Seewölfe 190 1
Roy Palmer 1.
Alles Unheil hatte für Kapitän Curly Saunders von der Zweimast-Karavelle „Miß Hannah“ an ...
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Seewölfe 190 1
Roy Palmer 1.
Alles Unheil hatte für Kapitän Curly Saunders von der Zweimast-Karavelle „Miß Hannah“ an jenem stürmischen Maitag begonnen, an dem es den KabeljauFänger von der Neufundlandbank zur Belle Isle, der nördlichen Festlandregion des von den Spaniern „Bacalaos“ genannten Landes, und von dort aus weiter nach Nordwesten verschlagen hatte — bis hin zu dem Land, das man Labrador getauft hatte. Von diesem Tag an, den Saunders fortan den „schwärzesten Tag“ seines Lebens zu nennen pflegte, hatte die Irrfahrt der „Miß Hannah“ begonnen, die nie mehr zu enden schien. Fockmastbruch, ein halbes Dutzend Lecks, zwei Tote und vier Verwundete — das war die Bilanz, die Saunders im Anschluß an das Toben des Wetters zog. Das Kompaßgehäuse mitsamt dem Kompaß, das auf dem Achterdeck in zwei stabilen Messinggabeln geruht hatte, war durch einen Brecher davongerissen und außenbords gespült worden. Allein mit dem Jakobsstab und dem Astrolabium vermochten Saunders und seine Achterdecksleute die genaue Position der „Miß Hannah“ nicht mehr festzustellen, und die Suche nach der Meeresstraße, die sie zurück nach Südosten und zu den Fischgründen von Bacalaos führte, wurde zu einem verzweifelten Unterfangen. Dann, nach vielen Tagen sinnlosen Manövrierens in unbekannten Gewässern und vor fremden, unwirtlichen, menschenabweisenden Küsten, mal den Anblick der lebensfeindlichen Tundra vor Augen, mal in den öden lind grauen Weiten des Wassers verloren, hatte sich an diesem einen von vielen kalten Tagen das einschneidende Ereignis angebahnt, das ihrer aller Leben grundlegend verändern sollte. Der Ausguck der „Miß Hannah“ hatte einen Kajak gesichtet. Aus dem Mannloch des Eskimo-Bootes heraus hatte eine Gestalt gestikuliert, ein Mann in Fellkleidung, jedoch kein Ureinwohner des
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kalten, häßlichen Nordlandes, sondern — wie Saunders und seine Männer beim Näher segeln durch ihre Spektive festgestellt hatten — ganz offensichtlich ein Mensch aus der Alten Welt, ein Europäer. Was hätte da näher gelegen, als nun mit der „Miß Hannah“ längsseits des Kajaks zu gehen und den wohl in Not befindlichen Fremden zu übernehmen? Saunders war nie ein Mann gewesen, der damit zögerte, anderen seine Hilfe zukommen zu lassen, denn er selbst hatte zur See und auf Land erfahren, was es bedeutete, im richtigen Moment Unterstützung durch entschlossene, couragierte Menschen zu erhalten. Einem Franzosen hatten sie da beigestanden, wie sich nun erweisen sollte, und wie es schien, wäre er jämmerlich zugrunde gegangen, wenn Curly Saunders, dessen Crew und die Karavelle nicht erschienen wären. „Mein Name ist Fagaralle“, hatte der Fremde sich vorgestellt. Ein Jäger und Fallensteller sei er, hatte er weiter berichtet, und nur um Haaresbreite sei er den Verfolgern entwichen, deren Mordlust er zum Opfer hatte fallen sollen—wilden Eskimos, Karibu-Jägern und Strandräubern, die ihm, Fagaralle, die Beute hatten abnehmen wollen. Offenbar hatten sie letzteres auch verwirklicht, denn weder Felle noch Fleisch von erlegten Tieren hatte Fagaralle bei seiner Flucht mit dem Kajak retten können. „Nur meine nackte Haut habe ich gerettet“, hatte er Curly Saunders immer wieder gesagt. „Und dafür gebührt. Ihnen, Mister Saunders, mein ganzer Dank, denn ohne Sie wäre ich jetzt ein toter Mann. Die Wilden hätten mich mit ihren Kajaks und Umiaks eingeholt, oder aber ich wäre verhungert und verdurstet, oder die See hätte mich verschlungen.“ „Wie viele Tage haben Sie auf See zugebracht?“ hatte Saunders von ihm wissen wollen. „In dem Kajak, meinen Sie?“ „Ja.“
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„Mehr als fünfzig Stunden, Sir, wenn ich mich nicht verschätzt habe.“ „Und der Sturm?“ „Meine Flucht fand nach dem Sturm statt, der über Labrador hinwegbrauste, Mister Saunders.“ „Ja, richtig.“ „Andernfalls wäre ich darin umgekommen“, hatte Fagaralle versichert. „Aber auch bei ruhiger See wären meine Stunden gezählt gewesen, ich habe mich in dieser Beziehung keinen Illusionen hingegeben.“ Sie hatten sich stets auf englisch unterhalten, der Sprache, die auch Fagaralle, der ein kluger und belesener Mann zu sein schien, hervorragend beherrschte. Saunders war bald hocherfreut darüber gewesen, Fagaralle an Bord der „Miß Hannah“ zu haben, denn der Mann wußte nicht nur bildhaft und spannend Begebenheiten aus seinem Leben zu schildern, er verfügte auch über einen derartig großen Optimismus, daß Saunders neue Hoffnung schöpfte, bald den gesuchten Weg zurück nach Neufundland zu finden. Wie sich Fagaralles Auseinandersetzung mit den Eskimos von Labrador im einzelnen abgespielt hatte und was die wahren Hintergründe für die Flucht des Franzosen waren — das sollte Saunders nie erfahren. Niemals hätte er, der Kapitän eines solide gebauten und recht gut armierten Segelschiffes und einer fast vierzigköpfigen Mannschaft, diesen hochgewachsenen Franzosen an Bord aufgenommen, wenn er geahnt hätte, was er damit angerichtet hatte. Schließlich, an einem trügerisch ruhigen Tag unter dem fortdauernden dämmrigen Licht, das die „Miß Hannah“ jetzt umgab, folgte das böse Erwachen. Curly Saunders mußte einsehen, wie unbedarft, ja, unbekümmert er gehandelt, wie geradezu kindlich treuherzig er sich sträflicherweise benommen hatte. Jetzt erhielt er die Abrechnung dafür präsentiert. Die Pest in Person hatte er sich an Bord geholt, eine Schlange an seinem Busen
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genährt. Die Maske fiel, und das grausame, unbarmherzige Antlitz eines geborenen Verbrechers trat zum Vorschein. Zu diesem Zeitpunkt hatte die „Miß Hannah“ eine Irrfahrt von nahezu vier Wochen hinter sich. Nach wie vor hatte alles Planen und Forschen nichts genutzt — kein Weg schien zurück nach Bacalaos, zu Dorsch und Kabeljau und dem großen, erleichterten Aufatmen zu führen. Kälter war es geworden, eiskalt. Die Besatzung fror und murrte, immer mehr griffen Unmut und Verzweiflung um sich. Wer aufmuckte, wurde vom Zuchtmeister der Karavelle ausgepeitscht oder in die Vorpiek gesperrt, und die Drohung, daß eines guten Tages der eine oder andere an der Rah baumeln würde, schwebte unausgesetzt über der Crew. Der Proviant war auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Gegen die Kälte half keine noch so dicke Kleidung, und Feuer durfte nur noch in der Kombüse entzündet werden, da sonst die Holzvorräte der „Miß Hannah“ zu schnell zur Neige gingen und man schließlich nicht die Karavelle verheizen konnte, wie Saunders der Besatzung immer wieder zu erklären trachtete. Die allgemeine Unlust schlug in Zorn und Haß um. Dies war der ideale Nährboden für eine Meuterei. Saunders rechnete mit einem Aufstand an Bord. Daß aber ausgerechnet Fagaralle der Aufwiegler sein würde, war für ihn ein echter Schock — mehr noch, etwas zerbrach in Curly Saunders. Fagaralle zeigte sein wahres Ich. Mit nur zehn gut bewaffneten Männern stürmte er an diesem allerschwärzesten Tag in Saunders' Dasein das Achterdeck. Widerstand wurde seitens der Achterdecksleute kaum gezeigt. Der Franzose und seine Mitverschwörer sensten jede Verteidigung mit ihren Handwaffen nieder, und plötzlich hatte Fagaralle seinen einen Arm um den Hals des Bootsmannes geschlungen, hielt diesem mit der rechten Hand ein Messer gegen die Gurgel gedrückt und rief dem
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Kapitän, der eben seinen Degen zückte, zu: „Willst du diesen Mann sterben sehen?“ Saunders antwortete nicht, er stand mit wachsbleichem Gesicht auf dem eisbedeckten Achterdeck, fixierte den Verräter und zog seinen Degen ganz aus der Scheide. „Captain“, stieß der Bootsmann hervor. „Mister Saunders, ich flehe Sie an ...“ „Streich die Flagge, Saunders!“ schrie Fagaralle. „Du bist unfähig, dieses Schiff und diese Crew zu führen. Du hast den falschen Kurs eingeschlagen. Er führt uns immer weiter nach Norden hinauf, weit fort von Labrador und der großen Bucht der Häuptlinge! Und du suchst vergeblich nach einer östlichen Passage, die uns die Rückreise nach Neufundland ermöglicht. Du bist ein Versager, Saunders!“ „Fagaralle ...“ „Fort mit dem Degen, Saunders, du Narr!“ „Fagaralle, du hast dir mein Vertrauen erschlichen ...“ „Laß das Geschwätz und gib auf!“ „Wie konntet ihr auf diesen Mann hören?“ rief Curly Saunders. „Er ist ein aalglatter, doppelzüngiger Hundesohn, der euch alle ins Verderben stürzt, wenn ihm das gelingt, was er vorhat!“ „Streich die Flagge!“ schrien die Meuterer - und die Passiven, die auf der Kuhl standen und alles beobachteten, schwiegen dazu. Längst waren die Zeiten vorbei, in denen einige von ihnen sich noch für Saunders aufgeopfert hätten. Fast teilnahmslos wohnten sie der Szene bei. Sie trieb ihrem Höhepunkt zu - Fagaralle hatte den Bootsmann unverändert in seiner Gewalt, und der Rest des Meuterer-Trupps hatte die übrigen Achterdecksleute überwältigt. Saunders stand auf verlorenem Posten. Fagaralle grinste plötzlich. „Ich verlange deine Kapitulation“, sagte er zu dem Kapitän. „Und du solltest noch froh sein, daß ich es auf diese Art und nicht im Zweikampf tue. Genauso gut könnte ich dir jetzt eine Kugel durch den Kopf jagen lassen.“ Mit einer ruckartigen Kopfbewegung deutete Saunders auf einen seiner Komplicen, der eine Muskete in
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Anschlag gebracht hatte und damit auf Saunders zielte. Curly Saunders sah nicht nur den Musketenschützen, er schaute auch auf seine treuen Kameraden, die auf dem eisglitzernden Deck in ihrem Blut lagen. Einige von ihnen regten sich nicht mehr. Sie würden sich nie mehr bewegen. Er verlor jede Beherrschung und sprang mit dem erhobenen Degen auf Fagaralle zu. Mit einem Wutschrei wollte er den Franzosen niederstechen, aber Fagaralle reagierte augenblicklich und stieß seine Geisel auf Saunders zu. Ohne daß sich sein Geist richtig dessen bewußt wurde, nahmen Saunders' Augen das Bild des Bootsmannes auf, der mit dem Messer im Hals auf dem eisglatten Deck ausrutschte und stürzte. Saunders konnte sich nicht mehr rechtzeitig bremsen und ausweichen. Er stolperte über den sterbenden Mann und verfehlte Fagaralle mit seinem Degen. Die Spitze stieß ins Leere. Der Musketenschuß krachte, ehe Fagaralle die Radschloßpistole, die er jetzt aus dem Gurt gerissen hatte, auf den Kapitän der „Miß Hannah“ abfeuern konnte. Saunders brach getroffen zusammen. Sein letzter, ungläubiger Blick war auf den grinsenden Fagaralle gerichtet. In seiner Sterbeminute gelangte er zu der bitteren Erkenntnis, daß er ein riesengroßer Narr gewesen war. Fagaralle trat zu dem Mann, der sein Leben auf den Planken seines Schiffes aushauchte, beugte sich über ihn und sagte triumphierend: „Saunders, mein Freund — hiermit trete ich deine Nachfolge an.“ „Fahr — zur Hölle“, flüsterte Curly Saunders. Fagaralle schüttelte wie in aufrichtigem Bedauern den Kopf. „Tut mir leid, aber den Gefallen tue ich dir nicht. Ich weiß, es klingt überheblich. Aber überheblich hin ich nun mal.“ Er erhob sich, trat an die Schmuckbalustrade, die den vorderen Querabschluß des Achterdecks bildete, blickte auf die versammelte Crew hinunter und verkündete: „Ich habe das Kommando über dieses Schiff übernommen, und ich
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versichere euch, daß ich euch vor Kälte und Hunger und vor dem Tod bewahren werde. Wer sich mir anschließen will, der braucht sich jetzt nur zurück auf seinen Posten zu begeben. Wer die Karavelle lieber verläßt, kann dies tun, er wird in einem der, Beiboote ausgesetzt und erhält ein wenig Proviant und Trinkwasser mit.“ Er legte seine Hände auf die hölzerne Leiste. „Nun?“ Die Männer murmelten etwas, nickten dann, wandten sich ab und begaben sich wieder an die Arbeit. Nicht, daß sie Fagaralle vertrauten, aber wer war schon so dumm, zu glauben, daß der Franzose eventuelle Gegner friedlich ziehen ließ? Das Beiboot wurde gebraucht, nichts konnte man hier entbehren. Jeder, der sich jetzt dem neuen Kapitän gegenüber rebellisch zeigte, wurde erschossen, soviel war sicher. Oder aber er wurde an die Rahnock gebaumelt oder mit einem Gewicht an den Füßen in die eiskalte See geworfen. Fagaralle gab seine Befehle. Er ließ die Segel neu trimmen, sagte dem Rudergänger, was er zu tun habe, und ließ die Zweimast-Karavelle nordöstlichen Kurs segeln. Dies geschah Mitte des Monats Juni 1589. * Anfang Juli 1589 hatte Fagaralle die Karavelle längst auf den französischen Namen „L'Invulnérable“ umgetauft. „Die Unverwundbare“ segelte zwischen vorbeiziehenden Treibeisschollen nach Westen. Raumer Wind brachte sie rasch voran. Sie glitt über Steuerbordbug liegend dahin und drückte eine steile Bugwelle vor sich her. Die Karavelle befand sich jetzt zwar noch weit nördlicher als während der Meuterei gegen Kapitän Saunders und die Achterdecksleute, deren Leichname tief unten auf dem Grund der See nördlich der riesigen Bucht der Häuptlinge ruhten. Aber die Mannschaft litt weder Hunger und Durst noch Kälte, und Fagaralle hatte allen glaubwürdig versichern können, daß er den
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Weg zurück nach Neufundland genau kenne. Dieser, so behauptete er, führe jetzt am schnellsten im Norden um das Kap einer großen Insel herum und von dort aus in die Nähe der Küste von Grönland, jener Insel, die die Wikinger einst besiedelt hatten. Weiter ginge es nach Süden durch die Meeresstraße, die Davis vor zwei Jahren entdeckt und so benannt hatte - und dann war „Bacalaos“ nicht mehr fern. Jede Rückkehr nach Labrador und der Belle Isle wäre nur ein Umweg gewesen. Fagaralle, davon war die Crew mittlerweile überzeugt, mußte es wissen. Er kannte sich in den Gepflogenheiten der Eskimos aus und wußte, wie man das Leben in der Polargegend ertrug. Nur hatte er, all seine Kenntnisse für sich behalten, bis er Saunders erledigen und das Kommando an sich reißen konnte. Davon hatte er immer geträumt - ein eigenes Schiff zu haben. Schon einmal hatte sich ihm die Chance geboten, ein Schiff zu kapern - eine wunderschöne große Dreimast-Galeone fortschrittlichster Bauart. Aber Fagaralle und seinen Eskimos war es nicht gelungen, die Mannschaft dieses Seglers niederzumetzeln. Sie hatten eine furchtbare Niederlage erlitten und fliehen müssen und dann hatte Ajataq, der Eskimohäuptling, mit seinen Kriegern eine gnadenlose Jagd auf ihn, den Franzosen, und die Abtrünnigen des Stammes veranstaltet. Fagaralle konnte noch froh sein, daß er ein Kajak ergattert hatte, mit dem er sich hatte absetzen können. Unbändiger Haß stieg in ihm auf, wenn er an diese schimpfliche Episode aus seinem Leben zurückdachte. Sie lag knapp drei Monate zurück. Jetzt hätte er die Möglichkeit gehabt, mit den Männern der großen Galeone abzurechnen, denn die Kanonen der ehemaligen „Miß Hannah“ konnten es wahrscheinlich mit den Batterien jener „Isabella“ aufnehmen. Die Karavelle führte je sechs 17-Pfünder auf jeder Seite der Kuhl und je drei bewegliche, rasch zu ladende Serpentinen auf der Back und dem
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Achterdeck. Dies war eine für einen Kabeljau-Fänger außergewöhnliche Armierung, aber Saunders hatte wohl sicher sein wollen, gegen jeden PiratenÜberfall gewappnet zu sein. Solche Überfälle hatten gerade in der letzten Zeit arg zugenommen. Fagaralle dachte in diesen Tagen hin und wieder daran, ob er die „Isabella“ und ihren höllischen schwarzhaarigen Kapitän wohl jemals wiedersehen würde. Wohin war sie überhaupt gesegelt? Fagaralle stand auf dem Achterdeck der „Invulnérable“, ganz in Eisbärfell gehüllt, und ließ seinen Blick zufrieden über das Hauptdeck wandern. Dreißig Männer hatte er noch unter sich - und die machten einen zufriedenen, fast verwegenen Eindruck. Der Kabeljau, den sie einst gefischt hatten, war längst aufgegessen, aber Fagaralle hatte die Männer in der Jagd auf Robben, Narwale, Walrosse, Eisbären und andere Polartiere unterrichtet. Auch auf eine Herde Rens waren sie gestoßen, als sie das letzte Mal auf der großen Insel im Osten gelandet waren, und diese hatten ihnen nicht nur ihr vorzügliches Fleisch, sondern auch ausreichend Fell, für warme Kleidung geliefert. Die ausgekochten Speckseiten der Narwale wurden in den Bordöfen und im Kombüsenherd verfeuert, so daß man sich wieder ausreichend wärmen konnte. „Dies ist nur der Anfang“, sagte Fagaralle, als er eine kurze Ansprache an „seine“ Mannschaft hielt. „Ich habe euch vor dem sicheren Tod bewahrt, aber ich werde euch auch zu Reichtum verhelfen. Gemeinsam sind wir stark genug, um uns all das zu holen, was man durch die Fischerei oder jede andere Art mühseliger Arbeit doch nie kriegen kann.“ „Hoch lebe Fagaralle!“ schrien die Männer der Karavelle. „Ein dreifaches Hurra für unseren Kapitän!“ 2. Ipiutak konnte wieder lächeln. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte sie an Bord seiner „Isabella“ bis nach Qanaq, Thule, gebracht, und noch während
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der überfahrt hatte sich der Kutscher redlich um die Frau von Okvik, dem Häuptling des Stammes der Jäger, bemüht. Der Kutscher hatte Ipiutak die Musketenkugel aus dem Rücken geholt, die die räubernden Wikinger ihr verpaßt hatten. Er hatte sie vorgezeigt und aufatmend gesagt: „Gott sei Dank, da ist sie ja — und ich glaube, die Frau hat keine schwerwiegenden inneren Verletzungen erlitten. Die Wirbelsäule ist unversehrt, und auch die Lunge scheint nicht angekratzt zu sein. Also, ich will ja nicht zuviel versprechen, aber ich schätze, sie kommt rasch wieder auf die Beine.“ „Kutscher“, sagte der Seewolf, als sie in der großen Bucht von Thule eintrafen. „Wenn du damit recht behältst, kriegst du von mir mehr als nur eine Sonderration Rum.“ Der Kutscher lächelte — ein wenig verlegen und auch ein bißchen verschmitzt. „Aus dem Rum mache ich mir gar nicht soviel, Sir. Mir ist es ja viel mehr wert, wenn man meine Arbeit würdigt.“ „Tun wir das denn nicht?“ „Selbstverständlich, Sir.“ „Dann verstehe ich nicht, wie du das eben gemeint hast.“ Der Kutscher wurde sichtlich verlegen und druckste herum, was er sonst eigentlich nicht tat, aber eine Erwiderung auf die Worte des Seewolfs konnte er sich vorläufig ersparen, denn Ipiutak schlug die Augen auf, lächelte und formulierte mit schwachen, blassen Lippen die Namen ihres Mannes und ihrer Tochter. „Okvik — Bilonga ...“ Okvik und Bilonga, die die ganze Zeit über in der Achterdeckskammer der „Isabella“ auf dem Rand einer zweiten Koje gekauert hatten, standen auf und beugten sich über das Lager der Patientin. Bilonga hielt ihre Tränen nicht zurück, es waren Tränen der Freude und Zuversicht. Okvik, dessen Miene man sonst so wenig Gefühlsregungen ablesen konnte, zeigte offen seine Ergriffenheit. Auch ein Jäger aus dem eisigen Thule, und sei er noch so hart, brauchte sich in einem Augenblick
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wie diesem seiner Gefühle nicht zu schämen. Hasard trat dicht neben den Kutscher. Sie standen beide am Fußende der Koje und nickten Ipiutak, Okvik und Bilonga aufmunternd zu. Der Kutscher hatte die Frau nicht nur operiert, er hatte mit seinen Arzneien und Mixturen auch ihren Blutverlust zum Stoppen gebracht, die Wunde nach allen Regeln der Feldscherkunst gesäubert und keimfrei gemacht und Ipiutak dann einen Verband aus blütenweißem Leinenstoff angelegt. „Ja, unser Kutscher“, sagte der Seewolf versonnen. „Wenn wir dich nicht hätten, was wäre dann? Aber ich glaube, du würdest ein dickes Lob viel lieber aus dem Mund von Siri-Tong hören, was? Ich schätze, das hast du sagen wollen, als du von einer entsprechenden Würdigung deiner Arbeit sprachst.“ Der Kutscher wurde rot bis an die Ohren, puterrot sogar. Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn und suchte verzweifelt nach Worten. Hasard hatte natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Als Siri-Tong am Ufer des Fjords, in dem die Seewölfe Walrosse gejagt hatten, von Okviks Bas, dem Leittier der Schlittenhundmeute, an Händen und Armen verletzt worden war, hatte der Kutscher ihr die Wunden behandelt. Sie hatte sich daraufhin bewundernd geäußert, weil ihre Schmerzen wirklich rasch vergangen und dann auch nicht wiedergekehrt waren — und der Kutscher war mächtig stolz darüber gewesen. „Sir“, sagte er. „Ich möchte nicht, daß du einen falschen Eindruck von mir kriegst.“ „Welchen denn?“ „Du weißt schon, was ich dir erklären will ...“ „Nein.“ „Also, was mich betrifft, ich würde es Madam gegenüber nie an dem nötigen Respekt mangeln lassen. Das will ich dir nur hoch und heilig versichern.“ Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich weiß doch, daß die ganze Crew die Rote Korsarin anhimmelt, und
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das kann ich auch keinem von euch übel nehmen. Genauso gut weiß ich aber auch, daß kein Mann auf diesem Schiff außer mir sie auch nur mit dem kleinen Finger anrühren würde. Ich vertraue euch und verlasse mich auf euch.“ „Danke, Sir.“ „Ist jetzt soweit alles in Ordnung?“ „Ja. Aber ich glaube, die Sonderration Rum würde ich jetzt doch ganz gern annehmen.“ „Genehmigt“, sagte der Seewolf. Damit wandten sie sich wieder dem Krankenlager zu und versuchten, mit ihren wenigen Brocken Eskimo-Sprache und durch Gestikulieren Okvik und Bilonga auseinanderzusetzen, daß Ipiutak jetzt Ruhe brauche, sehr viel Ruhe. Der Stammesführer und seine Tochter begriffen es mehr intuitiv als den Worten Hasards und des Kutschers nach. Sie bedeuteten ihnen durch Gebärden, daß sie sich ganz nach den Anweisungen ihrer weißen Freunde richteten — und dann hob Okvik plötzlich den Kopf, lauschte und sagte: „Qanaq — Thule.“ Stimmen waren zu vernehmen, sowohl vom Oberdeck der „Isabella VIII.“ aus als auch von weiter her. Ipiutak ließ einen freudigen Laut vernehmen, dann schloß sie wieder die Augen und atmete tief und gleichmäßig durch. Okvik und Bilonga drängten zur Tür der Achterdeckskammer. Hasard öffnete sie, und die beiden Eskimos traten auf den Gang hinaus und begannen mit der alten Frau zu sprechen, die die ganze Zeit über draußen im Halbdunkel und in der Kälte gehockt hatte, als müsse sie dort Wache halten. Sie war, wie Hendrik Laas dem Seewolf erklärt hatte, die Mutter Okviks. Als die Wikinger das Igludorf überfallen hatten, hatte sie dort bleiben und sich töten lassen wollen, aber Ipiutak und Bilonga hatten sie bei der Flucht in die Berge mitgeschleppt. Ein Aufleuchten war in den kleinen dunklen Augen der Alten, und auch ihre Züge hellten sich auf, denn Okvik hatte ihr soeben gesagt, daß Ipiutak auf dem Weg der Genesung sei.
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Siri-Tong näherte sich vom Schott, das auf die Kuhl hinausführte, und sagte aus drei Schritten Entfernung: „Wir sind da. Die Eskimos bereiten uns einen großartigen Empfang. Woher wissen die überhaupt, wer wir sind?“ „Erstens segelt die ,Sparrow` von Hendrik Laas neben uns her“, erwiderte Hasard. „Allein das ist ein Zeichen, daß wir nur Freunde, keine Feinde sein können. Zweitens hatte Okvik eine HundeschlittenPatrouille vorausgeschickt, während wir noch auf die ,Isabella` warteten, und diese hat wohl bereits alles berichtet, was es zu berichten gibt.“ „Geht ihr nur an Oberdeck“, sagte die Korsarin. „Ich löse euch hier ab und passe auf Ipiutak auf.“ „Die alte Frau wird dir dabei Gesellschaft leisten“, meinte der Seewolf. Okvik und Bilonga trafen nämlich Anstalten, das Achterkastell zu verlassen, nachdem sie wußten, daß sie um Ipiutaks Leben nicht mehr zu bangen brauchten, aber Bilongas Großmutter schien sich nicht vom Fleck rühren zu wollen. Siri-Tong griff nach ihrer Hand, lächelte ihr zu und zog sie mit sich in die Kammer der verletzten Frau. Hier bedurfte es keiner Worte, hier verstand man sich auch so, schweigend und ohne jede überflüssige Geste. Hasard und der Kutscher suchten mit Okvik und Bilonga das Hauptdeck auf, traten zu den Männern der Crew ans Steuerbordschanzkleid und nahmen die Szene in sich auf, die sich ihren Augen bot. Fünf Dörfer aus weißen, kugeligen Schneehütten erhoben sich am Ufer der großen Bucht Thules. Dies also war das Zentrum, die Hauptsiedlung von Qanaq – und mit einemmal erfüllte quirliges, eilfertiges Leben die sonst so öde und einsame weiße Welt. Da liefen große und kleine Gestalten am Ufer zusammen, da waren Kajaks und Umiaks losgebunden und besetzt worden, und so viele der schlanken, schnellen Boote glitten auf die „Isabella“, die „Sparrow“ und das Drachenboot der Wikinger zu, daß man sie schon nicht mehr zählen konnte.
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Jubellaute wehten den Seewölfen und ihren Freunden von der Galeone „Sparrow“ entgegen. Von Bord des Drachenbootes wurden diese Rufe erwidert - dort befanden sich einige von Okviks Kriegern, die den Einmaster sicher an das natürliche Hafenbecken der Bucht pullten. Sie hatten das Gefährt der Nordmänner übernommen und würden es wohl auch immer behalten. Die gefangenen WikingerPiraten waren auf das Drachenboot, die „Sparrow“ und die „Isabella“ verteilt worden und wurden streng bewacht. Hendrik Laas, Bert Anderson, Sheldon Gee und die anderen von der „Sparrow“ stießen Pfiffe und Hurra-Rufe aus und warfen ihre Fellmützen in die Luft. Dann stimmten auch die Seewölfe ihr „Arwenack“-Geschrei an, daß es einem angst und bange werden konnte. „Sir!“ rief Ben Brighton seinem Kapitän in dem allgemeinen Gebrüll zu. „Ich schätze, das gibt noch ein Fest, wie wir's so schnell nicht wieder vergessen!“ „Ja“, sagte der Seewolf. „Und es gibt keinen hier an Bord, der es nicht verdient hätte, sich mal wieder ein bißchen auszutoben.“ „Bloß das eine merkt euch, ihr Rübenschweine“, fuhr Carberry, der es natürlich nicht sein lassen konnte, die Crew an. „Es wird nicht übermäßig gesoffen, sonst gibt es Ärger! Wer randvoll umkippt und liegenbleibt, den lasse ich einschneien und steiffrieren, ohne Pardon. Und daß mir ja keiner die Eskimomädchen antatzt! Wir sind hier Gäste und haben uns anständig zu benehmen. Das ist hier kein Hafenviertel, in dem ihr die Mäuse auf den Kneipentischen tanzen lassen könnt, verstanden?“ „Aye, aye“, brummten die Männer. „Die Eskimos sind sittsame Menschen und anständige Kerle, die man nicht beleidigen darf“, fuhr der Profos in seinen Belehrungen fort. „Von denen hat so manch einer mehr Benimm im Leib als zehn von euch Kakerlaken zusammen. He, Bob Grey, du Walroß, was hast du so dämlich zu grinsen?“
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„Erst vor kurzem hat jemand gesagt, wir sollen aufpassen, daß die Eskimos nicht auch noch unsere letzten Bienenwachskerzen auffuttern“, rief Bob Grey fröhlich. „Und jetzt sind sie plötzlich sehr zivilisiert. Also, irgendwie paßt das doch nicht zusammen.“ „Wer ist der Idiot, der solch einen Quatsch von sich gegeben hat?“ brüllte der Profos. „Du selbst, Ed“, teilte Dan ihm gelassen mit. „Was, wie? Ich - also, das muß glatt ein Irrtum sein.“ „Mit zunehmendem Alter wird man vergeßlich, Profos“. sagte Dan O'Flynn. „Aber mach dir nichts daraus, wir können das gut verstehen.“ Carberrys Augen funkelten plötzlich angriffslustig. „So? Soll der alte Profos dir mal vorexerzieren, wie er mit so kiebigen Stinten wie dir umspringt - soll er das?“ „Schon gut, es war nur Spaß, Ed“, versuchte Dan den aufkommenden Streit zu schlichten. Der Profos konnte ganz schön wild werden, wenn man ihn zu sehr auf den Arm nahm. „Ich mache ja auch nur Spaß!“ brüllte Carberry. Die Eskimos, die mit Okvik an Bord der „Isabella“ gegangen waren, nachdem diese dank der Flaschenbomben aus dem Packeis des Fjordes freigekommen war, stießen sich untereinander an. Sie konnten sich köstlich über die Sprache der Seewölfe amüsieren, und im übrigen schienen sie den Wortwechsel zwischen Carberry, Bob Grey und Dan O'Flynn tatsächlich für einen prächtigen Scherz zu halten. Die Kajaks und Umiaks drängten sich um die „Isabella“ und um die „Sparrow“ zusammen und begleiteten sie bis auf eine Art natürliche Reede, auf der sie offenbar ankern sollten. Hendrik Laas kannte sich hier ja bestens aus. Er ließ Hasard signalisieren, daß man nun getrost die Anker fallen lassen könne. Solide Anleger am Ufer, an denen die Galeonen vertäuen konnten, gab es nicht, und auch die Wassertiefe schien dort nicht ausreichend zu sein.
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Während die Schiffe beidrehten und die Anker warfen, drehte sich Okvik wieder zum Seewolf um und sprach einige Sätze, denen Hasard etwa folgenden Sinn entnahm: „Sieben Jäger aus Okviks Stamm sind als Helden gestorben. Inuk, der Eskimo, trauert um seine Verstorbenen, aber das Leben geht weiter. Die Toten werden bestattet, wie es ihnen gebührt, doch dann werden wir das Sommerfest der Schamanen trotzdem feiern, denn Hasard und seine Kameraden und Hendrik Laas und die anderen Freunde haben verhindert, daß Okviks ganzer Stamm dahingemetzelt wurde. Es hätte schlimmer ausgehen können — viel schlimmer. Darum dürfen wir feiern, sagen die Schamanen. Das Leben geht weiter.“ Hasard wollte Okvik gerade erklären, daß er ihn verstanden hätte, da erschien Matt Davies in der Öffnung des Steuerbordschotts vom Vordeck und winkte seinem Kapitän zu. „Sir!“ rief er. „Wir brauchen den Kutscher!“ „Was ist denn los?“ „Der schwarze Pirat — es geht ihm verdammt schlecht.“ Matt trat näher und fügte hinzu: „Er stöhnt und wälzt sich herum, und ich schätze, er verliert eine Menge Blut.“ Matt Davies gehörte zu den Männern der Crew, die die gefangenen Wikinger unten in den Räumen des Vordecks bewachten. Jor, der schwarze Pirat, der den grausamen Überfall auf das Dorf der Eskimos geführt hatte, befand sich unter ihnen — und es stimmte ja, er war von dem Bas Okviks durch Bisse verletzt worden, so sehr, daß er blutend zusammengebrochen war. Das Tier hätte ihm die Kehle zerfetzt, wenn Okvik es nicht zurückgepfiffen hätte. Trotzdem sagte Hasard: „Es könnte ein Trick sein, mit dem er auf sich aufmerksam machen will.“ „Nein, das glaube ich nicht, Sir.“ „Ein sehr alter Trick sogar, durch den er euch überwältigen will, um dann zu fliehen.“
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Matt Davies schüttelte den Kopf. „Ich will dir ja nicht widersprechen, weil mir das nicht zusteht, aber — nun, ich bin sicher, daß der Kerl verdammt viel Blut verliert und höllische Schmerzen leidet.“ „Ich habe ihn nur notdürftig verarzten können“, meinte der Kutscher. „Vielleicht geht es ihm wirklich schlecht. Ich könnte ihm zumindest ein schmerzstillendes Mittel verabreichen und das Bluten durch Abbinden seiner Arme zum Stillstand bringen.“ „Er hat es zwar nicht verdient, daß wir uns um ihn kümmern, aber wir sind keine Unmenschen, die wie seinesgleichen verfahren. Es ist sozusagen unsere Pflicht, ihm als unserem Gefangenen beizustehen, wenn er es auch nie begreifen wird, was diese Art von Fairplay bedeutet. Kutscher!“ sagte Hasard. „Sir?“ „Du gehst mit Matt Davies 'runter zu Jor und sorgst dafür, daß er weniger Qualen zu ertragen hat. Blacky und Batuti!“ „Ja, Sir?“ „Ihr begleitet den Kutscher und Matt als zusätzliche Wachtposten. Ihr schießt sofort, wenn Jor auch nur den Versuch eines Ausbruchs unternimmt, verstanden?“ „Aye, Sir.“ Sie marschierten in Richtung Vordecksschott davon, und Hasard wandte sich wieder Okvik, Bilonga und den Männern der Crew am Schanzkleid zu, um wie sie zu beobachten, wie die Kajaks und Umiaks bei der „Isabella“ längsseits schoren. 3. Er wälzte sich auf den Planken des düsteren Vordecksraumes hin und her und stöhnte unter Höllenqualen. Er verfluchte seine Bezwinger, weil sie ihm dies alles getan und ihn nach seiner Gefangennahme obendrein noch in Ketten gelegt hatten, als ob es nicht genug gewesen wäre, ihn hier einzusperren und ihn gegen seine schier unerträglichen Schmerzen kämpfen zu lassen.
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Jor tobte und trat mit den lappenumwickelten Stiefeln gegen die Holzbohlenwand. Er wußte, daß er durch sein Wüten und Aufbegehren gegen diesen Zustand alles nur noch schlimmer machte aber er konnte nicht apathisch daliegen und alles mit zusammengebissenen Zähnen und zusammengepreßten Lippen ertragen. Er verfluchte sie bis in die tiefsten Schlünde der Finsternis; ihn, den schwarzhaarigen Teufelskapitän, sie, seiner Kameraden. die anderen Himmelhunde von dem zweiten Dreimaster - und natürlich auch die Eskimos, die ein geradezu unerhörtes Glück gehabt hatten, daß die Wikinger sie nicht alle umgebracht und ihnen ihre Felle und Fleischvorräte abgenommen hatten: Odins achtbeiniges Roß soll euch mit seinen Hufen zermalmen, dachte er, eines elenden Todes sollt ihr alle sterben... „Odins Wölfe Gei und Freki werden euch zerreißen!“ brüllte er gegen das Schott an. „Und seine Raben Hugin und Munin sollen euch die Augen auspicken!“ Plötzlich hielt er inne. Schritte hatten sich dumpf genähert und schienen vor dem Schott des Vordecksraumes zu verharren. Etwas wurde bewegt, dann knarrte der Riegel, quietschte die Tür in ihren eisernen Angeln - und drei Gestalten wurden im zuckenden Schimmer eines Talglichtes sichtbar. Der linke Mann war ein kräftiger Kerl mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, er war aber nicht der Teufel, der dieses Schiff führte, sondern ein anderer, einer von dessen Untergebenen - wie auch die beiden anderen. Der Mittlere entpuppte sich als ein hagerer, etwas schmalbrüstiger Mensch von mittelgroßer Statur, der irgendeine Flasche oder einen Bottich und dazu noch irgendwelche Gerätschaften mit sich trug. Der dritte Mann schließlich schien für Jor der Fürst der Hölle höchstpersönlich zu sein, denn er war pechschwarz und ungeheuer groß und muskulös, und wenn er die Augen bewegte, konnte man das Weiße darin schimmern sehen. Ein schwarzer Mann in .der weißen Polarwelt –
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das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Nie hatte Jor auch nur vernommen, daß Menschen mit schwarzer Haut überhaupt existierten. Im Hintergrund, draußen auf dem Gang, waren weitere Gestalten zu erkennen. Eine Muskete wurde bewegt, der Lauf schien sich direkt auf ihn, den schwarzen Piraten, zu richten. „Kutscher“, sagte Blacky. „Sieh zu, daß du es hinter dich bringst. Das eine sage ich dir: Ich drücke wirklich sofort ab, wenn der Hundesohn faule Tricks versucht.“ Er richtete eine Miqueletschloß-Pistole auf den Wikinger. „Paß auf, Kutscher“, murmelte Batuti, der schwarze Herkules aus dem fernen Gambia. Und draußen lauerten Jeff Bowie und Matt Davies mit den Musketen im Anschlag, bereit, jegliches Fluchtunternehmen des Nordmannes zu stoppen. Man konnte ihre Vorsichtsmaßnahmen angesichts des blutenden Gefangenen, der mit schmerzverzerrtem Gesicht und obendrein noch angekettet im Raum kauerte, als übertrieben ansehen, aber sie wußten, warum sie so scharf aufpaßten. Sie hatten schon die unglaublichsten Sachen mit Gefangenen erlebt, auch an Bord ihrer „Isabella“. Und der Kutscher mußte den Wikinger ja schließlich auch von seinen Eisenfesseln befreien, wenn er ihn richtig behandeln wollte. Dies war der heikle Punkt bei der Angelegenheit. „Fort!“ brüllte Jor, als der Kutscher sich über ihn beugen wollte. „Du willst mich töten, ich weiß es! Verrecke selbst, du elender Hund! Zerspring! Geh weg! Hau ab, sage ich!“ Der Kutscher verharrte und betrachtete den wilden, bärtigen Mann mit dem Interesse des geborenen Mediziners. „Ich verstehe nicht, was er sagt“, erklärte er ruhig. „Brauchst du ja auch nicht“, sagte Blacky. „Oder sollen wir Hendrik Laas als Dolmetscher holen?“ erkundigte sich Matt Davies vom Gang aus. „Er kann sich mit diesen Nordmännern doch gewiß
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verständigen. Wenn ich's richtig kapiert habe, sind sie fast Landsleute.“ „Ja“, sagte Jeff Bowie. „Und sie scheinen sich wie die Pest zu hassen.“ „Die Dämonen und Zerberusse der Hölle sollen über euch kommen und euch zerfleischen!“ zischte Jor. „Ihr werdet sterben, alle sterben, Qualen werdet ihr leiden und flennen wie die Weiber, daß ihr mich jemals getroffen habt.“ Der Kutscher schüttelte gelassen den Kopf. „Also, da gibt es nicht viel zu übersetzen. Ich habe den Eindruck, der Mann wirft uns die schlimmsten Verwünschungen an den Kopf, und nichts weiter als das. Wir können darauf verzichten, zu erfahren, was er uns alles androht.“ „Dann los“, drängte Batuti. „Schmier ihn mit Balsam ein, daß er aufhört zu stöhnen wie ein Hund.“ „Dazu brauche ich aber eure Hilfe.“ „Ja, er zappelt zu sehr“, meinte nun auch Blacky. „Packen wir mit an und halten wir seine Arme und Beine fest.“ „Blutet er wirklich so stark?“ wollte Jeff Bowie wissen. „Seht doch selbst“, sagte der Kutscher. „Die Wunden, die ich ihm rasch gereinigt und verbunden hatte, sind wieder aufgebrochen. Das liegt daran, daß er sich so wütend gebärdet. Seine körperliche Widerstandskraft muß unnatürlich groß sein. Ein anderer an seiner Stelle wäre längst ohnmächtig geworden.“ „Ja, er ist schon ein zäher Hund“, ließ sich Matt Davies grimmig vernehmen. „Wie wäre es, wenn wir ihn einfach durch einen Hieb ins Genick zur Ruhe brächten? Was haltet ihr davon?“ „Hasard wäre damit nicht einverstanden“, meinte Blacky. „Schlage keinen Wehrlosen“, pflichtete der Kutscher ihm bei. „So schwarz die Seele dieses Mannes auch ist, so groß die Schuld, die er auf sich geladen hat — wir dürfen ihn nicht noch mehr mißhandeln.“ „Kutscher, manchmal gebe ich dem Profos wirklich recht“, sagte Matt Davies. „An dir ist ein Bordkaplan verloren gegangen. Mann, was für schöne Predigten du wohl gehalten hättest.“
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Der Kutscher hörte nicht auf Matts Spott. Er sah nur den Wikinger an und wartete darauf, daß der zumindest etwas von seinem Haß ausgespuckt hatte und ein wenig ruhiger dalag. Was hätte wohl Thorfin Njal, der Wikinger vom schwarzen Segler, zu solch einem Kerl gesagt? Wie wäre er wohl mit diesem rohen, gnadenlosen Schnapphahn und Galgenstrick umgesprungen? Gewiß nicht sehr zimperlich. Welcher Unterschied bestand doch zwischen einem Thorfin Njal und einem Kerl wie diesem hier! So war die Welt: Es gab in jedem Land, in jeder Region gute und schlechte Menschen innerhalb der jeweiligen Bevölkerungsgruppen. So war es bei den Nordmännern, bei den Eskimos, bei den Bewohnern der Alten Welt, bei den Indianern, den Chinesen, den Afrikanern, den Arabern — überall. „Kamerad“, sagte der Kutscher in der vagen Hoffnung, daß der Gefangene ihn verstehen würde. „Willst du dich ein wenig beherrschen, oder müssen wir dich wirklich festhalten?“ Jor verstand kein Wort, aber er brüllte wieder wie ein Besessener und versuchte, den Kutscher zu treten. „Freunde“, sagte der Kutscher mit unbewegter Miene. „Bringen wir's hinter uns.“ Blacky und Batuti traten hinzu, knieten sich neben Jor und packten dessen Arme und Beine. Trotz seiner Bißwunden an den Armen wehrte der Wikinger sich derart heftig, daß Batuti, der seine Handgelenke umklammert hielt, fast seine ganze Kraft aufwenden mußte, um ihn zu bändigen. Schließlich aber hatten Blacky und der Gambia-Mann Jor so gut im Griff, daß dieser sich nicht mehr rühren konnte. „Bleibt so hocken“, sagte Matt Davies. „Kutscher, paß auch du auf, daß du uns nicht in die Schußlinie gerätst.“ Jeff Bowie und er hielten nach wie vor die Musketen auf den Wikinger gerichtet. Der Kutscher öffnete die Schlösser an Jors Arm- und Beinketten, zog den Schlüssel wieder heraus und legte den ganzen Bund, den er vorher von Smoky, dem
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Decksältesten, empfangen hatte, neben sich auf die Planken. Die Eisen und Schäkel, die man vermittels ihrer Schlösser öffnen und schließen konnte, waren Big Old Shanes Erfindung für den Fall, daß man einmal Gefangene an Bord der „Isabella“ hatte und diese nicht nur einsperren, sondern auch festketten mußte. Das zeitraubende Zuschmieden der Eisen fiel also weg - und auch das langwierige Aufbrechen, wenn man solche Galgenvögel wie Jor einmal wieder befreien wollte. Jetzt konnte der Kutscher an Jors Verletzungen heran, ein sauberes, weiches Tuch mit der Tinktur aus dem Bottich benetzen und damit die Blessuren behandeln. Zuerst brannte es wie Feuer, und entsprechend war Jors Gebrüll. Dann aber trat die lindernde Wirkung der Tinktur ein, und allmählich begannen die Schmerzen nachzulassen. Der Kutscher fing an, die Oberarme des Mannes abzubinden und somit den Blutfluß zum Verebben zu bringen. Jor war weit davon entfernt, Dankbarkeit zu zeigen. Er wartete nur auf eine Möglichkeit, seine Bezwinger zu überrumpeln. Der Haß loderte in seinen Augen, und das höchste Ziel seiner finsteren Wunschvorstellungen war es, aus diesem Verlies auszubrechen und den Kapitän der „Isabella“ zu töten. Der Kutscher war damit beschäftigt, die Hundebisse neu zu verbinden, als draußen vor dem offenen Schott Unruhe entstand. Jemand schien sich zu nähern, und zwar auf sehr geräuschvolle Art. Matt Davies stieß einen Fluch aus. Jeff Bowie hielt nach beiden Seiten in den Gang hinein Ausschau, konnte aber nichts erkennen, weil das Talglicht, die einzige Lichtquelle hier unten, im Raum stand und vom Kutscher bei der Pflege des Verletzten gebraucht wurde. Grunzen und Keuchen, Flattern und Krächzen - mit diesen Lauten näherte sich der oder das, was jetzt die volle Aufmerksamkeit von Matt und Jeff und auch von Blacky und Batuti erregte.
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Konnte denn ein Mensch solche Geräusche verursachen? Nein, das war kein Mensch. Wohl handelte es sich um Lebewesen, aber nicht um solche; die über genügend Intelligenz verfügten, um die Sprache der Zweibeiner und die Befehle der Seeleute zu verstehen. Die zwei „Bordgeister“ der „Isabella“ waren es, die da herantobten. Sie hatten in der Mannschaftsmesse, die weiter achtern lag, gestritten. Sir John, der karmesinrote Aracanga, war dabei mit seinen Flügeln in die bedrohliche Nähe des von Ferris Tucker konstruierten Ofens geraten und hatte sich fast versengt. Dann war er aus dem halboffenen Schott nach vorn geflüchtet - und Arwenack, der Schimpanse, hatte die Verfolgung aufgenommen. Um was es diesmal ging, ob um eine Nuß oder eine Rosine, war völlig unerheblich. Von Bedeutung war nur, daß die beiden Streithähne geradewegs auf den Vordecksraum zuhetzten, in dem der gefangene Wikinger lag - und diese Tatsache wurde zu einer wahren Fatalität. „Himmel, Arsch und Zwirn“, wetterte Jeff Bowie nun los. „Ihr verdammten Bie ...“ Weiter gelangte er nicht, denn Sir John flatterte kreischend über seinen Kopf weg, und Arwenack schoß zwischen seinen Beinen hindurch, so daß Jeff aus dem Gleichgewicht geriet und mit dem Rücken gegen die Gangwand prallte. Matt Davies sah Sir John und den Affen wie einen Wirbelwind in den Raum fegen. Seine Flüche waren von der übelsten Sorte, von jener, die auch einer hartgesottenen Hafenhure noch die Röte ins Gesicht treiben konnte, doch damit änderte er nichts an den Gegebenheiten: Sir John suchte Deckung in dem offenen, dämmrig erhellten Raum - und Arwenack stürmte ihm mit gefletschten Zähnen nach. Blacky wandte den Kopf und rief: „Haut ab, ihr Mistviecher!“ „Hölle, macht hier keinen Mist nich'„, stieß Batuti hervor. Der Kutscher war voll auf seine Tätigkeit konzentriert, und in solch einem Fall nahm er von dem, was um ihn herum vorging,
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nur wenig wahr. Da konnten Wetter tosen und Masten brechen - erst verarztete er seine Patienten, dann kümmerte er sich um den Rest. Sir John flatterte über Jors ausgestreckter Gestalt herum, Arwenack tanzte auf und ab, hechelte, knurrte, grunzte und streckte die Vorderpfoten nach dem Papagei aus. „Arwenack, geh mir aus der Schußlinie“, brüllte Matt Davies. Arwenack traf keine Anstalten, dieser Aufforderung Folge zu leisten, denn erstens verstand er die Sprache der Zweibeiner nicht, und zweitens war er viel zu wütend auf Sir John, um auf Matts Gebrüll zu achten. Sir John hatte es satt, sich von dem Affen herumscheuchen zu lassen, und ging zur Gegenoffensive über. Mit Flüchen wie „Hurensohn“ und „Rübenschwein“ schoß er plötzlich auf den Schimpansen zu und hackte mit seinem gekrümmten Schnabel auf ihn ein. Arwenacks ganzer Mut verflüchtigte sich so rasch wie eine Bö, er wich aus, stieß einen Schrei aus und tapste auf Blacky zu. Er klammerte sich an Blacky fest, jammerte und brabbelte und versuchte, den erbosten Schnabelhieben des Aracangas zu entgehen. Blacky wollte sich den Affen vom Leib schaffen und mußte deshalb Jors Beine loslassen - und darauf hatte der Wikinger nur gewartet. Jors Beine krümmten sich, zuckten hoch und trafen als ersten den Kutscher. Der Kutscher fühlte sich brutal aus der Welt der praktischen Heilkunde und Feldscherkunst gerissen. Bronzene Glocken schienen in seinem von Jors Stiefel getroffenen Schädel zu dröhnen. Er wankte. Batuti brüllte auf und wollte dem Wikinger an die Gurgel. Matt Davies und Jeff Bowie - der sich inzwischen wieder gefangen hatte - zielten mit ihren Musketen in den Raum, konnten aber nicht auf den fluchenden, quicklebendigen Piraten feuern, weil sie Blacky und Arwenack vor ihren Waffenläufen hatten.
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Blacky wollte an seine Miqueletschloß Pistole heran, aber Arwenack kreischte und keckerte und klammerte sich so verzweifelt an ihm fest, daß er aktionsunfähig war. Sir John zeterte wie verrückt und hackte mit dem Schnabel auf den Schimpansen ein. In dem kleinen Raum war plötzlich der Teufel los. Jor verrenkte sich nahezu akrobatisch, wuchtete dem Gambia-Mann beide Stiefel gegen den Kopf - und auch Batuti mußte von dem Kerl ablassen, jedenfalls für einen Augenblick, der dem Seeräuber genügte, aufzuspringen. Jor rammte dem Kutscher die Faust gegen das Kinn, riß ihm die Pistole aus dem Gurt, fuhr herum und war plötzlich zu einem mörderischen, blindwütigen Rächer geworden, der drauf und dran war, Amok zu laufen. * Dennoch beging er nicht den Fehler, mit der Pistole auf den Kutscher, auf Blacky, Batuti, Matt Davies oder Jeff Bowie zu schießen. Der Knall wäre im ganzen Schiff zu hören gewesen und hätte die Männer alarmiert, die an Oberdeck das Ankermanöver durchführten und beobachteten. Außerdem hatte Jor nur den einen Schuß zur Verfügung, und das bedeutete, daß er einen Mann töten konnte und dann vier harte, erprobte Kämpfer gegen sich hatte, die nicht zögern würden, den Mord an ihrem Kameraden auf der Stelle zu vergelten. Nein, trotz seines grenzenlosen Hasses konnte Jor sich doch so weit beherrschen, daß er jetzt nicht abdrückte, sondern das in seiner Situation einzig Richtige tat: Durch einen panthergleichen Satz brachte er sich hinter den Rücken des Kutschers und bohrte diesem die Pistolenmündung in die Seite. Gleichzeitig schlang er ihm den linken Arm um den Hals und zerrte ihn so zu sich heran, daß der Kutscher für ihn zu einem lebenden Schutzschild wurde. Durch den Fußtritt gegen seinen Kopf war der Kutscher nicht besinnungslos
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geworden, er hatte nur Schmerzen und Benommenheit verspürt. Ehe er jedoch dazu kam, sich gegen den Zugriff des Wikingers zu wehren, war es zu spät. Batuti hatte den Angriff Jors so weit verdaut, daß er seinerseits zur Attacke übergehen konnte. Blacky hatte Arwenack abgeschüttelt, Sir John flatterte unter Protestgezeter aus dem Raum, weil er Angst vor Blacky hatte. Arwenack tobte hinter ihm her und prallte fast mit Matt Davies zusammen. Matt Davies und Jeff Bowie hatten die Schußlinie auf Jor, den schwarzen Piraten, nun wieder frei - doch die Läufe ihrer Musketen richteten sich auf den Kutscher, nicht auf Jor. „Schießt!“ rief Jor ihnen mit hämischer Miene zu. „Na los, drückt schon ab. Tötet euren Kumpel, ich warte darauf! Spickt ihn mit eurem Blei!“ Matt, Jeff, Blacky und der Gambia-Mann vermochten die Worte des Nordmannes nicht zu verstehen, wohl aber konnten sie sie deuten. Zu eindeutig und unverkennbar war die Lage. Wie vom Donner gerührt standen sie da und erstarrten. Jor hatte sich, während er noch hinter dem wie trunken dahockenden Kutscher gekauert hatte, den Schlüsselbund geangelt und zugesteckt. Jetzt richtete er sich auf und zwang den Kutscher mit sich hoch. Der Kutscher hatte fingerdicke Rohlederriemen um Jors Oberarme zusammengeknotet, um das Bluten des Mannes zum Versiegen zu bringen. Jor neigte jetzt jedoch den Kopf und biß zuerst den einen, dann den anderen strammsitzenden Riemen auf. Seine Arme drohten gefühllos zu werden. Die Riemen fielen zu Boden, und Jor dirigierte den Kutscher an Blacky und Batuti vorbei auf Matt und Jeff zu. Er drehte sich dabei so, daß er immer den Rücken frei hatte. Seitwärts versetzt schob er den Kutscher zum Schott, und so hatten Blacky und der schwarze Herkules nicht die geringste Chance, sich hinter den Piraten zu schleichen. „Matt“, sagte Jeff gepreßt. „Wir lassen ihn doch nicht 'raus, oder? Wir müssen doch was unternehmen.“
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„Was denn?“ fragte Matt. „Schweigt!“ fuhr der Wikinger sie in seiner Sprache an. „Los, jagt mir eine Kugel durch die Schulter, dann trefft ihr ihn“, forderte der. Kutscher sie auf. „Nun macht schon, auf was wartet ihr denn noch?“ „Hölle, Kutscher, aus dieser knappen Entfernung zerreißt dir die Musketenkugel glatt die ganze Brust“, murmelte Matt. Jor zog die Pistole hoch und hieb dem Kutscher den hölzernen Knauf des Kolbens ins Kreuz - zur Strafe dafür, daß er geredet hatte. Der Kutscher stöhnte auf. Jor zwängte sich mit seiner Geisel durch das offene Schott in den Gang hinaus und achtete wieder darauf, daß ihm keiner zu nahe geriet oder ihm in die Seite fallen konnte. „Hol's der Henker“, sagte Matt Davies ausdruckslos. „Und das alles wegen des verdammten Affen und des Papageis ...“ „Still, Matt“, warnte Jeff. Jor sagte wieder etwas Drohendes, blieb dann stehen und bedeutete ihnen durch eine Kopfbewegung, daß sie den Vordecksraum betreten sollten. Als Matt und Jeff nicht gleich parierten, preßte Jor dem Kutscher die Mündung der erbeuteten Pistole gegen die linke Schläfe und verstärkte den Druck, den sein linker Arm auf die Kehle seinen Gefangenen ausübte. Matt und Jeff gingen zu Blacky und Batuti. Schweigend standen sie alle vier da - dann fiel das Schott mit einem dumpfen Laut zu, und von außen wurde der Riegel vorgeschoben. „Mann Gottes“, stöhnte Blacky. „Jetzt sitzen wir vielleicht in der Scheiße.“ „Ich feure einen Schuß ab, der Hasard und alle anderen warnt“, sagte Matt Davies. „Warum haben die Kerls an Oberdeck denn den Lärm nicht gehört, den wir hier veranstaltet haben?“ fragte sich Jeff. „Ganz einfach“, antwortete Batuti leise. „Is' zu laut draußen. Eskimos jubeln aus Dankbarkeit.“ „Matt“, sagte Blacky. „Ziel mit der Pistole in die Ecke dort drüben. Dem Kutscher
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kann dieses verdammte Piratenschwein nichts anhaben, wenn wir jetzt feuern. Er weiß, daß er den Kutscher nicht töten kann ...“ „Daß er ihn jetzt noch nicht töten kann“, verbesserte Matt mit verkniffener Miene. Er gab seine Muskete an Jeff Bowie weiter, zog die Steinschloß-Pistole und zielte in die Ecke - dorthin, wo die Kugel keinen Schaden anrichten konnte, wo man sicher war, daß sie nicht weiterraste – etwa aufs Oberdeck — und jemand von der Crew durch puren Zufall verletzte. Matts Zeigefinger krümmte sich um den Abzug der Waffe. 4. Jor war nach seiner Niederlage mit acht anderen Wikingern im Vordeck der „Isabella VIII.“ eingesperrt worden. Die Tatsache, daß man ihn als letzten in den düsteren, engen Raum gesteckt hatte, erwies sich jetzt als ein unschätzbarer Vorteil, den er auszunutzen wußte. Auf diese Weise nämlich hatte er genau mitbekommen, in welche Räume seine Kumpane gepfercht worden waren. Im Gang des Vorschiffs wandte er sich nach achtern, hielt vor der nächsten Tür an und versuchte, mit einem der Eisenschlüssel des Bundes das Schloß zu öffnen, das die Verriegelung des Schotts geradezu hermetisch sicherte. Der Kutscher sagte sich im stillen, daß es besser gewesen wäre, wenn noch mehr Männer hier unten Wache geschoben und auf die Gefangenen aufgepaßt hätten, dann hätte dieser Zwischenfall nicht in dieser Form verlaufen können. Jor hätte auch mit ihm als Faustpfand keineswegs so leichtes Spiel gehabt. Andererseits: Hätte man denn ahnen können, daß fünf Männer der „Isabella“ nicht dazu imstande waren, einen Kerl wie diesen im Zaum zu halten, zumal der auch noch verwundet war? Wenn und hätte — es hatte keinen Sinn, darüber noch Gedanken zu verschwenden. Jor hatte nur eine Hand zur Verfügung, um den Kutscher festzuhalten, die andere
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diente ihm dazu, die Schlüssel durchzuprobieren. Er tat dies fluchend und unter dem enormen Zeitdruck, der ihm auferlegt war, weil er ja damit rechnen mußte, daß sein Ausbruch jeden Augenblick auch oben auf Deck bemerkt wurde. Der Kutscher wartete ab, bis der Wikinger den passenden Schlüssel gefunden hatte und damit in dem Schloß herumstocherte. Im selben Augenblick, in dem der Kutscher sich zum Handeln entschloß, krachte in dem Raum, in dem Jor bislang eingesperrt gewesen war, ein Schuß. Er dröhnte durchs Schiff. Oben, auf dem Hauptdeck, wurden fragende Rufe laut. Der Kutscher bückte sich blitzschnell und packte mit beiden Händen den Arm, der sich um seinen Hals geschlungen hatte. Er wollte Jor über seinen Rücken hinwegkatapultieren und ihn gegen die Wand des Ganges schleudern. Jor stieß einen Fluch aus, hieb mit der Faust zu —die Pistole hatte er sich wegen des Schlüssel-Manövers in den Gurt geschoben — und rollte sich von der Gestalt des zusammenbrechenden Kutschers ab. Er schwang wieder hoch, brachte das Schott auf, hinter dem in einem Raum vier Gefangene darauf warteten, befreit zu werden, dann hastete er weiter, noch ein Stück nach achtern zum nächsten Schott, um auch die restlichen vier Kumpane herauszulassen. Wieder verstrichen kostbare Augenblicke, denn er mußte den nächsten passenden Schlüssel aus dem Bund heraussuchen. In der Kammer, in der Jeff, Matt, Blacky und Batuti eingesperrt waren, belferte wieder ein Schuß. Blacky hatte seine Miqueletschloß-Pistole leergefeuert. Jor begriff, welchen schwerwiegenden Fehler er in seiner Eile begangen hatte. Er hätte den vieren die Waffen abnehmen sollen. Jetzt ließ es sich nicht mehr bewerkstelligen, jetzt mußte er zusehen, daß er seine Spießgesellen aus ihrem Schiffskerker holte und daß ihnen die Flucht von Bord gelang. Schritte polterten die Niedergänge hinunter.
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Hasard, Siri-Tong, Ben Brighton und Okvik, der Eskimo, hasteten an der Spitze vier verschiedener, rasch eingeteilter Gruppen von Männern auf die Schotten des Vor- und Achterkastells zu. Was los war, konnte man sich leicht ausmalen. Narr, schoß es dem Seewolf durch den Kopf, während er ins Vordeck hinunterstürmte, du hättest ahnen müssen, daß Jor, diese Bestie in Menschengestalt, auch im verwundeten Zustand noch jede Gelegenheit zu einem verzweifelten Ausbruchsunternehmen nutzt. Siri-Tong und ihrem Trupp, die das Backbordschott benutzten, um ins Vordeck zu gelangen, flatterte plötzlich Sir John entgegen. Und dann erschien auch der Affe Arwenack auf der Bildfläche. Beide Tiere hatten sich in der Kombüse, des Kutschers Reich, versteckt. Ihnen dämmerte wohl irgendwie, daß sie etwas Unheilvolles angerichtet hatten, denn Schüsse, soviel hatten sie gelernt, waren immer ein Zeichen für dicken Verdruß. Während die Rote Korsarin und die Männer weiterhetzten, flatterte Sir John zum Großtopp hoch - und Arwenack enterte wie von Furien gehetzt in den verlassenen Vormars auf, um sich dort zu verstecken. Jor hatte unterdessen auch seine übrigen Kumpane aus der Gefangenschaft befreit. Als diese bärtigen Kerle in den Gang hinausdrängten, erwachte der Kutscher aus seiner kurzen Ohnmacht. „Nach achtern“, zischte Jor seinen Männern zu. „Wir brauchen Waffen. Die Waffenkammer liegt, wenn mich nicht alles täuscht, weiter achtern.“ Sie wollten loslaufen, aber der Kutscher war plötzlich auf den Beinen und stürzte sich todesmutig auf den schwärzen Piraten. Ein Warnlaut ertönte - ein Wikinger aus dem mittleren Gefängnisraum hatte ihn ausgestoßen. Ehe dieser oder ein anderer Kerl den Kutscher stoppen konnte, war dieser bereits dicht vor Jor und schickte sich an, ihm geradewegs an die Gurgel zu springen. Jor riß die Beutepistole hoch.
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Aber das konnte den Kutscher nicht mehr stoppen. O, was für eine Wut hatte er im Bauch! Er mochte ein wenig schmalbrüstig sein, und es hatte auch einige Zeit gedauert, bis ihm die richtigen Seebeine gewachsen waren. Aber inzwischen war ein echter Kämpfer aus ihm geworden, der weder Tod noch Teufel fürchtete, wenn es hart auf hart ging. Der Kutscher hatte Jor fast erreicht. „Dir werde ich's zeigen!“ schrie er. Die Waffe krachte. Ein Feuerblitz zerriß die Dunkelheit und stanzte bizarre Muster in die Luft. Der Kutscher hatte die seltsame Empfindung, daß Jor ihn als krallenbewehrtes Tier aus diesem Aufblitzen heraus ansprang, ein Raubtier mit weit aufgerissenem Rachen, in dem dolchspitze Zähne blinkten. Der Kutscher verlor den Boden unter den Füßen, und, seltsam, es schien wunderschön zu sein, in die tiefste Finsternis zu entfliehen und weder mit Jor noch mit sonst jemandem auf der Welt irgendwelche Probleme zu haben. Das Stöhnen, das sich seinen Lippen noch entrang, vernahm der Kutscher bei seinem Rückwärtstaumeln und Stürzen auf die Planken des Ganges schon nicht mehr. Blacky, Batuti, Matt und Jeff stürzten an das Schott ihres Verlieses und trommelten mit den Fäusten dagegen. „Der Kutscher“, stieß Blacky immer wieder aus. „O mein Gott, sie haben den Kutscher fertiggemacht!“ * Hasard war mit seinem kleinen, wehrhaften Trupp noch vor Siri-Tong und deren Begleitern unten im Vordecksgang angelangt. Er drang mit langen Sätzen in die vor ihm liegende Dunkelheit vor, auf die Gefahr hin, durch einen Schuß niedergestreckt zu werden. Nichts konnte ihn jetzt mehr halten. Er hatte den Schuß vernommen, der mit einer Pistole im Gang abgegeben worden sein mußte, während die zwei Schüsse zuvor dumpfer geklungen hatten.
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Er hatte das Aufstöhnen eines Mannes gehört, und jetzt war da deutlich Blackys Stimme, die „der Kutscher, der Kutscher“ rief. Er bog um die Ecke, die ihn noch von den Gefängnisräumen trennte, und glaubte, die Bewegung von Gestalten vor sich zu erkennen. „Halt!“ schrie er. „Stehen bleiben!“ Das dort- war das Jor oder täuschte er sich am Ende und hatte seine eigenen Männer vor sich? Aber Blackys Stimme und das Trommeln von Fäusten drangen aus dem Verlies des Piratenführers, und das erklärte alles. Hasard hob seine doppelläufige sächsische Reiterpistole und gab einen Schuß gegen die Deckenbalken des Ganges ab. Im Aufblitzen der Waffe konnte er die Körper von Männern sehen, die sich zuckend zu regen schienen - ein Effekt, der durch das nur einen Augenblick anhaltende Licht des Mündungsfeuers hervorgerufen wurde. Und da war noch eine Gestalt - ganz dicht vor Hasards Füßen. Verkrümmt lag sie auf den Planken. „Der Kutscher!“ rief jetzt auch Carberry, der sich hinter Hasard befand. „Smoky, kümmere du dich um ihn!“ Hasard und der Profos stürmten an der bewegungslosen Gestalt des Kutschers vorbei und nahmen die Verfolgung der Flüchtenden auf. Der Seewolf fragte sich in diesem Moment, warum Jor und seine Kumpane nicht zurückschossen. Aber die Antwort lag auf der Hand: Sie hatten nur diesen einen Schuß, den sie auf den Kutscher abgegeben hatten, zur Verfügung gehabt. Mehr Waffen hatten sie nicht erbeuten können. Sie mußten sich erst Musketen, Pistolen, Säbel, Degen und Entermesser holen, wenn sie etwas gegen ihre Todfeinde ausrichten wollten. „Sie wollen die Waffenkammer erreichen!“ rief der Seewolf. „Halten wir sie auf!“ * Smoky war beim Kutscher und kniete sich neben ihn hin. Big Old Shane stoppte vor
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dem Schott, gegen das von der anderen Seite heftig getrommelt wurde. Er schob den Riegel beiseite. Das Schott wurde innen von Blacky aufgerissen, der Schein des immer noch brennenden Talglichtes fiel in einem breiten Streifen auf die Bodenplanken des Ganges und auf die gegenüberliegende Wand. Mitten in dem Lichtschein lag der Kutscher. Er ruhte auf seiner linken Körperflanke, den linken Arm ausgestreckt, als greife er nach etwas. Sein Arm und die geöffnete, schlaffe Hand hatten sich verkrümmt nach hinten gerichtet. Eine Blutlache bildete sich unter seinem Leib. „Allmächtiger“, sagte Smoky. „Tragt ihn nach oben“, sagte Shane rauh zu den Nachdrängenden. „Die anderen mir nach, wir müssen diese Hundesöhne packen.“ Smoky und Blacky blieben bei dem Kutscher. Dann traf auch die Rote Korsarin ein, die stehen blieb und mit erschütterter Miene auf den reglosen Mann hinunterschaute. Die anderen - Shane, Batuti, Matt Davies, Jeff Bowie, die beiden O'Flynns, Bob Grey und Luke Morgan folgten Hasard und dem Profos zur Mitte des Schiffes. „Smoky“, sagte Siri-Tong. „Nun sprechen Sie doch schon. Der Kutscher - ist er etwa ...“ „Ich weiß es nicht“, murmelte Smoky, dem plötzlich so elend und hilflos zumute war wie einem, der sein Heim, seine Angehörigen und sein Vaterland auf einen Schlag verloren hat. „Ich weiß es wirklich nicht, Madam.“ So war das: Man rechnete jeden Tag damit, das Zeitliche zu segnen, denn schließlich bargen die Seefahrt und alle damit verbundenen Abenteuer mannigfache Gefahren, aber jeder Mann dieses Schiffes betete im stillen doch immer wieder für sich und die Kameraden, es möge sie nicht erwischen, der gute Stern, der über ihnen schwebte, möge ihnen erhalten bleiben. Wenn das Schicksal dann doch zuschlug, war diese Realität so bitter und
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niederschmetternd, daß sie alle glaubten, sich nie wieder davon zu erholen. Genauso empfand Smoky in diesem Moment. „Hölle und Teufel“, sagte Blacky plötzlich. Seine Stimme klang ungewöhnlich rauh, irgendwie fremdartig. „Der Puls, Smoky, fühl doch mal nach seinem Puls. He, hörst du mich nicht?“ „Doch“, erwiderte der Decksälteste der „Isabella“ leise. Seine Finger tasteten nach dem rechten Handgelenk des Kutschers, aber er wußte nicht recht, wohin er genau greifen sollte. Puls fühlen, dachte er verzweifelt, bei allen verfluchten Geistern der See und beim Wassermann, wie, zum Teufel, geht das noch gleich? „Wenn du den Puls nicht finden kannst, dann horch doch einfach an seiner Brust“, drängte Blacky. „Mahn, Smoky, reiß dich zusammen. Hölle, was gibst du bloß für eine Figur ab?“ Smoky verlieh sich einen innerlichen Ruck, beugte sich tief über die Gestalt des Kutschers und lauschte an dessen Brust – dort, wo bei allen Menschen das Herz seinen Platz hat. „Mann“, entfuhr es Smoky. „Ich glaube, da ist was ...“ Siri-Tong stand jetzt bereits dicht neben ihm und sagte: „Smoky, lassen Sie mich den Kutscher untersuchen. Vielleicht habe ich das nötige Feingefühl dafür.“ „Gut, Madam. Himmel, ich habe sein Herz klopfen hören, es schlägt wirklich noch.“ Smoky merkte gar nicht, daß er stammelte. „Bei allen Heiligen, wenn der Kutscher nicht abkratzt, will ich nie mehr fluchen und mich nie mehr besaufen, ich versprech's.“ „Hör auf“, raunte Blacky. „Sei still.“ Siri-Tong kauerte sich neben den Kutscher. Ihre schlanken Finger ertasteten seinen Puls und registrierten den schwachen, langsamen Schlag. Auch sie legte ihr Ohr an die Brust des Kutschers und vernahm das verhaltene, fast stockende Pochen, das da von Leben und Hoffnung kündete. Die weiße Pelzmütze war ihr vom Kopf gerutscht. Sie nahm sie hastig wieder von
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den Planken des Vordecksganges auf, richtete sich auf, drehte sich zu den beiden Männern um und sagte: „Los, schnell, tragen wir ihn 'rauf, und bringen wir ihn in einer Koje unter. Er muß liegen, und dann muß einer von uns versuchen, ihm die Wunde zu versorgen. Vielleicht müssen wir die Kugel 'rausholen, wenn sie steckt, meine ich.“ Auch sie war sehr erregt, wie Smoky und Blacky feststellten. Wem ging es denn wohl nicht nahe, wenn dem Kutscher etwas zustieß? „Bringen wir ihn ins Logis, sagte Smoky. „Nein, in eine Achterdeckskammer“, sagte Blacky. „Das ist doch scheißegal ...“ „Scheißegal, jawohl“, sagte nun auch die Rote Korsarin. „Wichtig ist, daß wir ihn alle drei sehr vorsichtig hochheben und so behutsam wie möglich nach oben bugsieren. Los, fassen wir gemeinsam an.“ 5. Im Gang, der zur Waffenkammer der „Isabella“ führte, blieben zwei der neun Wikinger abrupt stehen und drehten sich auf einen Zuruf ihres Anführers hin um, um den Seewolf und Carberry zu stoppen. Hasard gab sich keinen Illusionen hin. Als Jor und seine Kerle von den Seewölfen hier hinuntergeführt und eingesperrt worden waren, hatten die Piraten auch bemerkt, wo die Waffenkammer lag, brauchten also nicht danach zu suchen. Aber, verdammt noch mal, lieber wollte Hasard krepieren, als zuzulassen, daß sie die Tür der Kammer aufbrachen, sich holten, was sie brauchten, und dann das Gemetzel losging. Hasard stürmte voran und prallte prompt mit einem der beiden Kerle zusammen, die ihn und den Profos aufhalten sollten. Hasard konnte noch einen Warnlaut ausstoßen, dann fiel er über den behelmten Nordmann her, und sie gingen beide im Kampf zu Boden. Der Bursche verlor seinen Helm. Carberry, der jetzt auch heran war, stolperte darüber, fluchte fürchterlich — und prallte auf den
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zweiten Gegner. Er empfing einen Hieb ins Gesicht, vergaß das Fluchen, reagierte und schoß einen rechten Haken auf den Kerl ab, hinter dem alle Wucht und Wut steckten, die der Narbenmann mit dem Rammkinn zu entwickeln vermochte. Und das war nicht wenig! Wenn der Profos so richtig in Fahrt geriet, dann war er imstande und rupfte den Großmast aus dem Kielschwein und putzte sich mit dem Großsegel die Nase. Und wo dann seine bratpfannengroßen Pranken hinschlugen, da wuchs garantiert kein Gras mehr. O ja, Edwin Carberry war mächtig in Fahrt, und dementsprechend drosch er mit seinen Fäusten auf den Wikinger ein. Er hatte den Kutscher wie einen Toten im Gang liegen sehen, und das hatte ihm gereicht. Zwar brüllte er gern mit dem Kutscher 'rum und nannte ihn einen Knochenflicker, Scharlatan und verlausten Kombüsenhengst, aber er mochte ihn bei all der Flucherei doch schließlich genauso gern wie all die anderen Rübenschweine der Crew. Hasard drosch mit ähnlichen Überlegungen auf seinen Gegner ein, und es war wohl der Zorn, der den Zweikampf so schnell entschied. Der Wikinger war ein bärenstarker Bursche, aber Hasard stand ihm in nichts nach und war außerdem schneller als er. Leichter hätten Hasard und der Profos das Ringen entscheiden können, wenn sie den Wikinger-Piraten einfach ihre Pistolen in den Leib gedrückt und sie abgefeuert hätten. Aber da war wieder die Fairneß, eins der ungeschriebenen Gesetze, die hier auf der „Isabella“ galten. Die Wikinger waren unbewaffnet und konnten nur mit ihren Fäusten kämpfen. Einem Gegner bot man immer mit denselben Mitteln Paroli, die auch er zur Verfügung hatte, es sei denn, man handelte in äußerster Notwehr. Hasard rammte dem Wikinger die Faust gegen die Schläfe, und dieser legte sich mit einem tiefen Seufzer schlafen. Hasard hetzte den anderen Kerlen nach, und jetzt war auch Ed Carberry wieder hinter ihm, denn er hatte seinen Gegner ebenfalls ins Reich der Träume schicken können.
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Carberry wollte aufholen und sich Seite an Seite mit seinem Kapitän auf den Resttrupp der Feinde stürzen. Aber der Seewolf war zu schnell. Flinker konnte auch der Profos nicht laufen. So war Hasard als erster zwischen den sieben Nordmännern, duckte sich, wehrte Hiebe ab und teilte selbst welche aus. Carberry war wieder zur Stelle, Und dann erschienen auch Shane, die O'Flynns, Batuti, Jeff, Matt und all die anderen, die von der Kuhl aus ins Vordeck hinuntergejagt waren, und mischten sich mit Gebrüll in die Keilerei ein. Sekunden später trafen auch Ben Brighton und Okvik mit ihren Gefolgschaften von achtern her ein. Im Nu hatten sie die Wikinger überwältigt, aber es fiel dabei kein Schuß, und auch keine Blankwaffe wurde benutzt. Okvik und die anderen Eskimos, die sich an dem Handgemenge beteiligten, hielten sich ganz an die Taktik der Seewölfe, nur die Fäuste zu benutzen. Insgeheim imponierte es dem Häuptling der Jäger mächtig, daß die Männer der „Isabella“ sich noch so anständig den Nordmännern gegenüber verhielten, da sie doch allen Grund gehabt hätten, die Kerle auf der Stelle zu erschießen oder zu erdolchen. Jor war an der Tür zur Waffenkammer. Er versuchte mit verzerrter Miene, sie doch noch zu öffnen. Seine Finger flogen und suchten nach dem passenden Schlüssel für das Schloß, der Bund rasselte in seinen Händen. Hasard hatte sich, als der Kampf schon entschieden war, zu ihm durchgearbeitet und stellte ihn jetzt. Mit einem Schlag holte er ihm den Schlüsselbund aus den Fingern, der klirrte mit einem harten Laut auf die Planken. Hasard setzte dem Wikinger die rechte Faust unters Kinn. Der Kerl taumelte zurück, prallte gegen die Wand und sank schlaff daran zu Boden. „Erledigt“, sagte der Profos, der Jor im Halbdunkel des Ganges auch hatte zusammenbrechen sehen. „Damit wäre der Aufstand der Narren niedergeschlagen. Aber ich hätte große Lust, diesem
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Dreckskerl da die Knochen zu brechen. Der Kutscher - er scheint ihn übel erwischt zu haben.“ Hasard dachte für einen winzigen Augenblick an den Kutscher, und dieser Moment genügte Jor. Jors Zusammenbruch war nur eine Finte gewesen. Der Kerl raffte sich unversehens wieder auf, sprang an Ben Brighton und Okvik vorbei, lief durch den Gang davon und war im nächsten Augenblick im Dunkel verschwunden. Er floh ins Achterschiff. Hasard nahm sofort wieder die Verfolgung auf, prallte beinah gegen Ben Brightons stämmige Gestalt, war dann an Ben und den anderen vorbei und lief in den großen Frachtraum der „Isabella“, in dem Jor verschwunden sein mußte. Hinter Hasard war das Rumoren der erbosten Männer. Vor sich, nicht weit entfernt, konnte er das Tappen und Schurren von Jors Stiefeln vernehmen, aber er konnte den Mann nicht sehen. Fluchen hatte hier keinen Sinn. Auch nicht, sich mit Selbstvorwürfen zu überhäufen. Zweimal war Jor entwischt, ein drittes Mal durfte es ihm nicht gelingen. Teufel, hast du jetzt endlich gelernt, ihn richtig einzuschätzen? fragte sich Hasard. Poltern und Knirschen - da waren sie wieder, die Schritte. Jor bewegte sich vom Frachtraum in die Mannschaftsmesse. Das Schott stand halb offen, in dem glutigen Schein, den Ferris Tuckers' wunderlicher Ofen aus Silberbarren verbreitete, nahmen sich die Körperformen des Wikingers für kurze Zeit aus. Hasard schrie: „Halt, stehen bleiben!“ Jor dachte nicht daran, dem Befehl zu gehorchen. Er verschwand wieder, und Hasard hob zwar noch seine Reiterpistole und jagte einen Warnschuß über den Kopf des Piraten. doch Jor reagierte nicht darauf. Hasard rannte geduckt weiter. Würde Jor in der Mannschaftsmesse verharren - geblendet von dem Wert der Silberbarren, von dieser offensichtlichen Verschwendung des so kostbaren
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Materials? Dann hatte der Seewolf ihn, dann gab es kein drittes Entkommen. Aber Jors Selbsterhaltungstrieb siegte über jedes andere Gefühl. Jor lief durch die Messe, war jetzt im Achterkastell, enterte die hölzernen Stufen eines Niedergangs hoch und wollte ins Freie - nur noch 'raus aus dem Dunkel und der Enge des Schiffsinneren, das für ihn zur Falle werden konnte. Hasard langte bei dem Niedergang an und nahm ihn mit drei Sätzen. Ein Deck weiter oben hörte er den Wikinger wieder herumpoltern, ortete, woher die Laute kamen, wandte sich weiter nach achtern und wußte, welches Ziel sich der Wikinger gesetzt hatte. Er wollte die Kapitänskammer erreichen. „He, was ist da los?“ ertönte plötzlich eine Jungenstimme. „Wer ist da - bist du es, Dad?“ war eine zweite Stimme zu vernehmen, die sich kaum von der ersten unterschied. Philip und Hasard, die Zwillinge! Sie hatten sich auf ihres Vaters Geheiß hin nicht aus dem Achterkastell fortgerührt, als die Schüsse im Vordeck gekracht hatten. Hasard hatte sie auf diese Weise schützen wollen, aber jetzt gerieten sie in äußerste Bedrängnis, weil Jor natürlich auch ihre Stimmen gehört hatte. „Philip, Hasard!“ schrie der Seewolf. „Zur Kuhl! Fort mit euch, hört ihr? Haut ab und geht in Deckung, verdammt noch mal!“ „Ja!“ riefen die Jungen zurück und: „Aye, Sir!“ Hasard sah ihre Gestalten als Schatten durch das Halbdunkel huschen. Sie benutzten den Mittelgang und liefen auf ihren Renlederstiefeln so schnell nach vorn, als säße ihnen der Teufel im Nacken. Hasard befand sich in einem Quergang, der ungefähr das achtere Drittel der Hütte von den vorderen zwei Dritteln abtrennte. Auch Jor mußte diesen Gang benutzt haben, um zur Kapitänskammer zu gelangen, aber jetzt war es die Frage, ob er seinen Weg fortsetzte oder abstoppte und sich umdrehte, um die Zwillinge zu fassen. Er mußte sich jetzt im Mittelgang befinden, links von Hasard.
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Plötzlich bemerkte der Seewolf eine Bewegung von links. Ein behelmter Kopf schien sich da vorzuschieben, kein Zweifel, es war Jor, der schwarze Pirat. Hasard zögerte nicht und zog sein Messer. Die Doppelläufige war leergefeuert, und er hatte keine Zeit dazu gehabt, sie nachzuladen. Andere Schußwaffen trug er nicht bei sich. Seine Hand zuckte vor, das Messer glitt zwischen seinen Fingern hervor und raste auf den Kopf .des Wikingers zu. Nur um knapp eine Handspanne flog es an dem schweren Bronzehelm vorbei und bohrte sich mit einem harten Laut in die jenseitige Gangwand. Jor wich zurück. Seine Schritte entfernten sich wieder. Philip und Hasard waren außer Gefahr. Hätte der Seewolf aber nicht sein Messer benutzt, dann wäre der Kerl nicht davor zurückgeschreckt, die beiden Achtjährigen als Geiseln zu nehmen. Damit wäre die Partie endgültig verloren gewesen. Hasard erreichte den Mittelgang, bog nach links ab, eilte weiter und sah, wie sich die Tür zur Kapitänskammer öffnete. Im nächsten Moment knallte sie wieder zu. Den Lauten nach, die jetzt erklangen, versuchte Jor, sie von innen zu verrammeln. Hasard stoppte nicht ab. Mit voller Wucht warf er sich gegen die Tür und spürte einen heftigen Schmerz, der seine Schulter durchfuhr. Die eisernen Angeln der Tür hielten dem Aufprall stand, nicht aber das Schloß. Die Tür flog auf, und mit ihr wirbelte der Seewolf mitten in seine Kammer. Er strauchelte, fiel und versuchte, seinen Sturz noch mit den ausgestreckten Händen abzuschwächen. Aus den Augenwinkeln sah er dabei Jor. Der Wikinger hatte die erstbeste Waffe an sich gerissen, die er fand. Es war ein Cutlass, der an zwei Nägeln an der Wand gehangen hatte, eine von vielen Blankwaffen aus Hasards privater Sammlung. Hasard rollte sich auf dem Boden ab. Doch bevor er sich ganz aufrichten konnte, sah
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er die gut geschärfte Klinge des Cutlasses auf sich zuschwingen. Jor stieß einen triumphierenden Schrei aus. * Der etwas untersetzte, breitnackige Mann mit den zwei Messernarben im Gesicht hieß Hackett. Er hatte zu dem Trupp gehört, mit dem Fagaralle das Achterdeck der einstigen „Miß Hannah“ gestürmt und erobert hatte. Curly Saunders' Schiff, von Fagaralle, auf den Namen „L’Invulnérable“ umgetauft – es segelte immer noch unter dem weißlichen, unwirklichen Licht der Mitternachtssonne. Die Welt aus Eis und Schnee und grauem Wasser und beißender, unbarmherziger Kälte schien kein Ende zu haben. Man hatte den Eindruck, im Kreis zu fahren, immer nur im Kreis herum. Hackett war es, der an diesem Tag mit ernster Miene zu Fagaralle trat. Sie trafen sich unweit des Großmastes und musterten sich zunächst schweigend. Hackett war in diesen Tagen seit dem gewaltsamen Kommandowechsel an Bord der Zweimast-Karavelle zum Sprecher der Crew geworden, so etwas wie ihr Decksältester, wenn es auch noch zwei, drei andere Männer gab, die älter waren als er. Wie auch immer: Er, Hackett, war der hellste Kopf nach Fagaralle, prädestiniert dazu, die Interessen der Mannschaft dem selbsternannten Kapitän gegenüber zu vertreten. Hackett .wußte, daß Fagaralle längst begriffen hatte, was er von ihm wollte. Und er ahnte auch, wie der Franzose reagieren würde. Fagaralle fixierte den Engländer aus schmalen, kalten Augen. „Nur zu, Hackett“, sagte er dann plötzlich in seinem akzentfreien Englisch. „Unter der Crew breitet sich Unzufriedenheit aus, Sir“, erklärte Hackett ohne Umschweife, und er hatte dabei auch den Nerv, Fagaralle offen anzusehen. Ja, er begegnete dessen eisigem Blick ohne ein Anzeichen von Unsicherheit.
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Gerade das versetzte Fagaralle in Wut, aber er wußte sich zu beherrschen. „Hör zu“, sagte er. „Die Crew hat keinen Grund dazu, unzufrieden zu sein. Ich habe sie gerettet. Ich habe euch alle vor einer Reihe von scheußlichen Todesarten bewahrt, habt ihr das vergessen?“ „Nein, Sir.“ „Was ist dann der Grund für diese Mißstimmung, von der du sprichst?“ „Sir, Sie wissen doch, um was es geht. Warum machen Sie's mir so schwer?“ Nur Hackett konnte in diesem Tonfall mit dem Franzosen reden. In der kurzen Zeit seiner Herrschaft über die dreißig Männer hatte Fagaralle es sehr wohl verstanden, ihnen den nötigen Respekt vor sich einzuflößen. Ohne große Gewaltanwendung hatte er das geschafft, allein seine harte, unbeugsame Wesensart und die Kälte, die von seiner hochgewachsenen Erscheinung ausging, hatten diesem Haufen verwegener Männer suggeriert, daß es besser war, sich in keiner Frage offen mit ihm anzulegen, sondern lieber erst einmal Hackett vorzuschieben. „Laß uns aufs Achterdeck gehen“, sagte Fagaralle. Er drehte sich um und ging voran, vorbei an den Männern, die gerade wieder Eis vom Schanzkleid und von den Planken klopften. Immer wieder kroch der Frost übers Schiff, und ein Panzer aus Eis drohte sich von einer Stunde auf die andere um den Rumpf zusammenzuziehen, so bedrohlich, daß man meinen mußte, das Eis würde das Schiff früher oder später zerquetschen. Deshalb und wegen der großen Rutschgefahr zerschlugen die Männer immer wieder das Eis. Auf dem Achterdeck blieb Fagaralle an der Querbalustrade stehen. Er drehte sich ziemlich abrupt um, stützte eine Hand auf und empfing Hackett erneut mit einem seiner eiskalten Blicke, ganz in weißes Bärenfell gehüllt, ganz respektheischende Autorität. „Es dauert diesen Hunden zu lange, nicht wahr?“ sagte der Franzose gedehnt. „Sie können nicht schnell genug zurück zu ihrem verdammten, nach Fisch stinkenden
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Bacalaos kommen, was? So kleingeistig und engstirnig sind diese Brüder. Ein undankbarer Haufen - das sind sie.“ Er stammte aus Dieppe, und es war in dieser Hafenstadt an der Küste der Normandie eine Tradition geworden, jedes Frühjahr Segelschiffe auszurüsten und zu bemannen und auf die Reise nach Neufundland zu schicken. Seit ein gewisser John Cabot kurz vor der Jahrhundertwende dieses Land entdeckt und als reiche Fischgründe erschlossen hatte, unternahmen die Franzosen wie die Engländer und Holländer ausgedehnte Seereisen dorthin und brachten nach Monaten ihre Schiffe, die bis unter die Ladeluken mit Kabeljau und Dorsch gefüllt waren, wie schwerfällige Tiere zurück in die heimatlichen Häfen. Fagaralle hatte als Decksmann auf einem solchen Kabeljaufänger gearbeitet, aber er hatte den Dienst gehaßt und war davongelaufen, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu geboten hatte. Er war nach Labrador vorgestoßen, hatte die Sprache der Eskimos gelernt - und die Kunst, in ihrem Land zu jagen und zu überwintern. Er, der geborene Intrigant und Meuterer, hatte die Karibu-Jäger bei Tunungayualok aufgewiegelt, hatte sie ihren Häuptling Ajataq davonjagen lassen und er wäre heute noch dort gewesen, wenn sich nicht der Zwischenfall mit der „Isabella“ und deren höllischer Besatzung ereignet hätte, wenn diese elenden Kerle, die der Teufel höchstpersönlich gerufen haben mochte, nicht plötzlich wie aus heiterem Himmel erschienen wären und Cyril Auger und dessen Gefährten herausgehauen hätten. Fagaralle schloß unwillkürlich die Augen, um nicht schon wieder daran denken zu müssen. „Sir“, sagte Hackett so ruhig wie möglich. „Das ist es nicht. Nicht Neufundland, meine ich. Sie würden gern zurück nach England fahren. Die Männer haben die Polarwelt satt, gründlich satt. Mir geht es genauso. Ich ...“
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„Nehmen wir mal an, ich will nicht nach England segeln“, unterbrach ihn der Franzose. „Aber wir dachten doch alle ...“ „Ihr müßt das Denken mir überlassen, Hackett.“ „Sir, Sie haben gesagt, Sie würden uns hier herausführen.“ „Das tue ich auch.“ „Wann?“ „Wenn es mir gefällt, Hackett, du Großmaul.“ „Wir hätten die östliche Passage, die uns nach Grönland 'rüberbringt, längst erreichen müssen“, sagte Hackett gepreßt. „Dabei segeln wir noch immer an dieser verdammt großen Insel entlang, die nie aufzuhören scheint, immer weiter nach Nordwesten 'rauf. Wie reimt sich das zusammen?“ „Darauf erwartest du doch wohl keine Antwort, Hackett.“ „Reichtum haben Sie uns versprochen.“ „Ich halte mein Wort.“ „Davon ist bis jetzt nichts zu merken“, sagte Hackett etwas lauter, und unten auf der Kuhl ruckten einige Köpfe herum. Augenpaare hefteten ihre Blicke auf die beiden Sprecher – neugierig, lauernd, ernst oder spöttisch. „Hackett, ich verbitte mir diesen Ton.“ Aus Fagaralles Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Er wußte, daß er der Auseinandersetzung mit dem Burschen nicht mehr ausweichen konnte. Offene Konfrontation, das hieß: Er mußte es diesem Hackett mit unerbittlicher Härte zeigen, wer der Kapitän auf der „Invulnerable“ war. „Sie wissen selbst nicht, wo die Passage ist!“ rief Hackett. „Geben Sie's endlich zu, Fagaralle, Sie brechen sich dabei ja keinen Zacken aus der Krone, oder?“ „Ich kenne mich aus.“ „Nicht hier!“ „Hier und überall.“ „Wo ist die Durchfahrt nach Grönland?“ „Das werde ich dir gerade auf die Nase binden, du dreckiger Bastard!“ schleuderte der Franzose seinem Diskussionspartner haßerfüllt entgegen.
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„Wo sind wir überhaupt?“ schrie Hackett. „An der Einfahrt zur Hölle!“ brüllte Fagaralle ihn an. „In einem Labyrinth aus hundert Inseln und ebenso vielen Meeresstraßen!“ schrie Hackett mit überkippender Stimme. „Wir kommen hier nicht mehr 'raus, nie mehr, und wir müssen doch elendig verrecken, du hast es nur ein wenig hinausgezögert, Fagaralle! Gib es zu! Wir wissen, daß du ein gottverdammter Lügner bist!“ „Ein was?“ „Ein Lügner ...“ Fagaralles Faust war zu schnell vor Hacketts Kinn und zuckte darauf zu. Hackett konnte sich nicht gegen den Schlag wehren. Ein deftiger, wohlgezielter Hieb unter seine Kinnspitze war es. Der Franzose hatte schon eine Weile den Punkt anvisiert, den er zu treffen gedachte. Jetzt knallten seine harten Knöchel gegen Hacketts Kinnlade, und dieser fühlte sich angehoben und zurückgeworfen, rutschte auf dem glatten Deck aus und landete auf dem Rücken. Hackett schlidderte ein Stück weiter, bis zum Niedergang, der an Backbord vom Achterdeck auf die Kuhl hinabführte. Fagaralle schritt ihm nach, holte mit dem rechten Stiefel aus und trat ihm in die Seite. Hackett stöhnte auf. Er sah den blaßblauen Himmel über sich plötzlich mit grellroten Streifen und Wirbeln durchwirkt, dann drehte sich alles um ihn herum, und er fühlte sich weggerissen in eine andere Sphäre. Hackett lag auf der obersten Stufe des Niederganges. Fagaralle gab ihm noch einen Tritt, und der gewichtige Mann rutschte die eisbedeckten Stufen hinunter auf die Kuhl. Er überschlug sich ganz unten, seine Hacken schlugen dumpf auf die Planken. Reglos blieb er liegen. Totenstille herrschte plötzlich an Bord der „Invulnerable“. Nur das Knarren der Blöcke und des Tauwerks war zu vernehmen. Fagaralle stand breitbeinig am oberen Ende des Niederganges und überlegte, ob er die Pistole ziehen solle. Einige der Männer blickten ihn jetzt offen feindselig an.
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Nein, diesen Schwächebeweis wollte er ihnen nicht geben. Er mußte die Situation so meistern, allein durch seine Autorität. „Tragt ihn weg“, sagte er kalt. „In die Vorpiek, da soll er frieren und jammern. Wird's bald?“ Zwei Männer bückten sich nach Hacketts schlaffer Gestalt, hoben sie auf und transportierten sie zum Vordeck. Hacketts Leib hing schwer und gekrümmt zwischen den beiden. Fagaralle warf ihm einen Blick nach und dachte: Siehst du, mein Freund, jetzt habe ich doch gewonnen! „Was steht ihr herum und glotzt?“ fuhr er die Männer an. „Schert euch an eure Arbeit!“ Wenn sie wirklich meuterten und das taten, was er gegen Saunders unternommen hatte, dann hatte er wenig Chancen, zu überleben. Er stand auf verlorenem Posten und konnte nur zwei oder drei von ihnen mit auf die Höllenfahrt nehmen, ehe es ihn selbst erwischte. Aber die Sicherheit eines Kapitänspostens wurde durch die eiserne Härte bestimmt, mit der man ihn hielt. „Wir halten unseren Kurs!“ rief er. „Wir finden den Weg um die große Insel herum!” „Aye, Sir“, murmelten die Männer. „Wir werden wieder jagen und reiche Beute machen!“ „Aye, Sir.“ Etwas versöhnlicher sagte der Franzose von seinem Stammplatz an der Querbalustrade des Achterdecks aus, den er jetzt wieder eingenommen hatte: „Und wer seine Arbeit einwandfrei durchführt, der erhält nachher eine Extraration Whisky.“ „Danke, Sir!“ riefen die Männer, und diesmal klang es etwas begeisterter. „Ihr werdet noch sehen, was für ein Glück wir haben!“ rief Fagaralle. Plötzlich kam es ihm einfach in den Sinn, sie mit etwas Höherem, Verlockenderem bei Laune zu halten. „Und es ist nicht ausgeschlossen, daß wir irgendwann auf ein anderes Schiff treffen, das Schätze an Bord hat. Solche Schiffe verkehren hier oben, um nach der
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berühmten, nie entdeckten NordwestPassage zu forschen!“ Sie sahen ihn wieder an, erstaunt, ungläubig - und doch voll gieriger Hoffnung. Was der Franzose sagte, war natürlich völlig aus der Luft gegriffen. Aber er fügte gleich noch hinzu: „Und wenn wir eine Begegnung mit einem solchen Kahn haben, dann schießen wir ihn zusammen, entern ihn und holen uns Gold und Silber und was er sonst noch alles mit sich führt!“ „Es lebe Fagaralle!“ rief ein Decksmann plötzlich. „Ein dreifaches Hurra für unseren Kapitän!“ brüllte ein anderer. Die Hurra-Rufe tönten über Deck und in die öde Wasserwelt hinaus. Sie waren der groteske Beweis für das vorgetäuschte, gewollte Vertrauen einer verzweifelten Mannschaft in ihren zwielichtigen Kapitän. 6. Hasard handelte instinktiv und ließ sich einfach wieder fallen. Nur so rettete er sich, denn die Klinge des Cutlass' hackte auf seinen Kopf nieder und fuhr, als er sich zur Seite warf und noch einmal überrollte, nur um Haaresbreite an seiner linken Schulter vorbei. Es gab einen scharfen, ratschenden Laut - die Spitze der Klinge rasierte über die Vorderseite des Kapitänspultes und hinterließ eine Schramme. Jor brüllte auf und riß den Schiffshauer wieder hoch. Die unmittelbare Nähe des Todes beflügelte den Seewolf. Mit einem Sprung war er jetzt auf den Beinen, stand breitbeinig und leicht gebückt da und riß den Degen aus der Scheide. Er stellte sich dem Wikinger und parierte dessen nächsten Waffenhieb. Klirrend trafen die Klingen aufeinander. Jors Miene war ungläubig. Er hatte gedacht, die viel breitere Klinge des Cutlass' würde den feinen Degen mühelos zertrümmern. Aber Degen war eben nicht Degen, und der, den Hasard trug, war aus besonders gutem Waffenstahl geschmiedet.
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Jor versuchte es noch einmal und drosch mit dem Entermesser auf den Gegner ein. Hasards Degen flog hoch, die Klinge beschrieb ein blitzendes Muster in der Luft - und wieder wehrte er den mörderischen Schlag des Nordmannes ab. Jor keuchte. „Ich töte dich“, stieß er hervor, während seine Augen unnatürlich hervorzuquellen schienen.. „Ich bring dich um, dein Leben ist jetzt schon verwirkt.“ „Streich die Flagge, Pirat“, sagte der Seewolf. Sie verstanden sich gegenseitig nicht, aber das war völlig unerheblich, denn es war die Sprache der Waffen, die den Moment regierte. Wieder attackierte Jor, und diesmal war sein Verhalten noch ungestümer. Hasard blockte ab und verhielt sich abwartend. Er wollte Jor durch diese Taktik bis zur Weißglut reizen und völlig aus der Reserve locken. Erst dann würde er zum Gegenangriff übergehen. Der Wikinger trachtete, Hasard in die Enge zu treiben, aber Hasard hielt seine Position. Auch das Bestreben Jors, den Degen zu zerhauen, blieb ohne Erfolg. Zuletzt schien er geradezu besessen zu sein von dem Wunsch, Hasard mit nur dem Degenheft und dem Klingenstummel in der Hand dastehen zu sehen. Hasard konterte, behielt seinen Platz in der Kammer bei und wich um keinen Zoll vom Fleck. Während sie fochten, beobachtete er Jors Gesicht. Von Jors Warte ausgesehen war es durchaus richtig, sich dem achteren Teil der Hütte zugewandt zu haben und nicht etwa der Kuhl. Auf dem Hauptdeck wäre Jor im Nu von den Männern, die dort inzwischen wieder aufgetaucht waren, umzingelt und überwältigt worden. In der Kapitänskammer hatte der Wikinger überdies wie vermutet die Waffe gefunden, die er so dringend brauchte, um sich die Gegner vom Leib zu halten. Aber jetzt ging eine Veränderung mit ihm vor. Seine Züge schienen zu verfallen, seine Gesichtshaut 'wurde aschfahl. Er wankte. Die Bißwunden, die der Kutscher frisch
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verbunden hatte, waren wieder aufgebrochen. Niemals hätte sich Jor der Lederriemen entledigen dürfen, die den Blutfluß stoppen sollten. Hasard parierte noch einen wilden, recht ungelenken Ausfall des Wikingers, dann stieß er jäh vor, durchbrach Jors Deckung und zog ihm die Degenklinge über die rechte Hand. Jor hatte mit einem solchen 'Angriff nicht gerechnet, nicht in diesem Augenblick, und Hasards Attacke traf ihn in einem Moment, in dem seine Wahrnehmungen und Reflexe erheblich gestört waren. Deshalb entglitt der Cutlass Jors Hand. Er versuchte noch, ihn mit der linken Hand abzufangen, aber es war vergeblich. Der schwere Schiffshauer polterte zu Boden. Jor wurde es schwarz vor Augen. Er erwartete den tödlichen Degenstoß, aber dieser blieb aus. Jor hörte den Seewolf wie aus weiter Ferne sprechen, ohne seine Worte zu verstehen. „Es ist aus, Jor. Wage keinen Widerstand mehr, denn es wäre dein sicherer Tod.“ Jor warf sich herum und stürzte torkelnd zur Tür, die auf die Heckgalerie der „Isabella“ hinausführte. Sie war nicht verschlossen, er konnte sie öffnen, ehe der Seewolf bei ihm war. Hasard stürzte Jor nach, streckte die Hand nach ihm aus und wollte ihn festhalten, aber der Pirat riß sich los, war auf der Galerie und an der hölzernen Balustrade. Er prallte dagegen, schwang sich mit seltsam linkischen, fast ersterbenden Bewegungen darüber und ließ sich einfach fallen. Kurz war der Sturz, dann klatschte es im Wasser, und Jors Gestalt mit der Fellkleidung, dem schweren Bronzehelm und dem dichten Bartgestrüpp verschwand darin. Hasard, der an der Balustrade stand und nach unten blickte, vernahm über sich einen Ruf. Er schaute auf und sah oben, neben der eisernen Hecklaterne des Schiffes an dem achteren Teil des Schanzkleides, seine Söhne stehen. Auf das Achterdeck waren sie geflüchtet und hatten der letzten Phase des Zweikampfes beigewohnt.
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„Dad, er entwischt!“ schrie Philip junior. „Wir müssen ihm nach“, fügte Hasard junior hinzu, als hinge der Ausgang des Ganzen einzig von seiner Initiative ab. Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Wir brauchen nichts mehr zu tun.“ Entwischen? Wohin wollte Jor denn in dem eisigen Wasser schwimmen? An Land etwa, wo die Eskimos auf ihn warteten? Zu den Kajaks, wo die Krieger der Stämme bereits ihre Harpunen und Bogenpfeile auf die Stelle gerichtet hatten, an der der Kerl wieder auftauchen würde? In Richtung auf die „Sparrow“ und das Drachenboot, deren Besatzungen längst auf das aufmerksam geworden waren, was sich auf der „Isabella“ abspielte — die nun Anstalten trafen, einzugreifen und ihn aufzufischen? Nein, auf Flucht konnte Jor nicht mehr hoffen. Sein Sprung ins Wasser war eine reine Verzweiflungstat — er hatte den Freitod gesucht. Ben Brighton, Ferris Tucker, die O'Flynns, Shane und ein paar andere hatten die Kapitänskammer erreicht, durchquerten sie, sahen die Spuren des Duells — wie die Schramme am Pult des Seewolfs — und stürzten mit besorgten Mienen auf die Heckgalerie hinaus. Sie atmeten auf, als sie den Seewolf allein und unversehrt dastehen sahen. Ben trat neben seinen Kapitän, und dieser wies auf die Gestalt Jors, die wieder aufgetaucht war. Reglos trieb sie in den klaren, eisigen Fluten. „Der hohe Blutverlust hat ihm die Besinnung geraubt, und er ist ertrunken“, sagte Hasard. „So stirbt ein kaltblütiger Mörder und Schnapphahn — Mitleid kann ich mit ihm nicht haben.“ „Ich auch nicht“, meinte Ben Brighton. „Keiner von uns.“ Er verfolgte, wie einige Kajaks auf die Leiche des Seeräubers zuglitten und die Eskimos sich anschickten, den Verbrecher aufzufischen, der wie ein Raubtier über ihre Brüder hergefallen war und sieben von ihnen getötet hatte.
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„Wie ist es um den Kutscher bestellt?“ fragte Hasard. „Siri-Tong, Blacky und Smoky haben ihn ins Logis gebracht.“ „Das ist keine Antwort auf meine Frage, Ben.“ „Es geht ihm verdammt schlecht, glaube ich.“ „Glauben ist nicht wissen, Mister Brighton“, sagte der Seewolf mit steinern wirkender Miene. „Ich will mich selbst um den Kutscher kümmern.“ * Die Welt schien nur aus der schwarzen Nacht zu bestehen, aus dem Firmament, das durch Kometenschweife und Asteroiden bunt und bizarr wirkte. Irgendwo in dieser merkwürdigen Sphäre war ein Summen und Murmeln, aber weder die Ursache noch die Herkunft dieser Laute ließ sich feststellen. Du bist blind, dachte der Kutscher, und die Verzweiflung war eine große schwarze Spinne, die auf seinen Leib kroch und ihn zu würgen versuchte. Du bist verrückt, sagte er sich dann wieder, du träumst doch nur und machst dir Gott weiß was für Sorgen um Dinge, die überhaupt nicht existieren. Aber wieso Alpträume? Ist doch alles in Ordnung, dachte er, ist doch gar nichts passiert, wieso dann böse Visionen und Dämonenbilder, wie sie Old O'Flynns abergläubischem Geist vorschweben? Zum Teufel mit dem ganzen Zeug, wach jetzt auf, befahl er sich selbst. Thule - wir sind in Thule. Es soll gefeiert werden. Bärensteaks - Himmel! Es soll doch heute mittag von dem Eisbärfilet geben, hol bloß das gute Stück zum Vorschein, schneide es in dicke Scheiben und heiz die Feuer an, damit der Profos nichts zu meckern hat. Au, verdammt, so ein scharfer Schmerz in der Schulter. Hast wohl schlecht gelegen, sagte er sich, aber das geht gleich wieder weg.
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Aber dieses Dröhnen im Schädel, das jetzt zunahm, dieses elende Gefühl der Übelkeit und Beklemmung, es wollte nicht weichen. Das Murmeln und Summen nahm zu, gleichzeitig wuchs auch dieses Tosen und Gongschlagen wie von bronzenen Kirchenglocken. Brummschädel, dachte der Kutscher, du hast einen ganz schönen Katzenjammer, Himmel noch mal, dabei hast du doch gar nichts getrunken! Die Extraration Rum - die könntest du jetzt gut gebrauchen, damit dir ein wenig wohler wird. Also: aufstehen jetzt, Wasser kochen, Rum mit heißem Wasser aus der Muck trinken, am. besten gleich alles in einem Zug - und dann an die Arbeit! Ipiutak! Die Eskimofrau, dachte er entsetzt, o Mann, du mußt dich doch um sie kümmern, wieso bist du überhaupt eingeschlafen? Was fällt dir ein, den Dienst derart zu vernachlässigen? Er wollte hochfahren, aber stechender Schmerz fuhr durch seinen ganzen Körper, ließ ihn aufstöhnen, fesselte ihn ans Lager. Helligkeit durchbrach die Sphäre der Finsternis und tanzte auf ihn zu. Jemand sprach seinen Namen aus. „Kutscher - ganz ruhig liegen bleiben, Kutscher.“ War das nicht die Stimme des Seewolfes? „Aye, Sir“, antwortete der Kutscher. „Also, Humor hat der Bursche, das muß man ihm lassen“, ließ sich eine andere, ebenso wohlbekannte Stimme vernehmen. „Kriegt ein Ding verpaßt, das glatt ein ausgewachsenes Walroß umhauen könnte, und sagt dann auch noch ,Aye, Sir`, dieser Himmelhund.“ „Edwind, sprechen Sie doch nicht so laut“, sagte eine dritte Stimme, die einen krasseren Kontrast zu der zweiten wohl nicht hätte darstellen können - sie war weich, fein einschmiegsam und gehörte Siri-Tong, der Roten Korsarin. Die Helligkeit nahm Konturen an, erst verschwommen, dann plötzlich glasklar. Die Umrisse eines Gesichtes wurden deutlich. Eisblaue Augen, eine Narbe, die von der Stirn bis zur Wange hinunter verlief, pechschwarzes, dichtes Haar,
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schmale Lippen: das Gesicht von Philip Hasard Killigrew. Der Kutscher versuchte den Ausdruck seiner Züge zu deuten: Heiter waren sie weiß Gott nicht, aber auch nicht düster-besorgt, nein, man konnte diese Miene eher als „neutral“ bezeichnen. Diese Miene hatte der Seewolf aufgesetzt, um dem Kutscher nicht zu verraten, wie es wirklich in seinen Gedanken aussah, Die Kugel steckte dem Kutscher nämlich in der rechten Schulter, wie Hasard inzwischen von Siri-Tong erfahren hatte, und der Feldscher und Koch der „Isabella“ hatte eine Menge Blut verloren, fast soviel wie der, dem er das alles zu verdanken hatte. „Kutscher, bist du klar bei Sinnen?“ fragte der Seewolf. „Ja, Sir.“ „Dann hör mir mal gut zu.“ „Sir - was ist eigentlich los?“ fragte der Kutscher jetzt mit leiser Stimme. „Ich meine, was wird gespielt? Bin ich durchgedreht?“ „Ich will's dir ja gerade erklären. Du kannst dich an nichts erinnern?“ „O doch. Ich wollte gerade aufstehen, mir einen heißen Rum mit Wasser zubereiten, dann nach Ipiutak, der Eskimofrau, sehen und anschließend die Eisbärsteaks zubereiten. Ich will doch keinen Rüffel kriegen, wenn's zum Backen und Banken geht.“ „Was sagst du da?“ fragte der Profos. „He, Kutscher, spinne ich oder bist du wirklich nicht mehr ganz ...“ „Mister Carberry“, schnitt Hasard ihm das Wort ab. „Mund halten, ja?“ „Aye, Sir.“ Carberry biß sich auf die Unterlippe. Natürlich hatte er den Kutscher fragen wollen, ob er nicht mehr ganz dicht wäre, aber jetzt ging ihm ein Licht auf. In seiner poltrigen, rauhbeinigen Art hatte er anfangs nicht begriffen, daß dem Kutscher selbstverständlich ein paar wichtige Kleinigkeiten der jüngsten Vergangenheit entfallen waren und daß man ihm ganz vorsichtig beibringen mußte, was da geschehen war. Wie nannte der Kutscher so was doch gleich?
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Gedächtnisschwund, richtig, aber da war noch ein Wort. „Tempo“, murmelte der Profos. „Hast du sie nicht mehr alle?“ zischte Ferris Tucker. „Geh doch vor die Tür, wenn du die Zeit nicht abwarten kannst.“ „Temporär“, brummelte der Profos. Richtig, das war das Wörtchen, temporär. Der Kutscher hatte es deutlich genug vernommen, und er hatte jetzt auch an sich hinunterblicken und die Wunde anschauen können, die wie ein ausgefranstes Loch in seiner Brust zu prangen schien. „Ich verstehe schon“, sagte er halblaut. „Temporärer Gedächtnisschwund. Ich hab ganz vergessen, was mir passiert war, aber jetzt dämmert es langsam wieder.“ Der Seewolf warf dem Profos einen vorwurfsvollen Blick zu, und dieser wurde so verlegen, daß er beinah von einem Fuß auf den anderen trat. Um die Sache auszubügeln, wandte er sich wieder an den Kutscher. Zuckersüß sollte seine Stimme klingen, doch es wurde nur eine Art Belfern daraus. „Kutscher, du brauchst dich aber nicht gleich zu erschrecken, Mann“, sagte er. „Von dem Kügelchen kratzt du nicht gleich ab, ich schwör's dir. Ach was, du krepierst bestimmt nicht. Du bist genau wie das Unkraut, das du in deinen Suppenkübel wirfst' und dann scheinheilig als Kohl bezeichnest, haha! So was vergeht nicht so schnell und liegt verdammt schwer auf dem Magen - äh, will sagen, daß du schon ein zäher Hund bist. So einem wie dir kann man ruhig die Därme aus dem Leib reißen, dann tanzt er noch lustig herum. Was, wie?“ „Allmächtiger, Ed“, stöhnte Ben Brighton. „Edwin“, sagte die Rote Korsarin. „Es wäre wirklich nett, wenn Sie jetzt ein wenig schweigen würden. Wenn ich Sie ganz freundlich darum bitte, sind Sie's dann?“ „Ja“, fügte der Seewolf gedehnt hinzu. „Sind Sie's dann wirklich, Mister Carberry?“ „Gewiß, Sir.“ Der Profos sah jetzt fast beleidigt aus. Er hatte es doch nur gut gemeint mit dem
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Kutscher und zum Ausdruck bringen wollen, daß er ihn im Grunde seines Herzens für einen guten Kumpel hielt. Der Kutscher lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. „Sir“, sagte er mit leicht brüchig klingender Stimme. „Ich bin doch kein Einfaltspinsel, der sich Gott weiß was für Illusionen über seinen Zustand macht. Die Kugel steckt, und sie muß 'raus, nicht wahr?“ „Ja, Kutscher.“ „Ich erledige das selber.“ „Das geht nicht. Du kommst an die Schulter nicht richtig heran.“ „Aber wer ...“ „Ich. Siri-Tong assistiert mir“, sagte der Seewolf. „Sir“, sagte der Kutscher. „Es ist mir eine Ehre, daß du das tun willst, ganz bestimmt. Ich arbeite bei der Operation natürlich mit - ehm, solange ich nicht umkippe.“ „Ausgezeichnet.“ „Die Extraration Rum, die du mir versprochen hast ...“ „Für den Fall, daß Ipiutak rasch wieder gesund wird?“ „Ich würde sie vorher ganz gern trinken.“ Hasard sagte: „Ipiutak geht es schon sehr viel besser. Sie ist mit Okviks und Bilongas Hilfe selbst über die Jakobsleiter in ein Umiak abgeentert und befindet sich jetzt an Land.“ Ferris Tucker grinste. „Du hast dir den Rum also tatsächlich verdient, Mann.“ „Danke“, sagte der Kutscher mit schwachem Lächeln. 7. Philip und Hasard, die Söhne des Seewolfs, stiegen den Niedergang zum Mannschaftslogis hinunter und schritten vorsichtig auf die Gestalten zu, die sich vor dem verschlossenen Schott des Logis' versammelt hatten. Auf halbem Weg trat ihnen Big Old Shane entgegen. „Kehrt marsch, Jungs“, sagte er. „Hier gibt's nichts zu gucken für euch. Schiebt wieder ab ins Achterdeck.”
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„Wir gehören aber ins Vordeck“, widersprach Hasard junior. „Daß wir in die Hütte gingen, war doch bloß eine Ausnahme.“ „Willst du meutern, Früchtchen?“ fragte Shane drohend. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich unheilverkündend zusammen. „Nein, Sir. Natürlich nicht, Mister Shane“, beeilte sich der Junge zu sagen. Shane war ein guter, väterlicher Freund, aber wenn es um die Borddisziplin ging, kannte auch er keinen Pardon. Philip und Hasard junior waren in erster Linie Schiffsjungen, wurden als solche behandelt und nicht als Philip Hasard Killigrews Sprößlinge verwöhnt und verhätschelt. Sie drehten also schleunigst um und zogen wieder ab. Shane begleitete sie noch ein Stück, um sicher zu sein, daß sie nicht stehen blieben und lauschten. Da konnte Philip junior es sich doch nicht verkneifen zu fragen: „Wie geht es dem Kutscher, Shane?“ „Was soll mit dem Kutscher sein?“ „Wir haben doch gehört, daß er angeschossen worden ist.“ „Ist nur ein Kratzer.“ „Wir wünschen ihm gute Besserung“, sagte Hasard junior. Die Zwillinge kletterten den Niedergang wieder hoch, traten im weißlichen Licht der Mitternachtssonne auf die Kuhl und kamen gerade zur rechten Zeit, um Hendrik Laas' Erscheinen zu verfolgen. Der hatte sich von der „Sparrow“ hierher zur „Isabella“ übersetzen lassen und betrat eben das Hauptdeck. Er wurde von Old O'Flynn empfangen. Sie wechselten ein paar Worte miteinander. Laas' Miene wurde ernst und wirkte plötzlich verschlossen. Philip und Hasard sahen die beiden Männer mit diesen beinah finsteren Mienen auf sich zurücken und nahmen schleunigst Reißaus. Sie zogen sich ins Achterkastell und dann bis in die Mannschaftsmesse zurück, wo der eigentümliche Ofen vor sich hinbullerte. Erst einmal wärmten sie sich richtig auf:
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Dann fragte Hasard junior plötzlich seinen Bruder: „Sag mal, wo sind denn Arwenack und Sir John?“ „Bin ich ein Hellseher?“ „Sei bloß nicht so unfreundlich, du...“ „Abgehauen sind sie, ist doch klar“, meinte Philip junior. „Aber wohin denn?“ „Nach draußen vielleicht?“ „Die werden schön frieren“, sagte . Hasard junior. * Old O'Flynn führte Hendrik Laas zum Mannschaftslogis im Vorschiff. Hier traten sie zu den anderen Männern und vernahmen, wie der Profos gerade so verhalten wie möglich - was ihm sehr schwer fiel - sagte: „Ich geh gleich 'rein und helfe mit.“ „Du?“ flüsterte Dan O'Flynn. „O Mann, wer sich von dir behandeln und betreuen lassen will, sollte lieber gleich zum Scharfrichter von Dartmoor gehen.“ „Es ist nicht schön, daß du so was sagst, Mister O'Flynn.“ „Soll ich etwa dein Feingefühl lobpreisen?“ „Ach, du kannst mich mal ...“ „Hört auf. Fangt bloß nicht an zu streiten“, zischte Shane ihnen zu. „Dem Kutscher geht es saudreckig, und ihr faselt auch noch blödes Zeug.“ „Ich könnte dem Kutscher die Rumbuddel halten“, murmelte Carberry. „Je mehr er säuft, desto weniger merkt er.“ „Ich sage, er schreit nicht“, raunte Ferris Tucker. „Ist ein harter Kerl geworden, unser Kutscher. Er tut manchmal noch ein bißchen hochgestochen, und das wird sich wohl auch nicht ändern, aber er kann was vertragen ...“ Ein Stöhnen, das aus dem Logis drang, unterbrach ihn. „Himmel, Arsch und Zwirn“, sagte der Profos. „Das halt ich nicht aus.“ Old O'Flynn trat hinzu und fragte mit essigsaurer Miene: „Sag mal, wirst du hier operiert, Profos, oder wer?“
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„Wie mir zumute ist, das kapiert ihr alle nicht“, brummelte Carberry. „O doch“, sagte Smoky. „Und ob.“ „Ihr Zimperliesen“, zischelte Old Donegal. „Stellt euch doch nicht so dämlich an.“ „Wie sprichst du überhaupt mit uns?“ begehrte Carberry auf. Ferris Tucker legte ihm aber die Hand auf die Schulter, und er bremste sich wieder. „Der Kutscher springt nicht in die Kiste“, sagte Old O'Flynn mit dunkler, geheimnisvoll klingender Stimme. „Ich weiß es. Ich spüre es. Er überlebt's.“ „Mann“, raunte Ferris - Tucker. „Sonst siehst du immer so schwarz, Donegal, und dann wird doch alles gut.“ „Und jetzt sieht er die Zukunft des Kutschers rosarot“, ergänzte Carberry den Satz. „Wenn das kein böses Omen ist.“ Schritte näherten sich von innen her dem Schott. Die Männer schwiegen wie gebannt, harrten aus, bis das Schott geöffnet wurde und Ben Brightons Gestalt in der Öffnung sichtbar wurde. Sie wollten Ben jetzt mit ihren Fragen bestürmen, aber Ben legte den Zeigefinger auf die Lippen. Carberry, Shane, Smoky, Dan, Ferris, Hendrik Laas, Old Donegal und all die anderen, die sich inzwischen hier eingefunden hatten, preßten ihre Münder zu, schwiegen mit Beklommenheit im Herzen und wußten nicht mehr, wie sie sich verhalten sollten. Sie versuchten, etwas von dem zu erkennen, was im Logis vorging, aber da war nichts zu sehen. Ben wies plötzlich eine dunkelgraue Bleikugel vor. Er hielt sie zwischen den Kuppen von Daumen und Zeigefinger. „Aus des Kutschers eigener Pistole, Gents“, sagte er. „Er kann sie jetzt noch mal benutzen. So was nenne ich Sparsamkeit. Auf der ,Isabella` verkommt eben nichts, und Verschwendung kennen wir nicht.“ „Viel Schlaf“, war im Hintergrund SiriTongs sanfte Stimme zu vernehmen. „Das ist die beste Medizin. Er schafft es schon, Hasard.“ „Ja, das glaube ich auch.“ Carberry war der erste vorm Schott, der glückselig zu grinsen anfing. „Na also, ich
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hab's ja gesagt, ein Kerl wie der Kutscher beißt nicht ins Gras, wenn ich ausdrücklich dagegen bin. Gut so. Wer sollte uns sonst mit seinem entsetzlichen Fraß vergiften, was, wie?“ * Ipiutak, Bilonga und die anderen Frauen und Mädchen von Thule lachten. Ihre Stimmen klangen hell zur „Isabella“, zur „Sparrow“ und zum Drachenboot der Wikinger hinüber. Die sieben toten Eskimos aus Okviks zerstörtem Igludorf waren bestattet. Ipiutak war auf dem besten Weg der völligen Genesung – und der Kutscher war jetzt, ein paar Stunden nach seiner Behandlung, über den kritischen „Berg“ hinweg. Er hatte bereits ein Eisbärsteak verspeist. Der Seewolf, Siri-Tong, Hendrik Laas und fast alle anderen von Bord der „Isabella“ und der „Sparrow“ hatten nach Qanaq übergesetzt, um an dem Sommerfest der Schamanen, das nun endlich gefeiert werden durfte, teilzunehmen. Man würde gemeinsam essen, trinken, jagen, tanzen, lachen und so fröhlich sein, wie man es schon lange nicht mehr gewesen war. Gekocht wurde an Land, und die Eskimofrauen brachten mit ihren .Umiaks Speisen zu den Schiffen hinüber, um die Ankerwachen zu versorgen. Carberry war heilfroh, daß er die Kombüse der „Isabella“ während des Kutschers Abwesenheit nicht neu zu besetzen brauchte. Die gefangenen Wikinger-Piraten waren an Land geschafft worden und wurden streng bewacht. Später, nach dem Fest, würde Hendrik Laas sie mit der „Sparrow“ und mit dem Drachenboot nach Süden schaffen und auf irgendeiner Insel südlich von Grönland aussetzen. Der Seewolf hatte Teile seiner Jagdbeute an Land bringen lassen, vor allem die Schneehühner, die er Okvik als Freundschaftsgeschenk vermacht hatte, und außerdem Walroß- und Robbenfleisch. Später, wenn die große Jagd vorbei war,
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würde man die Proviantkammer der „Isabella“ neu auffüllen. Carberry, Will Thorne, Al Conroy, Bob Grey und Bill, der Moses, waren als erste Ankerwache an Bord der „Isabella“ geblieben. Bob Grey und Bill hielten beim Kutscher im Logis Wache. Sie hatten jede Verschlechterung des Zustands des Patienten unverzüglich zu melden. Der Profos hoffte inständig, daß sie's nicht tun würden. Carberry stand auf der Kuhl und ließ seinen Blick wandern. Er sah Al Conroy und Will Thorne, die gerade mit dem fertig gegerbten Eisbärfell unter Deck verschwanden. Aus dem Pelz des „Nanohuaq“ würde Will Thorne Beinkleider schneidern, vier Paar Hosen — ein Paar für den Profos, die anderen für diejenigen, die warme Fellkleidung am nötigsten hatten. Für Batuti, der auch in seiner Renfellkleidung noch ein wenig fror, zum Beispiel. Al Conroy würde unten in der Mannschaftsmesse am warmen Ofen nicht tatenlos dem Segelmacher bei der Arbeit zusehen, auch er würde sich nützlich machen und neue Flaschenbomben basteln. Der Vorrat war arg geschrumpft, denn die Männer der „Isabella“ hatten sich die Ausfahrt aus dem Fjord wegen des Packeises freisprengen müssen, ehe sie zu Okviks Dorf hatten gelangen können. So weit, so gut, dachte der Profos, aber es gibt noch was zu erledigen. „Wo steckt ihr?“ sagte er dumpf und drohend. Eine Antwort erhielt er auf diese Frage nicht. Nur vom Land tönte nach wie vor das Lachen der Frauen und das HurraGeschrei der Männer herüber. „Ich weiß, daß ihr hier irgendwo seid“, sagte er etwas lauter. „Und ich kriege euch, das schwöre ich euch. Ich will die längste Zeit der Profos gewesen sein, wenn ich das nicht schaffe!“ Schweigen an Deck. Nur die Blöcke und Rahen knarrten ein wenig, und an den Bordwänden plätscherte das Wasser der großen Bucht. „Bill!“ schrie Carberry plötzlich.
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Nichts geschah, und er brüllte es noch einmal: „Bill, Hölle, Moses, an Deck, aber ein bißchen dalli! Wird's bald, du triefäugiger Stint?“ Bill schoß aus dem Steuerbordschott des Vordecks und lief über das mit Sand und Asche bestreute Hauptdeck zu seinem Profos. Er zeigte klar und rief: „Sir?“ „Ein bißchen schneller das nächste Mal, verstanden?“ „Ja, Mister Carberry.“ „Wie geht es dem Kutscher?“ „Besser. Am liebsten würde er auch seinen Essensnapf mit vertilgen, so einen Hunger hat er. Und nach heißem Wasser mit Rum hat er auch schon wieder gefragt, Sir.“ „Soll sich bloß nicht besaufen, der Bursche.“ „Soll ich das weitermelden?“ „Nein“, sagte der Profos barsch. „Du sollst was anderes tun. Bob Grey genügt als Wachtposten dort unten im Logis. Kletter du 'rauf in den Großmars.“ „Um die Einfahrt der Bucht im Auge zu behalten? Aye, Sir.“ „Das auch.“ „Und was noch, Sir?“ „Laß mich ausreden“, dröhnte Carberrys mächtige Stimme über Deck. „Sei nicht so vorlaut, du grüne Sprotte! Wenn du oben bist, schaust du sofort nach, ob der behaarte Hurensohn dort oben steckt, verstanden?“ „Ob ... wer .. . „Der Affe! Irgendwo hat er sich verkrochen, und ich schätze, daß er sich den Großmars als Schlupfwinkel ausgesucht hat. Ich will ihn haben, Mann, und ich werde ihm die Haut in Streifen von seinem verfluchten Affenarsch abziehen. Danach kaufe ich mir Sir John, diese stinkige Nebelkrähe. Denn die beiden tragen die Schuld an allem, was mit Jor passiert ist, kapiert?“ „Ja, Sir. Blacky hat davon erzählt.“ „Ist ja fein von Blacky. Und nun schieb ab, Junge“, sagte der Profos. Bill enterte unverzüglich in den Großmars auf. Oben strich ihm der eisige Wind aus Südwesten um die Ohren. Ihn fröstelte ein wenig, und als er über die steifgefrorene
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Segeltuchverkleidung geklettert war und auf der Plattform stand, zog er sich die Mütze aus Renfell tiefer ins Gesicht. Er kontrollierte den ganzen Großmars, dann beugte er sich über die Umrandung und rief nach unten: „Kein Arwenack zu sehen, Mister Carberry! Hier oben steckt er nicht!“ „Mist, verfluchter ...“ „Wo soll ich weitersuchen?“ „Nirgends. Du bleibst oben und hältst nach allen Seiten Ausschau. Wenn du ihn irgendwo auftauchen siehst, gibst du Laut. Das gilt auch für den Fall, daß du den Papageien irgendwo siehst.“ Bill zeigte wieder klar und widmete sich seiner Aufgabe. Carberry hielt unten auch die Augen offen, aber beide konnten sie nicht einmal den Schatten oder auch nur eine winzige Spur von Sir John und Arwenack entdecken. Sie hätten wohl noch eine Weile ratlos geforscht, wenn nicht plötzlich ein deutliches Niesen aus dem Vormars erklungen wäre. Carberry stand wie festgewurzelt auf dem Hauptdeck, den Blick nach oben gerichtet. ,,Sir“, rief Bill. „Ich glaube ...“ „Hab's selbst schon gehört“, erwiderte der Profos. „In Ordnung. Bleib, wo du bist. Das Früchtchen kaufe ich mir selbst.“ Die furchtbarsten Rachegedanken schossen ihm durch den Kopf. Jor fast ausgekniffen, der Kutscher angeschossen, Tumult im ganzen Schiff - und das alles wegen eines verdammten Affen und eines verdammten Vogels, die man als Ballast mit über die Meere schleppte. Langsam, ganz langsam, als könne er etwas zertreten, setzte der Profos sich in Bewegung, schlich zu den Fockwanten der Backbordseite, stieg auf die Rüsten und stieg in den Webeleinen hoch. Er gab sich große Mühe, weder auf dem vereisten Tauwerk auszurutschen noch irgendwelche Laute zu verursachen. Er pirschte sich an, damit die Beute ihm ja nicht entwischen konnte. Der Vormars war nah. Carberry kletterte noch ein wenig langsamer. Wie ein großer Bär, der ein Wespennest in einer Baumkrone auf Honig hin untersuchen und
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ausrauben will, schob er sich allmählich höher. Bill beobachtete die Szene vom Großmars aus. Armer Arwenack, dachte er, du hast ja wieder allerlei ausgefressen, aber du hast es nicht wissentlich getan. Ich würde dir gern helfen, aber ich kann's nicht tun, weil der Profos mir dann garantiert den Kopf abreißen würde. Carberrys Schädel wuchs über die Umrandung des Vormarses. Seine zornig funkelnden Augen waren auf die Gestalt gerichtet, die da armselig und frierend kauerte. Die Seewölfe hatten ihrem Bordmaskottchen wieder Kleidung verschafft, aber trotz dieses Anzuges fror der Schimpanse, der ja an ganz andere Temperaturen gewöhnt war, erbärmlich. Er hielt dem Profos den Rücken zugewandt, sah den drohenden Riesen, den Todfeind, nicht nahen, bis dieser bereits beide Beine über die Umrandung geschoben hatte. Arwenack schniefte vor sich hin und zerfloß fast vor Selbstmitleid. Er hatte sich einen deftigen Schnupfen weggeholt, seit er den warmen Platz am Ofen in der Mannschaftsmesse verlassen hatte, und nun wäre er gern dorthin zurückgekehrt. Aber wie sollte er den Zweibeinern da unten erklären, daß er sich eigentlich mit Sir John gar nicht hatte zanken und auch im Vordeck nicht diese Verwirrung hatte stiften wollen — wie, da sie ihn doch nicht verstanden? Plötzlich vernahm der Affe einen knirschenden Laut hinter seinem Rücken. Er wandte den Kopf, sah das häßliche Narbengesicht des Rächers, dessen wuchtige Gestalt und schrie vor Angst auf. Er wollte aufspringen, sich in die rettenden Wanten stürzen und höherklettern, aber es war schon zu spät. Carberrys Hand schoß vor und packte Arwenacks Jacke. Aus der Jacke konnte der Schimpanse so flink nicht schlüpfen, und außerdem griff der Profos jetzt auch noch mit der anderen Hand zu und schloß sie wie eine Eisenklammer um Arwenacks Arm.
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Seine Stimme dröhnte in Arwenacks Ohren. „Habe ich dich, du Galgenstrick?“ brüllte er. „Oh, ich werde dir nicht nur die Haut in Streifen abziehen, ich werde dich in der Vorpiek windelweich klopfen, dich an der Rahnock zum Zappeln aufhängen und dich eigenhändig vierteilen.“ Arwenack kreischte nicht mehr, er hielt nur den Kopf gewandt und sah den Profos aus todunglücklichen, unendlich traurigen Augen an. Alles Elend dieser Welt lag in seinem Blick. Er war zum Sterben bereit. Der Profos spürte, wie ein Teil seiner Wut verrauchte. Er wehrte sich innerlich dagegen, konnte es jedoch unter dem Einfluß von Arwenacks wehleidigem Ausdruck nicht verhindern. „Also, erst mal stecke ich dich ins Kabelgatt“, sagte er grollend. „Darum kommst du nicht herum, du Läuseknacker. Nachher sehen wir weiter. Vielleicht habe ich bis dahin auch Sir John, diesen Satansbraten, gefunden. Gnade ihm Gott, wenn ich ihn erwische!“ Mit diesen Worten hob Carberry den Affen aus dem Vormars und enterte mit ihm auf das Hauptdeck ab. Sir John, der karmesinrote Aracanga, schien indes spurlos verschwunden zu sein. 8. Narwale und Robben, Eisbären, Polarfüchse, Schneehühner und Schneehasen — dies war die Beute der großen Jagd, die die Eskimos gemeinsam mit ihren Freunden veranstaltet hatten. Lagerfeuer flammten unter dem immerhellen Himmel in den Dörfern von Thule auf, Feuerstellen wurden auch in den Iglus angeheizt. Ihr rötlicher Schein ließ die kugeligen Schneehütten wie Lampions erscheinen, hingetupft in den riesigen weißen Teppich. Fleischspieße drehten sich über den Feuern, Getränke wurden in Bechern und Mucks serviert und herumgereicht. Das Fest nahm seinen Lauf und dauerte tagelang an.
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Hasard hatte sich an einem der Feuer zu Hendrik Laas gesetzt. Sie stießen mit rotem Wein aus den privaten Bordreserven des Seewolfs auf die Freundschaft und auf die Zukunft an. „Damals, in Plymouth“, sagte Hasard, „hast du mir auch etwas über die Nordwest-Passage erzählt ...“ „Ich bin nach wie vor überzeugt davon, daß es sie gibt.“ „Aber selbst hast du sie nicht befahren?“ „Nein“, erwiderte .der Däne. „Ich habe kein Interesse daran, bis zur anderen Seite der Neuen Welt vorzudringen und mir dann Cataia anzusehen, das jenseits des Eismeeres liegt. Ich habe nicht den Ehrgeiz des Entdeckers. Ich will hier bleiben, hier, bei Okvik und den anderen Jägern von Thule. Anderson, Gee und die anderen von der ,Sparrow` haben auch nichts dagegen, es noch eine Weile in Qanaq auszuhalten. Vielleicht überwintern wir sogar in Thule und segeln erst im nächsten Frühjahr wieder einmal in die Alte Welt. Lange halte ich es in Dänemark ja nicht aus, wie du gemerkt hast.“ Laas nahm einen Schluck Rotwein, setzte die Muck wieder ab, wischte sich die Lippen ab und fügte hinzu: „Stell dir vor, einer von meiner Crew hat sogar ein Eskimomädchen zur Frau genommen.“ „Wenn ich mir Mädchen wie Bilonga anschaue, kann ich das sehr gut verstehen.“ „Habe ich dir damals zuviel versprochen über diese Welt, Hasard?“ „Nein, das hast du nicht.“ „Wenn man weiß, wie man sich in jeder Situation zu verhalten hat, kann man hier ausgezeichnet leben, fast so wie auf einer paradiesischen Insel der Südsee. Die Kälte spielt keine große Rolle.“ „Hendrik, hör mal gut zu.“ „Ich weiß, was du jetzt sagen willst.“ „Ja. Der Wind hat gedreht und weht sehr günstig aus Osten.“ „Du willst nach Westen?“ „Ja.“ „Und die Passage finden, nicht wahr?“ „Ohne wie die Cabots, Davis und Frobisher zu scheitern“, erklärte der Seewolf. „Wir Männer der ,Isabella`
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genießen das Privileg, bis nach Thule gelangt zu sein. Außer dir, deiner Mannschaft und uns ist noch kein weißer Mensch hiergewesen.“ „Stimmt.“ „Ich sehe nicht ein, warum ich an diesem Punkt abbrechen sollte“, sagte Hasard. „Und du würdest dir gern mal Cataia ansehen?“ „Ich war schon in China, aber es gibt dort drüben, im Stillen Ozean und in der Südsee, noch einige Fleckchen Erde, die ich liebend gern ergründen würde, verstehst du?“ „Ja.“ Hendrik Laas stellte seine Muck in den Schnee und begann, mit dem Zeigefinger eine simple Skizze von Grönland und der Region westlich davon anzufertigen. „Viele Inseln im Westen“, sagte er erläuternd dazu. „Und ein Labyrinth von Wasserstraßen dazwischen.“ Eine Insel, halb so groß nur wie Grönland, aber immer noch von immensen Ausmaßen, krümmte sich nördlich der Bucht der Häuptlinge, die Hasard und seine Männer schon entdeckt hatten. Besonders das östliche Ufer dieser Insel war zerfasert und ausgefranst wie ein alter Fetzen Stoff. An das Nordwestkap dieser Insel schlossen viele andere Inseln an, einige lagen noch viel weiter nördlich als Thule. Hendrik Laas hielt mit seiner Zeichnerei inne. „Weiter weiß ich auch nicht“, sagte er. Er tippte auf die westlichste Insel, ein fast quadratisches Gebilde, das durch seine langen, schmalen Buchten zu einem lappigen Etwas wurde. „Hier mußt du aufpassen und dich so weit wie möglich südlich halten. Weiter nördlich gibt es auch einen Weg um die Insel herum und zwischen einigen anderen Eilanden hindurch eine Passage nach Westen, aber dahinter beginnt ein Stück Eismeer, in dem euch die riesigen Packeisschollen erwarten und nicht mehr weiterlassen.“ „Eine tödliche Falle?“ „Ja. Auch für einen Eismeer-Kenner wie mich.“ „Südlich des Kaps der Stürme haben wir einmal im Packeis festgesessen“, sagte der
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Seewolf. „Aber das liegt Jahre zurück. Ich will damit nur ausdrücken, daß ich weiß, wie groß die Gefahr ist, die von dem Eis ausgeht. Aus dem Fjord der Walrosse wären wir ohne unsere Flaschenbomben ja auch nicht hinausgelangt.“. „Früher habe ich kein Schiff wie die ,Sparrow` gehabt“, meinte Laas. „Und mit den Kajaks und Umiaks der Eskimos bin ich nur bis hierher gekommen.“ Er tippte auf einen Punkt östlich der zerlappten Insel. „Wie es weiter westlich aussieht, weiß ich nur aus den Erzählungen der ältesten und erfahrensten Jäger von Thule. Vor allem ist mir der Verlauf der südlichen, zwischen der Insel und , dem Festland liegenden Durchfahrt nicht klar.“ „Sie zu erforschen, ist meine Aufgabe“, sagte der Seewolf. „Du bist also dazu entschlossen?“ „Ja.“ „Dann laß uns die Galeonen mit Proviant, Wasser und Fett und Tran für die Öfen versorgen, denn wir wissen nicht, wie lange der Wind aus Osten anhält.“ „Mit anderen Worten — du begleitest uns?“ fragte Hasard überrascht. „Als Lotse, jawohl. Aber nur ein Stück, dann kehren Anderson, Gee, die Crew und ich nach Qanaq zurück, einverstanden?“ „Einverstanden“, stieß der Seewolf erfreut aus. „Gib mir die Hand darauf und laß uns noch einen Schluck Wein trinken, du salzgewässertes Rauhbein !“ „Ich will bald wieder hierher zurück, weil ich Okvik dabei helfen will, das Dorf an der kleinen Bucht neu aufzubauen. Das habe ich ihm versprochen.“ Hasard grinste. „Du erweist mir schon einen unschätzbaren Dienst, wenn du mir in das Insel-Labyrinth hinein hilfst. Das genügt völlig. Heraus finde ich schon selbst — ich hoffe es jedenfalls.“ „Ich werde zu Gott beten, daß ihr es schafft“, sagte Hendrik Laas, und er meinte das völlig ernst, obwohl er sonst kein sehr frommer Mensch war. *
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Sechzehn Glasen, also acht Stunden später verließen die „Isabella VIII.“ und die „Sparrow“ die große Bucht von Thule, segelten mit prallem Zeug vor dem Wind an den beiden Inseln vorbei, die der Einfahrt vorgelagert waren, und ließen die Küste Grönlands mit westlichem Kurs in ihrem Kielwasser zurück. Die Reise ins Ungewisse hatte begonnen. Aber die Seewölfe und Siri-Tong fürchteten das Abenteuer nicht, sie fieberten ihm entgegen. Zu lange schon sprachen sie über die Passage, die nach Cataia oder Cathay, nach Asien also, hinüberführte. Jetzt sollte der Traum endlich Wirklichkeit werden. Der Abschied von den Eskimos war keinem von ihnen leicht gefallen, andererseits aber schieden sie in dem Bewußtsein, daß Okvik, Ipiutak, Bilonga, Okviks Mutter und all die anderen jetzt keine Bedrohung mehr zu erwarten hatten. Irgendwann würden die Eskimos die gefangenen Wikinger mit dem Drachenboot nach Süden schaffen — aber auch dabei, sie auf einer Insel auszusetzen und ihrem weiteren Schicksal zu überlassen würde Hendrik Laas den Eskimos als Ratgeber und Helfer zur Seite sein. Dem Kutscher ging es zusehens besser. Er konnte seine Koje im Logis wieder verlassen und bewegte sich bereits durch das Vordeck, räumte in der Kombüse auf, inspizierte die reichen Vorräte an Fleisch, die Hasard und Laas an Bord hatten mannen lassen. Als der Kutscher ein Kombüsenschapp kontrollierte, fand er darin zu seiner Überraschung den Papagei vor. „Anbrassen, ihr Bastarde“, krächzte der bunte Vogel. Durch Zufall mußte er in das Schapp geraten sein, vielleicht, als gerade einmal das Schott offen stand und keiner von der Deckswache ihn dabei beobachten konnte, wie er des Kutschers Reich aufsuchte und in dem Schrank mit der nur angelehnten Tür verschwand. „Junge, Junge“, sagte der Kutscher. „Gut, daß du einen Unterschlupf gefunden hast. Draußen wärst du längst erfroren,
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Kamerad. Weißt du, daß Arwenack im Kabelgatt hockt und über seine Sünden nachdenkt? Na, laß man, ich verpfeife dich nicht an den Profos.“ Er sprach's — und klappte das Schapp wieder zu. Der Profos stolzierte in seinen neuen Eisbärfellhosen über Deck und hielt hier und da nach seinem Papagei Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken. „Da brat mir doch einer einen Hering“, sagte er. „Sollte das Vieh in Grönland zurückgeblieben sein?“ Er kratzte sich nachdenklich an seinem Rammkinn. Wieso wurde ihm denn mit einemmal so komisch zumute? Trauerte er dem „Geier“ etwa nach? Hing er so sehr an dem Aracanga? „Ach was“, sagte er. „Bin ja froh, wenn ich das Miststück endlich los bin.“ * Drei Tage nach dem Aufbruch meldete Gary Andrews, der um diese Zeit als Ausguck im Großmars der „Isabella“ war: „Deck! Land Steuerbord voraus!“ Hasard stand mit Siri-Tong, Ben Brighton, Shane, Ferris Tucker und Old O'Flynn auf dem Quarterdeck, als die Meldung ertönte. „Sehr gut“, sagte er. „Wir haben die Einfahrt zum Labyrinth also erreicht. Ben, laß zur ,Sparrow` hinübersignalisieren, daß Hendrik, Anderson, Gee und die anderen jetzt wenden und nach Thule zurückkehren können.“ Ben gab den Befehl weiter, und Gary Andrews gab den Männern der anderen Galeone durch Flaggenzeichen zu verstehen, daß man sich trennen könne. Hasard überprüfte den Kurs und die Position der „Isabella“ anhand einer handgefertigten Karte. Er selbst hatte diese Karte nach den Angaben des Dänen gezeichnet. „Wir sind im Begriff, in die Straße zwischen der großen, zerfaserten Insel und der kleineren, im Norden gelegenen Insel vorzudringen“, sagte er zu den Männern. „Wir halten den Westkurs. Erst später werden wir uns nach Süden wenden. Auf
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keinen Fall dürfen wir zu weit nach Norden hinauf geraten.“ Die „Sparrow“, die etwas achterlich versetzt an Steuerbord der „Isabella“ lief, segelte noch einmal auf Rufweite heran. Hendrik Laas' große, breite Gestalt war deutlich am Schanzkleid des. Achterdecks zu erkennen. Er legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief: „Alles klar soweit?“ „Ja!“ rief der Seewolf zurück. „Wir sind auf dem richtigen Kurs!“ „Segle ungefähr ein Etmal nach Westen und wende dich dann nach Süden!“ „In Ordnung!“ „Laß dich durch nichts irreleiten!“ schrie Hendrik Laas. „Nein! Wir sehen uns wieder, vielleicht schon im nächsten Sommer!“ „Daran glaube ich nicht!“ „Dann laß es bleiben, verdammter Dickschädel!“ rief Hasard lachend. „Zieh dich jetzt zurück, du wirst eine Woche brauchen, um gegen den Wind zurück nach Thule zu kreuzen!“ „Da könntest du recht haben, verdammt noch mal!“ „Grüß die Eskimos noch einmal von uns!“ rief Hasard. Hendrik Laas nickte, winkte, zog dann seine Fellmütze vom Kopf und deutete eine Verbeugung zu Siri-Tong hin an, die bei ihm eher linkisch als galant wirkte. Seine Crew, allen voran Bert Anderson und Sheldon Gee, die treuesten Gefährten des Dänen, stimmte noch ein Abschiedsgebrüll an. Dann blieb die „Sparrow“ mehr und mehr achteraus in der Einfahrt der Straße zurück, wendete kurz darauf und segelte ihren ersten Kreuzschlag nach Südosten gegen den Ostwind. Die „Isabella“ strebte nach Westen. Der Abstand zwischen beiden Schiffen vergrößerte sich in immer schnellerem Tempo, und bald war die „Sparrow“ an der Kimm verschwunden. Eine Welt schien sich zwischen die Schiffe und ihre Besatzungen gelegt zu haben. Die „Sparrow“ und Thule wurden Vergangenheit, eine neue Erlebnissphäre
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öffnete sich vor den Seewölfen und der Roten Korsarin. Ein Etmal – das waren bei der jetzigen Geschwindigkeit rund 150 Seemeilen... Ein Etmal lang dauerte der Ostwind fort, und die „Isabella“ pflügte in rauschender Fahrt die graue, kalte See, auf der Eisteppiche schwammen. Hasard ließ diese Schollen ganz genau beobachten, denn er wollte, daß ihm Meldung erstattet wurde, sobald die Zahl zunahm. Sehr schnell konnte das Treibeis durch das tückische Packeis abgelöst werden, und dann halfen auch die Flaschenbomben, die inzwischen wieder in ansehnlicher Zahl bereitlagen, nur bis zu einem gewissen Punkt. Auf Deck wurde wieder Eis geklopft. Philip und Hasard, die Zwillinge, streuten Asche aus, damit die Männer auf den Planken nicht ausrutschten. Es gab genug Arbeit an Bord der „Isabella“, und der erste Tag ohne die Begleitung der „Sparrow“ war rasch verflogen. 150 Seemeilen an einem Tag – das war ein Etmal! Übergangslos brach der neue Tag herein. Es gab immer noch keine Nacht – nicht die Spur davon. Im abwechselnd weißlichen, bläulichen, rötlichen Licht der Mitternachtssonne segelte die Galeone dahin, einsam auf der kaum bewegten See zwischen den schneebedeckten, öden Inseln. Sie war ein Fremdkörper in der menschenfeindlichen Zone absoluter Stille. Hasard erlag nicht der Versuchung, zu früh nach Süden abzudrehen. Er wartete, bis die Zeitspanne, die Hendrik Laas ihm angegeben hatte, verstrichen war, ließ dann anluven und auf Steuerbordbug gehen. Mit Backbordhalsen segelte die „Isabella“ nun hoch am Wind. „Eisberg voraus!“ schrie Al Conroy, der um diese Zeit den Ausguckdienst im Großmars übernommen hatte. Die Köpfe der auf Oberdeck stehenden Männer ruckten herum, alle Blicke richteten sich nach vorn –sind da war er also, der erste treibende Gigant aus gefrorenem Süßwasser, dem sie auf diesem neuen Kurs begegneten. Majestätisch schob er sich von Norden heran, vom Pol kommend, mit
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Kurs nach Süden, fast parallel jetzt zur „Isabella“, so, als wollte er sie auf ihrer Reise begleiten und ihr Gesellschaft leisten. Weder Hasard noch die Crew konnte der Anblick des Eisbergs jedoch sonderlich beeindrucken. Scheinbar friedlich bewegte sich der Riese dahin – und doch war er ein tückisches Hindernis. denn der größte Teil seiner Masse befand sich unter der Wasseroberfläche. Es war nur schätzungsweise ein Siebentel seines Volumens, das man sehen konnte. Die restlichen sechs Siebentel konnten jedem Schiff, das zu nahe an ihn herangeriet, zum Verhängnis werden. Weiter ging die Fahrt nach Süden, wieder gut einen Tag lang, und der Eisberg blieb weit hinter der „Isabella“ zurück. Neue, mal kleinere, mal größere schwimmende Gletscher tauchten auf und verschwanden wieder. Einmal war in der Ferne das Krachen zu vernehmen, mit dem ein Gletscher kalbte und einen Teil seiner riesigen Masse in die Fluten entließ. Ein Sakrileg schien den Frieden und die Ruhe des weißen Tempels gestört zu haben. Die „Isabella“ kam am Ende dieses Tages einer Insel nahe, von deren Mitte sich schneeüberwachsene Hänge mit bizarren Gipfeln erhoben. Im Verbund mit dem Wasser, dessen Fläche immer wieder durch die Eisschollen unterbrochen war, wurde dies alles zu einem Bild unvergleichlicher Schönheit, nichts konnte vollkommener sein. Zum Verweilen schien diese Insel einzuladen — und doch jagte sie dem Betrachter gleichzeitig einen eisigen Schauer über den Rücken, denn es mußte auch dem Unerfahrenen einleuchten, wie mörderisch soviel kalte weiße Schönheit sein konnte. Hasard betrachtete die Insel lange und verglich sie mit den Figuren, die er mit Tusche auf seine Karte gemalt hatte. Alles schien sich mit dem zu decken, was Hendrik Laas ihm im Gespräch übermittelt hatte, alles — bis jetzt! „Zwei Strich Backbord!“ rief er Blacky zu, der gerade als Rudergänger fungierte. „Wir
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runden die Insel im Süden und gehen dann wieder auf Westkurs! Profos!“ „Verstanden, Sir — Insel im Süden runden!“ brüllte Carberry. Er fuhr zu der Crew herum und ließ eine Schimpfkanonade, gemischt mit Manöverbefehlen, auf die Männer los, laut genug, daß auch der Kutscher und Sir John in der Kombüse und der Affe Arwenack im Kabelgatt noch alles sehr deutlich hören konnten. 9. Hackett lebte nicht mehr richtig, er vegetierte nur noch in der kalten, nassen Vorpiek der „Invulnérable“ dahin. Er war am Ende, körperlich wie geistig, denn es waren jetzt mehrere Tage, die er in diesem Vorhof zur Hölle, in diesem engen Loch verbrachte. Aber es war nicht nur Hackett an Bord der Karavelle, der seinen Haß gegen Fagaralle durch gestöhnte, geflüsterte Flüche, durch die fürchterlichsten Verwünschungen kundtat — es gab jetzt auch andere Männer, die dazu bereit 'Aaren, offen gegen den selbsternannten Kapitän zu rebellieren. Der Ostwind hatte die Karavelle immer weiter nach Westen gedrückt. Fagaralle hatte seine Versprechung, daß man das Kap der riesengroßen Insel bald runden würde, nicht einhalten können. Er hatte jegliche Orientierung längst verloren und war selbst der Verzweiflung nahe. Mit einer gelungenen Jagd auf Narwale und Robben und einem kurzen, Landunternehmen, bei dem sie einen Eisbären erschossen hatten, hatte er die Crew noch eine Weile bei Laune halten können. Doch jetzt schien es ganz aus zu sein mit der Beherrschung der Männer. Ihre Geduld war auf eine zu harte Probe gestellt worden. „Wir kommen hier nicht wieder 'raus“, sagte einer von ihnen, der Madison hieß. „Nicht unter der Führung dieses Franzosenhundes jedenfalls.“ „Auf was haben wir uns eingelassen?“ zischte ein anderer. „Er hat uns
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vorgeschwindelt, wir würden ein Schiff treffen, aber dieser Kahn besteht nur in seinem kranken Geist.“ „Wir dürfen nicht länger zögern“, sagte Madison. „Tun wir's“, drängte ein dritter. „Auf was warten wir noch?“ „Wir haben Saunders erledigt, wir schaffen auch den Franzosen“, murmelte ein grobknochiger, hochgewachsener Mann mit einem dichten grauen Bartgestrüpp. Er hieß Colyer. „Sieben, acht Mann genügen, um das Achterdeck zu stürmen.“ „Ich warte lieber, bis er seine Kammer aufsucht“, meinte Madison. „Da haben wir ihn sicherer in der Falle.“ „Er geht nicht mehr schlafen. Seit Tagen schon nicht mehr“, versetzte Colyer. „Bald schläft er im Stehen ein“, sagte mit verzerrter Miene ein fünfter Decksmann. „Er hält nicht mehr lange durch. Warum sollen wir unser Leben aufs Spiel setzen? Er bricht ganz von selbst zusammen.“ „Der hält das noch tagelang durch“, widersprach Colyer. „Und wir? Wie lange dauert es, bis wir endgültig durchdrehen? Wir werden alle Mann verrückt und krepieren an der Kälte oder am Skorbut oder an der Einsamkeit.“ Sie verstummten und blickten zum Großmars auf, denn der Ausguck hatte soeben ein Zeichen gegeben. Offenbar wollte er nicht ausrufen, was er gesichtet hatte — und auch dies mußte einen besonderen Grund haben. Plötzlich war die Stimmung an Bord der Zweimast-Karavelle von banger Nervosität erfüllt. Was war los? Gab es Verdruß? Die „Invulnérable“ segelte mit nördlichem Kurs, weil Fagaralle glaubte oder sich zumindest einredete, weiter oben im Norden eine östliche Durchfahrt nach Grönland hinüber zu finden. Zur Zeit zog die Karavelle an einer schneeweißen, wunderschön und doch irgendwie drohend glitzernden Insel vorbei. Die Berge dieses Eilandes erhoben sich im Osten, also an Steuerbord der Karavelle. Fagaralle blickte wie gebannt zu dem Ausguck hoch, der zu ihm heruntergestikulierte. Wie aus einem Bann
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löste er sich jetzt, setzte sich in Bewegung, stieg vom Achter- aufs Hauptdeck hinunter und enterte selbst in den steifgefrorenen Luvwanten zum Großmars hinauf. „Sir“, sagte der Ausguck. „Ich habe nicht rufen wollen, damit man nicht auf uns aufmerksam wird. Sehen Sie selbst.“ Der Mann war von gleichsam fiebriger Unruhe. Fagaralle stieg zu ihm auf die Plattform und verhielt sich vorsichtig. War dies ein Trick, um ihn zu überlisten? Fagaralle paßte auf, daß der Ausguck nicht hinter seinen Rücken treten konnte. Er nahm ihm das Spektiv ab, hob es selbst vors Auge, spähte hindurch — und sah jetzt hinter den weißen Kuppen der nördlichen Inselzunge etwas dahingleiten. „Mastspitzen“, murmelte er. Plötzlich stand er aufrecht, von neuer Energie angestachelt, da. Mastspitzen — gar nicht weit entfernt. Ja, wenn sie jetzt losbrüllten, dann konnten jene, die dort auf dem fremden Schiff waren, sie wirklich hören. „Ein Dreimaster“, hörte der Franzose sich sagen. Die Entdeckung des Ausgucks erschien ihm noch wie ein Traum, jeden Augenblick fürchtete er daraus hochzuschrecken. „Eine Galeone wahrscheinlich — mon Dieu. wie recht habe ich doch mit meiner Vorhersage gehabt.“ „Ja, Sir“, ließ sich der Ausguck vernehmen. Fagaralle fuhr zu ihm herum. „Siehst du es jetzt ein, daß ich ein hervorragender Kapitän bin? Daß ich mehr tauge als hundert Saunders' zusammen?“ „Natürlich, Sir ...“ „Was ich sage, stimmt“, stieß Fagaralle verbissen hervor. „Jedes Wort, alles bewahrheitet sich früher oder später. So, wie wir auf diesen Segler gestoßen sind, werden wir auch den Weg nach Grönland und zurück in die südlicheren Gefilde finden.“ „Das ist sicher, Sir.“ „Sir, Sir“, äffte er den Ausguck nach. „Aber du hattest doch auch schon an Meuterei gedacht, oder?“
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„Nein. Niemals. Ich habe immer allergrößtes Vertrauen in Sie gehabt, Sir“, log der Mann. „Ja, schon gut“, sagte der Franzose verächtlich. „Behalte das Schiff jetzt im Auge. Wir wenden, gehen auf südlichen Kurs und fangen den Burschen ab, wenn er die Insel im Süden rundet. Er wird im Süden um sie herumsegeln, das schwöre ich dir. Er will die Nordwestpassage finden. Ein Haufen Abenteurer mit verrückten, versponnenen Ideen, mit einer Fracht an Bord, die sie nach Cathay bringen wollen - wir werden ihnen diese Ladung abnehmen, ganz gleich, was es ist.“ Er enterte wieder ab und trat auf der Kuhl zu seiner Crew, die ihn mit Neugierde und schlimmen Befürchtungen erwartete. Er sagte ihnen, was er gesehen hatte, dämpfte dann aber ihren Jubel. „Wir dürfen uns nicht verraten“, sagte er. „Unser Geschrei könnte von der Besatzung des Dreimasters vernommen werden. Es wäre der schlimmste Fehler, den wir begehen könnten, denn solange das Überraschungsmoment auf unserer Seite ist, haben wir die allergrößten Chancen, das Schiff gleich beim ersten Angriff zusammenzuschießen, zu entern und die Mannschaft niederzumachen.“ „Mit anderen Worten, wir legen einen Hinterhalt?“ wollte Madison wissen. „Ja. Wir wenden, gehen auf Steuerbordbug und segeln nach Süden“, erklärte Fagaralle. „Hinter den Felsen, die wir am südlichsten Zipfel des Eilandes umrundet haben, können wir uns auf die Lauer legen und brauchen den Dreimaster nur noch zu erwarten.“ „Wenden!“ rief Colyer. „Auf den anderen Bug! Los, beeilen wir uns, wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir das Schiff abfangen wollen, müssen wir vor ihm am südlichen Ende der Insel sein!“ Und so ging die „Invulnérable“ über Stag, legte sich auf den Steuerbordbug und rauschte nach Süden dorthin zurück, woher sie gekommen war. Dank ihrer Lateinertakelung vermochte sie sehr hoch
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am Wind zu segeln und war schnell und wendig. Die Crew führte emsig die Manöver durch und machte dann die Geschütze gefechtsklar. Die zwölf Culverinen und sechs Serpentinen waren fix und fertig geladen, die 17Pfünder brauchten nur noch ausgerollt, die Hinterlader auf Vor- und Achterdeck entsprechend in ihren drehbaren Gabellafetten ausgerichtet zu werden. Im Nu war die „Invulnérable“ gefechtsbereit. An Meuterei dachte niemand mehr. Alle Gedanken an Rebellion waren vergessen, die dreißig Männer unter Fagaralle waren nun ganz Freibeuter, ganz Schnapphähne, die auf ihr Wild lauerten — ausgenommen Hackett, der in der Vorpiek immer noch die größten Qualen erlitt. Fagaralle hatte Oberwasser. Er hatte selbst nicht daran geglaubt, daß ein Segler eines Tages ihren Kurs kreuzen würde. Jetzt aber war er von wilder Euphorie erfüllt. Wir werden siegen, dachte er, wir werden Schätze erbeuten. Die Zweimast-Karavelle glitt am Ufer der Insel vorbei auf die südlichen Felsen zu. Der Ausguck hatte den fremden Dreimaster jetzt aus den Augen verloren, weil dieser hinter den höheren Gebirgsmassiven der Insel verschwunden war. Aber er war sicher, daß das Schiff seinen Kurs nicht geändert hatte und weiter nach Süden segelte. Der Ausguck gab es Fagaralle durch Zeichen zu verstehen, und dieser bedeutete ihm durch eine Gebärde, daß er verstanden hätte. Wer mag der Kapitän dieses Schiffes sein, welcher Nationalität ist er? fragte sich der Franzose. Und welche Ladung hat er an Bord? Er hatte nur die Masten, nicht die Aufbauten der Galeone sehen können, und so konnte er nicht einmal mutmaßen, woher der Segler stammte und welches seine Fracht, seine Armierung, seine Bedeutung überhaupt sein mochten. Nicht
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einmal eine Flagge hatte in den Toppen dieses Schiffes geweht. Fagaralle ahnte nicht, daß ihm noch eine böse Überraschung bevorstand. Er kannte das Schiff — besser, als es ihm lieb war. * Dan O'Flynn hatte Bill, den Moses, vor zwei Stunden im Großmars abgelöst. Es geschah nur noch selten, daß Dan zu dem Dienst hoch oben im Großmars eingeteilt wurde, aber gerade an diesem Tag legte der Seewolf allergrößten Wert darauf, den Mann mit den schärfsten Augen dort oben zu wissen. Nicht nur an Steuerbord der „Isabella“ war Land, auch im Osten, an Backbord, hatte Dan einen blassen, flachen Streifen über der Kimm erkannt. Hasard war sicher, daß es sich bei der Erscheinung im Osten um das Festland handelte, um Nordamerika also. Durch eine Art Kanal würden sie im Süden um die Insel herumsegeln, und dabei kam es dem Seewolf darauf an, daß alle Eisschollen, Eisberge, Untiefen und sonstigen Hindernisse, die sich ihnen präsentieren konnten, rechtzeitig erkannt wurden. Jetzt schien bereits ein Verhängnis in Sicht zu sein, denn Dan stieß einen gedämpften Laut aus, der von fast allen auf dem Oberdeck gehört wurde. Hasard, Siri-Tong, Ben Brighton, Ferris Tucker, Old Donegal und sechs andere hoben die Köpfe und waren alarmiert. Carberry schien ein bißchen schwerhörig zu sein, wie das oft bei Menschen ist, die auffällig laut sprechen beziehungsweise dauernd herumbrüllen. „Schnarchhähne“, fuhr er die Männer der Crew an, als diese aufblickten. „Was ist euch denn in die Knochen gefahren? Ihr habt sie wohl nicht mehr alle, was, wie? Matt Davies, ich hab dir gesagt, du sollst das Großmarsfall klarieren und nicht so dämlich in der Gegend 'rumstehen und den Hals recken. Ich ...“ „Ed“, sagte der Seewolf. „Dan hat was entdeckt.“
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„Äh — was denn, Sir?“ entfuhr es dem Profos. Verdutzt wandte er den Kopf. „Zweimaster im Westen, wahrscheinlich Karavelle“, sagte Blacky grinsend. „Hast du's wirklich nicht vernommen?“ „Der Kerl soll laut und deutlich ...“ „Brüllen ist nicht“, sagte Ben Brighton, der jetzt vorn Quarterdeck hinunterstieg. „Dadurch würden wir nur auf uns aufmerksam machen. Der Segler dort auf der anderen Seite der Insel könnte sowohl Freund als auch Feind sein.“ „Na“, brummelte der Profos. „Richten wir uns mal darauf ein, daß er uns nicht wohlgesonnen ist. Aber ein Kahn hier oben, in dieser Mistgegend, am Arm der Welt — geht denn das mit rechten Dingen zu?“ „Wir sind hier ja auch“, sagte Batuti ziemlich vergnügt, wollte noch etwas hinzufügen, hielt aber doch lieber den Mund, weil Carberry ihn ansah, als wolle er ihn mit Haut und Haar in einem Stück verschlingen. „He“, sagte der Seewolf, „der Zweimaster hat gewendet. Er läuft jetzt den gleichen Kurs wie wir. Das bedeutet: Er hat uns ebenfalls entdeckt und will sich, da wir seiner Ansicht nach wahrscheinlich die Insel im Süden runden, mit uns treffen.“ „Signale gibt er nicht“, meldete Dan O'Flynn verhalten. „Für uns gibt es nur den einen Weg“, erklärte Hasard nach einem neuerlichen Blick auf die selbstgezeichnete Karte. „Das heißt, wir müssen unweigerlich auf die Karavelle stoßen, wenn wir den südlichsten Inselausläufer erreicht haben.“ „Es ist nur die Frage, ob das ein freundschaftliches Treffen wird — oder ob wir es mit Freibeutern zu tun haben, die sich mit uns herumschlagen, weil sie sich Beute erhoffen“, sagte die Rote Korsarin. „Wir sollten auf alles gefaßt sein.“ „Die Berge nehmen mir die Sicht“, sagte Dan O'Flynn aus dem Großmars, gerade noch laut genug, daß man ihn verstehen konnte. „Ich kann nicht mehr erkennen, wie die Karavelle sich verhält.“ „Wir halten Kurs“, sagte der Seewolf. „Und wir gehen klar zum Gefecht.“
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„Schiff klar zum Gefecht“, wiederholte Carberry. „Bewegt euch, ihr müden Kakerlaken, wirbelt Staub auf. Rennt aus die Kanonen - Hölle, vielleicht wird's uns gleich so heiß, daß wir keine Fellmützen, Jacken und Eisbärhosen mehr brauchen.“ Zu beiden Seiten der Insel segelten die Schiffe etwa auf gleicher Höhe voran, ohne daß der eine vom anderen wußte, wie er sich verhielt. Dann, nicht ganz eine Stunde später, wich das Ufer der Insel nach Westen hin von der „Isabella“ zurück. Hasard. folgte dem Verlauf der Küste, indem er sein Schiff etwas abfallen ließ und dann öffnete sich ein westlich verlaufender Kanal vor ihm und seinen Männern, und turmhohe Felsen, mit Eis und Schnee bedeckt, bildeten den südlichen Abschluß der Insel, der rasch näher rückte. Die „Isabella“ lag platt vor dem Wind und schob sich mit schäumender Bugwelle auf die zerklüfteten Felsen zu. * Fagaralle erreichte die Felsen von der anderen Seite her so zeitig, daß er sich mit seinem Schiff noch in Deckung legen konnte. Sehr nah war die „Invulnérable“ jetzt den stummen, drohenden Gesteinsformationen. Der Ausguck im Großmars konnte über die Felsen nicht hinwegspähen, um das Erscheinen der Dreimast-Galeone zu registrieren. Fagaralle und seine Freibeuter konnten nur darauf warten, bis sich das Schiff hinter den wuchtigen Felsen hervorschob. Mit zwei entscheidenden Fehlern ging Fagaralle in dieses Gefecht. Erstens rechnete er nicht damit, daß auch der Ausguck der Galeone ihn entdeckt haben konnte und daß man sich auf dem fremden Segler auf ein Zusammentreffen mit der Zweimast-Karavelle entsprechend vorbereitet hatte. Somit war das Überraschungsmoment verspielt. Zweitens bedachte der Franzose nicht genügend den Umstand, daß er die Lee-
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Position innehatte, die Galeone jedoch überlegen von Luv heranrauschte. Die Tatsache, daß das Erscheinen dieses Schiffes einen gewaltigen, ja, niederschmetternden Schock in ihm hervorrufen würde, konnte man nicht als einen Fehler Fagaralles bezeichnen. Doch sie trug mit zu dem bei, was nun folgte. Plötzlich war sie da, die stolze „Isabella VIII.“ mit ihren sehr flachen Aufbauten, ungewöhnlich hohen Masten, mit einer steilen Bugwelle vor einem mächtigen Bug, der zu einem schnittigen Rumpf gehörte. Da fiel es Fagaralle wie Schuppen von den Augen, und unwillkürlich stieß er einen Laut des Entsetzens aus. Seine Crew fuhr zu ihm herum und musterte ihn. Was war? Wo blieb der Befehl zum Angriff? Warum zögerte der Franzose? Die „Isabella“ - die Galeone der Hölle mit einem Teufelskapitän an Bord, mit einer Crew, die Fagaralle schon einmal das Verderben gebracht hatte. Vor der Küste von Labrador, bei Tunungayualok, hatten Fagaralles Eskimos die Galeone erspäht, und sie waren auf den Befehl des Franzosen hin aufgebrochen, um die Fremden zu überraschen und zu überwältigen, um sie niederzumachen, sie auszuplündern und sich das Schiff zu holen, das der Franzose hatte haben wollen. Aber diese Fremden hatten sich noch vom Wrack der „Ulysses“, Augers Schiff, aus wie die Besessenen gewehrt, irgendwelche Explosionssätze geschleudert und den Angriff zurückgeschlagen. Nicht genug damit - sie waren bis zu Fagaralles heimlichem Stützpunkt vorgedrungen, hatten einen höllischen Wirbel vom Zaun gebrochen und Auger und die anderen Gefangenen aus der Mine befreit. Wie sie das Dorf hatten finden können, wie dies alles zusammenhing - das war Fagaralle bis heute ein Rätsel. Er wußte nicht, daß Kapitän Cyril Auger seinerzeit eine Flaschenpost in den Eissee geworfen hatte und der Seewolf genau diese Botschaft aufgefischt hatte.
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Monate lag das Geschehen zurück. Fagaralle hatte fliehen müssen. Aber jetzt, beim Anblick der „Isabella“, flammte Fagaralles Zorn plötzlich wieder auf. Der Haß gärte von neuem in seinem Inneren, etwas in ihm schrie nach Vergeltung und blutiger Rache. „Greift an!“ rief er. Die „Invulnérable“ glitt mit gemächlicher Fahrt schräg auf die Felsen zu, aber jetzt änderte sich die Lage, jetzt erwachte die Crew zu hektischer Betriebsamkeit, setzte wieder Vollzeug und hantierte an den Geschützen. Mit prallen Segeln, hart am Wind, schob sich die Karavelle aus ihrem Versteck hervor und nahm Kurs auf die „Isabella“. Rasch wurde sie schneller. In den Kupferbecken auf der Kuhl, dem Vor- und Achterdeck glühten die Holzkohlefeuer, die jetzt von neuem geschürt wurden. Madison, Colyer und die anderen an den Geschützen schoben die Luntenenden in die Glut, zogen sie wieder heraus und hielten die Zündschnüre über die Zündkanäle in den Bodenstücken der Kanonen - bereit zum Feuern. Fagaralle eilte auf die Back, trat zu den Männern, die die drei vorderen Serpentinen geladen hatte und in Zielrichtung auf die Galeone justierten. Als sie die Rohre der Hinterlader in den Gabellafetten feststellten, schrie er: „Feuer!“ 10. „Klar Schiff zum Gefecht!“ rief der Seewolf. „Klar Schiff zum Gefecht, Sir“, meldete der Profos, als der erste Serpentinenschuß der Karavelle herüberheulte, in die Fluten vor dem Steuerbordbug schlug und eine gischtende Fontäne hochriß. „Anbrassen und drei Strich Backbord!“ schrie der Seewolf. Die „Isabella“ zog etwas herum und legte sich so, daß der Ostwind raumschots einfiel. Somit zeigte sie der heransegelnden Karavelle ihre komplette Steuerbordbreitseite - acht Culverinen mit
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überlangen Rohren, geladen und fertig zum Schuß. Blacky, Matt Davies, Jeff Bowie, Stenmark und vier andere Männer standen hier als Geschützführer bereit. Ziemlich gelassen wartete der Seewolf auch den zweiten und dritten Serpentinenschuß ab. Der zweite saß etwas näher, der dritte krachte in die Galion und hinterließ ein häßliches, splittriges Loch und genau in diesem Moment kochte in Hasards Gemüt etwas über. „Feuer!“ rief er. Klar bei Lunten standen die Männer der Steuerbordbatterie, und jetzt senkten sie die Luntenstöcke mit den glimmenden Schnüren auf die Bodenstücke. Gierig fraß sich die. Glut durch das trockene Pulver bis aufs Zündkraut, dann donnerte und brüllte es los, ruckten die Culverinen heftig zurück, standen Feuerlanzen vor der Bordwand der „Isabella“ - alle acht auf einmal. Die 17-Pfünder-Kugeln rasten auf die Karavelle zu. Drei gingen fehl, die anderen fünf drangen in den Rumpf ein, fegten über Deck, kehrten es halb frei, ließen Schreie gellen, sorgten für heillosen Zustand. „Halsen!“ befahl der Seewolf. Als die „Isabella“ mit dem Achterschiff durch den Wind ging, sprachen auch die beiden Drehbassen auf der Back, und wieder waren Treffer zu verzeichnen. Der „Invulnérable“ hatte es unter der ersten Breitseite der „Isabella“ glatt den Fockmast weggeknickt. Das Rigg und das laufende und stehende Gut waren mit dem Bruchstück auf das Oberdeck geknallt. Eine unvorstellbare Wuhling herrschte. Fagaralles Befehle gellten, Madison und einige andere versuchten, den kaputten Mast samt seinem Zeug und Gut außenbords zu wuchten, aber dann wurden sie durch die Drehbassenkugeln der „Isabella“ gestoppt. Madison sah zwei, drei seiner Kameraden sterben und zog sich angsterfüllt weiter nach achtern zurück. Die „Unverwundbare“, die sich doch als so verletzlich erwies, verlor rasch an Fahrt und war jetzt nur noch eine halbe Kabellänge von der „Isabella“ entfernt.
Die Nordwest-Passage
Fagaralle erkannte das Vorhaben des Seewolfes - längsseits der Karavelle wollte dieser Teufel gehen, um zu entern! Der Franzose schrie sich die Seele aus dem Leib, aber keiner hörte mehr auf seine Befehle, keiner außer dem Rudergänger dachte auch nur daran, das Schiff herumzumanövrieren und aus der Reichweite des heranrauschenden Feindes zu befördern. Fagaralle schickte sich an, selbst das Ruder zu ergreifen, aber Pfeile zischten plötzlich von der Galeone herüber, trafen den Rudergänger, bohrten sich mit pochenden Geräuschen in die Planken des Achterdecks. Fagaralle erschrak zu Tode dachte an die Bomben, über die die Kerle von der Galeone verfügten, und floh auf die Kuhl, um wenigstens noch eins der Geschütze zu zünden. Die „Isabella“ schob sich unaufhaltsam auf die „Invulnérable“ zu. Steuerbord an Steuerbord sollte das Entermanöver erfolgen. Der Seewolf hatte sich zum Entern entschlossen, weil er sehen wollte, wem er diesen' Angriff zu verdanken hatte, wer der Kapitän war, der das Unglücksschiff leitete. Siri-Tong, die bei Hasard auf der Back der „Isabella“ stand und wie er das Entermesser in der Faust hielt, legte plötzlich ihre Hand auf seine Schulter. „Da - sieh doch“, sagte sie verblüfft. „Der Mann dort an der Culverine! Das ist Fagaralle! Ich erkenne ihn deutlich! Ja, ist denn das die Möglichkeit!“ Sie hatte den Franzosen damals, beim Kampf vor der vermeintlichen „Goldmine“ in Labrador, sehr dicht vor Augen gehabt. „Fagaralle“, sagte Hasard. „Na, das gibt ja ein herzliches Wiedersehen.“ Zwei Pfeile, von Batuti und Big Old Shane abgegeben, die in den Vor- und Großmars aufgeentert waren, scheuchten Fagaralle von der Culverine fort. Er gelangte nicht mehr zum Schuß und konnte noch froh sein, nicht von einem Pfeil durchbohrt worden zu sein. Mit einem Aufschrei wich er zurück. Dann schob sich die „Isabella“ längsseits der Karavelle.
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Hasard sprang allen voran von der Back der „Isabella“ auf das Vordeck der „Invulnérable“ hinüber, schwang seinen Schiffshauer, bahnte sich einen Weg, traf aber kaum auf Widerstand. Dann stand er plötzlich auf der Kuhl vor dem schreienden, fluchenden Franzosen und kreuzte die Klinge mit dessen Säbel. Fagaralles Gesicht war vor Haß gerötet, seine Augen schienen zu glimmen. „Wer bist du Hund?“ schrie er immer wieder. „Sag mir deinen Namen - wer in aller Welt bist du?“ „Killigrew!“ rief Hasard ihm zu. „Ich kenne dich nicht ...“ „Man nennt mich den Seewolf!“ „Arwenack!“ brüllten die Männer der „Isabella“, deren Gestalten sich jetzt auf das Deck der Karavelle zu ergießen schienen. „Ar-we-nack!“ „Der Seewolf“, stammelte Fagaralle. „Allmächtiger, auf was habe ich mich eingelassen?“ Dann aber siegen sein Haß und der Wunsch nach Rache über seine aufkeimende Schwäche. Er warf sich dem Todfeind erneut entgegen und wollte ihn niederstechen. Hasard mußte abblocken, parieren und wollte Fagaralle zurücktreiben, doch dieser lief ihm bei einem zugestümen und unkontrollierten Ausfall genau in den Schiffshauer. Fagaralle stöhnte auf. Seine Bewegungen erschlafften. Der Säbel, den er eben noch zum tödlichen Hieb auf den Seewolf erhoben hatte, klirrte an Deck. Er stammelte ein paar Worte, wankte und sank auf die Planken. Voll Haß starrte er zu Hasard hoch. Seine letzten Worte waren eine Verwünschung: „Fahr - zur Hölle!“ Dann war es aus. Seine Augen richteten sich blicklos nach oben. Hasard wandte sich um. Ruhe war eingetreten, der Kampf war so plötzlich vorbei, wie er begonnen hatte. Madison, Colyer und die anderen Überlebenden hatten kapituliert. Sie hatten die Waffen weggeworfen und hoben ihre Arme und Hände, um sich in ihr weiteres Schicksal zu fügen.
Die Nordwest-Passage *
Drei Gefangene nahm der Seewolf mit hinüber auf die „Isabella“: Madison, Colyer und Hackett, den Ferris Tucker und Smoky aus der Vorpiek befreit hatten. Hackett konnte kaum noch laufen; er war halb erfroren und zerschunden, seine Augen blickten aus düsteren Höhlen auf den Seewolf. Dennoch hatte er Hasard fast darum angefleht, mitgenommen zu werden, damit er alles berichten konnte. Hackett war es dann auch, der in der warmen Mannschaftsmesse der „Isabella“ am bullernden Silberbarrenofen und vom Kutscher .verarztet - das meiste erzählte. „Es steht mir nicht zu, Bordgericht über euch zu halten“, sagte der Seewolf, als Hackett geendet hatte. „Ihr müßt das, was ihr getan habt, vor eurem eigenen Gewissen verantworten. Ich bin weder euer Richter noch euer Henker, obwohl ihr mich angegriffen habt. Haltet euch das eine vor Augen: Ich verschone euch nicht, weil ihr Engländer seid. Ich lasse euch vielmehr mit eurem Schiff, das ihr wieder instand setzen könnt, reisen. Ich bin kein Schlagetot. Meine Prinzipien unterscheiden sich von denen eines Piraten ganz erheblich. Begreift ihr das?“ „Ja, Sir“, murmelten die Männer mit gesenkten Köpfen. „Ich lasse euch eine Skizze anfertigen, nach der ihr bis nach Grönland und in die Davis-Straße zurückfindet. Und ich gebe euch einen guten Rat: Kehrt zurück nach Neufundland und werdet wieder das, was ihr gewesen seid: anständige Fischer.“ „Sir“, sagte Hackett. „Wenn ich Ihnen hoch und heilig verspreche, daß wir's tun, daß wir die Nase voll haben und unsere Verbrechen bereuen - glauben Sie mir dann?“ „Ja. Ich glaube dir.“ * Zwei volle Tage später streckte der Profos ganz unvermittelt seinen Kopf zum Kombüsenschott herein und 'ertappte den Kutscher dabei, wie dieser den nun schon
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seit einiger Zeit im Schapp hausenden Sir John mit Brotkrumen fütterte. „So, hier steckst du also, du Mißgeburt“, sagte Carberry. „Ed, laß ihn in Ruhe.“ Mit diesen Worten stellte sich der Kutscher vor den Vogel, um ihn vor dem Zugriff des anrückenden Narbenmanns zu schützen. „So?“ Carberry war hell überrascht. „Das Biest hat sozusagen fast deinen Tod verursacht - und du verteidigst es auch noch?“ „Ich kann's nun mal nicht mit ansehen, wenn Tiere gequält werden.“ „Gib mir den Vogel.“ „Tut mir leid, aber ...“ „Willst du den Befehl verweigern?“ „Absolut nicht. Ich kann es nur nicht zulassen, daß du Sir John den Hals umdrehst.“ Carberry grinste sein furchtbarstes Grinsen. „Ich habe auch Arwenack wieder aus dem Kabelgatt 'rausgelassen. Zufrieden? Los, her mit dem Vogel, ich hab ihm ja schon verziehen. Ich will ihm bloß was zeigen. Und du solltest auch mitkommen, Kutscher, denn so einen Anblick genießt man nicht alle Tage.“ Wortlos und verdutzt ließ der Kutscher wirklich zu, daß sich der Profos den Vogel aus dem Schapp holte. Carberry hielt sein Versprechen: Er setzte Sir John nur ganz behutsam auf seine Schulter - und dann trat er mit ihm auf die Kuhl hinaus.
Die Nordwest-Passage
Der Kutscher folgte ihnen. Oben, auf dem Haupt- und dem Quarterdeck, fand eine andächtige Versammlung statt. Fast geblendet von dem weiß, rot und blau schillernden Licht der Mitternachtssonne blieb der Kutscher bei der Kuhlgräting stehen und wandte seinen Blick dorthin, wohin alle schauten voraus. Turmhohe Eisberge richteten sich zu beiden Seiten .auf, die „Isabella“ schien durch einen gläsernen Tempel zu segeln. Unter Vollzeug glitt sie voran - und ganz weit vorn, kaum erkennbar, schien sich die Passage zu öffnen... Ergriffenheit war in den Herzen Hasards. der Roten Korsarin und der Seewölfe. Philip und Hasard junior standen neben ihrem Vater und Siri-Tong, ihrer „ErsatzMutter“, und hatten ihre Finger in deren Hände geschoben. Es war ein feierlicher Augenblick, Hasard hatte den südlichen Kurs gehalten, sich am Festland entlang getastet, ohne ins Packeis zu geraten - und dies war nun der Lohn. Die Nordwest-Passage war erreicht, die letzten Inseln lagen hinter ihnen, vor ihnen öffnete sich ein Meer unermeßlicher Weite. „Cathay ist nicht mehr fern“, sagte der Seewolf in die Stille hinein. „Asien wartet auf uns - und wir haben etwas entdeckt, das vielleicht mehr wert ist als alles Gold und Silber.“
ENDE