage drinbleiben, während sie uns getestet haben, Muskelmasse und Knochendichte und so weiter, dazu kamen alle möglichen Experimente, wie man die Auswirkungen der Nullgravitation ausgleichen kann.« Karl McCay nickt eifrig, was seine antipsychotisch behandelten Kiefermuskeln spontan stimuliert und seine Kinnlade ruck-ruck-ruck nach vorn schiebt. »Zum Beispiel haben sie uns aufblasbare Halsmanschetten angelegt, um uns das Blut aus dem Kopf zu ziehen. Wir sahen aus wie Michelin-Männer. Von Anfang bis Ende waren wir voller Bandagen und Schläuche und Klammern und Elektroden.« »Analsonden?« fragt Gertner. »Sie haben uns radioaktive Farbstoffe eingespritzt, sie haben uns geröntgt, wir mußten durch einen Luftsack atmen, wir mußten in die Pedale treten, und das alles in Rük-
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kenlage. Die Sechsgradneigung durften wir kein einziges Mal verändern. Sechs Grad, das klingt nach gar nichts, aber glaubt mir, sechs Grad, das spürt man wirklich.« Billy wählt Weiß für sich und Rot für Ihn, das Backgammon-Superhirn, das sogar den Verdopplungswürfel versteht, das auf eine irgendwie europäische Art würfelt, das seine Chancen und Risiken kennt, furchtlos Steine offenläßt und die leichten 3-1-, 5-3-, 6-4-Kombinationen verachtet, obwohl das phantasierte Superhirn diese Würfe gelegentlich gnädig akzeptiert wie ein standesgemäßes Glas Gewürztraminer, kredenzt von der Dame des Hauses, die über die neueste Ausgabe des Paris Match hinweg das hochriskante Spiel ihres Gatten verfolgt – die Ausgabe, auf deren Cover eine halbnackte Königstochter vom Bug einer Rennfahrerjacht ins türkisblaue Wasser der italienischen Riviera springt, während der Aufmacher ihren Gemahl zeigt, der die Stirn runzelt, als gäbe das von einer bahrainischen Königshochzeit von 1997 stammende Foto seine Reaktion auf den zukünftigen Anblick der Pendelbrüste seiner Frau wieder, die vor den Augen von zwei Millionen Lesern müde gen Himmel zeigen. Billy grinst. Vielleicht ist es das Medikament, gegen das er spielt. »Aber Fakt ist«, sagt Karl McKay und schlägt mit dem Knie aus, »man wird echt gut versorgt. Wie ein Baby, ein frühgeborenes Baby im Brutkasten. Und ringsum all die Lichter, UV-Lampen, Sonnenlampen, obwohl die Raumtemperatur schön kühl ist, so daß dir nie heiß wird, du nur ordentlich gekocht wirst. Du pißt und scheißt ins Bett, obwohl du dich in den ersten Tagen dagegen sträubst, das ist, als müßtest du mit Absicht gegen den Baum fahren, aber wenn du dran gewöhnt bist, läßt du es einfach laufen, und die Schwester macht dich sauber, du vergißt das alles und
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läßt deinen Körper machen, was er will und wann er will. Zweimal am Tag wechseln sie die Bettwäsche. Und das beste ist das Baden. Sie schieben dich auf eine Rollbahre und bringen dich zu einem Edelstahlbehälter. Nur der Kopf guckt raus, wie bei dem Zaubertrick mit der zersägten Frau. In dem Behälter sind Hunderte von Düsen, die dich mit warmem Seifenwasser besprühen, aber ganz sanft. Es müssen tausend Düsen sein, denn sie treffen jede Pore. Währenddessen wird dein Haar gewaschen, Hals und Gesicht mit dem Schwamm bearbeitet, und das ist nur noch die reine Lust. Hat nichts mit Sex zu tun oder so. Ist einfach nur angenehm. Als würde dich deine Mutter am ganzen Körper kratzen, bevor sie dich ins Bett bringt.« »Deine Mutter vielleicht«, wirft Gertner ein. Billy ist gefangen und kann sich nicht freiwürfeln, während das Superhirn – geschult in den Sommerferien in Maine, bei Backgammonmarathons mit den Brüdern und Schwestern und dem Vater, der schon seine drei bis sechs Drinks intus hatte – die Würfel rafft und mit gerade noch erlaubter Kürze schüttelt. Heraus kommen Einserpärchen, was ideal ist, um das Brett zu schließen und Billy hinter Gittern verhungern zu lassen. »Neeein«, sagt er zu sich selbst, als das Superhirn, beruflich ein Versager, der sich nur so durchmogelt, seine Jungs aus der Kälte holt und vom Brett räumt, ab und zu einen Blick auf den gefangenen weißen Stein wirft und sich fast einen schlechten Wurf wünscht, die winzige Gefahr eines Comebackdramas – aus jener Anwandlung des Mitleids heraus, die schon Hunderte herzzerreißende Niederlagen in einer Unzahl von Sportarten verursacht hat. »Und in der Nacht«, redet Karl McKay weiter, »wenn sie das Licht ausmachen, sieht man phosphoreszierende Ster-
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ne an der Decke, aber die sind besser als die phosphoreszierenden Sterne, die man kaufen kann. Extra für die NASA hergestellt. So, wie man sie von der südlichen Hemisphäre des Mars sehen würde, und aus dieser Entfernung ist die Erde nur ein bißchen heller als die übrigen Sterne. »Was haben sie gezahlt?« fragt Rodney Letts. »Viertausend.« »Nicht schlecht.« Im Unterschied zu den meisten anderen sieht Rodney besser aus als je zuvor – regelmäßig gebadet, ordentlich rasiert und mehr als anständig ernährt. Seine Identitätskarte hängt an ihm wie das Bindeglied zwischen dem, der er einmal war, und dem, der er bald wieder sein wird. Sein vorübergehend gebessertes Aussehen verleiht ihm ein majestätisches Flair, als würden Könige aus den einfachsten Zutaten gebacken. Nur mit der Haut stimmt etwas nicht. Oder vielleicht wegen seiner Haut. Sie ist so trocken, so über alle Maßen ausgetrocknet, daß sich ständig rote Flecken auf ihr ausbreiten wie Steppenbrände. Eine Schwester hat ihm – privat – eine Tube Lubriderm gegeben, das er mit pedantischer Regelmäßigkeit anwendet, er quetscht einen Klacks in die Handfläche, zerreibt ihn mit den Händen und – aaaah! – befeuchtet seine Wangen wie auf Edvard Munchs berühmtem Gemälde, umgetauft in Schnelle Abhilfe. »Ich habe zehn Zentimeter Größe verloren«, sagt Karl McKay. »Also ist er nur noch zwei Zentimeter lang. »Gertner reckt triumphierend den Arm in die Höhe. »Körpergröße, meinte ich, und ich hab sie wiederbekommen.« »Da hast du aber Glück gehabt. Die Regierung kann
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dich auch zum Krüppel machen«, meint Rodney. Hyper-Stew Slocum nickt. Seine medikamentenbedingte Akinesie verwandelt das Nicken in ein autistisches Schaukeln, seine Hüften übernehmen die Arbeit des Genicks. »Ich hab da von einer Regierungsstudie gehört«, sagt er. »Sie spritzen dir was ein und tätowieren dir was auf die Fußsohlen. Wenn du stirbst, packt der Leichenbestatter Steine in den Sarg und schickt deine Leiche an ein Regierungslabor. Dafür zahlen sie dir zehntausend Dollar. Bar auf die Hand. Und sie wollen nichts weiter als deine Leiche.« »Blödsinn«, sagt Herb Kolch. »Ich hab es so gehört.« »Habt ihr das von der Herzstillstandstudie gehört?« fragt Rodney. »Die in dem ausgehöhlten Berg in Colorado?« fragt Stew. Herb Kolch versprüht seine überflüssige Spucke. »Das kannste voll vergessen!« »Ihr werdet lachen, aber die gibt es wirklich.« »Die, von der ich gehört habe, war in Texas«, sagt Rodney. »Ich hab gehört, auf den Bermudas«, sagt Karl McKay. Rodney gibt seine Version zum besten: »Die, von der ich gehört habe, zahlt dir zwanzig Riesen, damit sie dein Herz für drei, vier Minuten zum Stillstand bringen und diese neue Superdroge gegen Herzinfarkt an dir ausprobieren können. Mit dem Risiko von fünf zu eins, daß du stirbst. Also für immer stirbst.« Billy blickt auf vom Backgammon und läßt seinen Superhirnpartner – du bist gut, du bist sehr gut, aber ich bin besser – im Stich. Er denkt an Honeysack und seine Forschun-
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gen. »Ich habe gehört«, sagt Karl McKay, daß das Risiko zu sterben, also richtig zu sterben, bei drei zu eins liegt. Sie halten dein Herz an und tauchen dich in flüssigen Stickstoff, und das machen sie auf den Bermudas, weil da die Gesetze viel lascher sind.« »Ist doch Stuß«, sagt Herb Kolch. »Noch nie von Kryogenik gehört?« fragt Karl McKay. »Lächerlich!« »Aber es ist wahr!« »Das weiß ich selber«, sagt Herb. »Aber das passiert nicht auf den Bermudas, und es wird keiner in flüssigen Stickstoff eingelegt, damit er irgendwann in der Zukunft geheilt oder geklont oder was weiß ich werden kann. Ich weiß, wovon du redest. Ich hab es selbst gehört. Das ist eine Studie, die fünfundzwanzigtausend oder dreißigtausend Dollar bringt, und das entspricht so etwa dem Risiko, dabei draufzugehen. Aber hundert Jahre lang soll keiner eingefroren werden. Das ist eine kurzfristige Sache, eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalb Stunden vielleicht. Sie senken deine Körpertemperatur, bis du praktisch tot bist, also Eiswasser in den Adern hast, und dann machen sie mit dir, was sie wollen.« Billy stellt sich vor, er ist tot, nicht ganz tot, aber nahe dem Tod. Er schwebt aufwärts, den angeklebten Sternen über Karl McKays Raumliege entgegen, in eine perithanatische Finsternis hinein, und hofft auf irgendein weißes Licht in der Ferne, selbst wenn es von den Chemikalien in seinem absterbenden Gehirn herrührt, die Rezeptorzellen saugen seine ersterbenden Emotionen auf, eine Stimme greift nach ihm wie eine Hand, warm und wissend, komm zu mir, sagt sie, und laß dich lieben; sie zieht ihn hinein zu
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den anderen und läßt ihn erst los, als die Welt unter ihm die Tür eintritt, das Licht anknipst und guten Morgen sagt. RoboCop zerballert wutentbrannt die Bösen, die sich in der stillgelegten Fabrik verschanzt haben. Das Blutbad ist saftig genug, um das Gespräch im Aufenthaltsraum zum Erliegen zu bringen und die Aufmerksamkeit auf den Bildschirm zu lenken. Einer der Schurken wird gerade in einer Giftbrühe ertränkt. Sein Fleisch schmilzt, seine Kehle schwillt überdimensional an. Billy kennt den Schauspieler aus einem anderen Film, es ist der rote Lockenkopf von Farne, der »I sing the body electric« gesungen hat. Jetzt taumelt er über die Straße und fleht seine bösen Kumpane um Hilfe an, die aufschreien, als sie ihn sehen. Billy spürt förmlich die Wucht des Aufpralls, als der liebe junge von Farne vom Truck erfaßt wird und zerplatzt wie ein mit Schleim gefüllter Luftballon. Billy kommt ins Zimmer und überrascht Lannigan zusammengeduckt vor Dos Bett. Lannigan ist nackt und völlig unbehaart – wie ein vormenschliches Wesen. Kopf, Brust, Unterleib, Arme, Beine, Achselhöhlen, Augenbrauen sind rasiert. Sein Schwanz hängt ohne das Proszenium der Pubes nach unten und scheint beklommen auf das Angebot der Publikumsmitwirkung zu reagieren. Eigentlich wirkt der ganze Lannigan bei weitem zu intim, ungeachtet seiner Nacktheit – als würden die Grenzen der Persönlichkeit durch eine kleine Armee von Haaren bewacht. »Ich habe mich vergessen«, erklärt er Billy. »Ich glaube auch«, sagt Billy. »Ich konnte nicht aufhören.« Er scheint durch eine Maske zu blicken. »Sie wurden kürzer und kürzer, bis ich sagte: scheiß drauf, und alle abrasiert habe. Das fühlte sich gut an, ganz leicht und kühl, als hätte ich zehn Pfund abge-
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nommen.« Lannigan reibt sich die badekappenartige Kopfschwarte. »Sieht nicht schlecht aus, oder?« »Nein, nicht schlecht«, lügt Billy. »Irgendwie exotisch.« »Ich würde sagen: außerirdisch.« »Ich wollte mir schon immer den Kopf rasieren. Unter den Armen, das war eher Zufall. Mein Kopf fühlte sich so glatt an, da wollte ich sehen, wie glatt ich im ganzen werden konnte, mein glattest-mögliches Ich. Ich habe mich nach unten gearbeitet. Das ist richtig irre«, sagt er und streicht über seine Brust. »Als wäre ich unter Wasser.« Lannigan springt auf, reckt sich so weit wie möglich in die Höhe, stellt sich auf die Zehenspitzen und streckt beide Hände aus wie ein Alien, das nach seinem Heimatstern greift. »He, ich bin impulsiv«, sagt er und läßt die Arme wieder sinken. »Ich hab mich ohne Grund am ganzen Körper rasiert. Ich hätte mir auch die Kimme rasiert, wenn Do mir geholfen hätte.« Do hat sich zum Fenster gedreht. »Was soll ich sagen? Ich bin verrückt!« Lannigan tappt wie ein Höhlenmensch ins Badezimmer und betrachtet sich im Spiegel. »Okay, das mit den Augenbrauen könnte ein Fehler sein«, stellt er nüchtern fest. »Ich hab die eine rasiert, da saß ich in der Klemme.« Seine Augen blinzeln unter einer endlosen Einöde aus Stirn. »Sehe ich wirklich so furchtbar aus?« fragt er Billy. »Du siehst aus, als hättest du dich gerade am ganzen Körper rasiert.« »Mir wäre wohler, wenn ich die Augenbrauen behalten hätte«, sagt er. »Das war blöd. Ich meine, ich soll den Voltimand spielen und habe auf die Zweitbesetzung von Rosenkranz oder Güldenstern reflektiert. Vielleicht sogar
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Hamlet. Warum nicht? Ich bin der geborene Hamlet. Ich wäre ein großer Hamlet.« Lannigan blickt wieder in den Spiegel. Sündiges Fleisch, unerlöst. »Wie lange dauert es, bis eine Augenbraue nachwächst?« fragt er. »Keine Ahnung«, sagt Billy. »Eine Weile vielleicht.« »Möglich.« »Was bin ich doch für ein Idiot«, seufzt Lannigan. »Vielleicht kann ich das als Nebenwirkung verbuchen.« »Was auch immer. Aber zieh dir was an.« Lannigan bleibt nackt. Er macht einen Buckel, humpelt zur Tür und lugt mit Stummfilmgestik in den Flur. »Ich könnte ja mal den Blitzer und Flitzer spielen.« Und schon ist er weg, kein Voltimand mehr, denkt Billy, erst recht kein Hamlet, sondern der arme Tom von Bethlehem, der mit kahlgeschorenem Verstand und amphibischen Gelüsten vom Ufer des überhitzten Ehrgeizes ins grüne Tuch des Tümpels springt.
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22 BILLY KANN GEHEN, wohin er will, das Fernsehen folgt ihm, und überall, wo ein Bildschirm flimmert, taucht Chuck Savitch auf. ABC, NBC, CBS, FOX, PBS, UPN, WB, CNN, MSNBC, CNBC, FNC, PAX und E! verwenden eifrige Reporter und wertvolle Sendezeit auf die Story. Nachrichtensendungen gleiten wie der Rentierschlitten von Santa Claus auf wundersame Weise durch die Nacht – ob Dateiine, Nightline, Primetime Live, Dateline Nr. 2, 48Hours, 20/20, Extra oder Inside Edition – und bringen ihre Botschaft, hübsch verpackt und mit Schleifchen versehen, in jedes Haus. A&E hat sein Programm umgestellt und berichtet eine Woche lang von Heiligen, Märtyrern und Wundern. Heute ist die heilige Katharina dran. 700 Club ist am Schauplatz des Geschehens, Pat Robertson und der weißhaarige Schwarze, dessen Name nie hängenbleibt, preisen ihr VHS-Video Verzückung an ($ 19.90), das alle Engel behandelt. Eine Expertenrunde macht die Millenniumsangst als mögliche Ursache aus, zusammen mit O. J., Monica, der vierundzwanzigstündigen Dauerberieselung mit Nachrichten und dem sinkenden Niveau des amerikanischen Journalismus, gegen das sie mit geschminkten und rosa gepuderten Gesichtern ankämpfen – wie Schiiten, die
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sich selbst kasteien, aber mit Riemen aus Seide. Der übliche Müll, denkt Billy. Schalte weiter, und du siehst dasselbe in anderen Farben. Klick. Pilger versammeln sich um das Haus von Lily Savitch, der Mutter von Chuck. Die Menge, von oben gefilmt, sitzt auf dem Rasen, singt und betet unter der heißen Sonne von Wisconsin, der Hubschrauber wirft einen habichtartigen Schatten. Sie halten Wacht, sie bezeugen, sie warten auf eine Erscheinung oder vielleicht sogar eine Audienz. »Der Herr zeigt sich so selten in dieser unserer Zeit«, sagt Frank Vernon aus Chester, New York. »Man sucht Ihn, wo man kann. Und man sieht Ihn, auch wenn Er es gar nicht ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Die Pilger kommen aus allen Landesteilen, aber sie könnten im selben Supermarkt eingekauft haben. Sie könnten alle miteinander verwandt sein, es geht zu wie bei einem Familientreffen. Kinder schließen Freundschaften, Picknicks werden mit allen geteilt, jeden Tag schließt die Gemeinschaft neue Freunde in ihre liebenden Arme. Klick. »Jedes Hotel, jedes Motel, jede Privatunterkunft im Umkreis von fünfundzwanzig Meilen ist von euch Journalisten und von Pilgern belegt«, sagt Tyrone Ophuls, der Bürgermeister von Menomonee Falls, zu einem Reporter. Ein breiter Schlips auf breitem Wanst, darüber ein breites Grinsen. »Alle Lokale sind überfüllt. Die Umsätze sind viel besser als bei unserem normalen August-Oktoberfest. Auch in Milwaukee läuft es gut, wie ich höre. Im Durchschnitt kommen täglich zehn Busse, wir haben Charterflüge aus aller Welt. Gestern Ungarn, heute Kolumbien. Die Handelskammer schätzt, daß fünfzig Millionen Dollar in unsere
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lokale Wirtschaft gepumpt werden, vielleicht mehr, das hängt von der – nun – Nachhaltigkeit des Ereignisses ab.« Der Bürgermeister zeigt breite Zufriedenheit, weil er sich so taktvoll auszudrücken weiß. »Die meisten Kleinstädte bekommen diese Art von Aufmerksamkeit ja nur, wenn – Gott behüte! – etwas Schreckliches passiert, ein Massenmord, ein Schulmassaker etwa, also sind wir sehr froh über die positiven Hintergründe dieser Sensation. Menomonee Falls ist eine wunderbare Gemeinde.« Klick. »He, hast du schon das Neueste von Chuck Savitch gehört?« fragt der Moderator der Spätshow seinen Bandleader. »Nein? Es heißt, Chuck hat in der Nase gebohrt und« – Grinsen – »Gottes Wort unter dem Küchentisch verteilt.« Ein Trommelwirbel, Murren beim Publikum. »Das bringt dir ein paar Zuschriften ein«, sagt der Bandleader. Klick. Die bescheidene Hauswand der Savitchs ist verstellt von 1) Kerzen, Votivkerzen und großen farbigen Kerzen, die in der Hitze ihrer kleinen Geschwister schmelzen und die Treppe rot, blau und grün umfließen; 2) einer Weihnachtskrippe im Maßstab eins zu vier, die vorzeitig vom Speicher geholt wurde; 3) Bergen von Blumen, vorwiegend Maiglöckchen, Palmwedel und Stechpalme; 4) Botschaften, die an das schmiedeeiserne Geländer und die Aluminiumverkleidungen geklebt sind, darunter auch Kinderzeichnungen und Heiligenbilder und Wimpel, als wäre Christus der größte Fußballer aller Zeiten; 5) sechs Holzkreuzen, schräg angelehnt wie ein halbfertiges Spalier; 6) den Fotos der Lieben daheim, die zu krank sind, um persönlich anzureisen, verziert mit verzweifelt blühenden Stiefmütterchen
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und Geranien. Die Vorhänge des Erkerfensters sind immer geschlossen, funktionieren aber wie eine Leinwand. »Er ist da drinnen«, sagt Bruce Nole aus Missoula, Montana, während um ihn herum Choräle gesungen und Handys in die Höhe gehalten werden, damit die Lieben daheim auch etwas davon haben. »Man spürt ihn, manchmal sieht man ihn dicht hinter diesem Vorhang, wie er uns im Fernsehen sieht.« Klick. Der Studiogast, ein Professor der Populärkultur, nickt und lächelt, als würde er den Witz immer schon vor der Pointe verstehen, während er die Frage abwartet, die sich hinzieht, wie es für diesen seriösen Interviewer typisch ist, der sein Thema langsam einkreist – »womit ich sagen will ...«, »in Bezug auf ...«, »was ich, glaube ich, damit meine ...«, »so daß die ganze Angelegenheit, im nachhinein betrachtet ...« – und ebenfalls lächelt und zusammen mit seinem Gast nickt, obwohl sein Lächeln ein wenig unsicherer ist, als wäre er der Sache nicht ganz gewachsen; er beugt sich vor, er lehnt sich zurück, baut eine lange, ausufernde Geschichte um seine Frage herum, in der Hoffnung, daß ihm dabei zufällig eine zündende Idee unterläuft, die sich irgendwie um Massenhysterie in Kombination mit religiösem Wahn und Millenniumsangst dreht, um den zunehmenden Trubel, der für die Medien zum Selbstläufer wird, um die Notwendigkeit von Zuschauerbindung mit stabilen Einschaltquoten für diese Story, denn es ist eine Story für unsere Zeit – bis er sie schließlich in einzeln hervorgestoßene Worte münden läßt: »Was. Bedeutet. Das. Für. Unsere. Gesellschaft. Und. Unsere. Zeit?« »Nun ...«beginnt der Studiogast. Klick.
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Nachbarn von Chuck sind vom Unternehmergeist gepackt worden. Sie vermieten ihre Einfahrten an Übertragungswagen. Sie verhökern Sandwiches, Limonade und Kekse. Sie verlangen zwei Dollar für Toilettenbenutzung. »Wenn hier schon der ganze Zirkus abläuft, wollen wir wenigstens dran verdienen«, sagt der Anwohner Peter Lauffesen, der in seinem Vorgarten fünfzig Klappstühle aufgestellt hat. Jeder Klappstuhl ist besetzt, für fünf Dollar pro Tag. Damit macht er ein besseres Geschäft als sein Nachbar Geoff Carlson, der sieben Dollar verlangt. Klick. »Normalerweise habe ich schweres Asthma«, sagt Frank Toffelson, Nachbar und Freund von Chuck. »Und die Allergien bringen mich fast um, wenn der Sommer kommt, besonders diesen Sommer, viele Pollen, viele Taschentücher, ein harter Sommer für mich. Aber vor drei Wochen, und da wußten wir noch nicht, was hier abgeht, nur daß Charlie krank war, also bin ich rüber und hab ihm eine Apfeltorte gebracht, die meine Frau gebacken hat – wir sind hier alle befreundet –, und als ich im Haus war, kam mir die Luft so anders vor, irgendwie reiner, kühler, und ich fragte mich, ich weiß noch genau, wie ich mich fragte, ob sie die Klimaanlage eingeschaltet hatten. Ich gab ihnen die Torte, und seitdem habe ich keine Allergie mehr.« Er starrt in die Kamera. »Okay, macht euch nur über uns lustig. Ihr alle da draußen. Ich weiß genau, was ihr denkt, weil ich das auch gedacht habe. Hinterwäldler, stimmt’s? Religiöse Spinner. Aber was ihr hier seht, das ist die Liebe. Und ihr spuckt drauf!« Klick. Der Onkologe steht mit der älteren Schwester von Chuck vor der angebauten Doppelgarage. Ein kleines Po-
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dest für eine improvisierte Pressekonferenz wurde errichtet, für eine Regierungserklärung aus Chuck-Land. Dr. Nathan Vartan vom Mercy Hospital beäugt die Mikrofone wie ein Frettchen, das sich fragt, ob diese schwarzen Eier schon verfault sind. Rechts hinter ihm wartet Nancy Savitch Karansky, eher Familienrepräsentantin als -sprecherin. Sie starrt auf den einzigen Fleck, der nicht von den Kameras erfaßt wird – ihre Füße. Der Arzt verliest ein Bulletin, das er nur dürftig mit Erklärungen untermalt. »Die Therapie von Charles Savitch ist zur Schmerzbehandlung fortgeschritten. Das bedeutet palliative Maßnahmen.« Das Wort »palliativ« buchstabiert er. »Wir rechnen nicht mit einer Heilung, wie einige Gerüchte, äh, besagen, wir versuchen, sein Befinden zu bessern, so gut es geht.« Dr. Vartan blinzelt hektisch, als würden seine Augenlider Holt mich hier raus! morsen. »Um die Wahrheit zu sagen, sein Zustand ist ernst. Charles Savitch wird sterben. Er hat erklärt, daß er im Haus seiner Kindheit, im Kreis seiner Familie und Freunde sterben möchte. Für alle Betroffenen ist das eine schwierige Situation. Mr. Savitch nimmt Abschied von ihnen. Wie lange es noch dauern wird? Schwer zu sagen. Als Arzt beteilige ich mich nicht an Spekulationen. Sein Zustand verschlechtert sich täglich. Der Tumor beeinträchtigt seine Körperfunktionen, er breitet sich im Cerebrum aus, in den Hirnlappen, während der Hirnstamm, insbesondere die Medulla oblongata, dem Angriff noch immer widersteht. Das ist wie ein Feuer im fünften Stockwerk, aber die Technik im Keller funktioniert weiter. Wie Sie sich vorstellen können, ist das eine schreckliche Art des Sterbens, besonders für die Angehörigen, aber ich fühle mich verpflichtet, den Medienvertretern wiederholt zu versichern, daß der Zustand von Mr. Savitch abgesehen
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von der persönlichen Tragik nichts Außergewöhnliches an sich hat. Mr. Savitch ist einer von Hunderttausenden, die unter einem bösartigen Gliom leiden, und einer von Millionen, die von Krebs befallen sind. Derartige Symptome sind weder selten noch außergewöhnlich und auf keinen Fall mit einem Wunder zu erklären. Das klinische Profil ist absolut charakteristisch für diese Erkrankung. Seine MRI, die leider eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, zeigt nicht mehr und nicht weniger als typische Glioblastoma multiforme, die sich über beide Gehirnhälften erstrecken. Ich mache zum wiederholten Male darauf aufmerksam, daß die Häufigkeit dieser Erkrankung bei 4,5 pro 100 000 Personen liegt. Die Behandlung dieses Tumors wurde sowohl durch seine Lage als auch durch seine Ausprägung erschwert. Mr. Savitch hat sich – und ich denke, in Anbetracht der geringen Erfolgsaussichten zu Recht – für eine nichtinvasive Behandlung entschieden. Ich möchte ein weiteres Mal unmißverständlich klarstellen, daß die Behandlung auf keinen Fall wegen zufälliger Ähnlichkeiten mit irgendwelchen lebenden oder toten Personen abgebrochen wurde. Wir haben Mr. Savitch alle Optionen eröffnet, von denen keine besonders verlockend war, und er hat sich entschieden, auf ein invasives Vorgehen zu verzichten. Er wollte die ihm verbleibende Zeit im Kreise seiner Familie verbringen, frei von den Belastungen, die ihm eine Intensivbehandlung auferlegen würde.« Dr. Vartan macht eine Kunstpause, um sich mit Wut aufzupumpen. Sein Gesicht zieht sich zusammen, sein Mund wird zum Strich. Jedes Wort, das folgt, wird von gefletschten Zähnen zermahlen. »Und Sie, meine Damen und Herren von den Medien, lassen Sie sich folgendes gesagt sein: Sie machen einem Sterbenden das Leben nur
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noch schwerer. Sie rauben ihm die Freiheit, die ihm noch geblieben ist. Er ist in seinem Haus gefangen und kann nicht hinaus ins Freie, was seine größte Freude ist. Ihm bleibt nur das Fernsehen, und dank Ihnen wird er ständig an seine Situation erinnert. Da ich aus dem großartigen Staat Wisconsin stamme, erinnert mich das an eine Zeit, in der ein anderer den wilden Mann spielte. Es scheint, daß wir wieder so weit sind, aber anstelle des McCarthyismus sind es nun die Medien, die ein Geschrei veranstalten und mit dem Finger auf andere zeigen und behaupten, es gehe nur um die Fakten. Dabei ist das ganze System korrupt. Also frage ich Sie in einer ähnlichen Weise: Schämen Sie sich denn gar nicht?« Dr. Vartan faltet seinen Zettel zusammen und tritt ab. Er greift nach Nancy Savitch Karansky, die zusammenzuckt, als hätte er sie grob angefaßt. »Wenn ich etwas hinzufügen darf«, sagt sie und nähert sich zögernd den Mikrofonen. »Der Arzt meint nicht Sie, die Pilger. Mein Bruder ist sehr bewegt von Ihrem Kommen und bedankt sich für Ihr Mitgefühl und Ihre Gebete. Vielen Dank.« Eine Stimme aus dem Off: »Werden Sie die neueste MRI veröffentlichen?« Sie blickt in die Runde, ihre Lippen zucken, dann sagt sie »Nein.« Der Arzt beugt sich vor. »MRIs sind nicht für die Presse bestimmt. Das sind diagnostische Hilfsmittel und als solche alleiniges Eigentum des Patienten. Wie wohl allgemein bekannt, wurde die jetzt kursierende MRI aus dem Krankenhaus entwendet und an ein Boulevardblatt verkauft. Sie ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, genausowenig wie andere patientenbezogene Daten.«
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»Außer, sie werden von der Familie autorisiert«, unterbricht ihn Chucks Schwester. Der Arzt korrigiert sich. »Natürlich. Außer, die Familie wünscht es so.« »Aber zeigt sich auch auf der neuesten MRI das Abbild Christi?« ruft jemand. »Sie meinen das Grabtuch von Turin.« Der Arzt grinst, offenbar freut er sich, daß das Thema zur Sprache kommt. »Darüber reden wir, nicht wahr? Das Grabtuch von Turin. Die Geschwulst hat, wenn überhaupt, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grabtuch von Turin. Und es dürfte allgemein bekannt sein, daß das Grabtuch von Turin eine nachgewiesene Fälschung ist.« »Wollen Sie damit sagen, die MRI ist eine Fälschung?« »Sie wollen mir etwas unterstellen, was ich nicht gesagt habe. Ich wollte nur sagen, daß sich die ganze Aufregung an der zufälligen Ähnlichkeit mit einer Fälschung entzündet hat.« »Also ist die MRI echt?« »Ja. Absolut. Die Geschwulst ist echt. Aber das Abbild Jesu Christi könnte genausogut das Abbild eines Schmetterlings oder einer Wolkenformation oder das von Charles Manson sein, wenn Sie so wollen.« Nancy Savitch Karansky wird ungehalten. »Die Muster sind mehrdeutig«, redet der Arzt weiter. »Sie können das mit einem Rohrschach-Bild vergleichen, aber in diesem Fall wurde da Jesus Christus hineinprojiziert, und jeder sieht nur noch das eine. Sie wissen, was ich als Arzt darin sehe. Einen Tumor im letzten Stadium.« »Entschuldigen Sie, aber darf ich etwas sagen?« fragt Nancy Savitch Karansky. »Sicher.«
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»Charles Manson ist nicht die Person, die im Gehirn meines Bruders abgebildet ist. Er ist ein guter Christ. Ich will nicht, daß Fernsehreporter verbreiten, das könnte Charles Manson sein. Bleiben wir wenigstens bei Jesus.« Einer brüllt: »Stimmt es, daß die Augen Blut statt Tränen weinen?« »Eigentlich nicht«, sagt die Schwester. »Absolut nicht«, präzisiert Dr. Vartan. »Und das sind keine Augen, sondern Gewebskontraste, helle und dunkle Flecken, Schatten.« Die Schwester wendet sich an den Onkologen. »Da würde ich gern was fragen.« »Bitte.« »Hat man schon jemals ein Muster wie dieses gesehen?« »Nein. Aber jedes Neoplasma sieht anders aus. So, wie Fingerabdrücke.« Er hält seine frustrierten Hände hin, starrt seine Handflächen an und schüttelt den Kopf, als wäre er ins finstere Mittelalter versetzt und müßte eine Sonnenfinsternis erklären. »Schauen Sie«, sagt er, »als Menschen sind wir geneigt, Muster im Zufälligen zu entdecken, und Christus ist sicher ein sehr sichtbares, sehr hoffnungsvolles Bild. Trotzdem: Manchmal müssen die Bilder der Realität Platz machen, und Realität in diesem Falle ist, daß Mr. Savitch sehr krank ist und ein wenig Ruhe verdient. Wir können Bilder nicht mit harten Tatsachen verwechseln.« »Wollen Sie damit sagen, daß Christus nur ein Bild ist?« schreit einer. »Für theologische Debatten stehe ich nicht zur Verfügung. Aber ich würde sagen, Christus als Idee ist ungleich wichtiger denn Christus als historische Tatsache.« »Welche Religion haben Sie?«
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»Meine Eltern waren Episkopale.« Murren bei den Baptisten. Nancy Savitch Karansky schiebt sich vor Dr. Vartan. »Was die Frage nach dem Blut betrifft, möchte ich klarstellen, daß es im Haus feuchte Stellen gibt, die sehr seltsam sind, besonders in der Speisekammer. Klebriges gelbes Zeug an den Wänden, wie Sirup.« »Stimmt es, daß es Heilungen gibt?« »Meine Mutter fühlt sich schon viel besser. Sie hatte schlimme Arthritis in den Händen, und ich schwöre Ihnen, jetzt könnte sie sogar Ball spielen. Und meine beste Freundin sagt, ihre Migräne ist besser geworden, seit sie im Haus mit uns Kaffee getrunken hat. Ja, die Leute fühlen sich besser. Selbst unser zwölfjähriger Hund ist viel munterer geworden.« »Das ist psychosomatisch«, sagt der Arzt. »Nichts da Psycho. Es stimmt wirklich. Vielleicht hat es noch nicht den Wert eines Wunders, so weit sind wir noch nicht, trotzdem ist es schon was Besonderes.« Wie im Zeitraffer – die Blüte aus der Biostunde, die explosionsartig auf- und verblüht, die tote Maus, die in Sekundenschnelle zu Humus zermadet wird – macht Nancy Savitch Karansky in weniger als einer Minute eine Wandlung durch. Plötzlich wirkt sie selbstbewußt. Ihr Blick wird zu Stahl. Die Wolken scheinen über ihrem Kopf dahinzujagen, während sie in ihre neue Rolle hineinwächst. »Von jetzt an«, verkündet sie den versammelten Medien, »möchte ich nicht mehr, daß man auf diesen Mann hört. Von jetzt an hören Sie nur auf mich.« Klick. Die Haustür der Savitchs öffnet sich, es erscheinen zwei Krankenschwestern mit der MRI in einem vergoldeten Ba-
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rockrahmen. Sie wird in einer Prozession durch die Menge getragen und zieht Immer engere Kreise, erlöst von Sünden, hinterläßt feuchte Wangen und heiliges Schaudern. Hände recken sich, um sie wenigstens flüchtig zu berühren. Kranke Kinder werden von verzweifelten Eltern in die Höhe gehalten und zur Ikone durchgereicht, während sie mit den Händen nach den Eltern angeln. Die Schwachen, Gebrechlichen und Todgeweihten drängen heran, um die Lippen zu küssen, eine der Schwestern wischt diskret die Plexiglasscheibe ab, bevor sich der nächste Mund spitzt. Manche werden ohnmächtig. Während des nächtlichen Fürbittgottesdienstes öffnen sich langsam die Vorhänge des Erkerfensters und geben den Blick frei auf Charles Savitch, der in einem Krankenhausbett liegt (einer Leihgabe von Ho-garth Medical Supplies, Milwaukee). Ein Anblick wie ein lebendes Kirchenfenster. Die Menge hält den Atem an und drängt vorwärts. Nancy Savitch Karansky, in Blau gekleidet, sitzt bei ihm und hält seine Hand, weniger auf schwesterliche Fürsorge als auf Selbstpromotion bedacht. Sie scheint ihm die Berühmtheit aus den Fingern zu quetschen. Klick. Die Katholische Kirche hat sich einen schlechten Witz erlaubt und einen Priester, einen Psychologen und einen Kirchenrechtler entsandt. »Wir könnten es hier«, sagt Raymond Dellacorte, Sprecher der Erzdiözese, »mit einer Opferseele zu tun haben, deren Leiden wohltätig auf die versammelte Gemeinde wirken. Er trägt ihre Schmerzen und nimmt ihre Bürde auf sich. Wie der Sündenbock aus dem dritten Buch Mose. Seit jeher gibt es Opferseelen, die von der Kirche anerkannt werden. Audrey Santo ist das jüngste und vielleicht berühmteste Beispiel. People und Dateiine
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haben über sie berichtet. Ein Film ist in Vorbereitung. Wir sind hier, um eine Kommission zur Feststellung des Opferseelenstatus zu bilden. Wegen der fortgeschrittenen Erkrankung haben wir uns zu einem Eilverfahren entschlossen.« Klick. Opferseele oder nicht – die Fernsehtypen, die im Fernsehen über das Fernsehen reden, bewegt nur eine Frage: Wer kriegt das Exklusivinterview? Denn es heißt, daß Familie Savitch bereit ist, Reporter ins Haus zu lassen, und gegen ein angemessenes Honorar ungehinderten Zugang verspricht, ein kleines Gespräch mit Charles inklusive. Zwischen den Sendern herrscht heftiges Gerangel, die bedeutendsten Starreporter bieten ihre Dienste an. Zwei Starmoderatorinnen eines Senders liefern sich eine öffentliche Fehde, ein Klatschkolumnist berichtet in der morgendlichen Talk-Show über eine Katzbalgerei hinter den Kulissen. Finanziers bieten beträchtliche Summen, »im oberen sechsstelligen Bereich«, wie aus Branchenkreisen verlautet. Ein Pay-TV-Sender lanciert die Idee eines Erweckungsgottesdienstes, einer Zelt-Show mit Muhammad Ali und anderen erkrankten Superstars. »Wir kriegen diese Leute für einen Pappenstiel«, wird ein Insider zitiert, »und die Quote wäre gigantisch.« Die Gebote überstürzen sich, weil die Zeit drängt – alle wollen einen lebenden Chuck, alle sind sich einig, daß es auf Chuck ankommt. »Ohne Chuck«, erklärt ein ehemaliger Programmchef einem Mann vom Kabelfernsehen, »rechnet sich die Sache nicht. Er ist der Eckstein oder der Schlußstein oder was immer. Das Paket muß auch die Verwertungsrechte enthalten, dann zahlt das Unterhaltungsressort das dicke Geld und die Nachrichtenabteilung wahrt ihre Integrität. Es lägen dann etwa sechs
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Monate zwischen dem Interview und dem Dokudrama. Die Lokalsender könnten doppelt absahnen – mit Einführungsund Nachbereitungsbeiträgen zu den Abendnachrichten. Das könnte ein richtiger Bringer werden, möglicherweise auch im Ausland. Aber ihr müßt Chuck zeigen, das Interview, solange er noch lebt. Die Sache muß frisch serviert werden. Ein toter Chuck wäre nur deprimierend. Eine Krebsgeschichte von vielen. Der lebende Chuck muß es sein. Warum nicht Chuck live? Oh, Mann!« Der ehemalige Programmchef (mehrfach wegen Fehlverhaltens gefeuert) klatscht in die Hände. Er hat die Schmierigkeit zu seinem Markenzeichen gemacht und ist jetzt Fernsehplauderer. »Ich könnte das fingern wie Sandy Koufax.« Klick. Familie Savitch hat sich für die lebende Legende des Rundfunks entschieden, früher einmal bekannt als die Elizabeth Cady Stanton der Radionachrichten. Sofort läuft die PR-Maschine an, mit Programmhinweisen und Promos und Trailern für eine Fernsehsensation am nächsten Mittwoch um 21 Uhr (22 Uhr Mittelwestlicher Zeit), bei der alle Ihre Fragen eine Antwort finden werden. Billy – klick – sieht sich das an, sieht sich alles an – klick –, es ist unausweichlich – klick –, die Werbung überschwemmt den Äther – klick – und Billy weiß – klick –, daß er gegen seinen Willen – klick – einschalten – klick – und sich diese Farce reinziehen wird – klick –, und das ohne jeden Grund – klick –, nur weil er nichts Besseres zu tun hat, als – klick – fernzusehen.
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23 IM GEHIRN von Doris war kein Gottessohn verborgen, nichts an ihrem Gehirn war heilig, nur ihre Neuronen wurden langsam ausradiert. Aber ein wenig Pilgerschaft erlebte auch sie – an einem schönen Frühlingstag, als es gerade ein wenig wärmer wurde und sie in die Zwischenwelt des betreuten Wohnens eintreten sollte. Auf dem Heimflug durchforschte Billy seinen letzten Besuch nach irgendwelchen Anzeichen von Alzheimer. Das war zwei Jahre her. Er hatte die Nicht-Feiertage zu Hause in Cincinnati verbracht – Weihnachten und Chanukka waren in seiner Familie abgeschafft. Mochte das Verhältnis zu seinen Eltern noch so schlecht sein, allein in seiner Wohnung zu bleiben war noch schlimmer, und er hatte wie immer gehofft, daß es diesmal anders würde, daß die lange Trennung, die große Entfernung, das Alter und vielleicht sogar die Feiertage ein wenig Annäherung bringen würden. Er stellte sich eine Woche wenn nicht der Liebe, so doch der Eintracht vor. Nach fünf Minuten hatte sich das als Blödsinn erwiesen. Seine Eltern verkrampften; Billy wurde wortkarg und mürrisch. Sofort stellten sich alle drei darauf ein, die verbleibenden Tage zu überstehen wie einen verpatzten Urlaub. Im Flugzeug durchforschte Billy diesen Besuch nach Anzeichen des Ver-
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falls. Seine Mutter war still gewesen, das ja, aber in seiner Gegenwart war sie immer still gewesen. Also nichts Ungewöhnliches. Schon immer waren beide verstummt, sowie er ins Zimmer kam, nachdem sie angeregt miteinander gesprochen hatten. Vielleicht war diesmal ein bißchen mehr Angst in Doris’ Augen gewesen, sie schienen bei Abe Ermutigung zu suchen, als hätte sich ein schießwütiger Psychopath im Schrank versteckt und zu ihnen gesagt: Immer schön ruhig, dann passiert keinem was. Aber diese Reaktion sprengte nicht den Rahmen des Gewohnten. War sie launisch? Schwer zu sagen, weil Billy selbst launisch war. Er nahm an, daß Doris unter ihm litt. War sie vergeßlich? Verwirrt? Klar, aber auch das kam ihm normal vor. Sie war immer zerstreut gewesen in seiner Gegenwart, hatte ihre Mutterrolle immer unkonzentriert und wie nebenbei gespielt. Billy war eine Liste von Verpflichtungen, die sie schriftlich hätte notieren sollen. Seine Eltern kamen mitten im Nachkriegsbauboom nach Cincinnati, als die Baufirmen Äcker in Städte verwandelten und den Amerikanischen Traum in Tausendquadratmeterparzellen zerlegten. Im Lauf der Jahre hatten die schlichten Ranchhäuser kleine Änderungen durchgemacht, waren aus der proletarischen Ursuppe in die komplexere Biologie des Mittelstands aufgestiegen. Stockwerke wurden aufgesetzt, Carports zu Zimmern ausgebaut, Gärten von Aboveground-Swimmingpools verstopft. Manches Haus wurde aufgekauft, abgerissen und durch ein Landhaus ersetzt – kein wirkliches Landhaus, sondern die Idee eines Landhauses mit weißen Säulen, Steinlöwen und gigantischen Messingtürklopfern. Sie hatten ganz spezielle Namen, diese Landhäuser. Shenandoah. Candymore. Perisailles. Billy hätte über die gestutzten Hecken, die albernen Türmchen,
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die Bogenfenster lachen können, aber dann hätte er über den greifbarsten Lebenstraum und das reinste Gefühl des Stolzes gelacht. Er fuhr den Mietwagen auf das Grundstück 220 Cypress Road. Wie bei jeder Heimkehr kam ihm das Haus auch diesmal kleiner vor, fast schon wie ein Monopolyhaus auf der Baltic Street – viel zu billig, als daß er sich hätte beschweren können. Es war das letzte Ranchhaus der Siedlung, das die fünfzig Jahre völlig unverändert überstanden hatte. Gerüchten zufolge hatte der Heimatverein Denkmalschutz beantragt, mit der Begründung, dieses Haus sei das Urbild eines Reihenhauses in dieser Gegend. Die Nachbarn, denkt Billy, hätten sich schwarz geärgert. Sein Vater machte ihm auf. »Gut, daß du da bist«, sagte er. Billy hob die Arme. »Im Fleische.« »Es ist alles gepackt.« Die Taschen standen schon an der Tür. »Okay.« »Wir sollten bald fahren.« »Kann ich vielleicht erst mal ankommen?« »Am frühen Nachmittag, haben sie gesagt.« »Es ist elf Uhr fünfunddreißig«, sagte Billy. »Genau deshalb sollten wir jetzt los.« »Dürfte ich vorher noch mal auf die Toilette und ein Glas Wasser haben?« »Gut. Aber dann sollten wir los, weil wir erwartet werden.« Billy kapitulierte mit »klar«. Er folgte Abe ins Wohnzimmer, wo Doris auf dem Sofa saß. Abe setzte sich schnell zu ihr, als wollte ihm Billy den Platz streitig machen. Er berührte ihr Knie und flüsterte:
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»Er ist da. Wir fahren bald.« Doris zeigte keine Reaktion. »Sie ist soweit, wenn du soweit bist«, sagte Abe. Billy hatte den Eindruck, daß sein Vater nie wirklich alterte. Er sah immer gleich aus, ob er nun vierzig, fünfzig oder wie jetzt vierundsechzig war. Weder jung noch alt, einfach nur Abe, mit dunklen, umschatteten Augen. Vielleicht fühlte er sich von der Zeit gehetzt – zweimal schon hatte er auf die Uhr geschaut –, aber die Zeit hatte kein Interesse an ihm. Die Falten in seinem Gesicht, die Einkerbungen des Kummers, waren nicht von Abnutzung betroffen. Seine Geheimratsecken wuchsen ewig, wurden aber nie zur Glatze. Seine Wampe, sein Watscheln waren Billy schon von den frühesten Fotos vertraut, den Fotos aus der Zeit vor seiner Geburt, die das Haus zeigten. Als wäre Abe auf Holz statt auf Leinwand gemalt worden, wie ein Brueghel, eine der weniger spannenden Jahreszeiten. Die Glasschleifer. Aber hinter Abe, fern dem Hauptgeschehen, sah man Anzeichen einer stillen Tragödie, einen stürzenden Ikarus. Seine arme Frau sah furchterregend aus. Sie war abgemagert, doch auf unansehnliche Weise, sie wirkte eingesunken und wächsern. Es fehlte nur der Docht in ihrem Kopf. Aber sie schien entspannter als sonst in Billys Gegenwart. Sie nahm ihn nicht wahr, reagierte weder gereizt noch nervös, schien sich nicht mehr für ihn zu schämen. Sie war nur sie selbst, mit gefalteten Händen und wippendem Oberkörper, und sang den immergleichen Zweiklang: La-la, La-la, La-la. Aber das Alter und seine Folgen gaben ihr den Hauch von Ehrlichkeit. Mütter zeigen ihr Alter, dachte Billy, Väter bleiben in der Gegenwart verankert, bis du sie besuchst und zu spät merkst, daß sie zu Sterbenden geworden sind.
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Abe schaute schon wieder auf die Uhr. Doris war der Kalender, Abe war die Uhr. Billy beugte sich in die Blickrichtung seiner Mutter. »He, Mom.« »Sie redet nicht viel«, erklärte Abe. »Nett, dich zu sehen.« »Sie stöhnt nur. Aber es ist ein glückliches Stöhnen. Normalerweise.« »Tut mir leid, daß ich so lange weg war«, sagte Billy zu ihr. »So lange war es nicht«, antwortete Abe. »Ich rede mit ihr.« »Ist nicht der Mühe wert.« Billy wandte sich seiner Mutter zu. »Ich hätte früher nach Hause kommen sollen.« »Du kommst gerade rechtzeitig«, sagte Abe. Billy sah, daß ihre Hände etwas umschlossen. Zwischen den Fingern zeigte sich etwas Buntes. Sie drehte es fortwährend in den Händen, man hörte ein knarrendes Plastikgeräusch. »Ist das ein Rubik’s Cube?« fragte Billy. »Ja.« »Mein Rubik’s Cube?« »Anzunehmen. Ich weiß es nicht. Eines Tages hatte sie ihn, und sie gibt ihn nicht mehr her. Der Arzt sagt, das kann passieren bei Alzheimerpatienten, daß sie sich auf irgend etwas fixieren. Ich glaube, es wirkt entspannend auf sie, wie Stricken.« »Ausgerechnet«, sagte Billy. »Ich habe versucht, ihr den Würfel wegzunehmen.« »Warum?« »Weil es mir wie ein grausamer Witz vorkam. Ein Geschicklichkeitsspiel? Ein Puzzle? Aber sie wurde wütend.«
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Billy schaute ihr zu. Sie bearbeitete den Würfel hingebungsvoll wie einen Rosenkranz. Als würde sie über die vierundfünfzig Mysterien meditieren, die achtzehn Dreierreihen, und jeder neuen Kombination ein Gebet widmen. Der Rubik’s Cube. Er hatte Billy kurzen Ruhm gebracht, in seiner Jugend, als er ihn in weniger als vier Minuten geschafft hatte – 198 Sekunden war sein Rekord. »Hast du vergessen, wo das Bad ist?« fragte sein Vater. »Nein.« »Wir wollen nämlich los.« Nach dem Pissen warf Billy einen Blick in sein altes Zimmer. Bis auf Bett und Schreibtisch war es leergeräumt. Leere Wandborde. Der seltsame Kindheitsmischmasch, die Archäologie der Spielzeuge und Hobbys aus verschiedenen Perioden – die Steinzeit der Stofftiere, die Kupferzeit der Actionfiguren, die Bronzezeit der Brettspiele, die Eisenzeit der Nunchucks und Rockstarposter –, alles war verschwunden. Nur magere Hinweise hatten sich gehalten. An den Wänden die Spuren der Klebebälle. Auf dem Teppich die Flecken vom Preiselbeersaft, mit dem Billy ein Blutbad für seine grünen Plastiksoldaten improvisiert hatte. Was hatte er erwartet? Einen Schrein? Ist schon in Ordnung, dachte er. Seine ganze Kindheit eine Spende für die Wohlfahrt. Aber hätten sie das Zimmer nicht für Gäste herrichten können, oder als Büro, als Mediencenter, als Abstellraum? Wenigstens ein bißchen frische Farbe und ein neuer Teppichboden. Keine Verbrechen wurden hier begangen. Das Zimmer mußte nicht aussehen wie der Schauplatz eines Mordes. »Ich hab die Spülung gehört«, rief sein Vater aus dem Wohnzimmer.« »Ja?«
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»Also fahren wir los.« Seine Eltern saßen hinten. Abe hatte die Arme um Doris gelegt, sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, sein Mund gurrte sanften Unsinn, während sie starr und in patriotischer Haltung geradeaus blickte. Die beiden waren wie Flagge und Mast. Sie ließ sein Herz flattern, und er verkörperte stolz ihre Liebe. Fast hätte Billy in den Rückspiegel salutiert. Whispering Pines, das Zentrum fürbetreutes Wohnen, lag in der Nähe des Flughafens, auf der anderen Seite des Ohio River, wo die Ausläufer von Cincinnati nach Kentucky hineinragten und niemand genau wußte, in welchem Staat er wohnte. Buckeye oder Bluegrass? Nord oder Süd? Stadt oder Land? Inmitten dieser gelinden Verwirrung stand Whispering Pines, umgeben von mehrstöckigen Mietshäusern und Kettenhotels und verschiedenen Zulieferdiensten für den Flughafen. Das übliche Einerlei, das man wie im Zeitraffer durchfährt und nicht zur Kenntnis nimmt, wenn man nicht gerade tanken muß. Aber Whispering Pines konnte durchaus Aufmerksamkeit erregen. Acht Stockwerke hoch, gebaut aus weißen Nachkriegssteinen, auf dem Dach eine klobige Klimaanlage. Sie erinnerte an die Gebetsriemen auf dem Kopf eines mondgesichtigen Juden, der vergessen hat, was nach dem Baruch kommt. »Wir sind da«, sagte Abe. Quer über die Seite des Gebäudes zog sich die Inschrift des Vornutzers. Von den ehemaligen Lettern – Marriott – waren nur die Schatten geblieben, während sich die Neuinkarnation im Glanz getönter Scheiben präsentierte. Billy hielt in der kreisförmigen Auffahrt, vor der Drehtür, die ihm vorkam wie eine Schikane für alte Leute. Abe half Doris, Billy lud die Taschen aus und fuhr das Auto auf den
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Parkplatz hinter dem Haus. Auf dem Rückweg sah er sehr weit oben ein Flugzeug kreisen und ein anderes im Landeanflug. Ob es nun der Wind war oder die Klangeigenschaften von Turbojets oder nur seine Gemütsverfassung – jedenfalls klangen die Motoren, als würden sie gerade versagen. Die Lobby hatte sich seit den Marriottzeiten wohl kaum geändert. Die Leute, die da herumsaßen – Söhne, Töchter, Enkel, Brüder, Schwestern, Freunde –, hätten auch versprengte Reisende von ehedem sein können, die wegen eines verpaßten Anschlusses oder einer Verspätung oder eines schlimmen Unwetters ihre Zeit totschlagen mußten. Keiner war froh, hier zu sein, alle waren froh, daß sie nicht bleiben mußten. Billy hielt Ausschau nach den Eltern. Nirgends zu sehen. Er ging ans Rezeptionspult. Ein Mann fragte auf Kentuckyart: »Wie kann ich helfen?« »Ich suche nach den Schines.« »Sie haben gerade eingecheckt und sind auf ihr Zimmer gefahren.« »Wo ist das?« »Zimmer 610. Sechster Stock. Gehören Sie dazu?« »Ich bin der Sohn.« »Glauben Sie mir, Ihre Mutter ist in besten Händen. Das ist eine schlimme, schlimme Sache, was sie da hat, was Sie da durchmachen müssen, eine schlimme, schlimme Sache, aber wir tun unser Bestes, es Ihnen und Ihrer Familie leichter zu machen, denn das ist hart, Gott weiß, wie hart das ist, und ich fühle mit Ihnen, wie wir alle.« Der Mann war fast zu Tränen gerührt. »Klar«, sagte Billy. Der Fahrstuhl schien den ersten Takt von Oklahoma zu summen, eine mechanische, dem Atemrhythmus trotzende
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Fermate, die sich bis in den sechsten Stock zog, wo die Tür aufging und ihm der Wind der Plains entgegenblies. Zimmer 610 war ein Doppelbettzimmer mit eingebautem Bad. Ein Vorhang trennte die Betten. Auf der einen Seite Doris, auf der anderen eine alte schwarze Frau, die aussah wie ein Bündel Reisig, das auf das Streichholz wartet. Drei Frauen, wahrscheinlich ihre Töchter, beugten sich über sie, fütterten sie mit einer Art Brei und lachten ein bißchen zu laut, als sie ihr das verschmierte Kinn abwischten. »Sieh mal, Mom, sie haben dir einen hübschen jungen Mann geschickt.« »Nachtisch.« »Hallo, die Damen«, sagte Billy. Eine der Töchter kam herüber. »Erlauben Sie unter keinen Umständen eine Magensonde«, sagte sie zu Billy. »Erlauben Sie’s einfach nicht.« Als er Doris hingesetzt hatte, sagte Abe zu Billy: »Ob wir uns Sorgen machen müssen?« »Weshalb?« »Der Ring. Glaubst du, Diebstahl könnte zum Problem werden?« Der altbackene Rassismus überraschte Billy nicht. »Das bezweifle ich.« »Man hört so einiges.« Abe löste Doris’ linke Hand vom Rubik’s Cube und streifte ihr den Ring ab. »Sieh mal, wie leicht das geht«, sagte er. »Weil sie so viel Gewicht verloren hat. Und sie protestiert nicht mal, macht kein Geschrei. An den Rubik’s Cube darf keiner ran, aber den Ring kann ihr jeder wegnehmen.« »Wie gewonnen, so zerronnen.« Abe blickte ihn scharf an. »Das war unser Einstand. Unsere Mitgift.«
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Schon bereute Billy, daß er die Familienlegende angesprochen hatte. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Er hat uns die Freiheit gebracht, das darfst du nie vergessen. Diesem halben Karat haben wir alles zu verdanken.« »Ich weiß. Tut mir leid.« Billy kannte die Geschichte. (Und wie er sie kannte!) Er war mehr Biograph als Sohn. Abraham Schine, fünfundzwanzig, und Doris McMinn, neunundzwanzig, begegneten sich 1958 unter der Markise des Winter Garden Theater. Es war das Jahr, in dem Mike Todd bei einem Flugzeugabsturz umkam, dem seine Frau, Elizabeth Taylor, dank einer rechtzeitigen Erkältung entging; das Jahr, in dem Cheryl Crane, die Tochter von Lana Turner, Johnny Stompanato erstach, und es war das zweite Erfolgsjahr der West Side Story am Broadway. Abe und Doris, die beide ein Einzelticket hatten, standen in der Pause der Mittwochnachmittagsvorstellung vor dem Theater, ohne sich zu kennen. Beide waren vorzeitig von der Arbeit weggegangen und hatten sich mit Unwohlsein entschuldigt, Doris mit Magenschmerzen, Abe mit Kopfschmerzen, obwohl sie in Wirklichkeit von der Kombination Leonard Bernstein/Jerome Robbins infiziert waren. Abe und Doris lebten und starben für das Musical. Sie standen unter den sonnengebleichten Markisen und riskierten es, von Chefs oder Kollegen entdeckt zu werden. Aber nach »Something’s Coming« und »Tonight« brauchten sie frische Luft. Der Platzanweiser ging mit dem Xylophon herum und schlug den Dreiklang für den zweiten Akt. Die Leute strömten wieder hinein. Abe und Doris warteten noch, jeder an seinem Ende der Markise. Sie warteten, daß der andere zuerst ging und diesen stummen Zauber brach. Bis der Platzan-
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weiser nur noch einen Ton anschlug und Doris kapitulierte. Auf dem Weg hinein ließ sie ihr Programmheft fallen (mit Absicht), und Abe kam (natürlich) angeflitzt und hob es auf. »Tolle Vorstellung«, sagte er. »O ja«, erwiderte sie. Das war es schon, fortan waren sie verliebt. Abe hielt etwas in die Höhe. »Sieh mal.« Es war der Ring. »Ja, ich weiß«, sagte Billy. »Das ist unser Exodus.« Anstelle des Passahfestes feierte sein Vater die Geschichte von den gestohlenen Diamanten. Bei den Mahlzeiten oder vor dem Schlafengehen trug Abe die Details vor. Das Familiengeschäft – Schine Brothers Gems – befand sich mit allen anderen Diamantenhändlern in der 47th Street. Achtzehn Monate lang trafen sich Abe und Doris heimlich, weil sie wußten, daß ihre Eltern dagegen waren. Sie, irische Katholikin, und er, orthodoxer Jude, waren das Urbild der Jets und der Sharks. Sie trafen sich am Times Square, gingen in Theater, Kinos und Spielsalons, aßen bei Howard Johnson’s, bis sie eines Tages ertappt wurden und sich, wie befürchtet, nicht mehr sehen durften. Es gab Tränen, aber dann fügten sie sich, enttäuscht, aber nicht überrascht von ihrem Mangel an romantischer Entschlossenheit. So war eben die Welt. Zur Rebellion waren sie zu alt. Irgendwann wechselte das Programm des Winter Garden, es lief The Unsinkable Molly Brown, Liz Taylor heiratete erneut (Eddie Fisher, immerhin), und Cheryl Crane wurde von allen Mordvorwürfen freigesprochen. Gerade als sich Abe und Doris mit ihren neuen Rollen abgefunden hatten – er als Verlobter mit der passenden Braut, sie als alte Jungfer –,
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lief im Rivoli die Filmversion der West Side Story an. Erinnerungen brandeten hoch. Der Film war sogar noch besser. »Natalie Wood«, sagte sein Vater irgendwann. »Hat man geahnt, daß sie so eine Stimme hat?« »Sie ist synchronisiert«, erklärte ihm Billy. »Von Marni Nixon.« »Dann hat sie sich aber Mühe gegeben, so wie Natalie Wood zu klingen.« Einen Monat später schlich sich Abe in den Geschäftstresor und holte sich seinen Enterbungsgrund. Die Beute war ansehnlich, aber nicht übertrieben wertvoll – Diamanten im Wert von vierzigtausend Dollar. Das war der Preis, der auf ihre Köpfe ausgesetzt war, der Preis des Exils. »Aber den kleinsten haben wir nie verkauft«, sagte Abe zu Billy. »Ich weiß. Das hab ich tausendmal gehört.« Abe redete weiter, sein Blick wechselte zwischen Doris und dem Brillantring, als böten die Facetten die Untertitel zu ihrem undurchdringlichen Gesicht. »Den kleinsten haben wir für uns behalten. Knapp unter einem Karat, ein Melee, kein Prachtstück, aber lupenrein und Färbungsgrad D, diese beiden Dinge zählen vor allem, hat man mir beigebracht.« Abe kniff die Augen zusammen. Sie waren für die Lupe bestimmt, wie Schraube und Mutter, obwohl er jetzt als Glasschleifer arbeitete. »Der kommt aus den Schwemmlagerstätten von Südwestafrika. Im Wasser leuchtet er. Keine Fehler, nur ein paar winzige Störungen, eigentlich Charaktermarken. Ansonsten perfekt. Hätte ich die richtigen Instrumente, könnte ich dir die Mineralflekken tief im Kohlenstoff zeigen. Unsichtbare Schwachstellen.« Abe hauchte ihn an und putzte ihn an seinem Hemd. Er schob den Ring zurück auf Doris’ Finger. »Mit dreißig
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war ich ein Dieb, ein Paria, und für kurze Zeit Nummer zehn auf der Mohs-Skala. Ich liebe dich, Doris, von ganzem Herzen, ich werde dich immer lieben.« Doris war zu sehr Teil seiner Worte, um ihn zu hören. Abe und Doris flohen aus New York nach Cincinnati, wo sie keine Wurzeln hatten, keine Beziehungen, und schufen sich ein eigenes Land, das nur zwei Einwohner hatte. Das ist der Teil der Geschichte, der nie erzählt wurde, den Billy in schlaflosen Nächten für sich selbst ergänzte. Jahrelang hatten sie in Erwartung der Polizei gelebt, wegen des Raubes, aber nie klopfte es an ihre Tür. Mit Tagesjobs finanzierten sie ihr wahres Interesse: sich selbst. Den Freunden des jeweils anderen trauten sie nicht, also wurden sie kampflos aufgegeben. Jeden Morgen wachten sie mit dem einzigen Grund für ihre Tapferkeit auf; jede Nacht schliefen sie mit ihrer einzig verbliebenen Wahl ein. »Glücklich für immer« wurde zum Gebot. Ein Nachlassen der Zuneigung, sei es nur für eine Sekunde, konnte verheerende Folgen haben. Sie waren Tony und Maria bei der Suche nach verbilligten Socken, Romeo und Julia beim Spülen angeschlagener Teller. Als sie ein Kind wollten und der Erfolg ausblieb, ließen sie das Thema ohne weiteres fallen, weil ein Scheitern zu Spannungen und Spannungen zur Katastrophe führen konnten. Jahre vergingen. Dann geschah ein Wunder: Die gefürchteten Symptome einer verfrühten Menopause – Hitzewallungen und Übelkeit – erwiesen sich als Anzeichen der Schwangerschaft. Doris war fünfundvierzig, Abe zweiundvierzig. Mit Eifer nahmen sie die Elternrolle auf sich. Und als das Kind geboren war, William, hielten sie es im Arm und weinten, vergaßen sich für einen Moment, vergaßen alle Mühen und Opfer, vergaßen ihre eigentliche Lie-
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be. Alles, was sie aufgegeben hatten, ihre Familie, ihre Vergangenheit, rückte in den Hintergrund. Das Fluidum der Leidenschaft und der Verliebtheit verdichtete sich zu einer weit kompakteren Materie – einem schreienden Säugling. Mutter und Vater blickten gleichzeitig auf und erkannten ihren Fehler. Aber es war zu spät. Was hatten sie da angerichtet? Gegenseitige Hingabe war alles. Sie hatten zu viel geopfert. Durch einen Sohn war das nicht zu ersetzen. Und sofort wichen sie zurück, als würde Nitroglyzerin in den Adern des Kindes kreisen, als könnte schon die kleinste Erschütterung ihre zerbrechliche Welt zum Einsturz bringen. Ein Sicherheitsabstand mußte her, eine emotionale Bannmeile. Im Zimmer 610 von Whispering Pines, Zentrum für betreutes Wohnen, saß Abe und streichelte Doris die Hand. Billy stand in der Ecke und starrte auf den metaphysischen Bannkreis um seine Schuhe. Er war hier fehl am Platze. Es wurde Zeit für den Abschied, und er begriff, es war ein Abschied für immer. Durchs Fenster sah er den Parkplatz und den kleinen, notdürftig instandgehaltenen Besuchergarten. Natürlich gehörten Besuche zu den Pflichten eines anständigen Sohns, aber er beschloß in diesem Moment, daß er sie in Ruhe lassen würde. Lieber Reue und Selbstverachtung als das Gefühl, nicht geliebt zu werden. Billy stellte sich ans Bett. Abe strich Doris durchs Haar, Doris bearbeitete den Rubik’s Cube. Während sie Reihen drehte und Farben mischte, fing ihr Brillantring die Nachmittagssonne ein und ließ Lichtflecken über die Wände huschen. Billy griff nach unten und berührte ihren Fuß unter der Decke. Sie krümmte die Zehen. Es war nur ein Reflex.
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24 IST DOCH GANZ GEMÜTLICH, denkt Billy, diese Routine, das Vertröpfeln der Stunden, die zweckhafte Zwecklosigkeit des Klinikalltags. Leichte Anflüge von Nebenwirkungen (hier der Schatten eines Gespensts, da ein eingebildetes Flüstern) erinnern ihn an das Drama, das sich in seinem Körper abspielt, an die Spannung, mit der er das nächste Gespenst erwartet. Ansonsten ist er schläfrig und dem Existenzkampf aufs Angenehmste entrückt. Der lästige Kleinkram des Lebens ist weit weg. Er muß nur schlucken und bluten. Die Mahlzeiten, etwa das Mittagessen am Donnerstag, landen einfach auf seinem Tablett, ausgewogen und nahrhaft, der tägliche Bedarf wird zu hundert Prozent gestillt, er ist auf eine gesunde Ernährung von zweitausend Kalorien berechnet und fertig. Keine Panik mehr, wenn der Morgen, der Mittag oder der Abend kommt und Entscheidungen anstehen. Was soll er essen? Allein die Ernährungsfrage kann Billy zu Boden drücken. Besonders das Mittagessen. Das Mittagessen ist der Tiefpunkt seines Ernährungszyklus. So viele Probleme heften sich ans Mittagessen! Ein frühes oder ein spätes Mittagessen? Ein großes Mittagessen und dann ein kleines Abendessen oder ein kleines Mittagessen
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und ein großes Abendessen? Vielleicht gar kein Mittagessen und dann ein richtig großes Abendessen? Das Mittagessen versetzt ihn in ein ernährungstechnisches Zwischenreich, dessen Straßen er durchwandert in Erwartung einer Antwort. Mach dir doch eine Stulle, würde Sally sagen, die stets entschlossene Sally, die mit Freuden für Frühstück und Abendessen sorgt. Aber was das Mittagessen betrifft, ist Billy auf sich gestellt. Und im AHRC kriegt er es einfach geliefert, ohne Streß, heute gibt es Makkaroni mit Käse, Billy nimmt den Teller von der Küchenfrau entgegen – »Vielen Dank!« –, als wäre der Käse aus lauter Liebe geschmolzen. Die Bequemlichkeit setzt sich fort im Zimmer, wo Billy bei Kabelfernsehen und Vollklimatisierung sein Mittagessen verdaut. Diesen Luxus gibt es ganz umsonst. Rechnungen sind nicht zu erwarten. Kein Kalender erinnert daran, wie schnell der Monat endet. Keine Zahlungsfristen. Keine Angst vorm Kontostand. Keine ständig fehlenden Briefmarken. Und am anderen Ende der Bequemlichkeit gibt es keinen Müll, kein Recycling, keine Trennung von Papier, Metall, Plastik, Glas, keine Überlegung, was als wiederverwertbar gelten könnte. Kein Krempel, der sich in der Ecke stapelt. Keine Probleme mit Schaben und Mäusen. Der Verbrauch erzeugt keinen Abfall, der Vorrat ist endlos. Einkaufen ist überflüssig. Kein Zwang, sich für ein Produkt unter Tausenden zu entscheiden. Kein Zwang, wegen einer Rolle Klopapier ins Geschäft zu gehen und den Einkauf mit Würde abzuwickeln. Kein Zwang, dem letzten Seifenrest ein bißchen Schaum abzugewinnen. Er muß nicht putzen. Muß sich nicht vornehmen, dem Dreck gleich morgen zu Leibe zu rücken. Billy kann auf dem Klo sitzen wie gerade jetzt und in aller Seelenruhe sein Geschäft erledigen. Am
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Montag geht hier eine Putzkraft mit dem feuchten Mopp durch. Die Handtücher werden gewaschen, ohne daß er mit der Tasche fünf Straßen weiter zum Laundromaten muß, ohne daß er um Kleingeld betteln muß, ohne die ganze Wasch- und Trockenprozedur, ohne die halbherzigen Versuche, die Wäsche ordentlich zusammenzulegen. Zweimal wöchentlich ist Wäschewechsel, wenn Billy irgendwo anders ist, den einzigen Hinweis auf dieses geheimnisvolle Geschehen bietet das frische grüne T-Shirt auf dem frischen Kissenbezug. Selbst Lannigan hat angenehme Seiten. Seine alberne Ganzkörperrasur ist fast liebenswert, auch die Art, wie er gerade mit sich selbst spricht. »Das ist eine gute Frage«, sagt er, obwohl weder Billy noch Do etwas gefragt haben. »Ich war fasziniert von der Figur.« Es ist kaum lauter als ein Flüstern, gerade so, daß man ihn hört. »Diese Figur«, redet er weiter, »ist eine Figur, die ich noch nie auf der Leinwand gesehen habe, ich wollte mich richtig in die Rolle verbeißen. Mehr aus seelischen Gründen, denn meine letzten Filme waren ehrlich gesagt Gift für meine Seele. Erfolgreich zwar, aber nicht wirklich befriedigend. Und in diese Rolle mußte ich meine Seele total einbringen. Meine Nieren, meine Leber, mein Herz – alle inneren Organe mußte ich mit einbeziehen, um in dieser Rolle zu überzeugen. Fast wie die Swamis, die ihr Herz anhalten können. Dieses Niveau der Selbstbeherrschung brauchte ich. Die Transzendenz.« Lannigan blickt verklärt wie ein Baby mit Blähungen. »Ich sage dir, und das ist die reine Wahrheit, noch nie hatte ich so viel Schiß vor einer Rolle wie vor dieser. Weil es ein großer Text ist. Unbedingt. Man könnte sagen: Kunst. Das ist meine aufrichtige Meinung. Das wäre ein echter Shakespeare, wenn der Kerl in Hollywood leben
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würde und sein Filmdebüt Hamlet hieße. Sie wissen ja, daß ich den Hamlet mache, meinen Hamlet. Sehr spannend, aber das ist eine andere Frage. Jedenfalls, dieses Drehbuch stellt höchste Ansprüche. Entweder ich wachse an der Aufgabe, oder ich schmiere ab und verbrenne vor den Augen der ganzen Welt.« Pause. »Ja, vielen Dank.« Längere Pause. »Ich wollte nicht nach Komplimenten haschen, aber das ist sehr nett von Ihnen.« »Wovon redest du überhaupt?« fragt Billy eher angeregt als genervt. »Hä?« »Wovon du da redest.« »Hast du zugehört?« »Du hast geredet.« »Leise«, sagt Lannigan. »Laut genug.« »Ich hab mich selbst interviewt. Manchmal mach ich das. Ich könnte ein richtig starkes Interview geben. Witzig oder auch ernst. Ich könnte über die Jobs reden, die ich hatte, bevor ich groß rauskam. Kellner natürlich, aber auch Masseur mit null Ausbildung. Stimmt wirklich. Ich hab’s einfach getürkt, so getan, als wüßte ich, wie’s geht, sogar die nepalesische Tiefenmassage habe ich improvisiert. Und ich war gut. Ich hatte Kunden, die haben auf mich geschworen. Ein Jahr lang war ich sogar Privatdetektiv, auch ein Job, für den du keinen Abschluß brauchst. Ich habe Hunde ausgeführt, dann Hunde dressiert, obwohl das eher eine Anmaßung von mir war. Dann Model, aber ohne viel Glamour. Friseurhilfe. Einkaufshilfe. Kurz, aber mit Hingabe Teil einer Clique, als der Freund eines Bekannten für etwa eine Millisekunde berühmt war und Leute brauchte, um seine Clubpräsenz aufzuwerten. Okay, das ist Schwindel, aber du
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siehst, ich kann auch lügen. Ich kann dir den unglaublichsten Blödsinn zusammenspinnen. Aus dem Stand könnte ich dir einen Vortrag halten, gib mir einfach ein Thema vor. Irgendeins. Israel. Ähm, Diät Coke gegen Diät Pepsi. Kein Problem. Scheiß auf die Sachkenntnis; was zählt, ist die Präsentation.« Seine brauenlosen Augen leuchten manisch wie eine Lampe ohne Schirm über einer aberwitzigen Nachtarbeit. »Ich habe so gute Antworten auf Fragen, die keiner stellt.« Ja, mit Lannigan hat Billy kein Problem. Auch Do ist in Ordnung. Klar, er ist eine Katastrophe, aber Billy fühlt sich als Beschützer und verteidigt ihn gegen Lannigans Frotzeleien. Er ist so etwas wie sein Freitag, nur hat dieser Freitag den Erlebniswert eines Montagmorgens in New York. Etwa stündlich fragt Billy nach der LukasZeit, Do spielt mit, und zusammen versuchen sie, irgendeine Bedeutung in die Worte hineinzulesen. Sie haben auch Lannigans empfindliche Seite entdeckt: den Gesundheitssender, insbesondere »OP intern«, eine Sendung, die verschiedene chirurgische Techniken in anschaulichen Details darbietet. Heute stehen kosmetische Operationen auf dem Programm. Lannigan hält sich die Augen zu und schreit: »Umschalten!« Aber Billy und Do bleiben hart, als würden sie Dracula mit einem Kruzifix von sich fernhalten. Bald verläßt Lannigan das Zimmer, um sich ein weniger quälendes Ambiente zu suchen. »Schon viel besser«, sagt Billy. »Viel, viel besser«, sagt Do. Sie lassen die Sendung laufen, damit er nicht wiederkommt, und sehen drei Stunden plastische Chirurgie. Sie ziehen sich eine Stunde Fettabsaugung rein – der Patient Nathaniel, ein Anwalt aus San Bernardino, möchte seine
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Rettungsringe loswerden. »Ich trainiere viel«, sagt er in der Einleitung, die ihn beim Joggen am Strand und beim Gewichtheben zeigt. »Aber egal, was ich mache, dieser Ersatzreifen will nicht verschwinden. Man hat mir gesagt, das ist störrisches Fett, das sich meinem Einfluß entzieht.« Der ganze Absaugprozeß wird gezeigt, von der Risikoaufklärung bis hin zum postoperativen Resultat, vor allem aber die Operation selbst, bei der der Arzt Nathans betäubtes Fleisch mit einem Ding mißhandelt, das abwegigerweise »Zauberstab« heißt. So geht es auch bei Kims Augenlifting und Charlottes Wangenverschönerung zu, bei Todds Haarverpflanzung und Pats Nasen-Kinn-Korrektur mit Ohrpiercing. Wie ein Nachmittagstalk unter dem Messer. Nächste Woche sind Brüste dran. Das wird der Straßenfeger, denkt Billy. »Billy?« fragt Do bei einer Dermabrasion. »Ja?« »Läuft dir auch immer die Spucke im Mund zusammen, wenn du Scheiße riechst?« »Ähm.« »Oder ist es krank, so was zu fragen? Das ist krank, stimmt’s?« »Nein, eigentlich nicht.« Ja, Billy mag Do. Und jeden Tag gibt es Joy. Joy nach dem Frühstück, Joy wie jetzt nach dem Abendessen. Billy plaudert mit ihr für die Dauer der Blutentnahme. »Langsam gefällt’s mir hier«, sagt er. »Bin ganz zufrieden. Interessante Leute. Gutes Essen. Fernsehen. Bewußtseinsverändernde Drogen. Ich komme mir vor wie im College.« »Warten Sie den Samstag ab«, sagt sie. »Den PK-Tag?«
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»Ja.« »Dann haben wir mehr Zeit zum Plaudern«, sagt Billy. Joy löst das Röhrchen von der Kanüle. »Darf ich mal anfassen?« »Was?« »Das Röhrchen.« »Klar.« Joy reicht es ihm, und Billy greift danach, als wollte er es – violá! – mit einem Zaubertrick in ihrem Ohr verschwinden lassen. Aber Billy kennt keine Zaubertricks. »Es ist warm«, sagt er. »Was dachten Sie denn? Daß es kalt ist?« »Darf ich es behalten?« »Auf keinen Fall.« Nehmen Sie doch noch eine Probe«, sagt Billy, »und ich behalte diese.« »Das ist gefährlicher organischer Abfall«, klärt Joy ihn auf. »So schnell?« »Sobald es Ihren Körper verläßt.« Übertrieben vorsichtig gibt Billy das Röhrchen zurück. »Was passiert mit dem überschüssigen Blut, wenn es durchgetestet ist?« »Das weiß ich nicht.« »Werden die Proben tief in der Wüste vergraben, in gelben Tonnen mit Totenköpfen drauf, oder einfach nur in den Ausguß geschüttet?« »Wir sind fertig, Sie können gehen, Mr. Schine.« »Schade«, sagt er. Beim Gehen kommt er an einem Time-Magazin vorbei, das jemand auf dem Labortisch abgelegt hat. Das Cover zeigt die MRI von Charles Savitch und die Schlagzeile CHRISTUS ODER MASSENWAHN? »Mein Gott«, sagt er zu Joy, »die Time ist ja mal wieder auf
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Tauchkurs!« »Nicht trödeln.« »Könnte ich den Artikel mal schnell lesen?« »Nehmen Sie das Heft, aber verschwinden Sie.« »Oh, ein Geschenk. Danke.« »Mehr eine Bestechung, damit Sie verschwinden.« »Ich nehme es, wie es kommt.« Billy freut sich und geht ab. Ja, denkt er, diese täglichen Begegnungen mit Joy machen Spaß. Und Gretchen ist ja auch noch da. Billy geht an ihrem Zimmer vorbei, schaut hinein, »Hallo!« Gretchen liegt etwas unelegant im Bett, vor sich die Turbulenzen des Wetters, und sieht aus wie Isis unter Zeugenschutz, nachdem sie das Göttersyndikat verpfiffen hat. Sie erspäht die Time in seiner Hand. »Läßt du dir die Post nachschicken?« fragt sie. »Die ist von Joy geborgt.« »Was ist das auf dem Cover?« Unter der Flagge von Charlie Savitch läuft Billy in Gretchens Zimmer ein. »Was ist das? Die Krankheit des Jahres?« Gretchens Hände sagen: Her damit! Während sie sich durch die Seiten wühlt, manche sogar einreißt, stellt sich Billy vor, ihre Nasenspitze zu berühren, den Knorpelpfeil, zu dem ihr Gesicht den Bogen bildet. »Schon aufgeregt vor dem großen Gespräch?« fragt sie. »Noch nicht. Aber es wird schon kommen.« »Ich kann’s gar nicht erwarten«, sagt sie. Küssen, denkt Billy, ihren Kiefer mit einem kleinen Kuß entwaffnen, einem Testkuß, einem schwebenden, fast kindlichen, ohne Zunge, sogar ohne Lippen, nur auf ihre Wange
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oder Stirn und sich sofort entschuldigen, wenn es sein muß, obwohl, wer weiß, sie könnte ja das Kinn heben, ihm die Arme um den Hals legen und einen elektrisch gurrenden Steck-sie-mir-in-den-Rachen-Laut von sich geben, und kurz bevor sich ihre Münder ineinandersaugen, könnte noch ein bißchen Liebesgeplänkel durchsickern (Billy: »Ich weiß gar nicht, ob das jetzt eine Nebenwirkung oder die wahre Sache ist.« Gretchen: »Liebe ist die größte Nebenwirkung, die es gibt.«), während er ihr übers Haar streicht und die Wechselfälle des Schicksals belächelt, während der Wettermoderator auf das Radarbild mit dem kreisenden grünen Fleck im Mittelwesten zeigt, der gen Nordosten zieht. »Ist doch nicht zu glauben, oder?« sagt Gretchen über das Foto mit den Pilgern vor dem Haus der Savitchs. Billy nickt, die Kußphantasie hat sich erledigt. »Was erwarten die denn?« fragt sie. »Krebs als Errettung, als Gottesgeschenk?« »Wer weiß.« Billy schaut ihr beim Lesen des Artikels zu, die Time ist vor ihr ausgebreitet wie das Röntgenbild ihres Kopfes, es erinnert an die Aufklärungsfilme aus dem BioUnterricht, die die Körpervorgänge zeigen, die Kiefer beim Kauen von Fleisch, das Schlucken, den Speisebrei, der, ein ziemlich ekelhafter Anblick, die durchsichtige Speiseröhre hinunterrutscht. Billy sieht in der MRI sein eigenes Gesicht, das ihr Gehirn überschattet, seine Augen, sein Mund werden zum Ausdruck ihres Verlangens, Lippen spitzen sich zur Aufforderung näherzukommen – Billy, komm, ich will dich –, ihr das Magazin mit sanftem Nachdruck aus der Hand zu nehmen und seine heilende Kraft einzusetzen. Aber Chuck ist Chuck, Billy ist Billy. »Wenn du dir eine Krankheit aussuchen könntest«, fragt er sie, »welche wäre das?«
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»Welche Krankheit ich mir aussuchen würde?« »Ja.« »Ich will keine Krankheit«, sagt sie. »Egal aus welcher Epoche«, erklärt er. »Tuberkulose, Pest.« »Tut mir leid, aber ich will überhaupt keine Krankheit.« »Hast du nie darüber nachgedacht?« »Nein.« »Nicht mal eine Modekrankheit wie die Schwindsucht bei den Dichtern des 19. Jahrhunderts?« »Nein, tut mir leid.« »Für mich wäre es das Lesch-Nyhan-Syndrom. Das würde ich mir aussuchen.« »Wie bitte?« »Das Lesch-Nyhan-Syndrom«, wiederholt Billy. »Das ist eine erbliche Störung des Purinstoffwechsels. Da passieren schreckliche Dinge, das Schlimmste ist eine Tendenz zum Selbstkannibalismus. Du zerbeißt dir zwanghaft die Finger, die Hände, die Arme, alles. Im Grunde versuchst du, dich selbst zu fressen. Deine Lippen, deine Zunge, deine Zehen.« Gretchen verzieht das Gesicht. »Ist ja gräßlich.« »Schlimmer noch, die Krankheit trifft nur Kinder.« »Man frißt sich zu Tode?« »Nein, man stirbt an vielen anderen Dingen.« »Von der Krankheit hab ich noch nie gehört.« »Gott sei Dank ist sie selten.« Billy kennt die Krankheit aus einem Buch seiner Eltern, einem Ratgeber für Kinderpflege aus den fünfziger Jahren mit dem passenden Titel Ist Ihr Kind krank? Es listete Symptome auf, die mögliche Diagnose und die geeignete Behandlung, und in der Mitte, wie eine Scheibe fetter Speck, befand sich ein Bogen mit sech-
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zehn Schwarzweißbildern. Das letzte zeigte einen Jungen, den man im Bett festgebunden hatte, um ihn herum standen Ärzte. Ein schwarzer Balken verdeckte seine Augen. Für den neunjährigen Billy war das ein beängstigender Anblick, die Maske des Lone Ranger ohne Wilhelm-TellOuvertüre, ohne Tonto und »Kemo Sabe«, ohne »Hiyo, Silver, auf geht’s!« und all das, was ihm die öden Samstagvormittage versüßte, wenn der Lokalsender die alten Serien wiederholte, Flash Gordon gleich danach, Superman, all die Sachen, die die Väter begeisterten und nun auch die Söhne. Aber diese schwarze Maske diente nicht der Tarnung. Leiden hatte nichts mit einer geheimen Identität zu tun. Und Billy, von Grusel gepackt, ging zu seinem Vater. »Es könnte sein, daß ich das hier habe.« Sein Vater, sofort besorgt: »Was?« Billy zeigte ihm das Bild. »Lesch was?« sagte Abe. »Sei nicht albern.« »Ich glaube, ich habe diese Krankheit«, beharrte Billy. »Hast du nicht.« »Aber es könnte sein.« Die Last einer abwegigen Vermutung senkte sich auf Abes Schultern. »Die ist sehr selten«, sagte er. »Aber ich glaube, ich habe sie.« »Hör auf mit dem Unsinn. Du bist vollkommen gesund«, sagte er, und es klang nach Geringschätzung. »Aber ich könnte sie kriegen.« »Du wirst sie nicht kriegen.« »Es kann noch passieren.« »Dann hättest du damit geboren sein müssen«, sagte Abe. »Das hätten wir sofort erfahren.« »Ich werde sie bekämpfen«, versprach Billy. »Ich werde alles tun, um nicht meine Finger aufzuessen. Kann sein,
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daß du mich nachts ans Bett fesseln mußt.« »Billy, es reicht.« »Ich kaue schon meine Nägel. Wer weiß, was als nächstes kommt.« »Billy ...« »Aber was würdest du machen, wenn ich die Krankheit hätte?« Abes Augen waren so undurchschaubar wie der Balken über den Augen des Jungen. »Was ich machen würde? Was könnte ich denn machen? Dumme Frage. Du bist nicht krank, du bist gesund. Und jetzt genug. Gib mir das Buch.« Damit war die Sache erledigt. Statt Gretchen davon zu erzählen, sagt Billy einfach: »Ich weiß nicht mal, ob Lesch-Nyhan noch ein Thema ist, wo es doch Ultraschall und Fruchtwasserspiegelung gibt.« »Aber warum solltest du dir eine solche Krankheit wünschen?« fragt sie. »Weiß ich auch nicht«, sagt Billy, der nun merkt, daß er mit seinem Flirt weit vom Kurs abgekommen ist. »Solche Sachen sollte man sich nicht an den Hals wünschen«, erklärt Gretchen. »Selbst wenn du es nur provozierend meinst, was ich goutieren kann, aber von Krankheiten kommt nichts Gutes. Ich muß immer an die Leute denken, die das Medikament einnehmen, das wir testen, also irgendwann von unserem Einsatz profitieren. Ohne kitschig klingen zu wollen, aber ich sehe mich als eine von Tausenden, die mithelfen, daß sie wieder auf die Beine kommen und ihre Verwirrtheit abschütteln. Als würden sie jedesmal, wenn sie ihr Medikament einnehmen, ein Stück von mir einnehmen. Okay, das klingt vielleicht wirklich kitschig, aber Gott sei Dank sind wir gesund. Unterschätz das nicht. Irgendwann kommt der Punkt, wo du krank wirst und
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stirbst – keine Sorge, du wirst ihn nicht verpassen. Aber im Moment bist du gesund. Du solltest froh darüber sein. Ich zum Beispiel bin froh, daß du noch alle Finger und alle Zehen hast.« Gretchen wendet ihm das Gesicht zu und trifft genau den Punkt, wo das Licht wahre Wunder mit ihr vollbringt. Ihre Augen flirren, als würde Hitze zwischen den Betten aufsteigen und seine Brust zum Flattern bringen, sein Brustbein in ein Wurmloch verwandeln, in das diese Frau auf der anderen Seite hineinklettern könnte, um sich jeden beliebigen Billy aus jeder beliebigen Zeit auszusuchen, weil ihr alle gehören und sie jeden von ihnen versteht. Obwohl er sie nicht küßt und bald sein eigenes Bett aufsucht, denkt er, dies ist kein schlechter Aufenthalt.
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25 Es GIBT NARBEN im Oxford Dictionary of Quotations, wenn auch nicht viele. Zum Beispiel John Bunyan mit Mr. Valiant-for-Truth, der von seinen Narben sagt, daß sie ihn begleiten, um seine geschlagenen Schlachten zu bezeugen. Oder Lord Macaulay, der von Boswell’s Life of Johnson spricht und dessen eindrucksvolles, von Narben zerfurchtes Gesicht erwähnt. Oder Shakespeare mit seinem Heinrich V., der seine Kampfgefährten am St. Crispinstag die Ärmel hochstreifen und die in der Schlacht erworbenen Narben vorführen läßt. Billy liegt im Halbschlaf und hat lauter Narben im Kopf, literarische und schlimmere. Vielleicht führt Bartlett’s Zitatenlexikon noch mehr Narben auf, aber im ODQ gibt es nur drei. Frank Gershin, denkt Billy, übertrifft sie alle. An diesem Vormittag, es ist Freitag, hat Billy im Aufenthaltsraum einen Dokumentarfilm über Entbindungsstationen in verschiedenen Krankenhäusern der USA gesehen. »Vielleicht zeigen sie ein bißchen Muschi«, war die Übereinkunft, die alle zum Bleiben motivierte, aber bald wurde die Motivation vom Naturschauspiel der Geburt und von gekonnter Schnittechnik überdeckt. Alle Normalen starrten wie gebannt, während eine Frau nach der anderen gebar,
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unter ständig anderen Bedingungen. Es herrschte Einigkeit, daß das ein übernatürlicher Vorgang sei, von absoluter Science-Fiction-Qualität. Da sprang Stew Slocum auf wie angestochen: »Jetzt zeig ich euch Schmerz und Qual!« Respektheischend zog er sich das Hemd über den Kopf. Auf seine Brust waren Krallen tätowiert, die ihn zerfleischten. Ein Blutbad, gezeichnet mit der Präzision eines anatomischen Atlas. Ein Stück Schlüsselbein war zu sehen und das zornesrote Auge eines unbekannten Tiers unter einer blutenden Brustwarze. »Ich lag zwei volle Tage unter der Nadel«, verkündete er mit Stolz. Seine Brust war hohl und bleich wie ein sitzengebliebener Hefeteig. Billy fand das Kunstwerk zwar beachtlich, aber Slocums Gestalt machte keinen verwegenen, eher einen rachitischen Eindruck auf ihn. »Du siehst aus wie ein Sackvoll hungrige Ratten«, versicherte ihm Yul Gertner. »Fick dich«, sagte Stew, »Es sieht geil aus, und du weißt es.« »Hast du dir auch ein Arschloch auf den Arsch tätowieren lassen?« »Nein, da hab ich das Gesicht deiner Mama.« »Na, vielen Dank. Die ist tot.« Das Tier in Stew schrumpfte zusammen. »Im Ernst?« »Im Ernst.« »Oh.« Dann meldete sich Frank Gershin zu Wort, Frank, der immer einen langärmligen Rolli unter dem grünen T-Shirt trägt und normalerweise wie ein stummer Beobachter aus einem zivilisierteren Land dasitzt. Seine Augen geben zu verstehen, daß sie einiges gesehen haben. »Tattoos, Piercings, Brandings«, verkündete er, »das haben doch heute
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alle, und ihre Muttis gleich mit. Nichts wie Tinte, Ringe und Stifte. Ich hasse diese modernen Primitiven, die ihren Körper manipulieren, weil sie unbedingt schocken wollen. Der Trend ist doch mausetot. Da könnt ihr auch gleich als Ochsen gehen, mit Brandzeichen von der Gruppenwichserfarm.« Stew Slocum kreuzte die Arme, als wäre das Tier aus seinem Brustkasten gesprungen und in seinen Händen gelandet, als Kätzchen. »Wollt ihr mal was Richtiges sehen?« fragte Frank Gershin. »Nichts Getürktes, sondern was Echtes?« Er stand auf, zog sein grünes T-Shirt aus, legte es ordentlich zusammen, dann machte er dasselbe mit seinem Rolli. Niemand interessierte sich mehr für Kaiserschnitte. Frank Gershins Oberkörper war von Narben interpunktiert, aber nicht von Punkten, Kommas, Semikolons, sondern ganzen Sätzen, wie von einer zornigen Feder eingeritzt. In Schwüngen und Bögen durchkerbten die Narben seine Haut, als hätten seine Poren brodelndes Magma abgesondert. Frank hob die Arme, drehte sich um. Sein Rücken folgte derselben Grammatik. »Was zum Teufel ist das?« rief Yul Gertner. »Schußwunden.« »Warst du im Krieg oder was?« fragte Billy. »Nein, die hab ich mir alle machen lassen«, versicherte Frank. »Außer dieser.« Er zeigte auf seine linke Seite, wo sich eine wulstige Narbe zum brutalen Kußmaul formte. Von der anderen Seite sah sie sogar noch gräßlicher aus, wie eine Rose, eine welkende, pinkfarbene American Beauty. »Das ist meine erste Wunde. Mein kleiner Bruder hat sie mir verpaßt – ein Jagdunfall. Im Eifer des Gefechts hat er mich mit dem Hirsch verwechselt. Ich glaube, er hat mehr gelitten als ich, so wie er geheult hat.«
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»Ganz schönes Ding«, sagte Billy. »Klar.« Frank rieb die Narbe wie einen Kummerstein. »Aber alle anderen sind mit Absicht entstanden.« »Das ist krank«, sagte Stew. »Stimmt, das ist krank.« erwiderte Frank. »Wie kann man sich denn mit Absicht beschießen lassen?« fragte Billy. Er beugte sich vor, um die Blindenschrift zu berühren, vielleicht den Schmerz zu entziffern. »Ich kenne einen in New York, der sich auf Verletzungen spezialisiert. Den hab ich vor Jahren im Internet gefunden, als ich so rumsuchte nach Seiten über Schußwunden, da fand ich ein Link, das zu einem anderen Link führte, dann zu einem Chatroom, schließlich zu einem Lagerhaus am Rand von Queens. Dort ist sein Studio. Er ist Südamerikaner, war Sanitäter in irgendeiner Söldnertruppe, kennt sich aus mit Schußbahnen und Ballistik. Lädt immer von Hand, und nur seine eigene Muni.« »Verletzungen?« fragte Stew. »Ja.« »Durch Schüsse?« »Ja. Aber mein Verletzer macht das sehr professionell. Er betäubt dich, beschießt dich, stabilisiert dich, behandelt dich, und wenn das nicht reicht, schickt er dich ins Krankenhaus. Die Notaufnahme kriegt Schweigegeld. Seine Wunden sind sehr sauber, und er kann dir alles verpassen, was du willst.« »Ist das jetzt Mode?« fragte Billy. »Ich hoffe nicht«, sagte Frank. »Aber es gibt da Enthusiasten. Als ich das erstemal da war, war er gerade dabei, einer durchgeknallten Gothic-Zicke eine Jeanne d’Arc zu machen. Ich komme da an, tippe all die geheimen Paßwörter ein, die Lagerhaustür geht auf, und da steht er, ein Kerl
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wie eine Faust, den Schädel voller Beulen. Hat nichts weiter an als eine rote Speedo-Badehose und Flipflops. Mit einem Akzent, als hätten die Nazis England erobert. Er führt mich durch sein Atelier, das ist halb Schießstand, halb Krankenhaus und absolut schalldicht. Und währenddessen bestreicht sein Assistent die Beine der Möchtegern-Jeanne mit einem brennbaren Spezialgel, das bei niedriger, aber entstellender Hitze abfackelt. Sie ist nackt bis auf einen dicken feuerabweisenden BH und Slip. Total freakig. Der Südafrikaner setzt mich hin und zeigt mir seine Mustermappe. Die ist voller Kleinkaliberwunden, die sich im unteren vierstelligen Bereich bewegen, je nach Plazierung. Arme und Beine kommen billiger als der Rumpf, sagt er. Er erklärt mir die verschiedenen Kaliber und Ummantelungen, die Durchschlagskraft bei bestimmten Waffen, die .357er Magnum im Vergleich mit der .38er Special. Hält mir einen Vortrag über Beretta, Colt, Luger, Webley-Scott, Martini-Henry, Mossberg und die Snider, die seine Lieblingswaffe ist – wenig bekannt und hinterläßt die schönste Austrittswunde. Der Typ versteht sein Handwerk. Besonders beliebt, sagt er, sind historische Verletzungen, die von Al Capone, Andy Warhol, Bonny and Clyde – nur für Pärchen –, Dillinger, Jesus. Und natürlich Jeanne d’Arc. Er macht für mich eine Führung durch sein kleines Brennstudio seinen kleinen OP, seinen kleinen Genesungstrakt. All das treibt die Kosten, aber ein richtiges Krankenhaus würde seine Arbeit ruinieren, und plastische Chirurgen sind für ihn die schlimmste Sorte von Restauratoren. Er spricht auch das Sterberisiko an, erklärt mir aber daß ein einziger Todesfall das Aus für ihn wäre, weshalb er sich keinen Patzer erlauben darf. Während er so redet, zeigt Jeanne auf die Stellen ihres Oberkörpers, die sie verbrannt
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haben will. Mir erklärt sie, weil ich sie so anstarre, daß dieser Verletzer ein Künstler ist. Er zeigt mir dann seine exotischeren Sachen. Pfeil und Bogen für den Cowboy, Glocks für Hip-Hopper, ein Tupac wird erwähnt, ein Biggie Smalls, und für Kenner hat er Zugang zu einem Waffensammlung der Extraklasse, der bereit ist, seine museumsreifen Schätze auszuleihen. Du kannst dich von einer Muskete anschießen lassen, einer Arkebuse, einer Kentuckyflinte, einer Tommy-Gun, einem Henry-Stutzen, einer Enfield, einer Springfield, einer Krupp, einer Renington. Er hat sogar die Pistole, mit der Präsident McKinley 1901 ermordet wurde, und eine Maschinenpistole vom Attentat auf Sadat. Nur eine Bedingung stellt der Sammler: daß er zuschauen darf, das turnt ihn an, sagt der Verletzer. Das ist der pure Wahnsinn, denke ich und will schon abhauen. Der Verletzer geht zu Ms. d’Arc und spritzt ihr Morphium, dann wird sie mit Drähten und Flaschenzügen einen Meter in die Höhe gezogen, ihre Arme werden nach oben gestreckt. Eine Leiter wird gebracht. Auf keinen Fall macht er etürkte OP-Narben oder Amputationen oder Augenentfernungen, das wäre wie Genremalerei, und da hat er recht, finde ich. Er hat seine Prinzipien, sagt er, und produziert ausschließlich echte Verletzungen. Dann prüft er die Vorbereitungen seines Assistenten und fügt noch ein paar Pinselstriche hinzu. Ich will jetzt weg, bevor mir was passiert, aber Jeanne, sie hängt da, und ich komme nicht los von ihren Augen. Zwei Assistenten bringen die Feuerlöscher. Der Verletzer blickt auf die Uhr. Jeanne zittert. Ich will am liebsten weg. Aber diese Augen. Sie hämmern auf mich ein, wie ein Hammer, der Metall zu einer Schale treibt, die bald etwas Kostbares enthalten wird. Sorry. Aber da ist was mit mir passiert, die Flamme, der Geruch, diese Augen, die
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mich anstarren, als wollten sie mir ein Geschenk machen. Seitdem bin ich auf dem Trip. Ich habe Verletzungen für sechzigtausend Dollar, aber irgendwann kommt der Punkt, wo du jeden Zentimeter bedeckt haben willst.« »Nicht mit mir«, sagte Yul Gertner. Unter den Schreien einer minderjährigen Gebärenden zog Frank Gershin seinen Rolli wieder an, der Arzt sagte zu ihr, sie solle nicht pressen, noch nicht. »Du wirst beschossen, und du weißt, dir ist was passiert, mit dreihundert Metern pro Sekunde ist was in dich eingeschlagen. Das hab ich gespürt, als mein Bruder auf mich geschossen hat, und ich spüre es jetzt. Das ist der wahre Kick, Jungs. Egal, wie gut das arrangiert ist: Du bist getroffen, du blutest, es tut weh, und na ist immer einer am anderen Ende.« Billy liegt im Bett, im Halbschlaf, das Oxford Dictionary of Quotations ruht aufgeklappt auf seiner Brust, wie Hände, die ihm eine Herzmassage verpassen, Extrakte von Shakespeare und Milton in ihn hineinpumpen. Nie hat sich seine Haut so nackt gefühlt. Und während er langsam in den Schlaf sinkt, erscheint ihm ein Bild, nicht das von Frank Gershin und seinen Narben, sondern das von Frank Gershins Bruder, dem kleinen Bob oder Jack oder Tim, der mit seinem großen Bruder in den Wald geht, ganz gespannt auf den Hirsch. Doch dann nimmt der kleine Jessie oder Fred aus lauter Langeweile, weil sich der Hirsch nicht blicken läßt, seinen Bruder Frank aufs Korn, nur so zum Spaß, richtet das Fadenkreuz auf ihn aus. Finger tasten sich vor, denkt Billy, Muskeln zucken. Stimmen schreien eine Sekunde zu spät, aber das Echo bleibt für immer.
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26 BILLY WIRD VON Roger Coop aus dem Schlaf gerissen, dem Bewacher des Telefons, dem Tantalus, der verdammt ist, jeden Anruf anzunehmen, in Erwartung des einen, der nie kommt. »Anruf für dich«, sagt er zu Billy. »Für mich?« »Gibt’s hier einen anderen Schine?« »Weißt du, wer es ist?« »Bin ich etwa deine Sekretärin?« »Kannst du mal fragen, wer es ist?« »Vergiß es!« »Okay. Weiblich oder männlich?« »Ich spiel doch nicht Zwanzig Fragen! Geh ran, oder ich lege auf.« »Nein. Ja. Schon gut.« Billy wälzt sich aus dem Bett und wankt in den Flur, wo der Hörer an der Strippe hängt wie ein neuer Fall von Telefonvandalismus. Ragnar dreht ihm den Magen um, Ragnar, der seine Spur nach Albany verfolgt hat. Oder ist es Sally, die fragt, was sie mit seinen Büchern machen soll? Sally, die sich ein wenig erholt hat? Billy starrt das schwarze Pendel an, das immer noch von Roger Coops Enttäuschung kündet. Er greift zu,
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hört schweres Atmen, Hintergrundgeplapper und ein paar gräßliche Huster. Ragnar, denkt er, eindeutig Ragnar. »Ist da jemand?« kommt eine Stimme. Es ist nicht Ragnar, es ist schlimmer als Ragnar. »Abe?« fragt Billy. »Billy?« fragt Abe. »Ja, Abe.« »Billy, bist du’s?« »Ja, Abe. Ich bin’s.« »Hier ist dein Vater.« »Ich weiß.« »Wo steckst du, Billy?« »Woher hast du diese Nummer?« »Ich hab dich vor kurzem angerufen, und deine Freundin gab mir diese Nummer.« Billy verflucht die Rufnummernkennung. Er denkt an Sally, die kalte Rache nimmt, während sie ein Dutzend Bücherkartons auffaltet. O Sally! Sally, tut mir leid. »Ich habe eine Lieferung Kartons von dir bekommen«, sagt Abe. »Ich bin umgezogen«, sagt Billy. »Ich dachte erst, du würdest wieder zu uns ziehen. Ich dachte, eines Tages würde ich von Doris nach Hause kommen, und dann wärst du da, aber es waren nur die Kartons. Ich hab mich gefragt, ob dir was passiert ist, ob das deine persönliche Habe ist. Das und die Blumen, die du geschickt hast. Ich hab mir Gedanken gemacht, deshalb rufe ich an.« »Waren die Blumen schön?« Billy möchte wissen, wie Ragnars Drohung aussah. »Klar. Lilien. Sehr schön.« Jetzt hätte er gern gewußt, wie Lilien aussehen. »Was
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stand auf der Karte?« »Ich denke an dich oder so was. In Gedanken stets bei Dir. Kann mich nicht recht entsinnen.« Hinter Abe ist Stimmengewirr zu hören, gelegentlich eine Lautsprecheransage. »Von wo rufst du an?« fragt Billy. »Einer Flughafenbar«, antwortet Abe. »Willst du verreisen?« »Ich? Nein. Ich doch nicht. Aber in der Nähe von Whispering Pines gibt es ein Marriott, und die haben einen Gratisshuttle zum Flughafen und zurück.« »Oh.« »Nach dem Besuch, wenn ich nicht nach Hause will, komme ich hierher. All diese Busfahrten. Das wird mir zuviel. Also laufe ich hier rum, sitze und lese, sehe Nachrichten. Manchmal schlafe ich. Manchmal bleibe ich über Nacht, als wäre mein Flug gestrichen und ich sitze hier fest, dann kann ich gleich am Morgen zu Doris, ohne zwei Stunden Busfahrt. Ist gar nicht schlecht hier, viele Toiletten, Wasserspender, schön gekühlt, Buchläden, Imbisse. Und einer der wenigen Orte, wo sie einem noch die Schuhe putzen. Die Leute glauben, du bist auf Reisen und wartest nur auf deinen Flug. Kein schlechter Ort für einen alten Mann.« Das klingt so bedrückend, daß Billy die Worte fehlen. Er verkneift sich eine spöttische Bemerkung (wie ich höre, ist Charles de Gaulle um diese Jahreszeit sehr schön), weil a) die Wirkung ins Leere gehen würde, b) die Vorstellung, daß sich sein Vater auf dem Cincinnati-Airport herumtreibt, jeden Witz erschlägt, c) er sich selbst in den Worten seines Vaters erkennt. Sich im Gesicht des Vaters zu sehen ist eine Sache – die gleichen Augen, das gleiche Kinn –, aber
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es ist eine andere, sich in den Worten des Vaters wiederzuerkennen, in den kleinen Gesten und Redensarten, denn das hebelt einen innerlich aus. Also sagt Billy: »Du bist doch kein alter Mann.« »Alt genug.« »Du solltest mal nach New York kommen. Wir können den Tag auf dem JFK verbringen.« Billy meint es halb ernst. »Komm übers Wochenende, dann besuchen wir auch Newark und LaGuardia.« »Ich kannte JFK, als er noch Idlewild hieß«, sagt Abe. »Der ideale Name für einen Flughafen. Schande über den Kerl. Aber daß uns auch noch Idlewild verlorengeht!« »Alles in Ordnung mit dir, Abe?« »Deshalb ruf ich dich ja an.« »Wie geht’s Doris?« »Sie wird mich überleben.« »Wie meinst du das?« »Ich meine damit, daß sie stärker ist als ich. Immer gewesen. Ich habe Angst vor dem Tag, wenn ich nicht mehr für sie da bin, und das bringt mich um, daß sie allein und ohne Hilfe zurückbleibt.« Billy hört Gelächter, ein seltsames, fast mechanisches Lachen in der Nähe seines Vaters. Ein zerzauster Papagei könnte auf Abes Schulter hocken, ein Papagei, dessen Besitzer vor Jahren gestorben ist und von dem nur die recycelten Beweise seiner Zuneigung geblieben sind. »Was zum Teufel war das?« fragt Billy. »Was?« »Hast du das nicht gehört?« »Was?« »Das Lachen.« »Das ist der Gentleman auf dem Barhocker neben mir.
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Aber der ist nicht echt. Das ist ein Roboter, der hier sitzt und seinem Roboterfreund Witze erzählt. Keine Roboter, sagt der Barmann, sondern Animatronics. Die sind Stammgäste hier. Sie sitzen zusammen, foppen sich gegenseitig und tun so, als ob sie Bier trinken. Die Leute scheinen das lustig zu finden. Jede Stunde fangen sie von vorne an. Ich kenne schon alle Witze, der Barmann auch. Er sagt, das gehört zum Thema dieser Bar, und eines Tages haut er ihnen eine Flasche über den Kopf und schmeißt sie raus, auch wenn die ganze Elektronik ein Vermögen kostet.« »Ich glaube, die sind aus irgendeiner TV-Serie.« »Ich glaube, das stimmt.« »Und wie telefonierst du? Mit einem Handy?« »Ich hab mir eins besorgt, damit mich Doris immer erreicht. Nicht, daß sie anruft, das kann sie nicht mehr, aber sie nimmt noch ab, das kann sie noch, den Anruf annehmen. Ich rufe sie an, wenn ich im Bus bin, auf der Fahrt nach Hause. Ich spreche mit ihr und weiß, daß sie zuhört, weil ich sie atmen höre.« Aus irgendeinem Grund bedrückt es ihn, daß sein Vater ein Handy hat. »Weißt du, was ich mir dachte, Billy?« »Was, Abe?« »Ich dachte, du solltest in die 47th Street gehen und das Familiengeschäft besuchen. Du solltest da reinstürmen und ihnen sagen, wer du bist, der Sohn von Abraham Schine und Doris McMinn. Das wäre doch was. Einfach die Tür eintreten – nein, ganz ruhig hineingehen, ja, mit Würde, all diesen Schines und Sappersteins ins Auge schauen und ihre harten Herzen verfluchen. Such meine Brüder und sag ihnen, wie glücklich ich bin, wie froh ich bin, daß ich ihren Klauen gerade so entkommen bin, daß ich für die Liebe
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gelebt habe und sie für etwas viel Kälteres – und schau sie dir an. Ich bin sicher, sie sehen furchtbar aus. O ja, das solltest du tun. Heute noch. Oder morgen. Bald jedenfalls. Ich stell mir ihre Gesichter vor, den stolzen Handschlag, aber sie haben keine Ehre. Sag ihnen das, genau so. Ihr Familiensinn mißt sich daran, wie knapp wir überlebt haben. Ich bin sicher, in ihren Köpfen existieren wir nur als Steckbrief. Sag ihnen, daß du in Harvard warst, und zieh dich so an, daß du nach Erfolg aussiehst, daß du den ganzen Laden aufkaufen könntest, denn ich wette, ihre Söhne stehen hinterm Ladentisch, verscherbeln Erbschaften und lauern darauf, daß reiche Witwen abkratzen. Biete ihnen eine exotische Summe. Au ja, das mußt du tun!« Billy hört wieder das Lachen, das, obwohl es seine Erklärung gefunden hat, immer noch unheimlich klingt. Er überlegt, ob er seinem Vater erzählen soll, daß er das Geschäft schon mal betreten hat (Schine Brothers, im Fenster glitzernder Simili-Schmuck), ein paar Jahre ist es her. Er ging hinein, gab listig vor, sich verloben zu wollen, und erzählte dem schwarzen Kaftan hinter dem Tresen, er wolle zwanzigtausend Dollar für einen Verlobungsring ausgeben. Vielleicht war der Verkäufer ein Verwandter, bärtig und leberfleckig, aber mit einem überraschenden Humor, der seiner Erscheinung widersprach, als hätte er ihn aus einer fernen Zeit herübergerettet. »Ein paar hübsche Grabsteine für den Bräutigam«, sagte er, als er die Ware präsentierte. Er erläuterte die unterschiedlichen Schliffe und Fassungen, benutzte seinen kleinen Finger zum Zeigen, dann rief er eine schwarzhaarige Schönheit herbei, die Sasha hieß, eine betörende linke Hand und einen noch betörenderen russischen Akzent besaß. Sie streifte die Ringe über und bot ihm die Hand dar wie zum Walzer. »Ich liebe die Baguettes
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an diesem hier«, gurrte sie. Billy stimmte ihr zu, auch der verwandte Schine, der Sasha mit einem Blick taxierte und sagte: »Manchmal denke ich, du bist nicht gerade die Idealbesetzung für einen Mann, der auf Brautschau ist.« Sie quittierte es mit einem blitzenden Lächeln. Ein weiterer Verkäufer kam an den Tisch, auch ein potentieller Schine, diesmal mit Schläfenlocken statt Vollbart. Er schob sich am ersten Verkäufer vorbei, stieß ihn scherzhaft mit der Schulter und sagte: »Ruiniert Sasha schon wieder eine Verlobung?« Billy zog sein Spiel durch, wie Sasha das ihre, mit lässigem Charme. Der ältere Verkäufer flüsterte ihm zu: »Wenn Sie die wollen, brauchen Sie mindestens vier Karat.« Billy war versucht, sich zu erkennen zu geben, sich vor diesen Männern und der gespielten Braut als Sohn von Abe zu outen, ganz leise die Wahrheit zu flüstern – ich bin Billy Schine –, diesen Schwarzröcken etwas vom Ruch der Schurkerei zu nehmen. Statt dessen sagte er nur: »Das muß ich mir erst noch überlegen.« Der Verkäufer, enttäuscht, gab ihm seine Karte – Lev Halevy, Verkaufsabteilung. »Ich bin sicher, wir finden etwas für Sie, rufen Sie mich an, wenn es soweit ist.« Und das war’s. Billy blieb vor dem Laden stehen und haßte sich dafür, daß er nichts gesagt hatte, ein lächerlicher Adrenalinschub ließ sein Herz klopfen, seine Füße zuckten in der Absicht, wieder hineinzugehen, bis er es endgültig aufgab. »Billy?« »Ja, Abe.« »Wo bist du?« »Ich muß Schluß machen«, sagt Billy, der Roger Coop kommen sieht. »Ich freu mich, daß du angerufen hast.« »Du hast doch angerufen.«
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»Die Blumen, die waren schön. Du solltest wissen, Billy, ich bin schrecklich einsam. Selbst wenn ich bei ihr bin. Schrecklich einsam. Bitte komm nach Hause, Billy. Wir brauchen deine Hilfe.« »Ich muß jetzt wirklich Schluß machen«, sagt Billy. »Komm nach Hause, Billy.« »Abe...« »Ich hab die richtigen Tabletten.« Billy zuckt zusammen, umklammert den Hörer, als wäre seine Hand nur noch mit der Säge vom Hörer zu trennen. »Aber wir brauchen Hilfe bei den Plastiktüten. So schlägt es die Hemlock-Society vor, Tabletten und Plastiktüten, um sicher zu sein, absolut sicher, daß es klappt.« »Abe...« »Bitte komm nach Hause.« »Ich...« »Zusammen im Bett, so wollen wir es. An unserem Hochzeitstag. Weißt du, wann der ist?« »Am 4. September«, antwortet Billy. »Das Jahr?« »1961«, antwortet Billy. »Bist ein guter Junge. Am achtunddreißigsten Hochzeitstag. Schade, daß wir’s nicht bis 2001 schaffen, dann wären es vierzig. Ich hätte ihr was mit Rubinen geschenkt, auch wenn es wohl nur für Granat gereicht hatte. Aber der 4. September wird unser Tag. Wir tun die Tabletten in Eiskrem und mischen etwas Alkohol dazu, Rum, denke ich. Aber ich brauche deine Hilfe, um sie nach Hause zu holen und ins Bett zu bringen. Und wenn wir eingeschlafen sind, brauchen wir deine Hilfe mit den Plastiktüten.« Billy lacht, unglückseligerweise lacht er. Es ist schrecklich, aber er lacht so hohl wie die Roboter, die neben sei-
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nem Vater an der Bar sitzen. »Tut mir leid, Abe«, sagt er, »aber ich werde euch nicht umbringen. Vielleicht wenn ich jünger wäre, aber nicht jetzt, nicht mit Ende zwanzig.« »Ich habe alles vorbereitet. Du mußt nichts tun. Uns nur die Tüten über den Kopf ziehen und mit Gummis befestigen. Um alles andere kümmere ich mich.« »Abe, bitte.« »Du würdest uns einen Gefallen tun.« »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Abe, aber unsere Beziehung ist nicht so stark, daß ich dich und Mom umbringen könnte. Tut mir leid.« Und das ist die Wahrheit. Billy wünscht sich, er könnte sie so lieben, daß er sie auch töten kann, beide auf die Stirn küssen kann, bevor er sie erstickt und dem Tod überantwortet wie ein guter, Euthanasie übender Sohn. »Ich könnte auch im Gefängnis landen. Nein, nein, nein. Das ist überhaupt keine gute Idee.« »Wir wollen zusammen sterben, und nicht so.« »Über dieses Thema rede ich nicht mit dir.« »Ich kann es auch allein versuchen«, sagt Abe. »Dann wird es eben ein Schlamassel.« Das Wort »Schlamassel« kommt Billy zutiefst beunruhigend vor. »Abe, du solltest dich mal reden hören.« »Ich meine es ernst.« »Meine es lieber nicht so ernst«, sagt Billy. »Denken wir doch eine Sekunde auch mal an mich. Ich werde zum Waisenkind.« Zum Waisenkind? Ein achtundzwanzigjähriges Waisenkind? »Okay, vielleicht kein Waisenkind. Aber ich verliere beide Eltern auf einen Rutsch. Darauf bin ich nicht vorbereitet, nicht so – auf einen Rutsch. Nein, ich brauche mehr Zeit. Der 4. September ist nicht mehr weit. Also verschieb den Doppelselbstmord noch mal. Um meinetwillen.«
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Abe läßt sich nicht erschüttern. »Wir wollen eingeäschert werden«, sagt er. »Unsere Asche soll vermengt und in vier gleiche Teile geteilt und an vier verschiedenen Orten verstreut werden: ein Teil vor dem Wintergarden-Theater, ein Teil bei der Fahrt mit der Achterbahn in Coney Island, ein Teil auf der Fahrt zur Freiheitsstatue und ein Teil auf der Aussichtsplattform des Empire State Building.« »Mein Gott, Abe, das ist ja wie eine montierte Ansichtskarte!« »Alle unsere Wünsche schreibe ich in den Abschiedsbrief.« »Ich mach das nicht«, warnt ihn Billy. »Wenn du das von mir verlangst, begrabe ich euch getrennt, mit einer Landstraße dazwischen.« »Das wirst du nicht tun, Billy. Du bist ein guter Junge.« »Das kannst du mir nicht antun! Mir so etwas zuzumuten!« »Komm nach Hause und hilf deinem Vater und deiner Mutter.« »Das ist doch Wahnsinn«, sagt Billy verzagt. »Verschieb es einfach. Versprich mir, daß du’s verschiebst, bis ich mich bei dir melde oder nach Hause komme oder was immer.« »Egal, was kommt, am 4. September wird es passieren.« »Sei doch mal flexibel, um Gottes Willen!« »Komm nach Hause, Billy.« «Ich weiß nicht, ob ich dafür nach Hause kommen kann.« »Ich liebe meine Frau, Billy.« »Glaub mir, das weiß ich.« »Komm nach Hause, Billy.« Wieder im Bett, verfällt Billy in einen Schockzustand, der die Zukunft in eine Kette unmöglicher Verstrickungen ver-
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wandelt, ad nauseam ad infinitum, Billy schließt die Augen, Billy reibt sich die Augen, bis ganze Galaxien von Lichteffekten entstehen, wie die Schlußszene des Films 2003, als sich David Bowman mit Lichtgeschwindigkeit durch kosmische Farbströme bewegt; Billy reibt und reibt und mißhandelt seine Netzhaut, weil ihm der selbstzugefügte Schmerz Lust bereitet, er reibt weiter, obwohl seine Mutter längst gesagt hätte: Hör auf damit.
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27 ALS BILLY AUFWACHT, ist der geplante Tod seiner Eltern einen Tag nähergerückt. Die ganze Nacht geisterten ihm Szenarios durch den Kopf: Soll er nach Hause oder nicht nach Hause? Soll er die Polizei rufen und ein geplantes Verbrechen anzeigen? Sollte er Köpfe in Einkaufstüten aus Plastik hüllen? Hätte er sich öfter bei ihnen blicken lassen, hätte er ihren Niedergang miterlebt, würde ihm die Sache vielleicht nicht so schwerfallen. Ein William würde an ihrem Ehebett sitzen, ein Liam würde schluchzen, ein Bill würde ihnen die giftige Pampe einflößen, ein Will würde ihnen eine Gutenachtgeschichte vorlesen. Aber er ist Billy. Seine Selbstmordvorstellungen gingen ins Barocke, handelten von plumpen Machinationen, rasputinschem Lebenswillen, hartnäckigem Weiteratmen, Billy stellte sich vor, wie er in Panik nach einem Kissen griff, während sich Hände gegen ihn sträubten. Nicht gut. Eine imaginäre To-do-Liste – Medikamententest abbrechen, nach Hause fliegen, Eltern umbringen – hat ihn durch den Schlaf verfolgt. Grabreden wurden entworfen – Meine Eltern haben sich sehr, sehr, sehr lieb gehabt – wie bei einem Schulaufsatz mit Mindestwortzahl, doch die Friedhofskapelle seiner Träume war nur mit Obdachlosen bevölkert, die zwar eine Bleibe suchten, aber
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keinen Trost. Dann der dunklere Gedanke: Was würde der Hausverkauf abwerfen? Außerdem ist heute Samstag – PK-Tag für die Grünen. Heute wird die Wirkung des Allevatrox überprüft, und dafür wird Blut gebraucht, viel Blut, von neun bis neunzehn Uhr alle dreißig Minuten eine kleine Probe. Zehn Stunden lang werden die Grünen sitzen und warten, abgesehen von zwanzig kurzen Ausflügen in den Blutraum und wenn nötig zur Toilette, was zur Vermeidung von Bummeleien streng überwacht wird. Beim Duschen stöpselt Billy die Finger in die Ohren, um nicht zu hören, was ihm das Wasser zu sagen hat. »Präzision ist alles«, erklärt ihnen die Oberschwester, als sie ihre Plätze eingenommen und ihre Morgendosis geschluckt haben. »Das muß jetzt laufen wie am Schnürchen, rein – raus, rein – raus, rein – raus, einer nach dem anderen.« Sie könnte auch mit dem Finger schnipsen, aber sie scheint zu bezweifeln, ob sie überhaupt atmen können, geschweige denn sich in dieser Weise koordinieren. »Das wird ein langer Tag für uns alle« – für mich besonders, sagt ihr Augenaufschlag –, »also zeigen wir Geduld, Disziplin, Professionalität. Heute arbeiten Sie für Ihr Geld. Ausschlafen können Sie morgen.« Ihr Penner, sagt ihre Mimik. Billy sitzt zwischen Ossap und Dullick. Nicht, daß er es so wollte. Nach dem Frühstück wollte er sich an Gretchen hängen. »He«, sagte er, als wären sie sich zufällig über den Weg gelaufen. Sie ging steif an ihm vorbei und streckte den Ellbogen aus wie eine Ruderpinne, die auf die führende Hand wartet, aber Billy kannte den Kurs nicht und folgte einfach der Strömung. »Wollen wir zusammensitzen?« fragte er und haßte sofort das umständliche Hilfsverb. Sie schien sich nicht daran zu stören. »Klar«, sagte sie. In der
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letzten Reihe winkten zwei freie Plätze. Schon war aus dem Blutentnahmemarathon ein Flirt geworden. Billy strahlte, als die anderen hereinkamen, die ihn fraglos um sein Glück beneideten. Do schleppte seinen Kompostgestank herein. Der enthaarte Lannigan legte einen Gang zum Schafott hin, den er in irgendeinem Film gesehen hatte. Rodney Letts brachte ein Kissen, eine Decke und eine Illustrierte mit, als wollte er es sich auf dem Liegestuhl eines Ozeandampfers bequem machen. »Ich hätte mein Buch mitnehmen sollen«, sagte Billy, aber bevor Gretchen etwas erwidern konnte, tauchte Karl MacKay, der falsche Astronaut, aus der siebenten Reihe hoch und winkte, um Gretchen auf sich aufmerksam zu machen, was ihm nach einer peinlich übertriebenen Fuchtelei auch gelang. »Mist, ich hab versprochen, neben ihm zu sitzen«, sagte Gretchen. »Laß ihn sausen«, riet ihr Billy. »Geht nicht, er hat Battleship mit.« »Das Spiel?« »Er wollte gegen mich spielen.« »Ich dachte, du bist ein Patiencetyp?« »Nicht ausschließlich.« »Wir könnten doch« – Billy schon bettelnd – »Zwanzig Fragen spielen. Oder Ich sehe was, was du nicht siehst. Also: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist ein großer Verlierer, der dein Battleship versenken will.« Obwohl sie grinste – ein Blitzlicht auf grauem Gesicht –, stand sie auf. »Tut mir leid, ich hab’s versprochen.« »Ich hätte Stratego mitbringen sollen«, grummelte Billy. »Ja! Stratego, damit hättest du mich gekriegt.« Karl McCay, ganz Gentleman, überreichte Gretchen den roten Battle-shipkarton mit einer absurden Verbeugung. Billy kochte. In diesem Augenblick kamen Ossap und Dullick herein, wie immer als letzte, wie immer tuschelnd die Köp-
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fe zusammengesteckt. Sie suchten nach annähernd benachbarten Plätzen und fanden sie – in der letzten Reihe, rechts und links von Billy. »Hallo«, sagte Billy. Ihre Antwort – »schon gut« – schmeckte wie die weiche Nougatfüllung von »dummes Arschloch«. Der Medikationsraum blickt auf den Vorplatz und die Bronzehand, die Morgensonne absondert. Billy sieht Joy. Sie kommt vom Parkplatz gerannt. Der linke Arm fixiert ihre Brüste, am rechten Arm schaukelt ein Stoffbeutel viermal ungebärdiger als ihr Busen. Die Anstrengung übersetzt sie in ein Lächeln, als wäre ihr bewußt, daß sie Eindruck machen muß, während sie die Bronzehand umrundet und mädchenhaft flink über den Schatten des Fingers springt. Billy freut sich so über ihren Anblick, daß er beinahe winkt. »He, Wichser.« Billy dreht sich zu Dullick um. »Der andere Wichser, nicht du Wichser«, sagt Dullick. Ossap beugt sich vor, sein Gesicht ist mitten im Blinzeln erstarrt. Der Sekundenzeiger seiner inneren Uhr scheint ständig zu stocken, als hätte er Mühe voranzukommen und würde immer an den anderen Zeigern hängenbleiben. »Ja?« erwidert er. »Ich hab meinen Spucknapf vergessen«, will Dullick offenbar sagen, aber sein Mund ist voller Spucke, die Wörter machen Bauchklatscher und kommen als Ih ha ei Uck-ap vägähe heraus. Dullick schluckt widerwillig und schüttelt sich. »Als hätte ich Jauche gesoffen«, sagt er. »Mein Mund ist wie am Morgen nach Silvester.« »Du bist ein zahnloser alter Kater«, neckt ihn Ossap.
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»Dein Kater vielleicht. Mein Kater macht so was nicht.« »Der pißt einfach an die Trockenbox.« »Da war’s schön warm, und er hatte Rheuma.« »Liegt in seiner Pisse und wärmt sich an der Trockenbox.« »Armer Mickey Deans!« »Und was wird aus meinen Crackern und den Weizenwaffeln?« »U u eie befiffe’e...« Dullick blickt Billy mit neuer Feindseligkeit an. »Fa’amm ochma!« – schluck – »Glotzt du mich an?« »Nein.« »Doch, du Arschloch«, stimmt Ossap ein. »Du glotzt ihn an.« »Nein, ich schwör’s.« Dullick: »Der Fotzkopf belauscht unsere Unterhaltung.« Ossap: »Der dumme Wichserarsch.« »Ich kann’s nicht ändern«, sagt Billy. »Ich sitze zwischen euch. Wir können tauschen, wenn ihr wollt.« »Nein«, sagt Dullick. »Bleib da und glotz weiter. Du kriegst was zu sehen, wasch du ersch kapiersch, wennschu schpä isch.« Billy lehnt sich zurück, um aus der Schußlinie zu kommen. Ein Gedanke springt ihn an: Wenn nun Ossap und Dullick Agenten von Ragnar & Sons sind? Wenn nun sein Telefon angezapft war und Ragnar von Anfang an wußte, daß er hierher wollte? Wenn nun Ossap und Dullick den Auftrag haben, ihn kaltzumachen? Verdächtig genug sind sie. Diese vier Reisetaschen. Vielleicht haben sie Schlagringe und Stricke dabei, Schalldämpfer so lang wie Katzenschwänze. Und das wäre hier der ideale Ort für unerwartete Adversäreffekte, vielleicht unter der Einwirkung von
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Rasierklingen auf Handgelenke. Mag auch die Vorstellung, daß sich zwei Auftragskiller in eine Arzneimittelstudie einschmuggeln, um einen Drückeberger wie ihn zu erledigen, ein bißchen, nun, überzogen klingen, in seiner jetzigen Verfassung hält Billy so etwas durchaus für möglich. »Du denkst wohl, du kannst uns lesen wie ein Buch«, knurrt Ossap. »Dabei kapierste gar nichts«, sagt Dullick. »Kannsche glaum.« Pharmakokinetik ist wie Staffellauf. Der erste Grüne in der ersten grünen Reihe steht auf, geht in den Blutraum, wenn er zurückkommt, steht der nächste auf und geht hinein und so weiter und so weiter. Raus und rein. Raus und rein. Dazwischen etwa zwei Minuten. Eine seltsam mechanische Abfolge – wie ein extravagantes Metronom, das ein Großinquisitor erfunden haben könnte. Ossap rein. Billy rein. In den Blutraum mit ihm. Er setzt sich und präsentiert den Arm. Joy greift nach seiner Kanüle, läßt ein paar Blutstropfen ins Röhrchen rinnen und bellt dem Assistenten »Schine, neun Uhr sechsundzwanzig« zu, der schreibt die Angabe auf ein Etikett und legt das Röhrchen in den Behälter mit der Aufschrift William A. Schine. Das erste Fach von zwanzig ist gefüllt. Das war’s, Billy ist fertig. Aber unterdessen gelingt Billy eine kleine Unterhaltung mit Joy. »Sie sind zu spät gekommen«, sagt er. »Nicht reden.« »Ich hab Sie über den Vorplatz rennen sehen.« »Ich arbeite.« »Haben Sie Ärger gekriegt?«
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»Natürlich«, sagte sie. »Und jetzt gehen Sie.« Schine, 09:52 »Warum sind Sie zu spät gekommen?« fragt Billy. »Nicht reden«, sagt Joy. »Verschlafen?« »Schön wär’s.« »Stau?« »In dieser Gegend? Bitte. Sie können gehen.« »Wir sehen uns.« Schine, 10:29 »Warum sind Sie zu spät gekommen?« fragt Billy erneut. »Das lag an meinem Sohn – wenn Sie schon nicht die Klappe halten können.« »Geht’s ihm nicht gut?« »Doch. Er denkt nur, daß er krank ist.« »Was hat er denn?« »Alles. Vielleicht auch eine Schlafallergie. Jetzt gehen Sie.« Schine, 11:01 »Hat er simuliert, Ihr Sohn?« fragt Billy. »Sie sind der einzige, der unbedingt reden will«, sagt Joy. »Ich bin nur freundlich.« »Damit machen Sie sich hier keine Freunde.« »Ich kann einfach nicht still sein.« »Dann versuchen Sie’s. Nun gehen Sie.« Schine, 11:36 »Sagen Sie bloß nichts«, sagt Joy. »Hab ich ja nicht.« »Sie wollten aber.« »Sie haben angefangen.« »Ich hab einen langen Tag.« »Kriegen Sie eine Pause?«
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»Eine kurze Mittagspause. Gehen Sie.« Schine, 12:04 »...« Schine, 12: 39 »...« »Sie reden also nicht mehr«, sagt Joy. »Sie haben gesagt, ich soll die Klappe halten.« »Da hatte ich recht. Sie sollen die Klappe halten.« »Lächeln Sie?« »Weil Sie fertig sind.« Schine, 13: 08 Diesmal nicht Joy, sondern ihr Assistent, der über seinen Unterassistenten gebietet, den untersten Assistenten überhaupt, und laut herumkommandiert, um sein Ungeschick mit der Kanüle zu kaschieren und daß er viel zu viel abzapft, während sein Assistent das Röhrchen mit übertriebener Geste ins Fach legt, worauf der Maestro die Gummihandschuhe abstreift und »Der nächste!« brüllt. Schine, 13:43 »Haben Sie gut gegessen?« fragt Billy. »Wenn ein Wurstbrot gut ist«, sagt Joy. »Jedenfalls nicht schlecht.« »Aber auch nicht gut.« »Für uns gab’s Sandwiches mit Hühnerfleischsalat. Das war wie Picknick, abgesehen von dieser Bluterei.« »Fertig.« »Die Kartoffelchips heb ich mir für später auf.« Schine, 14:18 »Wie heißt Ihr Sohn?« fragt Billy. »Rufus«, sagt Joy. »Das heißt der Rothaarige.« »Ich weiß.« »Warum ist er krank geworden?«
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»Vielleicht, weil ihm sein Zuhause fehlt. Sie können gehen.« Schine, 14:45 »Wo ist sein Zuhause?« fragt Billy. »New York. Bronx.« sagt Joy. »Wann sind Sie dort weg?« »Im Juli.« »Warum?« »Wird das ein Interview?« »Nur ein kleiner Plausch.« »Der Job ist besser, okay? Und adios.« Schine, 15:17 »Die Schulen sind hier besser als in der Bronx«, sagt Joy. »Kann ich mir vorstellen«, sagt Billy. »Wieso können Sie sich das vorstellen?« »Na ja, die Bronx.« »Die Bronx war nie besser als heute.« »Warum sind Sie dann weg?« »Weil’s mir dort trotzdem stinkt. Gehen Sie.« Schine, 15:43 »Sind Sie verheiratet?«, fragt Billy. »Ich war. Und Sie?« fragt Joy. »Sehe ich so aus?« »Eins zu Null.« »Wer würde einen wie mich heiraten?« »Eine, die taub ist.« Schine, 16:07 »Warum sind Sie hier?« fragt Joy. »Um mal rauszukommen, glaube ich. Ein bißchen Geld zu verdienen. Mich mal einzugraben und zu verschwinden. Ich weiß nicht, so schlecht ist es gar nicht, in ein Röhrchen zu bluten und von einer Schwester namens Joy versorgt zu
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werden.« »Versorgt würde ich nicht sagen.« »Dann eben behandelt.« »Und ich bin keine Krankenschwester. Ich bin Phlebologin.« Schine, 16:42 »Wie alt ist Rufus?« fragt Billy. »Fast neun. Die Schule hat gerade angefangen, und er ist nicht begeistert. Die letzten drei Tage hat er krank gespielt und mir erzählt, er hätte was, tief in seinem Bauch, was man auf dem Thermometer nicht sieht. Will unbedingt bei mir schlafen, aber er tritt im Schlaf.« »Klingt, als hätte er Charakter.« »Wenn Sie darunter Alptraum verstehen, ja. Dann hat er Charakter.« »Aber Sie lieben ihn doch.« »Natürlich tue ich das. Mein Gott, das ist doch keine Frage. Er ist mein ein und alles.« Schine, 17:10 »...« »Keine Unterhaltung, Mr. Schine?« fragt Joy. »Ich werde müde. Und bitte nennen Sie mich Billy.« Schine, 17:48 »Ich finde es sehr nett, daß Sie Rufus bei sich schlafen lassen. Das ist sicher nicht falsch. Ich finde es nett. Etwas zum Erinnern, wissen Sie? Wie er zu Ihnen ins Bett gekrochen kam. Das können Sie ihm erzählen, wenn er größer ist. Wie er Bauchschmerzen simulierte, weil er in Wirklichkeit Alpträume hatte. »Mommy, Mommy!‹ – und Sie heben Ihre Bettdecke. »Komm schon rein.« »Ist Ihnen nicht wohl?« »Vielleicht verliere ich zuviel Blut.«
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Schine, 18:11 »In acht Tagen bringt mein Vater meine Mutter um und dann sich selbst«, sagt Billy. »Wie das?« »Meine Mutter hat Alzheimer, im letzten Stadium, glaube ich. Mein Vater will ihrem Leid ein Ende machen und seinem auch, daher der Doppelselbstmord oder Mord kombiniert mit Selbstmord oder Sterbehilfe, je nachdem, wie Sie das sehen.« »Ist das Ihr Ernst?« »Ich denke schon.« »Was werden Sie tun?« »Ich weiß nicht.« »Meinen Sie das wirklich ernst?« »Hängt von meinem Vater ab.« Schine, 18:50 »Meinen Sie das wirklich ernst mit Ihren Eltern? Ich bin mir nicht sicher«, sagt Joy. »Das ist oft das Problem bei mir. Zu viele Scherze.« »Sie sollten nach Hause fahren, sich um sie kümmern...« »Ihnen dabei helfen? Sie wollen, daß ich ihnen helfe. Das heißt, mein Vater will es.« »Reisen Sie ab, fahren Sie nach Hause, reden Sie mit ihnen.« »Mein Vater will, daß ich ihnen Plastiktüten über den Kopf stülpe.« »Das ist ja grausig.« »Ich bin zwar für aktive Sterbehilfe, aber ich weiß nicht, ob ich dazu fähig bin. Ich stelle mir eine gelbe Einkaufstüte vor. Papier oder Plastik? Plastik, bitte.« »Das ist nicht witzig.« »Aber das sind die problematischen Details.«
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»Ist Ihr Vater krank?« »Körperlich ist er in Ordnung, aber ohne sie kann er nicht leben. Jetzt haben Sie fast das ganze Röhrchen gefüllt.« »Oh, verdammt!« Schine, 19:18 »Sie sollten jemanden anrufen und das mit Ihren Eltern erzählen. Haben Sie keine Geschwister, keine Verwandten, die da helfen können?« »Nein, nur mich. Tut mir leid, daß ich Sie damit belaste.« »Schon gut.« »Keine Ursache, keine Ursache.« »Wie bitte?« »Nichts.« »Sie sollten zumindest nach Hause fahren.« »Ich glaube, das kann ich nicht.« »Verstehen Sie sich nicht mit Ihren Eltern?« »Das hab ich noch nie.« »So oder so. Der Tod der Eltern ist das Schlimmste.« »Der Tod eines Kindes. Das ist noch schlimmer.« »Fahren Sie nach Hause, Billy. Das ist mein Rat.« »Sagen Sie’s nicht weiter, okay? Wem sollten Sie auch.« »Das ist die letzte Blutprobe, aber Sie können noch bleiben, wenn Sie wollen.« »Nein, ich gehe.« »Reisen Sie ab, fahren Sie nach Hause.« »Ja, vielleicht.« Billy steht auf und geht, während Joy die Gummihandschuhe abstreift und in den Abfalleimer wirft, der von Händen mit erschlafften Fingern überquillt.
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28 SONNTAGVORMITTAG. Billy, gelangweilt, neugierig, ein bißchen durcheinander im Kopf, beschließt, am ökumenischen Gottesdienst teilzunehmen. Durchgeführt wird er von Carlson Dickey, einem Wachmann. Er begrüßt seine Herde aus Blauen, Roten, Grünen, Orangenen und Gelben mit Handschlag und der Aufforderung, sich hinzusetzen – aber möglichst vorn. »Auf die Farbe kommt es hier nicht an«, sagt er zu Billy. »Holen Sie sich eine Bibel vom Tisch und machen Sie sich’s bequem.« Er trägt eine blaugraue Uniform mit entschärftem Armeekoppel, seine graublonden Locken zeigen noch den Abdruck der Dienstmütze, die er unter den Arm geklemmt hat. Er sieht aus wie ein alt und fett gewordener Putto, der, von einem Deckenfresko abgestürzt, mitten in der Vorstadt gelandet ist und mit Schnäuzer, Bierdose und trägem Blick die Flugkurve des Softballs verfolgt. In den ersten Reihen sitzen neun Normale – tugendhaft, aber nicht zahlreich genug, scheint Carlson Dickey anzudeuten, indem er auf den Flur schaut, ob noch Nachzügler kommen. Do ist auch da. Er fährt mit dem Zeigefinger über die Dünndruckseiten seiner Bibel, als ob er im Telefonbuch nach einem Namen sucht, der ihm entfallen ist.
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Do ist der einzige Grüne außer Billy. Wegen des farblichen Ausgleichs setzt er sich zwischen einen Gelben und einen Blauen. »Hey«, sagt er. Der Blaue, hinter seiner Sonnenbrille versteckt, flüstert: »Hast du was von Doughnuts gehört?« »Nein.« »Sag ich doch«, sagt der Gelbe. »Was denn für Doughnuts?« fragt Billy. »Ich hab gehört, hinterher verteilen sie Doughnuts.« »Keine Chance«, sagt der Gelbe. »Vielleicht hat er sie versteckt, und nach dem letzten Amen holt er eine große Schachtel Dunkin’ Doughnuts raus. Wenn er die große Partybox hat, wären es drei Stück pro Nase.« »Mach dir nichts vor.« Billy breitet die Hände aus und verkündet: »Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen mit fritiertem Teig gefüttert werden.« Das kommt nicht gut an. »Ich finde das nicht witzig«, sagt der Gelbe. »Überhaupt nicht«, bestätigt der Blaue. »Jesus lästert man nicht.« Billy entschuldigt sich und ist froh, daß er seinen Spruch auf die potentiellen Qualitäten einer Hostie mit Cremefüllung beschränkt hat, ein Sakrament im Doppelpack, dazu noch schmackhaft. Mmmm, Jesus! Aber in Wirklichkeit ist das nur eine Bösejungen-Blasphemie, eine um Aufmerksamkeit buhlende Bilderstürmerei, die er an sich haßt. Nicht, daß er religiös wäre. Seine Eltern waren für die strikte Trennung von Kirche und Liebe, also gab es keinen Gott in ihrem Haus. Die einzige religiöse Ausbildung, die er
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erhielt, war seine Beschneidung, und die geschah aus ästhetischen Gründen. »Offiziell bin ich kein Jude, weil meine Mutter Nichtjüdin ist, oder?« hatte er einmal seinen Vater gefragt. Der runzelte die Stirn. »Verkneif dir das Wort.« »Welches Wort?« »Nichtjüdin.« »Dann eben Goi.« »Das Wort auch.« »Okay«, sagte Billy, »aber nach den Gesetzen deines Volkes sitze ich mit Mom in einem Boot, während du uns aus dem Gelobten Land zuwinkst.« »Auch ich sitze in dem Boot«, erwiderte Abe, »ich im Bug und deine Mutter im Heck.« »Und wo bin ich?« fragte Billy. »Zum Glück bist du nicht in diesem Boot, wenn du mit dem Boot die Religion meinst. Nein, du stehst am Ufer und kannst dir das Boot aussuchen, das du willst. Aber wir, wir haben uns unseren Sarg, unser Boot schon gezimmert. Okay, genug davon.« Gott segne sie, denkt Billy. Ossap und Dullick kommen zur Tür herein, und Billy schrumpft zusammen, als sie ihn mißtrauisch beäugen, sich ihre Bibeln greifen wie primitive Keulen und Carlson Dickey zunicken, den der Zuwachs zu freuen scheint. Sie setzen sich hin und stecken die Köpfe zusammen, als würden sie gemeinsam beten oder Komplotte schmieden. Die Kanzel ist ein neuzeitliches Vortragspult, drapiert mit purpurnem Satin, der für diesen Zweck einen Hauch zu erotisch wirkt. Carlson Dickey baut sich dahinter auf, raschelt mit Papieren, findet seine Bibel wieder und räuspert sich so herzhaft, daß man fürchtet, er würde ein paar Halswirbel ausspucken. »Willkommen zu unserem Sonntagsgottesdienst«, liest er unbeholfen vom Blatt. »Er ist etwas Neues in unserer Klinik, etwas, wofür ich lange ge-
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kämpft habe, mußten Sie doch bisher Ihre Sonntage ohne eine solche Möglichkeit verbringen, also habe ich gebettelt und gebettelt und gebettelt, bis sie endlich ja sagten, und das ist nun schon der dritte Sonntag, an dem wir uns hier versammeln. Ich bin stolz und glücklich, daß Sie an diesem Tag des Herrn hier mit mir sein können. Ich lerne noch und bin auch gar kein Prediger, wie Sie sehen, sondern ein ganz bescheidener Wachmann.« Billy stellt sich vor, wie sich Carlson Dickey als Chisti Bodyguard opfert. »Aber wollen wir nun unseren Glauben miteinander teilen, ganz gleich welcher Richtung, und Gott auf unsere schlichte Weise in dieser schlichten Räumlichkeit ehren.« Nach ein paar Gebeten und einem Choral (Amazing Grace, als Fotokopie verteilt) schreitet Carlson Dickey zur Verlesung des Textes aus dem Buch Daniel, 1, 3–16: Und der König sprach zu Aspenas, seinem obersten Kämmerer, er sollte aus den Kindern Israel vom königlichen Stamm und Herrenkindern wählen. Knaben, die nicht gebrechlich wären, sondern schöne, vernünftige, weise, kluge und verständige, die da geschickt wären zu dienen an des Königs Hofe und zu lernen chaldäische Schrift und Sprache. Solchen bestimmte der König, was man ihnen täglich geben sollte von seiner Speise und von dem Wein, den er selbst trank, daß sie also drei Jahre auferzogen würden und danach vor dem König dienen sollten. Unter diesen waren Daniel, Hananja, Misael und Asarjavon den Kindern Juda. Aber Daniel setzte sich vor in seinem Herzen, daß er sich mit des Königs Speise und mit dem Wein, den er selbst trank, nicht verunreinigen wollte, und bat den obersten Kämmerer, daß er sich nicht müßte verunreinigen. Und Gott gab Daniel, daß ihm der oberste Kämmerer günstig und gnädig ward. Derselbe sprach
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zu ihm: »Ich fürchte mich vor meinem Herrn, dem König, der euch eure Speise und Trank bestimmt hat; wo er würde sehen, daß eure Angesichter jämmerlicher wären denn der andern Knaben eures Alters, so brächtet ihr mich bei dem König um mein Leben.« Da sprach Daniel zu dem Aufseher, welchem der oberste Kämmerer Daniel, Hananja, Misael und Asarja befohlen hatte: »Versuche es doch mit deinen Knechten zehn Tage und laß uns geben Gemüse zu essen und Wasser zu trinken. Und laß dann vor dir unsre Gestalt und der Knaben, so von des Königs Speise essen, besehen: und danach du sehen wirst, danach schaffe mit deinen Knechten.« Und er gehorchte ihnen darin und versuchte es mit ihnen zehn Tage. Und nach den zehn Tagen waren sie schöner und besser bei Leibe denn alle Knaben, so von des Königs Speise aßen. Da tat der Aufseher ihre verordnete Speise und Trank weg und gab ihnen Gemüse. Carlson klappt die Bibel zu und stützt sich mit dramatischem Überschwang auf das Pult, das auf unbefestigten Rädern davonrollt, so daß er sich nur taumelnd fangen kann, Ossap und Dullick prusten vor Lachen. Carlson, wieder sortiert, hebt an: »Ich will sofort zu meiner Predigt kommen, denn die heutige Predigt handelt von Daniel. Für den Fall, daß Sie’s vergessen haben: Daniel ist der Prophet, der in die Löwengrube geworfen wurde und überlebte, aber nicht, weil er dem Löwen einen Dorn aus dem Fuß gezogen hat, was ich für ein allgemeines Mißverständnis halte, sondern weil er total an seinen Gott glaubte und Gott dem Löwen das Maul verschloß, so daß Daniel überlebte. Daniel ist der erste große« – er sucht in seinen Notizen nach dem Wort – »Apokalyptiker. Er war der Traumdeuter des Nebu-ähm-ähm-kade-nezar und las die Schrift an der Wand, er war der Mann mit den Visionen über die vier
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Tiere und den Widder und die Ziege und die siebzig Wochen und die Verworfenen und das Weltgericht und das Ende der Tage. All diese Sachen sind von Daniel. Ich habe über Daniel nachgedacht, als ich mir überlegte, was ich heute sagen würde. Daniel kam mir in den Sinn, weit Sie einiges mit Daniel gemeinsam haben. Jawohl. In unserem Lesetext wurden die besten Vertreter des Volkes Israel – die ohne körperliche Gebrechen – zum Königspalast gebracht, und so ähnlich ist das bei Ihnen. Daniels Vorschlag, daß eine Gruppe das fette königliche Essen bekommen soll und die andere die bekömmliche, überraschend herzhafte vegetarische Diät, ist so etwas wie eine Parallelstudie. Da haben Sie alt und neu, die Standardbehandlung und die experimentelle Behandlung. Und ich habe mir gedacht, auch Sie sind so etwas wie Propheten. Sie bringen uns die Vorzeichen der Zukunft. Ihr Blut, Ihr Körper erleuchtet unseren Weg. Sie sind die Vorhut, ja, Propheten. Kleine Propheten vielleicht, aber kleine Propheten sind besser als gar keine. Ihretwegen rinnt ein Körnchen Zukunft durch die Sanduhr. Sie sind alltägliche Propheten, keine großen Lottotreffer, statt dessen Pfennige und Groschen, das Restgeld, das man spart, bis eine große Summe zusammengekommen ist. Verläßliche Propheten. Selbst im Niedergang hat die Welt gewonnen – Ihretwegen –, und es wird eine bessere Welt kommen. Wahrhaftig, daran glaube ich. Auch wenn es schwer zu glauben ist. Unmöglich zu glauben. ›Wieso gerade ich?‹, werden Sie fragen. ›Ich kam doch nur wegen des Geldes. In fünf Jahren ist es mir egal, was ich hier getan habe‹, werden Sie denken. ›An diesen Ort erinnere ich mich nur so lange, wie das Geld reicht.‹ Aber wissen Sie was? Ihr Blut lebt weiter. Im Ernst. Ein einziger Blutstropfen läßt das Pegel schon ein bißchen steigen, nicht viel,
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aber ein bißchen, das Billionstel eines Billionstels eines Billionstels. Sie ernten damit keinen Ruhm, aber Sie haben die Welt verändert. Das ist Tatsache. Ihr Blut ist im System. Gott ist Weisheit, und seine Weisheit spricht durch Sie, selbst wenn Ihnen die Sünde den Mund verschließt, selbst wenn Sie sich dessen für unwürdig erachten. Sie sind Teil des Ganzen, und das Ganze ist Gott. Denken Sie an Daniels Parallelstudie. Die Ungläubigen gegen die Gläubigen. Nicht Unreligiöse gegen Religiöse, sondern Ungläubige gegen Gläubige. Fragen Sie sich selbst: Wer ist der Gesündere? Ungeachtet Ihrer Vorstellungen, wer oder was Gott ist oder wie man ihm dienen soll. Fragen Sie sich: Wer ist der Gesündere? Der Abgetrennte oder der Verbundene? Selbst wenn es keinen Gott gibt, selbst wenn Sie sterben, und Sie werden vom Nichts umfangen, wer ist gesünder vor dem Tod, im unaussprechlichen Grauen dieses Moments? Wer trachtet danach, die Schwachen und die Ängstlichen zu trösten, wenn nicht diejenigen, die begriffen haben, daß wir alle das Ebenbild einer Sache sind, und diese Sache heißt Glaube? Wer versteht, daß wir alle der Ausdruck der Liebe sind und nicht der Ausdruck von uns selbst? Wer besitzt den Trost in der letzten Sekunde des Lebens, und wer schreit? Wenn Sie die Palastwache wären, wen würden Sie als gesünder bezeichnen?« Carlson Dickey wendet sich von der Kanzel ab, als müßte diese Frage jetzt mit den Fäusten entschieden werden. »Laßt uns beten«, sagt er. Nach dem Vaterunser – nein, Doughnuts gibt es nicht –, zieht die Gemeinde der Normalen ab. Billy bemerkt, daß Ossap und Dullick bei Carlson Dickey stehenbleiben. Dullick zwinkert ihm zu, und Ossap stupst nur zum Spaß mit seiner Kennkarte gegen Carlson Dickeys Arm. Ist denn Ragnar überall? fragt sich Billy.
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Wieder oben, wirft Billy einen Blick in Dr. Honeysacks Büro. Honeysack sitzt über seinen Schreibtisch gebeugt, als würde der Papierkram niemals enden. »He, Doc«, sagt Billy und erfreut sich an der abwegigen Titulierung – dieser Mann ist so kumpelhaft wie gebürsteter Stahl. Die zwei Neonlampen an der Decke lassen ihn in einem wenig vorteilhaften Licht erscheinen – als würde seine Haut das Licht aufsaugen, um im Dunklen zu fluoreszieren. Wer ist denn das nun wieder? scheint Honeysacks zögernde Reaktion zu besagen. »Billy Schine«, teilt ihm Billy mit und zeigt zum Beweis seine Kennkarte. »Ach ja, ach ja.« »Sie arbeiten am Sonntag, Doc?« »Ist heute Sonntag?« »Klar. Ich habe gerade an Ihrem ökumenischen Sonntagsgottesdienst teilgenommen.« »Meiner ist es garantiert nicht«, sagt Honeysack. »Er war interessant.« »Ein Wachmann, oder?« »Ja.« »Der Kerl hat gewaltig genervt, weil er irgendeinen Gottesdienst wollte. Als nächstes verlangt er eine Kapelle. Sein Job hängt am letzten Strohhalm.« »Am seidenen Faden.« »Stimmt«, bestätigt Honeysack. »Er ist erst drei Monate hier und reitet ohne Ende auf seiner Bibel rum. Treibt eine Menge Leute zum Wahnsinn, mich eingeschlossen. Man sieht ihn und will Halt die Klappe! schreien, bevor er auch nur den Mund aufmacht. Der macht’s hier nicht lange. Bei den Versuchstieren mimt er den heiligen Franziskus, und
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meistens hat er da nicht mal was zu suchen. Wenn ein Forscher oder ein Arzt über seinen Gottesbegriff redet, nun gut. Aber daß uns ein Wachmann mit 26 000 Dollar Jahresgehalt Predigten hält, das haben wir nicht nötig.« Honeysack scheint vor seiner eigenen Bitterkeit zu erschrekken. »Tut mir leid«, sagt er. »Ich bin seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Jedenfalls habe ich Sie nicht als religiös eingestuft. » »Ich wollte mich nur ein bißchen umtun.« »Lieber eine Wurzelbehandlung als das.« »Das finde ich interessant. Haben Sie Dante gelesen?« fragt Billy. »Auf dem College wahrscheinlich.« Billy, die Arme verschränkt, lehnt sich an den Türrahmen – an Türen posiert er offenbar am liebsten. »Ich erinnere mich an einen Teil aus dem Inferno, aber wahrscheinlich ist es der Stich von Doré, an den ich mich erinnere, und nicht so sehr das Buch. Der Stich zeigt einen gefallenen Soldaten, der sein Leben lang ein richtiges Schwein war, und der Teufel will ihn in den Höllenschlund werfen, weil sie auf so einen schon lange gewartet haben. Da kommt ein Engel und sagt »Halt ein!« zum Teufel, weil der Soldat im Sterben ein Kreuz umarmt hat. Und es sieht so aus, als hätte er dieser einen Geste seine Rettung zu verdanken.« Billy macht die Geste nach und malt sich einen sterbenden Soldaten aus, der in seinen letzten Sekunden einen so starken Glauben entwickelt, daß er seine Angst überwindet und vor Kraft fast die Rüstung sprengt, so sehr drängt es ihn, diese Erleuchtung kundzutun, bevor ihn seine Seele verläßt. Billy mustert Honeysack, als wäre er die geätzte Kupferplatte, die nur noch auf die Farbe wartet. »Wissen Sie was? Die Leute reden über Ihre Arbeit. Ihre eigentliche Arbeit.«
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»Wie das?« »Sie reden über Ihre Forschung – mit allerlei Ausschmückungen. Sie sind überzeugt, Ihre Versuche finden in einem ausgehöhlten Berg statt oder einer Eishöhle oder irgendeiner Bananenrepublik, wo nur das Geld regiert.« Honeysack schüttelt verzagt den Kopf. »Immer dieses Gerede«, sagt er. »Das ist die Normalen-Folklore, und es bleibt Normalen-Folkore, fürchte ich. Wo setzen sie die Bezahlung an? Da bin ich mal neugierig. Bei einer halben Million?« »Nein, nein. Eher im Zwanzigtausenddollarbereich.« »Irgendwelche guten Ausdrücke?« »Hä?« »Wie ›Frieren und Kassieren‹ oder ›Frosty, der tote Mann‹ oder ›Blut on the rocks‹. Das alles habe ich schon gehört. Oder mein persönlicher Favorit: ›Zu meinen Lebzeiten wird mir das auf keinen Fall passieren.‹« Honeysack lächelt trübe. Seine schmale Oberlippe ist unfähig, etwas anderes auszudrücken als Frust. Sie erinnert an das Gummiband um einen Stapel unbezahlter Rechnungen. »Nein«, sagt Billy. »Tolle Namen hatten sie nicht dafür.« »›Honeysacks Spinnerei‹ sollten sie es nennen.« Röte überzieht sein hageres Gesicht, besonders die Problemzonen seiner Haut, wo sich alte Akneschäden als Scham und Wut entäußern. »Glauben Sie, die Arzneimittelbehörde würde uns das Verfahren am Menschen testen lassen, sagen wir, an einem zum Tode Verurteilten, einem Mörder? Wie Ihr Doré. Sie stellen ihn vor die Wahl: Entweder Todesspritze oder Teilnahme an einem radikalen medizinischen Experiment. Wenn man überlebt – und die Chancen sind gut –, wird die Todesstrafe auf Lebenslänglich vermindert. Glauben Sie, die Arzneimittelbehörde wäre interessiert?
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Nein, natürlich nicht. Die pocht auf die Ethik. Verweist auf alle möglichen schrecklichen Experimente, die man in den fünfziger Jahren mit Häftlingen angestellt hat. Ja, es stimmt, sie waren schrecklich, aber trotzdem. Die Arzneimittelbehörde würde die Experimente sogar als grausame und abwegige Strafmethoden bezeichnen, obwohl dieselbe Person gefesselt und getötet wird wie ein Hund, ihr Leben sinnlos vergeudet wird. Die pochen auf die Ethik und wir im Gegenzug auf die Moral. Wir könnten sogar von Buße reden.« Das Wort löst bei Honeysack ein gen Boden gerichtetes Augenrollen aus. »Ja, Buße«, bekräftigt er für sich selbst. »Verflucht noch mal, warum keine Buße? Ein radikaler Akt der Sühne? Warum nicht? Da steckt doch ein wahrer Kern drin. Selbst wenn der Staat eisern entschlossen ist, den Kerl umzubringen, das Todesurteil zu vollstrecken, und der Kerl hat die Wahl, an dem Test teilzunehmen, vielleicht etwas Gutes zu tun, bevor er hingerichtet wird, möchte ich wetten, daß er uns zustimmen würde. Absolut. Oder ein hinreichender Prozentsatz würde es tun.« »Klingt mir vernünftig«, sagt Billy. »Statt dessen vergeuden wir ihr Leben. Und ich sollte hinzufügen, daß ich gegen die Todesstrafe bin.« »Ich auch.« »Ich habe schon Geld gespendet für Initiativen gegen die Todesstrafe.« »Ich nicht, aber trotzdem.« »Und überhaupt, was ist das für ein dummes Wort: ›Todesstrafe‹.« »Als wäre das Leben ein Spiel.« »Der Tod ist zu endgültig, um mit ›Strafe‹ vermengt zu werden«, sagt Honeysack. »Da stimme ich zu.«
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»Ich will aber keine Märtyrer aus diesen Leuten machen«, sagt Honeysack. »Natürlich nicht.« »Also vergessen wir die Sühne. Wie wär’s mit Todeswiedergutmachung? Dann würden sie etwas zurückgeben.« »Sie sollten als Präsident kandidieren«, sagt Billy. »Es ist deprimierend. Man ist kurz davor, kann seine These praktisch beweisen, an allen möglichen Tieren, aber wenn man etwas wirklich Radikales will, wird man daran gehindert, diesen, diesen ...‹« »Evolutionssprung zu machen«, ergänzt Billy (ein bißchen selbstgefällig, wie ihm scheint). »Scheiß auf die Evolution«, sagt Honeysack, als wäre die Evolution sein Untergang, hätte ihm die Freundin ausgespannt, das Auto ruiniert und höhnische Witze auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen. »Hier geht es um medizinische Forschung. Evolution ist wie Stille Post. Ein endloses Geflüster zwischen Zellen, die nichts begreifen. Ich brauche keine Evolution.« »Es war ja nur eine Metapher«, erklärt Billy. »Ja, ja, eine Metapher.« Honeysack spuckt es mit dem gleichen Abscheu aus. »Darf ich Sie etwas fragen?« »Klar.« »Glauben Sie, daß etwas unnatürlich sein kann? Ich nämlich nicht. Das Wort wird immer nur auf Dinge angewandt, die der Mensch tut, aber der Mensch ist Teil der Natur. Wie kann da sein Tun, egal welches, unnatürlich sein? Alles was wir tun, ist per definitionem natürlich. Städte, Autos, Flugzeuge, globale Erwärmung, Hölle, Abtreibung, Bestialität, was immer Sie wollen, ist doch natürlich, wenn es von uns kommt, oder? Es kann selbstzerstörerisch sein, schädlich, illegal, abscheulich, und trotzdem ist es natürlich.
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Nichts kann unnatürlich sein. Zur Natur gibt es keinen Gegensatz.« »Der Mensch ist zum Gegensatz geworden«, steigt Billy auf den sokratischen Disput ein. »Ich meine, man kann ›unethisch‹ sagen, ›unmoralisch‹, ›unangemessen‹, aber nicht ›unnatürlich‹.« »Streichen wir ›unnatürlich‹ aus den Wörterbüchern«, ruft Billy euphorisch. Honeysack lacht – es klingt wie der Schluckauf eines Irren. »Tut mir leid, es war ein langer Tag.« »Und es ist noch früh«, sagt Billy. »Da werd ich mal gehen.« Aber Honeysack hört nicht auf. »Wissen Sie, wer am Ende diese Experimente macht?« Er zögert die Antwort effektvoll hinaus. »Die Chinesen! Die machen das. Die benutzen Häftlinge, überhaupt kein Problem. Sie werden es schaffen, sie werden irgendein tolles Medikament entwikkeln, und die Arzneimittelbehörde beschimpft uns, weil wir nicht schneller waren. Denken Sie an meine Worte, es wird so kommen. Wir sind dazu verurteilt, die nobelpreisträchtigsten Behandlungsmethoden auf Schweine und Schimpansen zu beschränken.« »Ich stelle mich zur Verfügung«, sagt Billy, es entschlüpft ihm ohne Bedenken, als hätte er sich schon immer für Honeysack opfern wollen, den Kämpfer gegen den Tod, das Gegengift gegen zu viele Gedanken an Abe und Doris, an Ragnar und die Schulden – mach etwas Bleibendes aus mir, denkt Billy. »Wie bitte?« fragt Honeysack, der nicht zugehört hat. »Ihr Experiment. Ich stelle mich zur Verfügung.« Augenbrauen, verzagten Raupen ähnlich, bäumen sich auf und senken sich gleich wieder. »Nein, zu gefährlich«,
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sagt Honeysack. »Ideal wäre ein Unfallopfer und niemand, der bei bester Gesundheit ist.« »Würde meine Gesundheit nicht die Erfolgsaussichten steigern?« »Schon. Aber ein Fehlschlag kann Sie umbringen, und ein Erfolg würde Ihnen nicht das Leben retten.« Billy verläßt seinen Platz an der Tür und tritt näher. »Nicht, daß ich vorhabe, mich umzubringen...« Er unterbricht sich. Sterben auf Zeit, das wäre der tollste aller Zeitjobs, einzutauchen in das Meer der Zeitlosigkeit, in dem alle Geschichte versinkt. »Ich vertraue Ihnen, aber wenn das Experiment scheitert, ist es keine große Tragödie. Wenn es klappt, wunderbar. Vielleicht verdiene ich ein bißchen Geld oder eine ganze Menge Geld, was mir in meiner speziellen Lage sehr zupaß kommt. Aber wenn es nicht klappt, ist es auch in Ordnung. Nicht daß ich mir den Tod wünsche, bestimmt nicht. So etwas zu machen wäre das Gegenteil eines Todeswunsches. Ich meine, das Geld könnte ich wirklich gut gebrauchen. Und vielleicht ergibt sich daraus eine Art Fokussierung, Sie wissen schon, nach dem Experiment, wenn wir unseren Umtrunk machen. Prosit, ich habe überlebt. Das könnte die Grenzerfahrung sein, die ich im Moment brauche, um die Dinge in meinem Kopf ein bißchen zu sortieren. Ohne das bin ich so ...« seicht, lächerlich, wertlos, denkt Billy, aber das richtige Wort scheint es nicht zu geben. »Etwas in der Art brauche ich«, sagt er zu Honeysack. Honeysack schüttelt uninspiriert den Kopf. »Das kommt nicht in Frage.« »Warum nicht?« »Um ehrlich zu sein: Ihr psychologisches Profil spräche in etlichen Punkten dagegen. Ein Mensch, der sich rational
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für so etwas entscheidet, würde als irrational gelten. Deshalb brauchen wir ja Leute, die keine Wahl haben, Leute, die quasi schon am Telegraphenmast kleben.« »Aber vielleicht rettet das mein Leben«, sagt Billy. »Vielleicht klebe ich schon am Telegraphenmast.« »Das kommt nicht in Frage«, versichert ihm Honeysack. »Und eine Versuchsperson beweist am Ende gar nichts. Wir brauchen die statistische Streubreite, und ein Breitentest, sagt die Arzneimittelbehörde, ist in diesem Fall zu gefährlich. Sie liebt die Ergebnisse, aber sie haßt es, wenn die Ergebnisse öffentlich hinterfragt werden. Zu riskant. Zu viele Tote – zu viele Prozesse. Und Leute, die gerade in einem Autowrack verbluten, können keine Einwilligungserklärung unterschreiben. Nein, ich glaube, das Forschungsthema hat sich erledigt. Fünf Jahre Arbeit, abgetan nach zwei Tagen Überlegung.« »Vielleicht wollen Sie sehen, ob es funktioniert«, sagt Billy. »Wozu denn?« »Aus Neugier. Zur Bestätigung.« »Zu riskant.« »Ich schweige wie ein Grab«, sagt Billy, der seine Chancen schwinden sieht. »Ich unterschreibe jeden Regreßverzicht. Ich gelobe immerwährende Klageabstinenz. Ich garantiere, daß mich niemand vermißt. Wenn es nicht klappt, äschern Sie mich ein, verstreuen Sie meine Asche an einem netten Ort. Wenn es klappt, bin ich ein bißchen klüger und reicher, und Sie wissen, daß Ihre Forschung Hand und Fuß hatte.« »Ja, indem ich Sie fast umbringe.« »Eine Frage der Semantik«, sagt Billy. »Aber das war schon was«, sinniert Honeysack. »Vom
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Ansatz her.« »Absolut«, sagt Billy. »Zumindest kann man darüber nachdenken. Also: Denken Sie nach.« Damit dreht er sich um und geht. Im Flur, umgeben vom Glanz der Krankheitswerbung, fragt er sich, ob auch nur ein bißchen von dem, was er gesagt hat, wahr ist.
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29 »BILLY?« Es ist Do. Überraschenderweise. Neuerdings ist er ganz still, sagt nichts außer ja und nein, Gespräche gehen durch ihn durch, als hätten Wörter die Masse von Neutrinos. Mahlzeiten werden kommentarlos verspeist, das Essen wird kaum angerührt, nur Wasser und Brot oder was immer an Stärkung geboten wird. Aber sein Gestank schreit zum Himmel. Ungeduscht seit dem ersten Tag, hat er sich weder die Zähne geputzt noch rasiert noch irgendein Deo unter die haarigen Geruchsfallen gesprüht. Das Bad wird gemieden bis auf die notwendigen Geschäfte, und auch die werden so hastig wie möglich erledigt, dann schnell zurück ins Bett, die Decke bis zum Kinn. Er riecht nach nassem Laub, das mit Schweiß statt mit Regen fermentiert ist. Es ist der menschliche Urgestank, der Gestank von Turnbeuteln, die monatelang im Garderobenschrank vergessen wurden. Billy wendet sich von der sonntagnachmittäglichen Brustvergrößerung im Fernsehen ab, wo eine ohnehin schon recht gut bestückte Frau ein weiteres Mal aufgestockt wird. Anscheinend werden Brüste nicht geblurrt, wenn sie zu Informationszwecken gezeigt werden, obwohl
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es nur um Geschäftemacherei geht, und Billy fragt sich, ob Vierzehnjährige beim Anblick dieser aseptischen Rosatitten auf dem OP-Tisch eine Latte kriegen. »Soll ich umschalten?« fragt Billy. »Nicht, wenn es Lannigan fernhält.« »Einverstanden.« Billy ist froh, sich als Verbündeter zu erweisen. »Du bist schlau, stimmt’s?« fragt Do. »Wie meinst du das?« »Du liest so ein dickes bedeutendes Buch.« »Das mit dem Buch ist reine Täuschung«, verrät er Do. »Nein, du bist schlau. Das sehe ich.« Der Chirurg quetscht die neu implantierten Polster zurecht, damit alles gleichmäßig aussieht, dann geht er einen Schritt zurück und betrachtet sein Werk, als hätte er ein Samtgemälde an die Wand gehängt. »Wo sind wir im Lukas?« fragt Billy, um das Thema zu wechseln. Do konsultiert seine Bibel. »16:23: Als er nun bei den Toten war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.« Billy stutzt, als er den Namen seines Vaters hört. »Wirklich?« »Ja.« »Lazarus? Der Lazarus?« »Ein anderer Lazarus. Der Lazarus ist viel früher, etwa sieben Uhr morgens.« »Oh.« Do dreht sich zu Billy um. »Billy?« »Ja?« »Denkst du manchmal, daß du schlecht bist?« »Schlecht?«
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»Ja.« »Jedenfalls denke ich nicht, daß ich gut bin.« »Aber ich meine schlecht, richtig schlecht.« »Einiges Schlechte hab ich schon getan«, sagt Billy. »Eine Menge Leute hab ich behandelt wie ein Schuft.« »Richtig schlecht?« »Es hat gereicht.« Do schüttelt ein bißchen zu eifrig den Kopf. »Nein, ich meine richtig schlecht, auf die schlimme Art, durch und durch böse.« Seine Stimme zittert. Sein Blick scheint sein Inneres auszuloten. »Ich hab nämlich immer solche Gedanken, wenn ich auf der Straße oder sonstwo an Frauen vorbeikomme. Ich stelle mir vor, wie ihre Brüste aussehen, schlaff oder fest, rund oder spitz, ich stelle mir vor, welche Nippel sie haben, dunkle oder helle, große oder kleine, als würden sie das vor mir geheimhalten. Dann denke ich an ihre Geschlechtsteile, ihre Vaginen und stelle mir all die Vaginen unter den Schlüpfern und Röcken vor, rasiert oder buschig, blond oder braun, und wenn ich ihre Augenbrauen sehe, denke ich an ihre Vaginen, ich möchte einfach die Hand ausstrecken und sie anfassen. Ich muß mich richtig bremsen, weil ich spüre, wie es mir in den Fingern zuckt. Im Bus. Überall, wo Menschen sind. Selbst hier bei den Schwestern. Ich will diese Geheimnisse enthüllen. Ich muß. Ich kann mir das alles vorstellen, den Moment, wenn ich sie anfasse. Ich sehe genau vor mir, was passieren kann, in der nächsten Sekunde, und bin jedesmal erleichtert und irgendwie schockiert, wenn sie weitergehen, ohne daß was passiert ist. Das Problem ist, daß dann schon die nächste kommt. Und sie haben keine Ahnung, mit wem sie es zu tun haben.« »Das sind doch nur Gedanken«, sagt Billy. »Komische
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Gedanken haben wir alle.« »Diese Art von Gedanken?« Billy hält sich bedeckt. »Manchmal, klar. Sie kommen dir einfach in den Sinn, aber das heißt nicht, daß du ein schlechter Mensch bist, zumal du sie ja nicht praktizierst. Es bedeutet nur, daß du neunzehn Jahre alt bist.« »Ich hatte noch nie Sex.« »Ein Grund mehr, solche Gedanken zu haben.« »Ich hätte gekonnt«, sagt Do, »schon oft, aber ich hab’s nicht gemacht. Ich hab nein gesagt, weil ich Angst vor mir selbst hatte, vor dem, was ich tun könnte. Ich hab’s mir ausgemalt. Im Kopf hab ich’s hundertmal gemacht, jetzt bin ich neunzehn und immer noch Jungfrau, das macht die Sache nur schlimmer. Einfach lächerlich. So was wird man nie mehr los, mit neunzehn noch Jungfrau zu sein. Das bleibt an mir hängen, ein Leben lang.« »Ist doch keine Katastrophe«, sagt Billy. Do ballt die Fäuste, das ganze Zimmer scheint sich um ihn zu ballen. »Diese Gedanken schreien ständig in meinem Kopf, immer die schlimmstmöglichen. Sie drängen sich auf, ich kann sie nicht stoppen. Zum Beispiel Nonnen vergewaltigen. Das ist doch krank, oder? Nicht daß ich den ganzen Tag daran denke, Nonnen zu vergewaltigen, das ist nicht mein Hauptgedanke, aber wenn ich eine Nonne sehe, eine Nonne in ihrer Tracht, jung oder alt, dann muß ich sofort denken, daß ich sie vergewaltige.« Er zermartert sein Gesicht mit den Fäusten. »Beruhige dich«, sagt Billy. Aber Do ist auf dem Unglückstrip. »Oder bei Afroamerikanerinnen, wenn ich die sehe oder an ihnen vorbeigehe oder was immer, zum Beispiel Joy, zu ihr bin ich nett und freundlich, aber in meinem Kopf, in meinem Kopf muß ich
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immer ›Nigger‹ denken. Ich kann’s nicht ändern. Es ist wie ein Echo im Kopf. ›Nigger Nigger Nigger.‹ Manchmal kommt es mir fast über die Lippen. Ich hasse dieses Wort, ich kann es nicht ertragen. ›Nigger‹ schreit es so laut in meinem Kopf, daß ich denke, sie kann es hören. Daß sie es alle hören. Nigger ...« »Ist ja gut«, beruhigt ihn Billy. »Das ist doch nur ein Wort, ein sehr belastetes Wort, vielleicht das letzte Wort, das noch reinhaut, aber du bist kein übler Rassist, wenn du an das Wort denkst. Das bedeutet nur, daß es dich fasziniert. Es ist etwa das schlimmste Wort, das du sagen kannst. Das ist alles. Es ist diese Versuchung, in einem Theater laut zu schreien. Oder haßt du etwa die Schwarzen?« »Ich glaube nicht.« »Bist du Mitglied des Ku-Klux-Klan?« »Natürlich nicht.« »Na bitte«, sagt Billy, zufrieden mit seiner Argumentation. »Aber es geht Nonstop, dieses Niggerzeug. Alle schlimmen Wörter kommen mir in Sinn. Wirklich alle. ›Schwanzlutschen, ›Fotze‹, ›Schwuchtel‹. Die sind da drin und warten nur. Und machen mir alles kaputt. Mein älterer Bruder hat einen Sohn und eine Tochter, wunderbare Kinder, ich hab sie wirklich gern, ich lebe für diese Kinder, obwohl ich nicht wild auf meinen Bruder bin. Und sagen wir, ich kabbele mit ihnen, albere so herum, und sagen wir, mein Bruder und seine Frau sind in der Küche und kommen herein und sehen, wie ich mich mit den Kindern umherwälzte, dann gucken die mich komisch an, als wäre ich so was wie ein Kinderschänder, als würde ich die Kinder an den falschen Stellen berühren, als wäre ich zu handgreiflich. Ich
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sehe es an ihren Blicken, und vielleicht sehen sie was, was ich nicht sehe, weil ich immer aufpasse, wo ich sie berühre, und darauf achte, daß ich sie nicht dort berühre, wo man es nicht soll. Das schärfe ich mir ständig ein. Paß auf, paß auf, bleib über der Gürtellinie. Ich habe Angst, daß ich eine Erektion kriegen könnte, einfach so, und sage mir, du bist ja krank, das sind Kinder. Aber ich kann’s nicht ändern. Ich denke so viel daran, daß ich den Gedanken, ich könnte ihnen was tun, irgendwas Schreckliches antun, einfach nicht loswerde.« »Hmm.« Do ist den Tränen nahe. »Meine Gedanken machen mir alles kaputt«, sagt er zerknirscht. »Es muß einfach so sein, daß ich ein böser Mensch bin. All diese verrückten Gedanken, was kann das sonst bedeuten? Aus heiterem Himmel kriege ich Mordgedanken. Ich laufe im Shoppingcenter rum, einfach so, und plötzlich denke ich, ich habe eine MP in der Hand und mähe alle nieder. Ich höre die Schreie, ich sehe das Blut. Ich gehe zur Messe und bete um Besserung, oder wenn nicht, wenigstens um Vergebung, aber ich weiß, es sind alles nur Worte. Ich melde mich als Freiwilliger für gemeinnützige Arbeiten, aber ich weiß, es ist nur Verstellung. Ich will heiraten, Kinder haben, aber ich weiß, ich werde alles verpfuschen. Plötzlich denke ich an Inzest und all die schrecklichen Sachen, die ich meinen Kindern, meiner Frau antun kann. Eines Tages überwiegt das Schlechte all das Gute, das ich vielleicht getan habe, dann bricht das Böse in mir durch, und du liest meinen Namen in der Zeitung.« Do sieht aus, als hätte er die Schlagzeile schon vor Augen. Billy liegt da und weiß nicht, was er sagen soll. Do artikuliert Ängste, die er ebenfalls kennt, und das mit einer inne-
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ren Erregung, als gehörte er zu den Versuchstieren, die die hohe Dosis des Selbstzweifels nicht überleben, als gehörte er zu den fünfzig Prozent, die sich in Krämpfen winden, während sich die anderen fünfzig Prozent nur kurz schütteln. »Du bist, äh, nicht verrückt oder so was«, sagt Billy. Trost zu spenden war nie seine Stärke. Wenn andere Gefühle zeigen, klappt er das Visier herunter und starrt einfach vor sich hin, in der Hoffnung, daß sein Schweigen als stummes Mitgefühl und nicht als Ausdruck von Hilflosigkeit gedeutet wird (oder, schlimmer noch, als Gefühlskälte, was es seiner Meinung nach wirklich ist). Nicht daß er gefühllos wäre, aber er beherrscht dieses Terrain nicht. Die Topographie der Trostworte ragt vor ihm auf bis in schwindelnde Höhen. »Das sind doch nur Gedanken«, sagt er zu Do. »Okay, ziemlich krank, aber eben nur gedacht. Wenn wir haftbar wären für das, was wir denken, säßen wir alle im Knast.« »Dann versuch doch mal, mit diesen Gedanken zu leben«, protestiert Do. »Das macht einen fertig. Wenn du schläfst, träumst du diesen Horror auch noch, immerzu Alpträume. Nie ein Moment der Ruhe.« Do reibt sich die Augen mit den Handgelenken und zieht die Finger übers Gesicht, über Wangen, Nase, Mund und Kinn. Zurück bleiben rote Streifen. »Du scheinst mir aber ganz in Ordnung zu sein«, wiegelt Billy ab. »Das glauben alle, und das treibt mich zum Wahnsinn.« »Vielleicht haben sie nicht unrecht. Denk dran, du stehst gerade unter dem Einfluß von schweren Psychopharmaka. Irgendwas müssen die ja in deinem Kopf anrichten.« »Nein!« Do schreit fast. »Das hat nichts mit dem Test zu tun. Das ist nichts Neues. Schon als Kind hatte ich diese
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Gedanken, daß ich schlecht bin, abgrundtief schlecht, der Teufel persönlich. Ich hab die Offenbarung gelesen und dachte, sie handelt von mir. Es war der einzige Teil der Bibel, der mir Spaß gemacht hat. All die Ungeheuer, all die Siegel, all die Zeichen. Ein Freund mußte sogar meine Kopfhaut nach den drei Sechsen absuchen, du weißt schon, das Zeichen des Antichrist. Ich war mir ganz sicher. Ich hab versucht, Leute mit meinen Blicken zu strangulieren, zu pfählen, aus dem Fenster zu stürzen, zu ertränken. Lehrern hängte ich Herzinfarkte an, den Schulhofschlägern explodierte der Kopf. Ein Blick von mir, und Flugzeuge fielen vom Himmel. Meine Eltern hab ich wahrscheinlich hundertmal getötet. Und wenn nichts passierte, war ich enttäuscht. Diese Gedanken hatte ich schon lange bevor ich hierher kam. Weißt du, was das bedeutet? Sie sind das, was ich bin, jede Minute meines Lebens. Jede Minute ist ein Test, ob meine Gedanken Gedanken bleiben oder zu Taten werden.« »Vielleicht solltest du hier mit jemandem darüber sprechen«, sagt Billy sanft. »Oh, das hab ich schon«, erklärt ihm Do gelassen. »Gleich am Anfang. Sie sehen es in meinem Blut, in den Genen, sie haben die schlechten Gene isoliert und sind drauf und dran, mich hinter Schloß und Riegel zu bringen, mich noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie wissen, daß ich’s weiß. Er weiß es, Honeysack, die Schwestern auch, die Wachmänner, Carlson Dickey, alle wissen es, ich eingeschlossen, ich muß also gar nichts sagen. Du solltest sehen, wie sie mit meinem Blut umgehen. Das ist wie Säure. Sie tragen Handschuhe, weil es so giftig ist. O ja, sie wissen es. Und ich weiß, daß auch du es gleich wußtest, aber das ist okay. Lannigan weiß es noch nicht. All die For-
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scher hier sind voller Angst und voller Neugier, weil die so neu ist, meine Sorte von Blut. Sie berufen Experten. Manch einer profiliert sich mit dem, was in mir steckt. Ich will verflucht sein, wenn ich hier je wieder rauskomme. Aber im Moment tun wir so, als wüßten wir nichts, als wüßten wir nicht, was wir wirklich wissen.« Do scheint sich zu freuen, sein linker Fuß rotiert unter der Bettdecke. Obwohl das Gespräch eine dramatische Wendung genommen hat, ist Paranoia für Billy leichter zu verkraften als das Gejammer vorher, die Angst und die Verzweiflung. Ja, Wahnvorstellungen sind da schon besser. Do scheint es ähnlich zu ergehen, weil er sich jetzt beruhigt und ins Bett zurücksinkt, wieder zum Klumpen wird. »Sie wissen es«, sagt er erleichtert. »Sieh mal«, erklärt ihm Billy. »Ich bin zwei Meter von dir weg, und es macht mir nichts aus. Ich halte dich für einen ganz friedlichen Menschen. Vielleicht zu friedlich, und deshalb machen dir diese Gedanken so sehr zu schaffen. Das ist die normale unbewußte Scheiße, die die meisten kaum wahrnehmen, und wenn doch, sind wir halb stolz, so verrucht zu sein, aber für dich ist das tödlich.« »Was denkst du von dir selbst?« fragt Do. »Wie meinst du das?« »Bist du gut oder schlecht?« »Ich denke nicht in solchen Kategorien«, sagt Billy und vermeidet die Begriffe manichäisch und zoroastrisch, obwohl sie sich in seinem Kopf vordrängen wie altkluge Schüler, die nimm mich dran, nimm mich dran! rufen. »Ich glaube eher ans Grau.« »Tief drinnen mußt du das doch spüren!« »Ein bißchen von beidem«, erwidert Billy. »Aber gib zu, daß dich das schon gequält hat.«
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Just in diesem Augenblick kommt zum Glück Lannigan hereingestürmt, ganz aufgeregt von etwas, was seine Aufklärung findet, als Billy den dunklen Fleck an seiner Hose sieht. »Ich hab mich gerade einpißt«, verkündet er. »Mitten im Aufenthaltsraum. Ich hab da mit den Jungs gesessen, ein bißchen geplaudert, plötzlich hab ich mir in die Hose gemacht. Ich hab ein bißchen den Entsetzten gespielt, was da mit meinem Körper vor sich geht. Die Gesichter hättet ihr sehen sollen!«
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30 IN DIESER NACHT liegt Billy wach. Er denkt über Gut und Böse nach und landet irgendwann bei seinen Eltern. Das Wort »Schlamassel« hat sich seiner Phantasie bemächtigt, er sieht Mom und Dad, die sich erschießen, blutbespritzte Wände. Er müßte aufstehen und abreisen, den nächsten Flug nehmen, das wäre von einem guten Sohn zu erwarten. Aber ein guter Sohn hätte so vieles anders gemacht, er hätte das schon vor drei Jahren gemacht, vor fünf Jahren, als es verdammt noch mal losging. Jetzt ist alles zu spät, denkt er. Wenn nur das Wort »Schlamassel« nicht wäre. Wie lange wird es dauern, bis die Leichen entdeckt werden, bis der Geruch die Nasen von Passanten und Nachbarn erreicht, bis der wachsende Poststapel ihre Neugier weckt. Wochen? Monate? Während der Schlamassel immer größer wird. Die Rechnungen nicht bezahlt werden. Der Strom abgeschaltet wird. Der Rasen zu Gestrüpp wird. Die Fenster von Halbwüchsigen eingeworfen werden, die sich samstags nachts mit Heldentaten hervortun wollen. Abe und Doris sich in Mythos und Moder auflösen. Bis endlich auf die Entdekkung die Suche nach dem Sohn folgt, nach dem bösen Sohn, der zuließ, daß dieses Haus zum Grab wurde. Billy steht auf. Lannigan und Do schlafen fest. Do stöhnt leise,
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als würden in seinem Traum junge Hunde gequält. Billy schleicht auf Zehenspitzen zur Tür, seine Füße balancieren auf dem Drahtseil der Stille. Das Neonlicht im Flur brennt sich in sein Fleisch ein, als wäre seine Haut direkt vom gasförmigen in den festen Aggregatzustand übergegangen, ohne die kühlende Verflüssigung der Frühe. Er schaut nach rechts und links. Keine Schwester, kein Wachpersonal. Er lauscht. Nichts als die natürliche Entsprechung der altgewohnten Welt. Er steht da, geduckt, und denkt okay, was nun? Und schreitet zur Tat. Er schleicht sich in die Zimmer. Ganz langsam öffnet er Türen, zwängt sich durch schmale Lichtspalte und bleibt still stehen, bis sich seine Augen ans Dunkel gewöhnt haben. Er wartet, bis der nächtliche Rhythmus zurückkehrt, bis ihn die Schläfer in ihre Träume hineinatmen. Die Köpfe auf den Kissen zeichnen sich in verschiedenen Tönen von Nachtgrau ab. Er rechnet mit Geschrei: »Wer da?«, mit hastiger Flucht, aber wenn er sicher ist, daß er unentdeckt bleibt, wagt er sich weiter vor, wie eine enttarnte Zahnfee, die es einfach nicht lassen kann. Von Bett zu Bett gehend, betrachtet er die schlafenden Gesichter. Sie sehen so friedlich aus, fast liebenswert, scheinen einen Abglanz der Kindheit zu bewahren. Billy ist voller Fürsorge. Er möchte Haare streicheln, Decken zurechtzupfen, Stirnen küssen, alle Alpträume besänftigen. Ein Mensch, der schläft, ist das Rührendste und Traurigste, das du dir vorstellen kann. Vielleicht weil du so allein bist. Vielleicht weil dir der Schlafende entrückt ist. Vielleicht weil ihr beide nur Gespenster seid. Wer weiß? Er berührt Gretchens Tür (er könnte durch Handauflegen prüfen, ob es drinnen brennt), bevor er sie langsam öffnet. Der Fernseher läuft. Vielleicht hat das Wetter sie
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eingeschläfert. Weiter, weiter, weiter öffnet er den Spalt, bis er den Kopf durchstecken kann und er sie erblickt, gebadet in Bildröhrengeflimmer. Das wasserblaue Licht verleiht ihrem Gesicht die Sinnlichkeit einer Nacktbadeszene, die ... Sie lächelt. O Gott, sie ist wach. »Hallo«, sagt sie wie eine Hellseherin, die ihre Gegenwart in all deinen Gedanken spürt. »Hi.« »Auf Wanderschaft, was?« »Ich kann nicht schlafen«, sagt er. »Ich auch nicht. Kannst ruhig reinkommen.« »Okay.« Billy setzt sich auf das Bett, das der Tür am nächsten ist. Bleib cool, bleib cool, bleib cool hämmert es in seinem Kopf wie ein Generalbaß, was schon das Gegenteil von cool ist und bei Licht besehen einfach nur trottelig. »Du schaust ja gar nicht den Wetterkanal«, sagt er. »Nein. Ich hab mich gerade an einer TeleshoppingSendung für Fanartikel festgebissen. Seit einer halben Stunde höre ich den zwei Typen zu, die davon schwärmen, wie schlau es ist, in Baseball-Sammelbilder zu investieren.« »Oh.« »Aber nachts gefällt mir alles im Fernsehen.« »Mir auch«, sagt Billy. »Offene Kanäle ...« »Die sind das Beste.« »Die schrägen Filme, die man da findet.« »Und tatsächlich anschaut«, bekräftigt Billy. »Nachts guckt man sich diese Filme tatsächlich an. Zu anderen Zeiten würde man sie links liegen lassen.« »Sehr wahr.« Aufgekratzt durch den Besuch, schaltet sich Gretchen durch die Programme und verweilt so lange bei jedem Sender, daß – A&E – erkennbar wird, wo die
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Show hingeht, daß sie – Recht & Ordnung – Billy mit ihrem Geschmack quält, bevor sie weiterschaltet – Bravo TV –, geziert – Filmstudio von innen mit Christopher Walken –, aber das mit Bedacht, als wäre sie ein Mitglied der NielsenFamilie – VH-1 –, die verführerische Tochter – Behind the Music mit Rick Springfield – die die Macht des Einverständnisses kennt – E! TV –, während sie durchs Nachtprogramm zappt – True Hollywood Story mit Adam Rich – und sich weiterklickt – MTV –, lustlos die Fernbedienung schwenkt – The Real World, Hawaii –, was Serien betrifft, unbefriedigt bleibt – Court TV – und Billy ihr zuschaut – Prozesse des Jahrhunderts, Fatty Arbuckle –, im Licht der Katodenstrahlröhre, das ihr schmeichelt wie Kerzenschimmer – The Food Network –, wie sich ihre Zunge durch die Lippen schiebt – Emeril Live –, wie sie sich mit feuchtglitzernden Pupillen – The History Channel –, die zweifellos auch Billy erfassen – Zweiter Weltkrieg, Luftangriff auf Dresden –, in ihrem Quotenanteil sonnt – AMC – und sich der Raum um sie herum mit Schatten belebt – Jules et Jim –, Jeanne Moreau in Männerkleidung über eine Eisenbahnbrücke rennt – Comedy Central – und Gretchen ihr linkes Bein aus der Decke streckt, mit dem Verlockungspotential eines nackten Fußes unter dem Saum eines Reifrocks – Talk Soup, das Beste von Jerry Springer –, und wie sie weiterzappt in die hohen zweistelligen Kanäle, das kommerzielle Segment des Offenen Kanals, des Bezahlfernsehens, des Homeshopping-Fernsehens – QVC –, wie sie die Zehen krümmt und streckt und mit dem kleinsten knackt, der frißt sie alle, alle auf – Luxelon Zwillingspullover mit Blumenstickerei $49.95 –, und ihn an den zerknautschen Nachbarn schmiegt, der trägt sie nach Haus. Gretchen stoppt.
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Die Vertikale gerät aus den Fugen, der Ton verschwimmt, das Bild bricht mittendurch, verdreht sich, ruckt hin und her, aber Billy erkennt die Welt der verschlüsselten Pornokanäle sofort. Hinter diesem wogenden Vorhang spielt sich der sexuelle Grundrhythmus ab. Billy ist ziemlich sicher, daß sie die Blowjobphase des Ficks erwischt haben. Der Fernseher wird zum Aufzeichnungsgerät für Hmmmooooh-aaaahs. »Was haben wir denn da?« fragt Gretchen. »Das ist der Disneykanal, glaube ich«, sagt Billy. »Glaubst du?« »Ich tippe auf Pinocchio.« »Der flunkert ja, was das Zeug hält.« »Aber ihr macht’s nichts aus.« Körper sind in Streifen zerlegt, halb hier, halb da. »So ist es fast noch schärfer«, sagt Billy. »Und ganz bestimmt akrobatischer«, fügt Gretchen hinzu. Der amöbenartige Rammler auf dem Bildschirm fordert: »O ja, lutsch mir die Eier, Baby«, als wäre der Text ausdrücklich für diesen Moment verfaßt worden, als würde jeder Stöhnlaut zwischen Lippe und Schaft im Drehbuch stehen, und Billy denkt kurz an Sally und ihren letzten sexuellen Kontakt. Pornodialoge als Abschiedsworte. Wahrscheinlich ist sie schon in Cambridge, alle Spuren ihres Zusammenlebens sind aus der New Yorker Wohnung getilgt, bis auf die Kratzer im Fußboden, die Nagellöcher in den Wänden; seine Bücher sind wahrscheinlich in die Antiquariate zurückgekehrt, denen sie entsprangen, um sich fortzupflanzen wie Lachse, für Leute, die zu arm sind, um sich neue zu kaufen, und mit eselsohrigem Nachwuchs vorliebnehmen. Billy lauscht auf jeden Stoß, jedes Röcheln,
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als würde er sich selbst zuhören. Das einzige natürliche Geräusch ist schrecklich intim und entzieht sich seiner Kontrolle. »Wie romantisch«, sagt Gretchen. Billy kneift die Augen zusammen. »Ich hab keine Ahnung, welches Teil wohin gehört.« »Das ist wie Spin-Art«, sagt Gretchen, »und alles in Rosa.« Während sie plaudern, verabredet das fraktionierte Pärchen den nächsten Akt. »Ich will dich ficken.« »Du willst mich ficken?« »Dann fick mich, fick mich in die Möse.« »Und wie ich dich ficke!« »Na los, fick mich!« »Ich glaube, sie wollen ficken«, sagt Gretchen. »Man könnte den Eindruck kriegen«, sagt Billy. Billy starrt Gretchen an, provoziert sie beinahe zu einem Na, was ist? Mein Gott, sie ist alles andere als schön. Ihre Haut glänzt in einem Licht, das eines Georges de la Tour würdig wäre, aber dem das Ja, Ja, Ja entgegensteht. Sie ist nicht schön und sieht so unschuldig aus, wie Leute, die alles gesehen haben, eben unschuldig aussehen können – als hätten sie alle Schuld verscheucht. Ihr abfälliges Lächeln wird zum Ausdruck der Unschuld. Billy wünscht, er könnte sie berühren. Läge er mit ihr im Bett, könnte er wie aus Versehen füßeln, den kleinen Finger über die Trennlinie wandern lassen und ihre Bereitwilligkeit erkunden. Andere Männer würden vielleicht aufstehen und zu ihr ins Bett steigen, aber Billy ist differenzierter, er bleibt zurückhaltend bis zum ersten Kuß. Okay, schüchtern. Feige sogar. Am Anfang. Er braucht die unabsichtliche Berührung, den
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haftenbleibenden Händedruck, die stumme Übereinkunft des Nachgebens. Er versucht, Gretchen telepathisch zu verführen. Er stemmt sich gegen den Abstand, der zwischen ihnen ist, öffnet sämtliche Poren, um die feinen Schwingungen aufzufangen. »Billy?« Er – »ja« – antwortet ein bißchen zu hastig. »Was denkst du, wo sie ihre Beine hat?« »Keine Ahnung.« »Oder ihren Kopf?« »Ich weiß es nicht«, sagt Billy. Er kann sich so schnell verlieben. Vielleicht ist das keine echte Liebe. Nicht Dein auf ewig. Gott, nein. Es sind eher die Wörter, das Verb, umrahmt von Personalpronomen – ich liebe dich –, die abgründige Schlichtheit dieses Satzes. Ich liebe dich. Erstaunlich, die Macht dieser Syntax. In der Highschool, am College, in Studentenbuden konnte er, wenn er zuviel getrunken hatte, beim Fummeln an Gürtelschnallen und BH-Verschlüssen plötzlich Ich liebe dich sagen. Nicht um der Wirkung willen. Er wollte sich nur dabei hören, wie er diese Worte sagte. »Fick mich in den Arsch.« »Du willst, daß ich dich in den Arsch ficke?« »Ja. Voll rein in mein Arschloch.« »Dein enges Arschloch.« »Oh ja!« Es folgt eine Serie besonders gewaltsamer Handgreiflichkeiten. Einen Augenblick lang verharrt die Empfängnis aufrecht und einigermaßen intakt auf dem Bildschirm, ein, zwei, drei Sekunden, der Mann und die Frau kristallklar, der Mann aufgepumpt, anscheinend vorrangig an seinen Delta- und Brustmuskeln interessiert, die Frau ständig ihr
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mittelblondes Haar zurückstreichend – und beide mit vorgetäuschter Lustgrimasse, während sie den analen Bestandteil ihres Vertrags erfüllen, bis sich dieses neuzeitliche Paolo-und-Francesca-Pärchen endlich und Gott sei Dank zu Partikeln verwirbelt. »Dann werd ich mal«, sagt Billy. »Du willst gehen?« »Ich sollte wenigstens versuchen, ein bißchen Schlaf abzukriegen.« »Bist du denn müde?« »Nein.« »Na, dann bleib doch. Ich kann umschalten.« Gretchen schwenkt die Fernbedienung. »Hier, das Wetter.« »Nein, ich gehe besser. Es ist spät.« »Du kannst bleiben, wenn du willst.« Aber Billy ist von einem Gefühl befallen worden, dem Gefühl der Sinnlosigkeit im Angesicht der Liebe. Soll er ihr einen Gutenachtkuß geben? Vielleicht unter dem Vorwand, sie nett zuzudecken? Statt dessen winkt er ihr zu, nickt zum Abschied und schlüpft hinaus. Er steht im Flur, im grellen forensischen Licht der Flurbeleuchtung, und möchte sich am liebsten in den Hintern treten. Warum ist er nicht geblieben? Immerhin hat sie ihm verschlüsselten Porno vorgeführt. Deutlicher ging es nun wirklich nicht. Billy ballt die Fäuste und zieht eine Grimasse wie ein Delinquent auf dem Elektrischen Stuhl. Wieder eine verpaßte Gelegenheit! In solchen Situationen ist er immer der Gentleman und erst hinterher der Wüstling. Er denkt daran, umzukehren, ins Zimmer zu stürmen, ihr zu sagen, daß er etwas vergessen hat, auf das Bett zuzukurven, sich über sie zu beugen und sie zu küssen, die Zunge nur ein bißchen zu beteiligen, die eine Hand in ihrem Nacken, die andere flach auf ihrer
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Brust, wegen der Balance. Klingt gut. Fast sexy. Vielleicht ein bißchen billig. Viel zu glatt. Oder er könnte zu ihr hineinstolpern, total verschreckt und verwirrt, und ihr unter liebenswertem Gestammel gestehen: Ich möchte dich so, so, so gern küssen. Schon besser. Ehrlicher. Praktisch die Wahrheit. Aber auch nur ein einstudierter Spruch. Billy zermartert sich noch das Hirn, als weiter hinten auf dem Flur eine Tür aufgeht. Dullick schleicht heraus und drückt sich an der Wand entlang. Nach vier Schritten merkt er, daß er nicht allein ist. »Schine«, sagt er und erstarrt. »Hey.« »Was machst du denn hier, verdammt noch mal?« »Ich konnte nicht schlafen.« »Und jetzt schiebst du hier Wache?« Dullick furzt. Es ist ein fragendes Hupen, ein gasiges Hmm? Er wird rot. Dieser Kraftklotz ist in übler Verfassung, bleich, verschwitzt und alles andere als selbstsicher. Wieder entweicht ihm ein Furz, diesmal fällt er länger und nachdrücklicher aus. »Tut mir leid«, sagt er. »Das Essen bringt mich um.« Billy nickt mitleidig. Dullick ist schwarz gekleidet und hält ein Walkie-Talkie in der Hand. Ragnar, denkt Billy. Vielleicht ist es doch keine absurde Phantasie, sondern Realität. Vielleicht steigt diese Nacht die Operation Billy Schine. »Was hast du vor?« fragt er. »Das könnte ich dich fragen«, sagt Dullick. Dann senkt er den Kopf und erstarrt, als hätte er im Dschungel seiner Innereien einen Zweig knacken hören. Offensichtlich lauern dort Gefahren. Dullick macht auf dem Absatz kehrt und stürzt zurück in sein Zimmer. Billy geht an die Tür und lauscht. »Abbruch, Abbruch«, wird in das Walkie-Talkie gezischt, gefolgt von hastiger Bewegung in Richtung Toilette.
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31 DER MONTAG IST der letzte Allevatrox-Tag, danach müssen sie nur noch bluten, um Zeugnis davon zu geben, wie das Medikament aus ihrem Organismus verschwindet. Bis Freitag sollen sie reif zur Entlassung sein. Die grünen Normalen schlucken feierlich ihre abendlichen Tabletten, obwohl sie noch immer sabbern und zucken. Das Ende ist nahe. Bald gibt es Geld. Die Schwester mit der Stiftlampe und dem Zungenspatel schaut Billy ein letztes Mal in den Mund, und um ihr einen Streich zu spielen, versteckt er die Tabletten in der Backentasche. Sie spürt sie auf wie Karieslöcher. »Clever«, sagt sie. »Schlucken jetzt!« Im Blutraum hält er vergeblich Ausschau nach Joy. Ron, ihr Vertreter, erklärt, daß sie ihren freien Tag hat. Ron hat rauhe Hände, als würde das Blut aus der Erde gebuddelt. Billy mißgönnt ihm seine Probe. Später am Abend schaut Billy den Motten zu, die wie lichthungrige Regentropfen ans Fenster krachen. Er sieht Dos Spiegelbild. Do hält die Bibel mit beiden Händen umklammert, seine Lippen bewegen sich stumm durch die Lukas-Minuten. Ein paar Motten krachen mit Volldampf gegen die Scheibe, während andere auf und ab flatternd nach dem Eingang suchen, kurz ausruhen und es erneut
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probieren. Aber Billy interessiert sich mehr für Do. Vorhin hat er gebrochen. Nach dem Abendessen ist er auf die Toilette gegangen, und das Geräusch, hörbar durch die geschlossene Tür, war unverkennbar. Das Krächzen, verursacht vom Finger an der Zungenwurzel, die ersten Würgelaute, dann das Platschen von Huhn mit Erbsen und Kartoffelbrei und Butterscotch-Pudding zum Nachtisch. Billy und Lannigan tauschten Blicke. Lannigan schien sich zu freuen, als würde er ein Gespräch belauschen; die Hand auf dem Mund – ja, was haben wir denn da? Billy ging an die Tür, leise, denn Lannigan hatte da schon recht – Kotzen ist Privatsache. Billy hörte Gemurmel, fast einen Singsang, der dank der Akustik der Klosettschüssel geradezu gregorianisch anmutete. Zu seiner Erleichterung wurde das Rezitativ durch eine neue Magenentleerungsarie abgelöst. Lannigan sprang aus dem Bett und ging zu seiner Abteilung der Kommode, wo seine Toilettenartikel (eine richtige City, verglichen mit den Städtchen von Billy und Do) aufgebaut waren. Er griff seinen Deo-Wolkenkratzer, schüttelte ihn betriebsbereit und marschierte hinüber zu Dos Bett. Mit zugehaltener Nase sprühte er Dos Bettwäsche ein. »Was machst du da?« flüsterte Billy. »Ich nutze die Lage aus«, sagte Lannigan. »Sei nicht fies.« Billy klopfte an die Tür. »Do, alles in Ordnung da drinnen?« Noch mehr Gemurmel, diesmal klang es wie ein Didgeridoo. »Soll ich die Schwester holen?« Do schrie zurück. »Nein! Nein-nein-nein-nein.« Lannigan stoppte seine Aerosol-Attacke. »Eigentlich brauchen wir einen Exorzisten«, sagte er. »Das ist mehr als Körpergeruch. Da ist schon Besessenheit im Spiel. Mit
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Linda Blair in der Hauptrolle.« Er kehrte zu seiner Skyline zurück und griff nach einer phallusförmigen Eau-deCologne-Flasche. »Weihwasser«, sagte er, »von Calvin Klein.« »Laß gut sein, Lannigan. Es reicht.« »Stimmt. Mir reicht’s.« Billy machte die Badezimmertür auf und steckte den Kopf durch, eine Art nachbarliches Hallihallo. Do kniete, über die Toilette gebeugt, und zwängte sich die Hand in den Rachen. Das meiste von dem, was überhaupt hochkommen konnte, war schon draußen, nur Schleim kam noch nach. Was da im Becken schwamm, hatte einst als menschliche Nahrung gegolten, jetzt sah es aus wie Schweinefraß. Und roch wie Mehltau aus dem Körperinneren, wie klumpiger Moder, der Billy an die feine Trennlinie zwischen Vorwärts- und Rückwärtsverdauung gemahnte. Do versuchte, die Finger noch tiefer hineinzustecken, bis hin zum gestrigen Mittagessen. »Okay«, sagte Billy. »Ich glaube, das war’s.« Do blieb unbeirrt. Er quälte sich ein hohles Krächzen ab, das er mit Verachtung strafte, als würde ein Gestapomann Raus mit der Sprache! brüllen. Billy streckte den Arm aus und dachte daran, ihm auf die Schulter zu klopfen oder ihm sanft über den Kopf zu streichen, aber das kam ihm zu intim, zu väterlich vor, also drückte er die Spülung und sagte zu Do: »Machen wir mal einen Moment Pause.« Dos Kennkarte baumelte im Becken. Dieser zehn Tage alte Do kreiselte, für die Kamera lächelnd, im Abfluß, während der leibhaftige Do, unbestimmbar älter, verfolgte, wie sich sein Ebenbild immer schneller drehte und mit einer letzten Pirouette im schwarzen Schlund zu verschwinden drohte. Aber die Kette hielt. Die Kennkarte kam an die
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Oberfläche. »Da ist noch mehr in mir«, sagte Do. »Ich weiß es. Ich spüre es. Ich hab nicht alles erwischt. Nicht alles. Da ist noch mehr.« »Das meiste ist draußen«, versicherte ihm Billy. »Nicht annähernd.« Billy reichte ihm einen Batzen Klopapier. »Laß gut sein. Tu mir den Gefallen.« »Ich spüre es noch in mir drin.« Do kniff sich in den Bauch. »Was spürst du?« »Die tun mir was ins Essen. Ich hab’s gesehen. Die machen mich reif. Du wirst sehen. Alle werden es sehen. Und dann holen sie mich weg für immer. Ich muß das aus mir rauskriegen« – er fingerte an seinem Bauchnabel wie an einem Dosenring-, »weil die mich sonst überall aufspüren können.« Billy setzte sich auf den Badezimmerfußboden und baute auf die tröstliche Wirkung seiner Nähe. »Do, das liegt am Medikament. Das ist eine üble Nebenwirkung, mehr nicht.« »Das liegt nicht am Medikament, das liegt an mir.« »Ich glaube, ich hole lieber die Schwester.« Do packte ihn am Arm. »Wag es bloß nicht.« »Aber das hier wird langsam ernst.« Do funkelte ihn an, seine Stirnfalten sahen aus wie Knöchel auf der Felskante. »Wenn du irgendwas erzählst, das verzeihe ich dir nie. Das bedeutet vielleicht nicht viel, bei einem Stück Dreck wie mir, aber du weißt für den Rest deines Lebens, daß es einen gibt, der dir nie verzeiht.« »Okay, okay.« Lannigans Stimme, nach Beachtung gierend, drang ins Badezimmer, er selbst stand an Dos Bett, besprenkelte es
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mit Eau de Cologne und sang immer von neuem: »Gebannt durch die Macht Christi«, wie ein Priester, der gegen Anstaltswäsche vorgeht. »Lannigan, halt die Klappe«, brüllte Billy. »Gebannt durch die Macht Christi!« »Halt endlich deine verdammte Fresse. Ich meine es ernst.« Billy verzog das Gesicht, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen, die absolute Geschmacklosigkeit dieses Scherzes, aber der Hohepriester machte unbeirrt weiter. »Hör nicht hin«, sagte Billy zu Do. »Das ist ein Idiot.« Do hatte sich längst gefangen. Seine zitternde Erregung war wie weggeblasen. Geblieben war etwas Kälteres und viel Unheimlicheres – eine Resignation, die eine gewisse Glätte hat, dachte Billy, unversöhnlich wie ein Stein, der nicht mehr vom Wasser abgeschliffen wird, aber all die Jahre der Verformung konserviert. Selbst Lannigan schien beeindruckt. Er stoppte seine kleine Beschwörung und senkte den Kopf, als könnte er hören, was Hunde hören. Eine unmerkliche tektonische Bewegung. Einen Hochfrequenzschrei. Do sagte nichts. Er wischte sich das Kinn ab, stand auf und ging an Lannigan vorbei in sein frisch parfümiertes Bett. Der Parfümgeruch hängt in der Luft und vermischt sich aufs Widerwärtigste mit Dos Gestank. Billy beobachtet Dos Spiegelbild im Fenster und fragt sich, ob Do ihn beobachtet, ob sich ihre Blicke treffen, oder ob Dos Blick auf die Nachtfalter und die dahinterliegende Schwärze fixiert ist. Billy geht ans Fenster, schließt die dicken Vorhänge und sagt »Nachtruhe«, damit Do den Schuldigen nicht in seinem toten Herbstmondgesicht vermutet. »Geht’s dir besser?« fragt Billy. Do bleibt reglos, doch er scheint unmerklich zu nicken.
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32 AM NÄCHSTEN MORGEN ist Do verschwunden. Schwester Clifford/George begutachtet das aufgeschlagene Bett, die Do-Puppe. Sein grünes T-Shirt ist mit Wäsche ausgestopft, seine Sweatpants mit Klopapierrollen und Handtüchern. Die Stelle des Kopfes nimmt ein Unterhemd ein. Schwester Clifford/George greift nach der Kette mit der Kennkarte und ruft sich das Gesicht des Verschwundenen ins Gedächtnis. Der Geruch dürfte an ihrem angeekelten Blick mitschuldig sein, ihre Augen sind hartglänzend vor Mißtrauen, und ihr Kinn lastet schwer, weil der Tag so früh schon Ärger bringt. »Wenn das ein Streich ist«, sagt sie zu Billy und Lannigan, die Seite an Seite stehen, plötzlich vereint durch das Verschwinden des Zimmerkollegen. »Das ist kein Streich«, sagt Billy. Sie starrt Lannigan bohrend an. Lannigan greift sich an die Brust. Moi? »Sie haben nicht gehört, wie er aufgestanden und rausgegangen ist?« »Nein«, sagt Billy. »Sie haben überhaupt nichts gehört?« »Stöhnen«, erinnert sich Lannigan. »Oh, tut mir leid, das war ich selbst. Ich hatte eine wüste Nacht.«
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»Hat er irgendwas von Abbruch gesagt?« fragt sie. »Nein, aber er war erregt«, deutet Billy an. »Verstört«, bekräftigt Lannigan. »Wie das?« Billy greift die Frage auf, weil Lannigans Meinung nicht zählt. »Ich glaube, das Medikament hatte ziemlich schlimme Auswirkungen auf ihn. Er kriegte irgendwie Wahnvorstellungen. Er glaubte, daß man ihm etwas ins Essen tut, daß er überwacht wird, daß man ihn einweist. Er war ganz schön manisch.« »Ist das Ihre Expertenmeinung?« fragt die Schwester ironisch. Billy zuckt die Schultern. »Tut mir leid«, sagt sie und blickt hinab auf die vermenschlichten Klamotten. Billy kann sich vorstellen, daß sie beim Zwiebelschneiden daran denkt, wie oft sie im Leben hätte weinen sollen. Sie hat den Wie-bin-ich-nur-sogeworden-Blick, den Wann-wurde-Fürsorge-zur-RoutineMund. Komisch, wie sich ein ganzes Leben in einer einzigen Miene enthüllt. »Riechen tut es schon«, sagt sie. »Bluthunde würden ihn sofort aufspüren«, versichert ihr Lannigan. Schwester Clifford/George bückt sich und schaut unters Bett, womit sie Billy unweigerlich ihr Hinterteil darbietet, den glatten Streifen Haut zwischen Hose und Bluse mit ein bißchen Elastik und der Andeutung von Rückenwirbeln, die bleiche Taillenpartie, sexy auf jeden Fall, trotzdem kommt sich Billy lüstern vor, weil er es bemerkt hat. »Verstecken sich Probanden manchmal unterm Bett?« fragt Lannigan aufgeregt. »Wenn das ein Streich ist!« »Wie verschreckte kleine Jungs?« fragt Lannigan weiter.
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Da sieht Billy etwas, nahe der Tür. gekrümmt wie ein von der Sonne getrockneter Wurm – ein besonders garstiger Wurm. Er hebt ihn auf, die Spitze nach oben und sagt »ähemm«, denn das ist Erklärung genug. Lannigan verstummt. Die Schwester zieht Gummihandschuhe über, bevor sie die Kanüle entgegennimmt. »Er hat wirklich seine Kanüle rausgezogen?« fragt Rodney Letts beim Frühstück. »Und ob«, sagt Lannigan, der seinen Zeugenstatus genießt. »Einfach rausgezogen.« Lannigan hat sich das Urheberrecht an dieser Story angeeignet. Die Neuigkeit verbreitet sich in der Cafeteria, von Farbe zu Farbe, alle Münder machen Do, alle Augen und Ohren sind auf Lannigan und Billy gerichtet, als wären sie Hinterbliebene. »Verrückt, weil ich letzte Nacht so was wie einen unterdrückten Schrei gehört habe und mir nichts dabei gedacht habe, ein schlechter Traum, dachte ich, aber jetzt...« Lannigan schaudert. »Eindeutig.« Billy kommuniziert einzig mit seinem Rührei. Soll Lannigan seinen Ruhm auskosten. Eine flüchtige Durchsuchung der Klinik hat stattgefunden, die Nachtwache wurde einbestellt und befragt – nichts –, die Überwachungsbänder wurden durchgesehen – nichts –, Schränke und Abstellräume überprüft – nichts –, all die gängigen Verstecke wieder und wieder kontrolliert. Doch Do bleibt verschwunden. »Glaubst du, daß er noch hier ist?« fragt Rodney. »Absolut«, sagt Lannigan. »Vielleicht ist er abgehauen.« Lannigan schüttelt den Kopf. »Er hat seine Schuhe nicht mitgenommen. Und seine Brieftasche auch nicht.«
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Diese neue Information erfüllt die Cafeteria mit Gemurmel. »Ich höre, Ihr Zimmerkollege wird vermißt«, sagt Joy zu Billy. Billy nickt. Wie immer fasziniert ihn ihre Arbeitsweise, er verfolgt, wie sie sein Blut aus der Kanüle zaubert, ihre Hände sind so weich und warm, selbst unter dem Latex. »Tut es sehr weh, wenn man sich das Ding rauszieht?« fragt er. »Wenn man’s richtig macht, überhaupt nicht.« »Wenn man’s falsch macht?« »Ein bißchen. Wenn man die Vene zerrt, wenn man drückt.« Joy sortiert sein Röhrchen ein. »Wissen Sie was? Ich kann mich nicht mal erinnern, wie er aussieht, dieser John Rami.« »Es ist der, der so riecht.« »Ach, der. Jetzt weil? ich Bescheid. Er hat sich bei der Blutabnahme die Augen zugehalten, er konnte nicht zusehen, im Gegensatz zu Ihnen.« Nigger, denkt Billy zu seinem Entsetzen, Nigger Nigger Nigger. Eine gründlichere Durchsuchung beginnt nach dem Frühstück. Die Wachmannschaft des HAM durchkämmt das Gebäude, angeführt von Carlson Dickey, der dies anscheinend zu seinem persönlichen Anliegen gemacht hat, so, wie er die Männer im Flur um sich versammelt und sagt: »Wir müssen diese Person so schnell wie möglich finden. Jede Minute ist eine Minute zu spät.« Der Lautsprecher verkündet Dos Verschwinden und bedankt sich im voraus für die Geduld aller Betroffenen. »Falls jemand etwas über den Verbleib von Mr. Rami weiß, bitte bei der Stationsschwester melden.« Aber vergebens. Es muß Hun-
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derte von Verstecken geben, denkt Billy. Er stellt sich Do in einen Schrank eingezwängt vor, Do vergraben unter einem Wäschehaufen, Do beim Mithören all der Aktivitäten, die sein Verschwinden ausgelöst hat, die seine Ängste zweifellos bestätigen. »Sie haben keine Vermutung?« fragt Honeysack bei Billy an. Der Arzt steht in der Tür und versucht, locker und gelassen auszusehen, aber er versieht diese Maskerade mit einer ganzen Serie kleiner Korrekturen – Unbekümmertheit, die kompliziert ist wie ein Golfschlag. »Nein«, sagt Billy vom Bett aus. Lannigan ist im Aufenthakltsraum und betätigt sich als Dos Orakel. »Wir haben praktisch die gaanze Klinik durchsucht«, sagt Honeysack. »Gestern abend war er in seinem Bett. Mehr weiß ich nicht.« »Und Sie glauben wirklich, er war in Ordnung? Geistig, meine ich.« »Er hat sich den Finger in dem Hals gesteckt und sein Abendessen erbrochen, weil er überzeugt war, daß Sie oder Ihre Leute ihm was hineingetan haben. Er war überzeugt, daß er in die Psychiatrie kommt. Und bei all dieser Sucherei wette ich, daß er jetzt noch überzeugter davon ist. Je mehr Sie nach ihm suchen, um so besser hält er sich versteckt.« »Aber wir können die Suche nicht einstellen.« »Wenn Sie nicht nach ihm suchen, finden Sie ihn«, sagt Billy. »Für diese Art von Logik bin ich zu müde.« »Ich hab mich eher an die Quantenmechanik gehalten.« »Das ist das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.« »Ich hab Ihnen doch gesagt, daß es ihm nicht gut geht.«
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»Schauen Sie sich um. Hier gibt es eine Menge Leute, denen es nicht gut geht.« »Seien Sie bitte nett zu ihm, wenn Sie ihn finden«, sagt Billy. Honeysack wird böse. »Natürlich sind wir nett. Was denken Sie denn? Daß wir fies zu ihm sind? Er ist unser Patient – oder unser Pseudopatient. Egal, wir sind für ihn verantwortlich. Wir hoffen nur, daß er nichts Dummes anstellt.« Nach dem Mittagessen kommen Ossap und Dullick ins Zimmer gestürmt, Ossap vorbei an Lannigans leerem Bett (Lannigan hat sich der Suche nach Do verschrieben, als ginge es um den verschwundenen Ohrring seiner Mutter), während Dullick die Tür schließt und mit seinem Körper verbarrikadiert. »Dein Kumpel macht hier alle ein bißchen zu neugierig.« Ossaps Stimme dringt durch einen Verhau aus Gesichtszuckungen. »Die sind in unserem Zimmer, schmeißen unser Zeug durcheinander, suchen nach diesem Arsch, diesem Wichser, diesem verfickten ...« – er fuchtelt mit den Armen –, »das kotzt mich an, das kotzt uns an, wir sind schon ganz kaputt und müde.« Er stößt mit dem Daumen in Dullicks Richtung, der gähnt und eher waagerecht als senkrecht steht. »Also wenn du weißt, wo dieser Schwanzlutscher steckt, dann pack lieber aus, weil wir nicht wollen, daß die uns auf den Sack gehen, ausgerechnet jetzt. Daß die uns mit ihrem Versteckspiel den Nerv rauben.« »Wer seid ihr überhaupt?« fragt Billy. »Und wer bist du? Schleichst hier nachts durch Flure?« kontert Ossap. »Niemand.« »Na bitte, genau wie wir.« »Ihr habt hier also nichts Bestimmtes im Sinn?« fragt Billy.
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Ossap wechselt einen Blick mit Dullick. »Nein«, sagt er ausweichend. »Du etwa?« »Nein.« »Dann ist ja gut.« »Okay.« »Du bist einfach nur so hier, stimmt’s?« fragt Ossap. »Ja«, antwortet Billy. »Dasselbe gilt für uns«, sagt Ossap. »Ihr arbeitet nicht für jemanden?« fragt Billy. »Nein. Und du?« »Nein.« »Ich glaube, ich muß kotzen«, sagt Dullick und rennt aus dem Zimmer. Ossap wendet sich zur Tür, mit halb ausgebreiteten Armen wie ein Vogel vorm Flüggewerden. Bevor er geht, dreht er sich um und fragt Billy: »Also, zu einem Rudel afrikanischer Elefanten in der Serengeti fällt dir nichts ein?« Billy, verdutzt: »Das würde ich nicht sagen.« »Was würdest du dann sagen?« »Weiß nicht. Ein majestätischer Anblick?« »Falsch«, sagt Ossap. »Fick dich ins Knie.« Es regnet. Kein Wind, kein Donner, nur Regen wie weißes Rauschen. Billy schaut vom Bett aus zu. Der Regen steht fast in der Luft. Wäre er schneller, würden die Tropfen ihren Zusammenhalt verlieren. Es ist die Sorte Regen, die einen, wenn man hinaus muß, auf der Stelle durchnäßt. Rennen ist zwecklos, der Sprint zum Auto wie ein Sprung ins Wasser. Auf diese Weise ist der Regen fast sorgenfrei, unbeschwert wie Gene Kelly. Billy fragt sich, ob der Regen vor 1952 auch so glücklich war. Aber da Do verschwunden ist und sich Billys Eltern dem durch ihre Liebe vorbestimmten Datum nähern, wird Billy von seinem sentimentalen
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Trugschluß aus dem Bett getrieben. Er will dem Sommergewitter eine ausführlichere Betrachtung widmen. Fang an, über den Regen nachzudenken, und du sitzt in der Tinte. Kein anderes Wetter, nicht mal Schnee, ist so gefährlich. Die Mitte des Vorplatzes mit der Sonnenuhr ist überflutet, weil sie, auch das ein Baumangel, eine leichte Senke bildet. Die Handskulptur hat sich in eine Brunnenfigur verwandelt. Wasser strömt von der Handfläche in die Pfütze um den Sockel, der Zeigefinger ragt hoch, als wollte er einen Blitz anlocken. Das gewitterliche Zwielicht verzaubert die Bronze. Wie eine seltsame optische Obertonharmonik. Metall, das die Augen zum Klingen bringt. Billy blinzelt und löst das Rauschen des Regens in Einzeltropfen auf, unbewußt nickend folgt sein Kopf ihrem Fall. Wie er so dasteht, sich fragt, wann der Regen aufhören wird, mit einem sicher nicht vertretbaren Feuerwerksfinale aus Wassergüssen, beschleicht ihn von links her ein Du-bist-nichtallein-Gefühl. Er dreht sich um und erblickt Do in den akkordeonartigen Vorhangfalten. Do starrt reglos auf den Stoff, die Arme angepreßt, das Gesicht leer, der Körper nackt. Die Bibel drückt er an die Brust wie eine Schwimmhilfe. Billy, sanft: »Do?« Do rührt sich nicht. »Do, ich bin’s.« Do bleibt von seiner Unsichtbarkeit überzeugt. »Ich werde keinem was sagen, also mußt du nicht … »Geh«, flüstert Do. »Wo sind wir im Lukas?« »Ich bin aus der Zeit. »Hast du dich hier versteckt?«
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»Ja.« Billy spürt eine kleine Erregung, er ist der Gewinner der Do-Suchaktion. »Geh jetzt«, sagt Do. »Du mußt müde sein. Und hungrig. Leg dich ein bißchen hin, ich hol dir was zu essen und zu trinken. Ich sage keinem was.« Do kneift die Augen zusammen wie ein kleiner Junge, der sich etwas Schlimmes wegwünscht. »Geh«, sagt er. »Selbst wenn sie dich finden, tun sie dir nichts – höchstens dich rauswerfen, aber das willst du ja sowieso, also zieh dich an, und ich bring dir einen kleinen Snack. Zum Frühstück gab es Pop Tarts.« »Ich bin kein Idiot«, sagt Do. »Ich weiß.« »Hast du keine Angst?« fragt Do. »Wovor?« »So nahe bei mir.« Billy schüttelt den Kopf. »Für mich bist du tot«, erklärt Do. »In Fetzen gerissen. Dein Kopf ist einen Meter von deinem Körper entfernt, du bist eine Blutfontäne, es sieht schrecklich aus. Ich kann’s nicht ändern. So sehe ich dich.« »Aber ich bin hier«, sagt Billy. »Ich bin nicht in Fetzen gerissen.« »Ich will dir nicht wehtun.« »Ich weiß, ich weiß.« Billy versucht, seine Worte mit so viel Wahrheit zu befrachten, wie er zu packen bekommt. »Und du tust mir nichts, das weiß ich auch. Du tust keinem was. Das weiß ich einfach von dir. Ich bin schlau, denk dran. Also, du kannst hier stehenbleiben, solange du willst. Ich bring dir heimlich was zu essen und zu trinken und sage
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dir, ob die Luft rein ist, wenn du mal mußt. Mit Verstecken kenn ich mich aus. Als Kind hab ich mich immer versteckt. Und das hier ist ein geniales Versteck, so einfach, und direkt unter ihren Augen. Ich war auch ziemlich gut im Verstecken. Einmal hab ich meinen Eltern erzählt, ich würde bei einem Freund übernachten, statt dessen blieb ich zu Hause und versteckte mich. Ich kannte jedes Versteck im Haus.« Etwa das oberste Fach des Wäscheschranks, den Schrank unter dem Badezimmerwaschbecken, die Ecke hinter dem Fernseher, all die Löcher, in die er sich verkroch, um zu lauschen, während seine Eltern ihr Tagewerk ohne ihn verrichteten. Er hörte nie etwas anderes als das Übliche. »Was willst du zum Essen? Ich weiß nicht. Ich liebe dich. Ich liebe dich auch. Jetzt essen? Keine Ahnung. Nudeln? Immer gibt’s Nudeln, aber Nudeln sind okay, also Nudeln. Ich liebe dich. Ich auch.« Billy wartete auf eine günstige Gelegenheit, schlich sich zur Haustür, ließ sie ins Schloß fallen und war wieder da. »Halt die Klappe!« flüsterschreit Do. »Ja, tut mir leid«, sagt Billy und zieht sich auf sein Bett zurück. »Ich sage keinem was.« Beim Abendessen ist Do nach wie vor Hauptthema. Billy hütet sein Geheimnis, es bringt ihn fast zum Platzen, obwohl er nun zum Komplizen geworden ist. Er sitzt neben Gretchen und Stan Shackler, dem geheimnisumwitterten Doktoranden, und Stan hat das Thema von Do auf etwas gelenkt, was mehr nach seinem Geschmack ist: auf die Neuinterpretation des Nietzscheschen Gedankens der ewigen Wiederkehr. »Aber aus meiner Sicht«, sagt er in erster Linie zu Gretchen, »ist es der Gedanke der ewigen Wiederholung, du verstehst. Nietzsches ewige Wiederkehr postuliert, daß wir dazu verurteilt sind, unser Leben immer
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wieder genau auf dieselbe Weise zu leben, daß dieses Leben unser erster Durchlauf ist, wir also kühne und starke Entscheidungen fällen müssen, weil wir uns auf immer festlegen, und daß der wahre Übermensch diese Tatsache begrüßen würde.« »Und deine Theorie der ewigen Wiederholung?« fragt Billy. Stan Shackler hebt die Hand, als wollte er den Taktstock führen. »Daß wir mit der Schwemme der Aufzeichnungsund Reproduktionsmedien, mit Fotografie, Video, der digitalen Revolution, mit der ganzen Unterhaltungsindustrie, die uns umgibt, Fernsehen, Filme, Musik, als Gattung das Originäre verloren haben. Diese Erstmaligkeit des Lebens ist uns abhanden gekommen, statt dessen leben wir in der ewigen Wiederholung, dem Klischee, dem Nachgemachten. Zumindest Nietzsche glaubte, sein Leben sei das erste. Aber ich glaube nicht, daß das noch der Fall ist, nicht in dieser Zeit, in dieser Epoche, wo wir uns zurücklehnen und unser Leben konsumieren. Diese Tatsache können wir nur ertragen, indem wir uns über die Materie erheben.« »Und was hat das mit Do zu tun?« fragt Billy. »Er spielt den Aussteiger, den Typ, der zerbricht. Dos kühne Entscheidung ist etwas, was wir schon tausendmal erlebt haben. Weil es keine originären Gesten mehr gibt, außer vielleicht, die Welt in die Luft zu jagen. Wenn Originalität unser Gott ist, dann ist Gott tot. Urtümlicher Individualismus, das ist lange vorbei. Das einzige Einzigartige, das uns geblieben ist, ist unsere DNA, daher neuerdings dieser Rummel um das menschliche Genom. Das ist der letzte Rochier des Originären, eine winzige Markierung hier statt da, und heureka, das bin ich. Krankheit und
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Verbrechen sind der einzige Gewinn der DNA. Aber ich würde argumentieren, daß der Tod des Originären ein tröstlicher Gedanke ist, denn wenn wir mit dem echten Originären konfrontiert werden, dem wahren Genie, das es in irgendwelchen Nischen noch gibt, schrumpfen wir innerlich zusammen und sterben. Wir können es lieben, wir können ihm nacheifern, dem selten gewordenen Ausdruck des Genialen, aber seine Gegenwart ist niederschmetternd. Bei den alten Meistern ist das anders, da gibt es noch den Zeitfaktor, aber neue Meister, die sind verheerend. Beim Anblick gegenwärtiger Größe fühlen wir uns unerträglich klein. Das Billige andererseits, das Durchsichtige, die schlechte TV-Serie, das schlechte Buch, den schlechten Film empfinden wir als erhebend, weil wir besser sind als das. Das Originäre zerstört die Seele, nicht das Gegenteil davon.« »Nimmst du diese Philosophie ernst, oder kokettierst du nur damit?« »Natürlich nehme ich sie ernst.« »Also umgibst du dich mit Mittelmaß?« »In dieser Gesellschaft habe ich wohl kaum eine andere Wahl.« »Du meidest die neuesten Spitzenfilme?« »Nein, ich meide sie nicht. Aber wenn ich sie sehe, hoffe ich, daß sie stolpern, nur ein bißchen, und wenn der Film nicht stolpert, wenn er wirklich groß ist, zumindest nach meinem Urteil, fühle ich mich erniedrigt, wenn ich aus dem Kino gehe, weil ich im Vergleich zu dem, was da auf der Leinwand passiert, ein Nichts bin, während mich eine Sitcom mit metaphysischer Freude erfüllt. Dasselbe gilt für große Literatur, große Musik. Gebt mir Schund, gebt mir Pop.«
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Billy merkt, daß Gretchens Körpersprache dem Doktoranden zuneigt. »Handelt davon deine Dissertation?« fragt er. »Darüber rede ich nicht.« »Wie weit bist du mit ihr?« »Kein Kommentar.« »Fast fertig?« Stan Shackler windet sich. »Bitte!« »Na gut. Wie viele Seiten hast du schon?« Stan Shackler steht auf. Gretchen lächelt. »Sag uns wenigstens, wie viele Wörter«, ruft ihm Billy nach. Als der lange Tag ohne Do fast vorüber ist, sagt Lannigan: »Er mag ja weg sein, aber sein Geruch ist geblieben.« Billy schaut, ob der Vorhang eine Zorneswallung zeigt. »Was glaubst du, wo er steckt?« fragt Lannigan. »Keine Ahnung.« »Glaubst du, er ist vollends im Eimer?« Billy behält den Vorhang im Auge. »Nein.« »Wieso nein? Du hast doch gesehen, wie er durchgeknallt ist.« »Das ist das Medikament.« »Könnte sein«, sagt Lannigan. »Hätte ich gewußt, wie es um ihn steht, hätte ich den Bogen nicht so überspannt.« Reue paßt zu Lannigan wie ein Paar zu enge Schuhe. »Ich hab nur ein bißchen rumgealbert. Ich hätte ihm niemals anbieten dürfen, ihm für fünfzehn Dollar den Pimmel zu lutschen.« »Wie bitte?« »Ich bin nicht mal schwul. Ich meinte das als Scherz. Ich hab nur meine weibliche Seite ausgelebt. Meine Sensibilität
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war schon immer schwul, und damit kann ich leben. Nur die Schwanz-im-Arsch-Geschichte mag ich nicht. Ich dachte, Do hätte gewußt, daß es nur Spaß war. Ich hab die Garderobenschwuchtel gespielt, verstehst du? Wenn du willst, lutsch ich dir für fünfzehn Dollar den Pimmel. Ich dachte, schon das Wort »Pimmel« macht den Spruch zum Witz. Aber vielleicht hat er’s nicht geschnallt. Do ist ja nun wirklich ein Idiot. Nett, aber beschränkt. Der typische Verlierer. Wenn ich dir sagen würde, ich will deinen Pimmel lutschen, würdest du wissen, daß es nur Spaß ist. Ich glaube einfach, daß Do ...« »Lannigan?« sagt Billy. »Ja?« »Halt die Klappe.« »Was?« »Halt einfach die Klappe.« »Was ist denn los?« »Tu mir den Gefallen und sag kein Wort mehr.« »Okay.«
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33 DIE GANZE NACHT behält Billy die dicken Vorhänge und ihr unmerkliches Schwanken im Auge. Do als gelegentlicher Luftzug, als Kindergespenst, das in Ecken und Ritzen haust und jede Sekunde Buh! machen könnte. Aber Do hält die Stellung, garantiert hungrig, mit voller Blase, verängstigt. Billy ist versucht, mitzumachen, das Ganze in ein Sardinenspiel zu verwandeln. Lannigan wäre der Nächste, dann Gretchen, der ganze Flur, bis der Vorhang nur so strotzt von Sardinen, die dem letzten Mitspieler entgegenkichern. Am Morgen öffnet Billy die Vorhänge und wirft einen Blick in die Falten, wo Do seit gestern steht, unbewegt. Billy tut, als würde er die Sonne auf dem Vorplatz bewundern. »Das wird ein schöner Tag«, sagt er zu Lannigan, in der Hoffnung, ein Gefühl von Wärme und Verständnis rüberzubringen, eine Herein-herein-mach-dich-kleinStimmung. »Mir hängt das hier zum Halse raus«, sagt Lannigan in seinem Bett. »Noch zwei Nächte, dann haben wir’s geschafft.« Lannigan kratzt sich. Besonders zwischen den Beinen juckt ihn das nachwachsende Haar. »Ich hoffe, Do geht es
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gut«, sagt er. »Ich bin sicher, daß er sich fängt«, erwidert Billy. »Ich hab nur rumgeblödelt. Man darf mich einfach nicht ernst nehmen.« Lannigan kratzt sich, daß die Fetzen fliegen. »Typisch mal wieder. Die schlimmste Nebenwirkung hab ich meiner eigenen Blödheit zu verdanken.« Im Blutraum legt Joy eine neue Kanüle für die letzten paar Tage. »Noch immer keine Spur von Ihrem Zimmerkollegen?« fragt sie Billy. »Nein.« »Bei Ihnen alles in Ordnung?« »Ja.« »Sie sind so still.« »Was macht Rufus?« »Ihm geht’s gut.« »Schön.« Joy verpflastert die Kanüle und entnimmt ein Röhrchen Blut. »Das wird mir fehlen«, sagt Billy. »So was hat, glaube ich, noch keiner zu mir gesagt.« »Aber es stimmt. Die ganze Klinik wird mir fehlen. Meinetwegen könnten sie die Studie verlängern, immer weiterlaufen lassen, verstehen Sie, oder mich auf die nächste Stufe befördern. Nehmen Sie mich unter Dauervertrag. Ich werde Ihr humaner Erstversuchsspezialist. Für Unterkunft und Verpflegung, mehr nicht. Sie können alles mit mir machen, meinen Körper der Wissenschaft opfern. Durch den Wolf drehen. Auf die Basisdaten reduzieren.« Joy neigt den Kopf zur Seite, als suchte sie nach der Quelle des Wortschwalls. »Fahren Sie danach zu Ihren Eltern?« fragt sie. »Wahrscheinlich. Wenn nichts dazwischenkommt.«
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»Zum Beispiel?« Gretchen, denkt er, ein neuer Anfang mit Gretchen, sobald der erste Kuß errungen ist. Abhauen mit ihr, so wie seine Eltern, die Familienbande kappen, um der Liebe zu leben. Oder Honeysack. Honeysack und sein Experiment. Billy, angeschnallt, ins Jenseits befördert und vielleicht zurückgeholt, die erste erfolgreiche Umgehung des sicheren Todes, wie Vasco da Gamas Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung. Billy, der die tückische See meistert oder stirbt, ja, stirbt. Der erste Tote, der Grundstein, der Pionier. Der ersten Opfer wird oft gedacht, und sei es in Fußnoten. William A. Schine, die Fußnote in der Geschichte der großen Errungenschaften, zur Beschäftigung für Gelehrte, die nichts Besseres zu tun haben. Egal, immer noch besser, als von Ragnar plattgemacht zu werden. Gretchen, Honeysack. »Ich weiß nicht«, sagt er zu Joy. »Irgendwas.« Joy starrt Billy an, länger, als er es aushält. »Ich hab Verständnis für Sie, wirklich. Aber Ihre Eltern brauchen Sie jetzt, auch wenn Sie sie nicht brauchen. Und glauben Sie mir: Nicht hinzufahren, nichts zu tun macht es nur noch schlimmer für Sie. Geben Sie sich einen Ruck, fahren Sie. Sie müssen ihnen ja nicht helfen bei ihrem ...« – ihre Stirn faltet sich zu Notenlinien für eine Trauermusik ohne Noten – »... Vorhaben, aber fahren Sie hin, und sei es aus Eigennutz, damit Sie am Ende sagen können, wenigstens bin ich dortgewesen. Ich weiß, es ist schwer. Aber glauben Sie mir, auf die andere Art wird es noch schwerer.« Billy wird kurz von Emotionen übermannt, aber er fängt sich und sagt: »Ich wußte gar nicht, daß ich hier auf der Couch bin«, um ihr Mitgefühl durch Sarkasmus zu entschärfen. »Machen Sie sich nur lustig über mich.«
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»Ich mache mich nicht lustig über Sie.« »Doch, das tun Sie.« »Wirklich?« fragt Billy, jetzt ehrlich verunsichert. »Das spielt jetzt keine Rolle. Fahren Sie nach Hause, zu Ihren Eltern.« Nach dem Frühstück trifft eine neue Gruppe von Normalen ein, die die vor ein paar Tagen entlassenen Roten ablöst, ein wirrer Haufen. »Sie kommen! Sie kommen!« jubelt Lannigan am Fenster, als Corker eine Wagenladung Probanden über den Vorplatz führt. Billy hofft, daß sich Do gut genug im Vorhang versteckt, aber für Lannigan sind die Vorhänge nur der Rahmen des eigentlichen Geschehens, das sich unten abspielt. »Endlich!« Er rennt zu seinem Bett, zieht die Reisetasche hervor und holt eine Ketchupflasche heraus, die er aus der Cafeteria herausgeschmuggelt hat. »Bist du so weit?« »Womit?« »Unserer Idiotennummer.« Lannigan quetscht sich Ketchup in die linke Hand. »Ich bin das Opfer, du der Täter. Du darfst mich zu Klump schlagen.« »Lieber nicht.« »Komm schon, ich brauche einen Mitspieler.« »Vergiß es«, sagt Billy mit Rücksicht auf Do. »Sei kein Frosch!« »Warum willst du die erschrecken?« »Erschrecken? Ist doch nur Spaß.« Lannigan drückt einen halbdollargroßen Klecks auf den kahlen Knochenkiel seiner Stirn, er sperrt den Mund auf, bunkert eine beängstigende Menge Speisewürze und klemmt die Plastikflasche unter die rechte Achsel. So präpariert, tritt er ans Fenster. Nach einem Augenblick künstlerischer Besinnung fängt er
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an, mit den Armen zu fuchteln und die Scheiben mit Ketchupblut zu beschmieren, dann schlägt er mit der Stirn ans Glas – Selbstverstümmelung, dick aufgetragen nach BMovie-Manier. Die Ketchupflasche unter seinem Arm spritzt wie ein Sackpfeifer mit geplatzter Aorta. Gerade als Lannigan seine Glanznummer angeht, den Trick mit dem explodierenden Mund, entdeckt er Do und blubbert mit verstopftem Mund »Oh!», bevor Do ihn bei den Händen packt. Ketchup platscht zu Boden. Lannigans Augen quellen vor, als würde ein Glasbläser auf seinem Sehnerv Posaune spielen. Billy macht einen Schritt nach vorn, hält aber Abstand. »Okay, Do. Laß sein.« Do, unbeeindruckt, quetscht Lannigans Hände zu Fingerbündeln zusammen. Lannigan brüllt: »Du tust mir weh« und spuckt Phantomwunden auf sich und Do. »Aus, Do!« kommandiert Billy, als wäre Do sein Privatmonster. Lannigan fängt an zu treten, aber Dos Schienbeine sind härter als Lannigans Zehen. »Genug«, sagt Billy. »Ich hab Do gefunden!« schreit Lannigan jetzt. »Ich hab Do gefunden! Er ist hier!« Do bückt sich, bis seine Augen auf einer Höhe mit Lannigans zusammengequetschten Fingern sind. »Er ist hier!« Billy fragt sich, ob die Leute auf dem Vorplatz das für einen Teil der Show halten. »Schnell, Beeilung! Ich hab ihn gefunden!« Do schiebt sich näher an Lannigan heran, als wollte er
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seinen Segen, und richtet die gebündelten Finger auf seine Augen, die weit offen stehen wie schwarze Zielscheiben. Seine Pupillen weichen den nahenden Fingerspitzen nicht aus, während sich Lannigan windet und sträubt wie ein Kind, das der elterlichen Umarmung entgehen will; die Augen sind noch ein paar Zentimeter entfernt und kommen näher, Billy ist geschockt von dem Anblick, aber wie erstarrt, als müßte sich der Schock erst vollenden; Lannigans Fingerspitzen bohren sich in Dos Augen, Gabeln spießen Eier, dringen tiefer, Lannigan schreit: »Bitte, hör auf!«, seine Hände sind zu Griffen zustoßender Schwerter geworden. Do kniet jetzt, eine unheimliche Substanz wie dickflüssige Tränen zeigt sich auf seiner Wange, Lannigan keucht überwältigt, seine Finger putzen das Fenster zur Seele, »stopp ihn doch!« schreit er, dann wird er schlaff, Do faßt nach, packt die Hände fester – wie eine getanzte Griechensage, denkt Billy, ein Pas-de-deux der Blendung, ein Gedanke, der ihm auch gleich absurd vorkommt und ihn aus dem Schock erlöst. Billy stürzt sich auf die beiden, als unfähiger Schiedsrichter, eine Hand auf Do, die andere auf Lannigan, und jetzt kommen auch die Wachmänner hereingestürmt. Beim Anblick des Ketchups, der überall verschmiert ist, auf Lannigan und Do, auf Fußboden und Fensterscheiben, müssen sie denken, daß Lannigan angestochen wurde, sein Kopf aufgeschlitzt, seine Zunge abgebissen. Sie stoppen kurz vor ihm wie am Rand einer Klippe. Sie sehen Do nackt und bedrohlich, sie sehen Lannigan schwach und schreiend – und stürzen sich auf Do. »Das ist nicht so, wie ihr glaubt!« brüllt Billy. Die Männer packen, schleudern, stoßen Do, halten ihn beim Kopf wie einen wildgewordenen Stier.
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Lannigan drückt sich in die Ecke. Er knetet seine Hände, als wären sie in Säure getaucht worden. Billy, der Zuschauer, brüllt: »Tun Sie ihm nichts!« Die Wachmänner schlagen auf Do ein, bis sich Blut mit Ketchup mischt. Lannigan wischt seine Finger an der Hose ab, dann kotzt er. Schwester Clifford/George kommt gerannt und jagt Do eine Spritze in den Arm. »Er ist schon bewußtlos«, schreit Billy sie an. Aber die Schwester, vom Adrenalin verlassen, sinkt rücklings auf ein Bett, der gräßliche Anblick raubt ihr die Worte. Die Wachmänner gehen auf Abstand zu Do, die Arme noch vorgestreckt in Erwartung eines Angriffs, als wäre der bewußtlose Do ein Kinomonster, das sich noch ein letztes Mal aufbäumen könnte. Da erst studieren sie die Flüssigkeit an ihren Händen, werden offenbar von einer diffusen Kontaminierungsangst befallen, das Pumpen ihrer Brustkörbe verebbt unter bänglichen Gedanken. Lannigan läuft heulend ins Bad und schließt die Tür, Schwester und Wachmänner staunen, daß er trotz seiner offenbar schweren Verletzung so agil ist. Billy blickt auf Do hinab, armer Do, geht das Mantra in seinem Kopf herum. Dos Nase blutet, seine Oberlippe ist geschwollen, seine Augen sind zum Glück geschlossen. Weiter unten lehnt sein schlaffer Penis an einem Büschel Schamhaar wie das Geschenk eines unglücklichen Liebhabers. Armer Do. Billy reißt die Decke von seinem Bett. Die Decke, über Do gebreitet, scheint die Sprachlosigkeit zu beenden. »Was ist passiert?« fragt die zitternde Schwester Clifford/George. Die Wachmänner stecken fluchend die Köpfe zusam-
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men. »Was ist passiert?« fragt Schwester Clifford/George erneut. Billy hockt sich neben Do. Seinen Kopf berühren, denkt Billy, ihn trösten, nicht mehr denken, denkt er und kniet nun, denkt an Samariterakte und wie man sie darstellen könnte, eine Hand, die über Haare streicht, ein geflüstertes Es wird alles gut, ein Schoß, der zum Kissen wird. Armer Do. Im Bad rauscht die Dusche. Zwei Pfleger bringen eine Trage. Billy muß nicht beiseite geschoben werden, er weicht aus freien Stücken. Und schon betritt Dr. Honeysack, ein »Jesus Christus!« auf den Lippen, den Schauplatz des Geschehens. Auf dem Heizkörper am Fenster liegt die Bibel. 10:16 »Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat.« Diesmal hilft Lukas nicht weiter, denkt Billy und klappt die Bibel zu, während Do auf eine Trage gehoben wird.
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34 KURZ NACH DO verschwindet auch Lannigan. »Ich dachte, das wird ein flotter Zweiwochengig«, sagt er beim Packen zu Billy. »In der Sommerhitze aus der Stadt rauskommen, mein Ding durchziehen, anständig kassieren. Daß ich einem die Augen ausstechen soll, hab ich nicht unterschrieben.« Lannigan schaudert und ballt die Hände zu stumpfen Fäusten. Jetzt ist er kein Voltimand mehr, jetzt ist er Lady Macbeth mit rotumränderten Augen. »Die Ganzkörperrasur war meine eigene blöde Idee, aber einem die Augen ausstechen, daß wäre mir nie eingefallen. Was hat der sich gedacht?« Billy zuckt die Schultern. »Ich meine, das muß doch höllisch gewesen sein. Ich hab gespürt, wie seine Augäpfel rollten – so was von grausig. Und meine gottverdammten Fingernägel. Warum hab ich die so langwachsen lassen?« Lannigan hakelt den Reißverschluß seiner Tasche zu wie eine Operationsnaht. »Das hat mir gerade noch gefehlt, dieser Anblick, diese Erinnerung, dieses Gefühl. Der muß doch durchgeknallt sein. Hast du gesehen, wie er dalag?« Billy nickt. »Der sah ja fast zufrieden aus. Daß mein Körper als Instrument mißbraucht wird, das hätte ich nicht gedacht. Ich spüre es jetzt noch in den Fingern. Was der für Kraft hatte! Ich konnte nichts machen. Ich hab’s
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versucht.« Lannigans Tasche plumpst vom Bett auf den Boden. »Ich gehe.« Anstatt eines Händedrucks winkt er Billy zu. Sein Blick wirkt verschleiert und trübe, als würde der Vorhang der Brad-Lannigan-Show klemmen, Billys »Mach’s gut« ist nur eins von vielen Graffiti auf dem Bühneneingang. »Hoffentlich geht’s ihm gut«, sagt Lannigan vor seinem Abgang. »Ich meine, hoffentlich kann er noch sehen. Glaubst du? Ich zweifle ja, nachdem, was ich ... schrecklich. Aber nicht meine Schuld. Die Medikamente müssen was mit seinem Kopf angestellt haben. Hoffentlich geht’s ihm gut. Ich frage mich, wo sie ihn hingebracht haben.« Das ist die Frage, die Billy an Dr. Honeysack richtet, als der ihn zu einem kleinen Gespräch in sein Büro gerufen hat. »Wer?« fragt Honeysack entnervt. »John Rami.« »Ach, der. Schrecklich, was da passiert ist. Völlig unerwartet. Wir haben ihn ins Krankenhaus eingewiesen, zur Beobachtung. Das Auge ist ja ein recht elastisches Organ. Wahrscheinlich kann er wieder sehen, zumindest ein bißchen. Aber wir haben ihm die volle Summe gezahlt. Wir übernehmen die Behandlungskosten und vielleicht auch die Nachsorge, falls eine nötig wird. Aber was immer da passiert ist, ist die Folge eines psychotischen Schubs oder was immer, es ist also seine eigene Angelegenheit. Nun zu Ihrer ...« »Wie können Sie das sagen?« fällt ihm Billy ins Wort. »Natürlich ist Ihr Medikament schuld. Nach so einem Vorfall würde ich eigentlich erwarten, daß Ihre Studie sofort abgebrochen wird.« »Das ist nicht mein Medikament und nicht meine Studie, um das klarzustellen.«
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»Aber Ihre Firma.« Dr. Honeysack richtet seinen Blick auf die Realwelt knapp rechts neben Billys Schulter. »Er hat ein Placebo bekommen, okay? Sobald ein Proband auffällig wird, nehmen wir uns die Akte vor und prüfen die Dosierung, damit wir uns auf mögliche weitere Reaktionen innerhalb der Testgruppe einstellen können. John Rami hatte ein Placebo. Er hat Zuckerpillen bekommen.« »Placebo?« »Damit wir uns da im klaren sind«, sagt Honeysack. »Wissen Sie, was das lateinische Wort ›Placebo‹ bedeutet?« »Nein, und es ist mir egal.« »›Ich werde gefallen‹«, sagt Billy. »Aus einem Totengebet.« »Oh«, sagt Honeysack desinteressiert. »Wirklich der passende Name für eine Zuckerpille, verdammt noch mal!« »Werfen Sie das nicht mir vor. Glauben Sie, ich hab das Wort erfunden?« »Ein Placebo ist nicht harmlos«, sagt Billy. »He, aber Suggestionen haben ihre Grenzen«, wendet Honeysack ein. »Unsere Hände sind sauber, was diesen Fall betrifft, juristisch gesehen. John Rami hatte eine Vorerkrankung, einen seelischen Knacks, der nach neunzehn Jahren zum Ausbruch gekommen ist. Vielleicht waren wir ein Katalysator, aber einen Katalysator kann man nicht verklagen.« »Doch, man kann«, widerspricht Billy. »Auch ein Schock ist ein Katalysator.« »Es war sein Verhalten, das dazu geführt hat.« »Placere – gefallen. Er stand unter dem Einfluß von ...«
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»Gar nichts«, sagt Honeysack. »Er stand unter dem Einfluß von Einflüssen. Ich habe mir auch Ihre Akte angesehen, um Ihren Status zu beurteilen, und Sie sind auch auf Placebo.« Billy ist enttäuscht, aber nicht überrascht; all seine Nebenwirkungen kommen ihm trivial vor wie hochgepäppelte Einbildungen. »Brad Lannigan«, fährt Honeysack fort, »war auch auf Placebo. Daß drei in einem Zimmer auf Placebo sind, werden Sie niemals finden, das gibt es einfach nicht. Also will ich Ihnen sagen, was ich denke, und zwar deshalb, damit Sie mir vertrauen. Wir haben es hier mit einer Kalibrationsstudie zu tun. Kalbrat wird die bei uns genannt. Etwa alle fünf Jahre führen wir die durch, damit wir den Einfluß der Umgebung auf die Normalbevölkerung ermitteln können. So wie man den Behälter wiegt, bevor man ihn mit Inhalt füllt. Mit den Kalbrats ermitteln wir die Adversäreffekte eines mehrwöchigen Aufenthalts in dieser Klinik, den Grundpegel von Streß in allen Erscheinungsformen, gewöhnlich sind das Verstopfung, Lethargie, Erkältungssymptome, Halsentzündung, Schnupfen, also das, was immer auftritt, auch ohne das Medikament. Aber manchmal testen wir mit den Kalbrats auch die suggestiven Wirkungen. Ich persönlich bin kein Fan von diesen Tests, überhaupt von Kalbrats. Eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Schließlich kann man auch in einer regulären Studie die echten Nebenwirkungen von den eingebildeten Nebenwirkungen unterscheiden, man muß einfach die Placebos herausrechnen. Wie auch immer, das Hargrove Anderson ist sehr stolz auf seine Kalbrats. Das ist so ein Marketingtrick. Sie besetzen zehn, fünfzehn Prozent der Probandengruppe mit Schauspielern, und diese Schauspieler produzieren die gewünschten Adversäreffekte zur Bestimmung des Angleichungseffekts bei den Placebos.
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Inwieweit das quantifizierbar ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist es nur ein toller Werbegag. Aber sie behaupten, sie kriegen ein verläßliches Maß an Unverläßlichkeit in jede Studie, Placebo hin, Placebo her. »Schauspieler?« sagt Billy. »Nicht mal die besten. Ich hab schon die schaurigsten Nebenwirkungen erlebt.« »War Lannigan auch so ein Schauspieler?« »Keine Ahnung. Weil es eine Doppelblindstudie ist, bin ich da nicht im Bilde. Sagen wir, es ist eine Vermutung, aber eine begründete.« »Also kriegt hier niemand was?« fragt Billy. »Meiner Meinung nach.« »Alles, was wir in diesen zwei Wochen durchgemacht haben, war Einbildung?« »Keine Einbildung«, sagt Honeysack, »sondern Wildwuchs.« Billy schüttelt den Kopf, halb amüsiert, halb deprimiert. »Wir sind also die Arschlöcher, die von Oregano high werden und von Orangensaft betrunken. Nicht mal unser Leiden ist legitim.« »Aber die Ergebnisse sind genauso wichtig wie bei einer echten Studie. Oder zumindest glauben das einige.« Honeysack beugt sich vor, als wäre die Luft unterhalb dieses harmlosen Gesprächspegels ein wenig reiner. »Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich mit Ihnen reden will. Ich möchte über etwas anderes reden.« »Und worüber?« »Es gibt eine Möglichkeit.« »Eine Möglichkeit?« »Ein Möglichkeitsfenster. Ein sehr kleines, aber immerhin ein Fenster.«
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»Was denn für ein Fenster?« »Das uns die Möglichkeit gibt, etwas zu tun.« »Uns?« »Wenn Sie mitmachen.« »Meinen Sie Ihre Tiefkühlstudie?« Honeysack verzieht das Gesicht. »So würden wir das nicht nennen.« »Haben Sie denn schon einen Namen?« »Noch nicht, aber wir haben eine Chance –« »Ein Fenster.« »... unsere Arbeit zu testen.« »Vorbeugend zu töten, bevor man wirklich stirbt.« »In gewisser Art.« »Weise.« »Weise?« »Ja. In gewisser Weise. Auf gewisse Art.« Honeysack zieht eine Grimasse. »Was schlagen Sie also vor?« fragt Billy. »Wie idiotisch. Natürlich in gewisser Weise.« »Wollen Sie mich in einen schweren Autounfall verwikkeln oder was?« »Das Trauma selbst ist nicht entscheidend.« »Oh.« »Wir möchten unsere These beweisen, bevor das Projekt aufgegeben und uns die Mittel gestrichen werden. ›Eine gute Idee, aber nicht praktikabel‹, hat man uns gesagt. Die Traumamedizin schöpft grundsätzlich ihre therapeutischen Möglichkeiten aus, bevor unsere experimentelle Methode zum Einsatz kommen kann, und als letztes Mittel wird unsere Methode zu oft versagen, in gewisser Weise. Sie muß früher einsetzen, den Patienten schon im Vorfeld ins hypothermische Larvenstadium überführen.
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»Um Zeit zu gewinnen.« »Genau. Dann kann die Intensivstation ein wenig entspannter über alles Weitere entscheiden. Das Problem ist nur, wir bieten eine bahnbrechende Methode an, die nicht richtig getestet werden kann. Wir können sie nicht praktizieren, weil sie erst bewiesen werden muß, und wir können sie nicht beweisen, weil sie nicht praktiziert werden darf. Wenn wir sie in der Breite testen, ohne daß uns Patienteneinwilligungen vorliegen, laufen wir Gefahr, daß die Klinik im Falle eines Scheiterns verklagt wird. Im Tierversuch können wir eine achtzigprozentige Erfolgsquote vorweisen, und Tiere haben keine Anwälte. Aber jetzt gibt es ein Fenster«, versichert er Billy erneut. »Wir haben noch frei verfügbare Forschungsmittel, wir haben Zugriff auf die notwendige Ausrüstung, wir haben momentan das Glück, daß niemand hinschaut, und ich hoffe, wir haben auch Sie.« Billy lächelt. »Sie wollen mich also benutzen.« Honeysack blickt nach unten, als würde sein Schoß vibrieren. »Ja.« Ein mulmiges Gefühl im Magen, die Gedanken verkeilt in ein schlüpfriges Verlangen, fragt sich Billy, warum er auf dieses Gerede eingehen soll. Ist es die fragwürdige Hoffnung auf Transsubstantiation, auf daß sein Fleisch zu seinem Fleisch werde? Oder soll er lieber abwinken, sich bei Honeysack für seine leichtsinnigen Worte entschuldigen? Billy, verunsichert, fragt: »Was würden Sie mit mir machen?« »Ich verspreche Ihnen, daß Sie nichts spüren werden. Sie bekommen eine Narkose. Als würden Ihre Weisheitszähne entfernt. Wir leiten eine von uns entwickelte und auf fünf Grad Celsius abgekühlte Lösung, genannt Sal-Gid, in Ihre Aorta ein, dann warten wir ab. Ihr Körper wird alle unnöti-
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gen Lebensfunktionen einstellen, sich auf die wesentlichen Dinge beschränken und diese bis fast zum Stillstand bringen, zu einem Zwischenstadium, einer Stase. Wir werden Sie dreißig Minuten in dieser Stase belassen, dann holen wir Sie zurück, langsam und schrittweise, bis Sie sich wieder genauso wohlfühlen wie all die glücklichen Hunde, die wir erlebt haben und denen das gar nichts ausgemacht hat.« »Sie wollen mich also töten.« »Nein, ganz und gar nicht. Das heißt, so gut wie gar nicht. Eher so, als würden wir auf den ›Pause‹-Knopf drükken. Das, was wir auch mit den Hunden und Schimpansen machen: Erst ein massives Trauma, das heißt, die Tiere werden übel zugerichtet, dann mit Sal-Gid vollgepumpt, so daß ihr Ableben in einer Art Zeitlupe stattfindet, während wir in Echtzeit weitermachen – genauso würde das bei Ihnen laufen, nur ohne das Trauma.« »Kennen Sie Frank Gershin, den Mann mit den Narben?« fragt Billy. Honeysack nickt. »Unglaublich, nicht wahr? Sehen Sie, für den militärischen Einsatz wäre Sal-Gid perfekt, für Feldlazarette, für Leute wie Frank Gershin, die dort eingeliefert werden, völlig zerschossen, von den eigenen Truppen natürlich, was aber hier nichts zur Sache tut.« »Frank Gershin?« »Ja, er ist im Krieg verwundet worden. Desert Storm.« »Desert Storm?« »Ja.« »Ich dachte, das wäre anders gewesen«, sagt Billy, der sich nun fragt, was die Wahrheit ist: Kuweit oder Queens – falls es überhaupt auf die Wahrheit ankommt. »Also wann würden Sie das machen?« fragt Billy.
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»Unser Fenster ist der Freitagnachmittag, der Tag Ihrer Entlassung.« »So bald schon?« »Dieser Termin oder gar keiner.« Der 3. September, denkt Billy, der Tag vor dem voraussichtlichen Todesdatum der Eltern. Er könnte ihnen zuvorkommen, sich die Todesnachricht ersparen, sich das Überleben ersparen, die Quittung ihres verpfuschten Lebens. Komisch, wie das Schicksal so spielt, komisch, diese schreienden Zufälle. Wenn er überlebt, dann überlebt er, und wenn er sich erholt, wie immer diese Erholung aussehen mag, begreift er vielleicht, was sie empfunden haben, bekommt er – mit angehaltenem und wieder in Gang gesetztem Herzen, in einer banalen, aber ehrfurchterweckenden Wiederholung, Herzschlag auf Herzschlag – vielleicht eine Vorstellung davon, wer sie waren. »Was würden Sie denn zahlen?« fragt Billy. »Da sind wir flexibel, aber wir dachten an dreißigtausend Dollar.« Dreißig Minuten Tod für tausend Dollar die Minute, rechnet Billy aus. »Wir denken, das ist ein gutes Angebot. Das Risiko, daß etwas schiefgeht, ist leider nicht auszuschließen.« Mehr als sechzehn Dollar die Sekunde. »Das Risiko, daß Sie sterben. Kein großes, meiner Meinung nach, aber es ist vorhanden.« Sechzigtausend Dollar pro Stunde. »Und Ihr Tod wäre ein großes Problem für uns. Für Sie natürlich, aber auch für uns.« 1 440 000 Dollar pro Tag. »Besonders im Hinblick auf die Todesursache.« 10 080 000 Dollar pro Woche.
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»Wir könnten es als Koronarverschluß oder als Thrombose deklarieren, das wäre ein Gedanke. Sie sind einfach tot umgefallen. Plötzlicher Herztod, ein angeborener Herzfehler. Wir könnten die Autopsie selber vornehmen, keiner würde was merken.« 40 320 000 im Monat. »Aber wir wollen alle Eventualitäten abdecken.« 483 840 000 Dollar im Jahr. »Wir haben uns also gedacht, ich und mein Kollege, daß Sie zusätzlich zu den ganzen Regreßverzichtsformularen, die wir Sie unterschreiben lassen, vielleicht auch einen« – Honeysack grimassiert, als müßte er die nachfolgenden Worte aus seinen Eingeweiden heraufholen –, »nun, einen Abschiedsbrief verfassen. Nur für alle Fälle. Auf diese Weise, das wäre das Worst-case-Szenario, könnten wir das Ganze als Depression verbuchen. So würden wir uns das vorstellen. Die klassische Überdosis, und die kriegen wir hin, gar kein Problem. Daß im Krankenhaus gestorben wird, ist ganz normal. Wir würden einfach die übliche Prozedur umgehen, die Sache intern regeln. Mein Kollege würde den Totenschein ausstellen, wir würden die Angehörigen benachrichtigen, den Abschiedsbrief überreichen, und fertig. Denn schließlich und endlich: Was die Polizei kann, kann der Arzt schon lange.« 174 182 400 Dollar an Bundessteuern. »Aber Sie neigen nicht zu Selbstmord, oder?« 58 060 800 Dollar an Gemeinde- und Staatssteuern. »Weil es unabdingbar ist, daß Sie gesund an Körper und Geist sind. Anderenfalls ist es nicht zu verantworten, daß wir Sie einem so gravierenden Test unterziehen.« Das kleine Büro ist von Honeysack gesättigt, einem säuerlichen Geruch, der alles durchdringt; die braunen Ringe um die
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Achseln seines weißen Hemdes erinnern an Kaffeetassen, die auf der Heizung vergessen wurden. »Sie neigen nicht zu Selbstmord, oder?« »Nein«, antwortet Billy. »Ich bin ganz normal.« Honeysack lächelt gekünstelt. »Wie ich vermutet habe. So normal wie nur was. Sie rechnen sich die Chancen aus und wissen, daß sie zu Ihren Gunsten stehen. Sehr zu Ihren Gunsten. Sie sind der ideale Kandidat für unseren Test. Klug, gebildet, mit Sinn für absolute Diskretion. Denn wir haben ein Fenster, wir können die Sache wirklich durchkriegen, ein kleines Fenster, das bald für immer zugeht.« »Freitagnachmittag?« fragt Billy. »Ja. Von drei bis sechs. Drei Stunden, aber wir brauchen nur eine.« »Was passiert danach, wenn alles gutgeht?« »Gehen wir vom Worst-case-Szenario aus, kommen Sie günstigstenfalls zur Beobachtung ins Haus meines Kollegen. Er hat ein nettes Gästezimmer. Im allergünstigsten Fall werden Sie erschöpft sein, sich abgespannt fühlen und wahrscheinlich über Nacht bleiben, aber nur zur Sicherheit. »Gut, einverstanden.« »Sie machen mit?« »Ja.« »Großartig!« Honeysack hebt jubelnd die Fäuste. Billy überlegt, ob er sich verbeugen soll. Honeysack war noch nie so aufgekratzt, was nicht unbedingt ein gutes Zeichen ist. Sein Gesicht eignet sich eher für eine Gerichtskarikatur. Worauf läßt sich Billy ein mit der Zusage an diesen plötzlich so kribbligen Arzt? Wie hoch ist das Sterberisiko? Sein innerer Kalkulator rattert wie ein Spielautomat, der Münztrog wartet auf 120 000 Vierteldollarmünzen. Ja, soviel Geld, das wäre schön, und die Chancen stehen mehr
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als günstig. Stimmt, das Geld gibt den Ausschlag, denkt Billy. Einen großen Teil der Ragnar-Schulden abzahlen, Seelenfrieden kaufen. Aber zwischen den rotierenden Kirschen, Orangen, Zitronen und Glocken taucht ein anderes Zeichen auf, eine Metapher, das Kitschsymbol für BeinaheTod und Wiedergeburt. Soll er diesen ausgemachten Blödsinn mitmachen? Nur aus einer Laune heraus? In der Hölle muß es einen ganz besonderen Platz für so etwas geben, vielleicht den achten Kreis der Hölle, zwischen den Betrügern. Nein, das Geld gibt den Ausschlag, bestätigt sich Billy, die gute alte Geldgier. Aber beim tiefen Durchatmen, während die Münze fällt, der Hebel gezogen wird und das Blau-Rot-Gelb-Orange-Blau der drei Räder durcheinanderwirbelt, meldet sich das andere Ding – das Ding, das zwischen Gewinnen und Verlieren hin und her geistert. Billy erhebt sich von seinem Stuhl. »Freitag also.« »Freitag. Abgemacht.« Im Hinausgehen wird er von Honeysack gerufen: »Billy?« »Ja, Doktor?« »Denken Sie an den Abschiedsbrief.«
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35 DEN GANZEN TAG denkt Billy über seinen Abschiedsbrief nach. Widerstrebend borgt er sich einen Stift und ein paar Blatt gelbes Schreibpapier bei Schwester Clifford/George, die einen neuen Streich zu befürchten scheint. Sie überreicht den Stift, als wäre ihm der zu erwartende Mißbrauch schon anzufühlen. »Sie können ihn behalten«, sagt sie. Keine Sorge, ist er versucht zu sagen, ich schreibe nur meinen Abschiedsbrief. Billy macht es sich in der neugewonnenen Einsamkeit seines Zimmers bequem, er setzt sich im Bett zurecht, das Zitatenlexikon dient ihm als Unterlage. Wie schreibt man so einen Brief? In welchem Ton? Ade, du böse Welt, oder die Welt ist mir über, oder ich habe die Welt nicht geliebt oder O Welt! O Leben! O Zeit!? Der Stift dirigiert über dem leeren Papier. Wer weiß, was sein Vater zu Hause verzapft, wahrscheinlich einen DreihundertseitenAbschiedsbrief mit Unterkapiteln und Illustrationen. Das ganze Haus ist ein Selbstmörderbrief, denkt Billy, ihr ganzes Leben ein Rührstück voller Abschiede auf der Flucht durch neblige Sümpfe, mit rachsüchtigen Verwandten, Fackelschein und Hundegebell im Nacken. Ihr Kummer ist
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eine unmögliche Liebe, die sich nach Cincinnati verdrückt hat. Was sie jetzt tun, denkt Billy, hätten sie gleich zu Beginn tun sollen, damit hätten sie die Familie am härtesten getroffen, eine kräftige Kerbe in den Annalen des Leids hinterlassen. Jetzt ist es zu spät. Billy will keine Erklärungen und Rechtfertigungen in seinem Abschiedsbrief, nur die freundliche Versicherung, daß er niemandem die Schuld gibt und es für alle Beteiligten das Beste ist. Aber wer ist niemand, und wer ist alle? Wer wird seinen Tod betrauern? Wer wird sich überhaupt an ihn erinnern? Von wem ist mehr zu erwarten als ein »Schade«? Von Sally? Ragnar? Freunden in New York, Freunden vom College, Freunden von der Highschool, die Billy alle nur als Freunde von Freunden kannte, da er immer am Rand der Gruppe stand, als achter oder neunter angerufen wurde, Neuigkeiten aus dritter Hand erfuhr, nie als Brautführer oder Trauzeuge fungierte, aber eben auch mit eingeladen wurde, wenn die Hochzeit groß genug ausfiel? Er als ewiger Lückenbüßer. Was soll er diesen Freunden sagen? He, übrigens, ich bin tot. Wer liest diesen Abschiedsbrief überhaupt? Im Collegeanzeiger wird er bestimmt nicht abgedruckt, bestenfalls kriegt er eine kurze Notiz unter In Memoriam, der einzigen Sterblichkeitsandrohung unter all den Suaden des Eigenlobs. Billy wird von Gretchen gestört. »Bist du schon gespannt auf heute abend?« fragt sie. Sie steht in der Tür, gekleidet in Häschenpantoffel und ihre pfirsichfarbene Seidenrobe, die an eine exzentrische Jungfer erinnert, eine aus dem Bett gejagte Miss Havisham. »Gespannt?« fragt Billy verwirrt zurück. »Auf das große Chuck-Interview.« »Ach ja, das kommt ja heute.«
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Nach all den lautstarken Ankündigungen – Endlich spricht Chuck Savitch persönlich! Das dürfen Sie auf keinen Fall versäumen! –, scheint es unvorstellbar, das Interview zu ignorieren. Das ist wie eine Unfallstelle auf der Autobahn – man schreit schon von weitem, doch im Näherkommen bremst man ab und zieht sich den Schlamassel rein, weil man nach all der Warterei seinen Anteil verdient hat, nachdem einen das Meer der roten Bremslichter genauso gequält hat wie der Fernsehmoderator mit seiner salbungsvoll stockenden Stimme – Chuck Savitch, mit seinen eigenen Worten. Hören Sie, was er uns zu sagen hat! »Du schaust dir das doch an, oder?« fragt Gretchen. »Wahrscheinlich.« »Wahrscheinlich?« »Ich werd’s mir wahrscheinlich ansehen.« »Oh«, sagt sie, »denn ich seh’s mir bestimmt an.« Gretchen verschafft sich einen Eindruck vom Schauplatz des Dramas. »Du hast jetzt ein Einzelzimmer«, stellt sie fest. »Stimmt.« »Ich habe gehört, das Blutbad war unbeschreiblich.« »Das meiste war Ketchup.« »Ich habe gehört, aus John Ramis Augäpfeln ist Blut geschossen.« »Nicht wirklich.« »Furchtbar.« »Das kann man sagen.« »Aber jetzt hast du ein Einzelzimmer.« »Ich Glückspilz.« Gretchen zieht ein wenig den Kopf ein, als hätte sie Angst, sich am niedrigen Balken seiner miesen Stimmung zu stoßen. »Alles in Ordnung?« fragt sie. »Mittel«, sagt Billy.
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»Mittel was?« »Ein bißchen deprimiert.« »Na ja, bald ist es vorbei.« »Vielleicht bin ich gerade deshalb deprimiert.« Gretchen lockert ihren linken, schwanzpuschelbewehrten Fuß. »Weil du hier wegmußt?« »Vielleicht.« »Vielleicht klingt das Medikament ab.« »Das möchte ich bezweifeln. Darf ich dich was fragen, ganz ehrlich?« »Ganz ehrlich.« Gretchen zieht den linken Fuß zurück und steht wieder stramm. Man könnte sie für eine allegorische Statue halten, eine Art Amor, der auf Häschen herumtrampelt. »Klar«, sagt sie. »Du kannst mich alles fragen. Ganz ehrlich.« »Im Ernst?« »Im Ernst, ganz ehrlich. Du solltest mehr auf deine Adverbien achten.« »Ich meine es ernst.« »Das hab ich begriffen. Und ehrlich soll ich sein. Also frag schon.« »Nimmst du wirklich an dieser Studie teil, oder tust du nur so?« »Was tu ich nur so?« »Hierzusein.« »So eine komische Frage hab ich noch nie gehört. Ich bin hier. Genau wie du. Genau wie alle anderen.« »Du bist also keine Schauspielerin?« »Ich bitte dich!« sagt Gretchen mit Abscheu. »Nicht daß du’s mir sagen würdest, wenn du eine wärst.« »Schauspieler ist ein großartiger Beruf, der leider Gottes von Schauspielern ausgeübt wird. Aber ich würde es dir
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sagen, wenn ich Schauspielerin wäre.« »Du spielst hier also nichts?« »Du meinst schauspielern? Natürlich nicht. Warum fragst du?« »Ich hab da was gehört.« »Über mich«, sagt sie tonlos. »Nein, nicht über dich.« »Nicht?« »Über diese Klinik.« »Nicht über mich?« Sie scheint fast enttäuscht. »Über Schauspieler, die Nebenwirkungen simulieren.« »Warum?« »Um die Wirkung auf andere Leute zu testen.« »Seit wann interessieren die sich hier für die Wirkung von Schauspielern auf andere Leute?« »Um zu sehen, ob sie anfällig für Suggestion sind.« »Durch Schauspieler? Du bringst mich ganz durcheinander.« »Mach dir nichts draus.« Gretchen zuckt die Schultern, sie lächelt anzüglich, aber nicht überheblich und treibt den Stachel der Verlockung tiefer in sein Fleisch. »Ich bin nur gekommen, um zu fragen, ob du das Chuck-Interview mit mir zusammen sehen willst. Solche Sachen sehe ich lieber in Gesellschaft, sonst sind sie mir zu blöd. Aber offenbar hast du Wichtigeres vor.« »Nur wir zwei?« »Wenn du deine Schauspielerfreunde mitbringen willst, bitte sehr!« »Welche Zeit?« »Jederzeit vor neun.« »Okay.«
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Billy überfliegt seinen ungeschriebenen Abschiedsbrief. »Weißt du, was Hart Crane gesagt hat, bevor er sich umbrachte? Er war auf einem Kreuzfahrtschiff und schwer betrunken. Da kletterte er auf die Reling, drehte sich noch einmal um und sagte: ›Good bye, everybody.‹ Zeugen berichten, er sei kräftig geschwommen, bis sie ihn aus den Augen verloren.« »Es ist mir peinlich, aber ich hab keine Ahnung, wer Hart Crane ist.« »Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Er war ein Dichter der zwanziger Jahre. Schrieb ein Epos über die Brooklyn Bridge. Hier.« Billy schlägt sein Zitatenlexikon auf und liest das Zitat aus The Bridge vor: And why do I often meet your visage here, Your eyes like agate lanterns – on and on Below the toothpaste and the dandruff ads? – And did their riding eyes right through your side, And did their eyes like unwashed platters ride? And Death, aloft – gigantically down Probing through you toward me, O evermore! Billy möchte Gretchens Augen in diese Zeilen hineinlesen, Augen, die die Zeit durchmessen, die die Angst in seiner Brust lösen, ihn schaukeln wie ein Kind an Drähten, einem Vogel gleich; nicht Poe, sondern Gretchen Warwick im Tunnel, auf den Gleisen. Die Verse, die Billy vorliest, sind nur ein kleiner Abglanz des Gedichts, das er vor langer Zeit am College gelesen und längst vergessen hat; Hart Crane ist für ihn kaum mehr als ein romantischer Selbstmörder, ein Dichter aus Selbsttäuschung, der von seinem Scheitern durchdrungen war, Whitmans Wiedergänger, wie
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der Professor fand. Billy blickt zu Gretchen auf, als er mit den für zitatwürdig befundenen Versen fertig ist, sucht ihre Augen und denkt ungeachtet des Metaphernbruchs: Bitte, ihr Augen, hört mich in diesen Worten, in der Negation einer Negation. »Ganz hübsch, vermutlich«, sagt Gretchen ungerührt. »Das ist nur ein kleiner Auszug aus einem viel längeren Gedicht«, erklärt ihr Billy. »Na ja, ohne Kontext sagt er nicht viel.« Billy gibt ihr im stillen recht. Beim Essen – Kartoffelbrei mit Hackbraten – ist Billy gerade in einen langen, stummen, doch ehrlichen Nachruf auf sich selbst vertieft (Er war kein besonders lebenslustiger Mensch, doch er hatte eine gewisse joie de miserables, einen individuellen Weltschmerz, etwas vom angekränkelten Luftmenschen, was dank seinem Enthusiasmus ansteckend wirkte, wenn auch zuweilen ein wenig schalkhaft), als sein Tischnachbar Luke Sillansky sagt: »Jetzt verarscht sie mich aber.« Sie kann nur Gretchen bedeuten. Billy spitzt die Ohren. »Sich zu Barry Pica zu setzen!« sagt Sillansky ungläubig. Billy entdeckt Gretchen ein paar Tische weiter, und tatsächlich, sie sitzt neben Barry Pica, lacht mit Barry Pica, legt ihre Hand auf die Schulter von Barry Pica. Barry Pica, der keiner Erwähnung würdige? Der Letzte der Letzten, selbst hier ohne Freunde, in seinem Hunger nach Beliebtheit nicht mal zum Lakaien tauglich, höchstens für ein paar Minuten grausamen Spott? Historisch gesprochen ist er der Schlag auf die Schulter, den man fürchtet, der Grund, Klassentreffen zu meiden, der Mensch, der einem leid tun könnte, hätte er auch nur ein winziges Quentchen Selbstbewußtsein. Barry Pica, immer nur als »dieses dumme Arschloch« bezeichnet, scheint gar nicht zu merken, daß er
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seine ganze Vergangenheit mit sich herumträgt wie einen Zettel, den ihm jemand auf den Rücken geklebt hat. Daß er stets glücklich und grundlos optimistisch ist, macht es nur noch schlimmer. »Das muß ein Gnadenakt sein«, sagt Stew Slocum, der seine Beine nicht mehr stillhalten kann. »So ein Arsch verdient keine Gnade«, ätzt Sillansky. »Gib ihm einen Knochen, und er leckt dir für immer die Hand. Bei diesem Typ wird Gnade zur Gefahr. Ein halbwegs freundlicher Gruß, und du hast ihm das Leben gerettet.« »Warum denn so empfindlich?« fragt Slocum. Sillansky spießt ein Stück Hackfleisch auf und hält es vor den Mund wie ein Mikrofon. »Zum Glück bin ich gleich am Anfang über sie rüber, kann ich da nur sagen.« Billy (Was war das, was sagt der so locker dahin, was ist das für ein Spruch, der Billy – natürlich nur innerlich – erbleichen läßt, ihm einen Schlag versetzt, daß ihm die Luft wegbleibt, während Sillansky in aller Seelenruhe sein schwammiges Hackfleisch mampft, als wäre nichts gewesen, als säße er noch immer auf festem Grund, während Billy schwankt, als würde sich jedes Atom umschichten, ihn in einen lächerlichen Fleischkloß verwandeln, während seine Kennkarte die zwölf Tage bis zu dieser Sekunde austickt, die nun wieder ein paar Sekunden her ist und in der Billy naiv war, was bei weitem die schlimmste Kränkung ist?) glaubt, daß er sich verhört hat. Da sagt Herb Kolch: »Ich auch.« »Aber erst nach mir«, prahlt Sillansky. »Ich war vor dir dran. Du bist in meine Soße rein.« »Die war wenigstens extrascharf, aber Pica, der hat doch nur Anchovis.«
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»Ich mag Anchovis«, sagt Rodney Letts. »Vielleicht sollte ich nach ihm.« »Offensichtlich kratzt sie das Allerletzte zusammen«, wirft Craig Buckner ein. »Au ja, kratzen mag ich auch«, meint Rodney. »Am liebsten am Arsch.« Buckner: »Mir hat sie einen geblasen, weiter war nichts – zum Glück.« »Ach, meinst du«, lästert Kolch. Buckner: »Ja, das meine ich. Ich ficke keine Schlampen.« »Ich durfte so ziemlich alles, was ich wollte«, verkündet Stew Slocum. Buckner: »Wie ich hörte, hat Gertner ganz schön was mit ihr angestellt.« Sillansky verzieht den Mund: »Und ich dachte, Gertner wär das Letzte.« »Diese Frau!« murmelt Kolch. »Aber Barry Pica ist mit Abstand das Letzte«, sagt Sillansky. »Und wenn sie’s mit mir macht?« fragt Rodney. »Mit dir?« Sillanskys schiefe Augen verschwinden hinter Falten. »Da bräuchte sie ja eine Dampframme, um noch tiefer zu kommen als du.« Alle lachen. Billy sitzt wie vom Donner gerührt. Natürlich ist er entsetzt. Oder nicht entsetzt, vielmehr enttäuscht. Okay, am Boden zerstört. Obwohl er mit Gretchen nie über einen Flirt hinausgekommen ist, glaubt er, daß sie ihn vielleicht mag und umgekehrt, und ja, er glaubt oder hat geglaubt, daß vielleicht heute abend beim großen Interview ein paar entscheidende Worte zwischen ihnen fallen würden, daß sich ihre Finger ineinanderflechten würden wie Drahtseile,
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daß er Honeysack Gretchens wegen eine Absage erteilen würde, ja, daß sie sich bei der Abreise treffen würden, draußen mit gepackten Koffern und um zweitausend Dollar reicher an der Bronzeskulptur stehen, »Wohin jetzt?« sagen und diese Frage vielleicht gemeinsam angehen würden. Ja, er hatte phantasiert, sich etwas vorgestellt. Nichts Sexuelles, nicht ihre unbeschönigte Nacktheit, ihren strengen Mund, das Gemenge von Leberflecken und Sommersprossen an Armen und Nacken, das auf tiefere Mysterien deutete. Seine Phantasien waren eher rosafarben, peinlich im Licht der neuesten Enthüllungen. Ein albernes Konstrukt. Wie konnte er so dumm sein? Er hat davon geträumt, sie zu küssen, während alle anderen sie offensichtlich vögelten. Und dann diese Typen hier, nicht gerade erste Sahne. Wie viele sind es gewesen? Denken die denn, er ist ein Neutrum? Wenn er sie so reden hört, ihre Kumpanei, ihre Frauenverachtung, ihre Latrinenwitze, wird ihm klar, daß er etwas verpaßt hat. Diese Leute haben Zusammenhalt entwickelt, während er auf halbem Weg stehengeblieben ist, zugehörig und fremd zugleich. Stew Slocum haut vor lauter überschüssiger Kraft auf den Tisch. Billy erfährt immer alles als letzter. Gretchen quietscht vor Freude. »Hält man das für möglich?« fragt sie. »Nein«, antwortet Billy vom Nachbarbett. Das Interview läuft nicht gut. Es hat ganz gut angefangen, mit einer Kurzfassung der Biographie des Chuck, für Leute, die hinterm Mond leben: die typischen Kinderbilder, seine Schule, die Stadt, in der er aufwuchs, der normale Müll, den man tausendmal gesehen hat. Dann der turbulente Monat: die MRI, der Presserummel, das Wunder des
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Chuck, die Ärzte, Pilger, Augenzeugenberichte, die keinen Zweifel ließen, daß da etwas ganz Außergewöhnliches, etwas Heiliges geschah. Es folgte die namhafte Journalistin, die von Chucks Schwester und Mutter durch das inzwischen international bekannte Haus Cedar Lane 410 geführt wurde, sich rührende Geschichten aus Chucks Kindheit anhörte, sich das rostige Klettergerüst im Hof zeigen ließ – ein richtiger Rüpel war er –, sein Kinderzimmer betrat, in dem noch immer Heavy-Metal-Poster und spärlich bekleidete Models hingen, die Chuck eindeutig auf das Jahr 1987 festlegten. Vom Schlafzimmer aus schwenkte die Kamera auf den Rasen vorm Haus, auf dem eine Menschenmenge Choräle sang und christliche Symbole schwenkte. Die namhafte Journalistin fragte, ob sie sich das jemals hätten träumen lassen, worauf die zwei Frauen den Kopf schüttelten: in Millionen Jahren nicht. Und dann Chuck in Person. Das nagelneue Klinikbett steht im Wohnzimmer, das mit Großbildfernseher, DVD- und Videoplayer ausgerüstet ist, alles Spenden der Geschäftswelt von Menomonee Falls, genauso wie die Pflegevollkraft, die lächelt, als sie Chucks Puls mißt und ihm den Speichel von den schlaffen Lippen tupft. Es kommen Einblicke in den Alltag des Chuck, die Mahlzeiten und Massagen, die Rund-um-die-Uhr-Pflege, die Verabreichung von Medikamenten, seine Freunde beim Krankenbesuch, Kopf hoch, Chuck!, sein Onkel, der Basecap und T-Shirt mit dem Aufdruck »Savitch Abschleppund Winterdienst« trägt, bleib stark, Junge. Dann Kostproben von all den Briefen, die er bekommt, schon zehn Säcke voll, aber keine gewöhnlichen Genesungswünsche, sondern Briefe der Ermutigung, etliche mit Kinderzeichnungen. Chuck in Wachsfarbstift vor einem Smileyhimmel, Chuck beim Händehalten mit einem Strichmännchenjesus. Ande-
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re Briefe klingen wie Krankenberichte und enthalten Fotos von den Lieben daheim, die zu gebrechlich sind, um persönlich zu erscheinen, aber um Fürbitte flehen, wenn es Ihnen möglich ist. »Die brechen einem das Herz«, sagt die Pflegevollkraft und hält sie mit dem bedauernden Augenaufschlag eines Castingagenten, der die Hauptrolle bereits vergeben hat, in die Höhe. Dann endlich, nach all dem und einem Werbeblock, kommt das Interview. Und es läuft nicht gut. Chuck im Bett, eingerahmt von Mutter und Schwester. Sein Mund steht halboffen, er sieht aus, als könnten seine Schultern das metaphysische Gewicht des Hirntumors nicht länger tragen. Soeben hat er sich mit leisen, aber unmißverständlichen Worten als linke Gonade Gottes deklariert. Die namhafte Journalistin klappert mit ihren dreifach gelifteten Augenlidern. Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut, normalerweise besucht sie die Villen, Landhäuser, Anwesen der Stars, nicht aber die Orte, wo Träume sterben. Ihr Facelift erschwert den Ausdruck von Demut. »Was wollen Sie damit sagen?« fragt sie mit professioneller Ernsthaftigkeit. »Das ist der Krebs, der aus ihm spricht«, antwortet Chucks Mutter. »Natürlich, Mutter«, sagt Chucks Schwester. »Der Krebs greift sein Gehirn an.« »Offenbar, Mutter.« »Das Morphium auch. Der arme Junge bekommt Morphium. Gegen die Schmerzen.« »Mutter, bitte!« »Und er war immer ein Witzbold, bei Gott. Ich glaube, er hat sich gerade einen Witz erlaubt. Stimmt’s, Kleiner? Einer von deinen Witzen. Aber ich sage Ihnen, er hat seit
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Tagen kein Wort gesprochen. Wir glauben, daß der Krebs in das Sprechzentrum seines Gehirns eingedrungen ist. Aber es ist nett, ihn sprechen zu hören, selbst wenn’s ein bißchen danebengeht.« Sie strahlt auf ihren Sohn hinab und reibt ihm sanft den Schädel. »Warte, du Schlingel, du hast deine Kräfte extra aufgespart!« »Mutter, bitte!« Die Schwester des Chuck will nicht die Tochter der Peinlichkeit sein. »Was?« Sie gibt der namhaften Journalistin Zeichen. »Oh«, sagt die Mutter. »Tut mir leid.« Die namhafte Journalistin lächelt. »Das ist völlig in Ordnung.« Die Mutter schüttelt den Kopf. »Ich kann’s immer noch nicht glauben, daß Sie hier vor mir stehen, in meinem Wohnzimmer!« »Mutter!« »Tut ihr nur so, als wäre das gar nichts, das ist eben eure Generation.« Sie wendet sich an die namhafte Journalistin. »Die denken, unsere kleine Stadt ist nur einen Kilometer von Hollywood entfernt. Aber ich, ich bin altmodisch und, tut mir leid, prominentensüchtig. All die Leute, die Sie interviewt haben. Ich wette, Sie kennen den neuesten Klatsch. Vielleicht später. Hmm.« Gretchen preßt entzückt die Hände zusammen. »Das ist ja unglaublich.« »Allerdings«, sagt Billy mit weniger Enthusiasmus. »Warum so trübsinnig?« »Ich bin nicht in der besten Stimmung.« Billy blickt zum Fernseher auf, wo Chuck in Großaufnahme zu sehen ist. Eine Frage wurde gerade gestellt – »Was sagen Sie zu all dieser Aufmerksamkeit?« –, und
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Chuck liegt da, starrt mit leerem Blick in die Ferne, seine einzige Auskunft hat ihn alle Kräfte gekostet. Das Atmen fällt ihm schwer, es ist ein feuchtes Röcheln, das glitzernde Speichelspuren auf seinem Kinn hinterläßt. Er hat keine Witze mehr auf Lager, keine Schlaumeiersprüche, nur diese dumpfe Ernsthaftigkeit, die sein Gesicht verklärt, bis Billy begreift, daß er das Unaussprechliche sieht. Das schleichende Nichts. So ähnlich muß es seiner Mutter ergehen, Welten entfernt von dem, was einmal war, ein Bündel Leben, in einer kalten Ecke kauernd, nach Wärme tastend. Die Frage wird wiederholt. Die Mutter von Chuck greift nach seiner Hand und streichelt sie. Ihr gewohnter Frohsinn ist von Trauer durchsetzt, eine tapfere Frau, großmütig, liebend und ziemlich dickfellig, wie es aussieht, eine Frau, der Kneipen und grobe Kerle nicht fremd sind, eine Geschichtenerzählerin, eine Lacherin, vielleicht von bayerischem Stamm und aufgegangen in der amerikanischen Mischung. Sie ist auf selbstbewußte Art unkompliziert, sie geht locker mit sich und ihrem Sohn um, mit dem Wissen, daß sie für sein Lächeln lebt. Aber die Schwester ist verkrampft. Sprich endlich, du Idiot, scheint sie zu sagen. Kostümiert und geschminkt sitzt sie da, als hätte sie’s hundertmal geübt, umfaßt ihre Knie und scheint ihrem Bruder die richtige Antwort telepathisch einzugeben, die perfekte Antwort, und wie immer hört er nicht zu. Jetzt wird das Warten peinlich. Die Schwester senkt den Kopf, als stände sie vor einer Eiswand, die sie mit Gewalt durchbrechen muß, um hier wegzukommen. Sollen doch ihr Bruder und ihre Mutter bleiben und weiterfrieren. »Gesegnet und berührt fühlen wir uns«, sagt die Schwester an seiner Stelle. »Uns ist, als hätten wir ein Geschenk von Gott erhalten, das wir mit der ganzen Welt teilen. Und
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es bewegt die Menschen. Die Menschen sind bewegt. Die Menschen sind berührt. Sie spüren, daß Gott hier unter uns ist. Wir alle spüren es. Es ist wie eine Strahlung.« Sie hebt segnend die Hände. »Na«, fängt die Mutter an. Aber die Tochter redet weiter. »Man sagt, er ist möglicherweise eine Opferseele, die das Leid anderer Menschen trägt, das wird gerade von den Kirchenbehörden untersucht. Sie sagen, das ist ein ziemlich bedeutender Fall, mit all den Erscheinungen da draußen, mit all den Leuten, die verkünden, nein, nicht geheilt zu sein, dafür gibt es keine eindeutigen Beweise, noch nicht, aber eine gewaltige Besserung des Befindens. Das ist die Hoffnung, glaube ich. Die Erhebung der Seele. Und das haben wir Chuck zu verdanken.« »Entschuldige mal«, sagt die Mutter. »Wenn ich das mal richtigstellen darf: Er hieß immer nur Charlie, niemals Chuck. ›Chuck‹ haßt er seit der dritten Klasse, als sie ihn Up-Chuck geschimpft haben. Das möchte ich ein für allemal klarstellen.« »Chuck oder Charlie, das spielt doch keine Rolle, Mutter. Wichtig ist, was er repräsentiert. Er ist das Gefäß für das wahre Licht Gottes. Es ist Er, der aus ihm spricht.« »Großartig. Also hat Gott ihm den Krebs verpaßt.« »Er ist eine Opferseele, Mutter.« »Trotzdem begrabe ich meinen Sohn, meinen einzigen Sohn, und das sehr bald.» »Maria hat das auch getan.« »Ich bin nicht Maria.« Zwischen ihnen Charlie, das Netz für diesen Ballwechsel. Die namhafte Journalistin schreitet ein. »Charlie, empfinden Sie sich als Gefäß Gottes?«
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Die Frage geht durch ihn hindurch. »Es tut mir leid«, sagt die Mutter, »aber ich hab Sie ja gewarnt, er redet nicht mehr viel, bei all den Schmerzmitteln und dem wachsenden Tumor. Du bist müde, Kleiner, nicht wahr? So müde. Mach die Augen zu, wenn du willst. Ich nehm’s dir nicht übel, wenn du nichts sagst, selbst wenn du könntest.« »Mutter!« »Nancy, es reicht.« Die Schwester steht ruckartig auf. »Ich glaube, wir sollten das Interview beenden. Können wir anhalten? Mein Bruder hat einen schlechten Tag und meine Mutter offenbar auch, das ganze läuft nicht so, wie es sollte, also hören wir lieber auf.« »Sehr schön, geh nur«, sagt die Mutter. »Ich hab dich lange genug machen lassen.« »Das Interview ist vorbei«, sagt die Schwester in die Kamera. »Sie können das ja wegschneiden und nur den Hausrundgang senden. Oder die Vorhänge öffnen, damit Sie die Reaktion der Pilger filmen können. Besser noch: Die Pilger können reinkommen und einen Moment mit Chuck Zusammensein, die Hand auflegen, und Sie können filmen, wie sie vom Geist erleuchtet werden, das wäre wirklich nett.« Die Mutter von Chuck packt die Tochter beim Arm. »Schau dir deinen Bruder an«, sagt sie. »Schau hin! Das ist dein Bruder, und er liegt im Sterben. Er stirbt auf die allerschrecklichste Art. Ich weiß, du hattest deine Probleme mit ihm, aber jetzt stirbt er, und er stirbt nicht für deine Sünden oder meine Sünden oder anderer Leute Sünden, er stirbt einfach so, schlicht und einfach. Nächstes Jahr ist dieses Bett weg, die Leute da draußen sind weg, die Repor-
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ter sind weg, dieser ganze Rummel ist vorbei, und alles, was bleibt, ist ein Grab. Eine Opferseele! Ich will keiner Religion zu nahe treten, aber das ist doch Schwachsinn. Vielleicht ist Leiden heilig, aber erzähl das nicht dem Armen, der davon betroffen ist oder der Mutter dessen, der davon betroffen ist. Die könnte dir nämlich ins Gesicht spucken!« »Mutter!« – ein Schrei, der nach Judas klingt. »Ich will Sie nicht schockieren«, sagt die Mutter zu der namhaften Journalistin, die alles andere als schockiert ist. »Aber das hier ist aus dem Gleis geraten. Eine Sekunde vielleicht hab ich die Aufmerksamkeit genossen. Und Charlie auch. Ich dachte, das ist die Sache wert, wenn es ihn nur ein bißchen glücklich macht, weil ich wußte, was auf ihn zukommt. Aber jetzt stehen wir vor dem, was auf ihn zukommt, verstehen Sie, und ich glaube, es ist höchste Zeit, daß wir alle Lichter anmachen und die Leute nach Hause schicken, oder sie sollen woanders trinken gehen, denn diese Bar ist geschlossen.« »Mutter, es geht hier nicht um dich.« »O doch!« sagt sie. Anstelle von Chucks Familie sieht man jetzt das Studio; die namhafte Journalistin plaudert mit dem Moderator, sie tauschen ihre Eindrücke über das soeben Gesehene aus und kommen überein, daß hinter der öffentlichen Story oft eine viel kompliziertere persönliche Story lauert. Beide nicken nachdenklich. Jetzt ist der Moment für Billy gekommen, er rafft seinen ganzen Mut zusammen, um ihr zu sagen, nein, noch nicht, nicht jetzt, noch eine Sekunde, wie ein Stuntman, der den Wind prüft, genau den richtigen Augenblick abpaßt, mit rasendem Herzen: Augen zu, tief durchatmen – und Absprung. »Hast du mit Sillansky geschlafen?«
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Es klingt alles andere als cool. Er hört das Aufplumpsen der Frage, den brüchigen Ton der Unbedarftheit. Gretchen dreht sich zu ihm um. Ihr Gesicht schimmert wie ein Jeep Cherokee im Wilden Westen. »Hat er gequatscht?« »Er und ein paar andere.« »Daher hat’s mir in den Ohren geklingelt.« »Also stimmt es.« Gretchen kneift die Augen zusammen und neigt den Kopf auf ein Uhr, als wäre die Stunde der Wahrheit. »Hochwürden, ich verweigere die Aussage.« »Und Barry Pica? Erzähl mir nicht, daß du auch mit ihm ...« »Okay, ich erzähl’s nicht.« »Ich meine, Sillansky mag ja angehen, aber die anderen alle?« »Quatschen sie alle?« »Natürlich tun sie das.« »Gut«, sagt sie knapp. Billy richtet sich auf. »Darf ich fragen warum?« »Vielleicht ist es eine Nebenwirkung.« »Wollen wir nicht ernst miteinander reden?« »Worüber denn?« fragt Gretchen. »Warum du mit all diesen Typen geschlafen hast.« »Willst du wissen, warum sie und nicht du?« »Laß mich aus der Sache raus.« »Das hab ich eigentlich getan.« »Sieh mal«, erklärt ihr Billy. »Ich bin dein Freund, stimmt’s? Ich meine, wir sind Freunde, und ich will nur wissen, warum du so was machst, weil mir das nicht gesund vorkommt.« »Gesund?« fragt sie verdutzt.
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»Vielleicht ist das nicht das richtige Wort.« »Dann nimm doch ein anderes. Jetzt will ich aber wissen, welches das richtige ist.« »Es kommt mir so ... traurig vor«, bietet Billy an. Gretchen zuckt zusammen, als hätte Billy ihr sein Mitgefühl in Gestalt einer Ohrfeige verabreicht. Aber sie fängt sich sofort. »Naja, vielleicht mag ich Sex. Vielleicht ist das die Erfüllung eines Traums, als einzige Frau mit all diesen Männern. Wie war das bei dir, als einziger Mann unter lauter Frauen? Nicht schlecht, irgendwie spannend, nicht wahr? Vielleicht ist es zufällig so gekommen. Vielleicht hab ich erwartet, irgendwas zu spüren, du weißt schon, von dem Medikament, und als nichts passierte, hab ich mir eben was ausgedacht. Aus lauter Langeweile. Ich sah all diese Männer. Und hab mir so meine Gedanken gemacht. In zwei Tagen fahren sie nach Hause, zurück in ihren normalunnormalen Alltag, und zwangsläufig erzählen sie ihre Geschichten. Sie erzählen ihren Freunden von diesem Wahnsinn hier, von den Drogenexperimenten, den Nebenwirkungen. Es ist zwar leicht verdientes Geld, aber man macht so was nicht, ohne sich eine gute Story davon zu versprechen. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich hier bin. Ich will eine Story erzählen, daß den Leuten der Mund offensteht. Die Story ist mein größter Kick. Verstehst du, was ich meine? Als würde ich mit dem Fallschirm abspringen, um den Leuten hinterher davon zu erzählen. Das ist schon die halbe Miete. Hier ist es genauso. Ich kam her, und es war nur langweilig. Ich hatte überhaupt nichts davon. Also fing ich an, über die Männer nachzudenken, die mit mir flirteten, als wäre ich ihre Traumfrau, und ich dachte, ich könnte ihnen eine Story schenken oder ihre Story ein bißchen bereichern. Ich konnte mir das lebhaft vorstellen – sie mit
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ihren Freunden zu Hause. Das Verrückteste ist, ich hab diese Tusse gevögelt, wirklich wahr, Mann, der schärfste Fick meines Lebens bla-bla-bla. Der Sex selbst war ein Witz, glaub mir. Und sieben Männer waren es alles in allem. Aber für mich wird es erst danach spannend, wenn ich mir vorstelle, wie sie sich in einer Woche, in zwei Wochen an mich erinnern. Und das werden sie, absolut. Auch wenn sie nichts erzählen, erinnern sie sich an mich. Ich komme ihnen einfach in den Sinn. Ich bin der Lichtstrahl mitten in ihrem Alltagsstreß. Ach ja, diese Frau, diese Verrückte in Albany. Ich schleiche mich in ihre Träume ein. Ich werde ihre Sexszene, die sie beliebig abspulen können. Du fragst mich, wie konnte ich mit Barry Pica... Eben genau deshalb. Er wird es nie vergessen. Ich bin sein sexuelles Grunderlebnis.« »Eher sein Partygag«, sagt Billy. »Du glaubst mir also nicht. Die Namen der Leute, mit denen du auf der Highschool warst, vergißt du irgendwann, aber bis zu deinem letzten Tag erinnerst du dich an die Mitschülerinnen, mit denen du geschlafen hast. Wie soll ich sagen? Immer wenn du mit einer Neuen schläfst, verlierst du ein bißchen mehr von dieser blöden Unschuld. Wenn du nicht gerade ein Rockstar oder ein Weiberheld bist, erinnerst du dich daran, aber selbst Wilt Chamberlain hat nie aufgehört zu zählen. Er kannte die Zahl. Er konnte sich hinsetzen und vielleicht nicht alle Namen, aber die Personen aufzählen. Ich wette, auch du kannst mir alle Mädchen aufzählen, mit denen du geschlafen hast oder die du auch nur geküßt hast.« »Wahrscheinlich hast du recht, aber die Erinnerung ist das Nebenprodukt von Zuneigung, Verliebtheit, Betrunkenheit – all den Dingen eben, die dich ins Bett kriegen. Mit jemandem schlafen, nur damit er sich an einen erin-
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nert? Ich weiß nicht.« »Möchtest du nicht, daß man sich an dich erinnert?« »Nicht bei Leuten, die ich lieber vergesse.« »Ich möchte, daß man sich an mich erinnert«, sagt Gretchen leise. »Als eine, die sich flachlegen ließ?« »Aber für sie bin ich viel mehr als das. Denk mal an deine eigenen Zufallsabenteuer. Verbinden die sich nicht mit einer zärtlichen Erinnerung, mit einem O-Gott-wie-konntedas-nur-passieren-Zauber? Selbst negative Erfahrungen verklären sich nach einer Weile zu Jugendsünden. Ich glaube, sie wirken länger nach als irgendeine halbjährige Beziehung, behalten viel mehr von ihrem Geheimnis. Du schämst dich dafür, aber mit einer gewissen Freude. Und gerade ihr Männer, ihr seid doch wahnsinnig stolz auf eure Eroberungen. Ob glücklich verheiratet oder glücklich verliebt, immer denkt ihr an die, die vorher kamen. Ha, ein Doppelsinn! Streite es nur ab. Mein Exmann hat mir vor der Heirat eine Liste runtergebetet, die ich gar nicht hören wollte, aber er verlangte im Austausch dafür meine eigene Liste. Das ist keine Kritik, überhaupt nicht. Ich finde es fast rührend, wie ihr Jungs diesen Erinnerungen nachjagt und eure Gene noch im nachhinein verbreitet. Das dient der Erhaltung der Monogamie, glaube ich. Für mich ist Ehebruch ein Versagen der Phantasie.« »Du hast das ja gut durchdacht«, sagt Billy. »Stimmt«, sagt Gretchen. »Vielleicht zu gut«, sagt Billy. »Könnte sein. Aber denke nicht, daß ich mit Tausenden von Männern geschlafen habe. Meinem Mann war ich sehr treu. Und vor der Ehe gab es nur acht andere. Aber ich werde älter, verstehst du? Oder erwachsen. Und vielleicht
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heirate ich wieder, obwohl ich das im Moment bezweifle, aber es könnte sein. Warum soll ich bis dahin nicht ein paar kleine Andenken an mich hinterlassen, wenn es sich anbietet? Und dieser Ort ist ideal. Alle sind auf Aids und Geschlechtskrankheiten untersucht. Und das Beste ist: Ich sehe keinen von denen jemals wieder.« »Als Vorstellung ist mir das plausibel, aber nicht als Realität. Ich meine, Barry Pica! Als wärst du eine Hure, die mit netten Erinnerungen bezahlt wird.« »Du Arsch.« Billy, abgesprungen und hart gelandet, humpelt auf die nächste Klippe zu. »Aber du bist mir nicht egal«, versichert er ihr und haßt den Klang seiner Stimme. »Ich mag dich«, wagt er sich weiter vor. »Ich mag dich seit der Busfahrt. Du hast so etwas an dir. Da macht es bei mir klick. Ich sehe dich und spüre, daß da was einrastet.« »Das klingt etwa so romantisch wie eine verrenkte Schulter.« »Ich versuche nur, ernst zu sein.« Ihr Lächeln ist ohne Wärme. »Du bist süß.« »Normalerweise findet man mich nicht süß.« »Vielleicht bin ich so verkorkst, daß ich dich süß finde. Und ich mag dich. Aber mein Projekt hier, ich will nicht, daß es mich nach Hause verfolgt. An Weiterungen bin ich nicht interessiert. Ich glaube, das Ganze funktioniert nur, wenn es mein Geheimnis bleibt. Sonst wird es zu einem Teil meiner Vergangenheit, das will ich nicht. Und du bist süß, du bist witzig, klug, aber du bist noch jung, du suchst nach was Großem, dem besonderen Ding, das dein Leben verändert, während ich was viel, viel Kleineres suche, so klein, daß du’s wahrscheinlich nicht mal sehen würdest.« Gretchen reckt sich und gähnt, als wäre die Müdigkeit ein
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Wasserfall, unter dem sie gerade verschwunden ist. »Jetzt bin ich erschöpft und brauche ein bißchen Schlaf.« Sie schaltet Fernseher und Bettlampe aus. »Das war’s also?« fragt Billy in die Dunkelheit. »Was?« »Du empfindest nichts für mich?« »Darum geht es nicht. Es ist mehr eine Frage der Größenordnung.« Billy steht auf. »Dein kleines Geschichtsprojekt kommt mir ziemlich kalt vor.« »Das Feuer der Vergangenheit ist kalt, aber wenigstens brennt es.« Wie sie das sagt, denkt Billy, voller ... nein, nicht Genugtuung. Ihr Mund hat Schlagseite, ihr Blick ist zu klar, als sie sich im Bett zusammenrollt, die Decke hochzieht und feststeckt, so wie manche Leute gern schlafen, Gretchen allein, Billy an der Tür, die Hand auf dem Griff – nein, keine Genugtuung, denkt er, und kein melodramatisches Gekicher, obwohl die Worte sicherlich in diese Richtung gehen; sie weiß es, und er weiß es, als er ihr einen Blick der Marke »Abschied für immer« zuwirft, dabei wirkt sie gar nicht spöttisch – aber was ist es dann, fragt sich Billy, als er die Tür öffnet und vom Licht empfangen wird, das ein Drittel des Zimmers erhellt, ohne Gretchen zu erfassen; nur ein verirrter Lichtstrahl greift nach ihr wie eine zärtliche Hand; was ist es sonst, als er ihr zuwinkt, eher Ade als Gute Nacht (die Finger auf Halbmast erstarrt), und auf den Flur hinaustritt, behutsam die Tür hinter sich schließt und in sein Zimmer zurückgeht, vorbei an Rodney Letts, der mit seiner Zunge Fotzenlecken andeutet und stracks auf Gretchens Zimmer und sein eigenes Stück Geschichte zuzustreben scheint; was empfindet er – Trauer, Einsamkeit, Mitleid? –,
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wenn er an das kalte Feuer in Gretchen und ihre kaum verhohlene Resignation denkt? »Rodney?« sagt er. »Ja?« »Wenn du da reingehst, breche ich dir die Knochen. Ich meine es ernst.«
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36 DONNERSTAG, die Klinik ist voller Aufbruch, jede Stunde kriegt einen Abschiedskuß, jede Minute ein Schleifchen, die Luft draußen, das Leben, das von dieser Luft umgeben wird, winkt wie eine Erinnerung, die bald wieder Wirklichkeit wird. Billy steht am Telefon. Für zwanzig Dollar hat er von der wucherischen Schwester Clifford/George fünfzehn Dollar in Münzen bekommen, mit dem restlichen Kleingeld besitzt er nun alles in allem an die siebzehn Dollar. Beim Einwerfen der Vierteldollar steigt ihm der Münzgeruch in die Nase, der Geruch von tausend Transaktionen zwischen Kunden und Kassierern und der lachhaften Inkonsequenz einer solchen Währung. Er wählt (513) 5551313 – die typische Kinonummer, die jeder Zuschauer sofort als getürkt erkennt, die ihn aber in diesem Fall mit der Telefonauskunft von Cincinnati verbindet, wo er die Nummer von Whispering Pines, Zentrum für betreutes Wohnen, erhält. Billy wirft sein restliches Kleingeld als Reserve ein. Eine Frau am Empfang meldet sich, und er fragt nach dem Zimmer von Doris Schine. »Sind Sie Abe?« fragt die Frau freundlich. »Nein«, sagt Billy, »der Sohn.« Sie würdigt seine Antwort mit einer schnellen Verbindung. Billy wartet, wartet, wartet, daß sein Vater ab-
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nimmt. Er ist entschlossen, nichts von Bedeutung zu sagen, einen Bogen um alles zu machen, was an Selbstmord, Sterbegedanken, Erklärungen, tränenreiche Abschiede rühren könnte, auf seinem Plan steht nichts als ein Hallo. Er will nur ihre Stimmen hören, ein Mom-und-Dad-Gefühl haben, im selben Raum mit ihnen sein, und sei es nur telefonisch. Er will das Gewicht dessen spüren, was bald geschehen könnte. Endlich wird der Hörer – klackend, scharrend, pochend, knallend – abgenommen. »Hallo?« ruft Billy. Schweigen. »Hallo? Hallo-Hallo-Hallo?« Atmen, Billy hört angestrengtes Atmen, oder nicht angestrengt, vielmehr ein ächzend ausgestoßenes Atmen, als wäre jeder Atemzug eine kleine Enttäuschung. »Mom?« Noch immer nichts. »Du bist es, oder?« Ein Lecken oder Schmatzen. »Ich bin’s, Billy. Ist Abe da?« Dumm, so was zu fragen, denkt Billy. Es ist schon ein Wunder, daß eine Synapse ausnahmsweise feuert und sie den Hörer abnimmt. Das verdient Anerkennung, sagt er sich. Aber das Lecken ist entmutigend, also redet Billy gegen das Schmatzgeräusch an, redet er gegen den leeren Klang seiner Worte an. »Abe muß auf dem Flughafen sein oder auf dem Weg. Hast du das gewußt? Er treibt sich auf dem Flughafen rum, wenn er nicht bei dir ist. Komisch, was? Äh. Ja. So. Jedenfalls. Das tut mir alles leid. Wirklich. Hätte ich das früher gewußt, hätte ich irgendwas unternommen oder gesagt, aber ich hab es nicht früher gewußt, erst als es zu spät war. Meine
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Schuld, wahrscheinlich. Tut mir leid, daß ich nicht bei dir bin, an deinem Bett oder so, aber Abe ist ja da, oder meistens, und ich glaube, da bin ich nur im Weg. Ich würde euch beiden die Laune verderben. Ich rufe nur an, um zu ... Ich hoffe, du mußt nicht leiden unter dem, was du da durchmachst. Ich hoffe, du spürst nichts, du weißt schon, und es ist so, als würdest du am Strand sitzen und aufs Meer schauen, etwas in der Art, obwohl ich weiß, so ist es nicht, aber ich hoffe, es ist ruhig und friedlich. Abe will, daß ich komme und ihm helfe mit dem, nun, dem Ende, vermute ich, euch beide auf den Weg bringe, aber ich rufe an, um zu sagen, daß ich das nicht kann. Und ich hab keinen Anrufbeantworter. Außerdem könnte es sein, daß ich euch zuvorkomme. Aber du solltest wissen, daß ich an dich denke.« Ja, er hat an sie gedacht, an ihr Gesicht insbesondere, und wie es sich im Lauf der Jahre verändert haben muß, Billy hat sie in seiner Vorstellung altern lassen wie die Computersimulationen seit Jahren vermißter Kinder, die zeigen sollen, wie sie heute aussehen, nach der Pubertät, nachdem sich das Weiche verhärtet hat, nachdem sie ohne Eltern erwachsen geworden sind. Doris war nie eine Schönheit, aber sie war auf verschämte Weise vital, die Sorte Frau, die sich erst beklagt, wenn man ihr die Luft zum Atmen nimmt, und selbst dann noch irgendwie Luft kriegt und sich damit begnügt. Kräftig, rothaarig, bei Sonne sofort sommersprossig, hätte sie auch den Oregontrail klaglos überstanden. Aber Doris liegt im Bett, hält den Hörer, lebt ohne Kontext. Für Billy ist ihr Gesicht ein temporäres Phänomen – wie ein Kürbis, der für Halloween aufgeschnitten wurde und bis Silvester in der Veranda liegt. Er weiß nicht mehr, wie der Kürbis aussah, nur ans Messer erinnert
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er sich. Billy schmiegt sich an den Apparat, die Nickelplatte beschlägt von seinem Atem. »Weißt du, was meine intensivste Erinnerung an dich ist?« sagt er. »Das erzähle ich dir noch, dann lege ich auf, ich wollte ja nur hallo sagen. Meine intensivste Erinnerung – ich muß nur die Augen zumachen, dann bin ich wieder mittendrin. Ich war elf, und die Nachbarin hatte eine Tochter, Becky. Becky Malone, erinnerst du dich? Erinnerst du dich, daß sie Windpocken hatte, und ich sollte nach nebenan gehen, mit ihr spielen, damit ich auch Windpocken kriegte und es hinter mich brachte? Ich sagte, bloß das nicht, denn sie war älter und ich ein bißchen verknallt in sie, wo sie doch so nahe wohnte, direkt nebenan, obwohl ich nie ein Wort zu ihr gesagt habe, aber irgendwie verliebt war ich trotzdem in sie. Ich dachte immer, eines Tages würde ich sie ansprechen, und sie würde mit Und du warst die ganze Zeit so nah! reagieren. Jedenfalls hast du mich nach nebenan gezerrt und geklingelt, während ich mich unter deinem Griff wand, Mrs. Malone machte auf – sie war nicht gerade vernarrt in unsere Familie, aber wer war das schon. Du weißt, daß die Leute unser Haus als Gruft bezeichnet haben, weil sie dachten, wir hätten uns da drinnen vergraben. Immer wenn es klingelte, und niemand kam, war es eine Mutprobe. Mrs. Malone sieht dich also, sieht mich, sie hat eine kranke Tochter, muß Abendessen machen und ist sauer, weil sie denkt, was will die denn jetzt von mir. Und du fragst, ob ich mit Becky spielen darf. Sie sagt nein, Becky ist krank, und du sagst, eben deshalb, ich soll die Windpocken kriegen und es hinter mich bringen. Ich bin alt genug, um das unglaublich peinlich zu finden, und ich weiß auch, daß Mrs. Malone über uns redet, daß sie ein neues Thema hat, diese verrückten Schines, du
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kriegst das natürlich nicht mit, aber ich in der Schule, denn da spricht sich so was rum. Du sagst zu ihr ...« »Je jünger, desto besser bei diesen Sachen.« Billys praktisch veranlagte Mutter richtete ihre grünen Augen auf Mrs. Malone. Mrs. Malone wehrte sich mit ihrer Art von Vernunft: »Aber Becky liegt im Bett.« »Nur eine Minute.« »Lieber nicht.« »Wir sind sofort wieder weg.« »Sie fühlt sich nicht gut.« Während des Wortwechsels konzentrierte sich Billy auf den Rhododendron neben der Haustür. Dessen natürliche Schönheit kam ihm vor wie ein Vorbote des Hausinneren. Die Blätter waren wächsern wie Mrs. Malones Haut, und wenn der Rhododendron blühte, paßte er zu Mrs. Malones Lidschatten. »Je älter, um so ernster wird es«, fuhr Doris unbeirrt fort. »Und Gott behüte, daß er erwachsen wird, ohne sich anzustecken. Also wenn es Ihnen nichts ausmacht. Es wäre gut für seine zukünftige Gesundheit.« Mrs. Malones Mund wurde zum Strich. »Da kann ich ja wohl nicht nein sagen«, sagte sie eisig und zog sich ins Haus zurück, als hätte sie einem Vertreter nachgegeben, aber beschlossen, nichts zu kaufen. Das Haus war sauber und hell, bis ins letzte renoviert, ganz im Gegensatz zum Kubakrisengrau der Schines. Obwohl die Häuser baugleich waren, fragte sich Billy beim Anblick der Zimmer, wie sie denen von nebenan entsprechen konnten. Ihr unterirdisches Wohnzimmer ein Sonnenzimmer? Dieses Haus sprach französisch. Alle Wände waren voller Kinderfotos – Becky und ihr großer Bruder, der Footballheld –, wie ein
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riesiger Adventskalender, der die Tage anzeigte, an denen Ski gelaufen, gesegelt wurde und das große Spiel von 1982 stattfand. »Becky wird sich nicht freuen«, sagte Mrs. Malone. »Mädchen in ihrem Alter können sehr eitel sein.« »Wir können dem Jungen die Augen verbinden«, schlug Doris vor. Mrs. Malone hielt das für einen Scherz, aber Billy wußte es besser. Seine Mutter folgte einfach ihrer Vernunft, auch wenn diese Art Vernunft oft nur naives Zweckdenken war. Ihr Sohn war ein Bündel von Problemen, die sie loswerden mußte. Sie beklagte sich nie, stöhnte oder keifte nicht, aber behandelte ihn, als wäre er ein schlecht bezahlter Job, der kaum die Mühe lohnte. Beckys Tür war rosa gestrichen wie ein Osterei, drinnen setzten sich die Pastelltöne in den Rüschengardinen und dem Prinzessinnenbett fort, in dem eine zerkratzte Schönheit saß, die kein Freier küssen wollte. Becky Malone sah mittelalterlich aus in ihrem Elend. Böse rote Pusteln, manche offen, manche eitrig, manche mit anderen zu Archipelen vereint, bedeckten ihre Haut. Billy konnte sich nicht vorstellen, daß sie jemals wieder gesund werden würde. Sie trug große Skihandschuhe, die verhindern sollten, daß sie sich mit den Fingernägeln zerkratzte. Billy sah, daß die Handschuhe mit Klebestreifen befestigt waren wie Boxhandschuhe. Um sie abzustreifen, mußte Becky die Zähne benutzen. »Mom, warum kommen diese Leute in mein Zimmer?« fragte sie. Unter ihrer Beherrschung verbarg sich Hysterie. Ihre Kehle war von Windpocken aufgerauht. »Das ist dein Nachbar«, sagte Mrs. Malone. »Und?« »Na ja. Er will die Windpocken haben, damit er es hinter
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sich bringt.« »Und?« »Also will er ein bißchen mit dir zusammen sein.« Beckys Augen funkelten noch zorniger als ihre Pusteln. »Du mußt doch spinnen!« »Windpocken können bei Erwachsenen zu einer ernsten Krankheit werden.« »Und das hier ist nicht ernst?« »So hab ich es nicht gemeint.« »Schau mich an!« »Ich weiß, Kleines.« »Und du läßt Besucher rein.« »Das ist nur ...« »Nimmst du auch Eintritt?« Während dieser Kontroverse flüsterte Doris: »Tief einatmen!« und schob Billy zu dem virulenten Bett. Er gehorchte wie immer – wider besseres Wissens und trotz der zu erwartenden Schulhofhänseleien, weil er seiner Mutter nichts anderes entgegenzusetzen hatte als sanften Gehorsam. Er näherte sich Becky, der blonden Becky, dreizehn Jahre alt, die ihr Haar oft flattern ließ wie die bunten Bänder an der Lenkstange ihres Fahrrads, mit dem sie am Ende der Sackgasse ihre Runden drehte, Runde um Runde, ein rosaflirrendes Wölkchen. Aber heute war sie furunkelrot. Billy bat sie mit den Augen um Verzeihung. Doch immerhin war er in Becky Malones Zimmer, was irgendwie aufregend war, er stand an ihrem Bett, was auch irgendwie aufregend war, ganz nahe an Becky Malones Nachthemd mit Hunderten von Blumen und schicken Rüschen, was ganz besonders aufregend war, und ihrem Ausschnitt, der mit nippelartigen Pickeln übersät war. Billy atmete tief ein. Haferschleim, roch er, und Salbe.
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»Was glotzt du denn?« zischte Becky. »Tut mir leid«, sagte Billy. »Näher ran«, flüsterte Doris. Unter dem Schorf bildeten sich Narben. Becky Malone schrie. »Oh, Kleine«, sagte Mrs. Malone und ging auf Becky zu. »Das halte ich keine Sekunde länger aus.« »Kleine ...« »Wie kannst du mir das antun!« »Ich wollte nur den Nachbarn einen Gefallen tun.« Billy drehte sich zu seiner Mutter um. Oft, wenn er ihr in die Augen sah, wartete er auf ein Signal der Zuneigung – letzten Endes war sie seine Mutter –, und wenn nichts kam, kein Aufleuchten, wandte er den Blick ab. Heute jedoch, während sich Mutter und Tochter vor ihren Augen umarmten, sich in ihrer Beschämung und ihrer Wut Trost spendeten, glaubte Billy im Gesicht seiner Mutter eine Spur unartikulierten Bedauerns zu erkennen. Doris reichte ihm die Hand, nicht aus Zuneigung, sondern weil sie wegwollte, weg aus dieser Welt, zurück in unsere Welt, und Billy griff nach den Fingern, die ihn, kaum hatte er sie ergriffen, wieder losließen, um ihn hinauszuschieben. »Hoffentlich haben die Windpocken gewirkt«, sagte sie auf dem Heimweg. »Natürlich«, sagt Billy ins Telefon, »habe ich keine Windpocken bekommen, und Beckys Gesicht hat sich nie mehr richtig erholt, dabei hatte sie die allerschönste Haut. Kein einziger Pickel in der ganzen Highschoolzeit, und danach war sie voller Windpockennarben.« Billy lauscht, ob sich der Atem seiner Mutter geändert hat, hofft auf ein Zeichen, einen unterschwelligen Rhythmus des Verstehens, aber nichts hat sich geändert. Seine Geschichte ist alles
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andere als flüssig erzählt. Im Gegensatz zu seiner Erinnerung, die die Tür zu diesem Haus ganz mühelos öffnet, zu dem Zimmer, wo Betty weinte, ein auf unerwartete und grausame Weise neu verpuppter Schmetterling, und wo Doris die Hand nach ihm ausstreckte. Er hat die Worte falsch angepackt, sie umkurven seine wahren Gefühle und treffen verquer auf ihr Ziel -wie Dolche mit dem Griff statt mit der Klinge. Was bleibt, ist eine von vielen seltsamen Geschichten über die gute alte Mom. »Egal«, sagt Billy. »Ich wollte nur hallo sagen, und vielleicht werde ich ...« Er hört ein Geräusch, einen Dauerpiepton wie von einer der zwölf Tonwahltasten, und er denkt, vielleicht stützt sie aus Versehen ihr Kinn auf die Tasten, drückt die Nummern 7, 8 oder 9, ohne es zu hören, oder wenn doch, ohne sich daran zu stören, an diesem schrillen Getute, sie macht gar nichts, schweigt einfach weiter. Vielleicht ist sie eingeschlafen. Vielleicht ist das ein Schrei, den er provoziert hat, ausgeführt mit einem gutplazierten Finger. Hör endlich auf. Oder es ist etwas anderes, ein letzter, verzweifelter Versuch, etwas zu sagen. Wer weiß? Es tutet immer weiter. Ein Ton, der alles auslöscht. Und Billy bleibt dran, er summt den Ton mit, mit sanfter, einfühlsam vibrierender Stimme, bis ihn die automatische Vermittlung auffordert, Geld einzuwerfen, und bald darauf wird er getrennt, weil die Münzen aufgebraucht sind.
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37 IN DER NACHT, es ist die letzte, ein Geräusch. Gegen zwei Uhr morgens, ein Geräusch im Flur, und Billy schreckt hoch. Das ist kein altes Haus mit knackenden Balken. Das ist ein Neubau, nach ein paar Tagen kennt man alle nächtlichen Geräusche. Die Klimaanlage – kadumm –, die neue Frischluft hereinpumpt; die Toilette, die mit einer fernen Toilettenspülung kommuniziert – chaaah – wie von einem zentralen Reinigungshauch durchweht; der Hofscheinwerfer – ki-ki-ki –, der unter dem Fenster seinen Halogenpuls austickt. Das sind die normalen Geräusche, das REM des AHRC. Aber Billy schreckt hoch, wenn er etwas hört, das klingt – er könnte es beschwören –, als würde etwas durch den Flur geschleift. Egal wie barock und blutrünstig seine Phantasien – ihm kommt Ragnar in den Sinn, auch Ossap und Dullick drängen sich auf. Im Gehirn muß es eine chemische Reaktion geben, die aus nächtlichem Lärm einen Killer zurechtbraut. Rezeptoren saugen alte Ängste auf, bis du wieder ein kleiner Junge bist und Fluchtpläne entwickelst. Du könntest aus dem Fenster springen. Dich im Badezimmer verschanzen. Dich schlafend stellen. Dich im Schrank verstecken. Dich unter der Decke verkriechen, ganz flach liegen und
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die Luft anhalten, daß es aussieht, als wäre keiner da. Billy kalkuliert den Ablauf der Mordorgie, das tödliche FengShui eines Psychopathen. Möglich, daß er mit der Routine eines Zimmermädchens von Zimmer zu Zimmer geht und Kehlen aufschlitzt. Dann wäre Billy der Vierte. Es müßte Schreie geben, markerschütternde Todesschreie. Außer natürlich, wenn er der erste ist. Das Schleifgeräusch zieht sich durch den Flur und endet in einem unheimlichen, altweiberhaften Pst. Und das war’s. Bis jetzt. Neununddreißig Minuten später, und Billy hört es pfeifen, draußen unter dem Fenster, sanfte Lockrufe, die vom Vorplatz kommen, Kußlaute, begeistertes Klatschen, Gebell – ja, er hört Hunde bellen. Was da durch die dicken Vorhänge dringt, kommt ihm vor wie der Stoff, aus dem die Mittsommernachtsträume sind. Das da draußen, das könnte die wildgewordene Kulissenwelt des Schlafs seins. Dem Lärm nach wird da heftig gebuhlt. Das ist schon viel besser als das Pst! von vorhin, wenn auch genauso rätselhaft. Billy ist neugierig, aber er liegt viel zu bequem, also stellt er die Kosten-Nutzen-Rechnung an, die man für gewöhnlich mit einer vollen Blase und einem warmen Bett verbindet. Steht er auf, ist jede Aussicht auf Schlaf dahin. Andererseits ist er sowieso hellwach. Der Fußboden dürfte kalt sein. Doch so kalt auch wieder nicht. Augen zu und weiterschlafen – morgen zeigt sich, daß der Lärm ganz banale Ursachen hatte. Aber wenn er aufsteht, kann er sich ein Bild machen – und sich blöd vorkommen wegen der Mühe. So oder so, er muß sich entscheiden. Wie immer zieht sich diese Debatte länger hin als nötig, versteigt sich zu geplatzten Ultimaten (in fünf Sekunden!), schwach fundierten Ermahnun-
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gen (mach schon, mach schon, mach schon!), doch schließlich (scheiß drauf!) wälzt sich Billy aus dem Bett. 03:23 Er teilt die Vorhänge (die Erwartung, den Spalt zu öffnen und hindurchzulugen ist eine fast sinnliche, und Billy zögert, kostet den Augenblick aus, im Wissen, daß es ein Ritual ist, ein aufregendes Vorspiel, so wie ein Liebhaber mit den Fingern am Bund des Höschens entlangfährt, obwohl er schon weiß, daß es gleich fallen wird) und erblickt die Ursache des Lärms: Fast ein Dutzend Leute tanzen in chaotischer Choreographie auf dem Vorplatz herum. Das könnten ja tatsächlich Waldgeister sein, denkt Billy, Puck & Co., wenn Waldgeister schwarze Kleidung, schwarze Strumpfmasken und Zöpfe aus leeren Strumpfhosen tragen würden. Billy sieht zwei Lieferwagen nahe der HAMSkulptur parken, was zweifellos illegal ist und aussieht, als hätte der Bronzefinger endlich mal Erfolg beim Autostop gehabt. Ein paar Gestalten beugen sich vor, klopfen auf ihre Knie – hier! hier! hier! –, während andere umherlaufen, mit den Armen fuchteln, Richtungen anzeigen, Daumen heben, schnell! schnell! schnell! gestikulieren. Einer der Vermummten hält eine Videokamera und dokumentiert das Geschehen mit kinematographischen Tai-chi-Bewegungen. Das Befremdliche dieser Szenerie macht jeden Erklärungsversuch überflüssig. Billy schaut einfach zu, verblüfft, aber beglückt und erleichtert, weil das alles ganz bestimmt nichts mit ihm zu tun hat. Nein, diese Gestalten sind auf andere Beute aus. Sie treiben Tiere, vor allem Hunde, aus dem Ostflügel herüber. Beagles laufen frei herum, Bastarde mit starken Anklängen an Labrador und Schäferhund, muntere Pointer, ein Golden Retriever mit rasiertem Bauch, ein Cockerspaniel mit
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Halskrause. Die lebhafteren Exemplare rasen ausgelassen und hakenschlagend auf dem Vorplatz herum, die Langsamen jagen die Schnellen, sie rennen schnappend, japsend, purzelnd auf den Rasen zu, wo das Pinkeln und Kacken viel schöner sein muß, denn sie hören gar nicht mehr damit auf – Tiere, die süchtig sind nach Düften. Aber die Mehrzahl der Hunde ist alles andere als begeistert. Sie stecken mitten im Medikamententest, sind mit Krankheit und Chemie gepäppelt und bewegen sich kaum. Sie liegen einfach nur da oder, schlimmer noch, tappen ein paar Schritte, brechen zusammen und rappeln sich wieder hoch. Sie hinken. Sie zittern. Sie lecken ihr von zu langer Käfighaltung gelichtetes Fell. Manche tragen Rucksäcke nach Art der sportlichen Hunde, die ihre sportlichen Herrchen beim Joggen begleiten. Aber diese Hunde sind keine Sportfans, sie schleppen die Maschinerie ihrer Vernichtung auf dem Rükken herum. »Ich komme mir vor« – Billy dreht sich um – »wie auf einem sinkenden Schiff« – und sieht Gretchen in der Tür stehen. Von hinten beleuchtet ähnelt sie einem Gespenst, dem vom vielen Spuken übel geworden ist. Trotzdem freut sich Billy über ihre Gesellschaft. »Es ist unglaublich«, sagt er. »Wer sind die?« fragt sie. »Keine Ahnung.« Gretchen kommt ans Fenster. »Tierrechtler, glaube ich.« »Tja.« »Ob die Wache Bescheid weiß?« »Das würde ich ernstlich bezweifeln«, sagt Billy. »Ja. Blöde Frage.« Noch mehr Tiere erscheinen auf dem Vorplatz; Rhesusaffen, die sich unbeholfen anklammern, Schimpansen, die
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ihre Retter innig umarmen. Käfige werden herausgezerrt und für die Kamera geöffnet. Ratten, Mäuse, Kaninchen strömen scharenweise heraus. Und noch mehr Hunde werden gebracht, gelähmte Hunde, die getragen werden müssen. Der Videofilmer kommt gerannt und filmt einen Vermummten, in dessen Armen ein Pitbull zuckt. »Das ist ja furchtbar«, murmelt Gretchen. »Schau dir den Hund an.« Billy zeigt auf ein großes Tier mit Halskrause und einer Narbe auf der rasierten Brust. »Das ist ein Bouvier des Flandres«, erklärt ihm Gretchen. »Ein Rassehund.« »Und der da?« »Ein Vizsla, auch eine teure Rasse.« »Und der?« »Ein Basenji.« Billy fühlt sich wie im Garten Eden, er ist Adam, zeigt auf ein Tier und sagt »Hund«, worauf ihn Eva kopfschüttelnd korrigiert: »Nein, ein Chesapeake Bay Retriever«. Der Videofilmer wird zur HAM-Skulptur beordert. Um das Handgelenk ist ein (aus Billys Blickwinkel unlesbares) Spruchband gewickelt. Unter dem imposanten Daumenknöchel stehen zwei Vermummte, ein großer und ein kleiner, die jetzt von der Kameralampe angestrahlt werden. Offenbar geben sie eine Presseerklärung ab, denn sie zeigen mit schweifenden Gesten auf die hinter ihnen liegende Klinik und auf die bedauernswerten Tiere ringsum. Der Größere von beiden hält ein enthaartes Rhesusäffchen in die Kamera, sehr zum Mißfallen des Äffchens, das sich dem Griff entwindet, dem kleinen Vermummten auf den Kopf springt und sich an der Strumpfmaske festhält. Der versucht das Äffchen zu fangen, aber es zerreißt die Strumpfhose, krallt sich in sein Haar, der Große kommt
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dem Kleinen zu Hilfe, packt das Äffchen beim Genick und zerrt, aber das Äffchen läßt nicht los. Jetzt schreit der Kleine (hörbar durchs Fenster), während der Große weiter zieht und zerrt. Die anderen Vermummten unterbrechen ihre Befreiungsaktion und verfolgen diesen Kampf, einige offenbar amüsiert, der Videofilmer dreht weiter – kostbares Material für die Pannensendung. Endlich gibt das Äffchen auf und flieht auf die Skulptur, hüpft vom Daumen zum Zeigefinger, umarmt befremdet den Bronzetrumm, als hätte er sich im Baum geirrt. Der kleine Vermummte betastet seinen Kopf, während sich der Große die ärgsten Kratzer anschaut. Da erkennt Billy die beiden. »Ossap und Dullick«, sagt er. »Glaubst du?« »Ich gehe jede Wette ein.» Der Flur hinter ihnen wird lebendig. Sie hören Geschrei, das Patschen nackter Füße. Die Nachtschwester ist soeben, wie sie dem Geschrei entnehmen, gefesselt aufgefunden worden. Der Aufenthaltsraum, heißt es, bietet den besten Blick, aber Billy und Gretchen bleiben beisammen. Sie schauen Ossap und Dullick zu/die eine neue Erklärung für die Kamera abgeben, diesmal etwas zurückhaltenderund ohne Zutaten. Ossap hält beim Sprechen die Hand an die Stirn; Dullick zerreißt sein schwarzes Hemd, um Ossaps Stirn zu bandagieren; Ossap stößt Dullick fort; Dullick, mit zerfetztem Hemd, verschränkt die Arme; Ossap, frustriert, befreit sich von den Resten der Strumpfhose und schreit den Kameramann an, der sich die eigene Strumpfmaske herunterreißt und Ossap überreicht, damit die Anonymität gewahrt bleibt. Auf diese Weise wird Carlson Dickey, der fromme
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Wachmann, entlarvt. Er filmt jetzt Take 3. »Da hast du die Wache«, sagt Billy. »Weißt du, was die da sagen?« fragt Gretchen. »Keine Ahnung.« Die befreite Nachtschwester brüllt durch den Flur: »Alles zurück in die Zimmer, auf der Stelle! Ohne zu trödeln! Hier ist was im Gange!« Ja, denkt Billy, hier ist was im Gange. Die lebhafteren unter den Hunden machen Jagd auf die Kaninchen. Die Kaninchen haben keine Chance. Sie sind zu betäubt von Medikamenten, um noch fliehen zu können. Sie werden zerfetzt, zerbissen, gebeutelt, bis ihr Schreien erstirbt, dann ist das nächste Tierchen an der Reihe. Ein Massaker. Der Vorplatz, das riesige Zifferblatt der Uhr, ein Schlachtfeld. Die Vermummten geben ihr Bestes. Sie treten halbherzig nach den Hunden (Tierquälerei war ihnen nicht in die Wiege gelegt), sammeln verletzte Kaninchen auf und rennen zu den Lieferwagen. Alle rennen sie zu den Lieferwagen und schleppen so viele Tiere an, wie sie nur können. Als wäre das Saigon 1975. Schnell! Schnell! Schnell! Die Zurückgelassenen werden dem Schutz des Waldes überantwortet, aber die Hunde, die Mäuse, die Ratten, das einsame Rhesusäffchen auf dem Zeigefinger wollen keine Freiheit, nicht in dieser Welt. Sie schauen den davonrasenden Lieferwagen mit mäßigem Interesse nach und lassen sich lieber von der kühlen Nachtluft beeindrucken, dem Mond, den fernen Polizeisirenen, den blinkenden Lichtern am Horizont, dem vorübergehenden Wegfall aller Zwänge. »Rennt weg«, ruft Gretchen wie eine Kinobesucherin, die vergißt, daß alles nur Kino ist. Billy greift nach ihrer Hand, sie wehrt ihn nicht ab, beide sagen kein Wort. Erotische Absichten liegen ihm fern, Fin-
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ger schmiegt sich an Finger, nicht mehr, nicht weniger, ihre Handflächen werden ein paar Grad wärmer als gewöhnlich. So stehen sie nicht für immer, nein, das gewiß nicht, aber so lange wenigstens, daß die Zeit ihren Griff lockert und sich den Herzschlägen unterwirft, nicht mehr die Sekunden zählt, sondern der unmeßbar rudimentären Feuchte einer ersten Berührung nachspürt. Die letzten Hunde bringen die letzten Kaninchen zur Strecke. Mäuse auf der Suche nach den Grenzen des Labyrinths verlaufen sich im Nichts. Das Äffchen balanciert auf dem ausgestreckten Zeigefinger und greift in die Luft, als wollte es höherklettern, fort von der Bronze. Billy und Gretchen schauen zu, halten sich bei der Hand, bis die Nachtschwester kommt, eine Schulmeisterin, wie sie im Buche steht, und Gretchen in ihr Zimmer schickt.
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38 AM NÄCHSTEN MORGEN, dem letzten Morgen, sickern Einzelheiten über das nächtliche Geschehen durch. Wie es aussieht, haben sich Ossap und Dullick mitten in der Nacht ihren Zimmergenossen Stew Slocum vorgenommen. Überwältigt, wie Stew beim Frühstück erzählt, obwohl er in Wahrheit fest schlief und mit Klebeband ans Bett gefesselt wurde. Ähnliches geschah in anderen Etagen. Jede Farbe war beteiligt, manche in Gruppen, manche einzeln, aber alle bestens koordiniert. Carlson Dickey habe die ganze Wachmannschaft außer Gefecht gesetzt, hieß es, was Billy für absurd hielt, bis er nach dem Frühstück die Bestätigung von Dr. Honeysack bekam. »Es ist wahr«, sagt Honeysack. »Er hatte eine Waffe, eine Spielzeugpistole, wie sich herausstellte. Da sehen Sie mal – unser Spitzenpersonal. Lahmgelegt mit einer Wasserpistole.« »Und was sind das für Leute gewesen?« fragt Billy. »Militante Tierschützer«, sagt Honeysack wegwerfend, aber seine übernächtigten Augen glitzern, denn er hat anderes im Sinn; seine Pupillen erinnern an selbstgedrehte Speedpillen. »Irgendein extremistischer Flügel von PETA. S.H.A.M.E. stand auf dem Spruchband: Stoppt Heimtückische Arzneimittelexperimente. Die sind neu auf der Liste un-
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serer Feinde. Aber egal.« »Ich wette, zuerst haben sie sich das Kürzel ausgedacht«, sagt Billy. Er stellt sich die Gruppe beim Brainstorming vor, um einen Tisch sitzend, mit Worten um sich werfend, deren Bedeutung erst mal nicht so wichtig ist. »Ich wette, sie hatten ein Problem mit dem H.« »Hm. Ja. Jedenfalls.« Honeysack beugt sich vor, um ihn ins Vertrauen zu ziehen. »Also wegen heute.« »S.A.M.E. konnten sie nicht nehmen.« »Um dreizehn Uhr wird Ihre Gruppe entlassen, aber wir können Sie nicht vor vierzehn Uhr abholen, also müssen Sie bis dahin draußen warten. Ich hab dem Personal schon gesagt, daß sich Ihre Abfahrt verspätet. Aber das ist denen egal, die haben andere Probleme. Warten Sie also um vierzehn Uhr vor dem Eingang der Klinik.« Honeysack schaut Billy an, als wäre Billy sein Dealer, als wäre Billy der einzige, der das hat, was Honeysack braucht, um über den Tag zu kommen. »Okay, verstanden?« »Verstanden. Aber ›heimtückisch‹ ist ein lausiges Wort.« »Haben Sie Ihren Brief fertig?« Honeysack kaut auf dem Fingerknöchel. »Ja«, antwortet Billy. »›Inhuman‹ mit kleinem i und großem H, das wäre besser gewesen.« CNN hat die Story entdeckt. Der Nachrichtensender ist bereits im Besitz von Exklusivmaterial, übergeben von einer militanten Tierschützergruppe, die sich als S.H.A.M.E. bezeichnet und vergangene Nacht ins Hargrove Anderson Medical’s Animal Human Research Center in Albany, New York, eingedrungen ist. Für den Reporter am Ort des Geschehens ist der Satz eine harte Nuß. Und er schwitzt. Er schwitzt durch den Anzug hindurch. Er sieht pelzig aus vor Schweiß. Wie von der Sonne in einen Werwolf verwandelt.
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Seinem Gesicht entsprießen Schweißtropfen in endloser Zahl. Möglich, daß er live berichtet, aber so, wie er aussieht, möchte er lieber tot sein. Peter Barnes sagt der Schriftbalken unter seinem schlaffen Jackett. Billy, beim Kofferpacken, ist fasziniert von den Anzeichen der Hitze vor seinem Fenster. Zwei Wochen lang war das Wetter Nebensache. Das CNN-Video beginnt im Ostflügel der Klinik. Lichtstrahlen stochern im Dunkel, stoßen auf Käfigbatterien mit Hunden, die bellend und schwanzwedelnd ihre neuen Herrchen erwarten, als wären sie im Tierheim. Manche bringen vor Entkräftung nur ein Jaulen hervor, andere reagieren gar nicht, obwohl ihre Augen Rot reflektieren. Man hört Geflüster, das Klacken der Riegel verbindet sich mit dem Klicken der Hundepfoten auf dem Kachelboden zu einem wirren Morsespruch. Tiere huschen, von schweifenden Lichtstrahlen erfaßt, durchs Labor, ein Vermummter flüstert: »Zeig ihnen das Steak«, als wäre Fleisch für diese ruhelosen Eingeborenen ein Gegenstand der Götzenverehrung. Noch mehr Käfige werden geöffnet, noch mehr Befreite strecken die Glieder. Die Kamera wird von einem übermütigen Hund angerempelt, das Objektiv wird von einer Hundezunge beleckt. »Das [piep] Vieh beißt«, flucht einer. Ein kurzer Schwenk erfaßt den Vermummten mit dem Steak: Knurrende Hunde springen an ihm hoch wie an einem Baum, auf dem ein Eichhörnchen sitzt. Mäuse, Ratten, Kaninchen werden in Reisetaschen gestopft. Taschen, wie Billy sie am ersten Tag bei Ossap und Dullick gesehen hat. Dann ein harter Schnitt, der Vorplatz mit den Lieferwagen, den Vermummten, der Handskulptur, an deren Puls ein rotes S.H.A.M.E.-Spruchband leuchtet wie eine klaffende Wunde. Ossap und Dullick geben ihre Erklärung ab:
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»Wir sagen S.H.A.M.E., und Schande über das Hargrove Anderson Medical wegen der grausamen Behandlung von Tieren. Auch Mord im Dienst der Wissenschaft ist Mord. Für Folter gibt es keine Rechtfertigung. Der hippokratische Eid besagt: ›Füge niemandem Schaden zu‹, aber das Hargrove Anderson Medical und Dutzende andere multinationale Pharmakonzerne handeln nach der heuchlerischen Devise: ›Fügt den Profiten keinen Schaden zu‹.« Ossaps blutige Stirn sieht aus, als hätte ihn ein Hindupriester mit Henna gesalbt. »In hundert Jahren werden wir uns für die heutige Ernährung schämen.« Der Schlußteil zeigt den hastigen Rückzug in die Lieferwagen, quietschende Reifen, das Triumphgeschrei der Vermummten im Lieferwagen. Die Klinik, zu sehen durchs Heckfenster, bleibt hinter ihnen zurück, das Hundegebell schwillt bedrohlich an. Peter Barnes, wieder live auf Sendung. Er schwitzt nicht mehr, hat aber schon einen deutlichen Bartanflug, als er die neuesten Einzelheiten mitteilt: Die Wachen wurden gefesselt und geknebelt, aber unverletzt aufgefunden. Die entlaufenen Tiere werden gegenwärtig eingefangen, ein Kliniksprecher versichert, daß keine Gefahr für die Bevölkerung bestehe, keine Gefahr durch kranke Tiere, die sich auf freiem Fuß befinden. Mehrere Teilnehmer der S.H.A.M.E.Aktion sind bereits verhaftet. PETA weist in einer Pressemitteilung jegliche Verantwortung zurück, unterstützt aber das Anliegen ihrer Mitkämpfer. Weitere Einzelheiten werden im Verlauf der Ermittlungen folgen, Peter Barnes, CNN, Albany, New York. Der Vormittag zieht im Fernsehen vorbei, schlüpft dem Sender durch die Schlinge, während Peter Barnes mit immer neuen Fakten aufwartet – Namen und Fotos der S.H.A.M.E.-Leute, Ergänzungen zum Ablauf des Überfalls. Billy schaut weiter zu, er will den
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Zehnsekundenauftritt von Ossap und Dullick vor der Bronzehand noch einmal sehen, denn hinter ihnen kam die Klinik ins Bild, genauer gesagt, der Westflügel, hinter dessen Fenstern sich Gestalten drängten, kaum sichtbar, Gestalten wie Schatten von Schatten. Das Fernsehen befaßt sich noch mit der vergangenen Nacht, während auf dem Vorplatz schon ihre Nachwirkungen zu beobachten sind. Polizisten stehen herum, fotografieren, zeigen umher. Ein Hofarbeiter kehrt Kaninchenleichen zusammen, verwandelt Blutspuren mit dem Gartenschlauch in rosa Pfützen, ein Laborant lehnt eine Leiter an die Handskulptur und lockt das Rhesusäffchen mit einer Banane – fast komisch, wie er sie pellt und hinhält, nicht ganz so komisch, wie er das Äffchen dann fängt. Ein Trupp zieht in den Wald, um nach entlaufenen Tieren zu suchen. Ab und zu wird ein Hund herangeschleppt, hin und wieder hört man einen Schuß, wenig später kommt ein Mann mit einer gelben Plastiktüte für Medizinabfälle unter den Bäumen hervor. Billy fragt sich, wie viele Hunde noch frei herumlaufen. Gretchen bleibt vor seinem Zimmer stehen. Sie hat dasselbe an wie vor zwei Wochen, als wäre die Zeit dazwischen eine Maskerade gewesen. »Manche Hunde werden erschossen«, sagt Billy zu ihr. »Ich weiß.« »Das müssen die sein, die nicht freiwillig zurückkommen.« Gretchen verschränkt die Arme. Man sieht ihr an, daß sie bald in die Wirklichkeit zurückkehrt. »Ich will einfach nur nach Hause, chinesisch essen – im Bett. Du weißt, was ich meine?« »Klar.«
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Gretchen setzt sich auf Dos ehemaliges Bett. Alles Interessante ist aus ihrem Gesicht verschwunden. Aus allen Blickwinkeln wirkt sie unansehnlich. »Mir ist, als würde ich einen Naturfilm sehen«, sagt sie, »mit Aufnahmen von Elefanten und Tigern. Ich denke, wie schön die Welt ist, spüre fast so was wie Hoffnung, weil ich, egal wer ich bin, zumindest in einer solchen Welt leben darf, das heißt, bis zum Ende, bis der Sprecher mit seinem Aber kommt – es gibt immer ein Aber –, und sie zeigen, was jetzt dort passiert, die Abholzungen, die Wildereien, der saure Regen, als ob die vorherigen Aufnahmen aus einer Zeitkapsel kämen, die erst gestern vergraben wurde, und jetzt sind diese Tiere, ihre Lebensräume, ihre ganze Welt verschwunden. Ich versuche umzuschalten, bevor das Aber kommt, nicht weil ich es leugne, sondern weil ich nicht schon wieder eine neue Bestätigung brauche.« Gretchen zuckt die Schulter. Sie betupft ihren Schönheitsfleck wie eine Turnerin, die ihre schwache Kür durch einen perfekten Abgang wettmacht. »Weißt du, was ich meine?« Billy nickt. »Ich will einfach nur zurück in die Stadt und mich im Bett zusammenrollen.« »Ich liebe dich«, sagt Billy beiläufig. Die Worte, einmal gesagt, wirken so hohl, daß er sie selbst nicht glaubt. Gretchens Gesicht wird zur Grimasse. »Bitte sag das nicht.« »Aber es stimmt.« Sie blickt zu Boden, als wären dort unmögliche Tanzschritte aufgezeichnet. »Das ist lächerlich, Billy. Du kennst mich doch gar nicht. Die zwei Wochen in der Klinik hatten kaum was mit der Wirklichkeit zu tun, und um sich zu verlieben, reichen sie erst recht nicht aus. Wenn du wieder
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draußen bist, wirst du’s merken. Aber nicht solche Töne, bitte.« »Ich weiß, was ich weiß«, sagt Billy. »Das ist vielleicht nicht viel, aber ich liebe dich. Ich erwarte keine Fanfaren und kein Feuerwerk, ich will nur, daß du’s weißt.« »Wir können im Bus zusammensitzen«, bietet ihm Gretchen an. »Ich fahre nicht nach New York zurück.« »Wohin denn?« »Woanders hin«, sagt Billy. »Oh.« Gretchens Zunge tastet das Innere ihrer Wange ab, als suchte sie nach einer Unebenheit. »Weißt du, warum ich nicht mit dir geschlafen habe? Weil ich dich zu sehr mochte, um dich in mein Projekt einzubeziehen. Oder vielleicht habe ich gedacht, daß du mich, ohne mit mir zu schlafen, besser in Erinnerung behältst.« »Die Typen, mit denen du hier geschlafen hast, werfe ich dir nicht vor.« »Da bin ich aber erleichtert.« »Und ich hab gelogen«, sagt Billy. »Ich will doch Fanfaren und Feuerwerk.« »Na ja. Das könnte auch eine Kriegserklärung sein.« »Nur ein Wort, und ich fahre mit dir im Bus.« »Ich kann das Wort nicht sagen.« »Es muß kein großes Wort sein.« Billy bettelt beinahe. »Sei bitte nicht so melodramatisch!« »Es ist unfair, das zu einem zu sagen, der dir etwas mitteilen will.« »Billy, ich liebe dich nicht. Ich meine, ich finde dich nett und sympathisch, aber mehr nicht. Nichts Weltbewegendes.« »Ich dachte, du wolltest nichts Weltbewegendes.«
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»Du bist zu jung für mich.« »So jung bin ich auch wieder nicht.« »Wenn du in mein Alter kommst, wirst du verstehen, wie jung du bist.« »Ich bitte dich! So alt bist du doch gar nicht«, sagt Billy. »Weißt du was? Zum ersten Mal im Leben wünsche ich mir ein Handy, dann könnte ich dir meine Nummer geben, und immer wenn du einen Naturfilm siehst und das große Aber kommt, kannst du mich anrufen und mit mir reden, bis das Schlimme vorbei ist.« Billy stellt sich vor, daß in seiner Hosentasche Strawinskys Sacre du printemps ertönt. »Ich würde die Nummer niemandem verraten. Sie wäre nur für dich reserviert.« »Ein Handy. Wie romantisch.« »Ich wollte nur originell sein.« »Aber leider hast du kein Handy«, sagt Gretchen. »Wohl wahr.« »Ich könnte dir meine Nummer geben, aber die wäre wahrscheinlich falsch.« »Ich schreib sie trotzdem auf.« Billy nimmt den Stift und den zusammengefalteten Abschiedsbrief aus dem Koffer. »Es muß nur eine Ziffer falsch sein«, sagt Gretchen. »Ist mir egal. Schreib sie auf – und wenn alle Ziffern falsch sind.« Gretchen kritzelt ihren Namen und die Nummer quer über die rechte Ecke. »Da«, sagt sie. »Sieben Zufallsziffern.« »Ich rufe dich jeden Tag an.« »Mir tut der arme Kerl am anderen Ende jetzt schon leid.« Auf dem Vorplatz sammeln sich die Hundejäger, weil es gleich Essen gibt. Zwei schleppen einen erlegten Rehbock an, einen stattlichen Sechsender. »Schau dir das an«, sagt Billy. »Vielleicht eine Verwechslung«, sagt Gretchen und
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lächelt.
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39 Zu MITTAG GIBT ES Reste, die Grünen kommen in Zivil und brechen schon mit ihrer jüngsten Vergangenheit wie Schulabgänger, die nichts gelernt haben und das Beste daraus machen müssen. Keiner redet viel, die S.H.A.M.E.Aktion behandeln sie im Stil von Ich war dabei, ich hab alles gesehen, ich kannte die Täter. Daß die Berühmtheit anderer auf einen selbst abfärbt, ist eine neue Art des amerikanischen Starkults, denkt Billy und hört schon, wie sie sich fürs Mikrofon von Peter Barnes bereitmachen, das Hi, Mom! steht ihnen schon ins Gesicht geschrieben. Billy bleibt für sich und fastet – auf ärztliche Anordnung. Gretchen sitzt an einem anderen Tisch und hält mal wieder Hof, was seiner Liebe keinen Abbruch tut. »Scheißklinik«, sagt Frank Gershin, der Billy gegenübersitzt, ohne jemanden anzusprechen, er scheint sich mit den Narben unter seinem Hemd zu unterhalten. »Wo läßt du dich als nächstes anschießen?« fragt Billy. Frank blickt erschrocken auf. »Was?« »Deine nächste Verwundung.« »Weiß ich noch nicht. Am Kopf, glaube ich.« »Ein Kopfschuß?« »Ja. Ein Oswald.«
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»Das wäre ein Bauchschuß. Du meinst wohl einen JFK.« »Was immer. Ich glaube, genau hier.« Frank zeigt mit dem Finger auf die Mitte seiner Stirn. »Das wäre aber tödlich.« »Bis jetzt hat mich nichts umgebracht«, sagt er und steht auf. Die Grünen, die ihren Scheck erhalten haben, sammeln sich auf dem Vorplatz, wo schon Kleinbusse warten. Corker ist da, er wird wieder nach New York fahren, und es gibt andere Corkers, die verschiedene Bahnhöfe und Busstationen ansteuern. Ein paar Normale, die mit dem eigenen Wagen gekommen sind, stehen noch herum, bevor sie zum Parkplatz hinübergehen. Wie am Ende eines Sommercamps, denkt Billy, obwohl er nie in einem Sommercamp war. Hände werden geschüttelt, auch Umarmungen kommen vor. Tschüs zu Karl McKay, Stew Slocum, Yul Gertner, Herb Kolch, Frank Gershin, Barry Pica und all den anderen, die man nie wiedersehen wird, obwohl manche sich das vornehmen und Telefonnummern tauschen. Billy staunt über die rätselhafte Chemie der Freundschaft. Rodney Letts, einen blauen Plastiksack über der Schulter, entdeckt Billy, der sich an der Peripherie der Abschiedsszenen herumdrückt. Grinsend kommt er näher und sieht schon wieder so aus, als hätte er Shangri-La durch ein schmutziges Abflußrohr verlassen. »Reif für die City?« fragt er. »Ich fahre nicht zurück«, sagt Billy. »Nein?« »Nein.« »Clever von dir. Wer braucht die City schon außer Leute wie ich, die Leute brauchen, die die City hassen, so daß sie mir vielleicht ein bißchen Kleingeld hinwerfen, damit sie
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nicht so werden wie ich. Aber ich wollte dir noch danken. Deine Pisse war meine Rettung. Jetzt hab ich zweitausend Dollar, damit komme ich ein Jahr lang über die Runden.« Sie schütteln die Hände. »Hast du gewußt, daß die uns mit dieser Studie verarscht haben?« fragt Billy. »Ist doch immer so«, sagt Rodney, der die Frage mißversteht. »Aber dafür gibt’s gutes Geld, saubere Bettwäsche, Zimmer mit Dusche, drei Mahlzeiten am Tag.« Er klopft Billy auf die Schulter. »Wir sehen uns wieder.« Das klingt auch wie Verarsche, aber wenigstens die Hand ist echt. Die Kleinbusse beginnen sich zu füllen. Corker steht mit verschränkten Armen neben der offenen Tür, winkt Peter Swain und Sameer Sirdesh mit einer Kopfbewegung hinein, blickt aber starr geradeaus, in Richtung Klinik; vielleicht glaubt er, daß ihn dort eine Frau beobachtet, hinter der Rezeption hervorkommt, ans Fenster geht und sich fragt, ob sie sich ein Dutzend authentische New Yorker Bagels mitbringen lassen soll – ich bring dir mit, was du willst, betteln seine schwarzen Augen, und er bemerkt nicht mal Gretchen, die einsteigt, ohne sich nach Billy umzusehen, der innerlich sein Winken einübt, ein knappes, trauriges Winken, ein Winken, das alles enthält, was hätte sein können, nur ein langsames Heben der Hand, ein Strecken der Finger, ein kurzes Aufzeigen, nicht mehr, nicht weniger, während sich seine Gefühle auf den Mund (Bedauern) und die Augen (Trauer) konzentrieren, aber sie muß sich umdrehen oder aus dem Bus schauen, damit das funktioniert, also wartet Billy wie Corker, der jetzt die verschränkten Arme löst und der Klinik noch eine Minute gibt, damit sich die Tür öffnet und einen eilenden Rock freigibt – und noch eine Sekunde, während Corker die Tür zuschiebt, den Bus
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umrundet, zurückblickt, noch einmal zurückblickt, die Fahrertür erreicht, die Fahrertür öffnet, innehält, Billy sieht. Billy winkt Corker zu. Corker winkt zurück. Um die Zeit totzuschlagen, geht Billy zum Hudson hinunter. Ein ausgetretener Waldweg kündigt den Fluß an, Wasser glitzert in der Mittagssonne. Billy schleppt seinen Koffer mit. Zuerst war die Hitze etwas Neues, seine Poren haben sich gedehnt, als hätten sie zwei Wochen auf dem Sofa gelegen, aber jetzt ist sie nur noch eine schweißtreibende Angelegenheit. Luft wird durch Kiefern, Erde, Moos und den allem zugrundeliegenen Stoizismus des Wassers gefiltert, der Weg verbreitert sich und endet an einem Maschendrahtzaun, dahinter kommt ein Bahndamm und dann das Ufer. Der Fluß ist hier im Norden schmaler, aber nicht weniger beeindruckend. Billy sieht einen dunkelhäutigen Jungen am Ufer stehen, der sein Hemd in die Gesäßtasche gestopft hat. Er hebt Steine auf und wirft sie ins Wasser, offenbar nur, um es platschen zu hören. »Denkt man an den Teufel ...« Billy dreht sich um und sieht Joy auf einem Baumstumpf sitzen. Wie ein riesiger Pilz, denkt er. »Sie haben an mich gedacht?« fragt er. »Nie macht sich einer die Mühe, mir auf Wiedersehen zu sagen.« »Heute war keine Blutabnahme.« »Gestern war die Abschlußuntersuchung.« »Sie hätten es mir sagen sollen.« »Daß die Kanüle entfernt wird, müßte reichen, dachte ich.« »Ich hätt’s mir denken sollen.« Neugierig mustert Joy ihn und seinen Koffer. »Fahren
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Sie mit dem Schiff nach Hause, oder schwimmen Sie?« »Ich werde in einer Stunde abgeholt. Ist das der vielbesagte Rufus da drüben?« »Ja«, bestätigt Joy und lächelt wider Willen. »Er kann das Wasser nicht in Ruhe lassen. Aber wenn er nasse Füße kriegt, fängt er an zu schreien.« »Ist es denn hier sicher, wo all die Versuchstierjäger unterwegs sind?« »Die Suche ist eingestellt. Ich glaube, ein paar von denen haben es übertrieben.« »Ich hab gesehen, wie sie ein Reh anschleppten.« »Das Ganze war keine gute Idee«, sagt sie. »Sie fahren also nach Hause?« »Ja«, lügt Billy. »Ich warte nur auf meine Mitfahrgelegenheit.« »Wollen Ihre Eltern das noch durchziehen, diese Sache?« »Morgen, nehme ich an. Ja. Morgen ist ihr achtunddreißigster Hochzeitstag. Mein Vater ist ganz scharf darauf, an diesem Tag zu sterben, das symbolische Datum läßt er sich nicht entgehen. Dabei ist heute der größere Tag für sie. Heute ist der Tag, an dem sie ihre Eltern verlassen haben, an dem sie durchgebrannt sind. Morgen ist der Hochzeitstag, aber der heutige Tag ist der bedeutendere.« »Fliegen Sie nach Hause?« fragt Joy. »Nein, ich fahre mit dem Zug«, sagt Billy, weil sie eh weiß, daß er lügt. »Aber ich komme rechtzeitig. Ganz bestimmt. Ich werde sie stoppen.« Billy sieht sich, wie er die Tür eintritt, ins Schlafzimmer rennt, ihnen den tödlichen Eismatsch aus den Händen schlägt, Plastiktüten von ihren Köpfen herunterreißt, er sieht sich sogar, wie er Doris durch Handauflegen heilt und Abe herbeizerrt, damit sie sich alle miteinander umarmen können – all das ist in der
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Lüge enthalten, als wäre das Lügen ein Sport der Superhelden. »Das ist gut«, sagt Joy. Sie greift in die Tasche und holt eine Zigarettenpackung heraus, die unter dem schmiegsamen Druck ihres Schenkels gelitten hat. »Wollen Sie?« »Ich rauche nicht«, sagt Billy wegwerfend ... »Ach, Scheiß.« Er nimmt die Packung und zieht eine verbogene Zigarette heraus, die er glattstreicht, dann anzündet – der angenehmste Teil des Rauchens. Sie schmeckt kühl und minzig und durchzieht seine Lunge wie ein Kälteschock. »Was ist das?« fragt er. »Menthol.« »Das ist ja fast beängstigend.« »Ich mag den Geschmack.« Billy nimmt einen neuen Zug. In seinem Kopf dreht sich schon ein kalter Pfefferminzwirbel. »Beängstigend auf interessante Art«, präzisiert er und klopft die Asche ab, was sehr befriedigend ist, so daß er es gleich wieder tut und immer so weitermachen könnte, schon ungeduldig, weil die Asche nicht schnell genug wächst. »Wann geht Ihr Zug?« fragt Joy. »Ich weiß nicht genau.« Es gibt, findet er, mindestens ein halbes Dutzend Arten, die Zigarette zu halten, von denen keine ideal für seine Finger geeignet ist. »Was glauben Sie, was passiert, wenn man stirbt?« fragt er mit einer gewissermaßen existentialistischen Geste. »Man kommt in den Himmel oder in die Hölle. Je nachdem.« Billy kann seine Enttäuschung nicht verhehlen. »Glauben Sie das wirklich?« »Klar.« »Also beten Sie, gehen zur Kirche und lesen die Bibel?«
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»Ja.« »Jesus Christus als Ihr Heiland?« »Aber ja.« »Ich meine das nicht kritisch.« »Doch. Aber das ist in Ordnung.« »Ich glaube an gar nichts«, sagt Billy und versucht sich ziemlich erfolglos an einem effektvollen Rauchring. »Ich glaube nicht mal ans Nichts, ich meine, manchmal denke ich, da kommt nur ewige Finsternis, und manchmal denke ich, wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann ist es eins nach eigenem Entwurf – daß der letzte Gedanke, was immer der sein mag, für immer andauert. Wahrscheinlich glaube ich an ein großes Dazwischen, das Nichts als Teil von etwas anderem. Aber insgesamt gesehen bin ich ziemlich durcheinander.« Billys Stimme zittert vor Ehrlichkeit und Nikotin. »Das waren zwei schwere Wochen für Sie«, sagt Joy. Ihr Blick ist ein sanftes Schulterklopfen. »Irgendwie schon.« »Sie sind noch ein bißchen wackelig im Kopf.« »Könnte sein.« Mit gequälter Miene nimmt er einen letzten, mageren Zug, dann schnipst er die Kippe elegantverächtlich über einen imaginären Torpfosten. »Aber ich habe mir gedacht, vielleicht muß ich nicht zu dieser Sterbeveranstaltung meiner Eltern nach Hause.« »Sind Sie wirklich so gefühlskalt?« fragt Joy. »Mentholisiert«, erwidert Billy. »Es sind Ihre Eltern.« »Und ich bin der Sohn, bla-bla-bla. Und am Ende des Tages, wenn alles gesagt und getan ist und Mama, Papa und Kind alt genug sind, um zu wissen, wer die größere Verantwortung hat, verstehen Sie, wer soll da das meiste
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Verständnis aufbringen? Die oder ich? Wer soll den ersten Schritt machen?« »Spielt das eine Rolle?« »Absolut.« »Warum?« »Ich weiß nicht. Einfach so.« »Das ist kein Wettkampf. Es gibt keinen Sieger oder Verlierer.« Billy lenkt ab, indem er mit dem linken Fuß einen Stein freischarrt und aufhebt, einen wohlgeformten Brocken, schartig, aber gut in der Hand liegend, ein Stück Geröll von einem Gebirge, das längst verwittert ist, zusammengeschmolzen zu einem Rest, der sich nun auf seiner Handfläche erhebt, aber da Billy die Geologie ein Rätsel ist, hält er nur einen simplen Stein in der Hand, den er, einen Baum anvisierend, davonschleudert, mit kräftigem Schwung und einer gewissen Lust an der Erzeugung von Geschwindigkeit, am vollen Einsatz seiner Kräfte, obwohl er für Sport nie etwas übrig hatte, während der Stein auf sein Ziel zufliegt und es um einen Meter verfehlt, was Billy aber nicht ärgert, höchstens reizt, es noch einmal zu versuchen, wozu er aber nun wirklich zu alt ist. »Also unternehmen Sie gar nichts?« fragt Joy. »Ich weiß nicht, ob es Sinn hat, etwas anderes als gar nichts zu unternehmen«, sagt Billy. »Fahren Sie nach Hause, Billy.« In diesem Licht sieht der Hudson aus wie eine riesige Quecksilberlache. Rufus hat die Lust am Steinewerfen verloren, jetzt spielt er Verbrecher auf der Flucht, er hastet geduckt über den Bahndamm, rennt vergeblich gegen den Zaun an, krallt die Finger in die Maschen. Er ist groß und kräftig gebaut wie ein Footballspieler, aber auch ziemlich
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rund, so daß sein Bauch, denkt Billy, ein leichtes Ziel ist, eine Stupa für Schläge und Püffe, die der sanftmütig aussehende Rufus, die zehnte Inkarnation der Fettleibigkeit, ohne Protest hinnehmen muß. Durch den Zaun hindurch mustert er Billy mit dem Mißtrauen eines Jungen, der weiß, daß er noch kein Mann ist. »Rufus, das ist Billy Schine«, sagt Joy. »Hi, Rufus.« »Hey.« Rufus erklettert unverdrossen den Zaun. »Sei vorsichtig«, sagt Joy. Aber für seine Größe ist Rufus ein guter Kletterer. Als er oben ist, genießt er erst einmal die Aussicht aus drei Metern Höhe und jagt seiner Mutter Angst ein. »Komm runter«, kommandiert sie. Nach einer kleinen Trotzpause gehorcht er. Er springt aus halber Höhe ab und landet in einer Kämpferpose, sehr zur Freude seiner Mutter, die sich auf die Knie schlägt, jetzt komm aber her! Rufus hat es nicht eilig. Jeder Schritt erfordert einen stummen Befehl seiner Mutter. »Schau dich doch mal an«, sagt sie und zieht ihn näher wie einen Clubsessel. »Maschendrahtzäune kennst du von zu Hause. Alles andere nicht.« »Ich glaube, da war ein Bär.« »Ich hoffe nicht.« »Oder Mr. Bigfoot.« Joy packt seine Hände. »Unter deinen Fingernägeln könnten Regenwürmer leben.« »Hast du geraucht?« fragt Rufus. »Nein.« »Hey, wollen wir uns ein Kanu besorgen?« »Ich glaube nicht.« Joy zieht Rufus an sich, als wollten ihn unsichtbare Kral-
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len von ihr fortzerren, Rufus sträubt sich zum Schein und läßt schließlich zu, daß sie sich an ihn schmiegt. Billy schaut weg, diese Geste verdient Diskretion, denkt er. Mit einer Art Schamgefühl blickt er auf seine Hände. »Du hast geraucht«, sagt Rufus. »Ein bißchen«, gibt sie zu. Wie hält man es aus, der zu sein, der man ist? fragt sich Billy. Wie findet man sich ab mit dieser Tatsache? Wie wird man fertig mit dieser Diagnose? »Ich hab Hunger«, sagt Rufus. »Wie wär’s mit ein paar Doughnuts und Milkshakes?« Rufus macht einen Luftsprung. »Au ja!« »Wollen Sie mitkommen?« wendet sich Joy an Billy. »Ich kann nicht«, sagt er. »Haben Sie Pläne?« »Nur kurzfristige.« Joy steht auf und macht sich bereit zur Rückkehr in die Zivilisation. »Wenn Sie eine Bleibe brauchen, die nächsten paar Tage oder so, wir haben ein Klappbett. Kein Problem.« »Ich glaube, ich komme zurecht.« »Nur für den Fall.« Sie geht auf Billy zu, greift nach dem Kugelschreiber, der an ihrem Revers klemmt, und da sie keinen Zettel dabeihat, nimmt sie seinen Arm. Zum ersten Mal ohne Gummihandschuhe. Sie klappt seine Armbeuge auf, legt den roten Einstich frei, wo die Kanüle saß. »Wie in alten Zeiten«, sagt sie. Der Kugelschreiber streikt ein wenig, sie drückt kräftiger auf. »Ich finde die Vene nicht«, scherzt sie. Endlich sind zehn Ziffern auf die Haut geschrieben und nachgemalt, Joy schnalzt zufrieden mit der Zunge. »Rufen Sie uns an, wenn Sie was brauchen.« Sie verdunkelt den Himmel wie eine Sonnenfinsternis.
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»Danke für alles«, sagt er. »Das war doch mein Job.« »Auch wieder wahr.« »Fahren Sie nach Hause.« Ihre Blicke sind wie Hände, die ihn von Geröll befreien. »Ja.« Joy nimmt Rufus an die Hand und macht sich auf den Rückweg in die Klinik. Billy hört ihn fragen: »Was macht der hier?« »Er wartet auf den Zug«, sagt Joy. »Der hält doch hier nicht, oder?« »Ich glaube nicht.« »Warum wartet er dann hier?« »Ich glaube, er hat eine falsche Auskunft bekommen.« Billy nimmt alles in sich auf, das Wasser, den blauen Himmel, die wenigen Wolken, die vielen Flugzeuge, deren dünne Kondensstreifen allmählich zu dunstigen Darmschlingen zerfließen, die Bäume, die sanften Windstöße, die Äste, bewegt wie von knarrenden Kinderschaukeln, die Vögel, die Hitze, den Staub, den Geruch, die Hitze über den Kiefern und dem Waldboden, die Kriebelmücken, die Käfer, die Ameisen, das moosige Grün, das Braun, den roten Koffer, seine Pose, das Aufgesetzte dieser Pose, den Maschendrahtzaun, die Schienen, die Steine, das Ufer, die kleinen Wellen, die der einsamen Figur entgegenschwappen, die das alles in sich aufnimmt. Billy steht auf. Er geht zu der Stelle, wo seine Kippe gelandet ist, und steckt sie ein. Mitten auf dem Weg, wie ein Traumbild, befremdend und alltäglich zugleich, ruht ein Hund. Billy erstarrt. Es ist ein Labradormischling, schwarz mit dem weißen Fleck der
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Urhunde auf der Brust. Billy fragt sich, ob ihn der Hund sieht, aber der bleibt unbewegt liegen, mit offenem Maul und hängender, feuchter Zunge. Auf seinen Rücken ist eine Satteltasche geschnallt, aus Nylon, zerrissen und schmutzig. Billy wüßte gern, ob die externe Infusionspumpe auch in der freien Wildbahn funktioniert, ob sie weiter ihr Unheilmittel verspritzt. Er setzt den Koffer ab. Der Hund spitzt die Ohren. Die Ohren sehen aus wie gebrochen, als wäre er als Hundebaby hart angefaßt worden. »Na, du?« ruft Billy. Der Hund reagiert mit telegen geneigtem Kopf. Billy duckt sich, klatscht sich auf die Knie und gurrt ihm Koseworte zu. »Na komm, mein Kleiner, komm schon, komm, ja, bist ein guter Hund, ein schöner Hund, na, komm schon her zu mir.« Der Hund macht keinerlei Anstalten, und Billy überlegt. Er könnte ihn mitnehmen, mit ihm von hier verschwinden. Er sieht sich schon auf Wanderschaft mit diesem krank gemachten, arzneimittelverseuchten Hund, sie beide als unzertrennliches Paar. Scheiß auf Honeysack, scheiß auf Gretchen, scheiß auf die Eltern, nur noch dieser Hund. »Komm, na komm, mein Junge.« Der Hund steht auf und schüttelt sich. Billy verstärkt seine Lockrufe, geht näher heran, bietet ihm die Hand zum Beschnüffeln. »Bist ein Lieber, bist ein Guter.« Der Hund betrachtet Billy mit Augen, die tiefbraun und teilnahmslos sind wie schal gewordene Coca-Cola. Zehn Schritt Entfernung, jetzt acht, Billy denkt sich schon einen Namen aus. Doug, denkt er. Doug the dog, von Douglas, was soviel wie schwarzes Wasser heißt. »Hi, mein Hübscher.« Ein kerniger, einsilbiger amerikanischer Name. »Ja, bist ein guter Hund!« Billy ist noch vier Schritte entfernt, der Hund bläht die Nüstern. Erschnupper mich, denkt Billy, nimm meinen Geruch auf und mach ihn dir zu eigen. Mit besänftigenden
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Worten, hey, hey, bewegt sich Billy voran. Jetzt ist er nahe genug, um ein bißchen weißen Schaum am Maul zu sehen, ein älterer Hund ist das, vielleicht ein ehemaliger Haushund, Billy macht sich auf die nasse Zunge gefaßt, doch der Hund dreht sich weg und läuft los. Ganz gemächlich, ohne Hast. An einem faulen Baumstamm erweist er sich als Rüde. Dann läuft er weiter, tiefer in den Wald hinein, und schleppt den losen Gummischlauch der Infusionspumpe hinter sich her wie die Leine eines verlorengegangenen Herrchens. Billy schaut ihm nach, bis er verschwunden ist. Da läuft eine neue Spezies, denkt er.
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40 BILLY SITZT AUF DEM Vorplatz, im Schatten der HAMSkulptur, und lehnt sich an die Bronze wie an einen Baum, unter dem sich ruhen läßt. Der Finger geht noch immer drei Stunden nach. Vielleicht gibt es einen Tag, an dem die Zeit genau die richtige ist, an dem die Erde eine besondere Drehung vollführt, an dem die Sonne in Konjunktion mit einer Geste steht und der Bildhauer, wo immer er sei, sich freut. Aber nicht heute. Heute werden Todesgedanken gen Himmel gesandt. Heute ist ein Tag, an dem selbst der Tod sterben könnte. Wer hat das gesagt? Irgend jemand, denkt Billy, mit vielen Worten, die sicher besser gewählt waren. Billy schließt die Augen. Er stellt sich vor, daß sein Kopf der Statue den Puls fühlt, diesem großen, wuchtigen Nichts von einem Monument. Er wartet auf ein Lebenszeichen der Hand, und sei es nur das ferne Echo des Äff-chens, das auf den Finger kletterte. Nun ja. Keine großen Offenbarungen, nur schwächliche Einbildungen. Wenigstens ist die Bronze warm. Billy ist fast eingeschlafen, als ein Geländewagen naht, der so groß ist, wie er noch keinen gesehen hat. Dieser Geländewagen könnte einen gewöhnlichen Geländewagen ohne weiteres verschlucken. Quietschend geht er in die
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Kurve und kommt nicht gerade schliddernd, aber mit einem langgezogenen, schrillen Klagelaut zum Stehen. Das Beifahrerfenster senkt sich. Dr. Honeysack winkt Billy zu, als wäre das Auto eine peinliche Kostümierung. »Hey.« »Hallo.« Billy öffnet den Fond und schiebt seinen Koffer hinein. Der Mann am Steuer ist Anfang sechzig. Er trägt OPKleidung und einen Laborkittel – wie ein Pyjama für Schlaflose, denkt Billy. Der Mann dreht sich um und mustert Billy. Er wirkt zierlich und schlank, seine Nase sieht aus wie eine Tunneleinfahrt. »Riesig, was?« sagt er. »Der ist brandneu. Der Rio Grande. Der größte, der nicht als LKW besteuert wird.« »Billy Schine«, unterbricht ihn Honeysack. »Das ist Dr. Nathanael Marx.« »Hi.« Dr. Marx wendet ruckartig, die wulstigen Reifen sorgen für sprunghafte Beschleunigung. »Dieses Monster hat Airbags auf der Fahrerseite, seitlich, vorn und oben, dasselbe auf der Beifahrerseite, dasselbe auf dem Rücksitz. Wenn wir zu Schrott gefahren werden, pumpt sich das Ding auf, und wer uns zu Schrott fährt, der ist noch viel übler dran. Glauben Sie mir, ich hab’s gesehen. O Mann, das war ein Anblick. Man muß nur mal sehen, was passiert, wenn ein Accord in einen Suburban reinkracht, dann weiß man, es ist Krieg, und man muß mithalten beim Wettrüsten. Der reine Wahnsinn, ich geb’s ja zu. Aber was würde ich lieber behandeln? Glassplitter im Gesicht oder eine Enthauptung? Hmm, mal überlegen.« Dr. Marx bremst nur unmerklich ab, als sie die Torwache passieren. Obwohl keine Musik läuft, schlägt er ein Trom-
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melsolo aufs Lenkrad und bremst nach dem Baßbeat eines Bossa Nova; er scheint mit der Straße zu tanzen. Honeysack hingegen fürchtet, daß die Airbags explodieren. »Ich bin ein begeisterter Autofahrer«, erklärt Dr. Marx. »Ich bin vernarrt ins Fahren. Als junger Spund, als Medizinstudent, hab ich von Sportcabrios geträumt. Die Ärzte in meiner Stadt fuhren alle die heißesten Schlitten. Das waren die Zeiten, als Ärzte noch als reich galten. Oh, ein Doktor, der muß ja reich sein! Heute ein Witz. Aber wenn man mal erlebt, was bei 120 Sachen mit einem Porsche passiert, dann besorgt man sich lieber einen Panzer.« Dr. Marx mustert Billy im Rückspiegel. »He, Sie, ich bin ein Fan ungezügelter Leidenschaft!« ruft er. »Ich will es bloß nicht auf die blöde Art sein.« Honeysack dreht sich zu Billy um. »Dieser Mann ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Traumatologie.« Dr. Marx schüttelt das Lob ab. »Ich war’s vielleicht.« »Er hat das ABC der Notfallmedizin mitentwickelt.« »Tolle Leistung aber auch!« »Und den Einsatz der Rückenschiene bei Verdacht auf Wirbelverletzungen durchgesetzt.« »Jetzt schmeicheln Sie mir aber.« »Die Rückenschiene war vorher nicht Standard.« »Trotzdem heißt sie nicht Marx-Schiene«, sagt Dr. Marx. »Und die Ambu-Tasche«, ergänzt Honeysack. »Ist ja wohl nicht zu vergleichen mit der Ringer-Lösung und dem Swan-Ganz-Katheter, die zwei Ganoven hab ich gekannt. Einmal hab ich Hank Heimlich auf dem Kongreß getroffen, bevor er der Heimlich wurde, der für den Heimlich-Handgriff berühmt ist. Netter Kerl. Nicht aufregend, aber nett. Und jetzt? Jetzt hängt sein Name in jedem Restaurant. Ich kann kein ordentliches Steak essen, ohne ein
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bißchen neidisch zu werden.« Weiter vorn steht ein Auto am Straßenrand. Dr. Marx geht vom Gas und beugt sich vor. Er scheint den zeitlosen Ruf Ist hier jemand Arzt? zu erwarten, seine Augen sind stets in Alarmbereitschaft, nicht ängstlich, sondern lauernd, und obwohl seine Motive edel sind – Menschenleben retten! –, wirkt sein scharfes Nagergesicht auf beklemmende Weise blutdürstig. Leider hat das liegengebliebene Auto nur eine Reifenpanne. »Trauma«, sagt Dr. Marx, »ist nur was für junge Männer. Und schauen Sie sich den jungen Mann auf dem Rücksitz an. Unser tapferer junger Mann, der bereit ist, mit uns zu marschieren. Cryopräservation, das ist die Medizin der Zukunft. Und wir fahren hier zu dritt in diesem Rio Grande. Na? Na? Spürt ihr nichts, Jungs?« Dr. Marx öffnet das Seitenfenster, damit der Wind an der Unterhaltung teilnehmen kann. »Wir bewegen uns hier an vorderster Front, egal, womit wir in die Geschichte eingehen.« Honeysack öffnet sein Fenster einen Spaltbreit, um das sanfte Drängen des Windes wirken zu lassen. »Also«, richtet sich Dr. Marx an Billy. »Haben Sie den Abschiedsbrief?« »Ähm. Ja.« »Dürfte ich einen Blick draufwerfen?« »Kein Problem.« Billy reicht den Zettel nach vorn. »Ist noch ziemlich unfertig«, sagt er. »Ich bin sicher, er ist gut.« Dr. Marx faltet den Zettel auseinander. »Es tut mir leid«, liest er im Fahren, der Straße in allen Lebenslagen gewachsen. »Es tut mir sehr, sehr leid.« Das war’s schon? Ein bißchen mager, meinen Sie nicht? Es tut mir leid. Es tut mir sehr, sehr leid. Das sehr kommt ja gut. Aber ich hätte gern ein bißchen mehr, damit Ihre seelische
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Verfassung deutlicher wird. Warum tut’s Ihnen leid? Für wen tut’s Ihnen leid? So was in der Art. Mehr Tiefe, mehr Gefühl. Ich möchte mehr von Ihnen sehen, nicht nur tut mir leid. Ist zwar Ihre Sache, aber denken Sie drüber nach. Noch ist Zeit. Und unterschreiben müssen Sie. Nur mit dem Vornamen. Das ist entscheidend. Na, so schlimm wird’s schon nicht. Sie werden nicht sterben, nicht heute jedenfalls. Und ich denke mir, ein Koronarverschluß ist wahrscheinlich am günstigsten, die naheliegendste Erklärung.« Dr. Marx gibt ihm den Zettel zurück. »Also brauchen Sie den gar nicht?« fragt Billy. »Doch, für alle Fälle. Und meiner Meinung nach sollte ein bißchen mehr drinstehen. Aber hey, ich bin kein Schriftsteller.« »Ich auch nicht«, sagt Billy. »Ich hatte Sie irgendwie zur schreibenden Zunft gerechnet. Sie waren doch in Yale, oder?« »Harvard«, korrigiert Billy. »Harvard und Cornell in meinem Wagen!« schnurrt Dr. Marx. »Nicht schlecht für einen Rutgers-Mann.« »Ich würde dann noch Papier brauchen«, sagt Billy. »Schreiben Sie einfach auf dem Tut-mir-leid-Zettel weiter.« »Sie scheinen da ja ein Experte zu sein«, sagt Billy. »Ich war Arzt in Vietnam«, erwidert Dr. Marx, als wäre das eine plausible Erklärung. »Gab es da viele Selbstmorde?« »Kaum. Auf die Idee ist dort keiner gekommen. Sich umzubringen, das war, als hätte man denen, die krepiert sind, den Finger gezeigt. Aber viele haben einen Abschiedsbrief geschrieben und im Stiefel versteckt, damit sie ihn, wenn sie tot waren, am Mann hatten. Wir Ärzte haben
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die Briefe immer gefunden, eingewickelt in Plastik. Beichten haben wir sie genannt, und gelesen haben sie sich wie Entschuldigungen, als wären die tödlichen Schüsse aus dem eigenen Gewehr gekommen. Herzzerreißende Briefe, immer voller Liebe, selbst wenn die Eingeweide in Fetzen hingen. Deshalb bin ich in die Traumatologie eingestiegen – um solche Briefe überflüssig zu machen.« Dr. Marx klammert sich fester ans Lenkrad und scheint die Straße nur aus dem Augenwinkel zu beobachten. »Was für eine gigantische Verschwendung. Aber ich denke, das wissen wir alle.« Er wendet sich an Dr. Honeysack. »In Vietnam habe ich meine erste Fingerreplantation gemacht. Der Ehering hat einen Abriß verursacht.« »Wirklich?« »Ja. Ein Mechaniker blieb mit dem Ring hängen, als er hinfiel – und ratsch!« »Nett.« »Das ist in die Literatur eingegangen.« »Da bin ich sicher.« »1969 war Replantation noch eine Novität.« Billy blickt verdrossen auf seinen Zettel. Aber er freut sich, daß Gretchens Nummer auf der Rückseite steht. Wie ein versteckter Hinweis. Man könnte sie anrufen und sich wundern, warum die Nummer auf dem Brief steht. War es Liebe? könnte man sich fragen. Und sie könnte den Hörer auflegen, mit einem kategorischen Nein. Stimmt die Nummer überhaupt? Billy überlegt, ob er sich bei den Ärzten ein Handy borgen soll, entscheidet sich aber für die Ungewißheit, damit diese Möglichkeit nicht zur Lüge wird. Er reißt die Ecke mit der Nummer vom Zettel ab. Dort ist nicht Gretchens Platz. Nein, sie wird zu seinem brieftaschengroßen Stadtplan
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von Lower Manhattan gesteckt, den er immer bei sich hat, weil ihn die Straßen dort verwirren. »He, Sie haben doch das Ding nicht zerrissen, oder?« fragt Dr. Marx. »Nein, nur eine Ecke abgerissen.« Billy unterschreibt mit Billy. »Aber das, was ich geschrieben habe, bleibt. Ich mache keine Änderungen.« »Hab schon verstanden. Künstler dulden so was nicht«, sagt Dr. Marx zum Rückspiegel. »Und Sie sind ein Künstler.« Nächste Abfahrt ist Albany. Die Skyline besteht aus einem Zufalls-arrangernent von fünf oder sechs mittelgroßen Hochhäusern. Sie ähneln kleinen Geschäftsleuten, die entschlossen sind, diese Stadt zur City zu machen, während die Regierungsgebäude ein wenig zu laut Hauptstadt! schreien. »Schauen Sie, diese Stadt«, sagt Dr. Marx. »Nicht wie Miami oder New York, wo ich schon gearbeitet habe. Meinen Facharzt hab ich Mitte der Siebziger in Detroit gemacht. Ich kann Ihnen sagen! Die Nachtschichten vergingen wie im Fluge mit all den Gangs, dem Drogenhandel und dem rasanten Fortschritt der Waffentechnik. Multiple Stichwunden, Schußverletzungen, Überdosen. Vierzehn Stunden waren wie fünf Minuten. Dann wollten sie einen schlafen schicken. Schlafen? Wie wär’s mit einer Runde Racket? Und jetzt bin ich hier in Albany. Ich gebe ihnen eins der besten Traumazentren der Staaten, und was geben sie mir? Autounfälle. Hin und wieder eine Stichverletzung. Farmunfälle. Herzinfarkte, Aneurysmen, kleine Jungs mit Frakturen im kleinen Finger. Ich sage immer, wir sind ausgebildet für den Krieg, nicht für Albany. Gott sei Dank habe ich meine Forschung. Honeysack?«
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Honeysack löst sich vom Luftstrom des Fensterspalts. »Ja?« »Haben Sie Mr. Schine die Formulare gegeben?« »O Mist!« Honeysack öffnet seine Aktentasche. »Billy«, sagt Dr. Marx, »das sind standardmäßige Einwilligungserklärungen und nicht so standardmäßige Haftungserklärungen, und was ich Ihnen ...« »Ich unterschreibe alles«, sagt Billy. »Wir sollten wahrscheinlich ...« »Ich will nichts wissen. Ich brauche keine Informationen. Ich hab das alles satt. Ich will einfach unwissend bleiben und machen, was Sie mir sagen. Lassen wir’s dabei.« Billys Stimme klingt nicht mehr cool, sie zittert vor Ernst. Honeysack reicht ihm die Formulare nach hinten, ein Konvolut der Totalabsicherung. Billy auf der Rückbank des Geländewagens unterschreibt zwanzigmal mit seinem Namen, jedesmal sieht die Unterschrift ein bißchen anders aus, Bodenwellen, Kurven, Stopps wirken genauso auf sie ein wie die kleinen Willkürlichkeiten der Handschrift und das Streben nach dem perfekt hingeworfenen William A. Schine, jede Unterschrift wird von einem kleinen Ächzen begleitet. Das Albany Medical Center Hospital ist eine Ansammlung von Nebengebäuden, die das einst imposante Hauptgebäude umgeben. Der Dreißigerjahreklotz aus Backstein, Granit und Schiefer wird fast von den Neubauten verschluckt. Ein riesiger Glaskasten ragt hinter dem alten Glockenturm in die Höhe. Reiche Sponsorenpärchen – Ira und Libbey Flaxon, Jonah und Beatrice Hockner – überbieten sich gegenseitig mit immer neuen Anbauten. Die Intensivstation ist in einem gesonderten Haus untergebracht, dem C. Alan Lipton Trauma Center, das durch ein kropfar-
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tiges Atrium mit dem Hauptgebäude verbunden ist. Dr. Marx fährt in seine reservierte Parkbucht ein und zieht die Handbremse an – offenbar nur, denkt Billy, weil es ihm Spaß macht, den Hebel zu packen und einrasten zu lassen. Er dreht sich zu Billy um. »Folgen Sie mir einfach, Sie beide, folgen Sie mir und stellen Sie möglichst keine Fragen. Da drinnen soll Ruhe herrschen, und Leute, die Fragen stellen, haben da sowieso nichts zu suchen. Aber wenn ein Schulbus verunglückt ist oder Gott endlich beschlossen hat, einen Politiker niederzustrecken, nun, dann entgeht uns diese Gelegenheit, und wir können uns nur noch ausmalen, was hätte sein können.« Dr. Marx blickt Billy in die Augen, nicht auf seine Nase oder seine Stirn, sondern mitten in seine Augen, wo sich die Pupille versteckt, wenn sie vom hellsten aller Lichtstrahlen getroffen wird. »Okay, Billy. Sind Sie sicher, daß Sie das wollen? Sie können nein sagen, aber sagen Sie es jetzt und nicht in zwanzig Minuten.« »Ich will es.« Dr. Marx beugt sich vor. »Ich habe eine Frage, und diese Frage lautet: Warum? Bitte sagen Sie nicht, es ist das Geld. Wieviel geben wir Ihnen? Dreißigtausend, oder? Das klingt zwar wie eine Menge, aber glauben Sie mir, es klingt nur so. Wenn’s das Geld ist, dann gebe ich Ihnen das Geld. Ich schreibe Ihnen einen Scheck, und Sie können gehen, wenn Sie’s nur wegen des Geldes tun. Das kann ich nicht dulden, daß Sie’s nur wegen des Geldes tun. Nicht bei dem, was ich vorhabe.« »Ich tu’s nicht nur wegen des Geldes.« »Warum dann?« »Ich möchte etwas tun, das die Wissenschaft vom Menschen voranbringt.«
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»Das kommt mir wie Blödsinn vor.« »Ist es wahrscheinlich auch«, gibt Billy zu. »Aber ich will, ich will wirklich, irgendwas Großes, verstehen Sie? Etwas ... etwas ...« Das Wort versteckt sich in seinem Kopf, weit weg von der Erklärung, die er abgeben will, einer Erklärung voller Wahrheit und Schönheit und einer diesem Augenblick angemessenen Würde. Aber mehr als etwas fällt ihm nicht ein. »Ich weiß nicht, wie ich’s ausdrücken soll. Warum ich das will? Weil es etwas ist.« Dr. Marx lächelt. »Okay«, sagt er und öffnet die Tür. »Gehen wir.« Bei seinem Eintritt erwacht das Traumazentrum zum Leben, als würde er ein blutendes Mädchen hereinschleppen. Angestellte kommen gerannt und sagen Hallo, aber kein weiteres Wort. Small talk steht nur Dr. Marx zu. Er wendet sich an die Oberschwester. »He, Janice, wie sieht’s aus?« »Nichts los. Eine gebrochene Kniescheibe«, sagt Janice. »Skateboarder?« »Mountainbiker.« »Sonst noch was?« »Ähm, Kinderkram, alles jugendfrei. Ach ja, Abgeordneter Kesler.« »Was hat er diesmal?« »Brustschmerzen.« Dr. Marx, großspurig, an Honeysack und Billy gewandt: »Deshalb sind wir nun hier. Fünfzig Millionen Dollar für die Phantomschmerzen von Regierungsmitgliedern.« Er dreht sich zu Janice um. »He, Janice, tun Sie mir den Gefallen und schalten Sie OP 5 bis auf weiteres auf Nicht stören.« »Was gibt’s denn?«
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»Nichts von Belang für Sie, aber wir brauchen Ruhe.« »Okay.« »Ich schneide jedem den Kopf ab, der es auch nur wagt, ihn durch die Tür zu stecken. Okay?« Janice beäugt Billy wie einen Kunstfehleranwalt, und Billy, dem ihr Blick unangenehm ist, versucht, unschuldig zu lächeln, obwohl er fürchtet, daß seine Nervosität dieses Lächeln in ein Rattennest verwandelt. OP 5 sieht aus wie die OPs, die er aus dem Fernsehen kennt – bis auf die Temperatur, die sehr niedrig ist, die Stille, die nur durch ein leises Summen gestört wird, den Geruch, der ein unheimlich sauberer ist, und all das verbindet sich zu dem Gefühl des Winteranfangs, das sich einstellt, wenn man morgens auf einmal seinen Atem sieht und weitergeht, obwohl man nichts Warmes angezogen hat. An der Wand hängt eine Uhr, aber das ist ein Raum, der die Zeit meidet, denkt Billy, wie ein Spielcasino. Die Luft ist ähnlich übersättigt mit Sauerstoff- als gälte es, die Gespenster der Verlierer zu vertreiben. »Okay«, sagt Dr. Marx und klatscht in die Hände. »Was wir vorhaben, ist nicht sehr kompliziert. Am schwersten wird es sein, die Sal-GidLösung immer auf gleicher Temperatur zu halten, der Fünfgradmarke, auf die es ankommt. Meine Erfindung, Billy, ist ein gekühltes Schnellinfusionssystem.« Dr. Marx rollt eine Apparatur heran, die einem gefrorenen Getränkeautomaten ähnelt, mit Schläuchen an der Stelle, wo eigentlich die Becher hingehören. »Das ist es im wesentlichen«, sagt er. »Eindrucksvoll«, erwidert Billy. »Darauf sind dreizehn Patente angemeldet«, erklärt ihm Honeysack. »Oh.«
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»Die Schweden haben das für mich gebaut«, sagt Honeysack. »Oh.« »Gute Arbeit. Das Sal-Gid ist meine persönliche Erfindung.« »Oh.« »Das Sal-Gid ist der geniale Teil der Angelegenheit«, sagt Honeysack. »Oh.« Die drei stehen verlegen herum, als wäre als nächstes Sex angesagt. »Was jetzt?« fragt Billy. »Ich denke, Sie ziehen sich aus bis auf die Unterwäsche«, sagt Dr. Marx. »Okay.« »Honeysack macht die Anästhesie.« »Ich hab darin Übung«, sagt Honeysack zu Billy. »Mir egal«, sagt Billy und wirft Hemd und Hose in eine Ecke. »Soll ich mich auf den Tisch legen?« Dr. Marx nickt. Billy klettert an Bord, starrt die Lampen an, zwei runde OP-Lam-pen, Seite an Seite und neckisch angewinkelt, als würden sie ihr Objekt amüsiert betrachten. Billy wechselt zwischen seitlich ausgestreckten Armen und über der Brust verschränkten Armen. Honeysack schließt ihn ans EKG an; über seiner Schulter, auf einem Monitor, gehen die Meßkurven miteinander ins Rennen. An Billys rechtem Arm und linkem Fuß werden Kanülen gesetzt. »Das sind nicht meine Sachen. Noch nicht«, erklärt ihm Dr. Marx. »Die sind nur für die Katheter da und ein paar Flüssigkeiten. Meine Sachen kommen erst, wenn Sie k. o. sind.« Billy nickt. Er ist weder nervös noch ruhig. Dreißig Mi-
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nuten lang laufen die Ärzte umher, prüfen, bereiten vor, dieweil Billy an einem Ort liegt, wo schon wer weiß wie viele Menschen gestorben sind oder überlebt haben, gerettet und wieder zusammengeflickt wurden. Billy spürt Dämonen an seinen Schulterblättern und an seinen Fußballen zupfen. Das helle Licht über ihm scheint zu kichern. Billy atmet tief. Er fängt an zu zittern. Seine Blase drückt, er erwägt die Frage, ob er auf die Toilette gehen darf, beschließt aber, es sein zu lassen. Vielleicht ein Gebet für alle Fälle? Unweigerlich aber und zu seinem Unglück denkt er, wenn er an Gott denkt, immer an einen weißen Bart und wallendes weißes Haar, einen tiefen Generalbaß, umfangen von gleißendem Licht. Sein Gott ist ein einziges Klischee. Die Kälte zieht ihm Brustwarzen und Hoden zusammen. Billy könnte schwören, daß die Blutgefriermaschine des Dr. Marx die Baßmelodie am Anfang von »Summer Nights« in Grease summt – leicht nachzumachen, aber ein verfluchter Ohrwurm. Vielleicht eine Designidee der Schweden, ein bißchen Karaoke für die Todeskandidaten. Es ist zwar lächerlich, aber Billy hört ganz deutlich den Lärm von den Sitzreihen und Campingtischen des Films. Dr. Marx beugt sich über ihn. »Okay«, sagt er. »Wir sind bereit, wenn Sie es sind.« »Meinetwegen kann’s losgehen.« »Sie können sich’s noch anders überlegen.« »Nein, ist gut.« »Ich werde Sie jetzt anschnallen. Okay?« »Okay.« Die Riemen sind gutes altes Leder. Dr. Marx legt ihm die Hand auf den Kopf. Er ist kein geschäftiger Kolibri mehr, sondern ein großer blauer Reiher. »Dann bis bald, okay?«
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»Okay.« »Es wird Ihnen nichts passieren. Das verspreche ich.« »Okay.« »Im Moment könnten Sie genausogut mein Sohn sein«, sagt er. Bevor Billy fragen kann, was er damit meint, hat ihm Honeysack eine Maske über Mund und Nase gestülpt und gesagt: »Tief einatmen und von zwanzig rückwärts zählen.« Dr. Marx verdreht die Augen. »Was ist?« fragt Honeysack. »Wenn Sie doch nur ein einziges Mal etwas anderes sagen würden!« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel: Singen Sie Happy Birthday oder so etwas.« »Schön. Zählen Sie nicht, singen Sie Happy Birthday«, sagt Honeysack zu Billy. Das Gas, das er einatmet, schmeckt süßlich, als würde in seinem Mund Zuckerwatte erzeugt, und Billy fängt an zu singen – Summer lovin’ had me a blast –, im Einklang mit Dr. Marx’ Erfindung hält er die Melodie durch – Summer lovin’ happened so fast –, stellt er sich Meeresstrand und Ozeanwellen vor – Met a girl crazy for me – und Sommerspaß unter dem Pier, da Ferien ja vorübergehend befreien – Met a boy cute as can be – von dem, was man zu Hause ist, selbst wenn einem der Text wegbleibt – Summer fun dance in the sun – und man nach besten Kräften versucht, sich durchzumogeln – Until no on those summer nights – in der Hoffnung, daß sie es nicht merken, und wenn doch, vielleicht darüber lächeln und einstimmen in das Wella-wella-wellaumph.
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41 WEISSES LICHT verfleckt zu zartem Gelb, als hätten Augen zu angestrengt hingeschaut und die Spuren eines Kampfes hinterlassen. Es muß noch mehr Morphium hinzugekommen sein, weil der Schmerz (davor ein ferner Klang, das Echo deines lautesten, schrillsten Schreis aus unbekannter Richtung) nur noch eine rauhe Stimme ist, die Billy die Zusammenfassung des letzten Tages ins Ohr flüstert, als er aus einem Schlaf unbestimmter Dauer erwacht (fünf Minuten? fünf Stunden?) und einen unglaublichen Durst verspürt. Seine Zunge, seine ganze Mundhöhle kommt ihm vor wie ein alter rosa Schwamm von der Sorte, die seine Mutter nie wegwarf, weil Schwämme kein bestimmtes Sterbedatum kennen, nur die ewige Wacht am Beckenrand. Sein Atem muß entsprechend riechen – unwiderstehlich widerlich. In diesem Raum zu erwachen ist eine kleine Überraschung, mit dem Tropf, den diversen Monitoren, den Lautsprecherdurchsagen für die Krankenschwestern – »Katheter auf Zimmer 204« –, den Dämmplatten an der Decke, die besagen: Jammer nur, es hört dich keiner. Jedesmal, wenn Billy aufwacht, vergißt er; jedesmal, wenn er aufwacht, weiß er nicht, warum er hier ist. Niemand erklärt ihm was. Mit seiner Brust muß etwas passiert sein. Jeder
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Atemzug tut weh, als wäre sein Brustbein mit Stacheldraht umwickelt. Übel ist ihm auch, aber es ist kein Brechreiz, eher Schwindel, als hätte er einen Taxifahrer im Schädel. Irgendwelche Erinnerungen? Ja, ein paar. Irgendwas mußte er schlucken, erinnert er sich. Er wurde liegend umhergekarrt, die Lichter über ihm zogen vorbei wie tausend Filme, erinnert er sich. Dr. Marx, der auf ihn herabstarrte, erinnert er sich, in einer Art Mönchsgewand, dessen Faltenwurf ein Lächeln beschrieb. Dann ein Wegsacken, das Gefühl des Sinkens durch etwas hindurch, was vorher fest war. Er erinnert sich dumpf an ein Gestoßen- und Geschobenwerden, ein Zurechtgelegtwerden durch geübte Hände. Er erinnert sich an Es wird alles gut und Er scheint zu sich zu kommen und Hallo, Mr. Schine, vorgebracht von gesichtslosen Stimmen. Er erinnert sich daran, fachgerecht angehoben worden zu sein, als die Laken gewechselt wurden. Und an sein Stöhnen. Aber das sind nur Erinnerungsblitze, unwirklich wie Fieberträume. Nichts ist fest. Seine Knochen unter der Haut scheinen frei zu schweben, seine Augäpfel könnten in Helium gelagert sein. Und er weiß nur, daß er Durst hat. Er erinnert sich an die Klingel am Bett – wenn Sie etwas brauchen –, die an einer Schnur hängt wie ein selbsttätiger Katastrophenmelder. Aber das Ding ist abgerutscht und schaukelt unerreichbar zwischen Matratze und Fußboden. Zum Glück ruht die Fernbedienung (die den Fernseher und das Bett steuert) wohlverwahrt an seinem Schenkel. Ja, ans Fernsehen erinnert er sieh auch, an das Vorbeirauschen der gestrigen Abendsendungen, fernes Stimmgewirr, wie wenn ein kleiner Junge krank im Bett liegt, während seine Eltern unten eine Party geben. Billy drückt auf den – nein, das Kopfende hebt sich – hier, den Einschaltknopf für den
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Fernseher, dann auf die Lautstärke. Der Moderator von This Old House fängt an zu brüllen. »Dank jahrzehntelanger Feuchtigkeit muß dieses ganze Holz ersetzt werden.« Billy würde sich wegschmeißen für diese Art von Schaden. »Teuer?« »Sehr.« Aber der Fernseher brüllt nicht wirklich. Der Ton kommt aus der Fernbedienung in seiner Hand, der große Lautsprecher bleibt gedämpft aus Gründen des Lärmschutzes. Billy stöhnt. »Gefällt Ihnen die Sendung?« Billy blickt zur Seite, das heißt, er krümmt den Hals auf ziemlich erbärmliche Weise. In der Zimmerecke sitzt ein Mann, eine zerlesene Zeitung auf dem Schoß. Er ist Ende sechzig, Anfang siebzig, grau und faltig, der typische Einwanderer, denkt Billy, aufgewachsen mit Schlagball und Murmeln, in die Backe gekniffen von Großmüttern, die unter einem Dach wohnten mit den Müttern, die mit Nähen hinzuverdienten, und den Vätern, die jeden Job annahmen, der sich bot, und mit Geschwistern, die für sich selbst sorgen mußten. Nach all den Jahren sieht er immer noch aus wie neu angekommen. Seine Augen haben diesen vorsichtig prüfenden Blick für Menschenmengen, den Feuerleiterblick, den Ausdruck derer, die bei Gott mit allem rechnen, es aber bald überstanden haben, denn in der Ferne winkt schon die Rente. Gekleidet in legeren Fünfzigerjahrestil, in einen anthrazitfarbenen Anzug ohne Krawatte und braune Halbschuhe, die eher bequem als elegant aussehen, wirkt sein Kopf ohne Hut merkwürdig nackt. »Weil ich diese Sendung liebe«, sagt er mit angenehm rauher Stimme, Pfeifenrauch statt Zigarette. Jedes Wort wird einzeln hingeworfen und wieder
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aufgelesen. Er steht auf und zieht den Stuhl an Billys Bett. Man sieht, das Gehen ist nicht seine Stärke. Nein, er ist ein Sitzer, hochgezogene Schultern, Ellbogen auf der Suche nach einer Tischkante oder zumindest einem Paar Knie. »Ich hab zwei linke Hände«, sagt er, »aber diesen Jungs könnte ich ewig zuschauen.« Nichts an ihm kommt Billy bekannt vor, obwohl er sich gibt wie ein Onkel, der gelegentlich zu Besuch kommt, ein Onkel, der alle Familiengeheimnisse ausplaudert. Er hat buschige schwarze Augenbrauen, ein Andenken an die ehemalige Haarpracht, die sich nun zurückgezogen und ausgedünnt hat. Aus der Nähe gesehen sind seine Augen vertrauenerweckend, ihr Glitzern ist schon ausreichende Begrüßung und scheint zu besagen: Ich kenne dich, und das ist genug. »Was die so können, das imponiert mir«, sagt er. Billy nickt. »Etwas bauen, reparieren, renovieren, dazu braucht man Geschick.« Billy macht ein nachdenkliches Gesicht. Der Mann beugt sich vor, die Arme auf dem Bauch gekreuzt. »Wie fühlst du dich, Junge?« Er sagt wirklich Junge, als wäre das eine Welt, in der man noch Junge sagt. »Durstig«, sagt Billy. Aus der Kanne, die auf dem Nachttisch steht, gießt ihm der Mann ein Glas Wasser ein. Der erste Schluck versetzt ihm einen Stich. »Schmerzen?« »Nicht so schlimm.« »Ja, klar. Ich hab einen dreifachen Bypass. Ich weiß, was du durchmachst, du mußt nicht den Tapferen spielen. Tut verdammt weh. Knacken dir den Brustkorb auf wie einen Garnelenschwanz. Wirklich wahr. Aber glaub mir, es wird
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besser, Junge, jeden Tag ein bißchen, bis es dann das Essen ist, das am meisten wehtut, und die verfluchten Schwestern dich wecken, um dir zu sagen, daß du schlafen sollst.« Billy, nach einem zweiten, ergiebigeren Schluck, fragt: »Was ist denn passiert?« Der Geheimnisvolle, der ihn Junge nennt, schüttelt den Kopf – nicht mit Nachdruck, aber mit Verachtung. »Die Kerle haben dir den Brustkorb geöffnet, in heller Panik. Erst haben sie dich an den Rand des Todes gebracht, und da bliebst du, nichts half, ganz bestimmt nicht ihre kleine Wunderdroge und auch sonst nichts in ihrem Repertoire, also haben sie dich aufgebrochen und zurückgeholt. Wie durch ein Wunder, sagten sie. Ich glaube, der Kerl, Dr. Marx, hat seine Sache verdammt gut gemacht, auch wenn er dich beinahe umgebracht hätte.« »Es hat also nicht funktioniert?« »Es ist auf der ganzen Linie gescheitert.« Gescheitert. Billy schließt die Augen. Er will vom Morphium mitgenommen werden wie ein Surfer von einer guten Welle, aber die Dosis ist zu sanft, der Wellengang bei weitem nicht so kräftig wie erwartet, und Billy treibt im flachen Wasser. Gescheitert. »Aber mach dir keine Sorgen, Junge«, sagt der Mann. Da fragt Billy: »Kenne ich Sie?« Der Mann lächelt, aber es ist kein frohes Lächeln. Seine schweren Wangen drücken Bedauern aus. »Ich bin dein nächster Verwandter«, sagt er. »Clem Ragnar.« Billy fragt sich, ob man ihm den Schreck ansieht. »Der Ragnar?« »Ich nehme an.« »Von Ragnar & Sons?« »Das war Wunschdenken von meiner Seite«, sagt er so
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traurig, daß sich weitere Fragen erübrigen. »Aber Ragnar bin ich. Bitte nenn mich Clem.« »Ich fürchte, ich bin nicht ganz auf dem laufenden, Clem«, sagt Billy. »Aber es ist schön, dich nach so langer Zeit kennenzulernen. Mein Kopf ist ...« Die Wörter schwimmen ihm davon. Er spricht wie in einem Traum, der von Sirup handelt. »Ich weiß, warum du hier bist, einen Teil meiner Schulden hab ich beisammen, die Hälfte etwa, das heißt, ich kriege das Geld sehr bald.« Genug, hör auf, sagt Ragnars erhobene Hand. »Diesen Polsheck bringe ich um. Ich hab den Brief gelesen, den er dir geschickt hat. Der denkt wohl, wir sind Halsabschneider. Ein verkrachter Buchhalter ist er, weiter nichts. Wäre er nicht mit meiner Tochter verheiratet, wäre er längst weg vom Fenster. Das einzige Geld, das er eintreibt, ist das aus meiner Brieftasche. Nun ja, die liebe Familie.« »Er ist also nicht Ihr Muskelmann?« fragt Billy. Ragnar verdreht die Augen. »Das einzige, was er plattmacht, ist sein Auto. Ich meine, klar, wir alle nehmen uns gewisse Freiheiten mit unseren Briefen, damit sie ihre Wirkung haben, aber er verschwendet viel zu viel Energie auf den Stil. Mach dir keine Sorgen wegen Polsheck. Ich hab deinen Fall jetzt persönlich übernommen. Ich bin dein nächster Verwandter. Am Freitagabend haben sie im Büro angerufen und wollten mich unbedingt sprechen, es sei wichtig, also nahm ich den Anruf entgegen, und sie nannten deinen Namen, den ich flüchtig kannte, wegen Polshecks Generve, und sie sagten, etwas sei schiefgegangen, du lägst im Krankenhaus und hättest mich als nächsten Verwandten angegeben. Natürlich wußte ich immer noch nicht, wer du bist, aber das Hargrove Anderson Medical kannte ich – ich nehme Calatrix gegen hohen Blutdruck,
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zwei Dollar die Tablette – und nach jahrzehntelanger Erfahrung weiß ich genau, wie sich Panik anhört. Diese Leute waren wirklich in Panik, aber nicht wegen Geld. Ich witterte eine gigantische Abfindung, so wie die redeten. Also strich ich meine Pläne für den Labor Day, zum Ärger meiner Frau. Schick doch einen Vertreter, sagte sie, natürlich nicht Polsheck, Polsheck gehört zur Familie und wird fürs Grillen gebraucht. Aber die wollten mich persönlich, und ich sagte zu meiner Frau, wenn es das ist, was ich vermute, packe ich die Sache lieber selber an. Ich fuhr also los, um meinen nächsten Verwandten zu besuchen, dem so gewaltiges Unrecht geschehen ist. Seitdem bin ich hier. Ich hab dir dieses Einzelzimmer besorgt, was nicht gerade leicht war.« Billy schaut Ragnar an, der sich die Hände reibt, seine Knöchel mit dem Daumen bearbeitet, diese alten Hände, die aussehen wie die Wurzeln seiner Arme. »Und was soll ich sagen?« fährt Ragnar fort. »Ich bin heilfroh, daß ich die Sache persönlich übernommen hab. Kaum kam ich hier an, winkten sie mich in ein Konferenzzimmer mit lauter verdammten Anwälten, die so taten, als wären sie keine, und erläuterten mir die Situation. Die Schuld liege bei zwei kriminellen Forschern, Honeysack und Marx, die hätten ohne Genehmigung des Hargrove Anderson Medical gehandelt, ihr Tun sei völlig unakzeptabel, sie seien beide fristlos entlassen worden und würden nie wieder in der Forschung arbeiten. Okay, sagte ich. Dann fingen sie an, mir Papiere unter die Nase zu halten. Sagten, sie besäßen eine wasserdichte Patienteneinwilligung, was immer das sein mag, von dir unterschrieben und bestandsfest vor jedem Gericht. Sehen Sie, sagten sie zu mir, er hat ausdrücklich erklärt, daß er sich freiwillig zur Verfügung stellt, daß er
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über alle Risiken informiert ist, er hat sogar einen Regreßverzicht unterschrieben. Und immer so weiter. Bumm, bumm, bumm. Sonny Liston. Ich stellte mich dumm, gab den Betroffenen und sagte, du wärst wie ein Enkel für mich, aber das war Hinhaltetaktik, weil ich erst wissen mußte, was da lief. Sie sagten mir, daß du für diese ungenehmigte Studie dreißigtausend Dollar bekommen solltest, auf dem Papier zumindest, aber in Anbetracht der Umstände, wollten sie ganz offen eingestehen – was ein Witz war, weil alles vorher Gesagte das Gegenteil von offen war –, daß ihnen eine negative Presse Schaden zufügen könnte. Ja, im Ernst. Und aus diesem Grund wollen sie nun die Vergütung auf hunderttausend Dollar aufstocken. Du mußt nur ein Stillhalteabkommen unterschreiben, und das Geld gehört dir. Kannst du mir folgen? Billy nickt. »Du siehst aus, als wärst du eingeschlafen.« »Nein, nein, ich höre.« »Nicht schlafen.« Ragnars Blick ruht fest auf ihm wie zwei Hände auf seinen Schultern. »Denn jetzt wird es wichtig«, sagt er. »Du unterschreibst nichts. Hörst du? Hunderttausend sind ein Nichts für diese Kerle, eine Million wäre nur ein kleiner Anfang. Sie haben dich fast umgebracht, und wer weiß, welche bleibenden Schäden dein Herz abgekriegt hat. Nein, diese Kerle werden noch viel, viel höher gehen. Ich denke an fünf, sechs Millionen, vielleicht mehr, denn wenn das in die Zeitungen kommt, sitzen sie in der Scheiße. Dann drohen Verfahren, immense Strafen. Bis jetzt ist es nur ein kleines Feuer, und bis Alarmstufe drei werden sie alles tun, um es unter der Decke zu halten. Aber überlaß mir die Verhandlungen. Glaub mir, ich bin gut in diesen Dingen. Leuten Geld abknöpfen, das ist
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meine Spezialität. Ich vertrete dich für vierzig Prozent aller Einnahmen, das Geld, das du mir schuldest, ist schon enthalten. Ein richtiger Anwalt würde dir fünfzig Prozent abknöpfen. »Sind Sie Anwalt?« »Nein, aber du brauchst keinen Anwalt, glaub mir, Junge. Ein Anwalt würde alles versauen. Schleppst du einen Anwalt an, kommen sie mit zehn. Mit ihren Anwälten werden sie dich immer übertrumpfen. Ehe du dich versiehst, steckst du in einem dicken Prozeß, die Kosten gehen ins Astronomische, und dein Schicksal liegt in den Händen einer Jury aus Putzfrauen und Fernfahrern. Selbst wenn du gewinnst, kommen Berufungen und noch mehr Berufungen, auf diese Weise halbiert sich dein Gewinn wieder. Nein, überlaß mir die Sache. Mein Gott, ohne mich wärst du nicht mal hier. Ich bin schon so was wie dein Partner. Jetzt werden sie auf Zeit spielen und dir sagen, das Angebot steht nur so und so lange, aber was du auch tust: Unterschreibe nichts und sprich möglichst nur in meinem Beisein mit denen. Ich kenne die Tricks. Sitz es einfach aus. Laß dir Morphium geben. Sag ihnen, die Schmerzen sind unerträglich. Schrei nach Mami, schlaf bis in die Puppen, was immer. Aber unterschreibe nichts. Sagen wir mal so: Der Zeitpunkt für das Ganze könnte günstiger liegen. Das verdammte Labor-Day-Wochenende. Ich muß nämlich weg, sonst ergeht’s mir noch schlimmer als dir. Wegen meiner Frau. Sie ist versessen auf das letzte Sommerwochenende, als wären nicht am nächsten Wochenende auch noch 25 Grad. Ich versteh das sowieso nicht. Offiziell ist der Sommer am 23. September zu Ende, zur Tagundnachtgleiche, also was soll der Aufstand? Was wird da überhaupt gefeiert? Der amerikanische Arbeiter? Riecht mir nach
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Kommunismus. Aber sie läßt nicht mit sich reden. Ich bin am Dienstagnachmittag wieder da, bis dahin habe ich eine Art Vertrag entworfen, für unser Gewinnspiel. Schließlich wollen wir diesen Schweinen an die Gurgel, sie richtig bluten lassen. Ich ruf dich morgen an. Hast du verstanden?« »Ja«, sagt Billy erschöpft. »Nichts unterschreiben.« »Ist klar.« Ragnar steht auf und knurrt: »Am liebsten würde ich dir die Hand brechen. Nur um sicherzugehen.« Er läßt sich nicht anmerken, daß es ein Scherz ist, abgesehen von einem kurzen, unlustigen »Ha!« und einem eher unsanften Griff an Billys Kinn. »Jetzt ruh dich aus«, sagt er und schlurft zurück zu Zeitung und Aktentasche. Noch einmal bewundert er die Zimmermannskünste im Fernsehen. »Wenn ich mir meine Hütte selber bauen müßte, würde ich in einer Höhle wohnen. Wir sehen uns, Junge.« Billy sackt weg, durch die Matratze, er winkt, seine Hand baumelt über ihm, als er einschläft, mitten im Winken, Winken, Winken, und schon vergißt, warum er winkt, und sich wundert, warum keiner seine Hand nimmt.
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42 DAS TELETHON LÄUFT, das Telethon des Verbands der Muskel-dystrophiker, das nun schon seit mehr als dreißig Jahren von Jerry Lewis moderiert wird. Billy stolpert in der fünften Stunde in die Sendung hinein – der Stand ist 7 455 635 Dollar – und bleibt zugeschaltet. Des öfteren vom Morphium umnebelt, verschläft er Tausende und Tausende von Dollar, wacht auf beim nächsten Riesenscheck oder dem nächsten Star oder dem Videoporträt eines von Duchenne geplagten Jungen. Billy liegt im Bett, mit drogenumnebeltem Blick, er wird von Schwestern betreut, die hereinkommen und Oh, das Telethon sagen, als wäre es eine vergessene Reliquie, irgendein Ding aus Omas Schublade, das man einmal lustig fand, das jetzt aber nur noch schäbig ist. Billy nickt, steigt auf den Scherz ein, aber wenn sie wiederkommen und er immer noch das Telethon sieht, hat ihr Lächeln etwas Geringschätziges. Wer sieht sich das länger als fünf oder zehn Minuten an? Wer verschwendet darauf Stunden oder gar–Gott bewahre! – den ganzen Tag? Aber momentan kommt Billy das Telethon, nun ja, notwendig vor, wie ein fernsehgerechter Religionsevent, vierundzwanzig Stunden Leid und Hoffnung, ein Fastentag für sterbende Kinder. Und das Morphium hilft. O ja, das Morphium.
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Er kann es sich selbst verabreichen, per Knopfdruck – piep! –, der die Infusionspumpe in Gang setzt. »Soviel Sie wollen, immer, wenn Sie das Bedürfnis verspüren«, hat die Schwester gesagt. »Eine Überdosis ist keine Gefahr. Die meisten Patienten nehmen zu wenig.« Aber nicht dieser. Piep! Piep! Piep! wie eine Autoalarmanlage, nur daß die Polizei tropfenweise kommt und es in Billy nichts zu stehlen gibt. Piep! Sein Brustbein fühlt sich an wie unter Strom. Piep! Seine Brust pulsiert vor Schmerzfreiheit. Piep! Seine Glieder sind so gut wie gar nicht vorhanden, sein Kopf könnte ein Luftkreuz sein. Wo bin ich? Ah ja. Hier. Nur vorübergehend. Piep! Ah, Morphium. Fast wie Morphem, die kleinste bedeutungstragende sprachliche Einheit, und das gefällt Billy – Piep! –, diese Idee – Piep! –, sich das Minimum von Verbundenheit durch die Venen zu pumpen. Das Problem ist nur, daß der Schlaf nie die verheißene Ruhe bringt, sondern in kleinen Münzen ausgeteilt wird; sie addieren sich nicht wie die Spenden für die Schulkinder im ganzen Land, die jetzt mit einem Scheck über 51 345,37 Dollar beglückt werden. Applaus vom Studiopublikum. Billy lächelt. Liebe Kinder. Die Fernbedienung mit dem eingebauten Lautsprecher ruht an seinem Kinn, der Ton ist voll aufgedreht. Der Applaus kribbelt an den Barthaaren, die an seinem Hals sprießen. Wundervoll. Diese Kinder. Unsere Führer von morgen. Gefühlsduseleien von Mr. Jerry Lewis, der den Arm um diese Wunderwesen gelegt hat, das Fußvolk seines Kreuzzugs. Oh, welch glückliche Zukunft steht uns offen! Jerry tränt oder schwitzt oder beides, seine Haut glitzert im Scheinwerferlicht, sein Haar ist obsidianschwarz wie erstarrte Lava auf dem Mount Rushmore. Man sieht, daß er nicht gesund ist. Seine Bräune erinnert an Gelbsucht. Ja, er hätte das diesjährige Telethon beinahe ausfal-
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len lassen – auf ärztliche Anordnung –, aber sei’s drum, er tut’s für die Kinder. Nur der Tod könnte ihn fernhalten, sagt er zum Studiopublikum, und selbst dann würde er sein Bestes geben. Gelächter steigert sich zur Ovation. Seine linke Hand dämpft den Applaus, die rechte verlangt nach mehr. Er nickt, schlägt sich an die Brust, ringt die Hände, verteilt zwanghaft-obsessive Luftküsse. Billy lächelt. In Kombination mit dem Piep! ist das Ganze ein endloser Trip, wunderschön amerikanisch, der Triumph des Optimismus über die Wahrheit. 10 436 856,54 Dollar. Nach serviertem und ignoriertem Sonntagsessen sieht Billy das Videoprofil von Jimmy Rialto, einem Neunjährigen mit Duchenne, der Baseball spielen kann wie jeder andere Junge. Ich laß mich durch gar nichts bremsen, erzählt er forsch wie ein Bowery Boy. Ich bin krank, na und? Viele Kinder sind krank, manche sind schlimmer dran als ich, auch gesunde, man hört ja schlimme Sachen über gesunde Kinder und wie sie mißhandelt werden, wie soll ich mich da beklagen, wo ich so viel Spaß hab und die Red Sox dieses Jahr echte Chancen haben? Red Sox voran! Die Mutter strahlt in die Kamera, der Vater senkt den Kopf unter der Last seiner düsteren Empfindungen. Jimmy sitzt steif im Rollstuhl. Seine atrophierten Muskeln geben ihm das Aussehen eines stahlharten Miniaturbodybuilders. Ein schelmisches Grinsen – und Schnitt. Ed McMahon, Jerrys Assistent, schreit Hiiier ist Jimmy! und wirft die Arme in die Luft, während Jimmy von Mom auf die Bühne geschoben wird und Dad hinterdreintrottet wie ein angebundener Ziegenbock. Das Publikum tobt. Jimmy winkt, hebt triumphierend die Arme, was nicht gut kommt, weil seine ausgemergelten Schulterblätter aussehen wie gestutzte Flügel. Das, Ladies and Gentlemen, nen-
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ne ich einen Ausbund an Tapferkeit. Jerry legt nachdenklich den Finger an Mund. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin, wir alle hier sind, Jahr für Jahr, bis zu dem Jahr, wo wir zu Hause bleiben und uns an all diese Jahre erinnern und die Muskelatrophie im Altersheim für Krankheiten sitzt und mit Polio und Pocken Canasta spielt Jerry küßt Jimmy auf beide Wangen und spricht ein paar persönliche Worte mit ihm, die er allen mitteilt, als Jimmy die Bühne verläßt. Ich hab zu ihm gesagt: He, Jimmy, für mich bist du wie Mickey Mantel, den ich sehr gut kannte. Ed nickt. Toller Bursche! 14 332 509,04 Dollar. Stars von A bis Z, Christopher Atkins, Red Buttons, Neil Carter, Tony Danza, Chad Everett, Fabio, Lou Gossett Jr., Buddy Hackett, Julio Iglesias, Arte Johnson, Casey und Jean Käsern, Rieh Little, Chuck Mangione, Jim Nabors, Tony Orlando, Markie Post, Mickey Rooney, Kevin Sorbo, Rip Taylor, Leslie Uggams, Ben Vereen, Vanna White, Tina Yothers, Pia Zadora singen, tanzen, reißen Witze, zeigen Glamourgarderobe. Da kommt Charo. Und da Yanni. Das dort ist Norm Crosby, den Billy für tot gehalten hat. Sie kommen winkend auf die Bühne, sonnen sich im längst verblaßten Ruhm, geben ihn an Ed und Jerry weiter und betteln nach kurzem Geplänkel um Geld. Nur einen Dollar, wenn jeder einen Dollar spendet, nun, dann hätten wir schon eine Menge Dollars, sagt Charlene Tilton und hüpft dazu auf und ab, sehr zu Jerrys Entzücken. Sie scheinen die Kameras, die Beleuchtung zu inhalieren wie Sauerstoff, ihre große Zeit, egal wie lange sie zurückliegt, nur Wochen oder dreißig Jahre, glänzt ihnen noch in den Augen, und obwohl man sich leicht über diese verzweifelt sentimentalen Wesen lustig machen kann, die uns ihre Zeit schenken, weil sie nichts anderes haben als Zeit, wecken sie für fünf Minuten
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die Erinnerung daran, wer sie einmal waren, und halten sie fest, mit verkniffenen Gesichtern, geballten Fäusten und angespannten Schultern. Billy nimmt diese Leute nicht ernst, nein, das nicht, empfindet aber ein gewisses Mitgefühl. Noch nach dem Applaus und Jerrys Umarmung bleiben sie auf der Bühne, bis sie ach ja, richtig murmeln und winkend hinterm Vorhang verschwinden. 20 455 323,23 Dollar. Das einzige Licht im Zimmer kommt vom Fernseher, auf dem mindere Talente mit ihrem Können glänzen: die Famous People Players, Partner-N-Rhyme, All Night Strut, die High Skating Garcias, Jumpin’ Jimes Band, die K-9S in Flight, die Rock Steady Crew Dancers, die Osmonds Second Generation, Those Darn Accordions, die im nachmitternächtlichen Sendeplatz ihre bislang größte Chance sehen. Billy vermutet, daß sie inzwischen tot sind – Piep! –, seine Eltern, schon einen ganzen Tag lang tot. Wer weiß, ob man sie gefunden hat, oder ob sie noch in ihrem Schlafzimmer liegen, im Bett, aneinandergeschmiegt, und Sendungen wie diese sehen – bis in alle Ewigkeit. »Sie sind tot«, sagt Billy laut, um den Satz auszuprobieren. Im Tod scheinen sie Substanz zu gewinnen, sind keine Ansammlung diverser Frustrationen mehr, sondern ganz konkrete Leichen. »Mein Eltern? Sind gestorben.« Keine Fragen mehr, keine Mehrdeutigkeiten. Er sieht sie im Pyjama, in die Kissen gelehnt, einander bei den Händen haltend, in einer Welt ohne Werbeunterbrechungen, während Miss America 1999 »America, the Beautiful« singt. Ihre Amtszeit ist fast abgelaufen, sie stimmt mit voller Koloratur in den Schlußakkord ein, greift mit der linken Hand nach einer imaginären Leitersprosse, der Fußboden schwindet unter ihr, sie hängt, verliert an Kraft, rutscht von der Note
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ab, bis sie schließlich losläßt und mit einer Verbeugung ins Vergessen sinkt. Tot, denkt Billy, jetzt ist er eine achtundzwanzigjährige Waise. Das gemeinsame Leben nach dem Tod mißgönnt er ihnen nicht. 38 678 932,64 Dollar. Frühstück auf dem Tablett, Sonne im Fenster, Billy – Piep! –träumt vor sich hin, er träumt, daß er über Ragnar schwebt, Ragnar bereitet den Grill vor, holt Eis, stellt Getränke hin, knetet Hackfleisch für die Hamburger oder überläßt das vielleicht seinem Schwiegersohn, damit er mit seinem Cocktail draußen sitzen kann, bei den anderen Ragnars, ein lächerlich geringer Anlaß – Labor Day, ich bitte Sie! –, aber seine Frau hatte recht wie so oft, er ist froh, daß er hier ist und nicht zum Babysitting in Albany; froh, daß er seiner Frau, der betulich werkelnden Ex-Kellnerin, beim Schleppen der Teller und Bestecke zuschauen kann; froh, daß er mit ihr verheiratet ist, nun schon fast fünfzig Jahre; froh, daß er sein Ideal eines aufopfernden, treuen Ehemanns durchgehalten hat, obwohl er selten glücklich war, sie mindestens zehnmal wegen anderer Frauen verlassen wollte, nun aber nicht mehr verbittert ist, sondern schlicht froh; froh, daß er bei ihr geblieben ist, um seinetwillen, des Hauses, der Kinder willen, die nur seinetwegen hier versammelt sind; froh, während sein undurchdringliches Gesicht von ihrem Anblick verklärt wird, Enkelkinder auf Grashalmen blasen, der Ozean klingt wie ferner Autobahnverkehr; froh, weil ihm noch Gott weiß, wie viele Jahre bleiben und sich seine etwas ärmliche Ehe-Investition endlich auszahlt und er nach fünfzig eher unbeträchtlichen Jahren im Gefühl sterben kann, geliebt zu werden, ein lächelnder Ragnar, der sich den Schweiß von der Stirn wischt und sich vornimmt, seiner Frau etwas Nettes zum Hoch-
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zeitstag zu schenken. Liebling, fragt seine Frau, alles in Ordnung? Ragnar nickt und streichelt ihre Hand, weil er weiß, daß die Kinder diesen Krempel lieben, und denkt, als er ihren faltigen Hals sieht, daß sich das Problem mit vierzig Riesen beheben ließe, die er für eine ordentliche 24Karat-Kette von Fortunoff ausgeben würde. 48 001 543,22 Dollar. Und Billy träumt, daß er über Gretchen Warwick schwebt, die durch die Straßen von New York läuft, daß er ihr jede Minute eine andere Art von Schönheit zublitzt, ihre Augenbraue wölbt, während sie ihr Spiegelbild in den vorbeiziehenden Sonnenbrillen erfaßt, hinter denen die Erinnerung an das nackte Gretchen fortglimmt, an das Gretchen auf allen vieren oder an was immer sie sich erinnern, Gretchen auf dem Broadway, vorbei am Broadway and Chambers Building und dem alten Sun Building, wo die Uhr für immer 10 Uhr 17 anzeigt, und Billy stellt sich vor, daß er sie mit einem Goldregen überschüttet, so wie es Zeus mit Danae gemacht hat – beim mit Abstand seltsamsten mythologischen Begattungsakt –, Billy stülpt seine Taschen nach außen und läßt alles fallen, in der Hoffnung, daß etwas von dem, was da unten im Staub landet, ihre Börse füllt, und daß sie seinen wahren Wert ermessen wird. 48 001 644,71 Dollar. Und er sieht Ossap und Dullick, mit Handschellen aneinandergefesselt und abgeführt, Dullick mit protestierend erhobenen Armen (für die Kameras), Ossap mit wundgescheuerten Handgelenken, Dullick mit bandagiertem, von Hunden zerbissenem Arm, Ossaps Kopf kahlrasiert und mit dreißig Stichen genäht. 48 002 704,63 Dollar. Und Chuck Savitch, der langsam stirbt, Zustand unver-
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ändert, abgesehen vom Beschluß der Kirche, daß er nicht, wie anfangs vermutet, eine Opferseele ist, sondern ein Leidensgenosse Christi, was in der Rangordnung der Heiligkeit ein wenig tiefer steht – keine wirklichen Wunder gehen von ihm aus, nur eine übersinnliche Empathie, was viele Pilger zum Abzug bewegt, sehr zur Erleichterung der Mutter, die sich tiefer und tiefer über sein Bett neigt, während Chucks Schwester in der Küche Tee kocht. 48 003 002,82 Dollar. Und Honeysack und Marx und Joy und Rufus und Sally – Billy, der in einem morphiumgeschwängerten Epilog schwelgt, sucht in all diesen Leuten, die ihn nach seinem Tod in Albany hierherbegleitet haben, nach einer Bedeutung, wie auch in seinem Vater, der in der Zimmertür steht, ein zerfließendes Gespenst, das sich möglicherweise verlaufen hat, weil es die Nummer auf der Tür mit einer Zahl auf seinem Zettel vergleicht, ohne sich vom Anblick seines an Schläuchen hängenden Sohns überzeugen zu lassen. Sein Vater? Billy wendet den Kopf in Richtung Tür. Wenn das ein Gespenst ist, ist es sichtlich gealtert. Eine blutunterlaufene Aura umgibt diesen Mann. Untröstliches Haareraufen ersetzt ihm den Kamm, seine Kleidung wirkt förmlich und unpassend zugleich, als hätte er mitten in der Nacht fliehen müssen und in der Eile den besten Anzug erwischt. Aber es ist sein Vater, leibhaftig, wenn auch durchscheinend wie Reispapier. »Abe?« fragt Billy. »Das ist also dein Zimmer?« »Ja.« »Die haben mich ins falsche Zimmer geschickt.« »Oh.« »Die haben mich ins falsche Zimmer geschickt, zu einem
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Mann mit verbundenen Augen und festgebundenen Armen und Beinen, und ich dachte, ich meine, ich wußte, daß das nicht du warst, aber ich stand da fast fünf Minuten, weil es eine Weile her ist.« Abes Stimme klingt ausgetrocknet und kurzatmig, als könnte seine Lunge immer nur ein paar Wörter beatmen. »Hat er etwas gesagt?« fragt Billy. »Wer?« »Der Mann?« »Nein, er war sediert. Die Schwester hat so geredet, als wäre er mein Sohn. Sie sagte, er ist immer noch eine Gefahr für sich selbst. Das hat sie gesagt. Bis ich endlich sagte, das ist nicht mein Sohn, und sie mich hierhergeschickt haben.« »Wie spät ist es?« fragt Billy. »Ich weiß nicht. Kurz nach elf.« Billy stellt sich einen Do vor, der von keinem besucht wird außer von einem Vater, der sich verlaufen hat. Abe steht in der Tür, noch immer unschlüssig, ob er eintreten soll, seine Hände umklammern einen braunen Umschlag, er sieht aus wie ein Schuljunge, der Angst hat, verprügelt zu werden. »Sie haben mich gestern angerufen«, sagt er zu Billy. »Sie haben mir gesagt, du bist im Krankenhaus, und ich soll so schnell wie möglich kommen. Sie haben mich sogar hergeflogen, im Privatflugzeug, und mir gesagt, was passiert ist.« »Wer ist ›sie‹?« »Die Leute, die sich um dich kümmern.« »Komm bitte rein, Abe.« Aber Abe bleibt, wo er ist. »Du siehst nicht sehr gut aus.« »Du siehst besser aus als erwartet«, erwidert Billy, noch
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immer verwirrt. »Ich dachte, du wärst tot, du und Mom. Ich dachte, am Sonnabend wäre es passiert.« Abes Hände knüllen den Umschlag. »Sie ist Donnerstagnacht gestorben. Mitten in der Nacht hat sie aufgehört zu atmen. Es gab keinerlei Anzeichen an dem Tag, keine Verschlechterung ihres Zustands, nichts. Sie war wie immer, und dann war sie tot. Und ich war bei ihr, an ihrer Seite, als es passierte.« Donnerstagnacht, denkt Billy, seine Erinnerung schiebt den Vorhang beiseite und sieht die Tiere auf dem Vorplatz, irgendwann um diese Zeit, in der Nacht, als er wach war oder schlief, Gretchens Hand hielt, das unheimliche Rascheln im Flur hörte, nach der Abfahrt der S.H.A.M.E.Lieferwagen ins Bett zurückkroch, zu erregt, um zu schlafen, irgendwann um diese Zeit war seine Mutter gestorben, und Billy war um keinen Deut klüger. Yeats würde die rechten Worte dafür finden, denkt Billy, ja Yeats, den Billy in der Schule falsch ausgesprochen hat, wie Yeets, als wäre er ein Nebenprodukt von Keats; ja, Yeats wäre in der Lage, dieses hohle Gefühl in seinem Magen in eine angemessene Elegie zu übersetzen. Auf meine jüngst verstorbene Mutter. Aber der Tod erzeugt eine Leiche, keine Metapher. Und das Zitatenlexikon ist nicht greifbar, liegt irgendwo bei seinen persönlichen Sachen und läßt Billy mit diesem hohlen Gefühl allein und mit seinem unerwartet aufgetauchten Vater, der in der Tür steht, als hätte die Erde gebebt. »Ich bin froh, daß du bei ihr warst«, versucht Billy zu sagen. »Es war mitten in der Nacht, aber ich war bei ihr. Ich hab die Schwestern angefleht, etwas zu unternehmen, sie zu rütteln, diese Geräte einzusetzen, aber sie sagten, sie machen grundsätzlich keine Reanimationen.« »Sie war so lange krank«, sagt Billy.
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»Ich hätte ein Heim nehmen müssen, wo sie reanimieren.« »Abe, bitte komm rein.« Aber Abe rührt sich nicht. »Vielleicht war es für sie am besten so«, sagt Billy. »Sie ist im Schlaf gestorben, friedlich.« Ein Juckreiz auf seiner Kopfhaut steigert sich, bis er kratzt, er kratzt zu heftig, das Kratzen erzeugt noch mehr Juckreiz. Schuppen rieseln herab, sammeln sich unter seinen Fingernägeln. »Es tut mir so leid, Abe.« »Wir hatten Pläne.« »Ich weiß.« »Ich war dabei, alles vorzubereiten, Ich hatte nicht viel Zeit am Donnerstag. Ich wollte sie am Freitag nach Hause holen, damit wir noch einen Tag im Haus verbringen konnten.« »So, wie es gekommen ist, ist es besser.« »Es wäre alles perfekt gewesen. Ich hätte dort sein sollen, aber ich war nicht dort. Ich war nicht bei ihr, als sie starb. Ich hatte zuviel zu tun. Ich sagte auf Wiedersehen, und als ich sie wiedersah, lag sie im Krematorium. Sie haben sie so schnell weggebracht.« Abe blickt nach unten, als läge da Doris auf einem Kühltablett. »Und als ich sie sah, sah sie gut aus, gesund geradezu. Ich hatte Kleider für sie, aber ich dachte mir, wozu, sie kann auch so verbrannt werden. Ich bin nicht weinend über ihr zusammengebrochen. Ich hab einfach auf sie hinabgeschaut und war – nun ja – erleichtert. Das ist das Gefühl, an das ich mich erinnere. Erleichterung. Sie ist weg, und ich muß meinen Plan nicht wahrmachen. Ist das nicht schrecklich? Das habe ich gedacht. Mein erster Gedanke. Der Sonnabend wäre kein Problem mehr, weil du dich nicht gemeldet hast, und wer weiß, was
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geworden wäre, wenn sie überlebt hätte und ich gestorben wäre oder umgekehrt, also Gott sei Dank, dachte ich.« »Das war eine lange Quälerei für dich«, sagt Billy. »Da ist deine Erleichterung doch nur natürlich. Sie hat endlich ihren Frieden.« Der Juckreiz scheint sich weiter auszubreiten, seine Finger bestehen darauf, weiterzukratzen. »Nun komm schon rein, okay?« Endlich kommt Abe hereingeschlurft. »Ich hab etwas für dich«, sagt er und bleibt am Bett stehen. »Ich glaube, es ist wichtig.« Er überreicht ihm den Umschlag. Ihr Testament, denkt Billy, ihr letzter Wille, den sie niedergeschrieben hat, als sie von ihrer Krankheit erfuhr. Da drinnen steckt, was ihm seine Mutter hinterlassen hat. Billy spürt das Gewichts des Inhalts. Ja, sie hat ihn immer verstanden, stellt er sich vor, sie hatte nur keine Worte dafür. Ihre Augen, ihre Art wegzuschauen, hatten ahnen lassen, daß sie es wußte und daß es ihr leid tat, daß sie aber keine andere Wahl hatte, als den Vater über ihn zu stellen. Vielleicht hat sie ihm alles vermacht, was wahrscheinlich nicht viel ist, aber möglicherweise mehr, als er geglaubt hat. Vielleicht ist sie gestorben, um Billy einen Vater zu schenken. Sorge für ihn, scheint die Spreizklammer zu besagen. »Ich hab unterschrieben«, sagt Abe. »Was unterschrieben?« »Sie sagten im Flugzeug, es ist sehr wichtig, daß ich unterschreibe, weil du wegen deines Zustands nicht dazu in der Lage bist. Deshalb brauchten sie meine Zustimmung, um handlungsfähig zu sein.« Abe scheint erfreut über seine väterliche Pflichterfüllung. »Wann war das?« »Heute morgen. Sie waren so froh, daß sie mich gefunden hatten.«
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Billy öffnet den Umschlag. Drinnen steckt ein dicker und anscheinend unumstößlicher Entschädigungsvertrag des HAM. Die Summe beläuft sich auf eine Viertel Million Dollar, der Geschädigte verpflichtet sich zum strikten Stillschweigen, Zuwiderhandlungen werden mit einer Strafe von zehn Millionen Dollar geahndet. Jede Seite ist mit Abraham Schine abgezeichnet, genau neben den roten Stikkern, die aus dem Vertrag herausschauen wie blutige Haifischflossen. »Sie wollen, daß du auch unterschreibst«, sagt Abe. »Kann ich mir vorstellen.« Frischer Schmerz durchbohrt das dumpfe Gefühl in seiner Brust. Billy greift zum Morphiumspender – und läßt ihn wieder los, der Schmerz darf sich in seiner Brust festsetzen. Billys Vater schwankt ein wenig. Er könnte der einzige Überlebende in einem Maisfeld sein, hinter sich das brennende Flugzeug, ein Mann, der versehentlich am Leben geblieben ist. »Hast du einen Stift?« fragt Billy. Das leichte Vibrieren seiner Kehle verursacht Höllenqualen. Blanke Nervenenden schreien nach Piep! Abe gräbt in seiner Jacke – »ähm, ja« – und reicht Billy einen Werbekugelschreiber des Hargrove Anderson Medical. »Hast du das gelesen?« fragt Billy neugierig. »Soviel Zeit war nicht, aber sie haben mir das Wichtige gesagt. Sehr nette Leute.« Abe lehnt sich ermattet an Billys Bett. »He, Jerry Lewis«, sagt er, als er die letzten Minuten des letzten Telethons dieses Jahrhunderts sieht. Charo ist weg. Rich Little ist weg. Roy Clark ist weg. Alle sind sie weg. Keine Forscher, die verkünden, wie nahe die Rettung ist. Keine Fernsehchefs, die Riesenschecks präsentieren. Nur Jerry. Die Kamera holt sein Gesicht nahe heran. Er
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hält das Mikrofon wie eine Sektflöte nach durchzechter Nacht. Sechzig Jahre im Geschäft. Wahnsinn. Der kleine Joseph Levitch aus Newark, New Jersey, der Jude mit dem TrickÄffchen und dem Imitationstalent. Über ihm hängt seine Karikatur als Zierde eines geradezu königlichen Wappens: der junge Jerry mit Hasenzähnen, blöde feixend. Abe zeigt auf den Bildschirm. »In seiner großen Zeit mit Dean Martin hat er pro Woche zehn Riesen verdient, und das in Dollar von 1950.« Billy nickt. Er zieht die Knie an, um sich eine schmerzende Schreibunterlage zu schaffen. Er reißt die Sticker ab und klebt sie an seinen Schenkel. Kleine Füße scheinen auf seiner Brust herumzutrampeln, auf und ab und immer im Kreis herum. Jerry hat jetzt den alten Hollywoodschmelz in der Stimme, er spricht im Ton ernstgemeinter Aufrichtigkeit. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Herzinfarkte und Tablettensucht, Zusammenbrüche und Trennungen, mal Kassenmagnet Nummer eins, mal Wer-war-das-gleich? Aber dieses Telethon, diese Kinder, die haben mich immer begleitet. Seine Lippen küssen jedes Wort, seine Zunge ist ein rosa Ausrufezeichen. Das alles. Er zerteilt die Luft mit seinen Händen. Ihr alle. Das ist fast keine Ironie mehr, das ist zu glitschig, um sarkastisch zu sein, das ist so verlogen, daß es schon wieder wahr ist. Ich hier. Er zeigt in die Kamera, mit großspurig gespreizten Fingern, aber er sieht müde aus, er schwankt, sein Kinn ist hochgereckt, als würde er nach Luft schnappen. Und ihr mit mir. Die Nachmittagssonne hat ins Fenster gefunden und steigert die Raumtemperatur gerade so weit, daß Billy zu schwitzen beginnt, was aber dank der Klimaanlage ein leichtes Frösteln auslöst. Abe setzt sich auf die Bettkante.
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Billy bemerkt, daß er ein wenig bucklig ist, die Nackenhaut zwischen Kragen und Haaransatz ist rot und schuppig. Billy klebt ihm einen roten Sticker auf die Jacke, eine kleine Wunde. Jerry preßt die Faust auf den Mund, als litte er unter emotionalem Schluckauf. Er bedankt sich bei der Band, die besten Musiker der Welt, bei der wundervollen Crew, den Kameraleuten, dem Assistenten, dem Mädel an der Anzeigetafel und schließlich seinen Showfreunden. Ich will Ihnen mal was von den Entertainern erzählen. Ich stamme von den Entertainern ab, meine Eltern waren Entertainer, also kenne ich die Entertainer, und das eine weiß ich genau: Entertainer haben eingroßes Herz. Gott hat die Entertainer mit Talent und Energie gesegnet, weil sie so ein großes Herz haben. All die Entertainer in dieser Show, all diese großartigen Menschen, ich habe sie zu Hause angerufen und ihnen von den Kindern erzählt, die ihre Hilfe brauchen, von der Forschung, die Geld benötigt, ich habe ihnen erzählt, daß wir kurz davor sind, dieses Monster ein für allemal zubesiegen, und wissen Sie, was jeder dieser Entertainer zu mir sagte? Jeder fragte nur. Wann und wo? So sind sie, die Entertainer. Sie tun’s aus Liebe. Ja, aus Liebe. Glauben Sie mir. Jerry schlägt sich an die Brust, dann lacht er, lacht sein berühmtes Idiotenlachen, aber er bricht mittendrin ab, als würde er etwas hören, ein bedrohliches Geräusch, ein Rasseln in seinen Lungen. Sein einst elastisches Gesicht sucht nach einem anderen Ausdruck. »Der geborene Komödiant«, sagt Abe. Seinen Rücken zieren zwei weitere rote Sticker. Billy ist fast durch mit den Papieren. Seine Finger verkrampfen sich, sie haben es satt, immer nur seinen Namen zu schreiben. Die Unterschriften sehen schon aus wie die Seismographenkurve einer lächerlichen Erschütterung,
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deren Schockwellen Ragnar an der Atlantikküste von New Jersey, deutlich spüren wird. Billy denkt an ein Klirren von Eiswürfeln im Gin, das Ragnar auf seinen Tremor zurückführt und nicht auf den Zusammenprall von Stift und Papier. Abe schüttelt den Kopf. »Die jungen Leute verstehen nicht, wie großartig er war«, sagt er. »Die sollten ruhig mal anerkennen, wie jung er geblieben ist.« Er zieht einen Rubik’s Cube aus der Jackentasche und dreht achtlos an ihm herum. »Ist das Moms Würfel?« fragt Billy. »In den letzten Jahren hat sie sich nicht mehr dafür interessiert, aber ich hab ihn in ihrem Nachttisch gelassen, für alle Fälle.« Billy überlegt, ob er seinen Vater um das Kniffelding bitten soll. Er könnte ja mal probieren, ob er den Lösungsweg noch weiß, ob seine Hände und sein Kopf noch beherrschen, was einmal Routine war. Aber Abe hat einen festen Griff, und überhaupt, was soll’s. Der noch ältere und noch kränkere Jerry starrt auf einen Fleck unterhalb der Kamera. Wissen Sie, was mich gerettet hat? Diese Kinder. Diese tapferen Kinder, sie haben mir das Leben gerettet. Sie haben mir mehr geschenkt als nur den Ruhm. Diese Kinder. All die Kinder, die ich kannte und die nun begraben sind. Sie würden wahrscheinlich dreimal die Hollywood Bowl füllen. Obwohl jede Geste einstudiert wirkt, jedes Wort ausgeklügelt, jede Pause ausgeschlachtet, ist da etwas in diesen entkorkten Augen, als würde Jerry Lewis von Joseph Levitch gespielt, als hätte sich der kleine, alleingelassene Joey Levitch, der Sohn von Entertainern, hinter die Bühne geschlichen, um den Auftritt von Mom und Dad zu belauschen. Jerry senkt den Kopf, hebt den Zeigefinger,
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und die Band setzt ein. Abe auf der Bettkante rückt sich zurecht. »Karussell«, sagt er aus unerfindlichen Gründen. Es klingt wie die Manifestation einer unteren Gottheit. »Was?« fragt Billy. »Dieser Song, er ist aus Karussell. Rodgers und Hammerstein. ›You’ll Never Walk Alone‹, heißt er.« »Ja, stimmt.« »Ein wundervolles Musical. Aber traurig.« Jerrys dünne Stimme bricht – When you walk through a storm– sie zittert – Hold your head up high –, der Ton zerrinnt ihm wie Wasser in der Hand – And don’t be afraid of the dark. Der Bildschirm füllt sich mit Fotos, den Namen und Daten der 1998 und 1999 gestorbenen Jungen. Charlie Sedgwick, 1979–1999, Fred Hanrahan, 1981–1999, Miguel Fettem, 1983–1998. Gestorben seit dem letzten Telethon, hineingestoßen in die Grube eines Jahres. Billy unterschreibt die letzte Seite. Abes Kopf sackt langsam weg, einer weichen Landung entgegen, und ruckt wieder hoch. »Ich bin so müde«, sagt er. »Ich glaube, ich habe seit Wochen nicht geschlafen.« »Möchtest du Wasser?« »Bitte.« Mit Anstrengung und unter Schmerzen gießt Billy ihm ein Glas Wasser ein. »Apropos Energie«, sagt Abe über Jerry, der neue Kraft aus dem Crescendo schöpft. Der geborene Komödiant schmiegt sich in den Song – And the sweet silver song of the lark –, Jerry jault förmlich – Walk on through the wind – durch die zusammengebissenen Kronen – Walk on through the rain –, während Abe sein Wasser trinkt. »Kannst du ein bißchen lauter stellen?«
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Billy schiebt seinem Vater die Fernbedienung hin. Abe streift die Schuhe ab, zwei ungleiche Socken strömen Geruch aus. Though your dreams be tossed and blown. Jetzt trampeln größere Füße auf Billys Brust herum, auf und ab und immer im Kreis. Walk on, walk on. Die Sprechanlage über dem Bett knistert vor Wehmut. With hope in your heart. »Hast du Hunger?« fragt Billy. »Ich sterbe vor Hunger.« Billy greift nach dem Tablett, einer leichtverdaulichen Vollmahlzeit. Das Gewicht, obwohl unbeträchtlich, bringt ihn fast um, aber Abe nimmt das Tablett begeistert, fetzt die Folie herunter wie ein Löwe und ißt, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Jerry hält mit Mühe durch – And you’ll never walk alone –, kämpft sich weiter durch den Text – You'll –, rafft alle Kräfte zusammen – never – für den finalen – walk – Überschwang – ahh –, schluchzendes Einatmen – loooohhhhh –, als der Schlußakkord – oooohhhh – über Gebühr zerdehnt wird – ooooohhhh – und Jerry wie gelähmt – ooooh –, zerschmelzend – oh –, dem Zusammenbruch nahe – nnnnnn –, auf die Scheinwerferkette zeigt, die den Himmel darstellt, der voller Kinder ist – naa –, die ihn tapfer begleitet haben. Billy lehnt sich in die Kissen und versucht, die Schmerzen durch Entspannung zu lindern. Er ist umstellt von Medizintechnik, sein Herzschlag wird mittels einer Fingermanschette als immer neu gezeichnetes Bergmassiv dargestellt, die Schwestern auf der Wachstation kontrollieren den Verlauf. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Ballons und Konfetti schweben auf Jerry hinab, als er in
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der Umarmung von Ed McMahon schlackert wie der Klöppel einer Glocke. Der Schlußstand zeigt 51 326 832,86 Dollar. Neuer Rekord. Jerry tupft sich mit dem abgespreizten kleinen Finger das Auge. Die Sonne im Zimmer illuminiert den schwebenden Staub –wie Plankton, denkt Billy und freut sich über den Vergleich. Lautlos tropft der Tropf. Der Katheter befördert Urin in den Plastikbeutel, der am Bett hängt. Das bin ich, denkt Billy. Jerry schluchzt, Billy schaut Abe beim Zuschauen zu. Sein Vater hat nichts mit der ganzen Sache zu tun. Nein, nicht das geringste. Aber hier sitzt er, eine Armlänge entfernt. Abe niest. Schleimfäden zittern zwischen seinen Fingern. «Brauchst du ein Taschentuch?« fragt Billy. »Bitte.« Billy zieht ein paar Tücher aus der Schachtel auf dem Nachttisch. »Den Schnupfen hab ich schon ewig«, sagt Abe. Er wendet sich dem Fernseher zu, Jerrys letztem Röchler, und zeigt Billy die Kehrseite. Auf seinem Rücken sind keine großartigen Verkündigungen zu sehen, nur eine geplatzte Schulternaht, alte Schweißringe unter den Armen und mehrere rote Pfeilsticker, als wäre er in einen Hinterhalt von Apacheanwälten geraten. Aber einen folgenlosen. Sein Maßanzug ist ihm ein wenig zu groß geworden. Die graue Schurwolle muß bei diesem Wetter unerträglich sein. In der Lungengegend scheint der Stoff aufzuhellen, als könnten sich Kleider von innen her abnutzen, als könnte Atem bleichen wie die Sonne. Abe unterdrückt ein Gähnen. Er ist da, denkt Billy, und ich bin am Leben. Vielleicht ist das
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mehr als nichts. »Taugt das Essen was?« fragt Billy. »Ich bin viel zu hungrig, um das zu beurteilen«, antwortet Abe. »Ich weiß, was du meinst«, sagt Billy im Gedanken an das, was ihm bevorsteht. Jerry wirft indessen Luftküsse und schreit ziemlich hoffnungsvoll Auf Wiedersehen bis nächstes Jahr.
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